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Die Höhle im Simpsonberge

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

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Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26, Elisabethufer 44.

 

Die Höhle im Simpsonberge.

 

von W. Belka.

 

1. Kapitel.

Ein geheimnisvolles Geschäft.

Ingenieur Stelter öffnete auf das Anschlagen der Flurglocke hin selbst die Tür. Er mußte sich im Korridor der Wohnung durch allerlei dort aufgestellte Möbelstücke hindurchwinden, denn die Familie Stelter befand sich mitten in den letzten Vorbereitungen zum Umzug in die neue Dreizimmerwohnung, da man die bisherige weit geräumigere mißlicher Vermögensverhältnisse wegen aufgeben mußte.

Karl Stelter war fast ein halbes Jahr lang schwer krank gewesen. Das hatte so ziemlich alle Ersparnisse aufgezehrt. Eine neue Stellung hatte er auch noch nicht gefunden. Somit sah es um ihn und die Seinen auch recht traurig aus.

Er öffnete also die Flurtür und stand einem gut gekleideten Manne in mittleren Jahren gegenüber, der nach lässigem Gruß in gebrochenem Deutsch sagte:

„Herr Ingenieur Stelter selbst, nicht wahr? Ich möchte Sie allein sprechen. Mein Name tut nichts zur Sache, wenigstens vorläufig nicht. Werden wir einig, erfahren Sie ihn noch zeitig genug.“

Eine merkwürdige Sprache führt der Mann, dachte Stelter.

Aber in seiner bedrängten Lage konnte er nicht allzu zartfühlend sein. Der Herr kam ja fraglos eines Geschäftes wegen zu ihm.

Er forderte ihn also auf, näherzutreten, geleitete ihn in sein Arbeitszimmer und meinte hier:

„Es ist bei uns etwas ungemütlich. Aber wir befinden uns –“

Der Fremde winkte ab. „Ich weiß: mitten im Umzuge,“ vollendete er.

Stelter war überrascht.

„Ich weiß noch mehr,“ fuhr der Herr, der einen dunklen Spitzbart trug und der wie ein Italiener oder Ungar ausschaute, gelassen fort. „Sie haben lange Zeit sehr krank daniedergelegen und müssen diese Wohnung räumen, weil Sie die Miete nicht mehr bezahlen können. Sie sind fünfundvierzig Jahre alt, verheiratet, haben zwei Söhne von 16 und 14 Jahren und könnten sehr wohl von Ihren reichen Schwiegereltern unterstützt werden, sind aber dazu zu stolz, zumal Sie seinerzeit Ihre Gattin gegen den Willen ihrer Eltern geheiratet haben.“

Karl Stelter, ein blonder, schlanker Mann mit blassem Gesicht und kurzem, vollem Schnurrbart, konnte jetzt ein halb erstauntes, halb ärgerliches „Unglaublich!“ nicht unterdrücken.

Der Fremde blieb kühl und gleichmütig.

„Ich mußte mich nach Ihren Verhältnissen genau erkundigen,“ meinte er, „bevor ich mich an Sie wandte. – Ich suche einen Maschineningenieur, der sich verpflichten will, im Auftrage einer Minengesellschaft nach Alaska zu gehen und an Ort und Stelle nach Plänen, die ihm erst dort vorgelegt werden, ein paar Maschinen bauen zu helfen. – Das ist eigentlich alles. – Ihre Tätigkeit würde ein volles Jahr beanspruchen, und für dieses Jahr sollen Sie alles in allem neben freier Überfahrt hin und zurück sowie freier Verpflegung und Wohnung 100 000 Mark erhalten. – Unsere Gegenbedingung ist nur: vollste Verschwiegenheit – auf Ehrenwort! – Geben Sie mir Ihr Wort, so erhalten Sie sogleich 30 000 Mark ausgezahlt. Ihre Familie können Sie mitnehmen. Dagegen haben wir nichts.“

Stelter lehnte sich in seinem Schreibtischsessel zurück und fuhr sich mit der Hand über die Stirn.

Träumte er etwa? … Ein Jahr – und 100 000 Mark … und alles frei: Verpflegung, Wohnung …

Da – abermals die klare, harte Stimme des Fremden, der seine Uhr gezogen hatte, den mit Brillanten besetzten Deckel hatte springen lassen und sie auf den Schenkel legte:

„Ich gebe Ihnen zehn Minuten Zeit, sich zu entscheiden, Herr Stelter, länger nicht. Wir können nur einen Ingenieur brauchen, der ein schnell entschlossener Mann ist. Wenn Sie noch Fragen zu stellen haben – bitte. Die Zeit für diese Fragen ist in die zehn Minuten mit einbegriffen.“

Stelter merkte: die Sache war kein Scherz! – Fragen durfte er stellen …! Ganz gut …! Aber – womit beginnen? Tausende hätte er ja an diesen merkwürdigen Menschen richten können …!

„Um welchen Ort in Alaska handelt es sich?“ begann er hastig.

„Um eine kleine Niederlassung im klimatisch günstigsten Teile. Simpson heißt sie.“

„Wann soll ich abreisen?“

„Morgen.“

„Morgen?!“

„Ja. Nichts steht dem im Wege. Nichts! Nehmen Sie Ihre Familie mit, so können Sie Ihre Möbel auf einem Speicher unterbringen. Ich werde das veranlassen. Sie brauchen sich überhaupt um gar nichts zu kümmern, packen nur das Allernotwendigste ein.“

Stelter war sprachlos, stierte vor sich hin. Ganz wirr wurde es ihm im Kopfe …

Da – ein helles Knacken …

Der Fremde hatte seinen Uhrdeckel zugedrückt, erhob sich, sagte:

„Die zehn Minuten sind um. Ihre Antwort?“

Stelter stand gleichfalls auf.

„Gut, abgemacht!“ erklärte er fest.

Der Fremde nickte, griff in die Tasche, holte ein Bündel Banknoten hervor, zählte sie auf den Schreibtisch hin: dreißigtausend Mark.

Dann nahm er ein beschriebenes Blatt Papier, las den Inhalt langsam vor:

„Ich, der Ingenieur Karl Stelter aus Berlin, verpflichte mich für ein Jahr der Minengesellschaft Simpson gegen ein Gehalt von … und so weiter.“

„Unterschreiben Sie,“ meinte der Fremde.

Die Feder kreischte und spritzte. Stelter klang’s wie ein Warnruf.

„So, nun noch Ihr Ehrenwort, daß Sie zu niemandem über das Ziel Ihrer Reise sprechen werden. Selbst Ihre Familie muß im unklaren bleiben.“

„Auch wenn sie mich begleitet?“

„Auch dann …!“

Stelter reichte dem Fremden die Hand – etwas zögernd. „Sie haben mein Wort …“

„Danke, Herr Stelter. – Mein Name ist Alvaro Tepisko, meine Heimat Chile. – Morgen früh 7 Uhr 15 Minuten geht Ihr Zug vom Lehrter Bahnhof nach Hamburg ab. In Hamburg begeben Sie sich sofort zu diesem Herrn, dessen Adresse auf diesem Zettel verzeichnet ist. – Das wäre alles. Auf Wiedersehen in Simpson, Herr Stelter …“

Noch ein Händedruck, und Tepisko ging.

Stelter drückte hinter ihm die Flurtür zu. Dann suchte er seine Frau auf, die in der Küche das Mittagessen zubereitete. Er berichtete ihr alles. Frau Stelter war ein zielbewußter Charakter, war ihres Mannes treue Kameradin und Beraterin. Sie redete ihm schnell alle Bedenken aus, die er gegen diese merkwürdige Anstellung hegte. Innerlich aber sagte sie zu sich: „Irgend etwas stimmt hier nicht …! Deshalb werde ich die Augen gut offenhalten.“

Eine Stunde später kamen der Tertianer Gustav und der Sekundaner Herbert aus der Schule.

Als sie hörten, daß man bereits morgen früh nach Alaska abreise, stießen sie ein wahres Indianergeheul vor Freude aus.

Kein Wunder, daß sie’s taten! Bedeutete es doch für sie Freiheit, Ungebundenheit, und dies in einem Lande, welches gerade in letzter Zeit so oft seiner reichen Goldschätze wegen in den Zeitungen genannt worden war. – –

In Hamburg lag eine Privatjacht bereit, die angeblich dem chilenischen Millionär und Plantagenbesitzer Miguel Santos gehörte. Sie wartete nur auf das Eintreffen der Familie Stelter, ging dann sofort in See, erreichte in zehn Tagen – sie lief ihre 28 Knoten! – die Stadt New Orleans an der Mündung des Mississippi, von wo Stelters mit der Bahn nach San Franzisko die Reise fortsetzten.

In der weltberühmten Hafenstadt am Stillen Ozean brachte der ständige Begleiter der Familie, ein Chilene namens Philippo Mendox, diese auf einen Frachtdampfer, der alsbald nordwärts den Bug richtete und den Küsten Alaskas zustrebte.

Alaska, der nordwestliche Teil des Kontinents Amerika, bildet ein von den Vereinigten Staaten von Nordamerika abgetrenntes (durch Britisch-Kanada) Territorium. Nur die Südküste des riesigen Gebietes erfreut sich eines einigermaßen milden Klimas. Im Innern durchziehen hohe Gebirge, düstere Wälder und brausende Flüsse und Bäche das Land. Trotzdem ist es die Sehnsucht vieler, denn in seinen Tälern, in dem Sande seiner Flüsse kann der, der Glück hat, in kurzem genug Goldkörner finden, um den Rest seines Lebens behaglich das Dasein genießen zu können.

Der Glück hat …!! Wie wenigen ist es beschieden! Unzählige haben die Goldgier mit dem Leben bezahlt, sind in den Schneemassen des harten, langen Winters umgekommen …

Die Südküste dieses fernen, rauhen Länderteiles besitzt in der Halbinsel Alaska ein wie ein Horn nach Westen zu gekrümmtes Anhängsel, dessen Fortsetzung die Aleuten-Inseln bilden, die sich wie die Pfeiler einer Brücke nach dem Nachbarkontinent Asien hinüberziehen.

Südöstlich dieser Halbinsel wieder, von ihr durch den Alaska-Sund getrennt, liegt die von Fjorden tief zerschnittene Kadiak-Insel mit einer Unmenge kleinerer und größerer sie umgebender Felseneilande. –

Am 3. Juni 19… morgens war es, als Philippo Mendox zu der auf dem Achterdeck den Morgenkaffee einnehmenden Familie Stelter trat und in seinem gebrochenen Deutsch sagte:

„Wollen Sie sich bitte zum Verlassen des Dampfers rüsten. Dort naht ein Motorkutter, der uns weiterbringen wird.“

„Wie – ein Kutter? Und damit sollen wir die Reise fortsetzen?!“ entfuhr es dem Ingenieur, dessen Wangen die Seereise tief gebräunt hatte.

Mendox lächelte liebenswürdig.

„Nicht fortsetzen, nur beenden … nichts weiter! Denn dort drüben taucht ja bereits das Gestade Alaskas auf, dort blinken schon die weißen Gipfel einiger unter ewigem Schnee begrabener Berge …“

Die beiden Brüder Stelter liefen an die Reling, riefen sofort:

„Wirklich – Land … Land! Und – dort kommt auch ein Motorfahrzeug, ein großes, gedecktes Boot …!“ –

Der Motorkutter stieß von dem Frachtdampfer ab, der sofort wendete und Kurs auf den Hafen von Sitka nahm. (Sitka ist der größte Hafenplatz Alaskas, liegt auf einer Insel und hat regelmäßige Dampferverbindung mit San Franzisko.) Weder der Kapitän des Frachters noch sonst jemand der Besatzung ahnte, was die deutsche Familie und der Chilene vorhätten. Sie hielten die fünf für gewöhnliche Auswanderer, für Goldsucher wahrscheinlich.

Auf dem Motorkutter befanden sich drei gelbbraune Chilenen als Bedienungsleute. Mendox hatte sie nur flüchtig begrüßt und führte Stelter nun in die winzige Kajüte hinab, wo ein erlesenes Frühstück bereitstand. Etwas fiel Frau Stelter hier jedoch sofort auf: die Fenster waren von innen durch starke Bretter vernagelt, so daß man beim Schein einer Hängelampe speisen mußte.

Als sie Mendox fragte, weshalb diese unschönen Bretter die nette Kajüte verunzierten, erwiderte der Chilene:

„Ich kann Ihnen darüber leider keine Auskunft geben. – Entschuldigen Sie – ich habe an Deck zu tun.“

Er ging hinaus. Fünf Minuten drauf wollte Herbert Stelter ebenfalls an Deck. Aber – die niedrige Tür der Kajüte war verschlossen.

Herr Stelter wurde jetzt argwöhnisch, trommelte mit den Fäusten gegen die Türfüllung, rief, trommelte wieder …

Alles umsonst! Niemand erschien. Der große Kutter jagte weiter mit puffendem Motor … Wohin? – Ja – wohin …?!

Stelter, jetzt von den Nachwehen der Krankheit völlig genesen, ergriff schließlich einen der Klappstühle und schlug damit gegen die Tür. Und – da erst erkannte er, daß sie von innen mit Eisenplatten belegt war, die einen noch recht frischen Anstrich hatten.

„Eingesperrt!“ entfuhr es ihm. „Eingesperrt …!! – Was bedeutet das …?! Was in aller Welt?“

„Warten wir ab,“ beruhigte ihn seine Frau. „Ich ahnte, daß diese Anstellung sich in ein Abenteuer besonderer Art verwandeln würde. Doch – ich traue denen, die uns hierher brachten, nichts Schlimmes zu. Es wird hier irgendein Geheimnis mitsprechen.“ –

Der Tag verging. – Stelter sah nach der Uhr.

„Zehn Uhr abends bereits, und wir sind noch immer unterwegs,“ meinte er.

In demselben Augenblick verstummte das Geräusch des Motors. Die Eingesperrten vernahmen laute Rufe, eiliges Hin- und Herlaufen auf Deck, das Scharren und Kratzen der Steuerbordplanken an irgend etwas Hartem.

Dann lag der Kutter regungslos still.

Die Tür ging plötzlich auf. Herbei trat kein anderer als Alvaro Tepisko, jetzt in einem ledernen Jagdanzug mit einer Fellmütze auf dem Kopf.

Er verbeugte sich. „Ich begrüße Sie in Alaska, Herr Stelter,“ sagte er. „Verzeihen Sie. Das Türschloß war in Unordnung, und Mendox konnte Sie nicht darüber beruhigen, daß Sie nichts zu fürchten hätten. – Wir sind an Ort und Stelle. Folgen Sie mir in Ihr hiesiges Heim …“

Stelter wollte aufbrausen, wollte Tepisko zurufen, es sei Lüge, die Tür sei verschlossen gewesen.

Aber seine Frau raunte ihn zu, besser zu schweigen.

 

2. Kapitel.

Die Maschinen.

So verließen die vier Deutschen denn die Kajüte, standen nun auf dem Deck des Kutters, standen und … staunten, schauten sich ganz fassungslos um …

Der Kutter lag am Ufer eines – unterirdischen Sees, über dem sich die zackige Felsdecke einer ungeheuren Höhle wie eine Riesenglocke wölbte.

Und – dicht am Ufer erhoben sich drei hohe Pfähle, an denen elektrische Bogenlampen hingen. Weitere sechs Lampen waren hier und dort verteilt, strahlten so viel Licht aus, daß man deutlich auch drei Holzgebäude und manches andere noch erkennen konnte.

Tepisko wartete, bis Stelter sich jetzt mit der erstaunten Frage an ihn wandte:

„Und … dies, dies ist die Niederlassung, von der Sie sprachen?“

„Allerdings. Sie liegt, wie Sie sehen, in der Höhle eines Bergmassivs, das wir Simpsonberg getauft haben. – Die Luft hier ist rein und gesund …“

„Wie – und hier – hier unter der Erde etwa sollen wir ein Jahr zubringen …?!“

„Sie haben sich dazu verpflichtet, Herr Stelter. Sie fragten ja nicht weiter nach den näheren Verhältnissen von Simpson.“

„Also Simpson nennt sich diese Grottenkolonie?“ meinte Stelter, nur um etwas zu sagen.

Tepisko nickte, schritt dann voraus über die Laufplanke ans Ufer. Schweigend, bedrückt folgten ihm die Deutschen.

Der Chilene schlug die Richtung auf das mittelste der Gebäude ein, öffnete die Tür …

Strahlende Helle in den vier behaglich eingerichteten Zimmern. Überall elektrische Lampen. In einem Zimmer ein gedeckter Abendbrottisch.

Tepisko verabschiedete sich nun.

„Ich hoffe, Sie werden sich hier schnell einleben,“ meinte er. „Ihre Bedienung übernimmt einer der Leute des Kutters namens Juan. Er spricht das Deutsche leidlich. – Auf Wiedersehen morgen früh, Herr Stelter. Dann sollen Sie auch Ihre Arbeit beginnen.“

„Halt – einen Augenblick,“ bat Stelter rasch. „Wir dürfen uns hier doch hoffentlich frei bewegen. Oder – sollen wir wieder eingesperrt werden wie in der Kajüte?“

„Von einsperren ist doch keine Rede,“ erklärte der Chilene höflich, aber stets mit derselben unerschütterlichen Ruhe. „Gewiß – die ganze Höhle steht Ihnen zur Verfügung. Und – sie ist fast eine Meile lang, bietet viele Sehenswürdigkeiten, beherbergt in dem See draußen zahlreiche Arten von Höhlenfischen, gestattet interessante Spaziergänge … Nur – verlassen dürfen Sie sie nicht. Sie würden von der Wache am Ausgang zurückgewiesen werden. Sie haben sich für die Niederlassung hier verpflichtet, und Ihr Gehalt ist danach berechnet, daß Sie ein Jahr lang die Sonne nicht sehen werden. Wenn Sie zu unserer Zufriedenheit arbeiten, erhalten Sie noch 50 000 Mark als besonderes Geschenk. – Guten Abend … Und – nochmals: ich hoffe, Sie werden sich schnell einleben …“

Stelters waren nun allein in ihrer Behausung.

Frau Stelter meinte lachend, um ihren Gatten aufzuheitern:

„Wir haben A gesagt, nun müssen wir auch B sagen. – Sehen wir uns unser Heim an …“

Alle waren darüber einig, daß Tepisko nichts vergessen hatte, was zur Behaglichkeit gehörte. Sogar ein Grammophon war vorhanden mit etwa fünfzig neuen Platten. Für die Knaben war ein geräumiges Zimmer bestimmt. Sie fanden hier eine Bibliothek mit den verschiedensten deutschen Büchern, fanden Angelgeräte und zwei hübsche Armbrüste, – kurz – das Haus war vom Boden bis zum Keller wie ein seit langem bewohntes Heim ausgestattet. Für Frau Stelter fehlte sogar ein Nähtischchen nicht …

„Unglaublich!“ meinte der Ingenieur kopfschüttelnd. „Dies alles hat ein kleines Vermögen gekostet. Ich bin nur gespannt, um was für Maschinen es sich handelt … Ich habe da so meine besonderen Gedanken …“ –

Am nächsten Morgen um acht Uhr erschien Tepisko und führte Stelter nach dem Gebäude rechts von dem Wohnhause.

Es war dies das größte, und es enthielt eine Werkstatt, in der alles vertreten war, was zum Bau kleinerer Maschinen nötig war, sogar eine Einrichtung zum Herstellen von gußeisernen Maschinenteilen.

Stelter schaute sich hier mit dem Interesse des Fachmannes um. Dann geleitete der Chilene ihn in einen Verschlag, der als Bureau gelten konnte.

Auf einem großen Zeichentische lagen verschiedene Zeichnungen.

„Das hier sollen Sie uns bauen,“ sagte Tepisko und wies auf die Blätter.

Stelter erkannte sofort, daß es sich um Maschinen zum Prägen von Münzen handelte.

Langsam legte er die Zeichnungen auf den Tisch zurück, sah den Chilenen durchdringend an und erklärte mit ruhiger Bestimmtheit:

„Ich werde meine Kenntnisse nie und nimmer dazu hergeben, vielleicht … Falschmünzer zu unterstützen – niemals, verstehen Sie mich! Ich baue diese Maschinen nicht …!“

Tepisko deutete auf einen Stuhl. „Bitte, setzen Sie sich. – Sie haben ein Anrecht darauf, daß ich Ihnen Aufschluß über alles gebe, was mit dieser Ihrer Anstellung zusammenhängt. Hören Sie also:

Ich heiße wirklich Alvaro Tepisko. Von Beruf bin ich Seemann. Ich rüstete vor vier Jahren eine Brigg zum Robbenfang aus und steckte all meine Ersparnisse in dieses Unternehmen. Ich fuhr von Arica, dem nördlichsten Hafen Chiles, direkt nach dem Bering-Meer, hatte aber das Unglück, durch Stürme wieder weit nach Süden getrieben zu werden. Das Schiff wurde wrack. Vier Wochen waren wir ein Spielball des Meeres, bis ein Orkan uns gegen eine felsige Küste warf, wo die Brigg zerschellte und nur zwei meiner Leute außer mir sich an den Strand retten konnten. Wir drei irrten erschöpft in der Steinwildnis des Küstenstriches auf der Suche nach Lebensmitteln zwei Tage umher. Dann sanken meine Gefährten entkräftet um. Mir gelang es aber, eine Bucht zu erreichen, wo ich genug Vogeleier fand, mich und auch meine Landsleute zu sättigen. Und – ich war es dann auch, der nachher den Eingang zu dieser Höhle entdeckte, wo wir ein halbes Jahr lebten – den Winter über. Hätten wir die Höhle nicht gefunden, wären wir wohl umgekommen.

Eines Tages während dieser endlosen Monate drang ich, ausgerüstet mit harzigen Baumästen als Fackeln, ganz weit in die Höhle vor und traf so einen unterirdischen Bach an, in dem der Lichtschein meiner Fackel sich in gleißenden Steinchen widerspiegelte.

Die Steinchen waren … Gold, gediegenes Gold …! –

So, das ist die Vorgeschichte, Herr Stelter. – Nun noch einiges über mein Vaterland. Wir Chilenen sind von allen Südamerikanern wohl die begeistertsten Anhänger des nationalen Gedankens, das heißt, unser Vaterland geht uns über alles. Jeder Parteihader hört auf, wenn die Sache des Ganzen es verlangt. Ich selbst stamme aus einer Familie, die im politischen Leben unserer Republik eine große Rolle gespielt hat. Und die Vaterlandsliebe, die so glühend die Herzen meiner Väter beherrschte, wohnt auch, vielleicht noch stärker, in mir, dem Letzten meines Namens.

Chiles Finanzen stehen infolge langwieriger Kriege mit den Nachbarstaaten schlecht. Als ich daher die Goldkiesel in dem Bache funkeln sah, war mein erster Gedanke der: Dieses Gold soll dazu dienen, Chile zu helfen!

Aber – an der Spitze des Landes steht ein Mann, sagte ich mir weiter, der ein erbitterter Feind Deines Vaters war! Sollst Du daher gerade diesem Menschen den Ruhm gönnen, daß unter ihm die Finanzlage des Staates sich wesentlich gebessert hat?

Ich überlegte und fand auch einen Ausweg. Uns fehlt es in Chile an Goldgeld. Banknoten sind vorherrschend. Deshalb gedachte ich die Goldmünzen des Staates insofern zu fälschen, als ich sie selbst herstellte, freilich aus edlem Metall und von demselben Feingehalt wie die im Umlauf befindlichen. Durch das Verausgaben dieser Geldstücke mußte notwendig die leidige Banknotenwirtschaft mehr eingeschränkt werden.

Um nun nicht die Habgier der Menschen zu wecken, hütete ich das Geheimnis dieser Höhle mit allen Mitteln, ließ mir auch reichlich Zeit, all meine Vorbereitungen für die Prägung des Goldgeldes in aller Stille zu treffen. Dazu brauchte ich auch einen erfahrenen Maschineningenieur, denn einer Fabrik durfte ich ja die Prägemaschinen nicht in Auftrag geben.

Ich verehre Deutschland als das Land der Intelligenz. Dort wollte ich mir den Ingenieur suchen. Ein Zufall machte mich auf Sie aufmerksam. – So – das ist alles – und es ist die Wahrheit! – Sie wissen jetzt, mit welcher Art von Fälschern Sie es zu tun haben. Weigern Sie sich noch immer, die Prägemaschinen zu bauen?“

Stelter sann nach. Dann erwiderte er, indem er dem Chilenen die Hand hinstreckte:

„Ich glaube Ihnen. Trotzdem vermag ich Ihrem Wunsche nicht zu willfahren, da die Prägung des Geldes ein besonderes Recht jedes Staates ist und da es sich auch in dem Falle also um Falschmünzerei, um ein Verbrechen, handelt, wenn das Goldgeld nachher dem echten an Feingehalt nicht nachsteht. Ich habe bisher in meinem Leben auch noch nicht die kleinste Verfehlung mir zuschulden kommen lassen. Sie können von einem Ehrenmanne nicht verlangen, daß er seine strengen rechtlichen Grundsätze Ihretwegen aufgibt.“

Tepisko übersah Stelters Hand. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde drohend:

„Ah – soll ich deshalb also drei Jahre mit den Vorbereitungen für meinen Plan zwecklos zugebracht haben, nur weil Sie aus übertriebenem Rechtlichkeitsgefühl sich nun weigern, die übernommene Verpflichtung zu erfüllen?!“ rief er. „Ihre Denkweise ist mir unverständlich! Sie hören ja: ich will Chile nützen, nicht schaden! – Nochmals also: wollen Sie oder wollen Sie nicht? – Antworten Sie nicht sofort. Ich gebe Ihnen bis zum Abend Bedenkzeit. Sprechen Sie mit Ihrer Gattin, die, wie Mendox mir erzählte, eine sehr verständige Frau ist. Das eine aber erkläre ich gleich: wenn Sie sich weiter weigern, zwingen Sie mich, Sie und Ihre Familie längere Zeit irgendwo festzuhalten, da ich mein Geheimnis unmöglich der Verschwiegenheit von vier Menschen anvertrauen darf! Meinen Plan führe ich doch durch! Ein anderer Ingenieur wird dann eben die Maschinen bauen, und Sie und Ihre Familie werden wie Gefangene behandelt werden, bis alles Gold geprägt und nach Chile geschafft ist. Dann erst werden Sie frei sein.“

Stelter zuckte die Achseln. „Ich bin in Ihrer Gewalt, – gewiß! Aber – ändern werde ich meinen Entschluß trotzdem nicht! Ich kenne im übrigen meine Frau ganz genau: auch sie würde mir abraten! Sie denkt wie ich. Das, was Sie vorhaben, Tepisko, ist nun einmal strafwürdig selbst bei den besten Beweggründen.“

Der Chilenen ging unruhig hin und her, murmelte allerlei vor sich hin. Dann bat er Stelter mit kalter Höflichkeit, das Werkstattgebäude zu verlassen.

Als der Ingenieur den Seinen den Inhalt dieser Unterredung berichtete, sagte er so nebenbei, er habe gleich geahnt, daß es sich um Prägemaschinen handele.

Frau Stelter pflichtete ihrem Gatten in allem vollkommen bei. Daß die Familie nun mit großer Unruhe erwartete, was Tepisko gegen sie unternehmen würde, lag nur zu nahe.

Es wurde Abend. Nichts geschah. Dann aber gegen neun Uhr erschien der Chilene Mendox bei der Familie und teilte ihr mit, daß sie sogleich sich zur Abfahrt rüsten müsse.

Man gehorchte stillschweigend. In aller Eile wurden die mitgebrachten Koffer und Kisten wieder gepackt.

Genau um Mitternacht mußten Stelters dann wieder den Kutter besteigen, wurden abermals in die Kajüte eingeschlossen und hörten nun während endloser Stunden nur das Geräusch des Motors und das Glucksen und Branden der Wogen an den Bordwänden.

Endlich um sieben Uhr früh verstummte der Motor.

Die Tür ging auf, und helles Tageslicht flutete herein. Tepisko war’s, der nun eintrat und folgendes zu den Deutschen sprach:

„Ich habe mir manches überlegt und bin nun zu der Überzeugung gelangt, daß ich Ihnen, Herr Stelter, aus Ihrer Weigerung keinen Vorwurf machen kann. Ich hätte Ihnen besser gleich in Berlin sagen sollen, worum es sich handelte. – Es widerstrebt mir daher, gegen einen Ehrenmann Gewalt anzuwenden. Ich möchte Ihnen folgendes vorschlagen: Sie und Ihre Familie bleiben längstens anderthalb Jahre in dem fruchtbaren Tale, das unweit von hier mitten im Gebirge liegt. Wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, keinerlei Fluchtversuch zu machen, sollen Sie alles erhalten, um dort als Ansiedler behaglich leben zu können. Die Umgegend des Tales ist auf endlose Meilen völlig unbewohnt. Sollte ein Zufall Menschen zu Ihnen führen, so werden Sie angeben, Sie hätten sich freiwillig dort niedergelassen. Von der Höhle, dem Golde und mir selbst kein Wort! – Nach Ablauf dieser längstens anderthalb Jahre wird Ihnen freigestellt, in die Heimat zurückzukehren. Außerdem erhalten Sie 50 000 Mark in Gold sowie die Reisekosten erstattet. – Ich bitte Sie, auf diese Vorschläge einzugehen, damit ich nicht gezwungen bin, scharfe Maßregeln gegen Sie zu ergreifen. Denn, wie gesagt, – jetzt schon Sie freigeben, das kann ich aus verschiedenen Gründen nicht! – Ich betone nochmals: Das Tal ist sehr ausgedehnt, fruchtbar und erfreut sich eines angenehmen Klimas; in der Nähe gibt es viel Wild aller Art. Kurz – Sie werden dort, ohne sich allzu sehr abplagen zu müssen, recht behaglich leben können.“

Da war es Frau Stelter, die Tepisko erwiderte:

„Ich wäre einverstanden, wenn auch Sie Ihr Ehrenwort geben, daß Sie alles erfüllen, was Sie versprochen haben.“

Der Chilene verbeugte sich. „Mein Ehrenwort!“ meinte er würdevoll.

Stelter schaute seine Frau fragend an. Die nickte ihm aufmunternd zu.

„Es sei!“ erklärte Ingenieur Stelter da.

Tepisko und er tauschten einen festen Händedruck. Und der Chilene meinte noch wie entschuldigend:

„Verargen Sie mir meine Handlungsweise nicht, Herr Stelter. Im Vertrauen: etwas von meinem Plane habe ich Ihnen noch verschwiegen. Vielleicht die Hauptsache …“

 

3. Kapitel.

Tepiskos Gegner.

Mendox und drei Chilenen trugen einen Teil des Gepäcks. Auch Stelter und die Knaben hatten jeder einen Koffer geschultert. Von dem Flusse, an dessen linkem Ufer der Kutter angelegt hatte, ging’s nach Westen zu in eine wildromantische Berglandschaft hinein.

Mendox spielte den Führer. Er wußte hier gut Bescheid. Bald merkte Stelter, daß der Weg, den der kleine Zug nahm, schon häufiger begangen sein mußte.

Nach einer Stunde und nach Überwindung eines letzten sehr hohen Bergrückens lag das Tal unter den Wanderern, ein langgestrecktes, gut zwei Meilen langes Tal, das von hohen Bergen eingeschlossen war. Kleine Gehölze, grüne Wiesenmatten und allerlei Sträucher belebten die weite Mulde, in der sogar die Wasser eines kleinen Sees im Sonnenschein aufleuchteten.

Steil ging’s nun abwärts dem Tale entgegen. Bald hatte man ebenen Boden erreicht, marschierte jetzt auf üppigem Grase weiter, aus dem hier und da allerlei Getier vor den Nahenden flüchtig wurde.

Des Ingenieurs Stimmung besserte sich zusehends.

„Kinder,“ meinte er gutgelaunt zu den Seinen, „hier läßt sich’s leben! Seht nur dort die prächtigen, uralten Eichen und Walnußbäume, dort die Tannen, die so sehr an Deutschland erinnern. Wirklich ein prächtiges Fleckchen Erde …!“

Mendox lächelte.

„Das Beste kommt noch,“ erklärte er. „Sie werden sich wundern!“

Nach einer Stunde war der See erreicht. Der Chilene bog rechts um das Ufer herum, und der Zug durchschritt einen lichten Wald. Dann erblickten Stelters gleichzeitig unweit des Ostufers eine große, saubere Blockhütte mit Spitzdach, Fenstern und einem Schornstein, dahinter eine kleinere – einen Stall.

Mendox schloß die Tür des Blockhauses auf und machte eine einladende Handbewegung.

Und – siehe da: Stelters fanden hier genau so wie in der Höhle ein vollständig, wenn auch einfacher eingerichtetes Gebäude!

Nach einer Stunde verabschiedeten die Chilenen sich.

„Was Ihnen noch fehlt zu Ihrer Bequemlichkeit, bringen wir morgen,“ erklärte Mendox beim letzten Händedruck. „Ich soll Ihnen von Tepisko nur noch ausrichten, daß er Sie bittet, niemals die über drei deutsche Meilen etwa hinausgehende Umgebung dieses Tales zu betreten, das heißt also: ein Umkreis von drei Meilen soll die Grenze Ihrer Freiheit sein!“

„Meinetwegen!“ entgegnete Stelter. „Tepisko hat auch hier so gut für uns gesorgt, daß ich ihm geradezu Dank schulde.“

Dann schritten die vier Chilenen davon, winkten aus der Ferne nochmals freundlich und verschwanden hinter den Büschen.

Jetzt schauten Stelters sich in aller Ruhe ihr Blockhaus an. Es enthielt drei große Stuben, eine Küche, eine Vorratskammer und oben unterm Dache einen mit Heubündeln und Getreidesäcken, Fässern und Kisten gefüllten Boden.

In dem geräumigen Stall aber fanden die unfreiwilligen Auswanderer zu ihrer grenzenlosen Überraschung drei Kühe, sechs Schafe, einen stattlichen Schafbock und gegen zwei Dutzend Hühner.

Da rief Stelter mit Nachdruck:

„All dies hier beweist, daß diese Ansiedlung bewohnt gewesen ist und daß die bisher hier Hausenden uns das Feld geräumt haben! Ein neues Geheimnis also! Dieser Tepisko wird mir immer rätselhafter.“

Frau Stelter lachte heiter. „Rätselhaft hin, rätselhaft her …! Die Hauptsache: hier ist alles im Überfluß vorhanden! Wir können wohl sagen: wir haben uns ins warme Nest gesetzt!“

Wohlgelaunt begannen sie so ihr Ansiedlerdasein.

Für die beiden Brüder bildete ein in der einen Stube stehender großer Schrank einen Gegenstand besonderen Interesses, denn er enthielt außer Werkzeugen aller Art vier moderne Doppelbüchsen, sechs Revolver, sieben Jagdmesser, mehrere lederne Jagdtaschen und zahlreiche Pakete Patronen.

Am liebsten hätten sich Herbert und Gustav sofort jagdmäßig ausgerüstet und wären auf die Birsch[1] gegangen. Doch der Ingenieur wollte davon nichts wissen.

„Erst muß die Wirtschaft hier in geregelten Gang kommen,“ meinte er. „Ein Glück, daß Mutter die Tochter eines Gutsbesitzers ist! Sie wird uns, die wir doch von der Viehhaltung nichts verstehen, schon belehren.“

Den Tag über gab’s denn auch reichlich zu tun. Die Kühe und Schafe mußten auf die Weide getrieben werden. Das Melken übernahm Frau Stelter. Dann wurde auch das Haus gründlich gereinigt.

Erst gegen Abend, als das Vieh wieder im Stall war, erlaubte Stelter den Jungen einen kurzen Ausflug nach dem Nordteil des Tales.

Wie stolz waren die kräftigen Burschen, als sie, ausgerüstet mit Waffen und Jagdtasche, wie die Trapper das Buschwerk durchstreifen konnten …!

„Irgendein Wild müssen wir erlegen!“ meinte Gustav eifrig. „Der Vater hat uns Sonntagsjäger genannt. Das lassen wir nicht auf uns sitzen …!“

Herbert nickte. „Nur gut, daß wir mit Gewehren umzugehen wissen. Wir haben ja beim Großvater auf dem Gut genug Krähen geschossen …“

Sie durchschritten gerade ein Erlengehölz – auch Birken gab es hier recht zahlreich –, als sie von rechts ein klägliches, angstvolles Kreischen vernahmen.

„Das muß ein Vogel sein!“ erklärte Gustav. „Los – schauen wir nach …!“

Im Laufen entsicherte er seine Jagdflinte. Der Vater hatte ihm die leichteste ausgesucht. Es war wohl mehr ein Damenjagdstutzen.

Möglichst leise drangen die Brüder in die Büsche ein, die sich hier um ein Feld von Felsgeröll hinzogen. Sehr bald standen sie am Rande einer kleinen, sanft ansteigenden Lichtung, in deren Mitte der Stumpf einer wahrscheinlich durch Blitzschlag zerstörten Eiche sich erhob.

Bis zu der Eiche waren’s vielleicht zwanzig Schritt. Die Knaben, die sich trotz ihrer Unerfahrenheit im Anschleichen lautlos genähert hatten, erblickten nun am Fuße dieses Baumes ein Bild, das ihnen so überraschend kam, als hätten sie dort den Teufel in Person vor sich.

Am Fuße des Baumstumpfes, der sicher hohl war und einen Durchmesser von gut zwei Meter hatte, wucherte dichtes Moos. Darauf hockten im Halbkreis sechs in Lederanzügen steckende Männer, die das schwarze Haar durch Riemen in drei Schöpfe abgebunden trugen. Ihre Hautfarbe war rötlichbraun, und ihre platten Nasen und vorspringenden Backenknochen erinnerten Gustav sofort an die Bilder der Indianerstämme des nördlichen Kanada, des Grenzlandes von Alaska, die er in einem Buche in dem Wohnhause der Höhle gestern gefunden hatte.

Die Rothäute waren gut bewaffnet. Die meisten führten Hinterladerbüchsen und Revolver bei sich außer Messern und kleinen Wurfbeilen.

Einer von ihnen rupfte eine Wildgans. Wahrscheinlich hatte er den Vogel mit dem Wurfbeil erlegt und nicht sofort getötet. Daher auch das klägliche Geschrei.

Die beiden Knaben verhielten sich ganz regungslos. Sie wagten auch nicht die geringste Bewegung zu tun. Nur einzelne Sätze raunten sie sich zu, tauschten ihre Ansichten darüber aus, was die Rothäute wohl im Schilde führen könnten. Gutes sicher nicht! Dafür sprach ja schon – und diesen Gedanken äußerte Herbert –, daß sie sich gescheut hatten, durch einen Schuß auf die Wildgans ihre Anwesenheit hier im Tale zu verraten.

Die Minuten verstrichen. Die Dämmerung brach herein. Noch immer knieten die Brüder an derselben Stelle zwischen Wacholdersträuchern, vor denen sich Dornen und Brombeeren zu einem flachen Dickicht vereinigt hatten.

Dann tauchten wie Gespenster ohne jedes Geräusch von rechts zwei Leute auf, ein Weißer und ein Indianer. Sie gesellten sich denen am Fuße der Eiche zu und begannen eifrig zu flüstern. Hin und wieder fiel auch ein lauteres Wort. Jedenfalls trat Gustav nun als erster den Rückzug an, da er hoffte, die Roten würden jetzt nicht so scharf auf jedes Geräusch achtgeben.

Herbert folgte. Geduldig schoben sie sich immer nur Zentimeter um Zentimeter vorwärts. Erst einige achtzig Meter von der kleinen Lichtung entfernt richtete Gustav sich auf und schlug einen kurzen Trab ein. Herbert war bald neben ihm.

„Der Weiße und der Indianer kamen aus der Richtung unserer Ansiedlung,“ meinte der Jüngere keuchend. „Die Bande plant etwas gegen uns, wette ich!“

„Ganz recht, Kleiner!“ bestätigte Herbert. „Es gibt in den beiden Blockhütten ja auch genug, was die Habgier der Rothäute reizen kann. Ein Glück, daß wir die Kerle entdeckt haben. Die Indianer waren Athabasken, den drei Haarschöpfen nach. In dem Buche, das wir gestern in der Bibliothek in dem Höhlenhause fanden und das über Alaska eingehend Aufschluß gab, stand ja, daß etwa 10 000 Indianer in den bewohnbaren Teilen Alaskas verstreut hausen, weiter nördlich auch noch gegen 11 000 Eskimos. Ein Teil der Roten betreibt die Pelztierjagd, spielt also Trapper. Wenige arbeiten gegen Lohn in den Goldminen. – Der Vater wird, fürchte ich, etwas den Kopf verlieren. Er ist von der langen Krankheit immer noch recht nervös …“

Da kamen auch schon die beiden Blockhäuser in Sicht.

Das Ehepaar Stelter saß vor dem Wohngebäude auf einer Bank. Der Ingenieur rauchte behaglich eine Pfeife. Als er seine Jungen so eilig heranstürmen sah, erhitzt, atemlos und mit erregten Gesichtern, sprang er sofort auf, rief ihnen entgegen:

„Was ist denn geschehen? Ihr –“

„Indianer!“ stieß Herbert hervor. „Sieben Rote und ein Weißer, ein Kerl mit langem, verwilderten Bart und einem löcherigen Filzhut auf dem kahlen Schädel. Er nahm den Hut ab, und da sah ich …“

„Unsinn!“ meinte Gustav ungeduldig. „Was schert uns der kahle Kopf des Mannes! Vater, die Bande will uns sicherlich überfallen.“

Stelter schmunzelte.

„In euren Köpfen spuken noch die Erinnerungen an Indianergeschichten,“ meinte er sorglos. „Kinder, die Zeiten sind doch längst dahin, wo der Indianer als Plünderer zu fürchten war.“

Doch Herberts eingehende Schilderungen ihres Erlebnisses gab dem Ingenieur dann doch zu denken. Auch Frau Stelter erklärte, man müsse unbedingt vorsichtig sein.

Jetzt zeigte sich, daß der Ingenieur durch die lange Reise und besonders durch die zweimalige Seefahrt doch bereits wieder ganz seine alte geistige Spannkraft wiedererlangt hatte.

Die Blockhütten standen nach allen Seiten frei. Die Fenster des Wohnhauses hatten starke Holzladen, die außen noch mit Blech beschlagen waren. Ebenso trugen die beiden Türen diesen Beschlag. Daß die Erbauer der Hütten mit ähnlichen Vorfällen gerechnet hatten, bewiesen die in den dicken Holzwänden eingeschnittenen Schießscharten, die durch Pflöcke von innen verschlossen werden konnten. Auch in den Fensterläden befanden sich je zwei Schießscharten, ebenso in dem Gebälk des Daches ein gutes Dutzend.

Stelter hatte für den Küchenherd schon am Tage Reisig gesammelt und Brennholz geschlagen. Dieses wurde in vier Haufen an den Ecken des Wohnhauses in einer Entfernung von vier Meter aufgeschichtet, so daß man es vom Dache aus durch brennende Reisigbündel jederzeit anzünden konnte.

Der Ingenieur mußte jetzt zugeben, daß die halb vergessenen Erinnerungen an die blutrünstigen Indianerschmöker doch ihren Vorteil hatten. Vieles, was er zur Sicherung der Ansiedlung anordnete, entnahm er diesen Erinnerungen, und an manches dachten wieder die Knaben, die mit Feuereifer halfen und dabei gar nicht so recht der Gefahr sich bewußt wurden, die vielleicht schon die nächsten Stunden brachten.

Als die Dunkelheit so groß geworden, daß die Büsche und Bäume rings um die Ansiedlung in eins verschmolzen, wurden die Türen des Wohnhauses verriegelt und bei geschlossenen Laden in allen Räumen Petroleumlampen oder Laternen aufgestellt.

Gustav erbot sich, auf dem Dache Wache zu halten. Dieses hatte zwei Luken, und die Ränder wieder waren fast wagerecht noch gut ein Meter über die Wände hinausgebaut. Auch in den Giebeln waren zwei Türen angebracht. Während nun der jüngere der Brüder abwechselnd durch die Dachluke nach Osten und Westen ausspähte, tat Herbert dasselbe durch die Giebeltüren nach Norden und Süden.

Als Frau Stelter gegen zehn Uhr ihren Söhnen das Abendessen hinauftrug – aus der Küche führte die Treppe nach oben –, erklärten ihr die Jungen, bisher nichts Verdächtiges wahrgenommen zu haben.

Die dick belegten Brote und ein Stück Bratfleisch vom Mittag her verzehrten Gustav und Herbert mit bestem Appetit. Ihnen kam ja dieses Abenteuer wie gerufen. Frau Stelter meinte noch, sie sollten nur ordentlich zulangen. Auch sie und der Vater hätten tüchtig gegessen.

Sie hatte sich ebenfalls bewaffnet. Als Mädchen war sie auf dem väterlichen Gut eine leidenschaftliche Jägerin gewesen. Und aufmunternd fügte sie noch hinzu: „Mögen sie nur kommen, die Strolche …! Wir werden ihnen zeigen, daß wir nicht mit uns spaßen lassen!“

Sie war wirklich eine mutige Frau, die nicht so leicht verzagte. –

Abermals vergingen zwei Stunden. Gustav hatte sich soeben lang auf den vorspringenden Teil der östlichen Dachseite gelegt. Inzwischen war auch die Mondsichel am sternenklaren Himmel erschienen. Es herrschte jetzt eine Dämmerung, die für des Knaben vorzügliche Augen vollauf genügte.

Die Büchse hatte er auf den Abschlußbalken des Daches gelegt, der gleichzeitig die Regenrinne bildete. Die Sicherung war zurückgeschoben. – Gustav dachte gerade daran, ob er nur auf die Beine der Angreifer zielen solle, falls diese erschienen, als er einen dunklen Schatten gewahrte, der über den Vorplatz des Hauses auf den Eingang dicht über dem Boden hinglitt.

Ein Mensch … ein Indianer!! Ohne Zweifel ein Späher …

Durch die oberen Spalten der Laden schimmerten schmale Lichtstreifen hindurch. Das hatte Gustav vorhin festgestellt. Auch der Rote mußte diese bemerken …

Nun richtete der Indianer sich auf, lauschte an der Haustür.

Da – durch eine der Schießscharten des Ingenieurs Stimme, so unerwartet, daß der Rote zurückprallte:

„Hallo – was wünscht Ihr von uns?“

Stelter hatte sich des Englischen bedient. Davon verstanden sicher auch die Athabasken einige Brocken.

Der Indianer sank blitzschnell zusammen, huschte mit erstaunlicher Gewandtheit davon.

Nach einer Weile hörte Gustav dann die Mutter aus der Dachluke fragen:

„Hast du den Indianer gesehen?“

Der Knabe antwortete durch ein leises Ja. Er wollte sich durch ein lautes Wort nicht verraten.

Gleich darauf kamen aufrecht ohne sonderliche Eile der langbärtige Weiße und ein Athabaske auf das Haus zu, machten vor der Tür halt, und der Weiße klopfte kräftig an, rief dazu:

„He – Ihr da drinnen, – öffnet! Wir möchten gern ein paar Patronen einhandeln und ein Säckchen Kaffeebohnen.“

Stelter entgegnete sofort:

„Jetzt nachts?! Kommt morgen am Tage wieder! – Wenn Ihr aber glaubt, hier gewaltsam eindringen zu können, so habt Ihr euch getäuscht. Hier gibt’s nicht nur Kaffee-, sondern auch Bleibohnen!“

Der Weiße erklärte darauf, wieder in englischer Sprache, mit ärgerlichem Auflachen:

„Gewaltsam?! – Wir sind Pelzjäger, keine Räuber, haben uns verirrt und sind zufällig in dieses Tal geraten. Ihr werdet doch nicht so unhöflich sein, zwei müde Wanderer fortzuschicken.“

„Zwei?! Wo sind denn die übrigen sechs Athabasken, die vorhin bei euch waren, he?! – Schert euch, Leute, ich rate es Euch im guten. Wir sind vortrefflich bewaffnet, und wir schonen niemanden, der uns belästigt. Ich weiß jetzt Bescheid, was für – harmlose Pelzjäger Ihr seid.“

Der Weiße sah ein, daß er so nichts ausrichtete. Er ließ jetzt die Maske fallen.

„Wenn Ihr’s wißt,“ meinte er, „dann werdet Ihr auch klug genug sein, Euch zu sagen, daß wir Euch mit Leichtigkeit aushungern können. Wir wollen kein Blut vergießen. Aber – die Blockhütten brauchen wir. Ihr müßt Euch anderswo ansiedeln. – Denkt nicht, daß wir Euch nicht kennen. Ein gewisser Tepisko hat Euch hier untergebracht, nachdem er selbst in diesem Tale die letzten zwei Sommer gewohnt hat. Wir sind schon lange hinter ihm her. Er muß hier in der Nähe ein Versteck haben … Auch das werden wir finden. – Entschließt Euch schnell. Wollt Ihr gutwillig die Blockhäuser räumen? – Ich verspreche Euch, daß …“

„Schenkt Euch weitere Worte,“ unterbrach Stelter ihn. „Bei mir habt Ihr kein Glück mit alledem! Ich sage Euch nochmals: Wen ich morgen früh von Euch noch im Tale antreffe, mit dem rede ich deutsch – denn ich bin ein Deutscher!“

„Gut – wie Ihr wollt!“ hohnlachte der Langbärtige. „Ich möchte Euch nur mitteilen, daß wir im ganzen zu zweiundzwanzig hier sind …! Ihr werdet bald sehr bescheiden werden …!“

Darauf zogen die beiden Unterhändler sich zurück.

 

4. Kapitel.

Der Gefangene.

Der Ingenieur rief jetzt die Knaben nach unten und ließ nur Frau Stelter auf dem Dache Wache halten.

„Jungens,“ meinte er recht ernst, „wir müssen uns darauf gefaßt machen, daß die Bande angreift, sobald der Mond verschwunden ist. Und das wird in einer Stunde geschehen. Ich möchte nun den Halunken, bevor wir Ernst machen, einen solchen Schreck einjagen, daß sie ihre Absichten aufgeben. Ihr wißt, in dem Gewehrschrank befinden sich gut zwei Dutzend Blechbüchsen mit Pulver, auch Luntenschnur. Holt dies alles mal herbei. Ich will aus leeren Konservenbüchsen so etwas wie Wurfbomben herstellen. Macht hurtig. Wir haben nicht viel Zeit. Auch den Lötkasten bringt mit und den Spiritusbrenner.“

An dem großen Tisch in der Wohnstube begann dann eine eifrige vorsichtige Arbeit.

Stelter war ja nicht umsonst Ingenieur. Es gelang ihm, in einer Stunde zwölf Blechbüchsen so herzurichten, daß, wenn man die aus einem angelöteten Blechröhrchen herausragende Zündschnur in Brand setzte und die Büchse dann auf den Boden warf, ein Haken die glimmende Schnur in das Pulver riß, dieses zur Explosion brachte und gleichzeitig der aus Eisenstücken und Bleikugeln bestehende Inhalt als Geschoßgarbe weit umhergeschleudert wurde. –

Die Rollen wurden jetzt anders verteilt. Stelter löste Herbert auf dem Dachboden als Beobachter von den beiden Giebeltüren aus ab, nahm sechs der Büchsen an sich und übergab die übrigen seinem Jüngsten, dem er mehr Geschicklichkeit und Ruhe als Herbert zutraute.

Um die Zündschnur der Sprengbomben unbemerkt anzünden zu können, rauchte Stelter Zigarren, deren Glut hierzu genügte, während Gustav eine glimmende Zündschnur in einer Blechdose neben sich liegen hatte. –

Es war jetzt zwei Uhr morgens geworden. Die Mondsichel hatte sich längst hinter den Randbergen des Tales versteckt. Noch immer regte sich nichts.

Die Dunkelheit lastete drohend über der Umgebung der friedlichen Ansiedlung. Die durch das dauernde Umherspähen überanstrengten Augen der Verteidiger täuschten diesen nur zu leicht allerhand Gestalten vor. So und so oft hatte Stelter schon heranschleichende Menschen zu erkennen geglaubt, und immer war’s nur ein Betrug der Sinnesorgane gewesen.

Gustav verließ sich mehr auf das Gehör. Die Nacht war vollständig windstill. Eine fast unheimliche Ruhe lag über der weiten Bodensenkung. Die heiseren Schreie ziehender Vögel und das ferne Geheul irgendeines Raubtiers blieben die einzigen Laute.

Der Knabe lag jetzt, da er seinen Platz des öfteren wechselte, auf der Ostseite des Dachbodens, also dem Stalle gegenüber.

Da – das war zweifellos das Knacken eines trockenen Astes gewesen …! – Mit angespanntester Aufmerksamkeit lauschte er … Abermals ein Geräusch aus der Richtung des Stalles, der dort wie ein dunkler Klumpen hochragte.

Dann – eine Reihe winziger Fünkchen tief auf der Erde …

„Ein Feuerzeug,“ dachte Gustav! Und nun war er seiner Sache sicher: Drüben am Stalle befanden sich einige der Feinde …!

Er nahm schnell die glimmende Lunte in die Rechte, bückte sich tief über die Blechdose, blies die Zündschnur an, hielt sie an das Blechröhrchen der Wurfbombe, sah die Schnur in der Röhre Feuer fangen, richtete sich etwas auf und – schleuderte die gefährliche Konservenbüchse mit vollem Schwung dorthin, wo die Fünkchen aufgesprüht waren.

Atemlos wartete er auf den Erfolg …

Ein Feuerstrahl dann – ein überlauter Knall …

Und sofort ließ er der Bombe nun ein brennendes Reisigbündel folgen. Es flog in den Strauchhaufen an der Südostecke des Wohnhauses … Flammen züngelten hoch …

Da – ein zweiter Knall. Stelter hatte von der nördlichen Giebeltür des Bodens ebenfalls eine der Büchsen geworfen …

Ein gellender Schrei unmittelbar hinterher …

Und der Ingenieur ließ der ersten Bombe eine zweite mehr auf gut Glück folgen …

Ein neuer Krach, daß die Scheiben der Fenster klirrten …

Dann Ruhe wie vordem; dieselbe drückende, nächtliche Stille …

Doch nicht lange … Ein Stöhnen jetzt, menschliche Laute der Qual, – ohne Unterbrechung fast.

Nun ein halberstickter Ruf:

„Helft – ich verblute! – Ich bin allein hier … die Rothäute sind entflohen …“

Der Weiße war’s! – Aber – konnte es nicht eine List sein?! Konnte der Feind nicht lediglich einen der Verteidiger aus dem Hause herauslocken wollen?!

Stelter beriet sich mit Gustav.

„Zünden wir den Strauchhaufen an der Nordostecke ebenfalls an, Vater,“ meinte dieser. „Dann müssen wir bis zu den Bäumen alles überblicken und auch den angeblich Verwundeten sehen können.“

So geschah’s. Das Reisig, das Holz flammte hoch, warf rötlichen Schein weithin …

Und dort – keine zwanzig Schritt nach Norden zu, lag wirklich der Weiße, halb auf den einen Arm gestützt.

Während nun die Knaben und Frau Stelter scharf aufpaßten mit angelegten Gewehren, lief der Ingenieur auf den Mann draußen in weiten Sprüngen zu, nahm ihn in die Arme, trug ihn unbelästigt ins Haus zurück.

Der Weiße hatte eine böse Wunde am Unterschenkel. Eins der Eisenstücke der Bombe hatte ihm ein Stück Fleisch weggerissen. Er blutete so stark, daß er ohne das Eingreifen Stelters, der schnell die Blutung zu stillen wußte, in kurzem eine Leiche gewesen wäre.

Jetzt erst konnte man das Gesicht des Mannes eingehender betrachten.

Stelter vermutete sofort, daß auch dieser Bärtige ein Chilene sein müsse. Als er ihm dies unumwunden erklärte, indem er auf des Mannes Hautfarbe hinwies, nickte jener schwach und flüsterte:

„Ihr habt recht … jedenfalls danke ich Euch, daß Ihr mir geholfen habt …“

Mehr brachte er nicht über die Lippen. Gleich darauf verfiel er in einen unruhigen Schlummer. Frau Stelter wachte bei ihm. –

Der Morgen dämmerte herauf. Es wurde heller und heller. Die Vögel begannen zu singen; das Leben in dem Tale erwachte …

Dort, wo die Bomben aufgeschlagen waren, zeigte die Grasnarbe tiefe Löcher. Sonst erinnerte draußen nichts an die Vorgänge der unruhigen Nacht.

Stelter war vorsichtig. Er erlaubte den Knaben erst, nach dem Stalle hinüberzugehen und das Vieh zu versorgen, als die Sonne bereits recht hoch stand.

Gegen zehn Uhr vormittags wurde der Verwundete munter. Sein Verband mußte nun erneuert werden. Die Wunde sah gut aus. Auch hatte der Chilene nur wenig Fieber.

Der zeigte sich jetzt recht mitteilsam. Was er erzählte, klang so abenteuerlich, daß Stelter nicht recht wußte, ob er dem Manne trauen dürfe.

Der Bärtige nannte sich Diego Dixon. Sein Alter gab er auf 35 Jahre an.

„Ich habe zwei volle Jahre in der Wildnis gelebt,“ meinte er. „Das gilt für das Fünffache. Daher erscheine ich weit älter. – Ich will Ihnen nichts verheimlichen, Master Stelter, Sie auch nicht belügen. Ich habe keinen Grund dazu. Ich bin in Ihrer Gewalt, und Sie können nachher, wenn Sie meine Geschichte gehört haben, mit mir nach Ihrem Gutdünken verfahren.

Ich bin ein entfernter Verwandter des Präsidenten von Chile. Vor drei Jahren erhielt dieser sichere Kunde, daß der Sohn seines alten Todfeindes Tepisko insgeheim Vorbereitungen treffe ihn zu stürzen. Tepisko, der als Besitzer eines Robbenfängers nach den Polargebieten gesegelt war, tauchte plötzlich in Valparaiso, der Hauptstadt, mit überreichen Geldmitteln ausgestattet auf, betrieb aber seine Pläne mit solcher Vorsicht, daß ihm schwer beizukommen war. Dann erfuhr der Präsident durch seine Spione, daß jener im Besitze großer Mengen von Goldkieseln war, die er unschwer mit Vorteil verkaufte.

Ich war es, der nun den Auftrag übernahm, herauszubringen, woher dieses Gold stammte. Es unterlag ja kaum einem Zweifel, daß Tepisko irgendwo eine reiche Bonanza (Goldfundstelle) entdeckt hatte.

Wollte ich hier schildern, mit welchem Aufgebot von List ich es fertigbrachte festzustellen, daß Tepiskos Geheimnis hier an der Südostküste der Halbinsel Alaska zu suchen sei, so müßte ich viele Stunden lang erzählen. Jedenfalls landete ich vor zwei Jahren hier in der Nähe mit einem für meine Zwecke ausgerüsteten Schoner, schickte diesen wieder heim und behielt nur zwei zuverlässige Leute, Chilenen gleich mir, zurück. Einer von diesen war der beste Geheimpolizist Valparaisos, ein Mann, der alles konnte, der den Spürsinn eines Indianers mit der Bildung eines Gelehrten in sich vereinte.

Wir drei hofften das Versteck zu finden, in dem der Motorkutter verschwand, den Tepisko hier stets benutzte.

Wir hofften … umsonst! Tepisko war schlauer. Was wir auch anstellten, um hinter sein Geheimnis zu kommen – alles blieb vergeblich. Ein volles Jahr durchstreiften wir die Küstengegend, suchten jede Bucht, jedes Tal, jeden Fluß, jede Felsspalte ab. Wir lebten wie die Wilden. Wir waren richtige Trapper geworden.

Dann fanden meine Gefährten bei einer Bootfahrt in einem selbstgezimmerten Kanu den Tod. Wir gerieten in die Stromschnellen eines Flüßchens, die sehr harmlos schienen und die doch unser Boot zertrümmerten.

Allein setzte ich nun meine Bemühungen fort. Ich bin ehrgeizig und hartnäckig. Ich hatte mir geschworen, nicht eher von hier zu weichen, bis ich Tepiskos Geheimnis kannte. Es gelang mir dann, sieben Indianer, Athabasken, anzuwerben, die mich begleiten sollten. Mit ihrer Hilfe fand ich vor einer Woche dieses Tal und beobachtete es nun mit größter Geduld, stets hoffend, Tepisko von hier aus einmal nach seiner Bonanza und dem geheimen Hafen seines Kutters folgen zu können.

Bevor Sie, Master Stelter, mit Ihrer Familie diese Blockhütte bezogen, hausten hier zwei Chilenen, Freunde Tepiskos. Ich nehme an, daß er diesen Schlupfwinkel hier für die Stunde der Not angelegt hat – als Zufluchtsstätte, falls sein anderes Versteck entdeckt werden sollte.

Und nun zu Ihnen selbst. – Ja – ich wollte Sie und die Ihrigen in meine Gewalt bekommen. Ich nahm und nehme noch jetzt an, daß Sie alles das wissen, wonach mein ganzes Sinnen und Trachten steht. Und ich gebe ebenso ehrlich zu, daß ich Sie nötigenfalls gefoltert hätte, um aus Ihnen ein Geständnis herauszupressen. – So – das wäre alles …!“

Stelter saß nachdenklich neben dem Bett des Verwundeten.

Jetzt wußte er ja, was Tepisko ihm verschwiegen hatte: eine Verschwörung bereitete dieser vor, und das Goldgeld sollte natürlich dazu dienen, diese zu fördern …!

Und dieser Diego Dixon wieder: Zwei Jahre hatte der Mann in der Wildnis gelebt und gesucht – gesucht nach dem Eingang zu der Riesenhöhle – – zwei Jahre! Wie gut verborgen mußte dieser Eingang also wohl sein …!

Da schreckte den Ingenieur eine Frage des Verwundeten auf:

„Master Stelter, – nun, was werden Sie mit mir anfangen?“

„Sehr einfach,“ erklärte der Ingenieur ohne Zögern. „Ich werde nichts mit Ihnen anfangen. Sie sind frei und nur mein Gast hier, sofern Sie mir versprechen, uns unbelästigt zu lassen. Mich gehen Ihre Angelegenheiten nichts an. Ich mische mich nicht darein …“

In diesem Augenblick erschien Gustav in der Stube.

„Vater, ich habe soeben Mendox und zwei Chilenen bemerkt,“ meldete er hastig. „Sie kommen schwer beladen das Tal entlang …“

Diego Dixon wurde unruhig. Stelter schaute ihn forschend an.

„Kennen Sie Mendox?“ fragte er.

„Ja – er ist Tepiskos bester Freund. – Master Stelter: ich verspreche alles, was Sie verlangen! Und – ich werde es halten! – Verbergen Sie mich! Wenn Mendox mich hier sieht, bin ich verloren. Er weiß, daß ich hinter ihm und Tepisko her bin …“

Schnell wurde Dixon auf den Boden geschafft.

Als Mendox und die Chilenen die Deutschen freundlich begrüßten, ahnten sie nicht, was sich inzwischen hier abgespielt hatte.

Sie blieben zwei Stunden. Und wieder versuchte Mendox den Ingenieur umzustimmen.

„Bauen Sie uns die Maschinen, und Sie erhalten eine halbe Million in Gold,“ sagte er fast bittend.

Stelter lehnte ab …

„Sie kennen mich ja, bester Mendox. Ich bin durch Gold nicht zu erkaufen. – Bestellen Sie Tepisko von mir auch folgendes: Wenn er sein Vaterland wirklich so über alles liebt, dann sollte er alle persönlichen Rachegefühle gegen den jetzigen Präsidenten ausschalten und nicht versuchen, ihn zu stürzen, – denn das beabsichtigt er!“

Mendox prallte zurück, stammelte: „Woher in aller Welt …“

„Also habe ich recht!“ fuhr Stelter fort. „Wahre Vaterlandsliebe soll über persönlichen Interessen stehen – riesenhoch! Tepisko ist ein verblendeter Tor, daß er mit seinem Golde Chile in einen Bürgerkrieg stürzen will! Mag er sich das einmal genau überlegen!“

Mendox schied nachher von Stelter wieder mit herzlichem Händedruck, meinte auch:

„Ich wünschte, Tepisko würde Ihre Worte beherzigen! Ich selbst – doch schweigen wir davon!“

Gleich darauf entschwand er den Blicken der ihm und seinen beiden Begleitern nachschauenden deutschen Familie.

 

5. Kapitel.

Verrat.

Diego Dixon hatte in seinem Versteck auf dem Boden des Hauses kaum ein paar Minuten allein gelegen, als er dicht vor sich in dem hier lagernden Heu ein Rascheln vernahm.

Zuerst glaubte er, es könne sich um ein Tier handeln. Was es war, vermochte er ja nicht festzustellen. Auf dem Boden war es vollständig dunkel.

Das Rascheln kam näher. Dixon wurde etwas bänglich zumute. Er war kein Hasenfuß, aber abergläubisch wie alle Südamerikaner.

Dann – wie ein Hauch klang sein eigener Name an sein Ohr:

„Master Dixon …“

Ebenso leise erwiderte er, da er bereits ahnte, daß es einer der Athabasken sein würde:

„Hier Diego Dixon! Bist Du’s, Attarou?“

Attarou war Unterhäuptling einer Abteilung der Athabasken und in ganz Alaska als erfolgreicher Pelzjäger und Bergführer bekannt. Er hatte sich Dixon gleichfalls verpflichtet und sich auch stets treu und ergeben gezeigt.

Der Indianer antwortete mit einem: „Ich bin’s!“ schob sich dicht neben das Lager des Verwundeten und fuhr fort:

„Attarou ist es bereits in der Nacht geglückt, durch eine der Dachluken einzusteigen und sich zu verbergen, gleich nachdem der Weiße Euch hereingeholt hatte. – Was soll ich tun, euch zu befreien?“

„Ich danke Dir, Attarou. Ich weiß jedoch nicht recht, ob es zweckdienlich ist, daß ich die Deutschen so bald wieder verlasse. Ich nehme bestimmt an, der Ingenieur Stelter kennt den Ort, den wir seit langem vergeblich suchen. Vielleicht glückt es mir, ihn dazu zu bewegen, ihn mir zu verraten. Weshalb er jetzt hier wohnt, ist mir gleichfalls noch ein Rätsel. Ich möchte all das aufklären. Mit Gewalt wird da schwer etwas zu erreichen sein. Ich habe diese vier Menschen jetzt genügend kennengelernt, und ich bin überzeugt, zwingen lassen sie sich zu nichts. Nur List kann zum Ziele führen. Ich wünsche daher, daß Du mit Deinen Leuten in der Nähe bleibst. Ich will Euch jeden Augenblick bei der Hand haben. Da es nun aber auffallen könnte, wenn Ihr so gar nichts zu meiner Befreiung unternehmt, wirst Du am besten morgen am Tage, nachdem Du in der kommenden Nacht das Haus wieder verlassen hast, Dich hier einfinden – ohne Waffen, und dann werde ich Dir zum Schein den Befehl geben, nach Euren Dörfern zurückzukehren.“

Attarou erklärte darauf, er würde ganz nach Dixons Angaben handeln und fügte hinzu:

„Von meinem Versteck unter den Heubündeln kann ich durch eine Ritze zwischen den Deckenbalken in den Raum hinabsehen, in dem keine Betten stehen …“

„Also in Stelters Wohnzimmer,“ schaltete Dixon ein.

„Wenn ich die Ritze vorsichtig erweitere,“ fuhr der Indianer fort, „werde ich auch hören können, was die Weißen sprechen. Vielleicht erlausche ich einiges, vielleicht wird gerade darüber gesprochen, was für uns am wichtigsten ist: über das Versteck des Kutters.“

„Sehr gut, Attarou! Versuch’s! – Man hat mich hier heraufgeschafft, weil die Deutschen Mendox und zwei Chilenen erwarten. Vermutlich werden sie nun mancherlei besprechen … Also kehre schnell unter Deine Heubündel zurück.“

Der Athabaske verschwand. – Stunden vergingen. Dann, als Stelters den Gästen noch das Geleit bis vor die Blockhütte gaben, tauchte Attarou eilig wieder neben Dixon auf und berichtete ihm, was er besonders von dem Gespräch zwischen Mendox und Stelter mitangehört hatte.

„Sie erwähnten eine Höhle, und nachher bat Mendox den Weißen, für Tepisko Maschinen zu bauen, wofür er eine halbe Million erhalten sollte. Stelter weigerte sich …“

So erfuhr Dixon denn tatsächlich recht viel Neues. Er wußte nun, daß der Schlupfwinkel des Kutters in einer Höhle bestand, – immerhin schon ein Wink für spätere Nachforschungen. – –

Nach dem Abzuge der Chilenen wurde Dixon wieder in die unteren Räume gebracht. Und in der Nacht gelang es dann auch Attarou, unbemerkt das Freie zu gewinnen. Am nächsten Morgen gegen neun Uhr erschien der Athabaske, ganz wie mit Dixon vereinbart, in der Ansiedlung, in der Hand einen grünen Zweig als Zeichen des Friedens tragend.

Stelters ahnten nicht, daß Diego Dixon ein falsches Spiel trieb. Nur Gustav, der Jüngste, überhaupt ein heller Junge, hatte gemerkt, daß der Indianer und Dixon einen bedeutungsvollen Blick austauschten, als der Chilene jenem zum Schein befahl, mit den anderen Roten nach ihren Dörfern heimzukehren.

Als der Athabaske daher wieder aufbrach, folgte der Knabe ihm mit größter Vorsicht und hielt sich wohl drei Stunden lang dicht neben dem Indianertrupp, der das Tal verlassen hatte und durch bewaldete Schluchten nach Osten marschierte.

Die Athabasken fühlten sich ganz sicher. Sie trauten den Weißen, die hier im Lande erst so kurze Zeit weilten, nicht recht zu, irgendwie Verdacht geschöpft zu haben oder die Fähigkeit zu besitzen, ihnen so geschickt nachzuschleichen. –

In der Ansiedlung war man sehr bald in ernstester Sorge um Gustav. Da er niemandem sich anvertraut hatte, konnte man sich sein Ausbleiben über die Mittagszeit nicht erklären.

So wurde es drei Uhr, und er kehrte noch immer nicht wieder. Dann endlich erschien er.

Stelter wollte ihn schon hart anfahren, als Gustav bittend rief: „Verzeiht, – ich bin einem braunen Bären gefolgt, hätte ihn beinahe auch erlegt …“

Der Ingenieur wetterte nun erst recht los. Gustav nahm die Vorwürfe schweigend hin. Er freute sich sogar, daß Dixon Zeuge wurde, wie hart der Vater ihn anfuhr. Dixon sollte ja um keinen Preis Argwohn schöpfen, daß er den Athabasken bis zu deren neuem Lagerplatz gefolgt war.

Erst eine Stunde drauf teilte der Knabe dem Vater die Wahrheit mit, berichtete, wie er beobachtet habe, daß die Indianer ihr Lager für ein längeres Verweilen eingerichtet und Reisighütten gebaut hätten, auch wie zwei von ihnen dann auf die Jagd gegangen wären.

Stelter sah ein, daß Gustavs Verdacht berechtigt war und daß man Diego Dixon nicht trauen durfte. Er lobte seinen Jüngsten, streichelte ihm den Kopf und erlaubte ihm gern, jeden Tag die Roten in ihrem Lager einige Zeit zu beobachten.

Daher brach Gustav denn auch am nächsten Tage bereits in aller Frühe auf. Er hatte einen Weg von anderthalb Meilen vor sich, der durch schwieriges Gelände führte. Dem Knaben war es eine Freude, so allein die Wildnis durchstreiften zu dürfen. Auch jetzt aber befleißigte er sich der größten Vorsicht, damit er nicht etwa mit einem der Athabasken zusammenträfe.

Ohne Zwischenfall erreichte er die mitten in einem hohen Fichtenwalde liegende Schlucht, wo die Indianer drei Reisighütten errichtet hatten. Kaum hatte er das Gestrüpp gefunden, in dem er schon gestern gelegen hatte, kaum schob er den Kopf so weit vor, daß er die Schlucht überblicken konnte, als er zu seinem Schreck einen Chilenen bemerkte, der gefesselt an einer Fichte aufrecht dastand. Es war dies einer der Leute, die Mendox gestern nach der Ansiedlung begleitet hatten. Vor dem Manne, dessen Gesicht bleich und verzerrt war, bildeten die Athabasken einen Halbkreis und hielten ihre Wurfbeile halb erhoben in den Händen. Attarou aber rief jetzt dem Chilenen, der Antonio Sedillo hieß, drohend zu:

„Nochmals: Willst Du uns nach der Höhle führen? – Ich zähle bis drei …!“

Sedillo brüllte, halb in Angst, halb in heller Wut: „Zum Teufel – ich weiß nichts von einer Höhle! So nehmt doch Vernunft an, Ihr roten Halunken!“

Da – die Wurfbeile vergruben sich sämtlich ganz dicht um seinen Kopf in den Stamm.

Er heulte fast auf vor Todesfurcht: „Ich – ich gehorche! Ich will Euch dorthin führen, obwohl ich dadurch einen Eid breche und meine Seele verdammt sein wird.“ –

Am Nachmittag desselben Tages fand sich ganz unerwartet Attarou wieder in der Ansiedlung ein. Absichtlich wurde er dann von dem Ingenieur, der ja durch seinen Jüngsten von dem drohenden Verrat Sedillos unterrichtet worden war, mit dem Verwundeten allein gelassen.

Nachher erklärte Dixon dem Deutschen, der Athabaske sei deshalb zurückgekehrt, um ihn mit nach den Dörfern des Stammes zu nehmen, wo ein mit Wundbehandlung besonders erfahrener Indianer ihn schneller wiederherstellen würde, als dies hier geschehen könnte.

So wurde denn Dixon gegen Abend von dem Athabasken auf einer Art Tragbahre mitgenommen.

Der Ingenieur aber und seine beiden Söhne – nur Frau Stelter sollte in der Ansiedlung bleiben – folgten den Roten, von Gustav geleitet, in weitem Abstand und gelangten so erst bei völliger Dunkelheit in die Nähe der Waldschlucht.

Hier mußten sie bis zum Morgengrauen warten. Dann brachen die Indianer mit dem Verwundeten und dem an den Händen gefesselten Sedillo auf. Dieser mußte den Führer spielen. Abermals schlichen nun Stelter und die Knaben dem nur langsam vorwärts kommenden Zuge nach. Mittags rasteten die Indianer unweit der Meeresküste auf einem Hochplateau.

Stelter und seine Söhne konnten von hier aus in der Ferne sowohl die See als auch eine große felsige Insel wahrnehmen. Es war die Kadiak-Insel, und der zwischen dem Festlande und dieser Insel liegende breite Meeresstreifen der Alaska-Sund.

Nach einer Ruhe von zwei Stunden setzte der Zug sich wieder in Bewegung. Es ging jetzt nach Norden weiter etwa parallel zur Küste. Dann, nachmittags gegen sechs Uhr, machten die Roten abermals halt und warteten die Dunkelheit ab.

Stelter verriet ein fernes Brausen, es müsse hier irgendwo einen größeren Wasserfall geben. Tatsächlich stellte er durch eine vorsichtige Streife fest, daß ein breiterer Fluß weiter nördlich dem Meere zuströmte und etwa 500 Meter vor der Mündung einen enormen Fall bildete, dann aber in ruhigem Laufe seinen Weg nach der See hin fortsetzte.

Während der Ingenieur dies ausgekundschaftet hatte, wurden die Knaben von ihrem Versteck aus Zeugen, wie die Indianer alles zum Bau eines Floßes vorbereiteten. Auch bemerkten sie, daß Attarou selbst einige Male in der Richtung nach dem Wasserfall hin als Späher davonschlich.

So wurde es zehn Uhr abends. Bevor noch der Mond aufging, schafften die Athabasken die Baumstämme, die sie gefällt hatten, nach dem Fluß und stellten tatsächlich ein Floß her, auf dem der ganze Trupp einschiffte.

Stelter erkannte, daß die Stunde der Entscheidung nahte. Er, der hatte verhüten wollen, daß Tepisko und Mendox dem falschen Dixon in die Hände fielen, sah nun, aber auch zu spät ein, wie schwer es für ihn sei, hier irgendwie einzugreifen. Er und die Knaben waren nicht imstande, ebenfalls noch in aller Eile ein Floß herzustellen. Es blieb ihnen daher nichts anderes übrig, als dem plumpen Fahrzeug, das jetzt durch Stangen und Ruder auf den Wasserfall zu vorwärtsbewegt wurde, am Ufer zu folgen.

Der Fluß hatte eine Breite von etwa siebzig Meter. Die Athabasken hielten stets genau die Mitte. Dort schien die ihnen entgegenkommende Strömung am geringsten zu sein. Dies ging auch daraus hervor, daß der Wasserfall in der Mitte nur sehr schwach war, während an den Seiten die Hauptmasse herabstürzte. Der Fluß durchströmte hier den tiefen Kanon eines mächtigen Bergmassivs – des sogenannten Simpsonberges.

Stelter, der sich bis dahin vergebens gefragt hatte, wohin das Floß gesteuert würde, kam ganz plötzlich die Erleuchtung: Der Eingang zu der Simpsonhöhle mußte hinter der Mitte des Falles liegen! Die Indianer wollten also durch die feuchten Schleier der in der Mitte nur in dünnen Strahlen herabstäubenden Wasser hindurch!

Eilig beriet er mit seinen Söhnen. Gustav war dafür, daß man von dem hohen Steilufer aus sofort das Floß zu beschießen beginnen solle. Doch Stelter mochte kein Blut vergießen. Ihm fiel etwas anderes ein. Er wußte ja, daß an dem Eingang der Höhle ständig eine Wache stand. Und dieser Mann mußte, wenn man hier am Ufer ein großes Feuer anzündete, darauf aufmerksam werden. Jedenfalls kam es auf einen Versuch an.

Bäume und trockene Zweige gab es in der Nähe genug. Im Nu flammte denn auch ein Reisighaufen auf, dessen Flammen immer höher zum Himmel hochleckten.

Da das Floß nur äußerst langsam vorzudringen vermochte, oft sogar von der Strömung zurückgerissen wurde, gewann das Feuer, durch dicke Äste genährt, sehr schnell eine Größe, daß der rötliche Lichtschein die Umgegend bis zu dem Fall hin erleuchtete.

Die Indianer waren längst auf den lodernden Brand dort oben am rechten Ufer aufmerksam geworden. Attarou riet jetzt zur Umkehr. Er ahnte, daß der Plan mißglücken würde.

Da – gerade als Dixon, ebenfalls ängstlich geworden, den Befehl gab, mit der Strömung zurückzutreiben, schoß hinter den Wasserschleiern der Motorkutter hervor.

Die auf dem offenen Floße Befindlichen waren den Leuten im Kutter gegenüber so stark im Nachteil, daß schon ein paar Schreckschüsse Tepiskos und Mendox’ genügten, die Athabasken jeden Widerstand aufgeben zu lassen. Sie lieferten ihre Waffen aus, stiegen auf den Kutter über, und zehn Minuten drauf hatte dann Tepisko alles – Indianer und Weiße – am Feuer droben am Ufer um sich versammelt, wo er, nachdem er Stelter herzlich für sein kluges Eingreifen gedankt, zu Dixon folgendes sagte:

„Ihr hättet euch diesen mißglückten Überfall sparen können, Diego Dixon! – Hier – lest diesen Brief, den mir gestern ein Vertrauter überbrachte. Der Brief enthält die Nachricht, daß Präsident Pedro Riebisko plötzlich verstorben ist. Damit dürfte auch unsere Gegnerschaft ein Ende haben, ebenso wie ich auch all meine Pläne jetzt aufgeben kann!“

Stelter gelang es, die bisherigen Feinde zu versöhnen und für Antonio Sedillo, der durch einen Zufall von den Indianern hatte gefangengenommen werden können, bei Tepisko ein gutes Wort einzulegen, damit dieser dem doch nur durch Todesdrohungen zum Verrat Gezwungenen verzeihe. – –

Tepisko bewies seinen vortrefflichen Charakter dann den Deutschen gegenüber dadurch, daß er Stelter nicht nur eine große Summe in Gold auszahlte, sondern ihm auch in Valparaiso eine Anstellung als Oberingenieur einer bedeutenden Maschinenfabrik verschaffte.

Stelters lebten sich in der Hauptstadt Chiles schnell ein und blieben mit all denen, die sie durch die Abenteuer in Alaska näher kennengelernt hatten, eng befreundet.

Die Höhle im Simpsonberge aber liegt jetzt wieder einsam und verlassen da. Nur Attarou besucht sie zuweilen auf seinen Jagdausflügen. Der Sprühregen des Wasserfalles stäubt noch immer über den Eingang hin, den so und so oft der Motorkutter Tepiskos durchkreuzte.

 

Verantwortl. Redakteur: M. Lehmann, Berlin SO 26. – Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26.

 

 

Anmerkung:

  1. Veraltet für „Pirsch“.