Sie sind hier

Auswanderer in Argentinien

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

Mein Familienheim erscheint wöchentlich.
Bestellungen nehmen alle Buch- und Zeitschriftenhandlungen an. Befindet sich eine solche nicht am Orte, so bestelle man beim
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26, Elisabethufer 44.

 

Auswanderer in Argentinien.

 

von W. Belka.

 

1. Kapitel.

Der Gaucho.

Die beiden Güterwagen, die das bewegliche Eigentum der deutschen Auswanderer von Buenos Aires, der Hauptstadt der südamerikanischen Republik Argentinien, in tagelanger Eisenbahnfahrt immer nach Westen zu bis nach der bereits unweit der Ostausläufer der Kordilleren gelegenen Stadt Santa Rosa gebracht hatten, waren auf ein Nebengleis geschoben worden, von wo aus man, sobald die über den nahen Tunuyan-Fluß führende Brücke passiert war, sofort in einen jener nur aus Wagenspuren bestehenden Wege einbiegen konnte, die überall in diesen so überaus dünn besiedelten Grasebenen die einzigen Straßen darstellten.

Die Auswanderer hatten die Eisenbahnfahrt in einem dem Güterzuge angehängten Personenwagen mitgemacht. Frühmorgens an einem sonnigen Maitage war man in Santa Rosa angekommen, und sämtliche acht Mitglieder der recht bunt zusammengewürfelten Gesellschaft waren heilfroh, endlich wieder sich etwas … „die Beine vertreten zu können“, wie der Zahntechniker Heberlein vergnügt schmunzelnd sich ausdrückte.

Benno Heberlein war überhaupt der Spaßmacher der zukünftigen Bewohner der Lagune von Saladillo, – so hieß nämlich das Landgebiet, das die argentinische Regierung den deutschen Einwanderern durch Vermittlung eines Agenten für einen lächerlich geringen Preis überlassen hatte.

Unter Lagune versteht man in den Pampas, die man am besten mit den fruchtbareren Steppen Innerasiens vergleicht, jene salzhaltigen Gewässer, an deren Rändern sich zumeist eine überaus üppige Vegetation vorfindet und in deren Nähe der Boden für Getreideanbau am günstigsten ist. –

Kaum hatte Benno Heberlein zu den vor dem einen Güterwagen versammelten Landsleuten in seiner unverwüstlich guten Laune dann noch weiter geäußert, daß „die Geschichte nun erst so recht losginge,“ womit er eben meinte, daß man jetzt so ziemlich allein auf sich selbst angewiesen sei, als Herr Oskar Triebel, seines Zeichens Uhrmacher, dann aber auch von allen stillschweigend anerkannter Führer des Auswanderertrupps, sehr würdevoll erklärte, die anderen sollten nun sofort mit dem Ausladen der Güterwagen beginnen, während er selbst in die Stadt gehen würde, um dort die nötigen Maultiere einzukaufen.

Oskar Triebel, ein Mann von vierzig Jahren und einer ungewöhnlichen Größe und Magerkeit, bildete mit seiner aus vier Köpfen bestehenden Familie sozusagen den Stamm der Auswanderer. Den Seinen hatte sich noch eine Nichte seiner Frau, eine zwanzigjährige Waise namens Anna Bendig, angeschlossen, ferner von guten Bekannten aus der deutschen Heimatstadt Frankfurt an der Oder der bereits erwähnte Zahnkünstler Benno Heberlein, schließlich der einstige Schmierenkomödiant Alexander Mausig und dessen bereits sehr stark angejahrte Schwester Klementine Mausig, die zuletzt am Theater in Frankfurt a. O. Logenschließerin gewesen und nebenbei „möbliert“ vermietet hatte.

Triebels Ältester, ein fünfzehnjähriger, blasser und scheuer Junge namens Erich, bei dem die übertriebene Erziehungsstrenge des von seiner Unfehlbarkeit in allen Dingen nur zu stark überzeugten Vaters jede harmlose Fröhlichkeit erstickt hatte, sollte diesen begleiten. Er tat’s sehr ungern, hätte lieber zusammen mit seinem Freunde und Gönner Heberlein die Güterwagen entladen, da die Frauen für diese Arbeit ebensowenig in Betracht kamen wie der alte Schauspieler, der es vortrefflich verstand, sich vor jeder beschwerlicheren Tätigkeit zu drücken.

Nachdem die beiden Triebels nach der Stadt zu verschwunden waren, öffnete Heberlein den einen Güterwagen und forderte die Gefährten mit scherzhaften Redewendungen auf, ihn beim Ausladen ein wenig, „huldvollst, auch die Damens …“, zu unterstützen. Er wußte jeden Menschen nach dessen besonderer Eigenart zu behandeln, war überhaupt ein richtiger Hans Dampf in allen Gassen und dazu noch ein Mann von hohem persönlichen Mut und allerlei Fähigkeiten, die niemand ihm seinem etwas komischen Äußeren nach zugetraut hätte.

Benno Heberlein maß kaum 1,40 Meter. Dabei besaß er auch nicht ein Quentlein Fett auf dem Körper, konnte es also in punkto Magerkeit mit dem aufgeblasenen Alleswisser Triebel durchaus aufnehmen. Obwohl er erst einige dreißig Jahre zählte, war sein Schädel absolut haarlos, während ihm dafür als Ersatz unter der riesigen Hakennase ein braunroter Schnurrbart wucherte, der jedem Wachtmeister Ehre gemacht hätte. In Heberleins schmalem Gesicht fielen außer der Nase und diesem Schnauzer weiter noch ein Paar dunkle, große, stets sehr vergnügt blickende Augen auf, die unter starken, ebenfalls rötlichen Brauen lagen. Wenn er wie jetzt den breitrandigen Strohhut aufhatte, wirkte seine Gesamterscheinung weniger lächerlich. Nahm er ihn aber ab und wurde dann der blanke Schädel sichtbar, von dem ein Paar tiefrote, recht umfangreiche Ohren weit abstanden, dann sah man in seinem Antlitz zunächst eigentlich nur das ungeheure Riechorgan und den Wachtmeisterschnurrbart, und diese beiden riefen dann ganz den Eindruck hervor, als trüge Herr Benno Heberlein eine jener Papplarven, wie sie in Deutschland zur Faschingszeit so beliebt sind.

Heberleins humoristische Mahnung an die Gefährten, ihm zu helfen, hatte gefruchtet. Selbst Hedwig Triebel, die neunzehnjährige Tochter des früheren Uhrmachers, ein von ihrem Vater leider nur zu sehr verwöhntes Mädchen, bei deren Erziehung er es ebenso sehr an Energie hatte fehlen lassen, wie er diese seinem Sohne gegenüber auf das Höchstmaß heraufschrauben zu müssen der Meinung gewesen, – also selbst die überfeine Hedwig, die immer nach Möglichkeit „die Dame mit Nerven“ herauskehrte, griff mit zu, nicht minder Alexander Mausig, der dann die gemeinsame Arbeit durch allerlei Zitate aus bekannten Klassikern würzte.

Als er gerade der bescheidenen, blonden Anna Bendig, einem recht kräftigen Mädchen, ein Bündel aus dem Güterwagen zuwarf und dabei deklamierte:

„Durch der Hände lange Kette fliegt das Bündel!
Fang es auf, mein süßes Kind!“,

erschien ein baumlanger, schwarzhaariger Bursche in der landesüblichen Tracht der Gauchos (sprich: Ga-utschos), jener Viehhirten, die in den Pampas Argentiniens dieselbe Rolle etwa spielen wie die nicht minder wilden und rohen Cowboys in Nordamerika.

Dieser Gaucho, dessen schmutziggelbe Hautfarbe sofort den Mischling von Spaniern und Indianern verriet, trug ein knallrotes Wollhemd, sehr breite, unten geschlitzte Lederhosen, grobe Halbschuhe, Sporen, die mit breitem Riemen über das Fußgelenk geschnallt waren, einen riesigen Strohhut ohne Band und im Ledergürtel zwei Revolver und ein langes Messer. Alles in allem war er nicht gerade vertrauenerweckend, und die Art und Weise, wie er nun die beiden jungen Mädchen musterte, behagte dem leicht erregbaren Benno Heberlein so wenig, daß er an den vielleicht 28 Jahre alten Menschen dicht herantrat und in spanischer Sprache, die er bereits drüben in Deutschland studiert hatte, nachdem er sich entschlossen, Triebels nach Argentinien zu begleiten, ziemlich barsch fragte:

„He, Sennor, – was beliebt?“

Der Gaucho musterte den Kleinen, der neben ihm wie ein Zwerg wirkte, geringschätzig, spie ihm vor die Füße und erwiderte:

„Seid ihr die Deutschen, die nach der Lagune Saladillo wollen?“

Heberlein war das Blut ins Gesicht geschossen. Dieser Kerl trat ja hier mit einer Unverschämtheit auf, die in schroffstem Gegensatz zu der mit Recht gerühmten Höflichkeit selbst der ärmsten Argentinier stand.

Heberlein wußte außerdem, daß die hiesige Regierung gerade die deutschen Auswanderer bevorzugte und ihnen alle Erleichterungen schaffte, die nur irgend möglich waren. Er konnte also sehr wohl auf den Schutz der Behörden von Santa Rosa rechnen, wenn er diesem Burschen bewies, daß ein Deutscher sich nicht so ohne weiteres halb und halb anspeien läßt.

„Sennor,“ erklärte er daher, äußerlich noch sehr ruhig, „wenn Ihr denkt, daß Ihr mich hier beleidigen könnt, so seid Ihr sehr falsch beraten. Geht Eurer Wege und laßt mich ungeschoren.“

Der Gaucho, mit den Händen in den Hosentaschen, beugte sich tiefer herab und rief dem Kleinen hohnlachend ein spanisches Schimpfwort ins Gesicht.

Auch jetzt hielt Benno Heberlein noch an sich. Er merkte, dieser Mensch wollte offenbar einen Streit vom Zaune brechen. Er entgegnete daher auch nur:

„Die Höflichkeit der Argentinier findet in Euch einen sehr schlechten Vertreter, Sennor. Wir sind nicht hierher gekommen, um uns mit jedem rohen Burschen herumzustreiten. Laßt uns in Ruhe, oder aber ich werde mich an einen der Bahnbeamten wenden.“

Damit drehte er sich um, kletterte in den Güterwagen und schob die nächste Kiste mit einer Kraft an den Rand der Schiebetür, die ihm kaum jemand zugetraut hätte, der ihn nicht genauer kannte.

Der Gaucho grinste, schritt jetzt auf die blonde Anna Bendig zu, faßte ihr unter das Kinn und suchte dann die schnell Zurückweichende am Arm festzuhalten.

Da war auch schon Heberlein mit einem Satz aus dem Wagen, holte aus und versetzte dem Gaucho einen Boxhieb unter das Herz, daß der lange Grobian wie vom Blitz getroffen umsank und für ein paar Sekunden regungslos dalag.

Im Nu hatte Heberlein ihm die Revolver und das Messer abgenommen und rief jetzt dem Schauspieler zu, schnell nach dem Bahnhof hinüberzulaufen und den Stationsvorsteher herbeizuholen. Dieser, ein reinblütiger Weißer spanischer Abkunft, hatte sich den Auswanderern gegenüber sehr zuvorkommend gezeigt und würde auch jetzt zweifellos zu deren Gunsten energisch eingreifen.

Alexander Mausig war heilfroh, aus der Nähe des gefährlichen Rowdys wegzukommen. Er rannte trotz seines Spitzbäuchleins und trotz der sengenden Sonnenstrahlen im Galopp davon, fest überzeugt, daß der Gaucho dem tollkühnen – seiner Ansicht nach tollkühnen – Heberlein das Genick umdrehen würde, bevor noch der Beamte erschien …

Der Gaucho rappelte sich denn auch wirklich sehr bald auf, fing zu fluchen an, tastete nach seinen Waffen, fluchte noch ärger und drang dann mit der Faust auf den kleinen ehemaligen Zahntechniker ein, dessen Geschäft genau so wenig eingebracht hatte wie das Oskar Triebels, was allerdings bei beiden sehr verschiedene Ursachen gehabt hatte, – nämlich bei Heberlein dessen Gutmütigkeit, die nie zuließ, daß er seine Außenstände mit Nachdruck einzog, bei dem Uhrmacher aber dessen allzu starkes Interesse für das Vereinswesen, das ihn die beste Zeit den Vorstandspflichten der zehn Vereine opfern ließ, denen er seines Erachtens unbedingt angehören mußte.

Der lange Viehhirte sollte den Zwerg Heberlein jetzt aber erst so recht kennenlernen.

Heberlein hatte die Revolver des Gauchos noch in den Händen, zielte jetzt auf den rüden Burschen und befahl ihm drohend, sich sofort davonzuscheren. Dieser aber, wohl wähnend, daß in einem so dürren, winzigen Körper kaum genug Mut wohnen dürfte, auch wirklich zu schießen, bückte sich plötzlich, hob einen großen Stein auf, schwang ihn wurfbereit und …

Ja – er wollte ihn nach Heberlein schleudern, wollte …!

Da – der dünne Knall eines Revolverschusses zerriß die Luft … Der Gaucho prallte zurück … Denn die Kugel hatte den Stein getroffen, war zur Seite abgeglitten und hatte ihm ein großes Stück vom Daumen weggerissen.

Das tierische Wutgeheul des Mischlings, der vor Schreck auch den Stein hatte fallen lassen, ließ die Frauen entsetzt noch weiter hinter die Wagen flüchten. Nur Anna Bendig war stehengeblieben. Als der Gaucho nun abermals nach dem Stein greifen wollte, versetzte sie ihm einen Stoß, raffte gleichzeitig von der Erde den mit Kohlenstaub vermischten Sand auf und warf eine volle Hand davon dem wüsten Gesellen in die Augen.

Da nun der ganze Pampasboden – denn auch die Stadt Santa Rosa liegt im Gebiete dieser endlosen Steppen Südargentiniens – überall Salzteilchen enthält, die für die Pampas ebenso kennzeichnend wie die zahlreichen Lagunen und die gelblichen oder braunroten lehmigen Oberschichten der Bodenbeschaffenheit sind, hatte dieser Angriff durch das mutige Mädchen auch zur Folge, daß der beißende Salzstaub den Gaucho für mehrere Minuten völlig blendete. So sehr der lange Kerl sich auch die Augen rieb, so wilde Flüche auch über seine geifernden Lippen kamen, – er war jetzt unfähig, noch weiter die Deutschen irgendwie zu belästigten. Denn schon nahten im Trab Alexander Mausig und der Stationsbeamte, und dieser, der mit Leuten vom Schlage des Viehhirten sehr gut umzuspringen verstand, hatte dann kaum gehört, was inzwischen hier vorgefallen, als er auch schon den Gaucho grob anfuhr, ihm voraus nach den Bahnhofsgebäuden zu gehen; das Weitere würde sich finden; in Santa Rosa herrsche ein anständiger Ton; der Richter würde dies durch eine Woche Gefängnis schon bestätigen.

Inzwischen hatte der Gaucho die Sehfähigkeit doch soweit wiedererlangt, daß er den Beamten als solchen erkannte. Sein Benehmen ward plötzlich ein ganz anderes. Fast unterwürfig beteuerte er, alles sei ja nur ein Scherz gewesen; der Deutsche habe ihn dann jedoch gereizt …

Mitten im Satz brach er gab, stieß den ihm im Wege stehenden dicken Mausig beiseite und jagte in langen Sprüngen dem Flusse zu.

„Ihm nach!“ rief der Spanier. „Ihm nach …! Der Mensch –“

Weiter hörte Heberlein nichts, denn er hatte sich schon in Galopp gesetzt und folgte dem Flüchtling mit einer Schnelligkeit, die alle Aussicht bot, daß er ihn auch einholen würde.

Der Gaucho bog dann plötzlich nach links ab. Dort stand eine halb verfallene Hütte, und hinter dieser hatte er sein Pferd stehen.

Mit einem Satz war er im Sattel, gab dem kleinen Gaul die Sporen und sprengte der nahen Brücke zu, drehte sich aber noch mehrmals um und drohte dem Deutschen mit der Faust. – –

Das war Benno Heberleins erstes ernsteres Abenteuer auf argentinischem Boden. Es sollte nicht das letzte bleiben. Der Gaucho spielte im Leben der Ansiedler noch eine recht merkwürdige Rolle. Nur deshalb haben wir hier auch diese erste Begegnung zwischen ihm und Heberlein so eingehend geschildert.

 

2. Kapitel.

Die Bombachas.

In den Randstädten der Pampas sind Pferde und Maultiere billiger als bei uns daheim die Ziegen – selbst vor dem Kriege und seiner bitteren Folgeerscheinungen der allgemeinen Preissteigerung.

Triebel hatte daher auch in Santa Rosa für jeden der vier Auswandererwagen acht Maultiere und außerdem noch zehn Reitpferde eingekauft, wobei ihm ein Beamter in der Stadt mit gutem Rat beigestanden hatte. Die Tiere waren daher auch sämtlich tadellos, und besonders die Pferde, die die vier männlichen Mitglieder des Auswandererzuges benutzten, zeichneten sich durch ruhigen Gang und ein für die schwachen Reitkünste der Deutschen sehr geeignetes lammfrommes Wesen aus.

Fünf Tage waren inzwischen verstrichen, und drei davon hatten die Auswanderer nun bereits in den öden Pampas südlich von Santa Rosa in nur nachts unterbrochenem Marsche nach der Lagune von Saladillo zugebracht, wobei sie sich genau nach den schriftlichen Angaben gerichtet hatten, die ihnen von den zuvorkommenden Behörden über die Wegrichtung und gewisse kennzeichnende Punkte ausgehändigt worden waren.

Zuerst hatte man noch häufiger verstreut liegende Estanzias (Viehzüchtereien) und Ranchos (kleinere Farmen) angetroffen. Je mehr man dann aber nach Südosten abbiegen mußte, denn die Lagune Saladillo lag ja etwa in der Mitte des von den Flüssen Tunuyan, Salado, Diamante und den Ausläufern der Kordilleren gebildeten Vierecks, desto einsamer wurde die Gegend. –

Es war am sechsten Tage morgens. Vor einer Stunde etwa hatten die Auswanderer den letzten Lagerplatz verlassen und folgten nun wieder dem kaum erkennbaren Wege, der nach der nächsten Estanzia hinlief, die man freilich erst am anderen Mittag erreichen konnte.

Heberlein und Erich Triebel ritten dem Zuge einige fünfzig Meter voraus. Inzwischen hatten die Frauen nämlich bereits gelernt, die Maultiere von den Wagen aus zu lenken, so daß die Männer nicht ständig in der Nähe zu bleiben brauchten.

Die reine, klare Luft der weiten, meist flachen Lehmsteppen, auf denen Bäume kaum vorkommen und auch Buschwerk nur spärlich vorhanden ist, gestattete einen sehr weiten Ausblick.

„Dort – ein Reiter, Herr Heberlein,“ meinte der Knabe plötzlich und deutete nach rechts hinüber.

Der Mann näherte sich im Galopp. Er trug die Kleidung wie alle ärmeren Bewohner, eine grobe Jacke, Leinenhosen und Strohhut. Seine Haut verriet, daß Negerblut in seinen Adern rollte. Als Waffe hatte er nur ein Messer und ein doppelläufiges Pistol im Gürtel. Sein Pferd aber war vorzüglich, ein dunkler Falber von prächtigem Gliederbau mit feinem Kopf.

Er grüßte dann schon von weitem und sprach die beiden Deutschen mit höflicher Verbeugung an.

„Sennores, würdet Ihr mir gegen gute Bezahlung ein paar Zigarillos ablassen?“ meinte er. „Mein Vorrat ist verbraucht, und ich habe noch einen weiten Weg vor mir bis zur Estanzia San Antonio, die südöstlich der Lagune Saladillo liegt.“

Heberlein horchte auf. „Ah, Sennor, Ihr kennt also diese Lagune wohl genauer?“ fragte er, indem er dem Mulatten seine wohlgefüllte Zigarrentasche reichte.

„Sehr genau. – Vielen Dank, Sennor. Darf ich mir sechs Stück nehmen?“

So kam man ins Gespräch. – Der Mulatte erklärte, er sei Schafscherer auf der Estanzia San Antonio und habe jetzt gerade seine alte Mutter in dem westwärts gelegenen Städtchen San Karlos besucht.

Als Heberlein ihm dann mitteilte, daß sie Auswanderer seien, die gerade an jener Lagune sich niederlassen wollten, meinte der Mulatte, der sich Bragada nannte, die Regierung habe den Deutschen leider ein sehr ungünstiges Gebiet zugewiesen, da der Boden dort so salpeterhaltig sei, daß fast nichts, kaum ein paar Sträucher gediehen. Im übrigen, fügte er hinzu, könnten die Auswanderer gut drei Tagemärsche sparen, wenn sie einem sehr bald auftauchenden ausgetrockneten Flußbett folgten, das noch den Vorteil eines tennenglatten Weges böte.

Nachdem Heberlein mit Triebel Rücksprache genommen, der sehr enttäuscht darüber war, daß die Lagune so wenig günstige Siedlungsbedingungen gewähre, folgte man dem Rate Bragadas und bog nachher in das Flußtal ab. Der Mulatte hatte gebeten, sich den Deutschen anschließen zu dürfen, zeigte sich sehr hilfsbereit, schirrte die Maultiere zweckmäßiger an und gab den Männern allerlei Ratschläge, die recht wertvoll waren.

So verging auch dieser Tag. Abends lagerten die Auswanderer in einem kleinen Seitentale des Flußbettes, wo die steilen Talränder gestatteten, die Tiere frei weiden zu lassen, nachdem die Wagen den Ausgang versperrt hatten.

Der Uhrmacher Triebel, der selbst einem so einfachen Menschen wie dem Mulatten gegenüber sich als Anführer der Karawane aufspielen und ihm beweisen wollte, wie tatkräftig, zielbewußt und erfahren er sei, erteilte allerlei Befehle, schnauzte den dicken Alexander Mausig, der viel zu faul zu einer Widerrede war, des öfteren an und verabfolgte auch seinem Sohne wieder recht grundlos einige Ohrfeigen, dies freilich, als Benno Heberlein nicht in der Nähe war, denn der hätte derartige Züchtigungen nie so ohne weiteres hingehen lassen.

Überhaupt: Oskar Triebel hatte es in der letzten Zeit geradezu meisterlich verstanden, sich nicht nur bei all seinen Landsleuten recht unbeliebt zu machen, sondern das bis dahin noch leidlich gute Verhältnis zwischen sich und dem kleinen Zahntechniker derart zu verschlechtern, daß es eigentlich jede Stunde zu einem bösen Krach zwischen ihnen kommen konnte.

Erich Triebel hatte sich, nachdem er die Ohrfeigen in fast sklavischer Unterwürfigkeit ohne jedes Zeichen geringster Auflehnung hingenommen, tief beschämt vom Feuer zurückgezogen, war an der harten Lehmwand des Tales hochgeklettert und ein Stück weiter nach Osten zu am Rande des tiefen Bodeneinschnittes entlanggewandert. Hier von der Höhe aus bot der Lagerplatz mit der Reihe der vier zelttuchüberspannten Wagen, den lodernden Feuern daneben und den langsam beim Grasen sich bewegenden Tieren ein recht phantastisches Bild dar.

Erich erinnerte sich an Geschichten, die er mal vor Jahren heimlich gelesen, – heimlich, denn der strenge Vater hatte ja jedes Buch als eitel Zeitvertrödeln bezeichnet. Ja – an abenteuerliche Geschichten aus fernen Ländern, die der Junge geradezu verschlungen hatte und durch die in seinem Herzen ein stilles Sehnen nach jenen Wundern und nach all dem Seltsamen aufgegangen war, das die Fremde wohl bieten mußte. Und nun – nun hatte das Schicksal ihn wirklich in die Welt des Wunderbaren geführt. Für ihn bedeutete ja Argentinien nichts anderes als ein Land voller Merkwürdigkeiten. An allem – an jeder Schlange, die durch die Gräser huschte, jedem bunten Vogel, jeder Herde halbwilder Pferde (und man hatte bereits verschiedene angetroffen), jeder weißschillernden, mit Salzkrusten bedeckten ausgetrockneten Lagune hätte er seine Freude haben können, wenn nicht immer die drohend erhobene Hand des Vaters wie ein Schreckbild ihm vorgeschwebt hätte.

Tiefe Bitterkeit bemächtigte sich seiner, wie er nun so regungslos dastand und hinabschaute auf das eigenartige, nächtliche Gemälde des Auswandererlagers. Und zum ersten Male heute stieg in ihm ein bitterer Groll hoch gegen den Vater, wuchs sich aus zu einem Gefühl ohnmächtigen Grimmes …

Ein Schluchzen stieg in seiner Kehle hoch … Wenn nicht Benno Heberlein und Anna Bendig so lieb und freundlich stets zu ihm gewesen wären, hätte er dieses Leben kaum ertragen, besonders hier nicht inmitten der unberührten Natur der weiten Steppen, wo alles Freiheit atmete, wo jeder Lufthauch wie ein Raunen von freiem Menschentum war.

Benno Heberlein …! Ja – das war so ein Mann, wie er ihn liebte. Grundgütig, dabei doch nicht weichlich, ruhig, von selbstbewußter Tatkraft, heiter dabei und klug, weit klüger als der Vater, der ja nur stets sich den Anschein gab, als verstünde er alles, und der in Wirklichkeit doch immer befolgte, was der kleine Benno vorschlug.

Wo Heberlein nur hingegangen sein mochte? Ganz still hatte er sich gleich nach der Abendmahlzeit entfernt. Aber – er hatte seine Waffen mitgenommen. Das hatte Erich sehr wohl bemerkt.

Der Junge schritt weiter ein Stück in die Steppe hinaus einer Strauchinsel zu, die wie ein schwarzer Fleck dort in der Ferne im Mondlicht von dem helleren Boden sich abhob.

Die Mondsichel hatte bereits starke Neigung, sich zur vollen Scheibe zu füllen. Ein freundliches Dämmerlicht lag über der endlosen Ebene, deren Graswuchs sehr ungleichmäßig war, je nach der Fruchtbarkeit des Bodens. Förmliche Gassen zogen sich zwischen den wispernden, dichten, fast mannshohen Gräsern entlang. Und in diesen Gassen versank der Fuß oft in der von Wühlmäusen und allerlei Erdnagern unterminierten Lehmschicht.

Da – der Knabe zuckte leicht zusammen. Der Nachtwind hatte ihm den schwachen Knall zweier Schüsse zugetragen, – Revolverschüsse, sagte Erich sich sofort, denn auch das hatte er hier bereits gelernt: Kugelbüchse und Revolver dem Knall nach zu unterscheiden. Heberlein war auch in diesen Dingen sein eifriger Lehrmeister gewesen; er verstand ja alles; und was er noch nicht kannte, machte er sich dank seines hellen Kopfes schnell zu eigen.

Erich überlegte. Der Wind kam aus der Richtung jener Buschinsel dort. Vielleicht waren die Schüsse dort also gefallen. Ein Jäger konnte sie kaum abgegeben haben. Dazu, um auf Wild zu schießen, genügte das Licht doch nicht.

Fünf Minuten später hatte der Junge die Strauchinsel fast erreicht. Er erkannte, daß diese aus mächtigen Kakteen, die überall an sandigen Stellen der Pampas zu finden sind, und einem Dickicht aus Artischockendisteln bestand, jenen oft zwei Meter hohen, sich ineinander verschlingenden Pflanzen, die häufig meilenweite, undurchdringliche Hindernisse bilden.

Zehn Meter vor ihm reckte eine Kaktee von abenteuerlichen Formen ihre stachligen Zweige und lederartigen Blätter in die Luft. Sie war sozusagen ein Ausläufer der Buschinsel, und um sie herum war der Boden völlig kahl, weich und sandig. Der Knabe bemerkte nun gerade hier recht deutlich sich abzeichnende Eindrücke im Sande, die wie Fußspuren aussahen. Bald war er überzeugt, daß hier ein Mensch auf die linke Ecke der Buschinsel zugegangen war. Vielleicht – vielleicht gar Heberlein …

Und dieser Gedanke weckte schnell ernste Besorgnisse um den gütigen Freund in der Brust des Knaben. Schüsse waren gefallen – – zwei Revolverschüsse …! Und – was hatte doch damals der Stationsvorsteher in Santa Rosa, als der Gaucho unter Zurücklassung seiner Waffen geflohen und auch nicht mehr zurückgekehrt war, von den Räubern der Pampas, den Bombachas, erzählt …? Hatte der Spanier die Auswanderer nicht gewarnt, hatte er nicht geraten, ja stets nachts Wachen aufzustellen und lieber zu früh als zu spät auf jeden Verdächtigen zu schießen …?! – Man war ja auch vorsichtig gewesen, und stets hatte Heberlein gerade in den kritischen Stunden von Mitternacht bis gegen Morgen die Wache übernommen …

Die Bombachas …! Richtig, so hatte der Spanier die Banditen bezeichnet, weil sie noch weitere Lederhosen (Bombachas) als die Gauchos tragen sollten … Freilich – der Beamte hatte noch nie einen dieser Banditen zu Gesicht bekommen, die mehr im Herzen der weiten Steppen hausten, einsame Estanzias und Ranchos gelegentlich überfielen, besonders aber den Maultierkarawanen auflauerten …

Damals hatte Heberlein den Beamten dann geradeheraus gefragt, ob dieser etwa annehme, daß der Gaucho kein ehrlicher Viehhirt, sondern ein Bombacha gewesen sein könne. – Doch da hatte der Spanier nur die Achseln gezuckt …

All dies schoß dem Jungen jetzt durch den Kopf.

Ganz regungslos verhielt er sich, lauschte mit angespannten Sinnen. Leise knisterten die trockenen Kakteenzweige, rauschten die Gräser …

Nun – nun, – und Erichs Kopf fuhr hoch, – – das war das Wiehern eines Pferdes gewesen!

Die schlanke Gestalt des Knaben, dessen Gesicht die Sonne jetzt bereits braunrot gebrannt hatte, sank blitzschnell zusammen, schmiegte sich in den Sand, schob sich vorwärts, immer den Fußspuren nach.

Seine Rechte tastete dabei nach dem Ledergürtel, an dem die Revolvertasche hing. Auch diesen Revolver hatte er Heberlein zu verdanken, der ihn ihm geschenkt hatte trotz des Vaters Widerspruch: „Was soll der grüne Bengel mit einer Schußwaffe?!“ – Es war einer der Revolver des Gauchos. Ebenso hatte Erich auch dessen langes Messer erhalten. Und – wie glücklich war er darüber gewesen! Mit welchem Eifer hatte er dann unter Heberleins Anleitung Schießen gelernt, selbst mit dessen moderner Doppelbüchse ohne Hähne, die wie ein Spielzeug aussah und doch so vorzüglich schoß …

Erich entsicherte den Revolver, schob ihn dann vorn zwischen die Knöpfe der grüngrauen, derben Leinenjoppe.

Abermals das Wiehern … Nun auch schnell verwehende menschliche Stimmen … – Der Junge verdoppelte seine Vorsicht. Er ahnte, daß ihm irgendein ernstes Abenteuer bevorstand. Aber – auch nicht die Spur von Furchtgefühl empfand er. Nein – er dachte nur an den Vater. Und in seiner Seele stieg der Wunsch auf, diesem zu zeigen, daß er – kein grüner Bengel mehr sei …

Hier, allein sich selbst überlassen, war er ein ganz anderer geworden. All das Bedrückte, Scheue, Unsichere war von ihm genommen. Sein wahres Wesen offenbarte sich. Und das ähnelte wohl dem Großvater mütterlicherseits, von dem er auch die Gesichtszüge geerbt hatte. Dieser Großvater war ja in jungen Jahren drüben in Afrika in den Minendistrikten von Kimberley gewesen, hatte dort im Kampf mit den kriegerischen Matabele-Negern ein Auge verloren und schwärmte noch als Greis mit aufleuchtendem Gesicht von jenen Zeiten.

Erich bog jetzt um die Ecke der Buschinsel herum, kroch an dem Dickicht entlang, hörte plötzlich das leise Wiehern jetzt von rechts, fand eine Lücke in den stachligen Artischockendisteln, wagte sich hinein, roch frischen Pferdedünger, sagte sich, daß er auf der richtigen Fährte sei, und – sah sich nach einigen zwanzig Metern am Steilabhang einer schluchtartigen Bodenvertiefung, in der um ein nur ganz niedrig brennendes Feuer drei Männer in Gauchoanzügen lagen, während ein vierter mehr im Hintergrunde unweit der Pferde sich in das spärlichen Gras gestreckt hatte.

Drei Männer am Feuer …! Ein Blick genügte. Erich erkannte in dem, der ihm das Gesicht voll zukehrte, nach der Kleidung, die Heberlein ihm so genau beschrieben hatte, jenen rüden Patron vom Bahnhof in Santa Rosa wieder … Ja – das war das rote Hemd, das war der bandlose Strohhut mit den Löchern vorn, die wie Schußstellen aussahen. Gerade diese Löcher hatte Heberlein erwähnt … Ein Irrtum war hier ausgeschlossen …

Und nun, … neben diesem Kerl lehnte ja, gestützt gegen einen Sattel, eine moderne Doppelbüchse … Auch hier konnte Erich sich nicht täuschen: es war die Heberleins!

Und – Benno Heberlein war der Mann, der da vor den Pferden im Grase auf dem Rücken lag – – gefesselt, wehrlos, ein Gefangener!

Der Knabe prüfte die Örtlichkeit. Dann schob er sich nach rechts herum am Rande der vielleicht vier Meter tiefen Schlucht nach einer Stelle hin, wo hohe Büschel des schilfartigen Ananasgrases wuchsen, die ihn vollständig verbergen mußten.

Die drei Gauchos (falls es nicht Bombachas waren!) unterhielten sich halblaut, rauchten dazu Zigaretten, die sie mit erstaunlicher Fingerfertigkeit im Umsehen sich selbst drehten. Nach kaum zehn Minuten standen zwei auf, reckten sich, holten ihre Pferde und verließen die Schlucht, indem sie eine schmale, vom Regen ausgewaschene Rinne als Treppe benutzten.

Der im roten Wollhemd war zurückgeblieben, nahm nun Heberleins Büchse zur Hand und probierte an deren Schloß herum, das er offenbar nicht zu öffnen wußte.

Erich wartete noch eine Weile. Dann glitt er wieder vorwärts, – dorthin, wo der Boden der Schlucht langsam anstieg und in das Dickicht überging.

Das Pferd des Gauchos beachtete den Knaben nicht weiter, der jetzt an ihm vorüber auf den Gefangenen zukroch.

Heberlein spürte plötzlich zwei kurze Rucke an seinen Fußfesseln. Er wandte den Kopf, … traute seinen Augen nicht: … das Gesicht – dies junge Gesicht unter dem Riesenstrohhut mit dem buntgestreiften, breiten Bande war Erich … Erich Triebel … – so unwahrscheinlich es auch schien.

Und dieser Erich hatte ihm nun auch im Nu die Hände frei gemacht, reichte ihm schweigend einen Revolver …

Der Gaucho, der mit dem Rücken nach den beiden dasaß und noch immer die schöne Büchse betrachtete, deren Schloß der verdammte Deutsche ihm nicht hatte erklären wollen, schnellte entsetzt hoch, als ihm die Waffe mit einem Male von hinten entrissen wurde.

Benno Heberlein stand vor ihm, legte auf ihn an und sagte gemütlich:

„Verehrtester Sennor, wenn Ihr auch nur eine einzige verdächtige Bewegung macht, dann werde ich in Euren Hut noch ein Loch hineinfabrizieren, aber eins, das auch gleich durch den Schädel geht! Legt bitte die Hände auf den Rücken …! – So – das ist verständig, daß Ihr gehorcht …! – Erich, binde ihm die Greifwerkzeuge zusammen!“

Gleich darauf verließen die drei die Schlucht und wandten sich dem Lagerplatz der deutschen Auswanderer zu. Der Knabe führte das Pferd des Gauchos am Zügel. Heberlein aber hatte dessen Herrn mit einem Riemen so an den Gaul festgebunden, daß jener nebenhergehen mußte.

Der kleine Zahnkünstler befand sich jetzt wieder in bester Stimmung.

„Mein Junge, die Geschichte hätte für mich etwas unangenehm werden können, wenn du nicht rechtzeitig erschienen wärest,“ meinte er. „Ich will Dir jetzt nur gestehen, daß ich den Mulatten Bragada gleich im Verdacht hatte, lediglich als Spion zu uns gekommen zu sein. Er hat uns, auch das merkte ich, nur in das Flußbett gelockt, weil dieses uns eben an einen Ort führen mußte, wo wir am leichtesten zu überfallen waren – an unseren jetzigen Lagerplatz. Ich bin dann vorhin heimlich in die Steppe hinausgeschlichen, um festzustellen, ob nicht in der Nähe die von mir – mit Recht – vermuteten Spießgesellen Bragadas sich versteckt hielten. Ich hatte Pech: mein alter Freund vom Bahnhof her war gerade dicht bei unserem Lagerplatz gewesen, sah mich davongehen und – sprang mir von hinten an die Kehle. Nur zwei Alarmschüsse konnte ich noch schnell abgeben. – Na – nun ist die Schlappe ausgewetzt, und Dein Vater, Freund Erich, soll hinfort Dich hübsch ungeschoren lassen, sonst …!!“

Heberlein hatte dem letzten Satz einen anderen, längeren Schluß geben wollen. Doch – ein warnendes „Pst – da vor uns!!“ des Knaben ließ ihn nun ebenfalls zwei Pferde erkennen, die rechts von ihnen in einer der schmäleren Gassen des Grasbodens mit hängenden Köpfen dastanden.

„Nehmen wir sie mit!“ meinte Heberlein. „Die beiden Genossen unseres Gefangenen spielen jetzt am Lagerplatz die Späher und sollen auf Bragada warten, der ihnen angeben will, wann die günstigste Zeit zum Angriff ist. Ich habe die drei ja bequem belauschen können. Sie legten sich beim Sprechen gar keinen Zwang auf.“

Der Gaucho fluchte leise. – Heberlein lachte. „Ja, ja, Sennor, so leicht, wie ihr es euch vorgestellt habt, sind wir doch nicht auszuplündern!“

Man war dem Seitentale des Flußbettes jetzt auf hundert Meter nahe gekommen.

Der Gaucho, der wohl fürchten mochte, daß Heberlein die beiden anderen niederschießen würde, falls er sie bemerkte und falls sie sich zur Wehr setzten, stieß plötzlich einen gellenden Schrei aus, dem er ein einzelnes spanisches Wort folgen ließ, das Heberlein jedoch nicht verstand.

 

3. Kapitel.

Die Lagune Saladillo.

Herr Oskar Triebel hatte kaum die Abwesenheit seines Sohnes wahrgenommen, als er auch sofort wieder allerlei Bemerkungen über des Jungen Charakter, störrisches Wesen und dergleichen gemacht und auch mit Redensarten wie: „Werde ihm das schon austreiben …!“ schnell bei der Hand gewesen war, bis selbst dem sonst so gleichgültigen dicken Schauspieler die Galle überlief und auch dessen Schwester sich einmischte, gegen deren Zungenfertigkeit schwer aufzukommen war. Es entspann sich daher ein lauter Streit, und das ältliche Fräulein Klementine erklärte schließlich mit überschnappender Stimme: „Sie – Sie sind kein Vater, Sie sind ein – Schinder, ein Tyrann, und Sie verdienten, daß Ihnen einer auch mal ein paar Backpfeifen genau so –“

In diesem Augenblick trat Heberlein an das Lagerfeuer heran, rief Fräulein Mausig zu, sich nicht weiter aufzuregen, und wandte sich dann an Triebel mit den Worten:

„Mit den Backpfeifen hat’s überhaupt ein für allemal ein Ende …! Wir haben es nur Erich zu verdanken, daß wir einer Bande von Buschkleppern entgangen sind, die es auf uns abgesehen hatten. – Wo ist Bragada geblieben?“ fügte er dann hinzu.

„Er war doch soeben noch hier!“ meinte Alexander Mausig. „Er hatte sich dort ins Gras gelegt, und …“

„Ja – und dann hat er seines Genossen Warnungsruf gehört und sich dünne gemacht!“ vollendete Heberlein.

„Warnungsruf?! Wir glaubten, daß Sie diesen Juchzer ausgestoßen hätten,“ sagte Triebel recht kleinlaut.

Dann erschien Erich mit den drei Pferden und dem Gefangenen. Heberlein ließ sogleich die Feuer auslöschen, damit die Banditen nicht etwa oben vom Talrande herab auf die hier Versammelten schössen.

„Hinein in die Wagen mit den Frauen!“ befahl er weiter. „Wir Männer aber werden sofort die Maultiere anschirren und aus dieser Mausefalle hinausfahren. Das Mondlicht genügt dazu …“

Triebel wagte nicht zu widersprechen, als Heberlein jetzt so plötzlich die Führerrolle übernahm. Seinem Jungen ging er aus dem Wege. Er ahnte, daß er heute die Macht über ihn verloren hatte. Und, so sehr ihn das auch wurmte, – er freute sich doch darüber, daß sein Erich ein so wackerer Bursche war. Es war ja sein Sohn, und nur von ihm konnte der Junge diesen Schneid geerbt haben, dachte er. –

Heberlein führte den Wagenzug nach Nordosten zu in das Flußbett zurück, schlug also denselben Weg ein, den man schon am Tage zurückgelegt hatte. Erst nach einer Stunde wurde dann halt gemacht. Die Wagen fuhren im Viereck auf, die hohen, inneren Seitenwände der Wagenkasten wurden an den Rädern befestigt und außerhalb dieser Wagenburg große Feuer angezündet, so daß man nun vor jedem plötzlichen Überfall sicher war.

Die Nacht verging ohne Störung. Am Morgen gab Heberlein den Gefangenen frei, nachdem er ihn ernstlich verwarnt hatte. Wortlos zog der Buschklepper ab – zu Fuß, denn ihm sein Pferd auszuhändigen, unterließ Heberlein absichtlich. Er hoffte so, die vier Bombachas, die sich ja fraglos sehr bald wieder vereinigen würden, am ehesten loszuwerden.

Triebel hatte gegen die Freigabe des Banditen allerlei einzuwenden gehabt, wurde aber überstimmt, da auch die Frauen mit Ausnahme von Hedwig Triebel dies für das Richtige hielten. Vormittags ging dann ein starker Regen nieder, der einige Stunden dauerte, so daß Heberlein, nachdem der Wagenzug das Flußbett verlassen hatte und in der Richtung auf den früheren Weg zu abgebogen war, mit Bestimmtheit annahm, die vier Buschklepper würden die Spuren des Auswandererzuges nicht so leicht auffinden können.

Dies traf auch zu. Eine Woche später hatte man die Lagune von Saladillo erreicht, ohne von den Bombachas noch etwas bemerkt zu haben. Wie sehr der Mulatte Bragada die Deutschen über die Bodenbeschaffenheit des ihnen zugewiesenen Ansiedlungsgebietes angelogen hatte, zeigte sich jetzt mit aller Klarheit zu deren freudigster Überraschung.

Der salzhaltige See, ein kaum anderthalb Meter tiefes Wasserbecken von eirunder Form und etwa 250 Meter Länge, wurde nach Norden und Osten durch weite Araukarienwälder eingerahmt, während im Westen und Süden Weideland mit kleineren Gehölzen abwechselte. Von Westen her, von den Ausläufern der Kordilleren, mündete ein Flüßchen in die Lagune und führte ihr so reichlich Süßwasser zu, daß in dem See eine ganze Menge Fische gedeihen konnten.

Das Landschaftsbild war hier überraschend abwechslungsreich. Am Südufer der Lagune gab es einige Hügel, deren sandige Kuppen mit Kakteen über und über bedeckt waren. Diese Stelle wurde denn auch von den Deutschen auf Heberleins Vorschlag zur Errichtung der Baulichkeiten ausgewählt.

Die Auswanderer waren am Spätnachmittag am See angelangt, hatten die Nacht wieder in ihrer Wagenburg zugebracht und begannen erst am folgenden Mittag mit den Vorbereitungen für den Bau der nötigen Häuser und Stallungen.

Am Ufer der Lagune wurde der feuchte Lehmboden aufgegraben und daraus mit Hilfe von schnell zusammengenagelten Holzformen Lehmziegel hergestellt, die man an der Sonne trocknen ließ. Dies geschah schon in wenigen Tagen. So gewann man ein bequemes und dauerhaftes Baumaterial, das ja überall in den Pampas Verwendung findet.

Zwei Wohnhütten, ein langes Stallgebäude und ein Vorratshaus erforderten im ganzen nur zwei Wochen Bauzeit. Freilich: seitdem Triebel seiner angemaßten Würde als Oberhaupt der Kolonisten entkleidet war und Benno Heberlein allein noch bestimmte, was und wie gearbeitet werden sollte, durfte niemand sich schonen, selbst Alexander Mausig und die überfeine Hedwig nicht. In dieser Beziehung verstand Heberlein keinen Spaß. Er konnte sehr deutlich werden, wenn er zum Beispiel Fräulein Hedwig dabei abfaßte, daß sie mit einem ihrer Romane sich „seitwärts in die Büsche geschlagen“ hatte. Ihre hoheitsvolle Miene imponierte ihm nicht im geringsten, und genau so machte er es mit Alexander Mausig, dessen Bäuchlein sehr bald kleiner und kleiner wurde.

Nachdem dann auch noch Viehhürden und manches andere fertiggestellt waren, schickte Heberlein Erich Triebel nach der nächsten Estanzia San Antonio, um dort Rinder und Schafe einzukaufen und durch die Gauchos des Besitzers hertreiben zu lassen.

Es war dies für den Knaben ein recht verantwortungsvoller Auftrag. Lag doch die Estanzia San Antonio (der Mulatte Bragada hatte in diesem Punkte die Wahrheit gesagt) etwa zwanzig deutsche Meilen weit nach Osten zu. Weder Weg noch Steg gab es dorthin. Dieser Teil der endlosen Steppen war ja überhaupt der noch am dünnsten besiedelte ganz Argentiniens, abgesehen von den Steinwüsten Patagoniens noch weiter südlich. Dann bekam der Junge auch eine ganz beträchtliche Summe Geldes mit für die beabsichtigten Viehkäufe, mußte außerdem auch achtgeben, daß man ihn nicht zu übervorteilen suchte.

Doch Benno Heberlein setzte in Erichs Fähigkeiten jetzt, nachdem er ihn während des Baues der Hütten genügend beobachtet und seine helle Freude an des Jungen Anstelligkeit und regem Verstande gehabt hatte, ein so uneingeschränktes Vertrauen, daß er mit aller Zuversicht dessen Rückkehr entgegensah.

Erich hatte die Estanzia Saladillo – so wurde die neue Viehfarm nach dem Namen der Lagune getauft – gerade drei Wochen nach Eintreffen der Auswanderer an ihrem Bestimmungsort bei trübem, regnerischem Wetter morgens verlassen. Er ritt wieder den Falben Bragadas, seinen Hektor, mit dem er sich bereits vorher auf weiten Ausflügen in die Umgebung so sehr anzufreunden wußte, daß der lebhafte, ausdauernde Hengst spielend leicht eine gute Dressur angenommen hatte. Außer Revolver und Messer führte Erich jetzt auch einen früheren Militärkarabiner mit sich, den Triebel zusammen mit anderen Schußwaffen in Buenos Aires gekauft hatte. Seine Reiseausrüstung wurde vervollständigt durch zwei wollene Decken und einen hinten am Sattel angeschnallten Proviantsack. Um nicht bis auf die Haut durchnäßt zu werden, da zuweilen förmliche Sturzregen herabkamen, trug der Knabe die eine Decke als Poncho über den Schultern, das heißt, er hatte in die Decke ein Loch geschnitten, durch das der Kopf gerade hindurchging.

Gegen sechs Uhr früh war er von Hause weggeritten. Zunächst durchquerte er eine Stunde lang in schlankem Trab ein Gelände, das mit seiner dichten Rasendecke des bereits erwähnten schilfartigen Ananasgrases vorzügliches Weideland darstellte. Hierauf folgte ein meilenweiter sandiger Streifen, der hauptsächlich mit Kakteen bestanden war, deren undurchdringliche Felder mit ebenso stachligen von Artischockendisteln abwechselten. Auch hier gab es ein ungehindertes Vorwärtskommen nur mit Hilfe der zwischen den dornigen Riesenverhauen freigebliebenen Stellen, die jedoch oft wie die Wege eines Labyrinths in eine Sackgasse ausliefen.

Als Erich sich etwa in der Mitte dieser Wildnis befand, die er erst einmal weiter nördlich durchquert hatte, erhob sich ein scharfer Südwind, der hier regelmäßig klares Wetter brachte. In kurzem hatte sich dann auch der Himmel völlig aufgeklärt, und ebenso schnell war auch des Knaben Poncho getrocknet. Der warme Sonnenschein machte den Falben so munter, daß dieser ganz von selbst in Galopp überging.

Der Knabe hatte bereits einige Male der Sackgassen wegen kehrtmachen müssen und suchte sich nun stets die breitesten offenen Stellen als Weg aus, selbst wenn diese von seiner Richtung etwas abbogen. So war er jetzt einige hundert Meter nach Süden geritten, ließ Hektor nun aber in Schritt fallen, um nach einem mehr ostwärts verlaufenden Pfade auszuspähen. Während er so die Blicke über die grüngelben Kakteenfelder und die dunkler gefärbten Distelstrecken schweifen ließ, gewahrte er eine im Winde schnell zerflatternde Rauchsäule, die aus einem kleinen Algaroben-Wäldchen hochstieg. Diese Baumart gedeiht nun in den Pampas nur in der Nähe von Wasser. Erich sagte sich also mit Recht, daß es dort inmitten eines scheinbar völlig unpassierbaren Kakteenfeldes notwendig eine Lagune oder eine der hier so seltenen, im Lehmboden schnell wieder verschwindenden Quellen geben müsse. Weiter sagte er sich aber auch, daß dort drüben Menschen lagern müßten, denn wo Rauch, da auch Feuer, und wo Feuer, da auch die, die es angezündet hatten.

Er hätte der leicht verwehenden Rauchsäule nun wohl kaum so große Beachtung geschenkt, wenn nicht sein Freund Heberlein gerade ihn immer wieder darauf hingewiesen hätte, daß er es nicht für ausgeschlossen hielte, die vier Buschklepper könnten sich für den Verlust ihrer Pferde zu rächen suchen, obwohl diese ja in Argentinien keinen besonderen Wert haben. Wertvoll waren jedoch die Sättel gewesen und der Inhalt der Packtaschen, in denen man zahlreiche Patronen und auch für etwa tausend Mark argentinisches Papiergeld gefunden hatte. Außerdem rechnete Heberlein aber ganz besonders mit den Rachegelüsten des alten Bekannten vom Bahnhof in Santa Rosa her, der ja ganz den Eindruck machte, als vergäße er eine erlittene Schlappe nicht so leicht. Deshalb hatte Heberlein den Knaben auch täglich, freilich stets, um die anderen nicht zu beunruhigen, unter einem Vorwand, zu Pferde hierhin und dorthin geschickt, damit der Knabe die Umgebung der Farm nach verdächtigen Spuren absuchen könnte.

Erich hielt es daher auch jetzt für ratsam, festzustellen, wer jene Leute seien, die hier inmitten dieser Einöde lagerten. Er stieg ab, brachte Hektor in einem schmalen Einschnitt eines Distelfeldes unter, wo der Falbe sich auch ganz gehorsam lang in den Sand streckte.

Eine Viertelstunde drauf hatte der Knabe bereits herausgebracht, daß es zu jenem Wäldchen offenbar nur einen ganz versteckt liegenden Weg durch die stachligen Pflanzenmassen gäbe. Leider hatte der Regen die Nachsuche nach Spuren sehr erschwert, und so dauerte es denn eine weitere halbe Stunde, ehe der Junge endlich diesen nur für Eingeweihte kenntlichen Pfad entdeckt hatte, dessen Anfang durch einen künstlichen Verhau von herausgerissenen Kakteenstauden versperrt war. Als er diese mit dem Büchsenkolben beiseitegeräumt hatte, konnte er den wenig über anderthalb Meter breiten Pfad ungeniert bis zu dem Wäldchen verfolgen. Er tat dies mit aller Vorsicht, da frischer Pferdedünger ihm anzeigte, daß tatsächlich Reiter in diesem Versteck sich verborgen hielten. Welcher Art diese Leute sein mußten, darauf deutete ja schon zur Genüge die Tatsache hin, daß hier weit abseits von den nächsten Estanzias ein so schwer auffindbarer Schlupfwinkel angelegt worden war.

Die letzte Strecke bis zu den Bäumen, zwischen denen dichtes Unterholz wucherte, kroch der Knabe auf allen vieren. Dann schob er sich durch eine Lücke zwischen den Bäumen hindurch und erblickte nun zu seinem Erstaunen einen kleinen Weiher klaren Wassers, an dessen Nordufer eine große Lehmhütte mit Fenstern und daneben eine einfachere, ein Stall, sich erhoben. Der Rauch entstieg dem Schornstein der Wohnhütte. Vor derselben saßen an einem langen, primitiven Tisch auf ebenso primitiven Bänken elf Männer, darunter drei Mulatten und zwei Indianer. Die anderen vertraten den argentinischen Mischlingstyp zwischen Spaniern und Indianern.

Die Leute trugen sämtlich die übliche Gauchostracht und – spielten Karten, wobei es recht lärmend herging. Dann trat ein zwölfter aus der Hütte – kein anderer als der Mann im roten Wollhemd. Und hinter ihm drein schritt mit einer mächtigen, dampfenden Schüssel als dreizehnter der Mulatte Bragada.

Erich wußte genug. Das war eine äußerst gefährliche Nachbarschaft für die Estanzia Saladillo! Ein Schlupfwinkel von dreizehn Bombachas keine sechs Meilen von der neuen Ansiedlung entfernt bedeutete für die Ansiedler ja eine ständige Bedrohung.

 

4. Kapitel.

Eine Hetzjagd zu Pferde.

Der Knabe überlegte nicht lange. Seinen Ritt durfte er auf keinen Fall fortsetzen. Erst mußte er die Seinen warnen. Benno Heberlein würde dann schon Rat schaffen, was zu geschehen hätte, um das Gesindel zu verscheuchen.

Kurz nachdem Erich dann seinen Hektor bestiegen und einige hundert Meter im Trab dahingeritten war, schaute er sich – und dies nicht zum ersten Male – vorsichtig um. Bisher hatte er nichts Verdächtiges wahrgenommen. Jetzt aber …: Fünf Reiter jagten in Karriere hinter ihm her, waren kaum noch zwei Büchsenschußweiten entfernt. Es konnten nur Leute der Bande jenes angeblichen Gauchos sein …! Sie mußten ihn durch einen Zufall entdeckt haben, als er davonschlich …

Er gab dem Falben die Sporen. Das brave Tier, an diese schmerzhafte Aufmunterung nicht gewöhnt, schoß leise aufwiehernd wie ein Pfeil vorwärts. Zum Glück konnte der Junge die Fährte seines Herrittes noch leidlich erkennen und daher rechtzeitig wahrnehmen, wo er vorher in eine der Sackgassen geraten war.

Eine halbe Stunde ging die Hetze in unverminderter Eile weiter. Die fünf Verfolger erzielten keinen Vorteil, blieben aber auch wenig zurück. Sie mußten jedenfalls vorzüglich beritten sein. Hier kam es also lediglich auf die Ausdauer der Tiere an. Und – in dieser Beziehung hegte der Knabe sehr bald ernsthafteste Besorgnis, da Hektor an ein solches Tempo nicht gewöhnt, eher sogar etwas zu rundlich durch gutes Futter und Ruhe geworden war.

Abermals wandte Erich jetzt den Kopf. Zweierlei erkannte er mit schnellem Blick: die fünf hatten mindestens siebzig Meter aufgeholt, und – der vorderste von ihnen schwenkte in der Hand ein weißes Tuch …

„Dieses Zeichen des Friedens?! – Nur eine List!“ dachte Erich und drückte Hektor aufs neue die Sporen in die Weichen …

Der Falbe warf Flocken, sein Fell schäumte von Schweiß, und sein keuchendes Atmen wurde lauter und lauter.

Da – das letzte Kakteenfeld … Jenseits ein Gebiet, das Erich so gut kannte, als wäre er hier groß geworden.

Wieder bekam Hektor die Sporen zu kosten. Seine letzten Kräfte nahm er da zusammen. Abwärts ging’s nun über den Lehmboden, die Grasnarbe, über die Bauten von zahllosen Erdwühlern in eine Schlucht hinein, die nach einer bereits völlig ausgetrockneten Lagune führte, deren einstiger Wasserspiegel jetzt wie eine hier und da mit Sand bewehte Eisfläche glänzte, denn die Salzkristalle bildeten eine dicke Schicht und hatten sich oft zu seltsamen Gebilden vereinigt, die wie einzelne Eisblöcke aussahen.

Westlich dieser Lagune ragte ein durch Regengüsse allmählich aus der Umgebung herausgewaschener Hügel mit steilen Wänden hoch über die Pampas hinweg, täuschte eine Felspyramide vor, auf der sich allerlei Sträucher angesiedelt hatten.

Auf diesen riesigen Lehmklotz hielt Erich zu. Von der Nordseite konnte man den abschüssigen Hügel mit Hilfe eines ihn durchziehenden breiten Riffes unschwer erklimmen. Erich war bereits zweimal oben gewesen, weil dort ein wilder Pfirsichbaum wuchs, der die prächtigsten Früchte trug.

Jetzt hatte er die sanft ansteigende Spalte erreicht, sprang aus dem Sattel, packte Hektor am Zügel und hastete aufwärts.

Die Plattform bildete ein unregelmäßiges Viereck von einer größten Seitenlänge von zehn Meter. Kaum war Erich oben angelangt, als unter ihm auch bereits die Verfolger, die es nicht gewagt hatten, über die Salzdecke der Lagune zu reiten, angesprengt kamen. Er warf sich am Rande der Plattform lang hin, feuerte dann zur Warnung einen Revolverschuß in die Luft ab.

Der vorderste Reiter, der, welcher vorhin mit seinem Taschentuche gewinkt hatte, riß sein Pferd zurück, hielt an und starrte zu dem Lehmfelsen hinauf.

Jetzt erst fand der Knabe Zeit, die äußere Erscheinung dieses Mannes genauer ins Auge zu fassen. Und – kaum hatte er dies getan, kaum hatte er gesehen, daß jener Weiße einen mehr städtischen Reitanzug und sogar Kragen und Krawatte trug, da sagte er sich auch sofort, er müsse sich hier zu seinem Schaden arg getäuscht haben, die fünf Reiter waren nie und nimmer Buschklepper, wenn sie auch bis an die Zähne bewaffnet waren.

Der Weiße, der einen hellblonden Spitzbart hatte, formte jetzt die Hände als Schallrohr vor dem Munde und rief – sehr zu Erichs ungläubigem Erstaunen! – in deutscher Sprache:

„He – kleiner Ausreißer, – wir sind keine Banditen! Du brauchst uns nicht zu fürchten …! Ich bin Sigurd Thorensen, der Besitzer der Estanzia San Antonio dort im Osten, und diese vier Leute sind die besten meiner Gauchos. Wir befinden uns auf der Suche nach der Bande des Rodrigo Vanesta, die vor vier Tagen bei mir nachts eingebrochen sind und Geld und allerlei Juwelen gestohlen haben … – Wer du bist, hatte ich schnell erraten. Ich wußte, daß Deutsche sich bei der Lagune Saladillo angesiedelt haben, unter ihnen auch ein Junge in etwa gleichem Alter mit meinem Sven. Wir sind aus Norwegen eingewandert, und –“

Da hatte Erich sich bereits erhoben, schwenkte grüßend den Hut und rief hinab:

„All das ist mir bereits bekannt, Herr Thorensen. Ich war gerade auf dem Wege zu Ihnen, um Pferde und Vieh zu kaufen, als ich den Schlupfwinkel der Bombachas entdeckte. – Doch – das Nähere erzähle ich Ihnen besser unten …“

Gleich darauf drückte Herr Thorensen dem Knaben kräftig die Hand.

Und als Erich dann berichtete, wo die Buschklepper jetzt steckten, klopfte ihm der Norweger anerkennend auf die Schulter.

„Bist ein famoses Kerlchen …! Und – wenn wir den Schuften die Beute wieder abjagen, dann sollt Ihr so viel Tiere umsonst haben, wie Ihr nur wollt. Ohne dich, mein Junge, hätten wir wohl umsonst nach dem Versteck der Bande gesucht.“

Während man nun im Schritt wieder nach Osten zu davonritt, erzählte Thorensen dem Knaben, daß sein Sohn Sven mit acht weiteren Gauchos südlich der Stelle, wo die Verfolgung Erichs begonnen hätte, lagerte und daß er selbst mit seinen vier Leuten nur deshalb so eifrig hinter ihm dreingesprengt sei, weil er ihn auf jeden Fall vor den Bombachas warnen und auch ausforschen wollte, ob die deutschen Ansiedler nichts von den Banditen gesehen hätten.

Anderthalb Stunden drauf war der Lagerplatz der größeren Gauchosabteilung erreicht. Hier lernte Erich nun auch Sven Thorensen, einen schlanken, kräftigen Jungen, kennen, mit dem er sehr bald gut Freund wurde.

Herr Thorensen schickte sofort zwei seiner Leute, die sich als Späher bereits bewährt hatten, nach dem Versteck der Buschklepper, das Erich den Kundschaftern ganz genau beschrieben hatte.

Die beiden Kundschafter kehrten nach etwa zwei Stunden zurück und meldeten, daß die Bande noch immer beim Kartenspiel säße. Es herrsche unter ihnen aber bereits Zank und Streit, zumal sie sehr eifrig einem Fäßchen Branntwein zusprächen. Offenbar suche dort einer dem anderen den Anteil der in der Estanzia San Antonio gemachten Beute abzunehmen.

Auf diese Nachrichten hin entschloß Herr Thorensen sich, die Kerle sofort zu überrumpeln, die sich in ihrem Schlupfwinkel so sicher fühlten, daß sie nicht einmal Wachen ausgestellt hatten. Die Umzingelung des kleinen Weihers und der Hütten gelang vollständig.

Erich und Sven Thorensen – auch dieser war bewaffnet, besaß sogar einen amerikanischen, zehnschüssigen Repetierstutzen – lagen nebeneinander im Gebüsch den beiden Hütten gegenüber und hatten daher das Bild der um den langen Tisch herumsitzenden Spieler gerade vor sich …

Der einzige, der sich am Spiel nicht beteiligte, war der Mulatte Bragada. Er lehnte am Türpfosten und musterte mit verächtlichen Blicken die leidenschaftlich erregten Gesichter seiner Genossen, von denen einige bereits völlig betrunken waren.

Die Stimmung der Spieler war so neiderfüllt, da keiner dem anderen den Gewinn gönnte, daß jeden Augenblick eine Schlägerei oder Schießerei entstehen konnte.

Erich Triebel, der noch nie Gelegenheit gehabt hatte zu beobachten, wie sehr die Spielleidenschaft die Gemüter bis zur Siedeglut erhitzen kann, fühlte sich so angewidert, daß er Sven, der ebenfalls des Deutschen mächtig war, zuflüsterte:

„Mein Freund Heberlein hat ganz recht. Er sagt immer: Spieler und Raubmörder unterscheiden sich nur dadurch, daß die Spieler zu feige sind, Raubmörder zu werden, obwohl ihre Geldgier gleichfalls alles Gute in ihnen erstickt.“

Kaum hatte er diese Erinnerung an den kleinen Zahnkünstler aufgefrischt, als drüben drei Revolverschüsse knallten. Ein wilder Lärm folgte. Dann abermals Schüsse …

Rodrigo Vanesta, der Mann im roten Wollhemd, hatte die ersten Schüsse auf drei seiner Genossen abgegeben, die er soeben beim Betrügen abgefaßt hatte. Und sofort hatten auch andere die Revolver gezogen, so daß die drei, die offenbar im Einverständnis miteinander gemogelt hatten, sehr bald regungslos am Boden lagen.

„Werft die Schufte ins Gebüsch!“ befahl Vanesta scharf. Man mußte es ihm lassen: er machte als Buschklepper-Anführer keine schlechte Figur.

Dann trug er eigenhändig das Branntweinfäßchen in die Hütte, versammelte den Rest seiner Leute nachher wieder um sich und erklärte ihnen, daß er das Banditenleben satt habe und hiermit sein Amt als Anführer niederlege.

„Bragada und ich,“ fuhr er fort, „waren noch vor einem Jahr ehrliche Gauchos. Wir wollen versuchen, es wieder zu werden! Dort in den Estanzias am Rande der Kordilleren kennt uns niemand. – Unser beider Anteil an der Beute habe ich absichtlich verspielt. Ihr könnt also nicht sagen, daß wir mit wohlgefüllten Taschen von euch gehen. Im Gegenteil: wir nehmen nichts mit als unsere Pferde und Waffen. Den drei Lumpen, denen wir soeben das Lebenslicht ausgeblasen haben, war ein solches Ende nur zu wünschen. Es waren entsprungene Mörder. Und – meine und Bragadas Hände sind rein von Blut gewesen. – So, nun lebt wohl! Ich kann euch nur den guten Rat geben, ebenfalls wieder ehrlich zu werden. Bei all dem Buschkleppertum kommt nichts heraus!“

Ein Augenblick herrschte Stille.

Dann ein gröhlendes Gelächter. Und einer der Weißen brüllte nun:

„Schau an, der Rodrigo wird ein Tugendheld! He, Rodrigo, – ist vielleicht das Mädel daran schuld, das du damals …“

„Schweig!“ fuhr Vanesta ihn an. „Schweig, oder – ich stopfe Dir das Maul mit Blei! Was weißt du denn von jener Sennorita?! Nichts!“

Der Weiße, ein kleiner, pockennarbiger Mensch, begann mit den anderen eifrig zu flüstern. Inzwischen hatten Vanesta und Bragada ihre Pferde gesattelt. Bevor sie aber noch sich in den Sattel schwingen konnten, bildeten ihre bisherigen Genossen einen Kreis um sie, und der Pockennarbige erklärte, sie dürften nicht eher von hier weg, als bis sie genau nach Wertsachen durchsucht seien.

Vanesta zuckte verächtlich die Achseln. „Im allgemeinen pflegt ein Schuft dem anderen zu glauben, Dixon!“ sagte der zu den kleinen Weißen. „Nun – meinetwegen, – sucht, ob Ihr etwas findet!“

Aber – die anderen entdeckten bei den beiden auch nicht eine Kleinigkeit von besonderem Wert.

„Nun, seid Ihr zufrieden?“ meinte Vanesta kalt.

„Hm – vielleicht hast Du noch irgendwo etwas vergraben,“ grinste der pockennarbige Dixon frech.

Vanestas Lippen verzogen sich abermals verächtlich.

„Ich gebe Euch mein Wort, daß ich nirgends etwas versteckt habe, – auch Bragada nicht! – So, und nun – den Weg frei! Ihr werdet mich nicht hindern, wieder ein anständiger Kerl zu werden …! Also – Platz da …!“

Er hatte blitzschnell den Revolver aus dem Gürtel gerissen.

Doch – einer der Mulatten der Bande war noch schneller.

Ein Knall … Vanesta taumelte, sank hintenüber. Bragada aber, einsehend, daß auch er sonst verloren sei, war mit einem Satz in der Hütte, schlug die Tür zu, schob die schweren Holzriegel vor und war so vorläufig geborgen.

Die Banditen berieten leise. Dann hoben sie den bewußtlosen Vanesta auf, legten ihn vor die Tür der Hütte und begannen den Tisch, die Bänke und das Dach des Stalles, der mit Strauchwerk und Gras eingedeckt war, an der Ostseite als Brennmaterial aufzuschichten, wobei sie die rohesten Späße machten und Bragada wiederholt zuriefen, er würde sofort ausgeräuchert werden.

Jetzt hielt es Thorensen doch für an der Zeit, einzugreifen und die Bande zu entwaffnen.

Ganz plötzlich rief er sie an. Gleichzeitig traten seine Gauchos hinter den Sträuchern hervor und zielten auf die acht Buschklepper, die ihre Büchsen nicht bei der Hand hatten und, wollten sie sich nicht niederschießen lassen, sich notgedrungen ergeben mußten. Sie wurden gefesselt und durchsucht. Alles, was sie auf der Estanzia San Antonio gestohlen hatten, fand man bei ihnen vor, außerdem auch noch mehrere tausend Pesos (Einheitsmünze) Papiergeld.

Nur Bragada durfte sich frei bewegen. Sehr bald hatte Herr Thorensen, der auch einiges von Medizin verstand, Vanesta ins Leben zurückgerufen. Die Kugel hatte die linke Lunge durchschlagen und saß zwischen den Rippen fest. Thorensen schnitt sie heraus, legte einen Verband an und ließ nachher von den Seinen eine Art Krankenbahre herstellen, auf der man den ehemaligen Gaucho noch am selben Tage nach der deutschen Ansiedlung schaffte.

Auch Bragada durfte mit dorthin. Dieser Zug bestand aus Herrn Thorensen, seinem Sohne, Erich Triebel und drei Gauchos. Die übrigen Gauchos mußten die Gefangenen sofort nach der nächsten Bezirksstadt San Rafael am Diamanten-Fluß transportieren.

 

5. Kapitel.

Arbeit und Liebe.

Die Ankunft dieser unerwarteten Gäste brachte den deutschen Ansiedlern mancherlei Aufregungen, zumeist jedoch freudige. Herr Thorensen, der sich als Nachbar vorstellte, versprach den Bewohnern von Saladillo die weitgehendste Unterstützung und riet ihnen dringend, ihr Hauptaugenmerk auf die Schafzucht zu richten, die noch mehr als die Rinderzucht abwerfe.

Tatsächlich ist man ja auch in den letzten Jahren in Argentinien immer mehr von der Rinderzucht abgekommen, nachdem die großen Estanzias fast ein Jahrhundert lang lediglich für die Großschlächtereien und Konservenfabriken in Buenos Aires Rinder geliefert hatten.

Die Gäste blieben zwei Tage in Saladillo. Dann nahmen sie Abschied und gleichzeitig auch Erich und den Mulatten Bragada mit, der sich den Deutschen als Gaucho verpflichtet hatte. Der Knabe und er sollten das Vieh, das Thorensen umsonst abzugeben versprach, mit Hilfe einiger Gauchos des Norwegers nach der deutschen Ansiedlung bringen.

Rodrigo Vanesta war in ein schweres Wundfieber verfallen. Benno Heberlein hatte seine Pflege übernommen und wurde so Zeuge, wie der einstige Gaucho in seinen Fieberdelirien nicht nur sich selbst als Verbrecher verfluchte und oft in reumütige Tränen ausbrach, sondern wie er auch immer wieder von dem deutschen Mädchen schwärmte, das er jetzt liebte und der zu Liebe er wieder ein ehrlicher Mensch hatte werden wollen.

Heberlein hörte diese Geständnisse mit seltsamen Empfindungen an. Seit langem liebte er ja Anna Bendig aufs innigste, hatte aber nie gewagt, ihr seine Gefühle zu gestehen, da er sich neben dem blühenden jungen Weibe so unbedeutend vorkam.

Kein Wunder, daß so etwas wie eifersüchtige Regungen in ihm erwachten. Denn dieser jetzt bekehrte ehemalige Buschklepper war ja ein Mensch, der sich äußerlich schon sehen lassen durfte. Und – wer konnte wissen, ob Anna Bendig, wenn sie erst merkte, daß sie die Retterin dieses stattlichen Burschen gewesen, dessen Neigung nicht erwiderte?!

So verging eine Woche nach dem Eintreffen des Verwundeten in Saladillo. Dann konnte Rodrigo Vanesta als gerettet gelten. Das Fieber wich, und er erholte sich zusehends, saß nun schon tagsüber in einem Liegestuhl, den der Uhrmacher für ihn gearbeitet hatte, in dem großen Garten der Ansiedlung, den die Deutschen hauptsächlich dem bis dahin so faulen Alexander Mausig zu verdanken hatten.

Dieser hatte nämlich plötzlich seine wahre Begabung entdeckt: als Gärtner! – Mit Hilfe eines einschlägigen Büchleins hatte er einen Teil des nahen Waldes in eine Art Naturpark mit so viel Geschick und Eifer umgewandelt, daß alle ihm uneingeschränktes Lob zollten. Seine Schwester Klementine war seine treue Gehilfin. Sie, die es von Jugend an nicht leicht gehabt hatte und die nun hier so sorgenfrei leben konnte, blühte förmlich wieder auf. Ihre scharfe Zunge wurde milder und milder.

Gerade an demselben Tage, als das Vieh – 50 Rinder, 100 Schafe und 30 Pferde – von der Nachbarestanzia wohlbehalten eintraf, machte dann aber auch Benno Heberlein eine Entdeckung, die ihm eine Zentnerlast von der Seele nahm.

Es war ihm in den letzten Tagen schon aufgefallen, daß gerade die feine Hedwig dem Kranken so häufig im Garten Gesellschaft leistete und daß Vanesta sich um Anna Bendig eigentlich kaum kümmerte.

Da wurde Heberlein nun Zeuge eines Gesprächs zwischen Vanesta und Hedwig, das ihm vollends die Augen öffnete. Vanesta dankte Hedwig in rührenden Worten dafür, daß sie – unwissentlich – es gewesen, die ihn wieder auf den rechten Weg geleitet habe.

Erst traute Benno seinen Ohren nicht. Er hatte bis dahin angenommen, des Gauchos Liebe gehöre deshalb der Nichte Triebels, weil jener doch damals am Bahnhof in Senta Rosa gerade an Anna sich herangedrängt hatte.

Nun sah er seinen Irrtum ein. Und – niemand war froher als er.

Mit dem Eintreffen des Viehs in Saladillo begann erst der richtige Estanzia-Betrieb. Hier nun bewährte sich Bragada aufs beste. Welch gesunder Kern in dem Mulatten steckte, zeigte sich mit aller Deutlichkeit. Keiner war so rührig wie er. Alles konnte er, alles wußte er, was mit der Bewirtschaftung einer Estanzia zusammenhing. Aber – nichts tat er, ohne sich vorher mit seinem Freunde Vanesta zu beraten, der ihm an praktischen Kenntnissen noch überlegen, vorläufig jedoch noch an den Krankenstuhl gefesselt war.

Oskar Triebel hatte jetzt gänzlich in Saladillo … den Mund zu halten! Seine Rolle als „Allerweltskerl“ war ausgespielt. Nie mehr bevormundete er seinen Sohn auch nur im geringsten. Kurz: die gesunde Vernunft hatte bei ihm gesiegt. In der Luft Argentiniens war auch er seelisch genesen.

Unter den Ansiedlern gab es somit nicht einen mehr, der nicht zufrieden und glücklich gewesen wäre. Sie alle freilich durften die Hände nicht in den Schoß legen. – Nichts ist so falsch als die Annahme, man brauche in der Fremde weniger zu arbeiten und das Geld flöge einem zu. Ernstes Streben und Pflichtgefühl allein bringen Wohlstand. Faulenzer verkommen im Auslande genau so wie in der Heimat. –

Wieder waren nun zwei Wochen dahingegangen. Rodrigo Vanesta arbeitete bereits wacker mit. Er und Heberlein waren jetzt die Regenten der Ansiedlung, für die man noch zwei indianische Gauchos mittlerweile verpflichtet hatte. –

Heberlein und Vanesta trugen sich mit allerlei weitschauenden Plänen. Das erste, was sie unternahmen, war der Bau einer Ziegelbrennerei, in der dann auch Tonröhren hergestellt wurden, die zur Anlage eines ausgedehnten Bewässerungssystems dienten. Sodann wurden nach Heberleins Entwürfen ein großer Windmotor, der als Kraftquelle für ein Sägegatter benutzt ward, und eine Mühle gebaut. – Eins reihte sich ans andere, und drei Monate nach Errichtung der Gebäudes herrschte in Saladillo bereits ein so lebhaftes Treiben, als stünde die Ansiedlung seit Jahren hier. Indianer von den Dörfern im Westen, meist noch halbwild, brachten Getreide zum Mahlen und begannen Tauschhandel mit den Deutschen. Bald war es nötig, einen Kramladen einzurichten, dessen Verwaltung Alexander Mausig übernahm.

Dann wieder kam ein Abend, an dem auch Heberlein seine geheimsten Herzenswünsche erfüllt sehen sollte.

Anna Bendig war am Spätnachmittag nach der Rinderhürde gegangen, um wie immer die Kühe zu melken. Diese hatte man letztens in eine neue Umzäunung gebracht, wo es besonders saftiges Gras gab. Die Weide hatte nur den Nachteil, daß sie zwanzig Minuten etwa von der Ansiedlung entfernt lag.

Durch einen Zufall war nun Heberlein zu derselben Zeit mit einem Maultiergespann von einem Tonlager am Ufer des Flüßchens nach Saladillo unterwegs und kam mit dem mit Ton gefüllten Wagen unweit der neuen Hürde vorüber.

Anna hatte sich heute etwas verspätet. Es dämmerte schon, und sie beeilte sich beim Melken sehr, goß nun gerade den Inhalt des letzten Eimers in den auf dem zweirädrigen Karren stehenden Bottich, als aus einem nahen Gebüsch ein rötlichgelbes Tier mit schwarzen Flecken in langen Sätzen auf sie zusprang.

Sie ahnte, daß es nur ein Jaguar sein konnte, dieses gefährlichste der südamerikanischen Raubtiere, stieß einen gellenden Angstschrei aus, flüchtete hinter den Karren und riß ihren Revolver aus dem Gürtel, den sie auf Heberleins Anraten stets beim Melken bei sich trug. Sie war ein unerschrockenes Mädchen, und ihre blitzschnell abgegeben Schüsse trafen auch, konnten aber dem Jaguar nicht viel anhaben. Immerhin hatte die Bestie haltgemacht und sich zwei Meter vor dem Karren zum Sprunge zusammengeduckt.

Anna hatte noch einen einzigen Schuß im Revolver, zielte nun ruhiger, drückte ab … Klackend schlug der Hahn der Waffe auf … Die Patrone war ein Versager …

Da schnellte der Jaguar sich auch schon vom Boden ab, schwebte in der Luft …

Hinter dem Mädchen jetzt der scharfe Knall einer Büchse – ein zweiter kaum den Bruchteil einer Sekunde später.

Der gelbe Räuber plumpste mit zwei Kopfschüssen schwer zu Boden, war tot.

Anna drehte sich um. Und in ihrer Freude über diese unerwartete Hilfe breitete sie die Arme aus, rief selbstvergessen: „Benno – lieber Benno …!“

Was Benno tat, brauchen wir nicht zu schildern. Jedenfalls wurde abends Verlobung gefeiert.

Und – diesem guten Beispiel folgten auch bald Vanesta und die feine Hedwig, die jetzt aber gar nicht mehr „fein“, sondern genau so fleißig wie die anderen war. – –

Die Estanzia Saladillo blühte weiter, warf reichen Gewinn ab und wurde bald weit und breit bekannt. – Menschen mit manchen Absonderlichkeiten, aber doch von echtem deutschen Schrot und Korn hatten sie gegründet, – fanden dort ihr Glück, weil sie die ernste Mahnung des alten Spruches begriffen hatten:

Arbeit bringt Segen!

 

Verantwortl. Redakteur: M. Lehmann, Berlin SO 26. – Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26.