Sie sind hier

Die Jagd auf einen Namen (1. Auflage)

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 8

 

Die Jagd auf einen Namen.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26.

 

1. Kapitel.

„Zur Mutter Schmidt“.

Kommerzienrat Kammler, der Beauftragte der Wettgegner Harald Harsts, war soeben gegangen und hatte noch zum Abschied uns von der Tür aus zugerufen: „Viel Glück! An diesem Nemo haben sich bisher alle vergeblich versucht. Wollen sehen, ob der große Harst mehr kann als die Kriminalbeamten und die meisten Privatdetektive Berlins!“

Wir waren allein. Wir trugen noch die Verkleidung, die wir für das Hotel Sonnenschein nötig gehabt hatten, wo es Harst binnen drei Tagen gelungen war, den Mörder des Geldbriefträgers Schmiedicke der Polizei in die Hände zu spielen. Ich halte diese Leistung Harsts, die ich im vorhergehenden Bändchen unter dem Titel „Der Mord im Sonnenschein“ geschildert habe, noch heute für eine seiner besten, obwohl auch gerade das Problem, das ich hier jetzt niederschreibe, mindestens ebenso viele Überraschungen brachte, die die Welt nur meines Brotherrn und Gönners glänzenden Geistesfähigkeiten zu verdanken hat.

Kammler hatte es wirklich diesmal sehr eilig gehabt, uns die neue Aufgabe zu übermitteln und sie uns – sie lautete: „Wer ist der sogenannte Einbrecherkönig Andreas Nemo?“ – mit einem triumphierenden Schmunzeln, jedes einzelne Wort betonend, mitgeteilt.

Harald Harst schaute Kammler nach und dann zum Fenster hinaus. Die Sonne war bereits im Untergehen begriffen. Ein prachtvoller Maitag neigte sich seinem Ende zu. Und Harst sagte träumerisch: „Berlin enthält mehr Geheimnisse, als die Uneingeweihten auch nur im entferntesten ahnen. Der solide Bürger liest wohl mal in der Zeitung eine seltsame Begebenheit, zerbricht sich darüber aber nicht weiter den Kopf. Ich glaube, auch Sie, lieber Schraut, werden sich kaum besinnen, daß vor etwa vier Wochen der geheimnisvolle Andreas Nemo – Nemo heißt ja auf deutsch niemand! – abermals in den Spalten der Tageszeitungen drei Tage lang in kurzen Notizen herumspukte –“

„Allerdings – darauf besinne ich mich nicht, Herr Harst. Aber –“

„Nun, aber –“

„Ja – das hängt mit jener Zeit zusammen, als ich noch den Namen Komiker-Maxe hatte und – und Taschendieb und nicht wie jetzt Ihr Privatsekretär und Gehilfe war.“

„Ah – Sie wollen andeuten, daß Sie damals gelegentlich über den Einbrecherkönig, den bisher niemand zu Gesicht bekommen hat und der doch fraglos existiert, Näheres gehört haben. – Erzählen Sie.“

„Viel ist’s leider nicht. – Wir von der Zunft verkehrten damals in einem Kellerlokal in der Huttenstraße in Moabit. Es hieß „Zur Mutter Schmidt“. Im Hinterzimmer, an dem stets eine Papptafel „Reserviert“ hing, tagte jeden Abend ein Gesangverein „Kleine Harmonie“, dessen Mitglieder sämtlich „schwere Jungen“, Geldschrankknacker zumeist, waren. Die Kleine Harmonie habe ich nun einmal absichtlich belauscht. Es war eine gefährliche Sache, aber ich riskierte es, denn ein paar von der Zunft hatten mich durch ihre Andeutungen über die Vereinsgebräuche der Kleinen Harmonie sehr neugierig gemacht. – Ich muß nun zunächst das Lokal zur Mutter Schmidt näher schildern. Ein richtiges Kellerlokal ist’s nicht. Es liegt fast zu ebener Erde. Man geht nur zwei Stufen hinunter. Die Küche und die Kellerräume liegen jedenfalls unter den drei Schankräumen, und der Speisenaufzug ging an der Wand des stets reservierten Zimmers in Gestalt eines quadratischen Schachtes vorüber. – So, nun will ich mich kürzer fassen. Es gelang mir, von diesem Schacht aus ein Loch durch die nur einen Stein starke Wand herzustellen. Es mündete unter einem imitierten, hohlen Wildeberkopf aus Gips. Wenn ich diesen Kopf mit einem durch das Loch gesteckten Stäbchen etwas von der Wand abschob und ihn in dieser Lage festklemmte, bildete der hohle Schädel eine Art Schallfänger, so daß ich so ziemlich jedes Wort verstehen konnte, was die Harmoniker sprachen. Zwei Nächte habe ich in dem Schacht dann zugebracht, nachdem ich den Aufzug gründlich außer Betrieb gesetzt hatte, worüber Mutter Schmidt – sie heißt wirklich so, die Wirtin, und ist eine Witwe von etwa 50 Jahren – mächtig schimpfte, ohne zu ahnen, wer und weshalb man ihr den Streich gespielt hatte. Ich bekam so recht seltsame und abenteuerliche Dinge zu hören. Zunächst merkte ich bald, daß die Kleine Harmonie nichts anderes war als ein Geheimbund von Verbrechern mit sehr strengen Satzungen. Verrat wurde mit dem Tode bedroht. Die Beute wurde stets unter die 31 Mitglieder geteilt. Dafür mußten aber auch alle gleichmäßig mithelfen, ein „neues Ding zu drehen“, die Sache auszubaldowern, Schmiere zu stehen und so weiter. – Ich sagte 31 Mitglieder. Das 32. kannte offenbar keiner der anderen persönlich.“

„Aha – Andreas Nemo natürlich!“ warf Harst ein.

„Ja – so nannten sie ihn, auch wohl Treff-As, aber meistenteils sagten sie nur „Er“. – Ich konnte dann aus ihren Reden entnehmen, daß dieser Nemo das strenge, allwissende und allweise Oberhaupt des Bundes war und daß, wenn er sich mal persönlich zeigte, dies stets in einer anderen Verkleidung geschah, so daß niemand ihn je in seiner wahren Gestalt gesehen hatte. Selbst als Frauensperson ist er zuweilen zu den Vereinsabenden erschienen und immer nur ganz kurze Zeit geblieben, um die Befehle für eine neue Sache auszugeben. – Sie wissen ja, Herr Harst, daß die Kriminalpolizei dann eines Nachts die ganze Kleine Harmonie vor etwa zwei Jahren hinter Schloß und Riegel brachte – nur „Ihn“ nicht, und daß wohl sämtliche Mitglieder noch heute in verschiedenen Zuchthäusern sitzen dürften. Bei der Gerichtsverhandlung damals tauchten ja auch die Namen Einbrecherkönig und Andreas Nemo zum ersten Mal auf.“

Harst erhob sich plötzlich aus seinem Schreibsessel und ging mit einem „Einen Augenblick, lieber Schraut“ in seine Bibliothek hinüber, kehrte dann mit einem Stoß sorgfältig geordneter Zeitungen zurück.

„Helfen Sie mir die betreffenden Nummern von etwa vor einem Monat suchen,“ meinte er.

Wir hatten die drei Zeitungen bald gefunden.

Harst las vor: „Nummer eins – vom 12. April.“

„Die Geldschrankeinbrüche mehren sich wieder geradezu erschreckend. Es scheint fast, als wäre jene Zeit wieder aufgelebt, als noch die Bande des noch immer unentdeckt gebliebenen Einbrecherkönigs, der sich selbst mal seinen Genossen gegenüber Andreas Nemo genannt hatte – Andreas Niemand –, Berlin unsicher machte.“

„Nummer zwei – vom 13. April.“ – „Abermals ein schwerer Einbruch. Mit welcher Geduld müssen wohl diese Geldschrankeinbrecher ihre Vorbereitungen getroffen haben, um mitten in einem der belebtesten Viertel – und so weiter – und so weiter. – Dieses Meisterstück modernen Verbrechertums erinnert nur zu sehr an die Taten des in den Mantel undurchdringlichsten Geheimnisses gehüllten Andreas Nemo –“

„Nummer drei – vom 14. April“. – „Entweder ein schlechter Witz oder – Nun, unsere Leser mögen selbst entscheiden. Heute morgen erhielten wir folgenden Brief. – „Mit Interesse habe ich gestern und vorgestern in Ihrem werten Blatt die Notizen über Andreas Nemo gelesen. Ich bin vielleicht der einzige Mensch, der ihn je in seiner wahren Gestalt gesehen hat. Für 10 000 Mark will ich Ihnen nähere Angaben liefern. Nur muß Ihr Chefredakteur mir ehrenwörtlich versprechen, niemandem, sei es, wer es sei, irgendwelchen Aufschluß über meine Person zu geben. Rücken Sie in Ihr Blatt unter „Nemo“ im lokalen Teil eine zustimmende Erklärung ein, falls Sie auf mein Angebot eingehen wollen, das doch für Sie eine glänzende Reklame sein wird. Finde ich diese Notiz, so hören Sie mehr von mir.“ – Dieses mit Maschine gefertigte Schreiben halten wir nun für einen schlau ersonnenen Schwindel und werden es deshalb nicht weiter beachten. Sollte einer unserer Leser anderer Meinung sein und die 10 000 Mark opfern wollen, so mag er sich schriftlich oder persönlich bei uns melden.“

Harst legte diese Zeitungsnummer zu den anderen zurück und sagte: „Da das Blatt dieses anonyme Schreiben nie mehr erwähnt hat, dürfte keiner der Leser 10 000 Mark übrig gehabt haben. – Nun – wir wissen jetzt jedenfalls – hauptsächlich durch Sie, lieber Schraut, – über Nemo doch schon so einiges, denn in der damaligen Verhandlung gegen die Kleine Harmonie haben die Angeklagten zum Beispiel verschwiegen, daß „Er“ verkleidet zu den Vereinssitzungen erschienen wäre und haben behauptet, die Befehle ihres Oberhauptes stets schriftlich empfangen zu haben. Ich arbeitete zu jener Zeit bereits als Assessor auf der Staatsanwaltschaft und entsinne mich auf verschiedene Einzelheiten noch sehr gut, so auch darauf, daß die Angeklagten übereinstimmend angaben, daß dieser Nemo fast regelmäßig bei schwierigeren Einbrüchen persönlich für Minuten auftauchte, sehr klug durchdachte neue Anordnungen traf und wieder verschwand.“

„Ja – ja,“ nickte ich – und es war meine ehrliche Überzeugung – „dieser Mensch muß in seiner Art ein Genie sein.“

Harst durchmaß jetzt sein Arbeitszimmer mit langsamen Schritten. Er haßt ja überhaupt jede schnelle Bewegung, sieht darauf, daß seine Gesten, seine Haltung stets abgerundet und seinen Worten und der Situation angemessen sind. Nur wenn sein scharfer Geist blitzartig von Tatsache zu Tatsache gleitet[1] und, gleichsam wie die Hände eines Künstlers über die Klaviatur hineilen und die Akkorde mühelos finden, aus dieser Reihe von Feststellungen die passenden auswählt und zu einer wichtigen, unumstößlichen Kombination vereint, dann verläßt auch ihn das ausgeglichene Wesen, dann wird er lebendiger, wird er ein völlig anderer. Ich habe ja so viel Gelegenheit gehabt und habe sie noch, seine Eigenart zu studieren. Und dieses Studium bleibt stets interessant. Täglich entdeckt man an diesem außerordentlichen Manne neue Züge, die sein Gesamtbild immer vielseitiger gestalten.

Dann machte er vor mir halt. „Schraut, wir jagen diesmal einem Namen nach. Es wird eine schwere Arbeit werden. Kammler tat so siegesgewiß. Er hofft, daß ich diese Aufgabe nicht bewältigen und so die Wette verlieren werde. Na – warten wir ab –“ Er lächelte ganz wenig. Ich freute mich stets, wenn ich diesen heiteren Schimmer auf seinem Gesicht sah. Er war ja meist so ernst, fast finster. Er konnte doch nur schwer trotz der andauernden Inanspruchnahme all seiner Gedanken durch die Wettprobleme über den Verlust seiner Braut hinwegkommen. Gewiß – er hatte ihren Mörder den Behörden überliefert. Aber – Marga Milden konnte er dadurch nicht wieder lebendig machen.

Er ging dann zu seiner Mutter nach oben. Ich wunderte mich, daß er nicht wenigstens Bart und Perücke vorher ablegte.

Ich wohne bekanntlich neben Harst auf der anderen Seite des Flurs. Ich hatte mich dann gerade wieder in den gewöhnlichen Max Schraut verwandelt (im Hotel Sonnenschein war ich ja der sechzigjährige, halb gelähmte Herr Schrammel gewesen), als es klopfte und Karl Malke, unser kleiner, fünfzehnjähriger Gehilfe, eintrat, der hinten in unserem Garten mit seiner Mutter in einem kleinen Häuschen wohnt. Karl trug noch die Liftboy-Uniform, in der er im „Sonnenschein“ sich so wirksam betätigt hatte.

„Guten Abend, Herr Schraut,“ sagte er und warf sehnsüchtige Blicke auf meinen Zigarettenbehälter. „Ich habe im „Sonnenschein“ mich rausschmeißen lassen, damit ich hier wieder helfen kann. – Was gibt’s denn nun für uns zu tun?“ – Ich weihte ihn in die neue Aufgabe ein. – „Hoffentlich kriege ich dabei auch wieder Arbeit,“ meinte er. Ich zeigte auf die Zigaretten, und er bediente sich. Wir plauderten über dies und das. Dann wurde ich zum Abendessen nach oben gerufen. Frau Harst begrüßte mich mit einem ärgerlichen: „Denken Sie, er ist schon wieder unterwegs!“

Ah – Harst schien also bereits die Jagd auf den Namen begonnen zu haben! Also deshalb hatte er die Verkleidung nicht abgelegt.

Nach Tisch klebte ich mir einen blonden Bart vor, setzte eine Scheitelperücke auf meine Billardkugel von Kopf und – fuhr nach der Huttenstraße. Ich wollte doch nicht faulenzen, wenn mein Brotherr arbeitete.

Seit fast zwei Jahren war ich nicht in dieser Gegend gewesen. Ich wußte nicht, ob „Mutter Schmidt“ noch lebte. – Nun – das Schanklokal war verschwunden. In den Räumen befand sich jetzt ein Obstladen. – Schade! Ich hätte so gern Mutter Schmidt gesprochen. Vielleicht – vielleicht hatte sie inzwischen was Neues über Andreas Nemo gehört. Ich brauchte ja mit – Bestechungsgeldern als Gehilfe eines mehrfachen Millionärs nicht sparsam umzugehen.

Ich wollte schon umkehren, als ich auf den Gedanken kam, doch einmal bei dem Obsthändler anzuklingeln und nach Mutter Schmidts Verbleib mich zu erkundigen. So erfuhr ich, daß sie – gestorben war und zwar sehr bald nach der Aushebung der Kleinen Harmonie durch die Kriminalpolizei. Ich blieb bei dem Obsthändler eine gute Stunde. Dann wanderte ich ein weites Stück des Weges zu Fuß heim. Die Nacht war so mild, und ich hatte ja in den letzten Tagen als „gelähmter Schrammel“ so gut wie gar keine Bewegung gehabt. Gegen halb zwölf langte ich in der Blücherstraße vor unserem Hause an. Bei Harst brannte in der Bibliothek noch Licht. Die Fenster standen halb offen. Er spielte Klavier – mit ganz leisem Anschlag. Ich lauschte eine Weile. Natürlich wieder Wagner. Er liebt diesen Meister über alles – Motive aus dem Fliegenden Holländer waren’s. Das Dämonische dieser Musik kam trotz des halben Anschlags voll zum Ausdruck.

Ich pfiff dann leise unter seinen Fenstern unser vereinbartes Signal. Er kam und rief mir zu: „Ah – auch schon da? – Ich habe Sie erwartet, Schraut. Sie sind wohl zu Fuß von der Huttenstraße bis hierher gegangen?“

Huttenstraße? – Er wußte, wo ich gewesen! Also hatte er ebenfalls Mutter Schmidt besuchen wollen.

In seiner Bibliothek setzte ich mich dann in einen der weichen, tiefen Klubsessel. Er nahm wieder an dem Stutzflügel Platz. Sentas Liebeslied aus dem Fliegenden Holländer umrauschte mich. Und meine Geruchsnerven spürten den süßlichen Rauch von Harsts Spezialzigarette Mirakulum trotz der offenen Fenster.

„Ich habe zwölf Mark für Autos ausgegeben,“ sagte er plötzlich, ohne sein Spiel zu unterbrechen. „Aber ich habe dafür auch die tote Mutter Schmidt gefunden, wenigstens ihr neues Lokal. Sie selbst war nicht anwesend. Die Weiße war gut und das Eisbein vorzüglich.“

Ich hätte mir als Harsts Mitarbeiter das Wundern längst abgewöhnt haben müssen. Aber – daß er die tote Mutter Schmidt lebendig werden ließ, war mir doch zu viel.

„Ich glaube, daß sie nicht anwesend war,“ lachte ich. „Sie müßte denn gerade als Geist auftreten. Sie meinen natürlich, Sie haben ein Lokal mit demselben Namen – Zur Mutter Schmidt – gefunden.“

Er drehte sich nach mir um. Seine Miene war ernst, bedeutungsschwer. „Lieber Schraut,“ sagte er ganz leise, „sie ist nicht tot, sie lebt tatsächlich. Und weil sie lebt und doch gestorben sein will, dürfte es angebracht sein, ihr einige Beachtung zu schenken.“

 

2. Kapitel.

Ein verschleierter Besuch.

Man wird es begreifen, daß ich durch diese letzten Sätze jäh aus meiner bis dahin noch recht harmlos-gemütlichen Stimmung herausgerissen wurde. Und ich hatte auch schon den Mund halb zu der naheliegenden Frage aufgetan, auf welche Weise Harst diese geradezu ungeheuerliche Tatsache, daß die Schmidt absichtlich ihr Ableben mit allem Drum und Dran vorgetäuscht hätte, festgestellt haben könnte, als er schon aufstand, sich neben mich setzte und halblaut fortfuhr:

„Lieber Schraut, Sie begehen bei Ihren Nachforschungen noch immer ganz elementare Fehler, Sie sind noch zu sehr Anfänger geblieben, obwohl Sie doch nun mit mir zusammen bereits drei Probleme gelöst haben, die immerhin einige Schwierigkeiten und daher genügend Gelegenheit zum Lernen boten. – Sie wissen, ich hasse überflüssige Worte. Unsere Papierfabriken würden zur Hälfte pleite gehen, wenn alle die Feder führenden Leute sich daran gewöhnen wollten, Selbstverständliches fortzulassen und das Publikum zu zwingen, beim Lesen ein wenig zu denken. Ich könnte zum Beispiel beginnen: Als ich in der Huttenstraße aus dem Hause kam, in dem der Besitzer jenes Gebäudes wohnt, das einst das Lokal Zur Mutter Schmidt beherbergte, erblickte ich meinen treuen, fleißigen Mitarbeiter Max Schraut, der mit enttäuschtem Gesicht das Schild des Obstladens musterte – und so weiter. – Die Hälfte dieser Sätze ist überflüssig. – Also zunächst: Wenn man sich nach einem früheren Hausbewohner erkundigen will, so darf man’s nie bei jemandem tun, der, wie der Obsthändler, nur zugezogen ist und daher kaum über frühere Einwohner Bescheid wissen dürfte. – Deshalb ging ich zum Hausbesitzer, der gerade gegenüber wohnt. Er erklärte, Frau Schmidt hätte ihre Kneipe sofort nach der damaligen Razzia auf die Kleine Harmonie geschlossen, das Lokal gekündigt, die Restmiete bezahlt und anderswo sich niedergelassen. Wo, wüßte er nicht. Wenn ich mich aber für die Frau interessierte, sollte ich nur nach Nr. 6 gehen und dort bei der alten Gesanglehrerin Hermine Mallinger mein Glück versuchen. – Nr. 6 ist bekanntlich das Haus, in dem Mutter Schmidt vier Jahre lang gewohnt hat. – Übrigens – dort in dem Likörschrank steht noch eine angebrauchte Flasche Bordeaux. Bitte – stärken wir uns.“

Er trank mir dann mit den Worten: „Auf guten Erfolg bei der Jagd nach dem Namen!“ zu und fuhr fort: „Als Sie kaum in der Privatwohnung des Obsthändlers verschwunden waren, läutete ich drei Treppen höher trotz der späten Stunde bei der Mallinger an. Eine Walkürengestalt[2] mit schneeweißem Haar empfing[3] mich. Ihre Dogge, der beste Schutz für alleinstehende Frauen, schloß schnell Freundschaft mit mir. Ich erzählte der Gesanglehrerin eine schnell ersonnene Geschichte von meiner ältesten Tochter, die durchaus zur Bühne gehen und Opernsängerin werden wollte. Die Mallinger möchte doch ihre Stimme prüfen, bat ich und legte als Anzahlung zwanzig Mark vor sie hin. Meine Tochter wäre zur Zeit verreist, würde aber in etwa fünf Tagen sich hier melden. – Wir kamen ins Plaudern. Und nach zehn Minuten hatte ich sie glücklich auf das Thema gebracht. Doch – sie war sehr vorsichtig, obwohl ich merkte, daß sie gern einmal jemandem ihr Herz ausgeschüttet hätte. Ich hatte mich ihr als Witwer und Inhaber eines gut gehenden Schreibwarengeschäfts aus Pankow vorgestellt, der nur abends freie Zeit und der Sehnsucht nach einer etwas künstlerisch veranlagten, reiferen Lebensgefährtin hätte. Meine Verkleidung entsprach ja äußerlich diesen Angaben. – Ich tat, als besänne ich mich dunkel auf den damaligen Prozeß gegen den Einbrecherverein, zeigte nur geringes Interesse für Einzelheiten und erreichte gerade dadurch, daß die Mallinger mir einen Beweis ihrer schnell erwachten Zuneigung, die wohl dem gutsituierten Witwer galt, geben wollte. Unter dem Siegel allertiefster Verschwiegenheit – keine Seele wüßte bisher etwas davon! – erzählte sie mir, daß die Schmidt häufiger bei ihr gewesen wäre und daß sie den Eindruck gewonnen hätte, die Kneipwirtin wäre weit über das landläufige Maß einer Berliner Kaschemmenwirtin hinaus gebildet. – Überhaupt, sie war eine merkwürdige Frau, sagte die Mallinger ungefähr. Sie hatte so allerlei Gewohnheiten, die sie zum Original besonderer Art stempelten! – Nun, was die Mallinger dann an Eigentümlichkeiten aufzählte, kann ich mir schenken. – So – und jetzt zu der Hauptsache. – Der Hausbesitzer, erklärte die Mallinger in geheimnisvollem Flüsterton, hat Ihnen nicht alles über den Fortzug der Schmidt berichtet, was er weiß. Sie ist nämlich hier im Hause noch gestorben, ganz plötzlich. Drewki, ihr Vertrauter, ein buckliger, sehr geriebener Mensch, kam eines Abends zu mir und meldete mir ihr unerwartetes Hinscheiden infolge eines Schlaganfalls. Sie läge bereits im Sarg, und morgen früh würde dieser schon nach der Friedhofkapelle gebracht. – Diese Kunde erregte sofort bei mir allerlei Zweifel. Sie sollte mittags gestorben sein?! Weshalb hatte Drewki mir dies nicht sofort mitgeteilt?! – Nun, mich ging die Sache nichts an. Aber – bei einem Gespräch mit dem Hausbesitzer merkte ich, daß auch er diesen Todesfall nicht für ganz harmlos hielt. Er schwieg wohl nur, um keine Scherereien zu haben. – Die Schmidt wurde begraben. Sehr anständig und mit viel Blumen. Ich folgte auch. Es waren einige dreißig Leute auf dem Kirchhof, meist frühere Gäste von ihr; Verwandte gar nicht. – Anderthalb Jahre vergingen. Da – es war im Januar – begegnete ich auf dem Stadtbahnhof Schöneberg oben auf dem Bahnsteig einer mittelgroßen, rundlichen, einfach gekleideten Frau, bei deren Anblick ich wie vor einem Gespenst zurückfuhr. Mit Recht – denn diese Frau war – Mutter Schmidt, nur mit brandrotem Haar jetzt und mit dicker getuschten Augenbrauen. Früher war das Haar grau gewesen. Nachdem ich mich von meinem ersten Schreck erholt hatte, entschloß ich mich, der Sache auf den Grund zu gehen. Ich blieb also hinter ihr, stieg Wilmersdorf-Friedenau gleichfalls aus, benutzte dieselbe Elektrische, aber Anhänger, und gelangte so schließlich nach der Berliner Straße in Wilmersdorf unweit des Rathauses, wo die Frau dann in einem Kellerlokal eines alten, schmalen Hauses verschwand. Und über dem Eingang dieser Kaschemme stand: O. W. Schmidt’s Speisewirtschaft. – Mutter Schmidt hatte nun Olga Wilhelmine mit Vornamen geheißen! – Mein Verdacht, die Tote lebe noch, erhielt durch dieses O. W. neue Nahrung. Ich bin eine sehr resolute Person trotz meiner Künstlerschaft. Daher hatte ich nach drei weiteren Abenden, die ich dort in der Berliner Straße zum Patrouillieren vor dem betreffenden Hause benutzte, festgestellt, daß es sich ohne Zweifel um die frühere Mutter Schmidt handelte, die jetzt hier am Ende des bebauten Straßenzuges unweit des großen Gemeindekirchhofs sich abermals etabliert hatte. Zweimal sah ich sie damals. Ihr Gang ist unverkennbar. Auch ihre Kopfhaltung. Ich konnte mich nicht täuschen. – Was sollte ich nun tun? Ich habe lange hin und her überlegt. Dann – entschied ich mich fürs Schweigen. Wozu sollte ich der Schmidt Ungelegenheiten bereiten? Sie hatte mir manche Gefälligkeit erwiesen, mir viele Schülerinnen besorgt und mir noch mehr gute Bissen zugesteckt. Und – vor der Polizei habe ich ein Grauen! Ich hätte sicher viele Vernehmungen gehabt und nur Zeit und meine behagliche Ruhe eingebüßt! – So, Schraut, das sind die Erfolge meiner Erkundigungen nach Mutter Schmidt. Sie sind etwas reichhaltiger als die Ihrigen. Ja – man muß eben nur an der richtigen Tür anklopfen! – Von der Huttenstraße fuhr ich zunächst nach dem Redaktionsgebäude des Berliner Kuriers. Weshalb, können Sie sich wohl denken.“

„Hm – vielleicht des Briefes wegen, in dem der Unbekannte sich für 10 000 Mark erbot –“

„Ganz recht!“ unterbrach Harst mich. „Der Brief war jedoch längst vernichtet und Neues über diese Sache auch nicht zu erfahren. Dann besuchte ich die Speisewirtschaft von O. W. Schmidt, Berliner Straße 82,“ erklärte Harald Harst weiter, nachdem er unsere Weingläser frisch gefüllt hatte. „Die Inhaberin saß hinter dem Schenktisch und strickte. Es waren nur zwei Leute außer mir in der Kneipe, die einen sehr sauberen Eindruck macht. Ein kleiner, magerer Buckliger bediente mich – natürlich Drewki. Ich hörte hinter einer Tür rechts vom Büfett das Rollen von Kegelkugeln. Es war also eine Kegelbahn da. Aber – seltsam! – die Wirtin wies weder draußen am Eingang noch hier unten irgendwie durch eine Tafel darauf hin. Ich fragte den Buckligen: „Sie haben eine Kegelbahn? – Ist sie noch für einen Abend frei?“ – „Bedaure – alle Abende sind besetzt,“ erwiderte er maulfaul. – Nachdem ich mein Eisbein vertilgt hatte, schob ich ab, zufrieden mit dem Erreichten. – So, und nun kommen Sie an die Reihe. – Vorher: Prosit!“

Ich kam an die Reihe! – Ich verstand. Jetzt sollte ich nämlich Harsts Ermittlungen in Beziehung zu unserem neuesten „Fall“ bringen – zu dem Namen, dessen Inhaber niemand kannte. – Inzwischen hatte ich mir bereits „eine Theorie“ zurechtgelegt. Und daher antwortete ich ohne Zögern und in der Überzeugung, das Richtige getroffen zu haben: „Sie vermuten, daß die Schmidt keine Frau, sondern ein Mann ist – unser Mann! Andreas Nemo erschien ja auch zuweilen zu den Vereinssitzungen der Kleinen Harmonie als Weib verkleidet.“

„Nicht übel! Auch ich habe an diese Möglichkeit gedacht, lieber Schraut. Aber ich habe sie auch ebenso schnell wieder als unhaltbar verworfen. Die Kriminalpolizei wird doch fraglos Mutter Schmidt so scharf auf die Finger gesehen haben als der Gönnerin der bei ihr tagenden „schweren Jungen“, daß ein solches Auftreten als doppelte Persönlichkeit ausgeschlossen ist – besonders[4] noch als Mann! Außerdem: die Mallinger hat mir gegenüber betont, welch weiches, zartes Organ und wie kleine Frauenhände die Mutter Schmidt gehabt hätte. Ich sagte zu ihr wie im Scherz: „Vielleicht haben Sie mit einem verkleideten Kerl verkehrt, Fräulein Mallinger,“ und da lachte sie und meinte: „Ich als frühere Altistin am Rostocker Theater werde doch wohl Spreu vom Weizen zu scheiden wissen! Nein – eine Frau war’s schon, nur eine mit einem Haufen Eigentümlichkeiten.““

Harst gähnte jetzt sehr zwanglos. Das war für mich das Signal zum Verschwinden. Wir sagten uns gute Nacht, und ich ging in meine Wohnung hinüber, rauchte im Bett noch eine halbe Zigarre und grübelte darüber nach, weshalb Harst wohl mit der Mutter Schmidt sich so eingehend beschäftigte. Es gab hier nur eine Erklärung: er hoffte, daß sie mit Andreas Nemo gut bekannt wäre und daß er durch sie diesem rätselhaften Menschen auf die Spur kommen könnte.

Morgens gegen acht war ich im Gemüsegarten und half Frau Auguste Harst beim Versetzen von Tomatenpflanzen. Frau Harst war verstimmt, weil ihr Einziger bereits wieder „halb ohne Kaffee“ ausgegangen wäre. „Es ist wirklich ein Elend mit dieser Wette,“ meinte sie. „Erst hab’ ich mich ja darüber gefreut, weil er Ablenkung brauchte. Aber nun – diese ewige Hetze! Bald hier – bald dort, und wenn er mal daheim ist, denkt er nur an seine sogenannten Probleme.“ – Als ich dann um elf Uhr vormittags gerade beim Frühstück die Morgenzeitung durchsah, trat Harst sehr hastig ein. „Tag, Schraut. Wir werden gleich Besuch bekommen. Ich bin nicht zu Hause. Sie empfangen für mich und lassen sich erzählen, was die Dame wünscht. Und den zweiten Besucher hören Sie dann in Gegenwart der Dame an.“ – Er blieb in meiner Wohnung. Ich aber ging in den Flur und wartete auf das Anschlagen der Glocke, führte die Dame dann in Harsts Arbeitszimmer.

„Herr Harst ist verreist,“ sagte ich zu der bis zur Unkenntlichkeit Verschleierten. „Ich bin sein Privatsekretär und Vertrauter und bitte, mir ohne Scheu mitzuteilen, was Sie auf dem Herzen haben, falls es sich nicht gerade um eine rein persönliche Angelegenheit handelt.“

Die Dame war mit jener unaufdringlichen Eleganz gekleidet, die stets das Zeichen eines verfeinerten Geschmacks und zumeist auch das besserer Herkunft ist. Sie mußte der Figur nach noch jung sein. Auch ihre Bewegungen verrieten dies und nicht minder ihre Stimme, obwohl alles, was sie sprach, sehr ängstlich und zögernd herauskam.

Sie war offenbar sehr enttäuscht, Harst nicht selbst ihr Anliegen vortragen zu können, wurde dann aber in dieser Beziehung durch meine Versicherung beruhigt, ich würde ihn umgehend schriftlich benachrichtigen.

„Ich kenne die originelle Geschichte der Wette im Universum-Klub aus den Zeitungen,“ hatte sie das Gespräch eröffnet. „Herr Harst als Liebhaberdetektiv und gebildeter Mann schien mir nun am geeignetsten, mir zu raten und zu helfen, wobei ich mich eben auf sein mitfühlendes Herz verließ, da er ja doch auch Ihnen gegenüber, wie heute früh in der Morgenpost zu lesen war, sich als edler Menschenfreund gezeigt hat. – Entschuldigen Sie, Herr Schraut, daß ich hier auf Ihre originelle Vergangenheit anspiele.“ – Dann erzählte sie folgendes, wobei ihre in einem tadellosen blaugrauen Glaceehandschuh[5] steckende Rechte immer wieder nervös mit der Kette ihres goldenen Handtäschchens spielte.

„Mein Name tut nichts zur Sache. Ich habe verschiedene Gründe, ihn zu verschweigen. Nur wenn Herr Harst darauf bestehen sollte, daß ich ihn nenne, werde ich ihm allein anvertrauen, wer ich bin. – Ich will mich kurz fassen. Ich habe einen Bekannten –“ Sie unterbrach sich, fragte hastig: „Ist jemand dort im Nebenzimmer? Mir war’s, als hörte ich ein leises Geräusch.“ – „Es ist niemand dort, meine Gnädige. Aber zu Ihrer Beruhigung kann ich ja nachsehen.“ Ich betrat die Bibliothek. Links neben der Tür stand Harst, legte den Zeigefinger auf die Lippen und nickte mir mit einem so merkwürdigen Gesichtsausdruck zu, daß ich sofort ahnte, welche Bedeutung er diesem Besuch beimaß, denn – er hatte gleichzeitig die linke Hand erhoben und sie ganz schmal gemacht, ganz klein. Und – die Dame hatte auffallend kleine Hände.

„Wir brauchen keinen Lauscher zu fürchten, meine Gnädige,“ erklärte ich und setzte mich wieder. – Sie fuhr trotzdem mit leiserer Stimme fort, indem sie ängstlich nach dem türkischen Vorhang blickte, der die Bibliothek von dem Arbeitszimmer trennte.

„Dieser Bekannte ist ein junger Bildhauer. Er wohnt in Charlottenburg in der Heykingstraße am Bahnhof in einem Atelier. Er heißt – Erwin Bruckner. Seit acht Tagen ist er spurlos – verschwunden.“ Ich merkte – sie kämpfte mit Tränen. Bruckner war ihr daher wohl mehr als nur ein Bekannter.

„Ja – spurlos verschwunden, Herr Schraut. – Seine Aufwärterin hat mir nun sehr originelle Nebenumstände mitgeteilt, die dieses Verschwinden in ein besonderes Licht rücken. Ich möchte noch betonen, daß, falls Bruckner nur verreist wäre, er mir dies vorher unbedingt gesagt hätte. – Seine Aufwärterin ist eine brave Frau namens Mitzel. Sie hat mir versprochen, meinen Namen zu verschweigen, falls Herr Harst sie persönlich noch ausfragen würde. Ich halte dies aber nicht für notwendig. Ich kann alles wortgetreu wiedergeben, was die Mitzel mir berichtet hat. Heute vor acht Tagen kam sie wie immer – sie hat einen eignen Flurschlüssel – ins Atelier, fand im Wohnzimmer den Schlafdiwan nicht wie sonst mit Betten belegt und dann auf dem Schreibtisch im Atelier einen Zettel von Bruckners Hand: „Nicht etwa die Polizei benachrichtigen, falls ich länger ausbleibe.“ – Sie räumte wie immer auf und tat dies auch am nächsten Tage. Am dritten Morgen nach Bruckners Verschwinden wollte die Mitzel, die eine Treppe tiefer noch eine Aufwartestelle im Hause hat, wo sie von 8 bis 9 tätig ist, gerade nach oben ins Atelier gehen, als sie das ihr bekannte Klirren der Scheiben der Flurtür Bruckners hörte, die etwas lose sind und beim Schließen der Tür sich stets melden. Gleich darauf kam sehr eilig eine einfach gekleidete rothaarige Frau die Treppe herunter, die beim Anblick der Mitzel stutzte und dann noch hastiger das Haus verließ. Die Aufwärterin war leider nicht geistesgegenwärtig genug, die Frau anzuhalten oder ihr nachzulaufen. Nachher entdeckte sie dann – sonst war im Atelier alles unverändert – auf dem Schreibtisch einen neuen Zettel mit folgendem Inhalt: „Ich bleibe länger aus, etwa zehn, falls nicht Nachricht.“ – Dies sollte doch wohl heißen: „– etwa zehn Tage, falls nicht andere Nachricht von mir eintrifft.“ – Wenigstens deutete ich diesen Depeschenstil so. – Ich habe beide Zettel mitgebracht. Der erste ist mit Tinte geschrieben, der zweite mit Bleistift, aber beide stammen von Erwin – von Bruckner.“ Sie entnahm die zusammengefalteten Zettel ihrem Handtäschchen und reichte sie mir. „Seitdem hat sich nichts mehr ereignet. Aber gerade dies ängstigt mich. Bruckner hätte mich niemals so lange ohne eine Mitteilung gelassen – niemals! Er weiß, daß ich mich um ihn sorgen würde. Und – die fremde, rothaarige Frau, – was hatte die in seiner Wohnung zu suchen? Woher hatte sie den Schlüssel? – Ach – ich fürchte ja nur zu sehr, daß hier –“ Jetzt konnte sie die Tränen nicht länger zurückhalten.

Ich trat an das Fenster und ließ ihr Zeit, sich wieder zu fassen. Da – klingelte es draußen. Ich ging öffnen, und – Harst stand vor mir, Harst in derselben Maske, die er als Michael Schrammels Diener benutzt hatte. Er mußte sich in seinem Schlafzimmer sehr schnell umgezogen und Bart und Perücke befestigt haben.

Nun begriff ich: er selbst war der zweite Besucher, den er mir angekündigt hatte.

 

3. Kapitel.

Die beiden Zettel.

Wir gingen ins Arbeitszimmer. Ich ahnte, was kommen würde.

Harst hatte sich als Rentier Friedrich Lehmann vorgestellt, saß nun so recht verschüchtert auf der Stuhlkante und stotterte: „Die Dame erlaubt wohl, daß ich erkläre, weshalb ich Herrn Harst sprechen wollte. Ich möchte ihm etwas über den – Einbrecherkönig, den sogenannten Andreas Nemo erzählen –“

Ich beobachtete unseren weiblichen Gast scharf. Aber – der Name Nemo ging spurlos an ihr vorüber.

„Der – der Nemo ist nämlich mit einer Frau Schmidt befreundet –,“ fuhr „Lehmann“ fort.

Ich beobachtete weiter. Wieder nichts! Die Dame verriet sich nicht.

Da gab Harst diese Probe aufs Exempel auf und ging direkt auf sein Ziel los.

„Diese Frau Schmidt ist jetzt hier,“ sagte er erhobenen Tones. „Sie sind’s, meine Gnädige, – Sie, und ich – bin Harald Harst!“

Der Erfolg war ein sehr unerwarteter. Die Dame war erst aufgesprungen und halb erschrocken einen Schritt zurückgetreten. Nun aber – erklang hinter dem vierfachen weißen Schleier ein harmloses, kurzes Auflachen hervor. Dann der Satz: „Das ist aber originell! Ich begreife nichts von alledem, Herr Harst –“

„Sie besitzen mehr Geistesgegenwart, als ich glaubte,“ meinte er gelassen. „Sie sind jene Frau, die unter dem Namen Schmidt allerlei lichtscheue Dinge treibt. Sie haben auffallend kleine, schmale Hände, eine sehr angenehme, weiche Stimme, tragen den Kopf etwas nach links geneigt, begleiten Ihre Worte mit der Linken mit kurzen Gesten, haben eine Vorliebe für den Ausdruck originell – all das sind Kennzeichen der Schmidt, die wahrscheinlich im Auftrage eines anderen hierher gekommen ist und eine schlau erfundene Geschichte erzählt hat, nur um –“

Da – abermals das harmlose Auflachen. Und nun hob die Dame den Schleier. Darunter kam ein junges, liebreizendes Gesicht zum Vorschein, dessen Besitzerin kaum die Zwanzig erreicht haben konnte.

Ich schaute schnell nach Harst hin. Der stand geradezu sprachlos da. Dann sagte er mit tiefer Verbeugung: „Verzeihen Sie. Auch ein Harald Harst kann sich irren.“ –

Eine Viertelstunde darauf verließ Zenta Brixen uns. Sie hatte Harst sehr bald ihren Namen genannt.

Harst legte Bart und Perücke ab, wanderte langsam im Zimmer auf und ab. – „Ein merkwürdiger Reinfall, Schraut, nicht wahr?“ meinte er nach einer Weile. „Als ich Fräulein Brixen vom Fenster aus sah, wie sie so zögernd auf unser Haus zusteuerte und es von oben bis unten betrachtete, witterte ich sofort die Ratsuchende in ihr. Dann bemerkte ich die Kopfhaltung, die kleinen Händchen, und nachher sah und hörte ich noch das andere, da glaubte ich dann meiner Sache sicher zu sein, glaubte, daß die mir geradezu unerklärliche Unvorsichtigkeit Kammlers oder eines anderen der Wettgegner diesen Besuch herbeigeführt hätte.“ – Er nahm den Berliner Kurier vom Tisch. „Hier steht: „Die Millionenwette. – Wie wir zufällig in Erfahrung gebracht haben, soll Harald Harst als nächste Aufgabe die Person des geheimnisvollen Andreas Nemo ermitteln. Wir wünschen ihm viel Glück zu – und so weiter.“ – Bedenken Sie, Schraut, daß Kammler mir fest versprochen hatte, die Aufgaben sollten fernerhin streng vertraulich behandelt werden, und Sie werden einsehen, daß ich heute morgen nach Durchsicht der Zeitung sofort nach der Redaktion fuhr und von dem betreffenden Redakteur Aufschluß darüber erbat, wie das Blatt von der neuen Aufgabe Kenntnis erlangt hätte. Er schützte Berufsgeheimnis vor. Ich hatte kaum etwas anderes erwartet. Dann war ich im Klub. In zehn Minuten hatte ich den Klubdiener herausgefunden, der Kammler und zwei andere Mitglieder bei einem Gespräch über Nemo und mich belauscht und der sich von der Redaktion fünfzig Mark für die grobe Indiskretion hatte bezahlen lassen. Der Mann ist in Not. Seine Frau krank. Ich habe Verständnis für seine traurige Lage. Er bleibt im Klub.“ – „Und wieviel Geld haben Sie ihm noch geschenkt?“ fragte ich schnell. – „Das geht Sie nichts an, Schraut. Ich verbitte mir solche Fragen –“ – Aha – er wurde böse, weil er nicht wollte, daß ich sein gutes Herz von neuem pries. –

„Ich nahm also an,“ sprach er dann weiter, indem er am Fenster die beiden Zettel Bruckners betrachtete, „auch Nemo, den ich in wahrem Einverständnis mit der mysteriösen Mutter Schmidt vermutete und auch noch jetzt vermute, hätte diese jüngste Notiz über die Millionenwette gelesen und die Schmidt hergeschickt, um durch sie feststellen zu lassen, ob wir schon „an der Arbeit“ wären und ob etwa die Erwähnung einer rothaarigen Frau durch diese Abgesandte bei mir ein besonderes Interesse für diese Frau hervorrufen würde. Fräulein Zenta Brixen bezeichnete ja die „Frau auf der Treppe“ als rothaarig und – einfach gekleidet. Dies genügte mir zu der verfehlten Schlußfolgerung, daß die Verschleierte uns nur ein Märchen aufband und lediglich herausbringen wollte, ob wir schon auf das Lokal in der Berliner Straße und seine Inhaberin aufmerksam geworden wären. – Ich habe mich diesmal gründlich verhauen, so gründlich wie noch nie, und Zenta Brixen hatte allen Grund zum Lachen, als ich die große Überführungsszene spielte, was ich ohne Schaden für uns tun zu können glaubte, da Nemo ja doch bereits durch die Zeitungsnotiz vor uns gewarnt ist.“

Er ließ sich in den Ledersessel am Fenster fallen und strich die beiden Zettel auf seinem Schenkel glatt. – „Wenn wir diesmal den verlangten Erfolg erzielen,“ sagte er nun mit jenem geistesabwesenden Gesichtsausdruck, der stets bewies, daß seine Gedanken schwierige Pfade wandelten, „dann lege ich Ihnen fünfzig Mark monatlich zu, lieber Schraut. Ich fürchte aber, Sie werden diese fünfzig Mark nie sehen und ich – werde meine Million und meine Tagesberühmtheit durch einen Versager verlieren. Jetzt, wo dieser Mensch, der sich selbst als „Niemand“ bezeichnet hat, mich als Gegner kennt, wird sich noch unsichtbarer machen, als er’s schon vordem gewesen.“

Er holte seine goldene Zigarettendose vom Schreibtisch und schob eine Mirakulum zwischen die Lippen. Als er das Streichholz anstrich, als dem Knistern des sich entzündenden Köpfchens die kleine Flamme folgte, rief er ganz unvermittelt: „Schraut – das Streichholz blitzte eben auf und – gleichzeitig in mir ein Gedanke, der wert ist, nachgeprüft zu werden –“

Ich wußte schon, daß ich über diesen Geistesblitz jetzt nichts zu hören bekommen würde. So machte Harst es ja immer mit mir: Mitarbeiter war ich, aber nie Mitwisser – sondern stets nur – Späterwisser!

Und – so war’s auch. – „Schraut, wir wollen mal jetzt schnell wiederholen, was wir über und von Zenta Brixen wissen,“ sagte er, bereits wieder in seiner bedächtigen, grüblerischen Art. „Vater Rentier, wohlhabend, Witwer, Fünfzimmerwohnung in der besten Gegend, Kalckreuthstraße 12. Zenta einziges Kind. Sie lernt bei Bekannten den Bildhauer, eine ganz unbekannte Größe in sehr bescheidenen Vermögensverhältnissen, kennen. Da der alte Herr sehr strenge Ansichten über Verkehr zwischen Jung und Jung hat, da er Zenta vor dem 25. Lebensjahr nicht heiraten lassen will und alle jungen Leute aus ihrer Nähe weggrault, folgen mit Bruckner heimliche Stelldicheins, folgen Liebesschwüre und so weiter. Dann – verschwindet dieser Bruckner. Und nun – wird’s interessant. Ich denke dabei sowohl an die rothaarige, fremde Frau als auch an die Zettel – an diese ganz besonders. Nehmen wir sie daher zuerst unter die Lupe – im vollsten Sinne des Wortes. Reichen Sie mir doch mal bitte mein Vergrößerungsglas. Nein – besser das kleine Mikroskop. Ich schneide jetzt aus den Wörtern des zweiten Zettels, den doch vermutlich die rothaarige Frau in das Atelier gebracht hat, einen einzelnen Buchstaben heraus und lege ihn unter das Mikroskop. – Aha – kommen Sie her, Schraut. Was sehen Sie?“

„Daß in dieser fünfzigfachen Vergrößerung dieser Buchstabe N nicht aus glatten, in einem Schwunge hingeworfenen Schleifen, sondern aus Wellenlinien sich zusammensetzt. Mithin handelt es sich um eine Fälschung der Schrift Bruckners, allerdings um eine Fälschung, die nur durch diese Vergrößerung erkennbar wird.“

„So? Nur durch diese Vergrößerung[6]?“ Harst stand dicht neben mir mit der Zigarette im Mundwinkel, die beim Sprechen auf und ab wippte. Er, der auf äußere Formen so sehr viel gab, ließ sich nur mir gegenüber zuweilen etwas gehen und erlaubte sich, die Zigarette zwischen den Lippen zu behalten, doch nur dann, wenn seine Gedanken durch seine über alles geliebte Detektivarbeit mit all ihren tausend Feinheiten restlos in Anspruch genommen waren.

Ich schaute ihn fragend an, nahm dann die beiden Zettel und besichtigte sie nochmals mit größter Sorgfalt, konnte aber nichts entdecken, was mit bloßem Auge darauf hingedeutet hätte, daß der zweite gefälscht war.

„Ich vermag wirklich nichts zu bemerken, woraus –“ Ich kam mit diesem zögernden Satz nicht zu Ende.

„Lieber Schraut,“ meinte Harst eifrig, „fällt Ihnen denn nicht auf, wie merkwürdig das Deutsch des zweiten, mit Bleistift geschriebenen Zettels ist? – Hatte der Fälscher dieses Zettels wirklich die Absicht, nebenbei noch einen sogenannten Depeschenstil vorzutäuschen? –: „Ich bleibe länger aus, etwa zehn, falls nicht Nachricht,“ steht hier. – Nun, – „etwa zehn“ ist doch reichlich unklar. Weshalb fügte er nicht wenigstens noch „Tage“ hinzu? Oder „Wochen“? – Na, Schraut, – haben Sie’s nun herausgefunden?“

Leider mußte ich verneinend den Kopf schütteln. Da rief Harst: „Aber – aber, wie kann man nur! Ich habe Sie doch schon mit der Nase draufgestoßen! – Doch – als Lehrer soll man Geduld haben. Sie sollen ja von mir lernen. – Ich lese Ihnen also den Inhalt der Zettel ganz langsam vor. Nummer eins, der echte:

„Nicht etwa die Polizei benachrichtigen, falls ich länger ausbleibe.“

Nummer zwei, der gefälschte:

„Ich bleibe länger aus, etwa zehn, falls nicht Nachricht.“ – Na, Schraut?“

„Sie haben einen recht unbegabten Schüler Herr Harst,“ sagte ich kläglich.

„Sollte ich denn wirklich eine ausgesprochene Begabung für derartige fast selbstverständliche Beobachtungen besitzen?! Woher habe ich sie geerbt? Mein Vater war Tischlermeister, dann Holzhändler und Millionär, und auch von Mutterseite her finden sich in meinem Stammbaum nur Bäcker, Fleischer und ein einziger Künstler – ein Haarkünstler, ein Friseur! – Gut denn. Die Sache ist folgende: Der Fälscher des zweiten Zettels kann als Vorlage für seine Schriftversuche nur den Zettel Nr. 1 zur Verfügung gehabt haben, denn – er hat fast sämtliche Wörter von Nr. 1, natürlich in anderer Reihenfolge, wiederholt bis auf das Wort „zehn“, weil er sich eben nicht zutraute, andere Wörter ohne Vorlage genau genug nachahmen zu können. – Und zu diesem „zehn“ fand er in Polizei das notwendige z. – Diese Wiederholung derselben Wörter sagte mir schon vor der Benutzung des Mikroskops, daß die Bleistift-Nachricht nicht von Bruckner stammte.“

Ich hatte ja bereits von Harsts Scharfsinn genügend Beweise erhalten. Aber diese verblüffend einfache Erklärung entlockte mir trotzdem ein begeistertes: „Glänzend!“

„Na na, lieber Schraut, machen Sie mich nicht eitel. – Glänzend – das können Sie sagen, wenn wir den Herrn Andreas Nemo wirklich am Kragen haben, was vorläufig noch recht aussichtslos erscheint. – Doch nun weiter. – Zunächst der Bildhauer. Wir wissen so gut wie nichts von ihm. Nur daß er eines Tages einen Zettel auf seinen Schreibtisch legte und dann verschwand. Der Zettel war sowohl für seine Aufwärterin Mitzel als auch für Zenta Brixen bestimmt. Bruckner rechnete damit, daß seine heimlich Verlobte sich bei der Mitzel nach ihm erkundigen würde. Er hat Zenta inzwischen keinerlei Nachricht gegeben. – Was geht aus alledem hervor? – Folgendes: er verließ damals sein Atelier mit dem Gedanken, daß er vielleicht gezwungen sein würde, längere Zeit die Mitzel und seine Verlobte ohne Nachricht zu lassen; er verließ es aber auch zu einem offenbar etwas geheimnisvollen Zweck, über den er selbst Zenta Brixen nichts verraten konnte oder wollte. – Über diesen Zweck nachzugrübeln, ist unnötig. Wir wären da nur auf bloße Vermutungen angewiesen. – So, und nun die rothaarige Frau und die gefälschte Nachricht. Beide sind sehr bedeutungsvoll, erzählen uns einen kleinen Roman, der vielleicht tragisch endet oder – geendet hat. – Können Sie hier Ihre Phantasie etwas spielen lassen, Schraut? Sie haben doch nun begonnen, unsere kleinen Erlebnisse aufzuzeichnen – mit leidlichem Geschick. Ein Schriftsteller ohne Phantasie ist wie ein Wagen ohne Pferde. – Also – schießen Sie los.“

Diesmal war ich weniger begriffsstutzig. „Die Frau, die sich in das Atelier eingeschlichen hatte und den gefälschten Zettel hinlegte, kam in der Absicht, Bruckners Verschwinden noch eine Weile sozusagen zu bemänteln,“ begann ich mit ziemlicher Bestimmtheit. „Sie wußte also, daß der Bildhauer nicht in der Lage war, der Mitzel oder seiner Braut eine Mitteilung zu senden. Bruckner ist also entweder irgendwo schwer erkrankt oder wird irgendwo gewaltsam zurückgehalten, falls er nicht gar – bereits tot ist.“

„Bravo, bravo, lieber Schraut! Ich hätte dies nicht besser machen können – tatsächlich! An uns wird es nun sein, diese drei Möglichkeiten: krank, gefangen oder tot, nachzuprüfen, genau so, wie wir feststellen müssen, ob hier etwa ein merkwürdiger Zufall mitspielt und die Rothaarige vielleicht gar unsere Mutter Schmidt ist, schließlich noch, wie Zettel Nummer eins dieser Rothaarigen oder deren Mitwisser zur Vornahme der Fälschung von Nr. 2 zugänglich geworden ist. Letzteres ist außerordentlich wichtig. Zenta Brixen hat uns erklärt, sie hätte Zettel Nr. 1 am dritten Tage nach Bruckners Verschwinden an sich genommen. Mithin hätte die – Mitzel, die Aufwärterin, reichlich Zeit gehabt, anderen Leuten, von denen sie vielleicht bestochen war, den Zettel Nr. 1 zum Zwecke der Herstellung von Nr. 2 zu überlassen.“

„Aha – die Mitzel! Der müssen wir –“

Harst schlug mir leicht auf die Schulter. „Aber bester Schraut, – schon wieder ein Fehler! Die letzten Sätze waren eine Falle für Sie! – Ich bitte Sie: Der Mitzel als Aufwartefrau mit eigenem Schlüssel standen doch fraglos genug Schriftproben Bruckners – Briefe, Notizen und so weiter – zur Verfügung, die sie den Fälschern hätte aushändigen können, so daß diese nicht nötig gehabt hätten, in Nr. 2 dieselben Wörter aus Nr. 1 nachzumalen! – Nein – die Mitzel scheidet als mit im Komplott befindlich aus. Wir müssen sie nur über die Rothaarige näher ausfragen, was Zenta Brixen versäumt hat.“

Er begann wieder im Zimmer mit gesenktem Kopf auf und ab zu gehen. – „Ein sehr unangenehmer Zwischenfall, dieser Verrat unserer jetzigen Aufgabe und deren Preisgabe an die Öffentlichkeit,“ meinte er murmelnd. „Nun hätte ich mir das Angebot an den Menschen, der für 10 000 Mark Nemo-Geheimnisse ausplaudern wollte, schenken können.“ Er nahm den Berliner Kurier vom Schreibtisch. „Hier steht das, was ich soeben andeutete: „20 000 Mark verspricht ein Privatmann dem zu zahlen, der über den sog. Einbrecherkönig Andreas Nemo ihm nähere Angaben machen kann.“ – Ja, Schraut, Sie sehen, ich habe versucht, auf diese Weise mich mit dem Absender jenes an die Redaktion gerichteten Schreibmaschinen-Briefes in Verbindung zu setzen. Was hilft[7] das jetzt alles, wo Nemo vor uns gewarnt sein dürfte?! Wir werden all unsere Erfindungsgabe[8] nunmehr aufzubieten haben, um unsere Nachforschungen in ein tiefes Dunkel zu hüllen, sonst werden wir – Ah – ein Depeschenbote! Gehen Sie, nehmen Sie ihm die Depesche ab, Schraut.“

Es war nur ein Rohrpostbrief. In dem Umschlag, dessen Anschrift mit Maschine geschrieben war, steckte ein Zettel, auch mit Maschine geschrieben:

„Herr Harst!

Ich rate Ihnen, sofort Ihre jetzige Aufgabe und Ihre Ermittlungen nach mir fallen zu lassen. Sollte ich merken, daß Sie Ihre Versuche, mich zu finden, fortsetzen, so haben Sie selbst an den Folgen schuld.

Andreas Nemo.“

Harst hatte mir dies vorgelesen. „Eine Kampfansage, Schraut!“ meinte er, und seine grauen Augen flammten auf. „Herr Andreas Nemo, wenn Sie wüßten, daß ich Sie eigentlich schon entdeckt habe, würden Sie mir nicht so plump drohen!“

Ich war starr. – „– eigentlich schon entdeckt habe,“ hatte Harald Harst gesagt! Und – Redensarten machte er nie.

Ich wollte etwas fragen, wollte bitten, dieses „eigentlich –“ mir zu erklären. Doch Harst rief schon: „Schraut, telephonieren Sie an Sanitätsrat Müller, unseren Hausarzt. Ich habe eine Lungenentzündung, bin schwer krank. Ich lege mich sofort ins Bett –“

 

4. Kapitel.

Bei der Arbeit.

Frau Harst, ebenso die alte, zuverlässige Köchin und Karl Malke wurden sogleich in die besondere Art dieser Erkrankung eingeweiht. Dann hielten wir Kriegsrat: Harst, der Junge und ich. – Es war mehr ein Verteilen der Rollen bei dem nun folgenden ernsten Kampf gegen – einen Namen. Harst wies Karl und mir unsere besonderen Aufträge zu. Es war ein Genuß zuzuhören, wie er seine Hilfstruppen ins Gefecht beorderte.

Ich hatte gehofft, aus diesen seinen Befehlen entnehmen zu können, wer nun eigentlich unser Gegner wäre. Umsonst! Harsts Dispositionen ließen keine weitergehenden Schlüsse zu.

Nach einer Stunde erschien der Sanitätsrat, ein mittelgroßer Herr mit graumeliertem Bart und goldenem Kneifer auf der etwas verdächtig rot schimmernden Nase. Harst empfing ihn in meiner Gegenwart im Bett. – „Herr Sanitätsrat, ich bin gesund wie ein Fisch im Wasser,“ sagte er. „Ich brauche Sie aber, um ungesehen, besser unerkannt, das Haus verlassen zu können, das fraglos scharf bewacht wird. Auf Ihre Verschwiegenheit kann man Wolkenkratzer bauen, bester Doktor. Das weiß ich –“

Ich mußte dann aus unserem „Theaterschrank“ wie Harst ihn nannte, alles Nötige herbeiholen. Harst zog Müllers Kleider an, setzte Zylinder auf und nahm dessen Kneifer und Rock, nachdem er sich von mir Bart, Perücke und die sonstige Maske hatte anlegen lassen, wobei auch Schminke verwendet wurde. Dann ging er zur Probe zu seiner Mutter nach oben, verabschiedete sich auch gleich von ihr und ließ sich von mir nun bis an die Pforte des Vorgartens begleiten. Dort spielte er den Sanitätsrat mit aller Würde, griff leicht an den Zylinder und schritt die Blücherstraße hinab.

Nach zwei Stunden kam ein Dienstmann mit einem großen Karton. Darin lagen Müllers Sachen. Und gleich darauf verließ ein zweiter Sanitätsrat das Haus, während der erste, der sich inzwischen (dies erzählte mir Harst später) in einem Kleiderladen neu ausgestattet hatte, bereits die Jagd auf den Namen eifrig betrieb.

Nun war es an mir, unbemerkt aus der Blücherstraße[9] zu verschwinden. Ich ging in den Vorgarten und mähte den Rasen mit der Maschine. Dabei schaute ich scharf nach irgend welchen Leuten aus, die vielleicht als Spione in Betracht kamen. Dem Harstschen Grundstück gegenüber liegt ein Bauplatz mit einem hohen Bretterzaun. Hinter diesem Zaun konnte sehr gut jemand verborgen sein – jemand, der im Auftrage Nemos handelte. – Ich entschloß mich dann, einen alten Trick anzuwenden. Ich machte mich ohne Verkleidung auf den Weg, fuhr mit der Straßenbahn bis zum Kaufhaus des Westens, ging hinein und schlüpfte in einen sofort nach oben surrenden Fuhrstuhl, stieg im 2. Stock aus und eilte durch einen Seiteneingang[10] wieder auf die Straße. Nun war ich sicher, daß niemand mehr hinter mir her sein konnte. Bei Wertheim in der Leipziger besorgte ich dann meine Einkäufe: Arbeiterbluse, billigen Anzug, Flanellhemd und so weiter. Auch eine Perücke und Bärte in verschiedener Farbe sowie einen billigen Koffer vergaß ich nicht. Als Umkleideraum diente mir eine Zelle des Waschraums des Potsdamer Bahnhofs. Als ich etwa um zwei Uhr nachmittags in der Berliner Straße in Wilmersdorf anlangte und mich nun in der Nähe der Speisewirtschaft der O. W. Schmidt nach einer Schlafstelle umsah, hätte selbst Harst mich wohl kaum erkannt.

Ich hatte Glück. Gerade O. W. Schmidt gegenüber vermietete in einem älteren Hause eine schmierige Alte namens Runke möblierte Zimmer. Eins davon war noch halb frei, das größte. Es war durch zwei Schränke und einen Wandschirm in der Mitte geteilt. Links wohnte ein Straßenhändler, wie mir die Runke sagte, ein alter, ruhiger Mann. Die rechte Hälfte wurde mein Quartier. Ich hieß jetzt Karl Schulz und war Tischlergeselle, aus Stettin zugereist.

Um vier Uhr hatte ich die Mitzel glücklich in ihrer Wohnung allein vor mir. Da Zenta Brixen uns die Frau als durchaus vertrauenswürdig geschildert hatte, ging ich direkt auf mein Ziel los. Zwanzig Mark machten ihr Gedächtnis noch reger. So erfuhr ich denn so manches über Erwin Bruckner, das nicht gerade sehr für ihn sprach. Der Mitzel tat Zenta sehr leid, weil der Bildhauer sie mit allerlei fragwürdigen Damen betrog. Er sollte auch oft wüste Gelage in seinem Atelier veranstalten, verstand jedoch, seinen Leichtsinn vor der Außenwelt schlau zu verbergen. – Über die Rothaarige wußte die Mitzel nicht viel anzugeben. Immerhin konnte hier die mysteriöse Mutter Schmidt wieder einmal eine recht eigenartige Rolle gespielt haben – konnte! Sicher war es nicht. – Dann führte die Mitzel mich nach dem Atelier. Ich wühlte dort alles durch. Ich fand in einer Schublade verschiedenes, das darauf hindeutete, der Bildhauer hätte sich gleichfalls als Verkleidungskünstler versucht. – Hierauf fuhr ich nach dem Zoologischen Garten. Dort sollte ich mich um sieben Uhr mit Karl Malke treffen, der aber erst mit einer halben Stunde Verspätung eintraf. Er hatte unser Haus in der Blücherstraße durch das Nachbargrundstück nach hinten verlassen und war gleichfalls im Kostüm – als Postaushelfer. Wir setzten uns in die Bauernschenke, aßen auf Harsts Kosten gut zu Abend und tauschten unsere Erlebnisse aus. Er war zuerst bei der Gesanglehrerin Mallinger in der Huttenstraße mit einem Brief des Papierladen-Inhabers Lehmann gewesen. In dem Umschlag hatte auch ein 100-Markschein gesteckt, wie ich wußte. Und die Mallinger hatte daraufhin Karl die einzige Photographie mitgegeben, die sie von Mutter Schmidt besaß, und hatte feierlich „Schweigen wie das Grab“ gelobt. Von ihr war unser kleiner Gehilfe mit einem zweiten Brief nach dem Polizeipräsidium am Alexanderplatz gefahren, fand jedoch den Harst recht gut bekannten Kriminalwachtmeister Schilling nicht an und mußte nach dessen Privatwohnung. Schilling – wir hatten ja mit ihm im Falle Schmiedicke – Mord im Sonnenschein – zusammengearbeitet – erklärte, er würde bis morgen die von Harst erbetene Auskunft fertigstellen; Karl sollte das versiegelte Schreiben dann abholen.

Gegen neun verließen wir den Zoo. Karl begab sich dann heim, während ich in der Invalidenstraße ein mir von früher her noch recht vertrautes Cafee besuchte, wo sehr viele Vertreter der Gaunerzunft verkehrten, der auch ich mal – leider – angehört habe. Meine Hoffnung erfüllte sich. Ich saß bald mit einem ehemaligen „Freunde“ zusammen an einem Tisch und spielte den Noblen. Wir unternahmen später eine Bierreise, und ich landete schließlich mit dem bereits halb erledigten Gamaschen-Fritz (er trug stets hellgraue Gamaschen über den Lackstiefeln) in einer Taxe vor der Speisewirtschaft von O. W. Schmidt. Harst hatte mir nämlich geraten, mit einem früheren „Kollegen“ und nicht allein dort einzukehren; das würde weniger auffallen, – harmloser aussehen.

Aber – über dem Eingang von O. W. Schmidt hing jetzt ein Stück Pappe mit der blauen Aufschrift „Vorläufig geschlossen.“

Das war ein Reinfall! Das bestätigte meines Erachtens aber auch Harsts Annahme, daß zwischen der zählebigen Mutter Schmidt und dem Herrn „Niemand“ recht nahe Beziehungen bestehen müßten. Heute war Nemos Drohbrief gekommen, heute früh hatte die Zeitung Harsts neue Aufgabe preisgegeben, und – nachts ¾11 fand ich nun das Lokal geschlossen, das, als ich bei der Runke das halbe Zimmer belegte, noch offen gewesen!

Das war fatal! Ich hatte ja gerade dort Stammgast werden sollen! – Ich schickte den nun überflüssigen Gamaschen-Fritz heim und suchte meine neue Behausung auf. Mein Zimmergenosse war noch nicht da. Ich setzte mich an mein Tischchen und las bei der Petroleumlampe die drei Abendzeitungen, die ich mir gekauft hatte. Ich wollte mir den Mann, der mein Quartier teilte, doch erst ansehen, bevor ich schlafen ging. Um zwei Uhr morgens etwa nickte ich in meinem alten, aber bequemen Korbstuhl ein. Als ich erwachte, war es draußen bereits hell. Auf den Zeitungen lag ein mit Bleistift geschriebener, an mich gerichteter Brief, – das heißt: an Herrn Tischler Karl Schulz. – Es war Harsts Schrift. Und auf dem Briefbogen stand: „Wecken Sie mich um acht.“ – Weiter nichts.

Wecken Sie mich! – Ich überlegte. Konnte es denn sein – konnte mein Schlafgenosse drüben wirklich Harst sein? – Harst wußte, daß ich die Fähigkeit besaß, gerade dann munter zu werden, wie ich’s mir vorm Einschlafen vorgenommen hatte. – Es mußte Harst sein! – Ich schlüpfte in das Bett, das sauberer war, als die schmierige Runke voraussehen ließ.

Und um acht Uhr morgens schlich ich um die Scheidewand herum und fand meinen Nachbar aufrecht im Bett sitzen. Er hatte ganz entfernte Ähnlichkeit mit Heinrich Hinkel, dem Diener Schrammels. Und – er legte den Finger auf die Lippen und deutete auf die verstellte Tür nach dem Nebenzimmer.

Wir flüsterten nur. Ich erstattete Bericht über den gestrigen Nachmittag und Abend.

„Ich werde heute nicht ausgehen, jedenfalls nicht, bevor ich Schillings Schreiben gelesen habe,“ meinte Harst. „Finden Sie sich dann gegen acht Uhr abends vor dem Hause Kalckreuthstraße 12 ein. Ich möchte feststellen, ob Zenta Brixen von irgend welchen Leuten beobachtet wird.“ – Daß dies Beobachten Schwindel war, merkte ich dann – abends, als Harst mit einer ganzen Leibwache anrückte.

Ich fragte, ob er wirklich gleichfalls erst gestern hier eingezogen wäre. Er nickte. „Ich habe der Runke geraten, dies vor Anwärtern auf die andere Zimmerhälfte zu verschweigen, lieber Schraut. Ich sah sie nämlich die Straße entlangkommen, als ich gerade hier ins Haus wollte. Ich ahnte, daß Sie gleichfalls bei der Runke nachfragen würden. Und da sagte ich ihr, sie würde die zweite Hälfte leichter vermieten, wenn sie so täte, als wäre ich schon längere Zeit bei ihr.“

Dann langte er seine schäbige Jacke vom Stuhl, nahm eine Blechschachtel zur Hand und eine seiner Mirakulum heraus und legte die Visitformat-Photographie der Mutter Schmidt hinein, der er nur einen flüchtigen Blick geschenkt hatte als ich sie ihm reichte. Er rauchte nun mit jenem Behagen, das nur ein so leidenschaftlicher Zigarettenraucher wie er empfinden kann. Nach einer Weile meinte er: „Ich war gestern auch bei dem Arzt, der damals den Totenschein ausstellte – für Olga Wilhelmine Schmidt, die er vordem nie gesehen und die ihm nur der bucklige Drewki als die Kaschemmeninhaberin bezeichnet hatte. Ich wollte die Photographie eigentlich diesem Arzt vorlegen. Aber es ist nicht mehr nötig. Er besann sich genau, daß jene Tote eine sogenannte Sattelnase hatte. Und Mutter Schmidts Nase ist „gewöhnlich“. Mithin ist damals eine andere Tote untergeschoben worden. – Bis auf Kleinigkeiten ist ja nun überhaupt alles so ziemlich klar, lieber Schraut. Ich hätte nie gedacht, daß wir so viel Glück haben würden – mehr Glück als Verstand, könnte man sagen. Die Riesendummheit mit dem zweiten Zettel war am verhängnisvollsten. – So – nun spielen wir wieder die einander Fremden. Ich werde nochmals einzuschlafen versuchen. Ich mußte in der verflossenen Nacht zwei volle Stunden zusammengekrümmt wie ein sitzender Frosch dahocken. Alle Knochen tun mir weh. – Also abends gegen acht Uhr – Wiedersehen, Schraut.“

 

5. Kapitel.

Zirkuserinnerungen.

Wenn ich an den Ausgang unserer damaligen Jagd auf den Namen zurückdenke, überläuft es mich noch heute kalt. Das arme, bedauernswerte, so schmählich betrogene Geschöpf mit den weit aufgerissenen, entsetzten, halb irren Augen werde ich nie vergessen. Ich schreibe diese Erinnerungen nicht gern nieder. Und wenn ich diesem Kapitel trotzdem eine bis ins einzelne gehende Fassung gebe, so geschieht es nur, weil ich mich später bei zwei anderen Problemen Harsts nochmals mit jener Persönlichkeit – ich muß sagen „leider“ – beschäftigen werde, die in den Zeitungen nicht zu unrecht als ein verbrecherisches Genie ersten Ranges bezeichnet worden ist. –

Ich hatte bis nachmittags nichts zu tun. Mittags traf ich mich mit Karl wieder im Zoo, diesmal am Zwinger der gelehrigen Schimpansin Missy. Karl erzählte mir, daß morgens zwei Leute von der Gasanstalt unser Haus in der Blücherstraße eines angeblich undichten Rohres wegen hätten von oben bis unten untersuchen wollen. Er hätte aber Frau Harst noch rechtzeitig einen Wink gegeben, daß ihm die Kerle wie Spione aussähen. Und als Frau Harst ihnen dann erklärt hätte, sie würde auf dem Hauptbureau telephonisch anfragen, ob diese Untersuchung wirklich nötig wäre, da – „verdufteten die beiden schleunigst, Herr Schraut. Ich wollte hinter ihnen her. Aber sie hatten an der Ecke Burlacher Straße ein Auto zu stehen und fuhren davon. Natürlich wollten sie nur nachsehen, ob Herr Harst und Sie daheim wären.“ – Nachher holte Karl den Bericht von Schilling ab und händigte ihn mir aus. Als ich ihn dann bei der Runke in unserem halbierten Zimmer Harst zu lesen gab, sagte er kopfschüttelnd: „Das hätte ich nie und nimmer gedacht. Wissen Sie, Schraut, was der Drewki, der Bucklige, mal gewesen ist? – Seiltänzer, und ein recht berühmter! Vor drei Jahren verunglückte „Signor Gialdino“, die Zierde des Zirkus Salamonski, zog sich eine Rückgratverkrümmung zu und wäre wohl im Elend, als an ernste Arbeit nicht gewöhnt, umgekommen, wenn Mutter Schmidt sich seiner nicht erbarmt hätte. – Den Rest dieses Berichts versparen wir uns für später –“ –

Nun – ich brauchte nur noch fünf Stunden mich zu gedulden. Davon sagte mir Harst aber nichts. –

Der Abend war trübe und regnerisch. Als ich an dem Hause Kalckreuthstraße Nr. 12 vorüberging, hielt einige zwanzig Schritt weiter ein geschlossenes Auto. Der Chauffeur schien zu schlafen. Da – er hob den Kopf, er pfiff ein paar Takte von: „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten –“, – unser Signal! – Es war Harst. – „Einsteigen!“ raunte er mir zu. – Ich tat’s und – sah mich Schilling und dem mir von Ansehen bekannten Kommissar Bechert gegenüber. Sie hockten am Boden. Und ich mußte mich nun ebenfalls ganz klein machen.

Dann hörten wir nach einer geraumen Weile eine Stimme: „Chauffeur, sind Sie frei?“ – „Na ob, Freileinken. – Wo soll’s denn hinjehn?“ – „Meine Herrschaft will nach dem Anhalter Bahnhof zum D-Zug nach München. Fahren Sie doch vor Nr. 12 vor.“

Schilling flüsterte: „Nun hinten raus – und Achtung!“ Wir drei taten, als unterhandelten wir mit dem Chauffeur. Da kamen schon ein Herr, eine junge Dame und ein Mädchen mit Häubchen aus dem Hause heraus. Der Herr und das Mädchen trugen je einen Koffer, die junge Dame zwei Handtaschen und Schirme und Stöcke im Überzug. – Schilling rief nun: „Verflucht – auch wieder besetzt! Kommt weiter.“ – Wir gingen ein paar Schritte. Dann fuhr das Auto langsam an. Als es in einer Höhe mit uns war, rissen Schilling und Bechert die Türen auf, sprangen hinein. Ich folgte. Und Bechert hielt jetzt dem Herrn einen Revolver vor die Brust: „Keine Bewegung, Thomas Brixen!“ – Für mich war der Name keine Überraschung mehr. Ich hatte Zenta bereits erkannt.

Was dann folgte, war wie die Bilderreihe eines überhastet abrollenden Films.

Brixen, der wie ein Schauspieler aussah und tadellos angezogen war, schlug blitzschnell den Revolver hoch. Der Schuß knallte, die Kugel ging durch das Verdeck. – Ein zweiter Schlag traf Schilling mitten zwischen die Augen. Dann war Brixen schon hinaus – auf der Straße, schlüpfte in das nächste Haus. – Obwohl Bechert für alle Fälle noch vier Beamte in der Nähe gehabt hatte und alles getan wurde, den Flüchtling wieder einzufangen, blieb er – Sieger. Man fand ihn nicht – jetzt nicht. Erst nach Monaten war er der Besiegte, unterlag er – Harald Harst.

Harst und ich brachten Zenta Brixen wieder in ihres Vaters Wohnung zurück. Das arme Kind war erst halb ohnmächtig vor Schreck. Harst redete ihr gütig zu. Als sie sich etwas erholt hatte, sagte er so weich und herzlich, wie ich seine Stimme bis dahin nicht vernommen: „Machen Sie sich auf viel Trauriges gefaßt. Ich will Ihnen jetzt nur das eine mitteilen: Bruckner war Ihrer nie wert. Er hat Sie betrogen. Sie waren ihm nur Mittel zum Zweck. Er war ein Lump, ein Erpresser. Er ist tot – ermordet.“ – Zenta Brixen fand nachher Aufnahme bei einer Freundin. Wir aber fuhren in den Universum-Klub. Dorthin hatte Harst telephonisch seine Wettgegner bestellt.

Wir nahmen alle im Vorstandszimmer Platz. Nur Harst lehnte am Kamin, eine leicht qualmende Mirakulum zwischen den Fingern. – „Meine Herren,“ begann er, „ich kann Ihnen melden, daß ich auch diese Aufgabe gelöst habe. Sie lautete bekanntlich: „Wer ist der sogenannte Einbrecherkönig Andreas Nemo?“ – Ich habe das Geheimnis, das diese bis dahin fast schemenhafte Persönlichkeit umgab, restlos aufgeklärt. – Gestatten Sie, daß ich den Lebensgang dieses Mannes in aller Kürze schildere. Der Name „Zirkus Salamonski“ dürfte Ihnen allen bekannt sein. Diesem Zirkus gehörten viele Jahre zwei hervorragende Artisten an, – Thomas Brixen, oder Klown Tom Brix, und der Seiltänzer-Jongleur Gerhard Drewki, genannt Signor Gialdino. Brixen, frühzeitig Witwer und Vater einer liebreizenden Tochter, stand schon während seiner Zirkuszeit im Verdacht, mit allerhand dunklen Existenzen im Bunde zu sein. Vor vier Jahren setzte er sich als wohlhabender Mann zur Ruhe. Er wohnte hier in Berlin in der Kalckreuthstraße 12 zusammen mit seinem Kinde. – Die einzige Schwester Brixens, die ihm auffallend ähnlich sah, hatte gleichfalls eine starke Neigung für die Schattenseiten des menschlichen Seelenlebens und besaß hier in Moabit in der Huttenstraße als Witwe eines Gasthauseigentümers eine seinerzeit recht berüchtigte Kaschemme – Zur Mutter Schmidt – denn sie hieß Olga Wilhelmine Schmidt, geborene Brixen. – Als Drewki, der Seiltänzer-Jongleur, eines Tages verunglückte, besorgte ihm sein Freund Brixen eine Stelle bei seiner Schwester, deren Vertrauter er sehr bald wurde. – Diese Angaben verdanke ich in der Hauptsache dem Wachtmeister Schilling von der Kriminalpolizei, die sich aus Anlaß der Festnahme der Mitglieder des Einbrecher-Gesangvereins Kleine Harmonie sowohl mit der Witwe Schmidt als auch mit Drewki näher beschäftigt hat. Ich betone aber, daß damals das verwandtschaftliche Verhältnis zwischen der Schmidt und dem früheren Klown und jetzigen Rentier Thomas Brixen nicht festgestellt wurde. Die Geschwister hatten guten Grund, es zu verheimlichen. Weshalb, werden Sie sofort sehen.“

Harst rauchte ein paar Züge und fuhr fort: „Nun die Hauptpunkte des Ganges meiner Ermittlungen in dieser Angelegenheit. – Meine Aufmerksamkeit mußte sich notwendig zuerst der Kaschemme der Schmidt zuwenden, denn dort hatte ja Andreas Nemo als geheimnisvoller Leiter eines Verbrecherbundes gewirkt. Von einer in demselben Hause wohnenden Gesanglehrerin erfuhr ich Näheres über Mutter Schmidt, ihre Eigentümlichkeiten und ihren Tod; weiter aber auch, daß die tote Mutter Schmidt wieder lebendig geworden war und in der Berliner Straße in Wilmersdorf eine Speisewirtschaft betrieb. Als ich dies alles von dem Fräulein Mallinger hörte – damals wußte ich noch nichts von Brixens Verwandtschaft mit der Schmidt –, vermutete ich zunächst, Mutter Schmidt hätte selbst den Andreas Nemo mit viel Geschick gespielt und dann ihren Tod vorgetäuscht, um abermals, unbeobachtet von der Polizei, die alte Rolle als Einbrecherkönig wieder aufnehmen zu können. – Dann erschien bei mir eine junge Dame, Fräulein Zenta Brixen, die heimlich Verlobte eines Bildhauers Bruckner, der seit acht Tagen verschwunden war. Erst glaubte ich, die tief Verschleierte, die ihren Namen zunächst verschwieg, wäre keine andere als Mutter Schmidt selbst, denn sie hatte alle Eigentümlichkeiten an sich, die mir die Mallinger als für die Schmidt charakteristisch angegeben hatte. An demselben Morgen hatte ja der Berliner Kurier meine neue Aufgabe veröffentlicht. – Ich mußte diesen Irrtum sehr schnell einsehen. Fräulein Brixen lüftete den Schleier. Ihre Jugend war ihr bester Ausweis. Sie erklärte, ihr Vater wäre Rentier und wüßte nichts von ihren Beziehungen zu Bruckner, nach dem ich baldigst Nachforschungen anstellen sollte. Sie ließ mir zwei Zettel da – Nachrichten von Bruckner. Ich stellte fest, daß der zweite Zettel gefälscht war, und kam notwendig zu der Überzeugung, der Bildhauer wäre – ermordet worden. Den gefälschten Zettel hatte nun eine rothaarige Frau heimlich in Bruckners Atelier gebracht. Und – die wieder aufgelebte Mutter Schmidt sollte jetzt rotes Haar haben! – Kaum hatte ich zu meinem treuen Mitarbeiter Schraut nach Zenta Brixens Weggang geäußert, ich hielte unsere neue Aufgabe für recht aussichtslos, als mein Hirn einen seltsamen Gedanken gebar: Zenta Brixen hatte alle die Eigentümlichkeiten gezeigt, die die Schmidt besitzen sollte; und Zenta war ihres Vaters einziges Kind, lebte mit ihm zusammen und mußte von ihm das, was von seinen Eigentümlichkeiten nicht geradezu auf sie vererbt war, durch den steten Verkehr mit ihm angenommen haben. – So glitt mein argwöhnisches Denken zum ersten Mal auf einen Mann zu, der mir bisher ganz unbekannt war. Es glitt hin, umspielte diesen Rentier und schuf sofort eine neue Schlußfolgerung: Zenta hatte beide Zettel an sich genommen, von denen der zweite nach der Vorlage des ersten gefälscht war; zunächst den ersten, den sie mit nach Hause genommen und, wie sie uns erzählte, in ihren Schreibtisch eingeschlossen gehabt hatte. – Wie war nun der Fälscher des zweiten Zettels in den Besitz der Vorlage gelangt? fragte ich mich. Und ich gab mir die Antwort: er kann ihn nur einige Zeit heimlich aus dem Schreibtisch entfernt haben! – Wer hatte hierzu die beste Gelegenheit? Zentas Vater, der vielleicht, nein, wahrscheinlich, ebenfalls all die Eigentümlichkeiten der Mutter Schmidt in sich vereinigte! – So war ich zum zweiten Male bei dem Rentier Thomas Brixen angelangt! Und jetzt war der erste leise Argwohn bereits zum schweren Verdacht geworden, – denn der, der den zweiten Zettel gefälscht hatte, den doch eine Rothaarige in die Wohnung Bruckners getragen, mußte ja ein Interesse daran haben, daß der Anschein noch eine Weile bewahrt würde, als ob der Bildhauer freiwillig seinem Atelier noch immer fernbliebe, mußte mithin dessen Schicksal kennen, das ein recht trauriges meines Erachtens war, eben das eines – Ermordeten! Wozu sonst wohl der zweite Zettel von fremder Hand, woher sonst der richtige Schlüssel, mit dem die Rothaarige sich Zutritt zu dem Atelier verschafft hatte, woher auch das Fehlen jeder Nachricht an seine Braut?! – Als ich mir alles dies überlegt hatte, fiel mir nun auch eine Äußerung der Mallinger über die Eigentümlichkeiten der Schmidt ein. Sie hatte mir gesagt: „Seltsamerweise habe ich diese nach links geneigte Kopfhaltung, diese die Worte begleitenden Gesten der linken Hand und manches andere nicht immer bemerkt, sondern zumeist nur, wenn ich mal die Schmidt in ihrem Lokal besuchte, und auch dann nicht regelmäßig.“ – Als ich mich an diese Äußerung erinnerte, sagte ich mir sofort: hier haben ohne Frage zwei Personen „Mutter Schmidt“ gespielt, zwei, die sich sehr ähnlich sehen und von denen die eine, so unwahrscheinlich es auch sein mag, – ein Mann war – eben Thomas Brixen!“

Harst holte jetzt das Bild der Schmidt hervor und reichte es Kammler. „Dies ist Olga Wilhelmine Schmidt. Während ich fortfahre, können die Herren es sich ansehen. – Mein Interesse gehörte nunmehr ausschließlich Thomas Brixen. Ich mietete mich verkleidet dem neuen Lokal der Mutter Schmidt gegenüber ein und versuchte dann, Brixen aus nächster Nähe betrachten zu können. Ich hatte Glück: er ging mit Zenta aus, und selbst auf die Entfernung hin erkannte ich die außerordentliche Ähnlichkeit zwischen der Schmidt und diesem glattrasierten Rentier. Nun war ich meiner Sache völlig sicher, nun wollte ich aber auch noch alle Nebenumstände, insbesondere das Verschwinden Bruckners, eines im übrigen sehr anrüchigen Charakters, feststellen. – Ich muß jetzt noch erwähnen, daß ich kurz nach dem Besuch Zentas bei mir von Andreas Nemo einen Drohbrief erhalten hatte und daß Mutter Schmidts Lokal auffallenderweise an demselben Tage gegen sechs Uhr nachmittags durch eine Papptafel mit der Aufschrift „Vorläufig geschlossen“ von der Inhaberin für den Verkehr gesperrt wurde. Für mich war dieses Pappschild ein Beweis, daß Nemo befürchtete, ich könnte in der Speisewirtschaft verkleidet spionieren wollen. Ich war jedoch schon vorher einmal dort gewesen, hatte mir die rothaarige Wirtin genau angeschaut und hatte gehört und gesehen, daß es dort eine Kegelbahn gab, die aber offenbar nur für ganz bestimmte Gäste reserviert war. Dies erinnerte mich an das reservierte Zimmer für die Kleine Harmonie in der Huttenstraße, zumal ja in letzter Zeit wieder sehr viele schwere Einbrüche hier verübt sind, die auf eine wohlorganisierte Bande hindeuten. Nachts schlich ich über Zäune und Dächer bis an den Hintereingang der Kegelbahn und entdeckte unter derselben eine – Schlosserwerkstatt, in der lediglich Einbrecherwerkzeug hergestellt zu werden schien. Das Geräusch der Kegelkugeln sollte eben das Hämmern in der Werkstatt übertönen. Als ich noch dort unten weilte, mußte ich in eine Kiste kriechen, da drei Leute den Raum betraten. Unter diesen befand sich ein Buckliger namens Drewki, eben der Vertraute der Schmidt. Die drei sprachen unter anderem auch über einen Toten, den sie letztens auf dem nahen Kirchhof verscharrt hatten. Ich entnahm ihren Reden folgendes: Der Tote war Bruckner. Er hatte zufällig die Ähnlichkeit zwischen Mutter Schmidt und Brixen entdeckt und war der Wahrheit dann dadurch ganz auf die Spur gekommen, indem er sich an Zenta heranmachte und sie aushorchte. Von ihm stammt auch eine Anzeige in der Zeitung, in der jemand für 10 000 Mark nähere Mitteilungen über Andreas Nemo liefern wollte. Er hat dann verkleidet vor acht Tagen seine Wohnung nur zu dem Zweck verlassen, gegen Brixen weiteres Material zu sammeln, um nachher von ihm Geld erpressen zu können. Drewki faßte ihn jedoch in der geheimen Werkstatt ab, schlug ihn mit einem Hammer zu Boden und fand bei ihm den Entwurf eines Erpresserschreibens. Die Leiche wurde dann auf dem Kirchhof vergraben. Brixen aber war es, der nun den gefälschten Zettel in das Atelier trug. – Ich gelangte nachher glücklich aus der Werkstatt wieder heraus. Am folgenden Morgen las ich Schillings Bericht über Brixens Vergangenheit. Da erst erfuhr ich, daß er Klown gewesen, daß er sich also auf alle Theaterkünste verstand. – Heute abend nun, als er mit seiner Tochter nach München reisen wollte, da ihm der Berliner Boden doch zu gefährlich dünkte, ist er uns leider entschlüpft. Dafür hat aber die Kriminalpolizei auf meine Veranlassung bereits nachmittags sowohl Drewki alias Gialdino und Mutter Schmidt verhaftet, letztere hauptsächlich deswegen, weil sie, als eines Nachts eine bei ihr in der Huttenstraße Unterkunft suchende Taschendiebin plötzlich verstarb, diese Gelegenheit dazu benutzt hat, dieses Weib unter ihrem Namen begraben zu lassen. Bemerken möchte ich noch, daß Zenta Brixen von der Existenz dieser Tante Wilhelmine nie etwas gewußt hat und daß das Geschwisterpaar einander an krankhaftem Hang zum Verbrechen, an Abenteuerlust, Habgier und Schlauheit völlig ebenbürtig gewesen sein muß. Die verhaftete Schmidt hat sofort ein umfassendes Geständnis abgelegt, um nicht etwa in die Mordsache Bruckner mit hineingezogen zu werden. – So, meine Herren, – ich denke, Sie werden befriedigt sein. Sie sehen, wie verhängnisvoll zuweilen kleine Eigenarten werden können, die die Tochter vom Vater annimmt, der aus Lust am Komödiespielen die Schwester gern vertrat.“

Kommerzienrat Kammler erhob sich, reichte Harst die Hand.

„Wir gratulieren zu dem Erfolg von Herzen. – Schade, daß ich Ihnen nun nur eine anscheinend leichtere Aufgabe stellen kann: Weshalb wurde die Leiche des chinesischen Kochs des Orientreisenden Arthur Malzahn geraubt?“

Harst lächelte ein wenig. „Leichtere Aufgabe?! – Sie sind ein böser Examinator meiner Fähigkeiten, Kammler!“

 

 

Liu Sings Geheimnis.

 

1. Kapitel.

Der braune Frauenarm.

Wir kamen aus dem Universum-Klub und hatten eine etwas schwere Sitzung hinter uns. Kommerzienrat Kammler hatte zu Ehren des neuesten Erfolges Harald Harsts eine Maibowle auffahren lassen, die uns bis jetzt auf der Gartenterrasse des Klubhauses festgehalten hatte.

Es war gegen vier Uhr morgens. Der junge Tag meldete sich mit fahler Dämmerung. Am Abend vorher hatte es geregnet. Jetzt zeigte sich am Himmel auch nicht das kleinste Wölkchen.

Harst hatte soeben den wundervollen Morgen gelobt und gesagt: „Wissen Sie, Schraut, diese deutschen Mainächte, halb wild, wie ein Januartag auf der Nizzapromenade, halb wieder herb und kraftvoll wie ein Juliabend auf dem berühmten bläulich-dunstigen Christianiafjord, sind die schönste Zeit für uns Norddeutsche.“

Ganz unvermittelt fügte er dann hinzu: „Schade, daß wir beide durch meine Wette verurteilt sind, uns jetzt dauernd mit Dingen zu beschäftigen, die mit Mainachtzauber recht wenig zu tun haben. Kaum haben wir gestern den berühmten Andreas Nemo erledig, diese Jagd auf einen Namen, wie ich dieses Problem bezeichnete, – da wirft man uns schon wieder eine unreife Frucht in den Schoß, nämlich die neue Aufgabe. Ich sage unreife Frucht. Mit Recht! Sowohl die Offiziellen, also die Kriminalpolizei, als auch unser bestes hiesiges Detektivinstitut haben ja bereits versucht, diese Frucht zur Reife zu bringen und die von Malzahn ausgesetzte Belohnung für die Aufklärung dieses seltsamen Leichenraubes zu ernten. – Was meinen Sie, wollen wir nicht die Alkoholdünste aus unseren Köpfen durch einen Spaziergang nach Dahlem vertreiben?“

So kam’s, daß wir eine Stunde später die Hauptstraße dieser vielleicht vornehmsten Villenkolonie in der Nähe Berlins entlangschritten. Harst hatte während dieser Stunde unsere jetzige Aufgabe: „Weshalb wurde die Leiche des chinesischen Kochs des Orientreisenden Arthur Malzahn geraubt?“ mit keiner Silbe mehr erwähnt, hatte vielmehr zumeist von Zenta Brixen gesprochen, der Tochter des Mannes, den wir gestern als Andreas Nemo, den Einbrecherkönig, entlarvt hatten, der uns dann aber leider entkommen war. Ich wunderte mich, daß er sich mit ihr noch beschäftigte. Frauen spielten bei ihm seit dem Tode seiner Braut nur noch eine Rolle, wenn sie irgendwie mit in unsere Wettprobleme hineinverwickelt waren.

Wir hatten im Universum-Klub, den wir, direkt von der Verbrecherjagd kommend, besucht hatten, unsere falschen Bärte und Perücken abgelegt und trugen sie nun in der Tasche bei uns. Ich, der ich den Tischler Schulz gemimt hatte, sah keineswegs kavaliermäßig aus, und bei Harst war dies eigentlich noch weniger der Fall. Sein geflickter Anzug und sein zerbeulter Hut machten ihn zu einer recht fragwürdigen Erscheinung.

Plötzlich bog er in eine Nebenstraße ab, die auf einen Kinderspielplatz mündete. Dort gab es auch eine Schutzhütte aus Baumstämmen, die vorn ganz offen war. Harst steuerte darauf zu, sagte nun: „Ich habe aus dem Klub ein Fläschchen Leim mitgenommen. Hoffentlich genügt er zum Ankleben unserer Bärte. Dort drüben die hohe Mauer umschließt Malzahns Grundstück.“

Ich war nicht weiter überrascht über diese Sätze. Wer Privatsekretär und Gehilfe eines Harald Harst ist, muß sich das Wundern abgewöhnen.

Gleich darauf standen wir, nun ganz „im Kostüm“, an der über zwei Meter hohen Ziegelmauer. Ich hatte bisher nicht gewußt, daß Malzahn in Dahlem wohnte. Auch über den Leichenraub konnte ich in meinem Gedächtnis nur recht wenig aufstöbern. Die Sache lag ja bereits vier Wochen zurück, und damals war ich noch nicht Harsts Sekretär, sondern ein von der Polizei eifrig gesuchter Taschendieb – der Komiker-Maxe! Nun – all das gehörte Gott sei Dank der Vergangenheit an.

Die Straße war völlig einsam. Harst stellte sich an die Mauer, und ich turnte, seinen Rücken als Leiter benutzend, als erster hinauf, half ihm dann mit ausgestreckten Händen und zog ihn zu mir empor. So gelangten wir in einen großen Park, der den Reichtum seines Besitzers nicht nur durch die Ausdehnung, sondern auch durch die eigenartigen und fraglos überaus kostspieligen Anlagen verriet. Überall merkte man das Bestreben, den weichen, träumerischen Zauber eines orientalischen Gartenbildes vorzutäuschen.

Wir gingen an einem indischen Tempel vorüber, einer winzigen Nachahmung des berühmten Tatsch Mahal in Agra, dieses herrlichsten Bauwerks der Welt, dessen Schönheit weder Wort noch Bild wiederzugeben vermögen. Wir überschritten eine Bogenbrücke aus weißem Marmor, die über einen kleinen, marmoreingefaßten See führte. Wir sahen rechts die Nachbildung einer chinesischen Pagode, und staunten links in einem Halbkreis von Lebensbäumen drei riesige, scheußliche Götzenstatuen an.

„Wir sind hier ziemlich sicher jetzt,“ meinte Harst. „Malzahn ist verreist, wie ich im Klub von seinem Freunde Bruchfeld mir erzählen ließ. Bruchfeld gehört nicht zu unseren Wettgegnern und weiß daher nicht, daß wir jetzt für diese prächtige Besitzung Interesse haben. Unsere Aufgaben werden ja nunmehr ganz streng geheim gehalten. Zur Zeit sollen sich in Malzahns Villa, die als Bungalow gebaut ist, nur mehrere Diener und im Gärtnerhäuschen am Parkeingang der Gärtner und dessen Gehilfe befinden. Diese Leute dürften Malzahns Abwesenheit zu längerem Morgenschlafe benutzen.“

Wir bogen jetzt in die Hauptallee aus Sykomoren ein. Vor uns erhob sich nun der Bungalow, ein schlichtes Viereck mit Schieferdach, einem Stockwerk und rund herumlaufender Veranda. Trotz aller Einfachheit wirkte das Gebäude infolge des Materials, mit dem die Mauern verkleidet waren, außerordentlich prunkvoll. Diese Mosaikmuster der Wände aus verschiedenfarbigem Marmor mußten Unsummen verschlungen haben.

„Rechts steht das sogenannte Dienerhaus,“ meinte Harst und zog mich in einen schmalen Seitenweg hinein. „Dort war Liu Sings Leiche aufgebahrt und zwar im Erdgeschoß. Die Leichenräuber haben die Ziergitter vor den Fenstern durchgesägt und sich so Zutritt verschafft. Es muß ein mühseliges Geschäft gewesen sein, dieses Durchschneiden schmiedeeiserner Stäbe, mühsam und gefährlich, denn in jener Nacht strichen noch die beiden zahmen Jagdleoparden Malzahns im Park umher. Die Diebe haben ihnen einen toten Hammel über die Mauer zugeworfen und sie so für einige Zeit am anderen Ende des Parks festgehalten. – All das weiß ich von Doktor Bruchfeld, dem Privatdozenten für orientalische Sprachen. Zum Teil auch aus den Zeitungen. – Ein Hammel ist etwa vierzig Mark wert. Die Leichenräuber ließen sich die Sache also auch etwas kosten. Und für Leichen bezahlen Ärzte und Anatomien durchschnittlich 200 Mark. Die Unkosten sind also verhältnismäßig hoch, denke ich. Rechnet man noch die Gefahr hinzu – denn die Jagdleoparden sind nachts schlimmer als die schärfsten Hunde, – so begreift man nicht recht, wie die Polizei und auch das Detektivinstitut Phönix zu der Annahme gelangen konnten, es handele sich hier um die Tat gewerbsmäßiger Leichenräuber.“

Aha – wir waren also schon mitten drin in unserer neuen Aufgabe! Und – Harst hatte auch schon etwas herausgefunden, was diesem Leichendiebstahl ein anderes Ansehen gab.

Wir schlichen jetzt auf das sogenannte Dienerhaus zu. Es war im Stil einer Moschee mit vier Eckminaretts gebaut. Links neben dem Eingang blieb Harst vor einem Fenster stehen, aus dessen zierlichem, geschwungenem Gitter ein Stück von Quadratmetergröße fehlte.

Er prüfte die einzelnen Stäbe sehr genau, besonders die Schnittflächen, wo die Stahlsäge gearbeitet hatte.

„Merkwürdig,“ murmelte er. „Sehr merkwürdig. – Kommen Sie, Schraut, jetzt wollen wir nach Hause. Ich bin sehr zufrieden.“

Wir machten kehrt. Ich fragte nicht, weshalb er zufrieden war. Auch das Fragen muß man sich als Harsts Privatsekretär abgewöhnen. Er liebt es nicht, über „halbfertige Dinge“ zu sprechen. Nur zuweilen zeigt er sich zugänglicher. Dann spielt er aber meist den Lehrer und beweist mir, daß ich – nichts beweisen kann.

Er suchte die Richtung auf die Tatsch Mahal-Nachbildung einzuschlagen. Wir gerieten aber an eine hohe Dornenhecke und dann plötzlich auf einen freien Platz, in dessen Mitte sich ein schlanker Turm aus rotem Sandstein erhob. Er hatte viele kleine, vergitterte Fenster und eine Tür, die wie polierter Stahl glänzte.

Harst packte plötzlich meinen Arm, blieb stehen, sagte leise und erregt: „Da – da oben!“

Ich schaute zu den obersten Fenstern empor. Und – ich sah einen in einem buntseidenen, weiten Ärmel steckenden Frauenarm, der uns offenbar zuwinkte.

Ich muß bemerken, daß die kleinen, erkerartig vorspringenden Fensterchen ganz eng vergittert waren und Butzenscheiben hatten.

Der Arm langte durch eine Luftklappe der Oberscheibe hindurch. Er gehörte keiner Europäerin. Die Haut war hellbraun mit leichtem Bronceton; die Hand aber bedeckt mit Schmuck – Armreifen, Ringen und Kettchen mit Anhängern. All das funkelte und gleißte im Schein der gerade aufgehenden Sonne in einer Farbenpracht, als sprängen Funkengarben aus dieser schmalen Hand hervor.

Ich bin kein poetisch veranlagter Mensch, obwohl ich mal Schauspieler war. Aber – dieses seltsame Bild da hoch oben unter der Turmzinne inmitten dieses Parkes, der mir ein ungefähres Bild der Wunderbauten des Orients gegeben, weckte doch in mir eine eigenartig geheimnisvolle Stimmung.

Und nun – nun war’s, als fiele ein Feuerstreifen blitzschnell aus jener Hand zur Erde herab. Ein leises Klirren dicht vor uns. Auf dem weißen Kies lag ein funkelnder, mit Steinen besetzter Goldreif. Und gleichzeitig hörten wir einen undeutlichen Ruf – zwei Worte. Ich verstand sie nicht.

Harst hatte sich schon gebückt, hob das Armband auf, hielt es ganz hoch, winkte damit der Spenderin zu, sagte: „Fort von hier!“ und lief mir voran nach der fernen Mauer hin. Wir kletterten hinüber, eilten in die Blockhütte zurück, nahmen unsere Bärte und Perücken ab und gingen nach der nächsten Haltestelle der Straßenbahn.

Mein Gönner und Brotherr sprach kein Wort. Er hatte den Hut in der Hand und ließ den frischen Morgenwind seine Stirn fächeln. Er hielt den Kopf gesenkt und sah und hörte scheinbar nichts. Ich wußte: seine Gedanken waren bei dem braunen Frauenarm.

Gegen sechs Uhr waren wir in der Blücherstraße in Schmargendorf und betraten das Harstsche gartenumgebene Haus. Im Flur reichte er mir die Hand. „Gute Nacht, lieber Schraut. Es wird vielleicht unser interessantester Fall werden,“ sagte er wie geistesabwesend und verschwand rechts in seiner Wohnung.

Ich rauchte im Bett noch eine halbe Zigarre zur Beruhigung meiner allzu stark angeregten Phantasie. Das, was wir beide vorhin in Malzahns Park erlebt hatten, war tatsächlich wie ein Märchen aus Tausend und eine Nacht gewesen. Bevor ich einschlief, rief ich mir nochmals alle Einzelheiten dieses so merkwürdigen Morgenspaziergangs ins Gedächtnis zurück. Und ich gelangte zu der Überzeugung, daß Malzahn ein Mann sein müßte, der die Gewohnheiten orientalischer Paschas hier nach Berlin verpflanzt hatte, – denn der rote Sandsteinturm mit seinen Fensterchen schien mir nichts anderes als ein Harem zu sein.

 

2. Kapitel.

Indischer Besuch.

Um halb zehn wachte ich auf, duschte, rasierte mich, zog mich an und ging auf die Veranda an der Rückseite des Hauses. Dort stand der Tisch mit zwei Kaffeetassen und allem Sonstigen, was zu unserem Frühstück gehörte. Harsts Tasse war benutzt. Neben der meinen lag ein Zettel von seiner Hand:

„Heute abend 11 Uhr Parkmauer alte Stelle.“

Ich hatte ihn kaum überflogen, als Frau Auguste Harst vom Gemüsegarten her die Veranda betrat.

„Er ist schon wieder auf und davon,“ klagte sie. „Was habe ich jetzt nur von meinem Jungen – nichts, nichts! Denken Sie – ich fand ihn um neun im Klubsessel am Fenster seines Arbeitszimmers fest schlafend. Er war gar nicht zu Bett gegangen. Auf seinem Knie lag dies Armband.“ Sie holte es aus der Tasche der Wirtschaftsschürze hervor. „Ich sollte es Ihnen geben. Dann – hätten Sie etwas Arbeit, meinte er. – Ein wundervoller Schmuck, Herr Schraut, nicht wahr? – Harald sagt mir, er hätte ihn von einer Inderin als Vorausbezahlung für einen kleinen, später zu leistenden Dienst erhalten.“

Nachher in meinem Studierzimmer – ich hatte ja hier im Hause des vielfachen Millionärs genau wie dieser drei Räume zur Verfügung – trat ich ans Fenster und besichtigte den Armreif mit jener Sorgfalt. die man als Harsts Gehilfe allen Dingen schenken muß, deren Zusammenhang mit unseren Wettproblemen man vermuten kann.

Die Innenseite der Spange war glatt und nur von dem Gelenk und dem Verschluß unterbrochen. – Harst hatte zu seiner Mutter gesagt – „dann hätte ich etwas Arbeit.“ – Arbeit? – Nun, wenn er damit gemeint hatte, ich sollte den Schmuck lediglich genau besichtigen, so war diese Arbeit bereits erledigt, denn das, worauf es Harst wohl ankam, hatte ich schon gefunden.

In das glatte Gold der Innenseite war mit einer feinen Nadel etwas eingeritzt – ein einzelnes Wort mit sehr ungeschickten lateinischen Buchstaben. Ich hatte es als

Ritbilf

entziffert. – Damit war ich aber auch mit meiner Kunst am Ende. Dieses Ritbilf verriet mir nichts mehr, nur das eine eben, daß die Hand, die es hier dem Golde anvertraut, in der Schreibkunst nicht gerade sehr weit vorgeschritten war.

Ich wollte das mit vierzehn Edelsteinen, darunter fünf Smaragden von tadellosem Feuer, besetzte Armband bereits fortschließen, als mir der Gedanke kam, Harst hätte mit der „Arbeit“ vielleicht auch eine Nachfrage bei einem Juwelier nach Wert und Herkunft des am Schloß mit seltsamen Zeichen versehenen Schmuckes gemeint. Ich fuhr also nach der Tauentzienstraße zu Gebrüder Wolfsberg und zeigte dem einen der Geschäftsinhaber, die als Kunstkenner einen Namen hatten, unser Armband. Er stutzte, bat dann einen Augenblick um Entschuldigung, und – fünf Minuten später befand ich mich auf der nächsten Polizeiwache, wo ich mich weiter beharrlich weigerte, anzugeben, wie ich in Besitz des auf etwa 18 000 Mark Wert geschätzten Armreifs gelangt wäre, der Wolfsberg vor zwei Monaten von – Herrn Arthur Malzahn zur Reparatur acht Tage überlassen worden war.

Leider – leider bin ich ja nun der Polizei keine Neuerscheinung. Einer der Beamten erkannte mich als Komiker-Maxe wieder. Zum Glück fiel mir, bevor ich noch nach dem Präsidium gebracht wurde, ein, daß ja unlängst die Zeitungen mich als Harsts Privatsekretar erwähnt hatten. Die „Offiziellen“ wollten mir nämlich durchaus nicht glauben, daß ein Harald Harst gerade einen früheren, nur infolge einer Amnestie jetzt straffrei ausgegangenen Taschendieb als Sekretär angestellt hätte. Und telephonisch bei Frau Harst anzufragen, weigerte man sich, da – man sich nicht dadurch lächerlich machen wolle, ein solches Märchen für ernst zu nehmen. Da – dachte ich an jene Zeitungsnotiz, dachte auch gleichzeitig an Kriminalwachtmeister Schilling, der uns ja bei der Ergreifung des Mörders des im Hotel Sonnenschein tot aufgefundenen Geldbriefträgers Schmiedicke wichtige Dienste geleistet hatte. Die drei Beamten auf der Wache, die – merkwürdig genug! – jene Zeitungsnotiz nicht kannten, kramten sehr bald das betreffende Blatt aus einem Zeitungsstoß heraus, wurden stutzig, riefen das Präsidium an, ließen den Vorstand der Kriminalabteilung anfragen, ob man dort von meiner Sekretärtätigkeit bei Harst etwas wüßte, wurden infolge der bejahenden Antwort sehr höflich und zweifelten jetzt nicht weiter daran, daß Harst das Armband auf der Hauptstraße in Dahlem gefunden hätte, wie ich nunmehr erklärte.

Es war dies das letzte Mal, wo ich mit den Offiziellen meiner Vergangenheit wegen Ungelegenheiten hatte.

Ich konnte also nach einstündiger Haft wieder ungehindert meines Weges ziehen, – aber ohne Armband. Mir war deshalb auch nicht ganz behaglich zumute. Ich ahnte, daß Harst diesen Besuch bei Wolfsberg als eine Unvorsichtigkeit meinerseits tadeln würde – mit Recht, wie ich mir jetzt sagte. Ich ahnte es – ahnte aber nicht, welche Folgen diese meine Unüberlegtheit, mit einem auf so sonderbare Art in unsere Hände geratenen Schmuck zu einem Juwelier zu gehen, für uns haben sollte.

Etwas niedergeschlagen kam ich nach Hause. Harst war noch nicht zurück. Ich ging in seine Bibliothek und suchte aus den Zeitungsmappen die Nummern heraus, die über den Leichenraub näher berichteten.

Ich will hier nun kurz das zusammenfassen, was die Polizei und die Leute des Phönix (Inhaber Kriminalkommissar a. D. Neukirch) ermittelt und an die Presse weitergegeben hatten.

Am 9. April war Malzahns chinesischer Koch, den er von seiner letzten Reise im Herbst mit nach Berlin gebracht hatte, an einer Blutvergiftung durch unvorsichtiges Umgehen mit einer rostigen Spicknadel nach eintägigem Krankenlager gestorben. In der Nacht vom 9. zum 10. hatten Unbekannte, anscheinend zwei Personen, die Leiche Liu Sings geraubt. Die Nacht war stürmisch und regnerisch gewesen. Daher versagten auch die Polizeihunde, durch die man die Fährten der Diebe hatte verfolgen wollen. Malzahn, der große Stücke auf den Chinesen, einen älteren Mann, hielt, hatte am 12. 3000 Mark Belohnung für die Wiederherbeischaffung der Leiche ausgesetzt. Er, dessen Reichtum dem der Rotschilds nicht viel nachsteht, konnte sich diese dreitausend Mark schon leisten. Am 14. hatte er die Belohnung auf 10 000 Mark erhöht. Inzwischen war auch Phönix freiwillig in Tätigkeit getreten. Zehntausend Mark verdient jeder gern. – Am 22. war Malzahn dann nach dem Karst abgereist, wo man eine neue, sehr ausgedehnte Höhle mit einem riesigen unterirdischen See entdeckt hatte. Ihm, der sich für alles interessierte, mußte die neue Höhle selbst über Liu Sing, den Küchenkünstler, gehen. – Damit endeten die Zeitungsnachrichten.

Ich ging nun in den Garten und beschäftigte mich mit dem Absammeln von Blattläusen von den Rosensträuchern. Harst hatte mir diese Tätigkeit empfohlen, wenn ich recht angestrengt nachdenken wollte. – „Lieber Schraut, gerade die Beschäftigung mit diesem zahlreichen, kleinen Ungeziefer lenkt unsere Gedanken auf winzige Kleinigkeiten,“ hatte er gesagt. – Nun – bisher hatte ich’s nicht probiert.

Ich säuberte also die Blätter mit einer feinen Drahtbürste und versuchte dabei, den braunen Frauenarm zu dem, was ich nun über unseren neuen Fall wußte, in Beziehung zu bringen, ein Bemühen, das meines Erachtens von vornherein aussichtslos war, genau so aussichtslos, als wenn man unserem jungen fünfzehnjährigen Gehilfen Karl Malke, dessen Harst sich in ähnlicher Weise wie meiner bei seiner „Arbeit“ bediente, zu einer geregelten Tätigkeit hätte anhalten wollen. Wenn ich trotzdem den Versuch machte, zwischen Liu Sings Leiche und der „Inderin“ – Harst hatte ja von einer solchen seiner Mutter gegenüber gesprochen – verbindende Fäden zu finden, so war lediglich mein Ehrgeiz daran schuld, der in Harsts Nähe notwendig üppig emporsprießen mußte. Ein Privatsekretär und Mitarbeiter will doch wenigstens etwas von der Ruhmessonne seines Gebieters mit bestrahlt werden.

Karl Malke schoß weiter hinten im Garten mit einem Tesching[11] Spatzen, die es auf frisch gesäten Grassamen abgesehen hatten. Ich hörte zwei Schüsse. Nun kam er stolz mit vier erlegten Sperlingen an.

„Ich habe jetzt im ganzen acht geschossen,“ sagte er nach einer Weile geheimnisvoll. „Herr Harst hat mich auch diesmal wieder eingeweiht. Er hat mir auch das Armband gezeigt. – Was halten Sie von dem eingekratzten Ritbilf, Herr Schraut. – Er meinte, es wäre sehr wichtig. Aber weshalb, das verschwieg er natürlich. Und dann mußte ich ihm zwei frische Batterien für seine Taschenlampe und verschiedenes aus der Apotheke holen – allerlei Chemikalien.“

In diesem Augenblick rief mich Frau Harst vom Hause her. Ich eilte ihr entgegen. – „Es ist ein Mann da, der Harald zu sprechen wünscht,“ sagte sie. „Ein Farbiger. Aber sehr gut gekleidet. Es wird wohl ein Inder sein. Er hat einen langen, schwarzen Bart und ist sehr groß. Er läßt sich nicht abweisen und steht noch im Vorgarten.“

Gleich darauf saß mir der Inder gegenüber. Ich hatte ihn in meine Studierstube gebeten. Er erklärte, er sei der Hausmeister Malzahns und komme des Armbandes wegen. Die Polizei habe ihm telephonisch mitgeteilt, daß Harst den Schmuck gefunden hätte. Er bitte nun, ihm genau anzugeben, wo das Armband auf der Straße gelegen habe.

Das war eine böse Geschichte für mich. Was sollte ich diesem Menschen nun vorlügen, der annahm, ich als Harsts Privatsekretär wüßte genau Bescheid?!

Der Inder, der sich Marwatha nannte, sprach sehr gebrochen deutsch, hatte im übrigen tadellose Umgangsformen und ein Gesicht von einem so nichtssagenden, undurchdringlichen Ausdruck, wie man dies nur bei Ostasiaten findet, bei Chinesen und den verschiedenen Stämmen Indiens ganz besonders.

Ich erwiderte, daß Harst zu meinem Bedauern auch mir nicht genau erzählt habe, wo er den wertvollen Fund gemacht hätte; jedenfalls in der Hauptstraße in Dahlem. – Ich war froh, auf diese Weise einen vorläufigen Ausweg gefunden zu haben.

Der Inder schaute mich mit seinen großen, schwarzen Augen scheinbar ohne besondere Absicht, aber doch unverwandt an. Dieser Blick machte mich verlegen. Und nur mit Mühe konnte ich den völlig Harmlosen weiter spielen.

Ich hatte gehofft, daß er nun gehen würde. Er blieb jedoch und bat, auf Harst warten zu dürfen. Ich entgegnete, Harst sei auf unbestimmte Zeit von Hause weggegangen und dürfte erst spät abends heimkehren.

Marwatha blieb abermals sitzen, schaute mich weiter scheinbar gleichmütig an und erklärte nach einer Weile:

„Sahib Harst ist in kurzem ein berühmter Detektiv geworden. Sahib Malzahn bietet ihm fünfzigtausend Mark, wenn er Liu Sings Leiche wieder herbeischafft.“

Das war eine Überraschung! – Ich war über die Tragweite dieses Angebots noch nicht im klaren, als es klopfte, und Harst sehr eilig eintrat. Beim Anblick des Inders nickte er, als wollte er sagen: „Also wirklich!“

Marwatha hatte sich erhoben.

„Ich kann mir denken, was Du hier willst,“ meinte Harst zu ihm, indem er mich gar nicht beachtete. „Du bist Malzahns Hausmeister. Ich war kurz nachher auf dem Polizeipräsidium, als die Verhaftung meines Sekretärs gemeldet wurde. Du hast Dich dann dort nach meiner Wohnung erkundigt. Du möchtest wissen, wo ich das Armband fand. – Nun – dicht an einem Baum der Mittelpromenade der Hauptstraße, und zwar unweit der Wegkreuzung Roseneck auf der rechten Seite von Dahlem aus. Das Armband war halb in die Erde getreten. Ich sah nur wenig davon. Also ein glücklicher Zufall, nichts weiter.“

Der Inder stand wie eine Bildsäule da. Seine Augen ruhten nun genau so unverwandt auf Harsts Gesicht wie vordem auf dem meinen. Er wiederholte jetzt sein Angebot, Harst möchte die Leiche suchen helfen.

„Schickt Dein Herr Dich?“ fragte Harst nach kurzem Überlegen.

„Jawohl, Sahib. Ich erhielt heute früh eine Depesche von ihm, daß ich Dich aufsuchen sollte. Ich wäre also auch ohne den Fund des Armbandes zu Dir gekommen.“

„Hast Du die Depesche bei Dir?“

Marwatha holte sie aus seinem Rock hervor. Harst nahm sie und trat damit ans Fenster, kehrte uns den Rücken zu und brauchte recht lange, ehe er mit dem Lesen fertig war. Dann setzte er sich wieder, behielt aber die Depesche in der Hand, faltete sie wie unabsichtlich zusammen und sagte:

„Telegraphiere zurück, daß ich leider zur Zeit infolge einer Wette Privataufträge nicht übernehmen könnte und daß ich diesen auch deshalb ablehnen müßte, weil ich ihn für aussichtslos halte.“

Dann ließ er sich mit Marwatha in ein längeres Gespräch über Indien ein. Erst nach einer halben Stunde verabschiedete unser brauner Gast sich. Kaum war er auf der Straße, als Harst die Depesche, die er in den Ärmel geschoben und die der Inder mitzunehmen vergessen hatte, mir mit den Worten reichte:

„Schnell, Schraut, – prüfen Sie sie. Was fällt Ihnen daran auf?“

Ich hatte etwa drei Minuten hierzu Zeit. Da rief Harst: „Marwatha kommt zurück. – Her damit, ich bringe sie ihm entgegen.“ Er ging hinaus. Im Vorgarten sprach er ein paar Worte mit dem Inder, gab ihm das Telegramm und war sogleich wieder bei mir, aber – als ein ganz anderer als vorhin.

Seine grauen Augen, die unter den langen Wimpern stets halb verschwanden, waren groß geöffnet. Ich bemerkte darin jenes Feuer, das sie nur hatten, wenn dieser seltene Geist, dieser Mann mit den Gaben eines ganzen Dutzends sogenannter erster Detektive, eine Entdeckung von besonderer Wichtigkeit gemacht, wenn sein so exakt arbeitendes Hirn einen Weg gefunden hatte, der zum Ziele zu führen schien.

Er trat bei mir ein, sagte: „Kommen Sie, Schraut. Leisten sie mir Gesellschaft. Ich muß die Brücke suchen –“

Wir gingen in seine Bibliothek. Er setzte sich an den Flügel. Er spielte mit halbem Anschlag wie stets, wenn die Töne ihm die Brücke bauen helfen sollten, wenn er, umrauscht von den wundervollen Klängen dieses Instruments, seine Gedanken tastend hinausschickte ob es nicht irgendwo, irgendwie einen Weg gab, Zusammenhänge zwischen Ereignissen herzustellen, die durch Abgründe gänzlich getrennt zu sein schienen.

Das nannte Harald Harst eben: die Brücke suchen.

 

3. Kapitel.

Die Brillenschlange.

Ich saß im weichen, tiefen Ledersessel hinter ihm und wartete. Ich wußte, daß er nun bald sprechen würde.

Heute spielte er nicht Wagner wie zumeist. Heute war’s etwas, das ich noch nie gehört hatte. Es war eine seltsame, eintönige Melodie. Etwas Trostloses, Müdes, Verzweifeltes sprach aus den Klängen.

Dann wandte er halb den Kopf: „Es ist die Komposition eines Gedichts des indischen Nationaldichters ben Tagore. Das Gedicht heißt: Indiens Schicksal. – Komponiert hat es ebenfalls ein Hindu. – Was halten Sie von der Depesche, Schraut?“

„Ich vermag darüber nichts –“

„Schade!“ unterbrach er mich. „Ich hätte mich gefreut, wenn auch Sie dahinter gekommen wären, daß sie gefälscht ist. Es fehlte die blaue Siegelmarke, mit der alle Depeschen zugeklebt werden. Sie war durch ein Stück blaugestreiftes Papier ersetzt. Außerdem war die Abgangs- und Ankunftszeit falsch ausgefüllt. Es hatte dies einer getan, der nicht im Postdienst genügend bewandert war. – Wer wohl?“

„Marwatha?“ meinte ich zögernd.

Harst erhob sich schnell, rollte einen zweiten Sessel neben den meinen, faßte in die Westentasche und reichte mir ein Stückchen blaugraues, gestreiftes Papier.

„Dies sollte die Siegelmarke ersetzen, Schraut,“ sagte er und kniff die Augen bis auf einen schmalen Spalt zusammen. „Sie glauben, Marwatha ist der Fälscher? – Ausgeschlossen! Dazu ist er denn doch zu fremd in Deutschland, zu wenig vertraut mit Depeschen und so weiter. Ich habe ihn vorhin nicht nur deshalb hier festgehalten, um ihn die Depesche vergessen zu lassen. Nein, ich wollte ihn auch aushorchen. Er steht seit einem halben Jahr in Malzahns Dienst, ist vorher aber schon in Indien Aufseher der Dienerschaft eines Deutschen gewesen, wie wir von ihm hörten. – Nein, er war’s nicht –“ Eine lange Pause. Dann sehr leise und mit einer gewissen Erregung:

„Es kann nur Malzahn selbst gewesen sein, der gar nicht verreist sein dürfte, sondern hier in Berlin heimlich sich aufhält und – und – Na, Schraut, beenden Sie den Satz –“

Ich dachte angestrengt nach, sogar sehr angestrengt. Ich wollte mich nicht wieder einmal durch vollständiges Versagen meiner an sich schon geringen Fähigkeit, Schlußfolgerungen zu ziehen, blamieren. Dann kam mir die Erleuchtung.

„Malzahn sucht hier in aller Stille die Leichenräuber,“ platzte ich heraus und schaute Harst an, wie der Schüler den Lehrer anschaun wird, wenn es sich um eine wichtige Prüfung handelt.

Harst nickte ganz wenig, langte in die Tasche und holte sein goldenes Zigarettenetui hervor. Das Anzünden einer seiner Mirakulum, dieser köstlichen Zigaretten, die er nur für sich selbst nach eigenen Angaben herstellen ließ, geschah bei ihm stets mit einer gewissen Feierlichkeit. Er blies wie immer tadellose Rauchringe in die Luft, sagte dann leise, und seine Augen waren wieder ganz weit geöffnet: „Ich will Sie nicht länger auf die Examensfolter spannen. Ich weiß ja sehr gut, wie einem dabei zumute ist, als früherer Assessor weiß ich’s. – Stellen Sie sich vor: Malzahn setzt für die Wiederherbeischaffung des Toten erst 3000, dann 10 000, jetzt sogar 50 000 Mark Belohnung aus. Und der Tote ist nur ein chinesischer Koch, der erst kurze Zeit bei ihm dient. – Ist das nicht sehr, sehr merkwürdig?! Merkwürdig selbst für einen hundertfachen Millionär?!“ – „Allerdings. Das ist mir auch schon ein wenig eigenartig erschienen,“ erklärte ich der Wahrheit gemäß. – „Nun weiter,“ meinte Harst bedächtig. „Malzahn ist jetzt selbst für seinen intimsten Freund, für Doktor Bruchfeld, nach dem Karst gereist. Wir benutzen die gute Gelegenheit in der vergangenen Nacht zu einer Besichtigung des Fensters, durch das die Diebe ihren Weg genommen haben. Ich stelle fest – geben Sie wohl acht, Schraut! – daß das Gitter des Fensters nicht von außen, sondern von innen durchgesägt worden ist, das heißt, die sogenannten Leichenräuber waren bereits in dem Totenzimmer, als sie ihre Stahlsäge benutzten.“

„Ah – das gibt ja dem bisherigen Bilde ein ganz anderes Aussehen,“ rief ich, geradezu begeistert über meines Brotherrn nie zu betrügende Augen. – „Freilich, ein ganz anderes!“ fuhr Harst fort. „Wenn die Offiziellen und die Leute vom Phönix nicht von vornherein den Fehler begangen hätten, an diesen Leichenraub wie an ein Evangelium zu glauben, würden sie dem Gitter wohl mehr Aufmerksamkeit geschenkt haben. An zwei Schnittflächen konnte man noch deutlich sehen, daß die Säge von innen zunächst zwei Millimeter tiefer angesetzt worden war und dann höher gefaßt hatte. Ein Blinder mußte das fühlen. Man braucht gar keine Augen dazu. Hätten Sie sich das Gitter näher betrachtet, hätten Sie’s sicherlich auch bemerkt.“ – Ich nickte leicht, – nur ganz schwach, denn dieses Nicken war eine Lüge. Ich hätte sicherlich nichts bemerkt.

„Dann der Turm,“ hatte Harst ohne Pause hinzugefügt. „Eine braune Frauenhand wirft uns durch eine Luftklappe einen Armreif, indische Arbeit, antik, zu. Mein Herr Sekretär läßt sich dieser Armspange wegen einsperren. Und – die Polizei meldet dann den „Fund“ Marwatha als den Vertreter Malzahns. – Ich gebe zu: erst ärgerte ich mich über Ihr kleines Intermezzo mit der Polizei. Jetzt bin ich sehr zufrieden damit – sehr sogar, denn das Armband hat Malzahn zu einer Dummheit verführt. – Zunächst der indische Armreif selbst und die braune Hand. Es ist so ziemlich öffentliches Geheimnis, daß Malzahn mehrere blendend schöne Orientalinnen mit nach Europa gebracht hat und bei sich beherbergt, ebenso auch zwei Neger, – Eunuchen, richtige Haremswächter. – Sie haben doch die eingeritzten Worte gefunden, Schraut, nicht wahr?“ – „Worte? – Nur ein: Ritbilf!“ – „Oh – aber das sind doch natürlich zwei! – Die arme Gefangene kann nur ganz wenig Deutsch, und noch weniger ist sie in der lateinischen Schrift – als der gebräuchlicheren – firm. Sie wollte schreiben: Bitt’ Hilfe – oder Bitte Hilfe, und daraus wurde infolge Gebrauchs falscher Buchstaben Ritbilf! – Jedenfalls war der Armreif also ein Notschrei! – So, nun hätten wir das ganze Tatsachenmaterial bis auf meinen heutigen Morgenbesuch bei dem praktischen Arzt Doktor Rielinger in Halensee beisammen. In den Zeitungsberichten ist er erwähnt. Daher war’s nicht schwer, mit der Bitte um strengste Verschwiegenheit über meine Fragen von ihm folgendes zu erfahren: Er ist nicht etwa Hausarzt bei Malzahn. Nein, dieser holt jedesmal einen anderen Arzt, falls er für seine zahlreiche Dienerschaft einen Doktor braucht. Er selbst ist wohl nie krank gewesen, dieser Mann aus Muskeln, Sehnen und Gehirnmasse – ohne – Nerven. Liu Sings Verletzung bestand in zwei Stichen am linken Zeigefinger. Die Stiche waren etwa ein Zentimeter voneinander entfernt. Als Rielinger nachmittags geholt wurde, war bereits der Arm schwarz und zu einem Klumpen angeschwollen. Der Chinese, der nur sehr wenig englisch und kein Wort deutsch kann, lag halb bewußtlos da. Malzahn erklärte dem Arzt, seine Diener hätten ihm diese Vergiftung erst vor einer Stunde gemeldet. Rielinger erkannte sofort, daß Liu Sing nicht mehr zu retten war. Er meint, an der Spicknadelspitze hätten fraglos verweste Fleischreste gesessen, denen dieser rapide Verlauf der Vergiftung zuzuschreiben wäre. – Nun – Rielinger ist jung und kennt keine Giftschlangenstiche. Ich wette, Liu Sings Spicknadel waren die Giftzähne einer ausgewachsenen Kobra – einer indischen Brillenschlange.“ – Er stand auf, setzte sich an den Flügel und begann ben Tagores Lied – das Schicksal Indiens – zu spielen. Und zu diesen trostlosen Klängen paßten recht gut die nun folgenden Sätze: „Malzahn hat durch seine Reisen die Gewohnheiten eines orientalischen Despoten angenommen. Sein Koch wird ihm aus irgend einem Grunde unbequem. Da in der Villa in Dahlem außer Jagdleoparden auch noch eine kleine Menagerie gehalten wird, dürfte Malzahn eine Kobra zur Verfügung gestanden haben. Er weiß es so einzurichten, daß sie den Chinesen beißt. Seine Diener, sämtlich Inder, sind ihm treu ergeben, besonders Marwatha. Er wird sie gut bezahlen, und er ist ihres Schweigens gewiß. Nur eine seiner Orientalinnen, die irgendwie die Wahrheit erfahren haben mag, fürchtet er, sperrt sie ganz oben in den Turm ein und läßt sie scharf bewachen. Da – wird die Leiche – angeblich gestohlen. – Bis hierher können wir ganz zwanglos uns ein Bild der Vorgänge konstruieren. Mit dem Leichenraub beginnen die Schwierigkeiten für uns. Wir wissen, daß die Fenstergitter von innen beseitigt sind, um diesen Raub vorzutäuschen. Wie kann man nun das, was wir von Malzahn und der Sache selbst wissen, weiter Glied an Glied zu einem einheitlichen Ganzen zusammenfügen? – Ich habe eine Theorie gefunden, die allem gerecht wird, was uns bekannt ist, lieber Schraut. Hören Sie also. – Wozu der Leichenraub gleich in der Nacht nach Liu Sings Tode? Sehr einfach: Malzahn fürchtet eine Entdeckung des Mordes, ein Ans-Tageslicht-Kommen der Wahrheit durch ein böses Spiel des Zufalls. Er schafft den Toten daher schleunigst beiseite. Nun ist er sicher, wähnt er, nun wird niemand mehr an – eine Kobra denken können. Und um ja jeden Verdacht von sich abzuwenden, er selbst könnte den Leichenraub inszeniert haben, geht er seines Erachtens sehr schlau vor: ein toter Hammel und eine riesige Belohnung sind die Haupttricks dabei. Er tut, als läge ihm an seinem Koch weiß Gott wie viel. Und schmunzelnd wird er zugesehen haben, wie die Offiziellen und der Phönix sich abmühten. Dann verreist er, nachdem zwei Wochen verstrichen sind. In Wahrheit bleibt er aber in Berlin, da er sich noch immer nicht sicher genug fühlt und aus der Verborgenheit heraus beobachten will, ob nicht doch etwa jemand gegen ihn Argwohn geschöpft hat. Abermals vergehen zwei Wochen. Da wird Marwatha heute gemeldet, daß das Armband von mir gefunden worden sei, – von mir, dem Liebhaberdetektiv, dessen Erfolge die ganze Presse beschäftigt haben und noch beschäftigen. Sofort setzt Marwatha sich mit seinem Herrn in Verbindung. Sie glauben nicht an diesen harmlosen Fund, sie ahnen, daß ich hinter ihnen her bin. Malzahn ersinnt die Depesche, und Marwatha kommt zu uns. 50 000 Mark bietet Malzahn mir. Die Depesche lautete ja:

„Hausmeister Marwatha, Villa Malzahn, Dahlem-Berlin. – Sofort Detektiv Harst bitten, für 50 000 Mark unsere Sache zu übernehmen. Wohnt Blücherstraße, Schmargendorf. – Malzahn.“

Er bietet mir diese Summe, als ob ich einer wäre, der Geld brauchte, der für Geld arbeitet! Das war ein Fehler. Er muß meine Verhältnisse kennen. Aber er wußte nicht, wie er sich an mich heranschlängeln könnte. Daher 50 000 Mark. – Marwatha kommt, und seine Augen blinken zufrieden auf, als ich, absichtlich, erkläre, ich hielte die Geschichte für aussichtslos. Haben Sie diese Veränderung seiner Pupillen bemerkt, Schraut? Natürlich doch! – Er verschwindet. Trotzdem können wir damit rechnen, daß wir von Stund an scharf überwacht werden. Denn Malzahn wird mir nicht trauen! Wer einen Mord auf dem Gewissen hat und weiß, daß ein Harald Harst ein Armband mit der Inschrift Ritbilf (er wird sie fraglos bemerken und richtig bewerten!) – „gefunden“ hat, der hat keine ruhige Minute mehr, der wird – die arme Inderin schleunigst verschwinden lassen, der der Armreif gehört –“ Er schlug ein paar traurige Mollakkorde an, stand auf, reckte sich und meinte: „Schraut – ist das Leben nicht wirklich lebenswert, wenn man wie wir in der kommenden Nacht, von Gefahren umlauert, abermals in den Park eindringen werden? Gibt es wohl etwas Anregenderes als unsere Tätigkeit? Nein – alles andere dagegen ist Stumpfsinn! Ich spreche im Ernst. – Übrigens wäre ich auch ohne Marwathas Besuch nochmals dort über die hohe Mauer geklettert. – Ich fürchte nur, wir werden den Turm leer finden. Ich will mir auch nur Gewißheit verschaffen, ob meine Vermutung zutrifft und die Inderin weggebracht ist. Haben wir dies erledigt, suchen wir – Liu Sings Leiche. Ich denke, wir werden sie finden –“

Er ging in der Bibliothek auf und ab, nahm plötzlich aus einem Bücherregal ein dickes Werk über Chemie heraus, schlug es dort auf, wo eine Zeitung zwischen die Seiten gelegt war, reichte es mir und meinte: „Lassen Sie sich von unserem tüchtigen Karl die Chemikalien geben und stellen Sie nach dieser Anweisung die sogenannten Nebelbomben her. Ich vermute, die Leoparden werden in dieser Nacht im Park frei umherstreifen. Und mit dem stinkenden, dicken Qualm dürften wir uns die gefleckten Katzen am leichtesten vom Leibe halten. Abends verlassen wir dann getrennt das Haus, Schraut, – verkleidet, selbstverständlich, und – über die Nachbardächer. Dann brauchen wir keine Verfolger zu fürchten. – Ich werde jetzt spazieren gehen –“ Seine Stimme war leiser, farbloser geworden, und sein Gesicht entspannte sich gleichsam. „Ich habe Zeit genug, einmal wieder Margas Grab zu besuchen,“ fuhr er mit einem halb unterdrückten Seufzer fort. „Es ist so schwer, so unendlich schwer, sie zu vergessen. Meine Brautzeit, die Wochen, wo ich Marga Milden als die Ergänzung meines Ichs mein nennen durfte, war doch der Höhepunkt meines Lebens. Ihr Mörder wird ja nun demnächst abgeurteilt. Marga wird dadurch nicht wieder mein. Finden Sie nicht auch, Schraut, daß Zenta Brixen ihr etwas ähnlich sieht?“

Ah – also deshalb sein Interesse für dieses Mädchen, deren Vater nun als Flüchtling, gehetzt durch die Meute der staatlichen Sicherheitsorgane, irgendwo umherirrte.

Ich entgegnete der Wahrheit gemäß: „Gewiß, Herr Harst, – eine geringe Ähnlichkeit ist vorhanden. Ich kenne Ihre Braut ja allerdings nur von Bildern her –“

Dann ging er; und ich ging an die Nebelbomben heran, versuchte mich zum ersten Mal als Chemiker. Die hauchdünnen Glasröhren, die Karl mitgebracht hatte, eigneten sich vorzüglich für diesen Zweck. Nachher warf ich zur Probe hinten im Garten eines der Röhrchen auf die Erde. Es zerbrach sofort, die Chemikalien vermengten sich zischend, entwickelten graublaue, dichte Dämpfe, die der Wind langsam forttrug und die dann – zwei von unseren Legehennen das Leben kosteten. Frau Harst sprach deshalb zwei Tage kein Wort mit mir, obwohl Harald mich warm in Schutz nahm.

 

4. Kapitel.

Ein Stück Menschenhaut.

Nachts zwölf Uhr.

Ein feiner Sprühregen rieselte herab, mehr ein starker Nebel. Die Dunkelheit war so stark, daß Harst mit vorgestreckten Händen sich die Parkwege entlang tasten mußte, während ich mich an seinem Rockschoß festhielt.

Wir hatten uns für die heutige Nachtarbeit zwei Uniformen der Wach- und Schließgesellschaft besorgt. – „Wenn wir abgefaßt werden,“ hatte Harst gemeint, „können wir uns in diesem Kostüm leichter herausreden.“

Ich gebe zu: mir schlug das Herz wie ein Hammer gegen die Rippen! Das Gefühl, das ich empfand, wie ich so, von Harst geführt, dahintappte, war – blasse Furcht!

Jeden Augenblick glaubte ich die Krallen und Zähne eines Leoparden im Genick zu spüren. Unsere Nebelbomben waren ja bei dieser Finsternis und bei der Lautlosigkeit anschleichender Raubtiere gänzlich wertlos. Trotzdem hatte ich eines der Röhrchen in der Rechten; die anderen trug ich in der rechten Außentasche.

Harst blieb plötzlich stehen, und ich trat ihm auf die Hacken, murmelte „Verzeihung“.

Er flüsterte mir zu: „Da rechts das Helle ist die Nachbildung des Tatsch Mahal. Nun werde mich schon zurechtfinden. – Sie scheinen ja zu zittern, Schraut! Freilich – die Nacht ist recht kühl –“

Weiter ging’s. Nun vor uns eine hohe Wand: die Dornenhecke. Dann wurde der Boden unter unseren Füßen weiß. Wir hatten den kiesbestreuten Platz erreicht. Und dort stand auch wie ein schwarzer Strich auf graubraunem Hintergrund der Turm.

„Warten Sie hier,“ raunte Harst mir zu. Und – weg war er. Die Finsternis verschluckte ihn. Ich hörte nur noch zwei Mal das leise Knirschen der kleinen, weißen Steinchen.

Ich war allein. Hinter mir hatte ich die Dornenhecke. Ich schmiegte mich ganz dicht an die glatt geschorenen Zweige, ganz dicht. Meine Augen gewöhnten sich langsam an das Dunkel. Mein Herz hämmerte weiter. Ich besinne mich, daß ich damals an mein schönes, weiches Bett im Harstschen Hause voller Sehnsucht gedacht habe und daß meine Gedanken dann abirrten – weit hin nach Pommern, nach einem Erbbegräbnis, in das Harst und ich nachts in Gesellschaft mehrerer Herren eindrangen. Das war auch eine Gelegenheit, die Nerven auf die Probe zu stellen. Ich habe diese Szene in einem früheren Bändchen geschildert: Das Geheimnis des Szentowo-Sees – wie die Leser sich erinnern werden.

Ich war allein, und mir war recht bänglich ums Herz. Ich nahm eine zweite Nebelbombe in die Linke – für alle Fälle.

Endlos langsam schlichen die Minuten. Ich merkte, daß mein Wunsch, Harst möchte zurückkehren, die Sekunden verhundertfachte. Fortwährend drehte ich den Kopf hin und her. Auf dem weißen Kiesboden mußte ich jedes lebende Wesen bemerken, das sich mir näherte.

Und – es gab etwas zu sehen.

Meiner Schätzung nach war Harst mindestens zwei Stunden bereits im oder am Turm. Da – erblickte ich das längliche, niedrige Geschöpf, das von der linken Seite zentimeterweise auf mich vorrückte. Natürlich einer der Leoparden! Das Blut gefror mir in den Adern. Aber – ich sagte mir auch gleichzeitig, daß mein Leben und unsere Sicherheit jetzt allein von mir und – den Bomben abhing. Vier Schritt war die Bestie noch entfernt, lag nun eng am Boden da, ganz lang gereckt scheinbar. Zwei grünlich-gelbe Funken sprühten dort zuweilen auf: Katzenaugen! Ich hob den Arm, schleuderte das Röhrchen, – nicht mit zuviel Schwung! Der Inhalt durfte ja nicht allzuweit umhergestreut werden.

Ich ließ ein zweites sofort folgen. Ich hörte das Zischen. Wie aus dem Schlund der Erde quollen die Dämpfe auf, immer dichter. Ein leiser Luftzug wehte sie auf den Turm zu. Ich griff in die Brusttasche. Dort steckte das Dolchmesser, das Harst mir aus seiner Waffensammlung herausgesucht hatte. Es war ein langer persischer Dolch, haarscharf und leicht gekrümmt.

Der Qualm reichte bis zu mir hin. Ich mußte niesen, hielt mir schnell die Nase zu, wich nach rechts aus, etwa zehn Schritt weit, sehr eilig, – prallte in meiner Hast gegen etwas Weiches, gegen einen – Menschen, hob schon in der ersten Bestürzung den Arm zum Stoß.

„War’s nur einer, oder beide, Schraut?“ klang’s an mein Ohr. Und dann: „Der Regen hat nachgelassen. Ich denke, wir wagen uns noch bis an das Dienerhaus. Der Turm war eine böse Enttäuschung –“

Mir fiel ein ganzer Berg vom Herzen. Harsts Flüstern war das beste Beruhigungspulver. – „Nur einer,“ erwiderte ich.

Wir kamen ohne Zwischenfall vor die kleine Moschee mit den vier Eckminaretts. Im Obergeschoß waren zwei der kleinen, bunten Fenster erhellt.

„Dort wohnt Marwatha,“ flüsterte Harst mir zu. „Ich war heute bei dem Wächter der Schließgesellschaft, der diesen Block unter sich hat. Der Mann kennt den Gärtner Malzahns ganz genau und war verschiedentlich im Park.“ – Dies hatte er mir bisher verschwiegen. Er war also nicht lediglich an Marga Mildens Grab gewesen. Deshalb kehrte er auch erst um drei zu Tisch zurück.

„Der eine Flügel steht etwas offen,“ meinte ich.

Harst stand und starrte wie hypnotisiert in die Höhe. Dann: „Ich muß hinauf, Schraut – decken Sie unseren Rückzug. Falls ich leise zische, machen Sie sich allein aus dem Staube. – Geben Sie mir zwei von den Bomben, – vielleicht – man kann nicht wissen –“

Ich wartete nun, in die eine Ecke des Eingangs gedrückt. Harst turnte mit Hilfe der Fenstergitter und der Vorsprünge gewandt nach oben. Hin und wieder streckte ich den Kopf vor und beobachtete ihn. Es war jetzt fast zu hell für unser Vorhaben geworden. Einzelne Sterne blinkten bereits am Firmament.

Da – wie das Zischen einer Schlange kam’s aus der Höhe herab.

Ich zauderte. Ich sah, daß Harst schnell herabkletterte. Nun stand er vor mir.

„Weshalb gehorchen Sie nicht?!“ Auch das klang wie ein Zischen. „Einer entflieht leichter als zwei, wenn’s schlimm kommt. – Also – auf Wiedersehen daheim –“

Ich schlich wortlos davon. Ich war verletzt. Ich ahnte, daß Harst zu meiner Geistesgegenwart kein rechtes Vertrauen hatte. Aber – sollte ich ihn wirklich allein lassen? Was hatte er vor? – Ich blieb. Ich duckte mich hinter einer nahen Marmorgruppe, die zwei kämpfende Eber darstellte, zusammen. Nach einer Weile kam vom trügerischen Nachthimmel ein Sturzregen herab, der mich bis auf die Haut durchnäßte. Von der Moschee war jetzt nichts mehr zu sehen. Dann wagte ich mich näher – ganz nahe heran. Die Fenster waren noch erleuchtet. Von Harst keine Spur.

Ich sah ein, daß mein ferneres Ausharren hier ganz zwecklos war. Vielleicht betätigte Harst sich anderswo.

Glücklich erreichte ich die Parkmauer, glücklich auch die letzte Straßenbahn von Roseneck aus nach Berlin hinein. Als ich pudelnaß im ratternden Wagen saß und nach der Uhr schaute, war es genau eins. Also nur eine Stunde hatte diese angstvolle Ewigkeit dort in Malzahns Zaubergarten gewährt.

Um ½2 betrat ich von hinten unser Haus, schlich durch den Flur, öffnete meine Tür. Da tat sich die genüberliegende auf. Blendende Helle umgab mich plötzlich. Und umflossen von dem Licht der fünf Birnen des Kronleuchters seines Arbeitszimmers, machte mein Brotherr mir eine ironisch tiefe Verbeugung:

„Auch schon da, lieber Schraut? – Ja – das kommt davon, wenn man nicht folgsam ist! Sie werden nach drei Tagen den schönsten Schnupfen haben. – Ziehen Sie sich um. Ich werde uns Glühwein brauen, denn auch ich war naß wie eine Katze –“

Die Tür schloß sich. In fünf Minuten war ich wieder ich selbst – Max Schraut, glattrasiert, Glatze, echtes Schauspielergesicht. –

Harst saß am Tisch auf dem Ecksofa. Diese Ecke war der behaglichste Winkel seiner vornehm ausgestatteten drei Räume. Den Kronleuchter hatte er ausgeschaltet. Auf dem runden Tisch brannte die Stehlampe mit dem japanischen Seidenschirm, dampfte ein Kupferkessel über einem elektrischen Kocher, standen zwei Gläser, zwei Rotweinflaschen und anderes. In der Luft aber hing der süßliche Duft der Mirakulum und der Geruch verdampfenden Rotweins.

Harst gegenüber nahm der tiefe Klubsessel mich auf. Nun reichte Harst mir die Hand. – „Sie haben es gut gemeint, Schraut – Ihnen ist in Gnaden verziehen. Aber in Zukunft! Sie wissen: wer mit mir zusammenarbeitet, darf nie – selbständig handeln, falls ich’s nicht gerade wünsche!“

Er schenkte die Gläser voll, reichte mir die altvenetianische Zuckerbüchse, sagte dabei: „Ich ahnte, daß diese Nacht interessant werden würde. Die Nebelbomben haben sich bewährt. Ich selbst kam freilich nicht in die Verlegenheit, eine schleudern zu müssen. Ich hatte mich mehr aufs Angeln gelegt –“

Er trank mir zu, nahm eine neue Mirakulum, hielt mir ebenfalls das silbergetriebene Kästchen hin.

Es geschah selten, daß er mir gerade eine Mirakulum anbot. Er mußte schon sehr guter Laune sein. Die teuersten Importen standen mir jederzeit zur Verfügung. Seine Spezialzigarette war ihm wie – eine Zahnbürste etwa, die man auch nicht von anderen benutzen läßt.

Er hatte von „angeln“ gesprochen. Derartige Redewendungen gebrauchte er nie ohne Absicht. Ich wollte gerade fragen, was er denn geangelt hätte, als er rechts von mir auf eine Zeitung deutete. Darauf lag ein viereckiges, etwa zehn Zentimeter langes und acht Zentimeter breites Stück – ja, was denn eigentlich? – Papier war’s nicht, eher helles Leder, das mit allerlei blauen Zeichen bedeckt war.

Ich beugte mich darüber. Scharfer Spiritusgeruch stieg mir in die Nase. Nun erst sah ich, daß das gelbe Leder – ja – es war gelb, schmutzig-gelb – feucht, wie durchweicht war.

„Was bedeutet das?“ meinte ich.

Seine Augen wurden ganz klein. Auf seiner Stirn erschienen über der Nase drei Längsfalten.

„Menschenhaut,“ sagte er leise und mit besonderer Betonung. „Ein Stück Haut aus der Brust eines Chinesen –“

Mir fiel die Zigarette aus der Hand. Ich bückte mich schnell, hob sie auf.

„Ich kann Ihren Schreck verstehen, lieber Schraut,“ meinte Harst und lehnte sich in die Sofaecke zurück. „Ich behaupte: dies Problem des Leichenraubes, das der gute Kammler uns als verdeckte Schüssel servierte, enthält weit mehr, als selbst meine Phantasie sich ausmalen konnte. Sie hat ja bereits ein Bild entworfen, diese Phantasie, scheinbar auf einem Hintergrund von Tatsachen, – aber – das Bild war Stümperei, taugte nichts.“

Er trank, rauchte ein paar Züge.

„Ganz leicht war es nicht,“ fuhr er fort, „den Turm geräuschlos zu erklettern. Aber – es gelang. Ich pochte oben an die runde Luftscheibe – Sie verstehen, – aus der uns der Frauenarm das Ritbilf zuwarf. Ich brauchte nicht nochmals zu klopfen. Die Scheibe tat sich auf. – So lernte ich Ralkonda, eine der Orientalinnen Malzahns, kennen. Viel von ihr gesehen habe ich ja nicht. Desto mehr gehört – Dinge, die die Rätsel dieses Leichenraubes ins Unendliche auftürmen. – Ich will in Kürze wiederholen, was sie mir mitteilte. – Sie ist eine Inderin aus Radschputana[12]. Dort soll es geradezu klassisch schöne Weiber geben, wie mir bekannt ist. – Malzahn besitzt Ralkonda bereits zwei Jahre. Sie liebt ihn. Und sie glaubt, nur ihr gehöre auch seine Liebe. Er hat ihr kurz vor Liu Sings Ende versprochen, sie zu seiner rechtmäßigen Gattin zu machen. Aber – auch Marwatha stellte ihr, kaum daß er sie gesehen, mit leidenschaftlichen Wünschen, aber mit aller Vorsicht nach. Sie besitzt nun eine zahme Kobra, soweit diese scheußlichen, sich aufblähenden Giftträger überhaupt zahm werden. Sie hielt die Kobra in einem Käfig mit silbernen Stäben und hatte ihre Freude dran, wenn die Schlange nach den Tönen einer Flöte tanzend den Leib hin und her wiegte. Eines Morgens war die Kobra verschwunden. Die Käfigtür stand offen. Ein allgemeines Suchen begann. Malzahn selbst beteiligte sich daran. – Ralkonda bewohnte im ersten Stockwerk des Turmes zwei Zimmer. Die Möglichkeit lag vor, daß die Schlange in den Park entwichen war. Während man hier noch jeden Winkel durchstöberte, kam Marwatha mit der Botschaft herbeigestürzt, Liu Sing sei soeben von der Kobra vor dem Kücheneingang des Bungalow gebissen worden. Malzahn stellte jedoch sofort fest, daß die Folgen des Bisses schon zu weit vorgeschritten waren, um es als glaubhaft erscheinen zu lassen, die Kobra hätte den Chinesen soeben erst angegriffen und nach dessen Hand geschnappt. Liu Sing war nämlich bereits unfähig, ein paar zusammenhängende Worte zu sprechen. Auch zeigte der Arm bereits eine sehr starke Schwellung. Malzahn, der die Einmischung der Polizei und eine Bestrafung Ralkondas fürchtete, da doch durch die Unachtsamkeit der Inderin die Schlange hatte entweichen können, wandte alle ihm bekannten Mittel an, den Chinesen zu retten, und zögerte lange, ehe er einen Arzt holen ließ. Als er Liu Sing mit Alkohol abrieb, entdeckte er auf dessen Brust eine seltsame Tätowierung. Dann kam der Arzt. Der Chinese starb, angeblich infolge der rostigen Spicknadel. Auf diesen Ausweg war Malzahn gekommen. Der Arzt stellte den Totenschein aus. Und in der Nacht verschwand die Leiche. Malzahn ist hieran ganz unbeteiligt. Am folgenden Abend wurde Ralkonda plötzlich von den beiden Eunuchen oben in das kleine Turmgemach gesperrt. Malzahn ließ sich nicht mehr bei ihr sehen. Und sie weiß noch heute nicht, wodurch sie sich seine Ungnade zugezogen hat. Sie wird sehr streng bewacht. Nur die Luftscheibe kann sie öffnen. Vor den Fenstern sind im übrigen Eisenplatten von innen angebracht worden. Sie ist eine Gefangene, und sie fürchtet für ihr Leben. Morgen früh wird die Polizei sie befreien. Es muß sein. Ich kann die Verantwortung nicht auf mich nehmen, sie länger in der Gewalt von Malzahns Kreaturen zu lassen. – So, das wäre alles, Schraut. Und nun frage ich Sie: finden Sie sich aus diesem Irrgarten in die Klarheit zurück?! – Ich nicht! Ich stehe vor einem Berge von Tatsachen, einem Berge, der nicht zu erklimmen ist und den man deshalb nicht voll überschauen kann.“

Er rauchte hastiger. Dann: „Nun werden Sie wissen wollen: wie kam ich in Besitz des Stückes Menschenhaut – der Tätowierung von der Brust Liu Sings! – Das ist eine Geschichte für sich und – für später! Dieses Stück Haut, das jemand in Spiritus aufbewahrt hat, ist vielleicht die einzige Möglichkeit, all unser Material darauf wie auf einer Schnur die Perlen logisch aufreihen zu können. – Bitte, holen Sie mir doch mal aus der Bibliothek das Werk Professor Mautners über „Tätowierungen bei Naturvölkern“.“

 

5. Kapitel.

Die Hongkong-Brüder.

Harst klappte das Buch zu.

„Schade,“ meinte er. „Es bringt nichts Neues. – Ich denke, wir gehen zu Bett, Schraut –“ Er gähnte. Aber – es war ein Theatergähnen – nicht echt. „Ich werde mir doch noch überlegen, ob ich die Polizei verständige,“ sagte er, als er mir die Hand gab. „Gute Nacht. Sollte ich morgen nicht zu Hause sein, so beruhigen Sie meine Mutter. Ich möchte einige dringende Besuche erledigen. Sie soll sich nicht sorgen; sie sind ganz harmlos.“

Ich setzte mich in meiner Studierstube noch an den Schreibtisch und dachte über Harsts letzte Sätze nach. Ich kam sehr bald zu der Überzeugung, daß er mit mir wieder einmal Versteck spielte. Er wollte die Polizei doch vielleicht nicht verständigen, und – dringende Besuche! – Ob das Werk über Tätowierungen wirklich nichts enthalten hatte, was er für seine Zwecke brauchen konnte?!

Da – ich hörte ein Türschloß einschnappen. Gleich darauf knarrte auch die Haustür. Ich trat ans Fenster, nachdem ich schnell das Licht ausgedreht hatte.

Und ich sah, wie Harst sehr eilig das Haus verließ.

Ich konnte lange nicht einschlafen. Nachher träumte ich von einer Kobra, die zur Riesenschlange anschwoll und im Rachen ein Armband trug, vor der Stirn aber das Stück Menschenhaut. –

Es war elf Uhr vormittags. Ich wollte gerade ausgehen, einen Spaziergang nach Dahlem machen. Harst war noch nicht daheim. Seine Mutter „schnitt“ mich der beiden Hühner wegen, und Karl Malke schoß wieder Spatzen. Ich kam mir zu Hause also überflüssig vor.

Ich hatte die Gittertür des Vorgartens eben geöffnet, als ein Auto vorfuhr – ein offenes Taxameterauto. Darin saß ein hagerer, großer Herr, tief gebräuntes Gesicht, zwei Schmißnarben am Kinn, blonden Spitzbart, helle durchdringende Augen.

Er stieg aus, schaute mich prüfend an, faßte an den Hut.

„Mit wem habe ich die Ehre?“

„Schraut,“ stellte ich mich vor.

„Bitte – einen Augenblick –“ Er bezahlte den Chauffeur, wandte sich mir dann wieder zu.

„Arthur Malzahn –,“ nannte er seinen Namen. „Sie sind doch Harsts Privatsekretär und Mitarbeiter, nicht wahr? – Ja – es muß so sein. Ihr Schauspielergesicht sagt genug. – Ich komme auf die Anzeige in der Morgenzeitung hin –“

Anzeige?! – Ich hatte keine Ahnung! Aber ich hütete mich einzugestehen, daß ich nicht alles wußte, was Harst unternahm.

Ich bat ihn näherzutreten. Wir gingen in Harsts Arbeitszimmer. Dort setzte Malzahn sich ohne weiteres, schlug die Beine übereinander und sagte: „Ich bin wirklich gespannt, was Harst entdeckt haben mag. Hoffentlich erscheint er recht bald. Es ist ja bereits elf.“ Er zog seine mit Brillanten besäte Uhr und ließ den Deckel springen. „Zehn Minuten nach elf. Und in der Anzeige stand elf Uhr –“

„Allerdings,“ heuchelte ich. „So war es beabsichtigt. – Dürfte ich die Zeitung einmal sehen? – Ich vermute, es ist die, die dort in Ihrer Jackentasche steckt.“

Er gab sie mir, zeigte mir auch die Annonce. Sie war sehr groß, hatte schraffierten Rand und lautete:

Ralkonda!

Volle Verschwiegenheit! Bitte elf Uhr vorm.
dort, wohin gestern angebliche Karst-Depesche
durch M. überbracht wurde. H. H.

„Sehr geschickt abgefaßt,“ meinte Malzahn. „Ich wußte sofort, wer gemeint war. Und aus dem „Volle Verschwiegenheit!“ entnahm ich, daß Harst sich doch mit meiner Angelegenheit beschäftigt hat und der Wahrheit so ziemlich auf die Spur gekommen ist – wenigsten was die Todesursache angeht.“

Ich nickte. „Ja, wir wissen Bescheid: die Kobra!“

„Leider ist das das Nebensächliche,“ erklärte der Millionär plötzlich sehr düsteren Tones. „Mir ist es lediglich wichtig, festgestellt zu sehen, ob die – die Inderin tatsächlich mit Überlegung den Chinesen in doppelter Weise vergiftet hat –“

Er hob den Kopf. Wir hörten im Flur Stimmen.

Es waren Harst und Kammler, der Beauftragte der Wettgegner.

Ich machte Malzahn mit den beiden bekannt. Harst reichte ihm freundschaftlich die Rechte, sagte: „Sie sind schmählich hintergangen worden. Der Kerl sitzt bereits hinter Schloß und Riegel.“

Malzahn war sprachlos. – „Wer – welcher Kerl?“ fragte er völlig ahnungslos, – genau so ahnungslos wie ich.

„Wir wollen die Dinge der Reihe nach erörtern,“ eklärte Harst liebenswürdig, aber bestimmt. „Nehmen wir Platz. Hier,“ – er holte aus seinem Schreibtisch die Tätowierung hervor – „haben wir den Angelpunkt des ganzen Geheimnisses, eines sehr wertvollen Geheimnisses vielleicht.“

Er legte das Hautstück wieder auf das Brettchen zurück und begann:

„Wenn ich in der vergangenen Nacht nicht ein Spezialwerk über Tätowierungen eingesehen hätte und dabei durch ein paar Sätze nicht auf fremdländische Geheimbünde aufmerksam geworden wäre, würde ich kaum so schnell die Rätsel dieses Leichenraubes gelöst haben.“

„Verzeihung,“ fiel ihm der Forschungsreisende hier ins Wort. „Das da ist doch ein Stück aus –“

„Ganz recht, ganz recht,“ erklärte Harst schnell. „Wir wollen jedoch Kammler nicht des Genusses berauben, eine Weile noch in Ungewißheit zu schweben, um was es sich hier eigentlich handelt. Auch die Ungewißheit hat unter Umständen ihre großen Reize. – Zunächst ein paar Fragen, Herr Malzahn. Kammler wird ja mit den bisher bekannt gewordenen Einzelheiten dieses Falles genügend vertraut sein, um uns eine längere Einleitung ersparen zu können. Also: weshalb verreisten Sie scheinbar? – Vielleicht, um leichter über eine schwere Enttäuschung hinwegzukommen? Sie wollten vor dieser Enttäuschung flüchten, aber ein sehr starkes Gefühl, neben dem Hunger eine der die Menschheit treibenden Hauptkräfte, bannte Sie dann doch an Berlin, nur Ihrem Hause blieben Sie fern. – Ist es so? – Sie nicken, Herr Malzahn, Sie schauen mich überrascht an. Oh, ich habe auch dies mir lediglich auf Grund einiger Übung im Kombinieren als das wahrscheinlichste zurechtgelegt. Nebenbei haben Sie dann aber auch insgeheim versucht, diesen Diebstahl eines Toten aufzuklären. – Nun – weitere Fragen kann ich mir jetzt schenken. Das Problem Liu Sing ist in den Hauptpunkten restlos erledigt. Unwichtige Nebenumstände, wie zum Beispiel der, ob die Kobra noch lebt, bedeuten nichts gegenüber dem Gesamtbilde dieses außerordentlich vielseitigen Verbrechens. – Ich gebe zu, daß ich zunächst auf ganz falscher Fährte war. Ich hielt Sie für den Urheber dieses Mordplanes. Der Chinese ist nämlich ermordet worden, lieber Kammler, – mit Hilfe einer indischen Brillenschlange und nebenbei noch durch ein anderes, die Muskulatur des Schlundes schnell lähmendes Gift, wahrscheinlich durch das sogenannte Kamahil, einen Absud der Wurzeln des gleichnamigen Strauches. – Bereits im Klub kurz nach Bekanntgabe dieser neuen Aufgabe an mich nahm ich die Arbeit auf. Von Doktor Bruchfeld, Ihrem Intimus, Herr Malzahn, erfuhr ich viel Wissenswertes. Auch die Zeitungen waren ja sehr gut informiert gewesen. Bevor ich noch Ihren Park am Morgen nach jenem Klubabend betrat, hegte ich bereits starke Zweifel, ob hier wirklich gewerbsmäßige Leichendiebe in Frage kämen, denn die Gefahr und die Unkosten waren für die Beute zu groß. Das durchsägte Fenstergitter verriet mir dann, daß es von innen aus dem Zimmer durchgeschnitten worden war. Auf dem Rückwege nach der Parkmauer warf uns dann eine Frauenhand aus einem der obersten Gemächer des Turmes ein Armband mit dem eingeritzten Worte Ritbilf zu. Ich entzifferte dieses als Bitt Hilf – also Bitte Hilfe. Die Polizei ließen wir bei dem Glauben, ich hätte den Armreif gefunden. Sehr bald erschien Marwatha hier bei uns mit einer Depesche, die ich als Fälschung durchschaute. Sie besagte, daß Marwatha mir 50 000 Mark für die Übernahme des Falles bieten sollte. Auf Grund der soeben angeführten Tatsachen entwarf ich nun folgenden Zusammenhang der Vorgänge.“

Er wiederholte genau dasselbe, was er mir gegenüber an Beweisen für Malzahns Schuld und Marwathas Mitwisserschaft angeführt hatte.

„Ich mußte also ganz bestimmt damit rechnen,“ fuhr er darauf fort, „daß der Park fortan sehr scharf bewacht und daß man die Frau aus dem Turm fortschaffen würde. Wir – immer mein treuer Mitarbeiter Schraut und ich – fanden nun allerdings einen der Jagdleoparden als Wächter vor, aber – und das gab meiner bisherigen Theorie einen schweren Stoß! – ich fand auch Ralkonda, die Inderin, noch in ihrem Kerker. Sie erzählte mir durch die kleine Luftscheibe folgendes.“

Was Harst jetzt vortrug ist bekannt.

„Ich zweifelte nicht an der Wahrheit dieser Angaben,“ setzte er seine Erörterungen fort. „Ralkonda hatte allen Grund, mir gegenüber offen zu sein. Von mir erwartete sie ja ihre Befreiung. Hatte schon die Tatsache, daß man die Inderin nicht weggebracht hatte, meine erste Annahme schwer erschüttert, nämlich die, Sie seien der Mörder Liu Sings, Herr Malzahn, – denn aus Furcht vor meiner Einmischung hätte wohl jeder zunächst die Frau verschwinden lassen! –, so sah ich nunmehr bis zu völliger Gewißheit ein, bisher unrichtige Schlußfolgerungen angestellt zu haben. Eins nun war mir in dem Bericht der Inderin über jene Ereignisse sofort aufgefallen: daß Marwatha sie heimlich mit seiner Liebe verfolgt hatte! – Ich wußte nun, wo er wohnte. Ich kletterte in der vergangenen Nacht zu seinen erleuchteten Fenstern empor. Er saß rechts von dem einen etwas offen stehenden an einem Tisch und war eingeschlafen. Vor ihm lag die Tätowierung. Ich schickte Schraut heim, da ich ihn nicht mehr als Schutz nötig hatte, schnitt mir einen langen Ast aus dem Buschwerk, stach die Klinge meines Messers an einem Ende hindurch und angelte mit diesem primitiven Haken die Tätowierung vom Tisch, denn in das Zimmer hinein konnte ich der Gitter wegen nicht. Hier habe ich dann das nach Spiritus duftende Hautstück näher geprüft. Es war fraglos Haut von der Brust eines Chinesen, und die Schriftzeichen darauf waren chinesische Buchstaben. Das Werk Professor Mautners enthielt nun an einer Stelle folgende Sätze: „Der Engländer Dewis behauptet, der Geheimbund der sogenannten Hongkong-Brüder hätte früher die wertvollste Beute seiner Piratentätigkeit stets an verschiedenen Stellen verborgen und genaue Angaben über diese Plätze dann stets dreien des Bundes in einer Chiffreschrift auf den Körper tätowiert. Ich bezweifle dies, denn der Grund dieser Tätowierung ist nicht genügend ersichtlich. Immerhin mag Dewis Tätowierungen bei Chinesen gefunden haben, die seine Annahme zu rechtfertigen schienen. Sie werden aber fraglos eine andere Bedeutung gehabt haben.“ – Als ich dies gelesen hatte, fiel urplötzlich der dünne Vorhang, der mir die wirklichen Zusammenhänge bisher noch verschleiert hatte. Ich eilte sofort nach den Redaktionen unserer verbreitesten Tageszeitungen und kam gerade noch zurecht, um die Anzeige für Sie, Herr Malzahn, in die Morgennummer einfügen zu lassen. Mir tat man den Gefallen, andere Annoncen zurückzustellen. Ich frühstückte dann im Wartesaal des Potsdamer Bahnhofs und war um sieben Uhr bei Bruchfeld, dem Privatdozenten am Orientalischen Seminar. Er brauchte zwei Stunden zur Entzifferung der Schrift des Hautstückes. Marwatha hat dasselbe vier Wochen lang umsonst versucht.“ – Er entnahm seiner Brieftasche einen Zettel und las folgendes vor:

„Hundert Schritt nördlich der Pagode von Pawi-Lung unter dem gespaltenen Pflaumenbaum vier Kisten mit Goldbarren aus dem Dampfer Silvana. Von niemandem des Bundes zu berühren, da für den Fall der Not, wenn Brüder durch Bestechung der Beamten zu befreien sind. – Min-Fa, Ping-Lu, Liu Sing.“ – „So, meine Herren, dies war das Geheimnis des chinesische Kochs, des früheren Piraten, das ihn das Leben gekostet hat. – Ich holte mir nun meine beiden guten Bekannten, Kommissar Bechert und Wachtmeister Schilling, vom Polizeipräsidium, verpflichtete sie zum Schweigen über alles, was die Inderin betraf, fuhr mit ihnen nach Dahlem und nahm mir Marwatha vor, der noch über das Verschwinden des Hautstückes völlig verstört war. Ich sagte ihm folgendes: „Du hast gewußt, daß Liu Sing einst zu den Hongkong-Brüdern gehörte, Du wußtest auch, was es mit der Tätowierung auf seiner Brust auf sich hatte. Du wolltest den Schatz Dir aneignen, brauchtest dazu aber das Hautstück, um in Ruhe an die Entzifferung der Geheimschrift herangehen zu können. Du selbst hast die Kobra aus dem Käfig genommen. Du als Inder verstandest, mit Giftschlangen umzugehen, und Du hast dann Liu Sing beißen lassen, nachdem Du ihm ein halb betäubendes Gift eingegeben. Gleichzeitig aber wolltest Du auch Ralkonda, die Dich nicht beachtete, verderben. Du hast Deinem Sahib vorgelogen, die Inderin hätte mit Liu Sing sich eingelassen und dann aus Furcht, von ihm verraten zu werden, die Kobra in die Nähe der Küche gebracht, um den Chinesen zu beseitigen. Dein eifersüchtiger Sahib glaubte Dir leider blindlings und ließ Ralkonda[13] gefangen setzen. In der Nacht stahlst Du selbst die Leiche, entferntest das Hautstück und verbargst den Toten, da Dir vor einer Entdeckung dieser Leichenschändung bangte, irgendwo – vermutlich im Park. Dein Sahib, traurig über der Inderin Treulosigkeit, verließ sein Heim, blieb aber in Berlin. Als das Armband[14] gefunden wurde, teiltest Du ihm dies sofort mit. So wurde er an mich als den Liebhaberdetektiv erinnert. Er wollte nun durch mich den Todesfall Liu Sings in der Hoffnung näher untersuchen lassen, daß vielleicht doch Ralkonda weniger schuldig war als es schien, als Du ihm eingeredet hattest. Er liebt sie, er hat ihr die Ehe versprochen, und aus Liebe zu ihr setzte er die hohen Belohnungen aus. Er fälschte die Depesche, mit der Du zu uns kamst. Als ich erklärte, ich hielte den Fall für aussichtslos, warst Du sehr zufrieden damit. Deine Augen verrieten Dich. – So hat sich alles zugetragen. Hier ist die Tätowierung!“ Als ich ihm diese zeigte, gab er alles zu. – Meine Aufgabe ist damit erledigt.“

Malzahn stand auf und reichte Harst die Hand.

„Schade, daß Sie selbst so reich sind,“ sagte er bewegt. „Sie könnten Millionen fordern für das Glück dieser Stunde. Ich liebe Ralkonda, und ich bin jetzt erst wieder ein glücklicher Mensch, wo ich weiß, daß Marwatha ein Schurke ist, daß er mich belogen und meine Eifersucht ausgenutzt hat. Ich danke Ihnen von Herzen.“

Dieses Problem ist hiermit beendet. Ich will nur noch hinzufügen, daß Malzahn mir runde 100 000 Mark spendete, daß ich jetzt Kapitalist bin, daß Liu Sings Leiche auf dem Grunde des kleinen Marmorsees lag, daß Malzahns eheliches Weib eine Inderin von berückender Schönheit ist und – daß der Schatz von anderen längst gehoben war. –

Am Abend desselben Tages, an dem Harst in so genialer Weise Marwatha[15] entlarvte, erhielt er von Kammler einen Brief zugeschickt, der unsere nächste Aufgabe enthielt.

 

 

Der Tigerwagen

 

1. Kapitel.

Das Perlmutterkästchen.

In einer kleinen Konditorei in einer Nebenstraße des Leipziger Platzes Berlins saßen in einer Fensternische zwei Dienstmänner, beide schon bejahrt, der eine etwas bucklig. Sie sprachen wenig, rauchten billige Zigarren und tranken zum Kaffee jeder einen Kognak.

Der Bucklige war Harald Harst, der andere ich.

Gestern abend hatten die Wettgegner Harsts uns die neue Aufgabe gestellt. Und sofort hatten wir uns an diesem Morgen zu dreien an die Arbeit gemacht. Der dritte befand sich zur Zeit als Beobachter in einer Anzeigenannahmestelle ganz in der Nähe. Und dieser dritte war der fünfzehnjährige Karl Malke, Harsts Schützling und gelegentlicher Helfer, ein waschechter Berliner mit der ganzen Frühreife und Gerissenheit des im Daseinskampf herangewachsenen kleinen Gassenbuben.

Harst war heute zunächst allein tätig gewesen und hatte sich dann mit mir in der Konditorei Lipfeld getroffen. Bisher hatte er mir über das, was er ausgerichtet, nichts mitgeteilt, nur leise erklärt, daß er Karl telephonisch herbeigerufen hätte.

Fragen mochte ich nicht, wie es um unsere Sache stand, die allem Anschein nach nicht nur eine, sondern verschiedene geheimnisvolle Seiten hatte. Ich wußte, Harst würde schon sprechen, wenn’s nötig war.

Wir wechselten nur hin und wieder kurze Bemerkungen, berlinerten dabei entsprechend unserem Kostüm und taten so, als ob wir bereits zahlreiche Gänge hinter uns hätten und uns ausruhen wollten.

Es war jetzt halb zwölf. Ich merkte, daß Harst ungeduldig wurde. Wir saßen hier nun bereits anderthalb Stunden, ich sogar fast zwei. Das Mädchen, das uns bediente, kümmerte sich nicht weiter um uns, da wir vorhin unsere Zeche schon bezahlt und ein gutes Trinkgeld gegeben hatten.

Harst sah nach der Uhr. – „Sie müßte längst wieder fort sein,“ murmelte er. „Und Karl sollte sich doch nur mit dem Chauffeur etwas anbiedern.“

Ich horchte auf. Also eine Dame, ein Auto und ein Chauffeur waren mitbeteiligt. Immerhin schon etwas.

Da tat sich die Eingangstür auf und ein blonder, magerer Junge mit spitzer Nase und dunklen Mausaugen, gekleidet in die Uniform der Messenger-Boys, trat ein, verlangte am Büfett zwei Stückchen Torte und zog dann mit dem Päckchen wieder ab.

Gleich darauf sprachen wir Karl, der bereits beim Verzehren des zweiten Stückchens war, in einer tiefen Hofeinfahrt in derselben Straße an.

„Baronin van den Brough heißt sie,“ erklärte er kurz, indem er den Namen Brough buchstabierte. „Es ist ein für zwei Monate gemietetes Auto, Firma Schaper u. Co., Wicleffstraße. – Und sie fuhr nach dem Kaufhaus des Westens,“ fügte er hinzu. „Ich sagte dem Chauffeur, ich wollte gern bei ’ner feinen Herrschaft in Dienst treten. Er hat sicher keinen Verdacht geschöpft.“

„Van den Brough?!“ wiederholte Harst leise und sichtlich erstaunt. „Darauf hätte ich nicht gerechnet. Also auf der Spur von Edelwild. Desto interessanter. – Sonst noch was, Karl.“

„Ja – vielleicht ist’s wichtig. Als sie herauskam, schob sie einen Brief in ihre goldene Handtasche.“

Harst ließ sich die Baronin genau beschreiben. Und Karl tat’s wie jemand, der genau weiß, worauf es bei einer solchen Beschreibung ankommt. Dann konnte er wieder nach Hause fahren. Er war sehr enttäuscht, daß seine Dienste nicht weiter benötigt wurden und ging zögernd davon. Er wohnte mit seiner Mutter, einer Witwe, hinten im Gartenhäuschen des Harstschen Grundstücks in Schmargendorf, Blücherstraße 10.

„Nun kommen Sie an die Reihe, lieber Schraut,“ meinte Harst und schritt dem Leipziger Platz zu. „Ah – ein leeres Auto. Wie gerufen! – Hinein mit uns! – Chauffeur, ’n bißken dalli nach ’n Wittenbergplatz.“

Der Chauffeur war einer von denen, für die es keine Geschwindigkeitsgrenze und keine Polizei gibt. Er fuhr wirklich dalli – mehr schon wie der Teufel.

„Also Ihre Arbeit, Schraut,“ begann Harst wieder. „Verargen Sie es mir nicht, daß ich Sie an Ihre einstige Handfertigkeit und Fingergeschicklichkeit erinnere. Sie müssen der Baronin, die wir hoffentlich noch im Kaufhaus antreffen, die Goldtasche abkneifen. Es geht nicht anders. Ich decke Ihnen dabei den Rücken. Haben Sie sie, stecken Sie sie mir zu und warten an der Gedächtniskirche auf mich.“

Ich war sehr rot geworden, ich als ehemaliger Taschendieb.

„Wenn es sein muß,“ meinte ich leise.

„Ja – wir müssen Material sammeln – recht viel, lieber Schraut, denn ich kann Ihnen jetzt schon verraten, daß mit dem Namen van den Brough noch eine andere Geschichte verknüpft ist, die letztens im Klub unter dem Siegel der Verschwiegenheit als Klatsch die Runde machte. Als Karl den Namen Brough aussprach, fiel mir dies sofort ein. Man muß als Liebhaberdetektiv ein so wohlgeordnetes Gedächtnis wie eine Kartothek haben, sonst bleibt man Stümper.“

Vor dem Kaufhaus des Westens trennten wir uns, nachdem wir festgestellt hatten, daß ein elegantes Privatauto noch vor dem Eingang hielt. Harst schlenderte hinter mir drein. Ich kaufte schnell in der Wirtschaftsabteilung eine kleine Beißzange, und dann machten wir uns auf die Suche. Die Baronin zu übersehen, war nach Karls genauem Steckbrief unmöglich. Schon der große, hellblaue Strohhut mit Reiherstutz und gesticktem weißen Schleier mußte genügend auffallen. Ich wandte mich zunächst der Moden-Abteilung zu. Dort nichts – nirgends, selbst im Erfrischungsraum kein blauer Hut. Da betrat ich wieder die Straße. Vielleicht war das Auto bereits verschwunden. – Nein – es stand noch am selben Platz. Der Chauffeur las eine Zeitung.

Harst begrüßte mich jetzt, als hätten wir uns tagelang nicht gesehen. Dann flüsterte er: „Ich wette, sie ist nur zum Schein hierher gefahren und hat das Gebäude zu Fuß wieder verlassen. Schnell – bewachen wir die Seiteneingänge.“

Ich schwenkte links ab nach dem Wittenbergplatz zu und ärgerte mich, weil ich nicht selbst darauf gekommen, daß „der blaue Hut“ den Chauffeur nicht wissen lassen wollte, was sie eigentlich vorhätte. – Ich war es dann, der das Glück hatte, ihrer ansichtig zu werden. Sie kam sehr langsam mit einem schlanken Herrn daher. An der Art, wie dieser sich verabschiedete, merkte ich, daß es jemand war, der zu ihr mehr in geschäftlichen Beziehungen stand. Als er den Hut lüftete, als ich das ganz kurz geschorene, graue Haar sah, tauchte in mir eine Erinnerung aus meines Lebens dunkelsten Tagen auf.

Die Baronin verschwand im Kaufhaus. Sie mußte an der Taschentuch-Abteilung vorbei, um den Haupteingang zu erreichen. Dort war gerade „billiger Tag“ und ein großes Gedränge.

Die Baronin bestieg ohne ihre goldene Handtasche ihr Auto. – Ich holte Harst vom anderen Seiteneingang ab, und wir fuhren mit unserer wertvollen Beute mit der Straßenbahn heim, gebrauchten aber wie immer die Vorsicht, von hinten, wo das Grundstück an ein Laubengelände grenzt, durch den Gemüsegarten das Haus zu betreten.

Es war ein Uhr, als wir nun in Harsts Arbeitszimmer die Handtasche besichtigten, ihren mannigfachen Inhalt auf den Tisch legten und Harst plötzlich sagte:

„Aha – sie hat sich aus der Anzeigenannahme der Plakatsäulengeschäftsstelle einen Briefumschlag geben lassen, hat ihn zugeklebt, aber die Adresse noch nicht geschrieben. Öffnen wir den Umschlag über Wasserdampf, und holen Sie sich gleich von meiner Mutter ein Bügeleisen herunter, lieber Schraut, um den Umschlag nachher wieder glatt zu plätten.“

Unsere Enttäuschung war groß: in dem Umschlag befanden sich nur 3 Einhundertmarkscheine jener länglichen Ausgabe, die an der einen Seite ein weißes Viereck mit einem helmgeschmückten Krieger als Wasserzeichen hat.

„Hm!“ machte Harst und hielt die Banknoten gegen das Licht. Dann verlangte er das Plätteisen. Es war zu heiß, und er legte über die Scheine noch einen Bogen Papier, glättete diesen nun, nahm ihn dann schnell weg und rief: „Bleistift und Papier – fix, Schraut, ehe die Schrift wieder verschwindet.“

In die weißen Vierecke der Banknoten war mit einer besonderen Tinte, die nur durch Erhitzung des Papiers sichtbar wurde, in englischer Sprache folgendes geschrieben:

„Tolu Tawa! Deine ehemalige Herrin glaubt nach wie vor an Deine Treue. Wie solltest Du auch gegen die, die Dir das Leben rettete, wohl treulos werden können?! Bleibe noch einige Zeit in Deiner jetzigen Stellung, wenn Du vielleicht auch als Menageriewärter Dich nicht ganz wohlfühlen magst. Ich brauche Dich noch. Kehre erst nach Sundabar zurück, wenn ich endlich wieder Ruhe gefunden habe. – Schreibe nicht mehr an mich. Ich bin von seinen Spionen umgeben. Wir treffen uns besser im Z. wie früher. Oh, über diesen grundlosen Verdacht! Und all das Buddhas Lächelns wegen! – Anbei 200 Mk. für die Zeitungen und 100 für Dich.“

Harst hatte mir diese Mitteilungen der Baronin an Tolu Tawa diktiert. Jetzt sagte er: „Eine sehr energische Handschrift, die der Baronin Ellinor van den Brough! Ich möchte diese Frau kennenlernen.“

Dann wurden wir zum Mittagessen gerufen, legten nur noch schnell unsere Verkleidung ab und wurden von Harald Harsts Mutter im ersten Stock mit Vorwürfen empfangen, weil die Suppe inzwischen kalt geworden war. Nun – Frau Auguste Harst hätte an derartige Unregelmäßigkeiten eigentlich längst gewöhnt sein müssen.

Seit ihr einziges Kind seine amtliche Tätigkeit als Assessor aufgegeben und infolge seiner Millionenwette mit den Herren des Universum-Klubs lediglich noch den Liebhaberdetektiv spielte, konnte von regelmäßigen Mahlzeiten nicht mehr die Rede sein.

Wir waren dann gerade beim Fisch, als es klopfte und Karl Malke – noch immer als Messenger-Boy – eintrat und schon von der Schwelle aus rief:

„Herr Harst – Herr Harst, – sie ist ermordet worden!“ Er war ganz atemlos.

Er konnte nur die Baronin meinen. Harst fragte daher auch nur: „Woher weißt Du dies, Karl?“

Der Junge wurde verlegen. „Ich bin etwas ungehorsam gewesen, Herr Harst. Ich wollt’ mich doch noch gern ein wenig betätigen. Deshalb fuhr ich mit der Straßenbahn nach dem Kaufhaus und trieb mich in der Tauentzienstraße auf der Mittelpromenade herum, beobachtete das Auto, sah auch Sie beide und nachher die Baronin, die einstieg und die vorher dem Chauffeur „Zoologischer Garten, Haupteingang“ als Ziel zugerufen hatte. Ich folgte dem Auto im Trab, fand es vor dem Zoo wieder, löste eine Eintrittskarte und suchte die Baronin. Am Affenhaus bemerkte ich schon von weitem einen Haufen Menschen. Die Baronin lag dort vor einem der Käfige, hatte eine Stichwunde im Herzen und war tot. Sehr bald kam die Polizei und jagte die Neugierigen weg – mich auch. – Trotzdem hörte ich noch, wie der eine Kommissar sagte: „Eine furchtbare Wunde. Der Stoß muß von einem überaus kräftigen Manne geführt worden sein.““

Mehr konnte Karl nicht angeben. Die sonstigen Einzelheiten waren unwesentlich. –

Als wir dann in Harsts Arbeitszimmer wieder allein waren, meinte er, indem er sich in den Klubsessel am Fenster fallen ließ und eine seiner geliebten Mirakulum-Zigaretten anzündete:

„Das anfänglich so harmlos erscheinende Perlmutterkästchen wächst sich also zu einem Kriminaldrama aus. – Wiederholen wir kurz, was wir darüber wissen, – und dies ist weit mehr, als der Polizei bekannt sein und vorläufig werden dürfte. – Meine Wettgegner stellen mir die neue Aufgabe: Was steckt hinter den seit zwei Wochen regelmäßig jeden dritten Tag an den Anschlagsäulen erscheinenden Plakaten mit hellgelbem Rand und Aufdruck:

Für das Perlmutterkästchen
20 000 Mark!
Und strengste Verschwiegenheit.

Diese Plakate, 45 mal 45 Zentimeter groß, hatten schon vorher, wie ich jetzt zugebe, mein Interesse erregt. Da wir aber mit den anderen, früheren Wettproblemen gerade genügend beschäftigt waren, habe ich nur so nebenbei festgestellt, daß sie der Anzeigenannahmestelle von einer verschleierten, eleganten Dame, die sich Gertrud Müller nannte, übergeben worden sind. Als ich heute früh daher nach der Geschäftsstelle fuhr, war ich immerhin schon etwas unterrichtet. Der betreffende Angestellte, den ich mir heute beiseite nahm und den ich leicht etwas gesprächiger als früher machte (Harst meinte natürlich durch eine kleine Bestechung), erklärte mir, die Dame wäre stets sehr ängstlich und würde vielleicht gerade heute wie stets bisher gegen elf erscheinen, da die Gebühren wieder zu bezahlen wären. Die Anzeigen selbst hätte immer ein Dienstmann auf einem Handwagen gebracht, und deren Verpackung ließe darauf schließen, daß sie nicht in Berlin gedruckt worden wären. Wo, wüßte er nicht, und das wäre auch kaum herauszubekommen. – Da nun ein Junge weniger Argwohn erregt, wenn er etwas neugierig ist, als ein Erwachsener, mußte Karl den Spion spielen. Was er beobachtete und so weiter, ist bekannt. – Dann unsere Erlebnisse. Wir stellen fest, daß die Baronin, die also nicht Gertrud Müller heißt, das Kaufhaus durch den Nebeneingang wieder verlassen hat, offenbar, um mit dem Herrn, in dem Sie, lieber Schraut, den Privatdetektiv Schirmer wiedererkennen, sich heimlich zu treffen. Nachher fährt sie dann nach dem Zoo und wird dort ermordet. Wir aber finden in ihrer Handtasche die drei Scheine und darauf eine Mitteilung an einen Menageriewärter Tolu Tawa. Der Name klingt malaiisch. Und die Baronin ist Holländerin. Holland wieder besitzt die Sunda-Inseln, das Hauptgebiet der Malaien, als Kolonie. Dieser Tolu Tawa, ein früherer Diener der Baronin, soll erst später nach Sundabar zurückkehren, wird in der Geheimschrift verlangt. Zu beachten ist weiter, daß die Baronin von Spionen in dieser Mitteilung spricht und von „Buddhas Lächeln“, schließlich auch von 200 Mark „für die Zeitungen“. – Und nun noch der Klub-Klatsch, den ich bereits vormittags andeutete: der Baron van den Brough wohnt seit vier Wochen in Wannsee in einer kleinen gemieteten Villa. Er, ein früherer hoher Staatsbeamter, ist einige vierzig Jahre älter als seine Gattin, die er erst vor zwei Jahren geheiratet hat. Sie stammt aus bescheidenen Kreisen. Der Baron, durch langen Aufenthalt in den Kolonien recht hinfällig, konsultiert hier in Berlin unsere gelehrtesten und teuersten Ärzte. Er kann sich’s leisten, ist sehr reich, aber ein Sonderling. Vor vierzehn Tagen etwa soll es in der Wannsee-Villa zwischen dem Paare einen heftigen Streit gegeben haben. Man spricht von Eifersucht des alten Herrn. Die Baronin zieht daraufhin nach Berlin in ein elegantes Fremdenheim in der Bellevuestraße. – Dies wäre das, was im Klub erzählt wurde. – Sie müssen zugeben, Schraut: der Fall ist recht unübersichtlich. Schaffen wir die nötige Übersicht, – fahren wir nach Warnemünde.“

„Warnemünde? – Was sollen –“

Mein durchaus gerechtfertigtes Erstaunen und meine begonnene Frage tat Harst mit einem „Später, lieber Schraut“ ab.

 

2. Kapitel.

Die Menagerie Sellerheim.

Wir erreichten noch den letzten Zug über Rostock, langten um elf Uhr in dem bekannten Seebad an, verließen unser Abteil und hatten an der Bahnsteigsperre eine geraume Weile zu warten, da der Reiseverkehr jetzt Anfang Juni bereits stark eingesetzt hatte. Als wir uns, eingekeilt in die Masse der neu angekommenen Badegäste, dem Ausgang schrittweise zuschoben, flüsterte Harst mir plötzlich zu:

„Rechts – der Braune!“

Ich wandte den Kopf. Durch mehrere Personen von mir getrennt stand da ein Farbiger mit billigem Strohhut, sehr hohem Kragen und knallrotem Schlips zu einem gelblichen Oberhemd. Er hatte ein faltiges, bartloses Gesicht, schwarze Augen und machte trotz der auffallenden, etwas komisch wirkenden Kleidung (der helle Anzug war ganz großkariert) einen würdevollen, ich möchte fast sagen hochmütigen Eindruck.

In der uns einkeilenden Menge wurde viel gesprochen, viel gelacht. Als gerade jetzt einen Moment Stille eintrat, hörte ich hinter mir nicht allzu laut Harsts Stimme, die sehr deutlich einen Namen aussprach:

„Tolu Tawa!“

Des Farbigen Kopf fuhr wirklich herum. Aber er suchte mit mißtrauischen Blicken umsonst den, der ihn angerufen hatte. Ich merkte, wie viel ihm daran lag festzustellen, wer ihn hier kannte von all den fremden Leuten.

An der Sperre drängte Harst sich rücksichtslos vor. Und ich konnte beobachten, wie er hinter dem Braunen den die Fahrkarten einsammelnden Schaffner leise etwas fragte, wie dieser eine Fahrkarte 3. kurz betrachtete und nun auch mir verständlich erwiderte:

„Berlin!“ –

Wir hatten jeder nur einen leichten, schmalen Koffer bei uns und unsere Mäntel überm Arm. Vor dem Bahnhof sagte Harst zu mir:

„Also es ist jener Tolu Tawa: er kam aus Berlin mit demselben Zuge wie wir, und – heute ist die Baronin gegen 2 Uhr nachmittags ermordet worden!“

Das war eine Anschuldigung ohne Frage! – Ich erwiderte:

„Ganz recht – sehr verdächtig! – Woher aber wußten Sie, daß gerade in Warnemünde –“

„– die Menagerie Sellerheim zur Zeit gastiert?“ beendete Harst meinen Satz. „Weil ich in der Geldbörse der Baronin auf einer Karte in ihrer Handschrift fand: „Warnemünde, Seebad, Mecklenburg, Menagerie Sellerheim, Schaubudenplatz.“ – Sie als Holländerin traute sich nicht zu, diese Adresse richtig im Gedächtnis zu behalten, notierte sie sich daher auf der Rückseite ihrer Dauerkarte für den Berliner Zoo mit Bleistift, wo sie gar nicht auffallen konnte; mir freilich doch.“

Hm – ich hatte diese Dauerkarte auch in Händen gehabt. Aber – die Rückseite hatte ich nicht beachtet.

Harst fuhr fort: „Dauerkarte. Die Baronin ist also häufiger im Zoo gewesen. Und wenn sie heute, obwohl sie doch soeben ihre goldene Tasche eingebüßt hatte, was sie doch fraglos sehr bald gemerkt hat, wieder den Zoo besuchte, so dürfte sie dort wohl nicht lediglich der Tiere wegen so gern geweilt haben. – Ah – Tolu Tawa ist ohne jedes Gepäck. Nur einen Spazierstock trägt er. – Wir brauchen ihn jetzt nicht weiter zu verfolgen. Wir wollen uns irgendwo privat einmieten, zunächst für eine Woche, und – möglichst Erdgeschoß, damit wir auch nachts ungehindert und unbemerkt ein und aus können.“

Ein gewerbsmäßiger Wohnungsvermittler wies uns in der Nähe des Hafens an eine Witwe Klaaßen, wo wir dann auch in unserem großen Zimmer mit zwei Betten ebenso sauber wie behaglich unterkamen. Auch beköstigen wollte uns die Klaaßen, und das, was sie uns noch schnell als Nachtimbiß vorsetzte, ließ auf ebenso tadellose Mittage hoffen.

Unsere zwei Fenster lagen etwa ein Meter über dem Bürgersteig und hatten von innen Laden. Wir saßen bei offenen Fenstern, aber geschlossenen Vorhängen, und Harst füllte gerade die Anmeldeformulare mit erfundenen Namen für uns – Hoffmann und Schrenk, Kaufleute, Berlin – aus, als ich, der ich mit dem Gesicht nach dem Fenster zu saß, eine Hand bemerkte, die von der Straße aus vorsichtig den einen Vorhang zur Seite drückte.

Auf dem Bürgersteig war in der nächtlichen Stille jeder Schritt eines Vorübergehenden zu hören gewesen. Seit gut zehn Minuten hatte ich Schritte nicht mehr vernommen. Deshalb argwöhnte ich, der Besitzer jener Hand müßte sich ganz leise an das Haus herangeschlichen haben.

Noch konnte dieser Mensch vom Innern des Zimmers nichts erblicken. Ich erhob mich daher schnell, vermied jedes Geräusch, war mit zwei Sätzen am Fenster, bekam die Hand auch zu packen und rief Harst zu:

„Hierher, da will jemand –“

Ich werde den Faustschlag, den ich dann durch den Vorhang vor die Stirn erhielt, so leicht nicht vergessen. Ich stürzte hintenüber, und der gelbe Vorhang samt der Eisenstange wurde[16] mit herabgerissen.

Mir brummte der Schädel derart, daß ich immer noch wie gelähmt auf den Dielen saß, als Harst wieder durch das jetzt vorhanglose Fenster hereinstieg, mir aufhalf und sagte: „Die Jagd war umsonst. Der Kerl war längst verschwunden. – War es eine braune Hand?“

Ich saß dann in einem altmodischen Plüschsessel und befühlte meine Stirn, stellte eine bereits ganz ansehnliche Beule fest und erwiderte: „Nein – es war die Hand eines Europäers: sogar eine sehr weiße Hand. Und ich glaube, ich sah auch etwas wie das Funkeln von Brillantringen an ihr.“

„Sehr möglich. So, wie der Mann draußen stand, wird er die Linke zum Lüften des Vorhangs und die Rechte dann zum Boxhieb benutzt haben. Ihre Stellung, lieber Schraut, hat ihm Ihr Schatten verraten. Deshalb traf er so sicher. Der Kerl muß Riesenkräfte haben. Sie plumpsten wie ein leerer Sack um. – Jedenfalls ein ganz netter Beginn unserer hiesigen Tätigkeit. – Wir müssen nun leider schleunigst das Quartier wechseln. Ein Glück, daß wir alles Nötige fürs Maskemachen mit haben. – Ich werde die Läden schließen. Und dann vorwärts.“

Gegen 2 Uhr morgens verließen wir Frau Klaaßens trauliches Zimmer durch das Fenster. Die Anmeldescheine hatte Harst verbrannt. Wir zogen den Fensterflügel und den Laden von außen wieder zu. Die Straße war wie ausgestorben. Wir wanderten mit unseren Koffern nach dem Bahnhof und setzten uns in den Anlagen auf eine Bank. Die Nacht war warm. Harst schlief im Sitzen, und[17] auch ich nickte zuweilen trotz der starken Kopfschmerzen ein. Nachdem der Frühzug von Rostock eingelaufen war, suchten wir gegen 7 ein neues Unterkommen, diesmal noch weiter vom Seestrande ab, dafür aber mit der Aussicht auf das langgestreckte Riesenzelt der Menagerie und die sechs großen Wohn- und Gerätewagen. – Wieder war’s eine Witwe, die uns aufnahm. Sie hieß Strick und war noch sauberer und gemütlicher als die Klaaßen, die so leicht Geld verdient hatte und ihre Gäste so schnell wieder losgeworden war. Wir hießen jetzt Hirsekorn und Schlacht, Bankbeamte aus Frankfurt an der Oder. Mit den Kaufleuten Hoffmann und Schrenk hatten wir nicht die geringste Ähnlichkeit mehr. Wir waren jetzt ältere, bärtige Herren mit viel Würde und von geringer Redseligkeit. –

Die Menagerie war von 5 nachmittags an geöffnet. Alle zwei Stunden war Dressurvorstellung, wie man auf den Zetteln lesen konnte. Wir gingen gegen 6 hin. Der Besuch war sehr mäßig. Harst hatte sich dann bald mit dem Besitzer Sellerheim angefreundet, der uns sein Leid über die schlechten Geschäfte klagte. Er erzählte uns viel aus seinem reich bewegten Leben.

Harst zeigte für alles Interesse, fragte, ob denn die Angestellten Sellerheims hohe Löhne erhielten; besonders wäre dies wohl bei den beiden Dresseuren der Fall – und so weiter. Jedenfalls hatte er den Mann bald da, wohin er ihn haben wollte: bei der Person des einzigen farbigen Wärters.

„Ach – der Malaie Tolu Tawa, ja, das ist eine sehr brauchbare Kraft – wirklich! Er ist rein aus Liebe zu den beiden malaiischen Tigern zu mir gekommen, die mein Stolz sind. – Dort – das sind sie –“

Wir traten vor den Käfig und Sellerheim machte uns auf ihre Vorzüge aufmerksam. – Als Harst fragte, weshalb Tolu Tawa denn Sellerheims Meinung nach lediglich aus Vorliebe für die gestreiften Bestien diese Stellung angenommen hätte, erwiderte der Menageriebesitzer, der Malaie wäre vor etwa zwei Wochen in Potsdam, wo damals Darstellungen gegeben wurden, mit der Bitte zu ihm gekommen, ihn als Wärter für die Tiger zu beschäftigen; er wolle auch nur einen ganz geringen Lohn haben. – „Nur deshalb behielt ich ihn,“ meinte Sellerheim. „Er ist mit dreißig Mark monatlich zufrieden, und es macht sich immer ganz gut, wenn zu einer Menagerie auch ein Farbiger gehört. Er ist nur etwas sehr eigenmächtig, der Tolu Tawa, bummelt viel herum und scheint nebenbei noch Dinge zu treiben, die er streng geheim hält.“

„Ich glaube, ich sah ihn gestern abend auf dem Bahnhof,“ sagte Harst recht harmlos.

„Schon möglich. Er war von morgens an verschwunden und fand sich erst gegen Mitternacht wieder ein. Ihn zu fragen, wo er gewesen, hat keinen Zweck. Er sagt dann stets in seinem Sprachenmischmasch: „Promenade, – Tuwan.“ – Tuwan heißt nämlich Herr, ist malaiisch –“ –

Die Tiere waren sämtlich, wie bei allen Wandermenagerien, in großen Wagen untergebracht, die, im Viereck aufgefahren, mit der einen vergitterten langen Seite nach innen standen, während zwischen den Rückseiten und dem Zelt nur ein schmaler Gang lag. Der Wagen der beiden Tiger hatte zwei Abteilungen; links eine ganz schmale, rechts eine etwa fünf Meter lange und drei Meter breite. Die Lampen der eigenen elektrischen[18] Beleuchtung der Menagerie waren sehr geschickt angebracht und gestatteten, die Tiere wie bei vollem Tageslicht zu beobachten.

Nachdem wir uns dann noch die Dressurvorführungen der vier Löwen und zweier Panther angesehen hatten, verabschiedeten wir uns von Sellerheim. Harst versprach ihm noch, morgen wieder zu kommen und zwar zur Fütterung.

Als wir dann im Kurhaus auf der Terrasse Abendbrot aßen, als die See rauschte und die Klänge der Musikkapelle sich in das schwache Brandungsgeräusch mischte, sagte Harst, der sich ein paar Berliner Morgenzeitungen gekauft hatte und hin und wieder darin blätterte, ganz unvermittelt:

„Hier steht der kürzeste und übersichtlichste Bericht über die Ermordung der Baronin. – Da, lesen Sie, Schraut, – Sie werden in mancher Beziehung überrascht sein –“

Ich nahm die Zeitung, überflog folgendes:

„Gestern nachmittag kurz vor 2 Uhr fanden Besucher des Zoologischen Gartens vor dem großen Affenhaus eine elegant gekleidete Dame mit einer Stichwunde im Herzen, noch in den legten Zügen liegend, auf. Die Sterbende konnte noch ein paar Worte flüstern, von denen einer der Hinzueilenden eins als „Lächeln“ verstanden[19] haben will. Als die Polizei eintraf, war die Dame – es handelt sich um die Baronin Ellinor van den Brough – bereits verschieden. Es haben sich zwei Zeugen gemeldet, die einen Mann in Strohhut und großkariertem, hellgrauen Anzug eiligst vom Affenhause weg flüchten sahen. Einer der Beamten am Haupteingang besinnt sich nun, daß ein Farbiger in einer Bekleidung, die den Angaben der Zeugen entspricht, den Garten etwa eine halbe Stunde vor der später Ermordeten betreten hat. Da nun, wie weiter festgestellt ist, der Baron van den Brough seinen malaiischen Diener Tolu Tawa vor etwa zwei Wochen plötzlich wegen unverschämten Benehmens entlassen mußte, richtet sich der Verdacht der Täterschaft auf diesen Diener, der jetzt eifrig gesucht wird. Es dürfte ein Racheakt vorliegen. – Wir machen hier nochmals auf die Belohnung von 3000 Mark aufmerksam.“ –

Ich ließ die Zeitung sinken, schaute Harst fragend an. Er hatte ja vorhin gesagt: „Sie werden in mancher Beziehung überrascht sein.“

„Nun, Schraut?“ meinte Harst. „Wie stimmt denn dieser Verdacht mit der Vertrauensstellung überein, die Tolu Tawa doch fraglos bei der Baronin noch jetzt bekleidete – bei seiner Lebensretterin?!“

„Schlecht stimmt’s überein – sehr schlecht!“

Harst winkte dem Kellner, zahlte hastig, stand auf.

„Wir müssen nochmals nach der Menagerie hin,“ sagte er leise. „Es ist doch zu erwarten, daß auch die hiesige Polizei Berliner Zeitungen liest und daß vielleicht der Malaie bald verhaftet wird oder schon verhaftet ist.“ –

Jetzt gegen 8 war die Menagerie ganz leer. Wir setzten uns auf eine der Bänke vor dem Tigerkäfig und schauten den dunkelgelben Bestien zu, die ruhelos in der großen Abteilung hin und her schlichen. Dann kam der Malaie, jetzt in einer Art Heimatstracht mit Turban, und öffnete die Verbindungstür nach dem kleinen Verschlag, trieb dann die Tiere lediglich durch Zurufe hinein, ließ die Falltür wieder herab und säuberte den großen Käfig, indem er von dem Gange aus hineinging, mit Sägespänen und Wasser.

Während er noch damit beschäftigt war, erschien ein neuer Besucher, der nach prüfendem Blick auf uns dicht an den Käfig herantrat und den Malaien anrief. Dieser zuckte zusammen, kannte offenbar den schlanken, großen Herrn nicht, machte ein sehr argwöhnisches Gesicht, das jedoch schnell den Ausdruck wechselte, als jener ihm etwas zuflüsterte.

Die beiden tauschten sehr erregt kurze Sätze aus, worauf der Herr die Menagerie langsam nach flüchtiger Besichtigung der Tiere verließ. Tolu Tawa aber beendete seine Arbeit nicht, sondern eilte den Gang entlang und kehrte nicht wieder zurück.

Harst zog nach geraumer Weile die Uhr, sagte: „Fünfzehn Minuten ist er weg. Und er hat nicht einmal den Besen mitgenommen, hat auch die Tiger in dem kleinen Verschlage gelassen. Der Herr hat ihn – gewarnt, denke ich mir, und der Malaie sucht nun zu entkommen. Und der Herr, mein lieber Schraut, trug am kleinen Finger der Linken Brillantringe, hat uns beide sehr argwöhnisch gemustert und dürfte vielleicht der – Boxer von der verflossenen Nacht sein.“

Er erhob sich. „Da kommt auch Sellerheim mit zwei Männern. Die sehen mir sehr nach Beamten aus. Räumen wir das Feld. Ich möchte den Herrn mit den Brillantringen suchen.“

Sellerheim sprach uns an, raunte uns zu:

„Eine nette Bescherung! Der Malaie hat gestern in Berlin eine Dame ermordet! – Und er hatte mir vorgeschwindelt, er wäre, bevor er bei mir Stellung suchte, in einem Zirkus angestellt gewesen. – Dabei war er Diener bei dem Gatten der Ermordeten, einer holländischen Baronin.“

Als wir über den Platz den Häusern zuschritten, flüsterte Harst plötzlich: „Da steht er –“

Und wirklich: es war der schlanke, große Herr.

„Natürlich beobachtet er, was die Polizei unternimmt,“ erklärte Harst leise. „Tun wir das gleiche mit ihm – nämlich beobachten.“

Der Herr – er hatte blonden Spitzbart und war tadellos angezogen – ging nach zehn Minuten davon. Eine halbe Stunde später wußten wir von dem Portier, daß er im Hotel Meeresblick seit – gestern abend wohnte, daß er mit dem letzten Zuge von Berlin gekommen und ein holländischer Ingenieur namens Pieter Bleulenhook war.

 

3. Kapitel.

Der Tigerwagen.

Bleulenhook hatte sich auf die halbkreisförmig vorspringende Hotelterrasse gesetzt und dort sein Abendbrot eingenommen. Wir sahen, daß er tief in Gedanken versunken war. Nachdem Harst dann den Portier durch einen „harten“ Händedruck gesprächig gemacht hatte, kehrten wir nach unserem Heim am Schaubudenplatz zurück.

Harst war wieder ganz der große Schweiger. Er öffnete beide Fenster und zog die Vorhänge zu. Dieses Häuschen war von so ehrwürdigem Alter, daß seine Fenster nur etwa einen halben Meter über dem Bürgersteig lagen. Der Ehrwürdigkeit des Hauses entsprach die Stubenbeleuchtung: Petroleumhängelampe. Wir hatten seit langem nicht bei solch’ gemütlichem, rötlichen Licht gesessen, und Harst lobte die gute alte Zeit, wo es noch kein kaltes Gas- oder elektrisches Licht gegeben hatte. Nach dieser kurzen Bemerkung beschäftigte er sich wieder mit seinen Zeitungen. Wir waren noch an einem Zeitungskiosk gewesen, und Harst hatte hier alles aufgekauft, was er von Provinzblättern vorgefunden hatte. Es war ein gehöriges Paket, und ich grübelte umsonst darüber nach, was er in diesen Zeitungen wohl suchen mochte, die er recht genau durchsah.

Dann ließ er ein befriedigtes, vielsagendes „Aha!“ vernehmen, legte die Zeitung, die er gerade in Händen hatte, beiseite und setzte seine Lektüre desto eifriger fort.

Ich selbst, der bei diesem unseren neuesten Problem nicht wieder wie bisher bis zum letzten Augenblick, das heißt bis zu der Stunde, wo Harst die ganzen Zusammenhänge enthüllte, verständnislos[20] seiner Arbeit zuschauen oder ihm bei deren einzelnen Abschnitten ebenso ahnungslos helfen wollte, – ich selbst hatte mir einen großen Briefbogen hervorgesucht und darauf alles fein säuberlich, möglichst logisch geordnet, was wir über den Fall „Perlmutterkästchen“ bisher ermittelt oder sonstwie erfahren hatten. Da ich meine Niederschrift sehr oft verbessert hatte, übertrug ich sie nachher ins Reine. Ich war damit gerade fertig geworden, und gerade hatte der Regulator an der Wand mit einem blechern klingenden Schlage die letzte halbe Stunde vor Mitternacht angekündet, als Harst sagte:

„Die Tiere in der Menagerie sind sehr unruhig. Hören Sie nur, Schraut, wie dumpf die Löwen brummen und wie scheußlich die Panther jaulen –“

Ich hatte mich dadurch nicht stören lassen. Ich nickte: „Ein Nachteil dieses Quartiers. Es klingt recht unheimlich.“ Aber ich war mit meinen Gedanken ganz bei meiner Niederschrift.

Harst stand auf, trat an das rechte Fenster, schlug den Vorhang etwas beiseite und meinte nach einer Weile: „Es ist sehr schwül. Dort im Süden wetterleuchtet es. Ich glaube, es gibt ein Gewitter. Der Himmel ist ganz bedeckt. Kein Lüftchen regt sich. – Das Zelt der Menagerie sieht wie ein heller Sandberg aus. Hinter der Leinwand schimmern nur die hellen Flecke von drei Laternen. Ich stelle es mir recht aufregend vor, dort die Nachtwache zu haben inmitten all der Bestien, die hinter ihren Gittern weiß Gott welche Gedanken ausbrüten. – Armes Viehzeug! Einst Herren der Wildnis, Bewohner der freien Unendlichkeit – jetzt angewiesen auf wenige Quadratmeter Raum. – Ah – sollte –“

Er war mit zwei langen Schritten an den Sofatisch getreten und drehte die Lampe aus. – „Entschuldigen Sie, Schraut, ich habe da drüben eine Gestalt bemerkt, die das Zelt umschleicht, einen Mann mit Turban. Es kann nur der Flüchtling Tolu Tawa sein. Welche Harmlosigkeit, welche Unerfahrenheit von dem Malaien, diese auffallende Kopfbedeckung beizubehalten! Man merkt, daß er wohl klug, aber nicht gerieben ist, dieser großkarierte braune Dandy.“ Er hatte das schnell geflüstert, stand nun wieder am Fenster.

Auch ich erhob mich, tastete mich bis zu ihm hin.

„Er ist verschwunden,“ meinte Harst. „Morgen will die Polizei mit einem Rostocker Polizeihund auf ihn Jagd machen, erzählte mir der Meeresblick-Portier. Es dürfte zu spät dann sein. Wir bekommen sicher einen Gewitterregen!“

„Wollen wir ihn nicht –“

„Wie – etwa fangen?“ unterbrach er mich. „Nein – noch nicht!“

Ich dachte an die Banknoten, an die Mitteilung der Baronin an Tolu Tawa, ihren Vertrauten. – Ja – es schien undenkbar, daß er seine frühere Herrin getötet haben sollte, zumal –

Da wurde meine Gedankenreihe jäh unterbrochen.

Von der Menagerie her war ein halb erstickter Schrei an mein Ohr gedrungen, und gleichzeitig hatte Harst meinen Arm mit hartem Griff umspannt.

„Das war ein Hilferuf aus menschlicher Kehle,“ flüsterte Harst. „Schnell – unsere Hüte und Revolver.“

Als wir über den freien Platz die kurze Strecke bis zu dem Riesenzelt hinliefen, brüllten die Löwen besonders laut, wurden aber sofort wieder still. Auch ein seltsames Fauchen hörte ich, mir bis dahin unbekannt. – „Es sind die Sunda-Tiger,“ raunte Harst mir zu und kroch unter einen der Gerätewagen. „Ich wette, Tolu Tawa ist im Zelt, denn dieses Fauchen ist ein Zeichen der Freude, des Wohlbehagens –“

Er betastete die starke Leinwand. Der Wagen war ganz dicht an diese herangeschoben, wohl als Schutz gegen zu starken Winddruck. Dann zog Harst sein Taschenmesser. Ich hörte die große Klinge dieses Jagdmessers in die Feder, die sie dann festhielt, einschnappen. Das kennzeichnende Geräusch von Leinen, das man zerschneidet, verriet mir Harsts weitere Absichten. Er schlüpfte dann als erster hinein durch das dreieckige Loch, hatte mir noch zugehaucht: „Kein Geräusch! Wir kommen unter dem Affenwagen durch.“

Der beißende Geruch, der in jeder Wandermenagerie herrscht, drang mir in die Nase. Vor mir sah ich einen breiten wagerechten[21] hellen Strich und darin die dunklen Räder der Wagen sowie Harsts auf allen Vieren sich vorwärtsbewegende Gestalt. Wir erreichten bald die Bänke für die Zuschauer vor den Dressurkäfigen. Nun waren wir geborgen. Wir setzten uns auf den Boden und schoben vorsichtig die Köpfe über das Sitzbrett, das wie ein Dach uns schützte.

Halb rechts von uns stand der Käfig der beiden Tiger. Gerade davor hing an einem der Zeltmasten eine große Petroleumlaterne.

Meine Augen gewöhnten sich schnell an die ungewisse Beleuchtung. Ich blickte hierhin und dorthin. Von dem Malaien keine Spur; auch sonst nichts Auffälliges.

Harst puffte mich leicht in die Seite.

„Die Tiger sind in dem kleinen Verschlag,“ flüsterte er, seinen Mund dicht an mein Ohr bringend. „Und Tolu Tawa in dem großen. Er ist soeben durch die Tür eingetreten. Er muß die Bestien gerade in den kleinen Verschlag gelockt haben, als wir sie fauchen hörten. – Näher heran, Schraut, – aber um Himmelswillen leise!“

Der Malaie im Käfig? Was wollte er dort? – Doch mir solche Fragen zu stellen, dazu hatte ich jetzt keine Zeit. Harst kroch schon unter den Bänken hervor.

Auch ich hatte Tolu Tawa nun bemerkt. Er stand im Hintergrunde des Käfigs und schien zu lauschen. Seine regungslose Gestalt zerfloß fast mit dem Halbdunkel dort in eins.

Ich folgte Harst. Er war mir gut drei Schritt voraus. Er hielt auf den Löwenkäfig zu, wollte dann wohl rechts abbiegen und so vor den Tigerwagen gelangen.

Aber – er hatte mit den Löwen nicht gerechnet! Am Tage mochten sie an die vielen Gaffer längst gewöhnt sein. Nachts aber kannten sie bisher nur ihre Wärter. Nun witterten sie uns, sahen unsere zusammengeduckten Gestalten, wurden immer unruhiger. Nicht, daß sie brüllten! Nein – sie drängten sich dicht am Gitter zusammen, steckten die Nasen durch die Eisenstäbe, schnüffelten laut. Und so eine Bestie, die windend die Luft einzieht, ist wie ein saugender Ventilator.

Dann wichen sie plötzlich zurück; dann ein kurzes Aufbrüllen, ein dumpfer Krach.

Einer der Löwen war gegen das Gitter gesprungen, daß der Wagen erzitterte, war dann schwer zurückgeplumpst.

Unwillkürlich sah ich nach rechts.

Und dort drückte jetzt der Malaie sein Gesicht an die eisernen Stangen, blickte nach uns hin.

Auch Harst hatte ihn bemerkt, schnellte hoch, riß den Revolver aus der Tasche, rief Tolu Tawa halblaut auf englisch zu:

„Halt – rühre Dich nicht! Wir sind nicht Deine Feinde. Aber wir –“

Weiter kam er nicht. Der Malaie war im Hintergrunde des Käfigs verschwunden. Die niedrige, schmale Tür dort hatte er offen gelassen. Und nun vernahmen wir ein metallisches Kreischen.

„Er öffnet die Falltür des Verschlages!“ kam’s über Harsts Lippen. Sein Gesicht war ganz starr.

Dann schlüpfte er plötzlich unter den Wagen, – ich ihm nach. Ich wollte ihn nicht allein lassen bei dem, was er vorhatte – vielleicht einer Gefahr, wie sie ihm bisher nicht gedroht.

Ich stieß mit dem Kopf gegen einen Balken. Was tat’s! Nun stand ich in dem schmalen Gang zwischen Wagenrückwand und der Zeltleinwand; nun blitzte Harsts elektrische Taschenlampe auf, denn hier war nicht die Hand vor Augen zu sehen.

Die schmale Käfigtür war ganz zurückgelehnt. Harst packte sie, wollte sie zuschlagen. Da tauchte in der viereckigen Öffnung der Kopf eines der Tiger auf.

Die Bestie duckte sich.

„Harst!“ rief ich warnend. „Harst, ein –“

Aber auch er hatte die große Katze gesehen. Sein rechter Arm holte aus, beschrieb einen Kreis. Und mit dem Kolben des Revolvers traf er den durch den weißen Lichtkegel geblendeten Tiger gerade auf die Nase.

Ein Aufheulen – ein schmetternder Krach.

Die Bestie war zurückgewichen, und Harst hatte blitzschnell die Tür zugeworfen.

„Ein nettes Abenteuer, Schraut,“ meinte er flüsternd. „Überzeugen Sie sich jetzt, ob beide Tiger in dem großen Käfig sind. Rufen Sie mir unter dem Wagen durch Bescheid zu. Ich will die Falltür schließen, damit Sellerheim nicht ahnt, was hier vorgegangen ist.“

Die Bestien waren beide in der großen Abteilung. Die Falltür glitt herab, und gleich darauf war Harst neben mir.

„Suchen wir nach dem Wärter,“ meinte er. „Ich glaube nicht, daß der Malaie ihn getötet hat. Er wird ihn nur betäubt haben –“

Und wir fanden ihn. Er lag hinter den beiden großen Holzkisten, in denen die Riesenschlangen, in Decken gehüllt, aufbewahrt wurden. Er war gefesselt, geknebelt, mit einem alten Teppich bedeckt und ohne Bewußtsein.

Harst fühlte nach dem Puls, befühlte den Kopf des rotbärtigen Mannes. Wir erkannten in ihm den Pantherdresseur. Er hieß Svendsen und war ein Däne, wie uns Sellerheim erzählt hatte.

„Ein Hieb gegen den Hinterkopf, nein, zwei Hiebe,“ erklärte Harst. „Aber der Puls geht ruhig und voll. Der Mann wird sehr bald wieder zu sich kommen. Entfernen wir den Knebel. Im übrigen lassen wir ihn liegen, wo und wie er liegt –“

Ich war damit nicht einverstanden. – „Er ist sehr eng gefesselt. Wollen wir nicht –“

„Nein, das wäre ein Fehler. – Gehen wir. Wir haben Glück gehabt. Hätte uns jemand hier gefunden, wäre der spätere Erfolg in Frage gestellt.“

Ich verstand ihn nicht. – Spätere Erfolg – welcher?

Als wir über den Platz in weitem Bogen unserem Hause zuschritten, faßte Harst mich vertraulich unter den Arm.

„Schraut, war das nicht wirklich ein Moment, wie man ihn sonst nur in den Dschungeln der Sunda-Inseln erleben kann,“ meinte er fast begeistert. „Der Kopf des Tigers so nahe. Und dann der Hieb. Ich möchte dies Erlebnis nicht missen.“

Wir stiegen durch das Fenster in unser dunkles Zimmer; Harst voran. Er blieb dann plötzlich stehen, so plötzlich, daß ich gegen ihn rannte.

„Hier war soeben noch jemand – ein Fremder – ein Eindringling –“, sagte er hastig, und seine Taschenlampe blitzte auf, wurde hierhin, dorthin gerichtet.

„Hörten Sie denn ein verdächtiges Geräusch?“ fragte ich unsicher.

„Nein, Schraut. Ich roch etwas – etwas, das genügend Beweis, daß jemand in diesem Zimmer sich aufgehalten haben mußte – noch vor kurzem. Riechen Sie. Was riechen Sie?“

Ah – der üble Dunst eines schwelenden Lichtdochtes erfüllte die Luft.

Harst trat erst an seinen Nachttisch, dann an den meinen, befühlte bei jedem der Leuchter die Dochtenden.

„Ihr Licht hat gebrannt, Schraut. – Da – das Stearin ist noch weich oben, der Docht warm und weich,“ erklärte er kurz. „Schauen Sie unter die Betten. Stecken Sie die Hängelampe an –“

Er selbst ging nach der Zimmertür. „Sie ist von innen verschlossen und verriegelt wie vorhin. – Da haben wir’s ja! Unsere Koffer sind erbrochen. Sehen Sie, da liegen unsere Theaterrequisiten – Bärte, Perücken, der Kasten mit den Schminken. – Es hat sich jemand überzeugen wollen, ob wir auch wirklich harmlose Bankbeamte sind. Und dieser Jemand –“ Er erwartete von mir die Fortsetzung.

„– kann nur Pieter Bleulenhook gewesen sein, der Ingenieur aus dem Meeresblick –“ vollendete ich sofort, leuchtete unter mein Bett und erhob mich, fügte hinzu: „Hier ist niemand mehr –“

„Nein – nur ein Zettel liegt hier auf dem Tisch – ein beschriebener Zettel, lieber Schraut –“

Ich stellte mich neben ihn. Und er las vor:

„Wir warnen Sie! Schon in Berlin waren Sie hinter B. v. d. Br. her. Sie sind Harst und Schraut. Lassen Sie die Finger von dieser Angelegenheit. Sie setzen sich zwecklos der größten Gefahr aus.“

„Das klingt wie ernst gemeint,“ lächelte Harst. Dann fuhr er nachdenklicher fort: „Mit Bleistift geschrieben. Handschrift offenbar nicht verstellt. Der Bleulenhook fühlt sich sehr stark. Ein nicht zu verachtender Gegner – Warten Sie hier, Schraut. Ich will nach dem Hotel Meeresblick –“

 

4. Kapitel.

Eine Jagd im Auto.

Kaum war er gegangen, als der erste stärkere Donnerschlag ertönte. Und als er nach etwa einer Viertelstunde zurückkehrte, goß es in Strömen; aber nur wenige Minuten.

Er schüttelte die Tropfen vom Hut. Er keuchte etwas.

„Ich bin gelaufen,“ hastete er hervor. „Packen Sie die Koffer, Schraut. Der Meeresblick-Portier hat mir für ein Trinkgeld von fünfzig Mark versprochen, uns ein gutes Auto in spätestens zehn Minuten hierher zu schicken. – Los – packen Sie! Ich will derweilen an Sellerheim schreiben und dem Brief gleich fünfhundert Mark beifügen.“

Nachher gab er mir den Brief zu lesen:

„Im Vertrauen auf strengste Diskretion! – Ich biete Ihnen zweitausend Mark, wenn Sie unverzüglich Ihre Menagerie wieder nach Potsdam verladen lassen. Benutzen Sie einen Extrazug. Aber – alles unauffällig! Schlagen Sie Ihr Zelt dann wieder in Potsdam dort auf, wo es vor etwa zwei Wochen stand. Lassen Sie fortan nachts die Menagerie stets durch zwei Leute bewachen. – Näheres später. – Mein Name bürgt Ihnen für die restlichen 1500 Mark. – Einer der beiden Bankbeamten von gestern. Harald Harst, Liebhaberdetektiv – Diskretion gegen jeden!“

Ich konnte nur den Kopf schütteln. Er schwieg sich jedoch aus, klebte den Umschlag zu, schrieb die Adresse.

Da fuhr auch schon das Auto vor. Wir sahen zum Fenster hinaus. Harst rief dem Chauffeur zu: „Einen Augenblick noch.“

Dann lief er nach der Menagerie hinüber, um den Brief abzugeben. Ich bemerkte hinter der Leinwand wandernden Lichtschein. Man suchte vielleicht nach Svendsen.

Harst war sofort wieder zurück. Unsere Koffer waren bereits in dem Kraftwagen verstaut. Auch Frau Strick machte mit uns ein gutes Geschäft. Harst legte auch hier Geld auf den Tisch.

„Also nach Berlin, Chauffeur! Und – wenn wir das andere, offene Auto einholen, das etwa zwanzig Minuten Vorsprung hat, bekommen Sie hundert Mark extra! – Los denn!“ Er stieg ein. Ich setzte mich neben ihn auf den Rücksitz. Es war ein neuer Wagen, geschlossen, sehr lang gebaut.

Als der Chauffeur dann die Chaussee erreicht hatte, als die Bäume an uns wie ein endloser Zaun, scheinbar ganz eng zusammenstehend, vorüberflogen, atmete Harst tief auf.

„So,“ meinte er. „Wenn wir nun nicht gerade eine Panne haben, so werden wir Pieter Bleulenhook einholen.“

Er streckte die Beine behaglich aus und schaltete die elektrische Birne an der Decke ein. „Ein eleganter Wagen. Der Portier hat das Trinkgeld verdient. Und der Chauffeur versteht sein Geschäft.“ Er reichte mir sein Zigarettenetui. „Bedienen Sie sich. Diese Nacht ist eine Mirakulum wert. – Ein herrlicher Beruf, Liebhaberdetektiv! Ich sehe es immer mehr ein –“

Er blies Rauchringe. „Unser Fall läßt sich mit diesen graublauen Ringen vergleichen, die erst ganz winzig sind und sich dann immer mehr ausdehnen, wachsen – wachsen – bis sie in nichts sich auflösen, in ein trübes Gewoge. – Unser Fall begann mit der Plakatsäulen-Anzeige. Und jetzt ist daraus ein Ungeheuer mit vielen Armen geworden, von denen jeder ein Geheimnis für sich festhält. – Mein Vergleich hinkt. Würde dieses Problem ein trübes Gewoge bleiben, hätte ich meine Wette verloren. Das darf und – wird nicht sein! – In der Menagerie,“ – ganz unvermittelt wechselte er das Thema, ging auf Einzelheiten unseres Falles über – „war alles in Aufregung. Svendsen sollte abgelöst werden durch den anderen Dompteur. Der fand ihn nicht, hatte Sellerheim geweckt. Ich gab diesem den Brief und verschwand schleunigst wieder. – So, das wäre das eine. – Und nun zu dieser Jagd auf Bleulenhook. Ich kam zum Hotel. Da ratterte gerade ein Auto fort, dem der Portier und der Ober nachdienerten. In wenigen Minuten wußte ich Bescheid. Das Auto gehörte dem Besitzer vom Meeresblick. Der Holländer hatte es für eine Fahrt nach Berlin gemietet, hatte fünfhundert Mark geboten. Das Geschäft kam im Augenblick zustande. Er sagte dem Wirt, ganz dringende Geschäfte, von denen er soeben erst durch einen Freund erfahren hätte, riefen ihn nach Berlin. – Die „dringenden Geschäfte“ hängen natürlich mit der B. v. d. Br. – Baronin van den Brough – zusammen. Und ebenso natürlich heften wir uns nun an die Fersen dieses Mannes. Seine Drohungen sind mir gleichgültig. Er sieht nicht so aus, als ob er uns, falls wir ihn einholen, niederknallen wird. Und wir müssen ihn einholen! In Berlin ihn suchen: Stecknadel im Heuhaufen!“

Er beugte sich vor und schaute zum Türfenster hinaus.

„Der Himmel klärt sich auf. Sehr günstig für uns,“ meinte er. „Jetzt nur keine Panne! Nur das nicht! – Sie haben ja vorhin eine Romandisposition über den „Tigerwagen“ entworfen, lieber Schraut. Zeigen Sie doch einmal her. Derweilen lesen sie mal hier diese beiden Anzeigen aus der Frankfurter Zeitung und den Stettiner Neuesten Nachrichten, dann diesen Artikel aus dem Berliner Kurier.“ Er holte die Blätter aus der Manteltasche hervor und deutete auf die betreffenden Stellen.

Die Anzeigen in der Frankfurter und der Stettiner Zeitung waren gleichlautend:

20 000 Mark Belohnung

dem, der das Perlmutterkästchen mit Inhalt
zurückgibt oder die Rückgabe veranlaßt.
Nötigenfalls auch höhere Belohnung.

Diese Annonce war also eine Erweiterung der Plakatanzeige und zwar insofern, als hier von einem Inhalt des Kästchens noch die Rede war.

Dann der Bericht aus dem Kurier:

Mord an der Baronin van den Brough. Hierzu können wir noch folgende Einzelheiten bringen. – Der Chauffeur der Baronin hat ausgesagt, daß diese im Hause Linkstraße 233 häufiger eine Modistin aufgesucht hätte. Nun gibt es aber dort keine Modistin, auch in den Nachbarhäusern nicht, so daß die Polizei augenblicklich dabei ist aufzuklären, mit wem die Ermordete in einem dieser Gebäude in Verkehr gestanden hat. Sachdienliche Angaben hierzu nimmt Kommissar Müller 1, Präsidium, Zimmer 22, entgegen. Weiter hat sich der Privatdetektiv und frühere Kriminalkommissar Schirmer gemeldet und ausgesagt, eine Dame, auf die die Beschreibung der Baronin zuträfe, wäre verschleiert bei ihm gewesen und hätte ihn beauftragt, in Berlin nach einem Österreicher zu suchen, der unter den verschiedensten Namen auftrete und folgende besondere Kennzeichen hätte: sehr schmale, gerade Nase, sehr schlanke, zarte Hände, Vorliebe für Brillantringe, tiefe Narbe über der Nase, zumeist blonder Spitzbart.

Hier ließ ich die Zeitung sinken. – Das war ja ohne Zweifel unser Pieter Bleulenhook! – Ich schaute Harst an. Der las aber scheinbar eifrig meine – Romandisposition.

Daher tat ich dasselbe mit dem Kurier:

Herr Schirmer hat weiter angegeben, die Baronin hätte ihren Namen verschwiegen und ihm gedroht, ihm den Auftrag sofort zu entziehen, wenn sie merken sollte, daß er ihr nachspüre. Er habe dies daher auch unterlassen. Zuletzt habe er sich mit der Baronin am Mordtage mittags gegen ein Uhr vor dem Seitenausgang des Kaufhauses des Westens getroffen. Die Baronin sei noch ängstlicher als sonst gewesen und habe ihm anvertraut, daß sie stets und überall Spione zu fürchten hätte. Leider konnte er ihr jedoch auch damals nur mitteilen, daß seine Nachforschungen nach dem Österreicher bisher vergeblich geblieben wären, worauf sie ihm weitere fünfhundert Mark ausgehändigt und gebeten hatte, die Ermittlungen mit größtem Nachdruck zu betreiben und ihr nach drei Tagen an derselben Stelle erneut Bescheid zu geben. – So der Detektiv. – Der Gatte der Baronin, holländischer Staatsrat und Exzellenz, früher Distriktschef der Residentschaft Sundabar auf Sumatra (Niederländisch-Indien), ein kränklicher, älterer Herr, der sich zur Zeit im Sanatorium Lindenhof in Zehlendorf bei Berlin befindet, vermag zu alledem nichts Aufklärendes auszusagen. Er gibt zu, sich vor kurzem von seiner Gattin getrennt zu haben, weil er Grund zur Eifersucht gehabt hätte. Nähere Auskunft über diesen Punkt verweigert er. – Was schließlich den Mord selbst angeht, so sei erwähnt, daß die Obduktion der Leiche eine Stichwunde durch ein stark verrostetes, stumpfes Instrument ergeben hat. Das Herz ist gestreift worden. Der Stoß ist etwas von rechts hinten gekommen – Der Malaie Tolu Tawa konnte bisher nicht ermittelt werden. Zu der Kammerzofe der Baronin hat er kurz nach seiner Entlassung geäußert, er beabsichtige, in seine Heimat zurückzukehren.

Ich reichte Harst die Zeitungen zurück. „Eine Menge Neues,“ meinte ich.

„Und sehr viel überaus Wichtiges, lieber Schraut, – Ihre Disposition ist nicht schlecht. Sie können noch hinzufügen, daß wir jetzt die Menagerie nach Potsdam bestellt haben, weil ich hoffe, so den Kernpunkt all der Geheimnisse bloßzulegen. – Ah – da ist schon Rostock. Ich habe hier auch mal zwei Semester studiert. Und jetzt sehe ich es auf der Jagd nach dem Manne mit den schlanken, weißen Händen wieder. Übrigens Schraut: wenn ich vorhin sagte, daß dieser angebliche Bleulenhook in Geschäften der B. v. d. Br. nach Berlin eilt, so war das etwas ungenau. Ich hätte sagen müssen: er wird den Kurier ebenfalls gelesen haben, hat uns beobachtet, ist dann in unser Zimmer geklettert, fand hier durch die Theaterrequisiten seinen Verdacht bestätigt, daß wir dieselben Leute wären, die bei der Klaaßen vorher gewohnt hatten und hielt es daher für angebracht, Warnemünde schleunigst den Rücken zu kehren, nachdem er uns noch die Warnung zurückgelassen hatte, die – nur seine Angst vor uns bemänteln sollte. Er glaubt, mit dieser Flucht im Auto uns für immer losgeworden zu sein. Damit, daß wir ihn schon als Bleulenhook kannten, rechnete er nicht.“

Er gähnte. Ich kenne das. Das heißt: Schweigen! – Schade, ich hätte noch so unendlich viel zu fragen gehabt.

Er tat, als ob er zu schlafen versuchte. Er hatte auch die Deckenbirne ausgeschaltet. Aber ich war sicher, daß er genau die Straße beobachtete.

Wir hatten Rostock längst hinter uns. Unser Wagen fraß die Kilometer.

Die Morgendämmerung begann. Ich war hundemüde. Aber ich hielt mich munter. – Dörfer, Städtchen passierten wir. Dann trafen wir gegen fünf Uhr einen Möbelwagen, der uns entgegenkam. Harst ließ halten, fragte den Kutscher nach dem offenen Auto aus, in dem ein einzelner Herr säße. – „Vor vielleicht fünf Minuten kam’s an mir vorbei. Es fuhr nicht allzu schnell,“ erklärte der Mann.

„Hurra!“ meinte Harst leise. „Chauffeur – noch zehn Mark extra, wenn wir’s in der nächsten Stunde haben,“ rief er.

Wir rasten weiter. Das Tempo war lebensgefährlich. Unser Chauffeur saß vorn ganz krumm wie ein Rennfahrer.

Ein neues Dorf. Vorbei. Vor uns eine weite Strecke ohne Krümmungen. Und – gleichzeitig erblickten wir den Flüchtling.

Harst riß die kleine Scheibe vorn auf, brüllte: „Chauffeur, vorüberfahren, ein gutes Stück, dann Panne markieren und unseren Wagen quer über den Weg stellen –“

Wir sausten an Bleulenhook vorüber. Die Chaussee machte bald eine Krümmung. Und nun hielten wir, stiegen aus, taten als ob der Reifen des linken Hinterrades geplatzt wäre, arbeiteten daran herum.

Der andere Wagen nahte. Harst und ich hatten unsere Bärte und Perücken schnell entfernt, worauf unser Chauffeur pfiffig lächelnd erklärte: „Ich ahnte, wen ich fuhr: Polizeibeamte!“ – „Na – so ähnlich!“ nickte Harst, winkte nun dem offenen Auto zu halten.

Es kam langsam heran. – „Können Sie uns mit einem Reifen aushelfen?“ fragte Harst unseren Freund Bleulenhook und trat ganz dicht hinzu. Da stellte der fremde Chauffeur den Motor ab, sprang auf die Chaussee und stellte sich an die andere Seite seines Wagens.

Bleulenhook zuckte die Achseln. „Weiß ich nicht. Mir gehört dieses Auto nicht.“

„Nein – dem Wirt vom Meeresblick, Herr Pieter Bleulenhook!“ meinte Harst, zog den Revolver und hielt ihn dem Flüchtling vor die Brust. „Keinen Widerstand! Sie kennen mich ja. Sie sind mir in Berlin schon heimlich bis zu meiner Wohnung gefolgt, als Sie merkten, daß ich Interesse für die Baronin hätte. Anders können Sie nicht erfahren haben, wer wir sind. Und dann folgten Sie uns auch in demselben Zuge nach Warnemünde. Jetzt werden Sie von der Berliner Polizei gesucht, außerdem auch noch von dem Privatdetektiv –“

Und nun gab’s doch auch mal für Harst eine Überraschung.

Denn jetzt unterbrach ihn der fremde Chauffeur:

„Ja, von einem Privatdetektiv – nämlich von mir!“

Und da erkannte ich den früheren Kriminalkommissar Schirmer, rief:

„Herr Schirmer!“

„Allerdings, Schirmer, der die Baronin heimlich durch seine Leute doch beobachten ließ und zwar gerade von dem Mordtage an. So wurden wir auf Bleulenhook aufmerksam, so sah einer meiner Angestellten, daß er ihr in einem zweiten Auto nach dem Zoo folgte. Dann verlor sich seine Spur, bis ich gestern nachmittag herausbrachte, daß er nach Warnemünde gefahren. Ich stieg im Meeresblick ab, informierte den Wirt, und so konnte ich denn jetzt Chauffeur spielen und diesen Mann, der gleichfalls des Mordes stark verdächtig erscheint, höchst eigenhändig nach dem Berliner Polizeipräsidium schaffen. Wenn ich der Polizei bisher nicht alles sagte, was ich über ihn wußte, – nun, wer läßt selbstgezogene Früchte gern von anderen pflücken?!– Im übrigen freue ich mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Harst.“

Bleulenhook saß mit einem höhnischen Lächeln da. „Sie irren, verehrte Herren, – ich habe die Baronin nicht ermordet,“ meinte er sehr ruhig. „Ich habe Zeugen, daß ich’s nicht gewesen sein kann. Ich gebe zu, ihr gefolgt zu sein. Aber über ihren Tod war ich genau so entsetzt wie die anderen Leute, die nachher die Leiche umstanden. Und der Oberlehrer Münzfeld wird bestätigen müssen, daß ich ihn schon am Eingang des Zoo um Feuer bat und daß wir dann gemeinsam im Gespräch weitergingen und auch zusammenblieben, bis der Mord entdeckt wurde. Über alles andere werde ich jede Aussage verweigern, und man wird mich freilassen müssen, denn ich habe nichts Strafbares begangen. Ich bin wirklich Holländer und Ingenieur. – So, wir können weiterfahren. Je schneller wir nach Berlin kommen, desto eher werde ich Ihre mir unerwünschte Begleitung los.“

 

5. Kapitel.

Das Lächeln Buddhas.

Leider behielt Bleulenhook recht. Als Harst am Tage nach unserer Autorückfahrt nach Berlin von einem Besuch im Polizeipräsidium heimkehrte, sagte er zu mir:

„Lieber Schraut, soeben ist Pieter Bleulenhook entlassen worden. Seine Angaben sind sehr genau nachgeprüft, aber sämtlich als richtig festgestellt. Weshalb die Baronin den Detektiv Schirmer hinter ihm dreingehetzt hat, darüber erklärte er, nichts angeben zu können. – Na – es ist dafür von der Polizei aus gesorgt, daß er – auf meine Bitte hin keinen Schritt mehr unbeobachtet tun kann. Wir haben ihn also jeden Augenblick wieder zur Verfügung. Die Herren im Präsidium suchten mich natürlich auszuholen, ob ich etwas mehr wie sie über den Mord wüßte. Ich konnte mit bestem Gewissen sagen: Nein! – denn über den Mord bin ich mir noch im unklaren. – Es ist heute so schönes Wetter, Schraut. Fahren wir mal nach dem Zoo, und sehen wir uns den Tatort an.“ –

Wir standen vor dem Affenhaus. Der Wärter, der Pflegevater der hier untergebrachten Vierhänder, rauchte eine Harstsche Importe und klärte uns über jede Einzelheit auf.

„Die Baronin kam sehr oft hierher, weil ihr Mann doch der frühere Besitzer des Schimpansen Jimmy dort war, den ein Händler dann hier an uns weiterverkaufte,“ berichtete er unter anderem. „Die Baronin war sehr tierlieb, und es ist ihr wohl schmerzlich gewesen, den Schimpansen abgeben zu müssen, dem sie so allerlei Kunststücke beigebracht hatte und den sie hier immer mit Leckereien fütterte, durch das Gitter streichelte und liebkoste. – Sehen Sie, das Tier ist auch sehr zutraulich. Da – es streckt schon wieder die Pfote bittend durch das Gitter. Man kann ihm ruhig die Hand geben, auch den Kopf krauen.“

Harst tat’s, schickte mich dann zum nächsten Schokoladenautomaten und hielt dem Schimpansen mit freundlichen Worten ein Stück Schokolade hin.

Der Orang-Utan im Nebenkäfig hatte bisher zähnefletschend im Hintergrunde gesessen, flog jetzt aber mit einem Wutschrei nach vorn und rüttelte wie toll an den Stäben.

„Ein gefährliches Biest!“ meinte der Wärter. „Und Kräfte hat er – unglaublich! Letztens hatte er doch oben einen Eisenstab des Dachgitters losgerissen – an einer Seite, und dann aus den Löchern die Querstäbe herausgedreht.“

Harst bezweifelte dies etwas. „Der Stab wird lose gewesen sein,“ sagte er, „Ohne Werkzeuge – ich bitte Sie!“

Der Wärter lief fort und holte das lange Eisenstück. Es maß über zwei Meter. – „Es war nicht leicht, es ihm wegzunehmen,“ sagte der Wärter. „Erst die Wasserspritze half!“

Harst fragte noch dies und jenes. Dann verließen wir den Garten. – „Ich will noch den Professor Rögler aufsuchen,“ meinte er. „Er kennt den Baron genauer und ist auch Mitglied des Universum-Klubs. Vielleicht weiß er Näheres über die Eifersuchtsszenen. Denn er war’s, der damals im Klub darüber sprach. Sie erinnern sich, Schraut, – Klubklatsch, wie ich es nannte.“

Ich kehrte nach Hause, nach unserer Blücherstraße, zurück. Dort fand ich zu meinem Erstaunen den Menageriebesitzer Sellerheim vor. Er erzählte, daß er genau nach Harsts Wünschen sich gerichtet hätte. – „Wir beginnen schon heute abend mit den Vorstellungen in Potsdam. Ich bekam zum Glück in Warnemünde sehr bald einen Extrazug. – Ob die Polizei dort mit der Hundenachsuche was erreicht hat? – Nein, nichts! Es steht ja auch schon in den Zeitungen, daß der Malaie spurlos verschwunden ist.“

Er wartete dann auf Harst, der sehr erfreut über Sellerheims Anwesenheit war.

„Wir werden die Abendvorstellung besuchen, – wir beide und noch ein paar Herren, bester Sellerheim,“ sagte er lebhaft. „Nach der Vorstellung werden wir uns unter den Bänken verbergen! Aber – Ihre Leute müssen reinen Mund halten – verstanden! Das ist die Hauptsache! Vielleicht werden wir mehrere Abende hintereinander kommen – bis wir Erfolg haben! – Über Tolu Tawa weiß die Polizei jetzt doch etwas Neues, wie ich heute erfuhr. Er hat sich ganz geschickt als Mausfallenhändler herausgeputzt, bei einem Bahnbeamten in Warnemünde erkundigt, wohin die Menagerie transportiert wäre. Der Beamte gab ihm ahnungslos Bescheid. Erst nachher fiel ihm ein, daß der Mausfallenhändler vielleicht jener Malaie sein könnte.“ –

Als wir allein waren, meinte Harst, wir würden sehr wahrscheinlich heute und morgen umsonst eine Nacht in der Menagerie durchwachen. – „Ich rechne erst mit einem späteren Erscheinen Tolu Tawas, lieber Schraut, da er vielleicht zu Fuß sich bis hierher durchschlagen muß. Aber aus Vorsicht wollen wir schon heute mit der Beobachtung des Tigerwagens beginnen, wir, Kriminalkommissar Müller 1, Detektiv Schirmer und Professor Rögler, der gern dabei sein möchte. Ich teile nur Ihnen jetzt im Vertrauen mit, daß ich nunmehr das ganze Problem bis auf Kleinigkeiten gelöst habe, – auch den Mord miteinbegriffen. Es sieht, wenn man die Zusammenhänge erst kennt, geradezu lächerlich einfach aus. Sie werden ja bald selbst darüber urteilen können.“ –

Die Menagerie leerte sich. Nur fünf Zuschauer blieben zurück. Und das waren wir fünf, die Eingeweihten.

Die Petroleumlaternen wurden angezündet. Das elektrische Licht erlosch. Auf Harsts Wunsch wachte nur ein Mann jetzt die Nacht über, und zwar Svendsen, der Dompteur, den Harst mit ins Vertrauen gezogen hatte. Svendsen sollte in der lauen Nacht möglichst viel vor dem Zelt auf und ab gehen und nur zuweilen innen nach dem Rechten sehen. Außerdem hatte Harst die beiden Tiger in den kleinen Verschlag einsperren lassen.

Wir fünf hatten es unter den Bänken ganz bequem. Sellerheim hatte uns Wagenpolster gegeben, so daß wir weich, wenn auch zusammengeduckt dasaßen.

Es wurde ein Uhr, – nichts ereignete sich. Soeben hatte Svendsen wieder die Runde im Zelt gemacht und war nun wieder draußen.

Da – ein ganz leises Geräusch vom Tigerkäfig her, das wie das Kreischen von Türangeln klang.

Harst, der ganz vorn unter der zweiten Bank hockte, kroch plötzlich nach links davon. Wo er blieb, konnte ich nicht sehen. Meine Aufmerksamkeit galt jetzt auch ausschließlich dem Tigerwagen.

Abermals von dorther das Kreischen. Dann war’s mir, als bewegte sich etwas dort, wo die schmale Tür in der Rückwand lag. Und nun – tatsächlich – es war eine Gestalt, die sich aus der Dunkelheit herauslöste, die lautlos bis zur Mitte des Käfigs huschte, sich bückte, niederkniete und nun ein Messer in die Bretter des Fußbodens zu stoßen schien.

Die Laterne war heute absichtlich so gehängt worden, daß ihr Schein nur die Rückwand nicht traf. Wir konnten also sehr gut beobachten, was in der großen Abteilung vorging.

Jetzt hob der Mann ein Dielenstück heraus. Es ging sehr schwer. Das Brett war fest eingeklemmt. Jetzt griff er mit der Hand tief in den Zwischenraum zwischen dem doppelten Bodenbelag hinein, jetzt – tauchte hinter ihm – Harst auf.

Ein Ruf des höchsten Schrecks. Harst hatte den Malaien beim Genick, rief: „Schraut – hierher – und die Riemen mitbringen!“

Tolu Tawa wehrte sich wie ein Verzweifelter. Es half ihm alles nichts. Ihm wurden die Arme auf dem Rücken gefesselt, und dann führten wir ihn nach den Bänken hin, wo er sich niedersetzen mußte.

Svendsen kam und schaltete eine der elektrischen Lampen gerade über uns ein. Blendende Helle beleuchtete die, die um den jetzt in einer Art Zigeunertracht steckenden Malaien versammelt waren.

Harst lehnte an dem nächsten Zeltmast.

„Ich bin den Herren einige Erklärungen schuldig,“ begann er. „Der Mord an der Baronin hat mit diesem Experiment, dem Sie soeben beiwohnten, nicht das geringste zu tun. Der Mörder ist kein Mensch, ist ein Tier – der große Orang-Utan[22] des Berliner Zoologischen Gartens. Die Baronin pflegte den Schimpansen Jimmy im Nebenkäfig zu füttern. Der Orang-Utan war neidisch, ist auch sehr jähzornig. Er hatte einen Gitterstab von 2 Meter Länge losgerissen. Als die Baronin damals Jimmy wieder fütterte, stieß ihr der Riesenaffe von der Seite diese Eisenlanze in die Brust und riß sie sofort wieder heraus, verbarg sie nachher oben auf seinem Schlafverschlag. Ich habe in aller Heimlichkeit den Eisenstab von einem Chemiker untersuchen lassen. Er hat an dem einen Ende Menschenblut und Stoffteilchen von rosa Seide festgestellt. Die Todeswunde entspricht durchaus dieser meiner Annahme. Sie rührt ja von einem stumpfen, rostigen Instrument her. Die Polizei wird sich meiner Ansicht anschließen, davon bin ich fest überzeugt.“

Harst griff jetzt in die Tasche, holte ein Perlmutterkästchen von eirunder Form mit sehr vielen kleinen dreieckigen Flächen hervor, deren Seitenlinien mit Diamanten so dicht verziert waren, daß das Ganze wie ein großes, funkelndes Ei aussah. Er hob den eng schließenden Deckel ab. Auf dem Unterteil ruhte auf einem Bett schwarzer Seide ein hellgrüner Stein von länglicher Form, ein Smaragd. Das elektrische Licht ließ ihn wie eine feurige, grüne Masse aufglühen, entlockte ihm grüne Strahlen, die ihn wie ein flimmernder Kranz umgaben.

„Meine Herren,“ fuhr Harst fort, „nicht der Mord an der Baronin hat mich veranlaßt, mich mit ihr zu beschäftigen, nein, der Diebstahl dieses Steines war’s, Buddhas Lächeln genannt, einst berühmt in ganz Niederländisch-Indien als der Hauptschmuck der Statue des Gottes Buddha im Buddhistentempel von Sundabar. – Nicht alles über diesen Diebstahl und seine Nebenumstände habe ich ermittelt. Immerhin genug, um mir das Fehlende ergänzen zu können. Und diese Ergänzungen müssen richtig sein, denn sie fügen sich völlig logisch in das Gesamtbild ein. – Der Gatte der Baronin ist ein leidenschaftlicher Edelsteinsammler. Als Beamter der holländischen Kolonialregierung stahl er persönlich aus jenem Tempel den kostbarsten Smaragd, den die Welt kennt. Jahrelang hielt er ihn in diesem Kästchen verborgen. Dann heiratete er trotz seines hohen Alters ein jugendschönes Mädchen, der er als Hochzeitsgabe den Stein unter der Bedingung schenkte, ihn niemandem zu zeigen. Die junge Baronin bewahrte ihn stets sehr sorgfältig auf. Trotzdem wurde er ihr vor etwa zwei Wochen gestohlen. Schon vorher hatte sich nun ein angeblicher Österreicher an sie herangedrängt, der von ihr Geld zu erpressen suchte, weil er, scheinbar als einziger, wußte, wer damals der Dieb des Lächelns Buddhas gewesen. An den Baron selbst konnte er sich nicht wenden, da die Ärzte diesem jeden fremden Besuch strengstens untersagt hatten. Der Baron erfährt, daß seine Gattin mit einem eleganten Herrn, eben dem angeblichen Österreicher, häufiger zusammen gewesen ist. Inzwischen ist aber auch der Smaragd verschwunden. Es kommt zwischen dem Baron und seiner Frau zu heftigen Eifersuchtsszenen. Er beleidigt sie dabei, sie verläßt ihn. Gewiß, sie könnte leicht jeden Verdacht von sich weisen. Aber sie muß darüber schweigen, was sie mit jenem Herrn zusammengeführt hat, denn sie müßte dabei den Smaragd erwähnen, der samt dem Kästchen gestohlen worden ist, und sie weiß, daß die Aufregung über diesen Verlust den Baron töten könnte. – Zwei Tage nach dem Raube des Steines weiß es der langjährige Diener des Barons, der Malaie Tolu Tawa, so einzurichten, daß sein Herr ihn hinauswirft. Die Baronin, die ihm einmal in Holland beim Baden in der See als vorzügliche Schwimmerin das Leben gerettet hat, hält große Stücke auf Tolu Tawa. Sie ahnt nicht, daß er der Dieb ist, und sie bedient sich seiner dazu, Plakate auswärts drucken zu lassen, die dann hier in Berlin an den Säulen erscheinen. Er muß für sie auch Annoncen in die Provinz-Zeitungen einrücken – alle des Perlmutterkästchens wegen, alle so abgefaßt, daß der Baron nicht etwa, durch einen Zufall auf sie aufmerksam geworden, ihren Zweck durchschaut. Der Malaie, der indessen nur in der Absicht eine Stellung bei dieser Menagerie gesucht hat, um den Smaragd sicher verbergen zu können, wird von mir in Warnemünde entdeckt. Der Österreicher, in Wahrheit Ingenieur Pieter Bleulenhook, folgt mir heimlich dorthin. Auch er sucht den Malaien, in dem er den Dieb des Steines vermutet oder aber – diese Frage müßte noch aufgeklärt werden! – einen brauchbaren Genossen für weitere Erpressungsversuche sieht. Jedenfalls warnt er Tolu Tawa vor der ihm drohenden Verhaftung. Des Malaien übergroße Vorliebe für die Tiger, dann sein mehrfacher prüfender Blick beim Reinigen des Käfigs nach dem Dielenbelag hin erwecken in mir den Gedanken, er könnte dort vielleicht das Lächeln Buddhas vorläufig verborgen haben. Nach seiner Flucht kehrt er in die Menagerie nachts zurück, betritt den Tigerwagen, aus dem wir ihn verscheuchen. Diese Kühnheit, nochmals sich dort zu zeigen, wo er vor wenigen Stunden festgenommen werden sollte, beweist mir, daß der Tigerwagen tatsächlich als Versteck des Steines dient. Und die heutige Nacht hat die Bestätigung hierfür gebracht. Gleichzeitig habe ich aber auch hiermit die Aufgabe gelöst, die meine Wettgegner mir gestellt hatten. Ich habe restlos aufgedeckt, was die Plakatanzeigen mit der Überschrift: „Für das Perlmutterkästchen“ bedeuteten.“ – Er schritt jetzt auf den zusammengesunken dasitzenden Malaien zu.

„Tolu Tawa, ich halte Dich für keinen gemeinen Dieb. – Sage mir, bist Du ein Priester des Buddha-Tempels in Sundabar, ausgeschickt, um den heiligen Stein zu suchen und wiederzubringen?“

Der Malaie richtete sich auf. Er war plötzlich ein anderer geworden. Das Würdevolle, Durchgeistigte in seinem Gesicht trat stark hervor. – „Der Polizei hätte ich’s bewiesen, daß ich ein Priester bin,“ sagte er ebenfalls in englischer Sprache. „Du, Tuwan, hast mich auch so als das erkannt, was ich in Wahrheit bin – kein Dieb, nur einer, der sich holte, was ihm und seinen Brüdern in Sundabar gehört!“

Harst löste seine Fesseln, reichte ihm das Kästchen:

„Nimm es – es ist Dein!“ –

Die Geschichte des Tigerwagens ist beendet. Bereits am folgenden Abend kannten wir unsere neue Wettaufgabe: „Was treibt die geheimnisvolle Jacht an den Küsten Rügens?“

 

Inhalts-Verzeichnis

 

Die Jagd auf einen Namen

Liu Sings Geheimnis

Der Tigerwagen

 

 

Verlagswerbung:

Empfehlenswerte

Kriminal-Bücher

 

Die Lahore-Vase.
Kriminalroman von W. Kabel.

 

Der hüpfende Teufel.
Kriminalroman von W. Kabel.

 

Der Tempel der Liebe.
Kriminalroman von W. Kabel.

 

Das Haus am Mühlengraben.
Kriminalroman von W. Kabel.

 

Die Brettldiva.
Kriminalroman von R. Ortmann.

 

Frau Zoes Rache.
Kriminalroman von H. Hosken.

 

Preis pro Band Mk. 1,50.

 

Zu beziehen durch jede Buchhandlung sowie vom

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO. 26.

 

 

Wie

benehme ich mich?

Ein allgemein verständliches, übersichtliches
Nachschlagewerk über alle Fragen des guten
Tones, ein den modernen Verhältnissen
angepaßtes Lehrbuch für jedermann,
der sich in jeder Gesellschaft
sicher bewegen möchte

Von W. v. Neuhof

 

Inhaltsangabe. Vorwort. Über die Notwendigkeit eines sicheren gesellschaftlichen Benehmens. 1. Wie soll ich persönlich auftreten? a) Kleidung. Schmuck. Körperpflege. b) Unser Heim. c) Mein Wesen. – Zu Hause. In der Öffentlichkeit. Im Berufsleben. 2. Geselligkeit. a) Allgemeine Anstandsregeln. b) Besuche. Gesellschaften. Bälle. c) Hochzeiten. Geschenke. Tischreden. d) Familienverkehr. e) Trauerfälle. f) Speisenfolge. Weine. g) Unsere Kinder und unser Verkehr. 3. Die Kunst ein angenehmer Gast zu sein, eine Unterhaltung zu führen und zur Unterhaltung beizutragen. 4. Wie schreibe ich Briefe? 5. Einige Winke über richtiges und gutes Deutsch. 6. Mädchen, die man heiratet, und Männer, die man heiratet. Schluß. Über Leute, die jedem auf die Nerven fallen.

Verlag moderner Lektüre G.m.b.H.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „gleite“.
  2. In der Vorlage steht: „Wallkürengestalt“.
  3. In der Vorlage steht: „empfig“.
  4. In der Vorlage steht: „besondes“.
  5. In der Vorlage steht: „Glacehandschuh“.
  6. In der Vorlage steht: „Vergößerung“.
  7. In der Vorlage steht: „hift“.
  8. In der Vorlage steht: „Efrindungsgabe“.
  9. In der Vorlage steht: „Blücher Straße“. Zwei Vorkommen auf „Blücherstraße“ geändert.
  10. In der Vorlage steht: „Seiteningang“.
  11. Kleinkalibrige Handfeuerwaffe. Siehe auch Wikipedia: Tesching.
  12. In der Vorlage steht: „Ratschputana“.
  13. In der Vorlage steht: „Kalkonda“.
  14. In der Vorlage steht: „Armbad“.
  15. In der Vorlage steht: „Warwatha“.
  16. In der Vorlage steht: „wurden“.
  17. In der Vorlage steht: „nud“.
  18. In der Vorlage steht: „elekrischen“.
  19. In der Vorlage steht: „vorstanden“.
  20. In der Vorlage steht: „verständislos“.
  21. In der Vorlage steht: „wagerrechten“.
  22. In der Vorlage steht: „Orang Utan“ Zwei Vorkommen auf „Orang-Utan“ geändert.