Sie sind hier

Die Augen der Jolante (1. Auflage)

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band: 9

 

Die Augen der Jolante.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin.
Druck P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 26.

 

Der D-Zug, der nachmittags 3 Uhr in Saßnitz Anschluß an den Trajektdampfer nach Trelleborg in Schweden hat, war am 21. Mai schon von Berlin an recht leer. Der Bäderverkehr nach Rügen hatte noch nicht eingesetzt, obwohl das Wetter seit März an eigentlich stets gleichbleibend heiter und warm gewesen war.

Uns konnte der wenig besetzte Zug nur angenehm sein. Wir hatten in einem Raucherabteil 2ter Fensterplätze, waren allein und blieben es dann auch bis Saßnitz hin. Wir hatten es uns recht bequem gemacht, bequemer, als es gewöhnliche Sterbliche zu tun pflegen. Aber wir waren ja auch keine Durchschnittsreisenden, nein, wir fuhren gen Rügen als Vertreter der weltberühmten Seifen- und Parfümeriefabrik Habicht u. Sohn, München. Unsere Musterkoffer standen im Gepäckwagen und als Geschäftsreisende einer so wohlriechenden Firma dufteten wir und unsere Kupeekoffer, Handtaschen und so weiter auf zehn Meter nach allen Wohlgerüchen Arabiens.

„Das gehört zum „Kostüm“,“ hatte Harst gesagt, als er sich und seine Sachen mit Parfüm tränkte.

Bis Stralsund war mein Kollege Hugo Himpel sehr schweigsam und studierte ein Buch über Segelsport mit einem Eifer, als müßte er demnächst sein Schifferexamen ablegen. Ich las inzwischen die Morgenzeitungen.

Erst als wir Stralsund hinter uns hatten und mit der Dampffähre nach Rügen übergesetzt worden waren, nahm Harst die Beine von den Polstern, stand auf, reckte sich und sagte leise: „Mein lieber Schraut, wir befahren nunmehr den Boden der Insel Rügen, sind also dort angelangt, wohin uns unsere neue Aufgabe befiehlt. Die Gemütlichkeit hört auf, die Arbeit fängt an, und von diesem Moment an bin ich für Sie nur noch Hugo Himpel, Kommis voyageur, und Sie für mich Moses Mackelsohn, – beide von der Firma Habicht.“

Dann setzte er sich mir gegenüber. „Ich möchte nur wissen,“ meinte er ebenso leise, „woher unsere Wettgegner diesmal eine Aufgabe ausgegraben haben, von der in Berlin nicht mal das größte Revolverblatt etwas je gehört haben will. – „Was treibt die geheimnisvolle Jacht an den Küsten Rügens?“ lautet unsere Aufgabe. Ich hatte angenommen, daß über diese Jacht wenigstens eine leise Andeutung in Berlin zu erfahren wäre. Heute früh, als Sie und meine Mutter unsere Koffer packten, habe ich 12 Zeitungsredaktionen angeläutet – mit negativem Erfolg. Wir fahren also direkt ins Blaue hinein, und ich wählte den Hafen- und Badeort Saßnitz auch nur deshalb als Reiseziel, weil er der bedeutendste der Insel ist, zumeist durch den Verkehr mit Schweden und Kopenhagen und dann auch wegen der Nähe der berühmten Kreidefelsen von Stubbenkammer.“

Da trat der Speisewagenkellner ein.

„Nehmen die Herren am Diner teil? Hier ist die Speisenfolge.“

Harst-Himpel bejahte. „Belegen Sie ein Tischchen für uns, Ober, und stellen Sie eine Mix Bara kalt. – Fahren Sie immer diese Strecke?“ fügte er hinzu und nahm eine Zeitung zur Hand.

„Seit März,“ erklärte der Kellner.

„So, dann wissen Sie vielleicht, was es mit dieser kurzen Notiz hier auf sich hat. Hier steht: „Die geheimnisvolle Jacht ist letztens abermals von Saßnitz aus beobachtet worden. Sie hielt südöstlichen Kurs und segelte sehr schnell.“ – Wir wollen nämlich in Saßnitz eine Weile bleiben, Ober, und da interessiert man sich doch für alles, was mit der See zusammenhängt.“

Der Kellner zuckte die Achseln. „Geheimnisvolle Jacht – Ja, da kann wohl kein Mensch den Herren näheren Aufschluß geben. Ich verkehre in Saßnitz in der Bergstraße in der Toten Flunder, einer sehr gemütlichen Kneipe, und dort hat letztens ein Fischer mir so einiges erzählt. Viel war es nicht. – Die Herren entschuldigen. Ich muß weiter. Vielleicht finde ich nachher Zeit –“

„Ne, lassen Sie man!“ meinte Harst-Himpel. „So versessen sind wir auf die Jacht denn doch nicht.“

Der Kellner verschwand. Ich nahm Harst mit einem „Sie gestatten“ die Zeitung ab und suchte nach der Notiz, die er soeben vorgelesen hatte. Ich mußte sie übersehen haben, obwohl ich selbst die Anzeigenseiten genau studiert hatte – nach Harstschem Rezept, da er stets behauptete, dort fände man oft recht Merkwürdiges.

Heute fand ich nicht einmal die Notiz, schaute auf und schaute in Harald Harsts durch den blonden Schnurrbart, die Bartkoteletten und den Nickelkneifer recht stark verändertes, jetzt ein wenig ironisch lächelndes Gesicht.

„Lieber Mackelsohn, es war ein Schuß auf gut Glück eben,“ sagte er gelassen. „Die Notiz finden Sie nicht, da ich sie bloß erfunden habe! – Sie sehen: wir wissen jetzt schon, wo wir in Saßnitz verkehren werden, in der Toten Flunder natürlich.“ –

Drei Tage später. Ein prachtvoller Morgen. Mein Kollege Himpel saß auf unserem nach der See hinausgehenden Balkon bereits beim Frühstück, während ich in meinem Zimmer – wir hatten zwei benachbarte in der Pension Seeblick genommen – noch bei der Toilette war. Ich band mir gerade den Selbstbinder vor dem Spiegel um, als es klopfte.

Es war das Stubenmädchen. – „Herr Mackelsohn, zwei Herren wünschen Sie und Herrn Himpel zu sprechen.“

„So?!“ Das klang sehr gedehnt. Da erschien Harst in der Balkontür. – „Es werden Bekannte aus der Branche sein, Mackelsohn,“ meinte er. „Nur rinn mit ihnen, Fräulein –“

Das Mädchen ging. Aber es hatte uns beiden einen so eigentümlichen Blick zugeworfen.

„Sehr faul!“ flüsterte Harst. „Es gibt fraglos eine peinliche Überraschung. Die Augen der blonden Lisbeth musterten uns, als wären wir plötzlich als Raubmörder entlarvt.“

Er setzte sich wieder auf den Balkon. – Abermals klopfte es. Diesmal war es ein älterer sehr großer Herr mit grauem Spitzbart, sehr gut angezogen, und – einer der Polizeibeamten von Saßnitz in Uniform, ein blonder Mensch mit hellen Fischaugen.

Der Beamte fragte sofort ziemlich barsch: „Ich möchte Ihre Papiere sehen. Sie sind doch Herr Himpel?“

Von der Balkontür kam die Antwort. „Ne, Herr Wachtmeister, Himpel bin ich. Das da ist Mackelsohn – Moses Mackelsohn.“

„Na – das ist gleichgültig. Ihre Papiere bitte.“

Harst langte in die Brusttasche, holte seine Brieftasche hervor, öffnete sie, faßte hinein, ließ die Hände aber wieder sinken.

„Weshalb verlangen Sie eigentlich unsere Papiere zu sehen?“ sagte er leicht gereizt. „Haben wir etwa gestohlen – he?! Und – wer ist jener Herr, Ihr Begleiter? – Gewöhnlich stellt man sich vor, wenn man zu Fremden kommt.“

Der Beamte blickte auf den Spitzbärtigen. Da polterte dieser schon los: „Wer ich bin?! – Das sollen Sie gleich erfahren! Sie segeln hier unter falscher Flagge, Sie beide, und wer weiß, was Sie in Wahrheit für lockere Vögel sind! – Ich bin nämlich August Habicht, Seniorchef der Firma in München, die Sie angeblich vertreten – angeblich! Unter meinen Angestellten gibt es weder einen Hugo Himpel noch einen Moses Mackelsohn – verstanden!“

Das war ja eine nette Überraschung! Harst hatte gerade eine Münchener Firma gewählt, weil wir hofften, diese würde in Norddeutschland keine Geschäfte machen. Und nun – nun mußte gerade der Seniorchef hier in Saßnitz auf uns aufmerksam werden! Ich war wirklich gespannt, wie Harst sich aus dieser Patsche herauswinden würde. Gewiß – er besaß ja einen Ausweis mit Photographie, ausgestellt vom Berliner Polizeipräsidium, daß er der Assessor a. D. Harald Harst aus Schmargendorf-Berlin, Blücherstraße 10, sei, und daß alle Behörden gut täten, ihn nach Kräften zu unterstützen, da er als Liebhaberdetektiv sich eines „geachteten Namens“ erfreue. Aber – wenn wir mit Hilfe dieses Ausweises aus dieser Klemme uns befreiten, dann war unser Inkognito zum Teufel und unser Erfolg stark in Frage gestellt. Es würde sich ja in kurzem hier und in den Nachbarbädern herumsprechen – von der Verschwiegenheit der braven Saßnitzer Polizei hielt ich nicht viel! – daß Harst, der berühmte Harst in einer Verkleidung, also zu einem ganz bestimmten Zweck – und so weiter – und so weiter.

Diese Gedanken schossen mir durch den Kopf. Da sagte Harst schon, und er steckte dabei die Hände in die Hosentaschen:

„Ich freue mich, Sie kennen zu lernen, Herr Habicht. Im übrigen möchte ich Sie bitten, schleunigst unser Zimmer zu verlassen. Sie scheinen nicht zu wissen, daß es in Minden in Westfalen eine Firma gleichen Namens gibt. Wir sind nicht Ihre Vertreter, sondern die der Mindener Firma, damit Sie beruhigt sind. Wir haben auch auf den Anmeldezettel ausdrücklich Minden geschrieben.“

Ich war starr. – Minden? – Allerdings: Harst hatte die Zettel ausgefüllt.

Der Beamte holte einen Zettel hervor, entfaltete ihn und brummte: „Die Schmiererei hier kann auch München heißen. Bitte – überzeugen Sie sich.“

Harst winkte ab. „Lassen Sie nur. Schon gut. – Adieu, Herr Habicht! Und – wegen der Beleidigung „lockere Vögel!“ sehen wir uns vor Gericht wieder. – Herr Wachtmeister, bitte, nennen Sie mir die hiesige Wohnung des Herrn da, der leider noch immer hier herumsteht. Ich werde Strafantrag wegen Beleidigung gegen ihn stellen, das bin ich schon der Firma Habicht, Minden, schuldig!“

Habicht-München stotterte eine Entschuldigung. „Ich bin gern bereit, in die hiesige Armenkasse etwas einzuzahlen,“ meinte er. „Dieser Irrtum meinerseits ist doch –“

„Hinaus, Herr!“ rief Harst. „Hinaus – sofort!“

Der Spitzbärtige drückte sich schleunigst. Harst reichte dem Wachtmeister aus seiner Zigarrentasche drei Importen mit Leibbinden. – „Da – Sie sollen nicht umsonst die zwei Treppen raufgekraxelt sein. – Wo wohnt denn dieser grimme Habicht?“

„Keine Ahnung, Herr Himpel. Er kam vor einer Stunde zu unserem Gemeindevorsteher aufs Bureau. Ich war gerade auch da. Er wetterte sofort los, meinte, Sie beide wären sicher gefährliche Gauner, und ließ niemand zu Worte kommen. Um ihn loszuwerden, schickte mich der Gemeindevorsteher mit.“

Gleich darauf waren wir allein. Ich lachte leise auf.

Da sah ich Harsts ernstes Gesicht, sah seine weit offenen grauen Augen förmlich flimmern. Und ich schwieg sofort. Denn diese Augen kannte ich. Es waren die Harald Harsts, wenn er etwas Wichtiges entdeckt hatte.

Er stand da und starrte dem Beamten nach. Dann holte er Hut und Stock aus seinem Zimmer.

„Auf Wiedersehen,“ – und weg war er.

Ich saß nun auf dem Balkon am Frühstückstisch und hatte doch keine rechte Freude an den weichen Eiern, dem Landschinken und der Strahlenbahn, die die Sonne auf die nur leicht bewegte See warf. Ich grübelte darüber nach, was in aller Welt es sein könnte, das Harsts Spüreifer wachgerufen hatte. –

Ich will kurz zusammenfassen, was wir bisher in der Toten Flunder von dem Fischer Wilhelm Steffke und dem Kapitän des Trajektdampfers Deutschland erfahren hatten. – Steffke, der einen Motorkutter besaß, hatte die Jacht am 15. April, also vor etwa fünf Wochen, zum ersten Mal gesehen. Sie begegnete ihm östlich von Stubbenkammer morgens gegen 7 Uhr bei nebligem Wetter. Ganz plötzlich hatte ein Windstoß damals die Nebelschleier weggeweht, und da hatte Steffke keine hundert Meter entfernt eine dunkelgrau gestrichene Zwölf-Meter-Jacht mit Kuttertakelung bemerkt, die mit prall gefüllten Segeln südwärts steuerte. An Bord hatte sich nur ein Mensch gezeigt im blauen Schifferanzug, Mütze auf dem Kopf und – vor dem Gesicht eine schwarze Maske. – Das war das erste Debüt der geheimnisvollen Jacht. Drei Tage darauf, wieder bei diesigem Wetter, traf der Trajektdampfer Deutschland sie nördlich von Stubbenkammer. Und abermals stand nur der Maskierte am Steuer. Wieder vier Tage später wurde sie von Fischern vor Arkona beobachtet (Nordspitze Rügens) und dann noch viermal abwechselnd von Steffke und anderen Fischern. Stets war das Deck der Jacht bis auf den einen Menschen leer gewesen, stets hatte sie ihre schnelle Fahrt fortgesetzt, ohne sich um die Nähe der Fischerkutter oder der Deutschland zu kümmern, aber stets war die Luft neblig gewesen, wenn sie gesehen wurde. – Das war eigentlich alles, was wir bisher über unsere Aufgabe wußten. Eins will und muß ich jedoch noch erwähnen. Besonders in Saßnitz hatte sich inzwischen um die Jacht ein förmlicher Legendenkranz gebildet. Steffke meinte allen Ernstes, sie wäre so etwas wie ein moderner fliegender Holländer. Der Kapitän der Deutschland erklärte: „Ein Schmugglerschiff natürlich – was sonst?!“ – Unser Pensionsvater wieder, ein früherer Kapitän, sagte: „Es sind Spione einer fremden Macht, die unsere Küstengewässer abloten.“ – Diese Ansicht des alten Herrn Hellmer fand die meisten Anhänger. Deshalb hatten auch die in Saßnitz stationierten Torpedoboote eine ganze Woche lang der Jacht Nacht für Nacht aufgelauert. Aber – sie zeigte sich nicht, zeigte sich erst in der achten Nacht, als die flinken Torpedoboote die Suche aufgegeben hatten und im Hafen geblieben waren. Abermals wurde nun von der Halbflottille auf See vier Nächte Patrouillendienst gehalten. Nichts! Und seitdem wäre die Jacht nicht wieder aufgetaucht. Dieser letzte Patrouillendienst war gerade an dem Tage beendet worden, als wir in Saßnitz eintrafen. –

Hiermit war unser Wissen erschöpft. Und mit diesem nichtssagenden Wissen sollten wir nun herausbringen, was das geheimnisvolle Fahrzeug hier an der Küste trieb! Eine böse Aufgabe, fürwahr! Jedenfalls hatten Harsts Wettgegner jetzt endlich etwas gefunden, das ihnen vielleicht – nein – sehr wahrscheinlich zum Siege verhalf.

Erst gegen 12 Uhr mittags erschien Harst-Himpel im Familienbad, wo ich gerade mich von der Sonne braten ließ, die es heute sehr gut mit den Kurgästen meinte. Wir badeten täglich, aber stets nur im flachen Wasser bis zum Halse, da unsere Bärte nicht ganz ehrlich fest gewachsen waren.

– – – – – – – –

Neben mir ruhte, gehüllt in einen koketten Bademantel, Fräulein Gerda Gerd, Filmschauspielerin dritter Güte aus Berlin, eine Zufallsbekanntschaft. – Harst begrüßte uns kurz, meinte dann: „Mackelsohn, der Chef hat soeben telegraphiert. Wir sollen schleunigst nach Holland, wo es große Seifenabschlüsse für die niederländische Kolonialarmee gibt. – Unser Zug geht 2 Uhr 40 Minuten. Ich habe schon gepackt.“

Dann stieg er ins Wasser, kam sofort wieder heraus, verabschiedete sich von Gerda Plauk, die sich als Künstlerin Gerda Gerd nannte und sich den Wind des Lebens offenbar schon recht kräftig um die schmale, zierliche Nase hatte wehen lassen, und verschwand in seiner Zelle. Auch ich sagte dem angehenden Filmstar lebewohl, und zehn Minuten später wanderten Harst und ich die steile Gasse zu unserem hochgelegenen Pensionat empor.

Auf meine Frage, weshalb er morgens so plötzlich davongelaufen sei und was er bis jetzt getan habe, bekam ich zunächst keine Antwort. Dann, mitten auf der steilen Gasse, blieb er stehen, schaute sich um und flüsterte: „Die Geschichte fängt an, interessant zu werden, Mackelsohn. Natürlich war der Habicht-München ein Spion. Das haben Sie doch auch gemerkt, nicht wahr?“

„Leider nicht,“ erwiderte ich.

„So so – also nicht, lieber Mackelsohn. Und doch – eigentlich war’s doch so einfach, den Kerl zu durchschauen. Ich roch sofort Lunte, als er bei der Vorstellung seinen Titel Kommerzienrat vergaß. Das tut kein echter Kommerzienrat, – und der Münchener Habicht ist Kommerzienrat. Ja – man muß in unserem Beruf auch Menschenkenner sein. – Also – der Mann erschien mir etwas unecht. Daher stellte ich ihm die Falle mit Habicht-Minden. Gewiß – ich hatte absichtlich auf den Meldeschein München ganz undeutlich geschrieben – aus Vorsicht. Als ich nun daraus dem Wachtmeister und dem Spitzbärtigen gegenüber Minden machte, da hätte der falsche Habicht sofort rufen müssen: „Schwindel – in Minden existiert keine solche Firma!“ Aber – er tat’s nicht, und – da wußte ich Bescheid! Wäre er „echt“ gewesen, hätte er unbedingt jedes Konkurrenzgeschäft gekannt, hätte also sofort erkannt, daß ich mich herauszulügen suchte, da es ja tatsächlich in Minden keinen Parfüm-Habicht gibt und ich eben nur hatte auf den Strauch schlagen wollen. – Nicht nur dies war belastend für den Kerl. Besinnen Sie sich: er läuft zum Gemeindevorsteher, schlägt dort Lärm, aber – er läßt niemand sonst zu Worte kommen, nennt auch nicht seine hiesige Wohnung! – Nun – ich kenne diese Wohnung jetzt, lieber Mackelsohn. Ich bin drei Stunden unterwegs gewesen, immer zu Fuß. Und – jetzt reisen wir ab, weil – na, weshalb wohl?“

„Weil wir erkannt sind!“

„Sehr richtig. – Vorwärts aber, viel Zeit haben wir nicht mehr. Und – wundern Sie sich nicht zu sehr, wenn auch Gerda Gerd plötzlich den Staub dieses schönen Terrassenortes von ihren Strandschuhen schüttelt.“ –

Auf dem Bahnsteig trafen wir sie wirklich. Und Harst belegte für uns drei Plätze, Raucherabteil; wir fuhren allein, und zu meinem maßlosen Erstaunen vertraute Harst ihr dann sehr bald an, wer wir in Wahrheit wären, erzählte ihr auch von unserer schwierigen neuen Aufgabe, die er nun leider jetzt sofort nicht bewältigen könne, da seine Mutter schwer erkrankt sei, zeigte ihr auch die Depesche und bat Gerda Gerd, doch ja strengste Verschwiegenheit über unsere kurze Anwesenheit in Saßnitz zu bewahren, wohin er in etwa drei Wochen bestimmt zurückzukehren hoffe.

Gerda drückte Harst ihre wärmste Anteilnahme wegen der Krankheit Frau Harsts aus und bemerkte dann plötzlich zu ihrem Entsetzen, daß sie ihr im Bette verstecktes Brillantenhalsband vergessen hatte. Zum Glück kreuzten sich in Bergen die Züge. Sie fuhr also sofort nach Saßnitz zurück.

Nun waren wir allein. Nun gab Harst den Mackelsohn und den Hugo Himpel völlig auf und begann:

„Mein lieber Schraut, – ich sagte ja bereits: die Geschichte wird interessant! – zunächst die Gerda Gerd. Sie wohnte in Saßnitz seit dem 10. April, nicht, wie sie uns vorlog, seit dem 10. Mai. Sie wohnte bei einem verheirateten Oberbootsmannsmaat der Torpedohalbflottille[1], den sie leicht aushorchen konnte, wann die Boote wieder patrouillieren wollten. Und – unser Herr Habicht war bei ihr, nachdem er uns heute früh hatte verlassen müssen infolge meines energischen Hinaus!“

Er machte eine Pause. Ich saß stumm und steif da. Daß die Gerd nicht harmlos war, hatte ich ja bereits aus seiner Bemerkung über „Staub von den Strandschuhen schütteln“ herausgehört. Doch das Weitere?! – Da fuhr er schon lebhafter fort: „Die Gerd erschien mir sofort nicht ganz einwandfrei, als sie sich gestern an uns heranschlängelte. Deshalb spürte ich ihr auch so ein wenig nach. Eine telephonische Anfrage bei unserem Freunde, Kommissar Bechert, in Berlin hatte den Erfolg, daß ich erfuhr, es gäbe dort keine Filmschauspielerin Gerda Gerd. Da war aus dem „nicht ganz einwandfrei“ ein „stark verdächtig“ geworden. – Und nun zu Habicht-München. Beinahe hätte ich ihn nicht mehr erwischt. – Ich will mir weitere Einzelheiten sparen. Schließlich fand ich ihn in der Post. Er hat dort eine Depesche aufgegeben. Dann ging er zu der Gerd. Das Haus kannte ich ja bereits. Die Gerd begleitete ihn bis zur Kreidefabrik hoch oben über Saßnitz. Inzwischen hatte ich mir einen Jungen geheuert, so einen kleinen Lumpen, aus dem die Badegäste ein Erwerbsgenie gemacht haben. Der Knirps hat dann zwischen dem Langen und mir den Verbindungsmann gespielt, so daß ich weit zurückbleiben konnte. Eine Stunde verfolgte Habicht-München den an der Steilküste nach Stubbenkammer zu entlangführenden Weg. Dann kam mein kleiner Kundschafter auf mich zugelaufen und meldete, der Herr wäre nun dort vor uns in der kleinen Villa verschwunden. Er meldete noch mehr, was ich als Hintermann nicht hatte wahrnehmen können: der Herr hätte in einem Gebüsch sich eine Mütze aufgesetzt und plötzlich keinen Bart mehr gehabt. – Ich gab dem Knirps zehn Mark. Und er sollte noch zehn Mark erhalten, wenn er über dieses Nachschleichen niemandem etwas sagte. Er wird schweigen. Ich weiß, wo er wohnt, und vielleicht kann er mit unserem Karl zusammenwirken, den ich nach Stralsund beordern werde.“

Karl ist ein fünfzehnjähriger, sehr heller Berliner Junge, dessen Mutter, eine Witwe, bei Harst in einem Gartenhäuschen wohnt.

„Nachdem der Knirps sich getrollt hatte, schlich ich auf die Villa zu, blieb aber in vorsichtiger Entfernung, konnte nichts Besonderes erspähen, kehrte um und erkundigte mich in Saßnitz bei ein paar Leuten auf der Straße, wem jene Villa dort so weit draußen gehöre. Erst der vierte Mann, ein Zollbeamter, konnte mir Auskunft geben. Die Villa hätte seit Anfang April ein Schriftsteller gemietet, ein Herr Klimke aus Berlin; er hause dort zusammen mit seiner Frau und einem Freunde. – Das war alles. – Also Klimke, Schriftsteller, lieber Schraut, das wollen wir uns merken. – Wir fahren jetzt bis Stralsund. Dort verwandeln wir uns, dort erwarten wir Karl. Meiner Mutter depeschiere ich, daß sie sofort für einige Zeit [in][2] ein Sanatorium muß – Brief folgt. Sie muß auch ausstreuen, ich würde ihr im Sanatorium Gesellschaft leisten, und Sie, Schraut, wären zu Ihren Eltern – sagen wir nach Schlesien gereist. Wenn wir je Grund zur Vorsicht bis ins Kleinste gehabt haben, so ist’s hier der Fall! Wir kämpfen hier gegen Leute, die irgend etwas ganz Großzügiges betreiben oder planen, die über allerlei Hilfskräfte verfügen, die ihre Fühler bis – in den Universum-Klub ausgestreckt haben müssen, – denn woher sonst wohl ihr Argwohn gegen uns, woher sonst wohl Habichts-München Besuch bei uns, der doch nur den Zweck hatte, festzustellen, ob wir vielleicht Harst und Schraut seien! Nur diesen Zweck – das steht außer Zweifel! – Ja, Schraut, diese Leute wußten, daß wir es mit der geheimnisvollen Jacht aufnehmen wollten, diese Leute haben uns erwartet! Mithin ist abermals unsere Aufgabe irgendwie verraten worden, obwohl doch nur noch der Drei-Männer-Ausschuß der Wettgegner die Aufgaben festlegen und – darüber tiefstes Schweigen bewahren sollte! Wie, wie nur hat dieser Verrat geschehen können?! – Nun, das festzustellen, ist eine spätere Sorge. Jetzt heißt es: nach Stralsund – und dann zurück nach Saßnitz, aber in einer Verkleidung, die uns ganz sicher vor dem Erkanntwerden schützt!“

Ich begriff Harsts Eifer nicht recht. Die Beweise dafür, daß der lange Spitzbärtige, daß Gerda Gerd und die Villa an der Steilküste mit der Jacht irgendwie zusammenhingen, erschienen mir doch recht lückenhaft. Ich sprach dies jetzt auch ganz ehrlich aus.

Da legte Harst mir die Hand schwer auf das Knie, sagte:

„Schraut – vor der Villa, weithin sichtbar, steht eine Fahnenstange von solcher Höhe, wie sie niemand zum Schmuck seines Vorgartens errichten läßt. Und – die Stange ist ganz neu, ist noch ungestrichen, aber sie hat – nicht weniger als drei Zugleinen, die zur Spitze führen. – Signale nach See hin, Schraut, – Signale! Am Tage durch Flaggen, nachts durch Laternen. – Und die Gerd, das ist die Spionin bei dem Torpedomaat! – Verstehen Sie nun? – Und – soll es denn ein bloßer Zufall sein, daß die Villa Anfang April gemietet wird, daß die Gerd am 10. April in Saßnitz auftaucht und – am 15. April die Jacht zum ersten Mal?!“

– – – – – – – –

Ich muß jetzt schildern, wie genial Harst die Gelegenheit ergriff, uns zu der vielleicht merkwürdigsten Verkleidung zu verhelfen, die wir je getragen haben. Ich will mich jedoch kurz fassen. – Der Zug fuhr, kaum daß wir unser Gespräch beendet hatten, dessen Schluß Harsts Bemerkung über „sich nicht gern blamieren“ war, in die Station Samtens ein, wo er fünf Minuten Aufenthalt hat. Unser Wagen war der vorletzte des Zuges und kam etwas außerhalb des Stationsgebäudes zu stehen. Harst rief mich ans Fenster, zeigte hinaus, sagte: „Was meinen Sie, Schraut, – würde das genügen?“ – Er sprach hastig. Als ich nicht gleich antwortete, denn ich wußte nicht, was eigentlich „genügen“ sollte, rief er ungeduldig: „Hinaus mit uns – schnell! Es genügt sicher!“

Dann gingen wir mit unseren Handkoffern und -taschen und so weiter durch die Sperre, bogen rechts ab, kamen auf die Chaussee, wo ein Kreis von Kindern und Erwachsenen einen kleinen, grüngestrichenen Zirkuswagen und einen Mann umstand, der einen braunen Bären, einen Pudel und einen in Uniform steckenden Affen Kunststücke machen ließ.

Drei Stunden später hatte Harst in aller Heimlichkeit von dem angeblichen Zigeuner, der in Wahrheit ein waschechter, ganz geriebener Spreeathener war, den Wagen und alles andere für vierzehn Tage für 1000 Mark und 2000 Mark Kaution gemietet, unter der Bedingung, daß Fritz Schlump und Familie (Frau und zwei Jungen) dieses Geschäft vor jedermann geheim hielt.

Schlump, der sich recht naturgetreu als Zigeuner herausgeputzt hatte, hielt uns wohl zunächst für Witzbolde, dann aber, als er die drei braunen Lappen einsteckte, fraglos für verrückt.

Und am folgenden Abend ging dann die Reise los – gen Saßnitz. Wir hatten Schlumps Papiere mit, und der inzwischen in Samtens eingetroffene Karl war der älteste Sohn, ich Frau Olga Schlump, und Harst der Besitzer des Zirkus „Kolossal“. Unser Äußeres entsprach ganz unseren Rollen, und unsere Daseinsführung paßten wir nach Möglichkeit der der Familie Schlump an.

Ich habe Harst nie wieder in so glänzender Laune gesehen wie damals. Er, der für gewöhnlich so tiefernste, schweigsame, freute sich über seinen Einfall und diese Reise als „fahrende Leute“ mehr als über seine glänzendsten Erfolge. Mit unserer vierköpfigen Menagerie – denn außer Bär, Hund, Affe war ja noch das Zugpferd Minni, ein Klepper von sinnverwirrender Häßlichkeit, vorhanden, freundeten wir uns infolge dreifacher und besserer Futterrationen schnell an. Der Pudel Moritz besonders, den Schlump offenbar sehr roh behandelt hatte, hing bald mit solcher Zärtlichkeit an Harst, daß dieser ihn nachher behielt. Er besitzt ihn noch heute.

Ohne irgendwo längere Rast zu machen, zogen wir die Chaussee gen Saßnitz entlang. Nachts kutschierten wir abwechselnd. Der Bär Peter trottete stets angebunden hinter dem Wagen drein.

Am Abend des zweiten Tages begegnete uns ein Gendarm. Wir zeigten die Papiere vor. – „Wo ist der zweite Junge?“ fragte er. – „Bei der Jroßmutter in Berlin,“ erklärte ich mit heiserer Stimme und sog weiter an meiner Zigarre, denn Zigeunerinnen sollen ja den Tabak in jeder Form lieben.

Am dritten Tage nachmittags langten wir in Saßnitz an und bezogen in einer Kneipe Quartier, deren Wirt wir durch Vorausbezahlung für acht Tage – einschließlich Essen und Futter 160 Mark – uns zum Freunde machten. Unser Wohnwagen stand auf dem Hof dicht neben einem leeren Ziegenstall, in dem Peter untergebracht war. Da der Wagen alle für Schlumps nötigen Bequemlichkeiten bot, verlangten wir keinen Schlafraum, sondern hausten weiter darin. Der Wirt, ein früherer Seemann namens Treibke, hielt uns für vollkommen „echt“, zumal wir „unser Geschäft“ inzwischen genügend erlernt hatten.

An diesem Tage unternahm Harst noch nichts. Aber nach Dunkelwerden verschwand er mit einem kurzen „Auf Wiedersehen“ ganz plötzlich. Karl und ich saßen in dem winzigen Wohnraum des Wagens bei einer Petroleumlampe und lasen „Karola, die gefallene Gräfin, oder das Geheimnis des Totenturms“, – ein Werk, das offenbar Schlumps Lieblingslektüre, nach den zahlreichen Fettflecken zu urteilen, gewesen sein mußte. Dann ging ich zu Bett, schlief auch bald ein. Um Mitternacht erwachte ich. Die Lampe nebenan brannte noch, und es stank nach Petroleumdunst. Ich rief nach Karl. Niemand meldete sich. – Wahrhaftig – er war in aller Stille ausgekniffen, natürlich um irgendwo auf eigene Faust zu spionieren. Was wir vorhatten, wußte er ja. – Ich war völlig munter geworden. Auch der Affe Fips und Moritz regten sich. Der Pudel kam zu mir, wollte gestreichelt sein. Es war ein Pudel-Mann, aber er verlangte mehr Zärtlichkeit als ein Weib. – Ich fürchtete für Karl. Harst verstand in solchen Dingen keinen Spaß. Selbständige Arbeit seiner Hilfskräfte schätzte er nicht. – Zufällig blickte ich dann nach Karls Strohsack, der zur Nacht immer in den Küchenverschlag gelegt wurde. Ah – so ein kleiner Lump! Er hatte da unter der Wolldecke eine Art Puppe hergestellt, die man bei flüchtigem Hinsehen für die Gestalt eines ausgestreckt Daliegenden halten mußte! – Ich schraubte die Lampe höher, ließ den Qualm abziehen und ging beruhigter wieder zu Bett. Harst würde nichts merken, hoffte ich, falls er vor Karl heimkehrte. Gegen sechs Uhr morgens stand ich auf. Harst war da und schlief in dem schmalen Bett mir gegenüber noch fest. Auch Karl lag auf seinem Strohsack. Ich ging sehr leise auf den Hof und fütterte Peter, den Bären, der mein erklärter Liebling und lammfromm war. Da tauchte Karl neben mir auf, tat ganz harmlos. Ich hielt ihm seine Eigenmächtigkeit vor. Er war überrascht, daß ich seine List entdeckt hatte, gelobte Besserung und erzählte mir dann folgendes. – Er war nach der einsamen Villa gewandert, hatte sie auch gefunden und dort eine Stunde im Garten auf der Lauer gelegen. Um ein Uhr morgens war ein sehr großer Mann aus dem Hause gekommen und hatte an der[3] Fahnenstange drei Laternen – rot, grün, rot – gehißt, war dann bei der Fahnenstange stehen geblieben und hatte andauernd in kurzen Zwischenräumen an einer Leine gezogen. Da war der Junge weiter nach dem Rande der Steilküste hin geschlichen und hatte nun gesehen, daß die drei farbigen Laternen, die nur recht schwach leuchteten, wahrscheinlich durch eine drehbare Scheibe abgeblendet werden konnten, so daß ihr Lichtschein nur immer ganz kurz sich zeigte. Um zwei Uhr hatte Karl den Rückweg angetreten und wäre dabei auf der nach Saßnitz führenden schmalen Landstraße, die bei der Villa endete, beinahe einem zweiten Mann in die Arme gelaufen, der dort fraglos als Wache auf und ab ging. Er hatte diesen Mann noch eine halbe Stunde beobachtet und war nun heim geeilt. Harst war bereits zu Hause; die Lampe war ausgelöscht, und die Wagentür verschlossen. Karl hatte aber das Fenster des Küchenverschlages vorher nur angelehnt gehabt und konnte daher trotz der verriegelten Tür hinein.

„Herr Harst hat also ganz recht gehabt,“ meinte Karl nun. „Die Leute geben wirklich Signale nach See hin.“

„Natürlich, Junge! – Wozu aber? – Für die Jacht sind die Signale bestimmt – gewiß! Aber – welchen Zweck haben sie?“

Wir rieten hin und her. Wir wurden daraus nicht klug. – Dann meldete Harst sich. Der Wohnwagen hatte vor dem Eingang eine kleine Plattform. Dort stand er mit seinem geflickten Wams, dem roten Halstuch und dem langen schwarzen Schnurrbart, den wirr in die Stirn hängenden schwarzen Haaren, und – rauchte eine seiner Mirakulum mit fast völlig zugekniffenen Augen.

„Guten Morgen!“ hatte er leise gerufen. „Laßt Euch nicht stören. Aber – setzt dem Peter hier auf dem Hof doch den Eisenmaulkorb auf. Vorsicht ist immer am Platze. Raubtiere sind unberechenbar.“

Er rauchte – Mirakulum! Das bedeutete erhöhte Geistesarbeit! Wer weiß, was er in der Nacht erlebt hatte, wer weiß, wie sein Hirn dies verarbeitete!

Karl mußte dann im Küchenverschlag auf dem eisernen Herd Kaffee kochen. Der Wirt Treibke verpflegte uns nur mittags und abends mit warmen Mahlzeiten.

Harst hatte jetzt die Mandoline im Arm, zupfte darauf einen Walzer, pfiff gleichzeitig die Melodie mit und ließ Peter vor dem Ziegenstall tanzen. Treibke, Frau, Kinder und ein paar Sommergäste kamen und sahen zu. Nachher ging ich mit dem Tamburin einsammeln. So verdienten wir schon um acht Uhr morgens 72 Pfennig. Dann wurde Peter wieder eingesperrt, das Hofpublikum verlief sich und Harst setzte sich auf einen Holzklotz vor den Stall.

„Na, was hat Karl denn ausgekundschaftet?“ meinte er und zupfte auf der Mandoline das Lied: „Du bist zu schön, um treu zu sein –“

Ich wurde etwas rot. „Sie wissen also,“ stotterte ich.

„Ich habe ihn ja selbst bei der Villa beobachtet, Schraut. Er benahm sich recht gewandt. Der Rüffel bleibt ihm erspart, auch deswegen, weil die Idee mit der Puppe unter der Decke Anerkennung verdient. – Berichten Sie –“ – Ich tat’s. Als ich fertig war, schwieg er erst eine Weile.

„Sie heißt wahrscheinlich Jolante, die Jacht, lieber Schraut, – Jolante, die große Unbekannte,“ sagte er nun. „Schraut, ich war etwas kecker als Karl. Der am Mast hatte hinter sich die Haustür nur angelehnt. Ich erlaubte mir, die Villa von innen zu besichtigen, zumal ich vorn hinter den geschlossenen Holzläden zwei Fenster erleuchtet sah. Ich klinkte links im Flur beim Schein meiner Taschenlampe sehr behutsam eine Tür auf, kam in ein völlig leeres Zimmer, hörte aber nebenan sprechen und sah durch das Schlüsselloch nicht nur einen dünnen Lichtstreifen hindurchfallen, sondern sah auch in dem Zimmer an einem primitiven Fichtentisch auf ebenso billigen Stühlen zwei Damen sitzen, die Zigaretten rauchten und sich unterhielten. Die eine ist Ihnen, im Bademantel, auch sonst bekannt –“

„Gerda Plauk – Gerda Gerd natürlich.“

„Natürlich! – Die andere war jünger, – gediegener. Sie machte mehr die Zuhörerin, lauschte oft, schien sehr ängstlich, sagte ganz unvermittelt dann und tupfte heimlich ein paar Tränen ab: „Wenn nur erst diese Sache vorüber wäre. Diese Jolante wird uns noch –“ Den Rest verstand ich nicht. – Die Gerda zuckte etwas geringschätzig die Achseln. – „Sie sind ’n richtiger Angstmeier, Frau Hella,“ hörte ich ganz deutlich. – Dann erschien es mir angebracht, das Haus wieder zu verlassen. – Kurz nach zwei Uhr morgens stellte der Mann am Mast seine „verdunkelnde“ Tätigkeit ein, schritt auf den etwa dreißig Meter entfernten Abhang zu, der sehr steil und sehr tief zur See abfällt, und verschwand hier in einem Gestrüpp von Brombeeren und Krüppelkiefern. Ich kroch hinterdrein. Und – was entdeckte ich? –: einen sehr schlau angelegten elektrischen Hebekran, der offenbar durch Akkumulatoren von der Villa aus gespeist wird. – Ich kam gerade noch zur rechten Zeit, um den Mann in einem Korb in der Tiefe verschwinden zu sehen. Mein Fernglas zeigte mir dann unten auf See einen dunklen Fleck, von dem sich bald ein kleinerer loslöste – ein Boot. Eine Viertelstunde darauf begann der kleine Elektromotor zu surren und holte erst den Mann, dann – drei Kisten nach oben. Als ich wieder nach dem dunklen Fleck – es muß die Jacht gewesen sein – ausschaute, war er nicht mehr sichtbar. Nun kehrte ich heim und war genau fünf Minuten vor Karl zu Hause – in unserer fahrbaren Mietwohnung.“

Eine kleine Pause. Dann: „Na, Schraut, – was treibt die Jacht?“

„Schmuggel!“ erklärte ich bestimmten Tones.

Harst nickte. „Ja – Schmuggel! – Ich habe immer nur an Schmuggler gedacht. Militärische Spionage ist Unsinn. Genaue Seekarten mit Tiefenangaben der Küstengewässer gibt’s überall zu kaufen. Es können nur Leute sein, die von Schweden sehr wertvolle Dinge einschmuggeln, die hier bei uns hoch verzollt werden müssen. Ich bin nun leider mit unseren Zollgesetzen und -verträgen wenig vertraut, werde mich aber darüber schleunigst genau unterrichten. Ich muß wissen, welche zollpflichtigen Waren in Betracht kommen könnten. – Also Schmugglerjacht[4] ist die Jolante, – und doch … Mich befriedigt diese Lösung gar nicht. Ich habe so das Gefühl, sie ist trügerisch. – Schade, daß die beiden Damen in dem so traurig-ärmlich ausgestatteten Zimmer – man merkt, daß Klimke die Villa nur ihrer einsamen Lage wegen, nicht zu dichterischem Schaffen, gemietet hat! – nicht Näheres über Jolante äußerten. Frau Hella sah sehr sympathisch aus – sehr. Ein reines Engelsköpfchen, und blutjung. Sie muß die Frau des Langen am Mast sein. Dieser Lange war unser Freund Habicht-München. Hella lauschte ja so oft in den Garten hinaus. Dem Wächter kann diese sorgende Angst nicht gegolten haben, denke ich. Daher meine Annahme, Hella ist Frau Habicht-München. Wer von den beiden Männern der Schriftsteller sein will, wissen wir ja noch nicht.“

Da rief Karl: „Der Kaffee ist fertig!“ – Wir nahmen ihn auf dem Hof ein. Und Moritz und Fips, der Affe, leisteten uns Gesellschaft.

– – – – – – – –

Der Zirkus Kolossal unternahm am Vormittag dann eine Wanderung durch Saßnitz. Frau Schlump, also ich, durfte nicht mit. Harst hatte mich beauftragt, nach dem nahen Seebad Binz zu wandern und dort (aus Vorsicht sollte ich dies nicht in Saßnitz selbst besorgen) alles an Büchern einzukaufen, was über Zollwesen handelte.

Mittags war ich wieder zurück. Der Zirkus hatte 10 Mark 31 Pfennig verdient, wie Karl mir stolz erzählte. Harst war nicht daheim. – „Er wollte noch baden gehen,“ erklärte Karl.

„Baden?!“ meinte ich. „Ob Fritz Schlump, der echte, wohl auch Sehnsucht nach Seewasser gehabt hätte?!“

Karl grinste. „Herr Harst hat mich natürlich beschwindelt,“ sagte er. „Der weiß ganz gut, daß Baden nicht zu Fritze Schlump paßt.“

Das Bad dehnte sich bis 2 Uhr nachmittags aus. Wir hatten längst Mittag gegessen, als Harst erschien. Karl holte ihm die warm gestellte Mahlzeit. Als der Junge im Hintereingang der Kneipe verschwunden war, meinte Harst:

„Ich war auch in Binz. Aber in der Apotheke. Sie, lieber Schraut, werden heute abend schwer erkranken.“

Dann griff er nach den Büchern über Zollwesen und überhörte meine Frage, weshalb ich erkranken sollte, gänzlich.

Nachmittags schlief Harst bis gegen halb sieben. Karl und ich mußten indessen den Wagen frisch streichen und die Inschrift „Zirkus Kolossal“ in Rosa erneuern. Wir aßen dann Abendbrot, wieder auf dem Hofe auf einer leeren Kiste. Harst unterhielt sich mit Frau Treibke dabei, teilte ihr auch mit, daß er mit mir sofort nachher nach Stubbenkammer wandern würde, damit wir dort Peter und Fips für die Besucher des Königsstuhls (bekanntlich der höchste, weit überhängende Kreidefelsen) ihre Künste zeigen lassen könnten. Karl würde hier auf Minni, das Zugpferd, auf Moritz und den Wagen derweilen achtgeben.

Frau Treibke, die Gemütlichkeit und Gutmütigkeit selbst, meinte darauf, wir sollten erst morgens aufbrechen, denn wir würden ja erst nachts in Stubbenkammer ankommen. Aber Harst blieb bei seinem Entschluß.

Karl Malkes Gesicht kann man sich vorstellen. Daß er nicht mit durfte, war für ihn schlimmer als eine Tracht Prügel.

Erst gegen acht Uhr verließen wir Saßnitz. Harst hatte Peter an der Kette, auf dem Fips in seiner Uniform thronte. Ich trug die Mandoline, mein Tamburin und einen schäbigen Rucksack mit recht buntem Inhalt. Eine Schar Kinder begleitete uns bis weit hinter die Kreidefabrik. Dann waren wir allein auf dem Wege zur Villa Klimke.

Ich war sehr gespannt, was nun werden sollte. Daß Harst es auf die Villa abgesehen hatte, stand ja außer Zweifel, obwohl er bisher stets so getan, als würden wir tatsächlich nach Stubbenkammer wandern.

Er war schweigsam und nachdenklich. Er schritt vor mir her. Hinter ihm drein trottete Peter, dem Fips unermüdlich Flöhe absuchte. Nach einer halben Stunde sagte Harst dann, den Kopf zurückdrehend:

„Schraut – die Jolante kann keine Schmugglerjacht sein. Wir sind auf falscher Fährte –“

Ich blieb nun neben ihm.

„Zweifel hegte ich ja immer, daß die Lösung so einfach sein sollte,“ fuhr er fort. „Ich werde Ihnen jetzt auch sagen, weshalb. Oder besser: Sie sollen selbst darauf kommen. Denken Sie mal an die Lichtsignale.“

Gehorsam wie meist tat ich’s, freilich von vornherein in der Überzeugung, daß es zwecklos wäre. Es gehörte ein größerer Scharfsinn als der meine dazu, lediglich aus den Lichtsignalen die Schlußfolgerung zu ziehen, es handele sich um andere Dinge als Schmuggel.

„Ich bedaure – mein Geist streikt heute,“ erklärte ich nach einer Weile.

„Aber – aber! Die Sache ist doch so klar. Und ich schäme mich, weil ich nicht sofort, sondern erst heute nachmittag darauf gekommen bin. – Lichtsignale. Darunter kann man zweierlei verstehen. Einmal etwas ähnliches denen der Leuchttürme, das heißt Lichtzeichen, die sich dauernd gleichbleiben. Wir haben Leuchttürme mit sogenanntem festen Licht, solchem, das ununterbrochen in die Nacht hinausstrahlt, und andere mit Blinkfeuer, bei denen nur Licht für eine bestimmte Dauer erscheint. – Dann zweitens: Signale, bei denen durch Lichtblitze von verschiedener Leuchtdauer Mitteilungen in die Ferne gesandt werden, also Lichttelegraphie. – Was kommt nun hier in Frage, Schraut, – eins oder zwei?“

Ich überlegte diesmal recht sorgfältig meine Antwort. Karl hatte mir berichtet, der Mann am Mast hätte ganz regelmäßig die drei Laternen abgeblendet. Von Telegraphie konnte also keine Rede sein.

„Eins,“ erwiderte ich nun.

„Freilich – etwas Leuchtturmähnliches! – Und weiter jetzt: Der Mann hat fast anderthalb Stunden mit wahrer Engelsgeduld an der Leine gezogen, hat also sozusagen das Blinkfeuer eines Leuchtturms markiert. – Weshalb dies? – Bedenken Sie, Schraut, die Jacht ist doch schon so und so oft hier in der Nähe beobachtet worden. Ihr Führer muß also diesen Punkt der Küste längst ganz genau kennen und muß ihn auch ohne das Blinklicht finden! Er könnte fraglos, falls Schmugglerware ausgebootet werden soll, ohne die Signale dies fertig bringen! Und – die Leute würden auf die gefährlichen Lichtzeichen, durch die sie leicht jemanden auf die Villa aufmerksam machen können, ebenso fraglos gern verzichten, wenn diese drei Laternen lediglich als Leuchtturm, als Wegweiser dienten. Sie verzichten aber nicht trotz der steten Gefahr, sich zu verraten, und daher –“

„– daher handelt es sich um keinen Wegweiser für Schmuggler,“ ergänzte ich, da er von mir die Beendigung seines Satzes erwartete.

„Stimmt! – Und Schmuggler sind’s deshalb auch nicht, weil die drei Kisten, die das Boot gebracht hatte, recht klein waren, und weil die fremden, an die Ostsee grenzenden Staaten keinerlei Waren ausführen, die geringen Raum beanspruchen und die dabei hier hoch verzollt werden müßten. Lediglich der Kisten wegen hat der Mann nie und nimmer fast anderthalb Stunden lang an dem Mast ausgeharrt, lediglich dieser Kisten wegen ist die geheimnisvolle Jacht in der verflossenen Nacht hier nicht abermals aufgetaucht, – nein, niemals! Wenn’s Schmuggler wären, brauchten sie nicht das gefährliche Blinkfeuer, dann würden sie auch ihr Fahrzeug bis oben hin beladen und nicht bloß drei Kistchen an Land schaffen! – Auf falscher Fährte also, lieber Schraut! Die richtige können wir nur an Ort und Stelle finden. Deshalb war ich in Binz und habe – Brechweinstein eingekauft. Hier in dieser Flasche habe ich ihn in Kaffee aufgelöst. – Es tut mir leid, daß Sie davon trinken müssen, Schraut. Aber – eine kranke Frau wird eher Mitleid erregen und in der Villa Klimke aufgenommen werden, als wenn ich plötzlich schwere Magenkrämpfe bekäme. – Da – trinken Sie. Es geht nicht anders.“

Und ich trank. Mit welchem Gefühl, wird jeder begreifen. Doch, ich sah ein, – es war wirklich die unauffälligste Art, bei Klimkes Aufnahme zu finden.

Harst hatte alles sehr genau berechnet. Etwa zweihundert Meter vor dem einsamen Hause stellte sich die Wirkung ein. Ich brauche sie nicht näher zu schildern. Ich legte mich an den Wegrand, und Harst eilte auf die Villa zu, nahm Peter und Fips aber mit.

Bereits nach fünf Minuten kehrte er ohne unsere Menagerie in Begleitung eines mittelgroßen Herrn mit blondem Schnurrbärtchen und einer Dame zurück. Er redete diesen mit „Herr Klimke“ an. Man brachte mich dann nach dem Hause, wo man uns ein Hinterzimmer zu ebener Erde anwies, das vollständig leer war. Wir erhielten dann aber Decken und zwei Strohbündel, und die Dame – es konnte ja nur Frau Hella sein – war wirklich sehr mitfühlend und hätte mich am liebsten selbst gepflegt, was „mein Mann“ aber nicht zuließ. Auch Essen bekamen wir, heißen Tee, kalten Braten, Wurst, Schinken. Peter und Fips waren unten im Keller eingesperrt worden. Alles in allem benahmen [sich][5] die drei Bewohner der Villa, denn auch Habicht-München ließ sich bei uns sehen, sehr warmherzig.

Mir ging es dann bald etwas besser, und als wir allein waren, reichte mir Harst eine zweite Flasche, die guten alten Kognak enthielt und die die Wirkungen der ersten sofort beseitigte. Als Beleuchtung hatte Frau Hella uns eine Petroleum-Küchenlampe gebracht.

Harst streckte sich sehr bald auf sein Strohlager hin und blies die Lampe aus. Draußen war es jetzt völlig finster. Es begann auch zu tröpfeln.

Dann plötzlich Harsts Stimme dicht neben mir: „Vorsicht. Man belauscht uns vom Nebenzimmer aus.“ – Er schlich auf sein Lager in der anderen Ecke zurück, fragte nun ganz laut:

„Na, Olja, jeht’s Dir besser?“

„’n bißken,“ erklärte ich kläglich. Darauf wünschte er mir nochmals gute Nacht.

Aber – zur Ruhe kamen wir noch lange nicht. – Es klopfte, und die beiden Männer traten mit einer Stehlampe ein. Jetzt machte der Lange, Glattrasierte, den Sprecher.

„Uns ist es doch zu unheimlich, daß der Bär so ohne Aufsicht im Keller eingesperrt ist,“ sagte er zu Harst. „Wir haben für Sie und Ihre Frau daher einen anderen Kellerraum schnell etwas wohnlich hergerichtet, der auch einen Verschlag für den Bär hat. Kommen Sie, wir helfen beim Umzug –“

Gleich darauf befanden wir uns in dem neuen Quartier. Harst hatte auch Peter und Fips in den Verschlag gebracht. Abermals löschte er die Lampe aus. Er hatte aber unsere Matratzen und Decken jetzt dicht nebeneinander gelegt, so daß wir bequem miteinander flüstern konnten.

„Die Bande ist schlau,“ begann er. „Die niedrigen Fenster hier sind vergittert. Und ich wette, der Kellereingang ist jetzt verschlossen, so daß ich nicht hinaus kann. Die Leute haben sich eben erst nachträglich überlegt, daß wir ihnen als Gäste da oben zu gefährlich sind. Jetzt können wir sie nicht irgendwie überraschen, weil wir eben so gut wie gefangen sind.“

„Glauben Sie, daß sie Argwohn geschöpft haben?“ flüsterte ich zurück.

„Durchaus nicht! Sie sind eben nur auf ihre Sicherheit bedacht und wollen für sich jeden unangenehmen Zwischenfall vermeiden. Trotzdem werde ich –“ Er schwieg plötzlich, fing furchtbar zu schnarchen an.

Dann nach einer Weile: „Es war jemand an der Tür. Jetzt ist er wieder fort. Ich hörte die Kellertreppe knarren. – Ich werde bis gegen ein Uhr warten, Schraut. Dann wage ich’s.“ –

Er verschwand dann wirklich gegen ein Uhr. Ich hatte bis dahin kein Auge zugetan. Wie sollte ich auch?! Die Angst um Harst fraß mir schon vorher am Herzen. Ich malte mir aus, was ihm alles zustoßen könnte. Und als er dann lautlos hinausgeschlichen, als ich allein war, litt es mich sehr bald nicht mehr auf meinem Lager. Mir wurde über all dem Denken so siedend heiß, daß ich aufstand und an das eine Kellerfenster trat, das sich etwa in Kopfhöhe befand. Ich öffnete es leise, befühlte draußen die Eisenstäbe, sah, daß am Himmel wieder ein paar Sterne blinkten und daß nur noch einzelne Wolkenfetzen langsam gen Osten segelten. Frische, erquickende Nachtluft atmete ich. Sie machte mich ruhiger. Und mit der zunehmenden Gewißheit, daß Harst doch ganz der Mann danach war, auch die bösesten Zufälligkeiten zu überwinden, überkam mich ein Tatendrang, der sich irgendwie Luft machen wollte.

Nun – allzuviel selbständiges Handeln mißbilligte Harst bei mir stets. Ich sagte mir daher, es könnte für uns nur günstig sein, wenn ich versuchte, eins der Gitter zu lockern. Das war etwas, wodurch ich mir kaum eine Rüge zuziehen konnte und das doch meinem Wunsch nach irgendeiner Betätigung zunächst genügen würde.

Die Villa war noch ziemlich neu und mußte etwa sechs Zimmer in ihrem Erdgeschoß und dem einzigen Stockwerk beherbergen. Sie war nur als Sommerhaus gebaut, und die Gitter mehr zur Zierde da. Meines Taschenmessers große Klinge genügte, den Mörtel an allen Stellen herauszukratzen, wo die Stäbe in die Mauer ganz oberflächlich eingeführt waren. Jedenfalls konnte ich nach etwa einer Viertelstunde das ganze Gitter etwas anheben und nach außen umklappen, wobei die oberen Längsstäbe sozusagen die Gelenke dieses Pendelverschlusses bildeten, der einen Menschen unten nun ganz bequem durchließ.

Mir war recht warm geworden bei der leisen, vorsichtigen Ausbrecherarbeit. Ich setzte mich nun zum Ausruhen eine Weile auf den Holzstuhl neben mein Lager und überlegte dabei, ob ich es wagen sollte, einen kurzen Ausflug ins Freie zu unternehmen.

Da hörte ich, daß Peter sehr unruhig wurde. Die tiefe Dunkelheit ringsum hatte etwas ungemein Bedrückendes in dieser Lage an sich, in der wir uns befanden. Jetzt noch das Rasseln der Kette des Bären und sein lautes Schnuppern – das brachte meine leicht erregbaren Nerven nur allzu schnell wieder in Aufruhr. Ich glaubte plötzlich auch allerlei andere Geräusche zu vernehmen – Schritte vor der Tür unseres Kellerraumes, glaubte auch durch die Ritzen dieser Tür einen sofort wieder erlöschenden Lichtschein zu bemerken. Ich hoffte, Harst kehre zurück. Doch ich täuschte mich. Abermals etwas wie ein Aufflammen weißen Lichtes draußen vor der Tür.

Jetzt hielt ich es in meiner Einsamkeit nicht länger aus. Ich wollte Gesellschaft haben. Ich schlich nach dem Verschlage hin, in dem Peter und Fips untergebracht waren, schob den Riegel der Tür leise zurück, öffnete sie und schaltete dann mit vorgestrecktem Arm meine Taschenlampe ein. Ihr Kegel fiel auf Peter, der aufrecht dasaß und nun jenes freundliche Brummen hören ließ, das er stets für mich, seinen Freund, in Bereitschaft hatte. Ich ging hin und streichelte ihm den Kopf. Er leckte mir die Hand, äugte aber immer wieder nach der linken Wand hin, die oben ein kleines Luftloch hatte, das in den Kellergang mündete.

Dann – und ich schaltete blitzschnell die Lampe aus – dann gewahrte ich in unserem Gelaß den augenblicklich wieder verschwindenden Strahlenkegel einer elektrischen Laterne wie der meinigen. Und in diesem Augenblick wurde ich mir auch über Peters Unruhe klar: er hatte draußen im Gang einen Fremden gewittert! Und dieser Fremde war jetzt bei uns eingedrungen.

Mein Herz begann zu jagen. Was wollte der Mann? Es konnte ja nur Klimke oder der andere sein, der, wie wir jetzt wußten, sich Miskulski nannte. Hatten die beiden doch Argwohn gegen uns geschöpft? Wollten sie uns etwa unschädlich machen? Hatte Harst mir nicht gesagt, daß diese Leute keine Durchschnittsverbrecher wären?! Würden sie nicht jedes Mittel anwenden, uns, ihre Gegner, die ihnen schon so dicht auf den Fersen waren, zu beseitigen?

Ich tastete nach dem Schnapphaken, der die Kette an Peters Halsband festhielt. Ich löste den Haken, ließ ihn und die Kette ganz sacht zu Boden gleiten. Dann packte ich Peters Ohr, zerrte ihn hoch. Er folgte, und ich drängte ihn nun in unser Gelaß hinein.

Jetzt fühlte ich mich ganz sicher. Der Bär war ein harmloses Tier, wenn er seine Künste zeigte. Er machte aber einen sehr feinen Unterschied zwischen Publikum und Fremden, die ihn etwa in seinem Stall ohne Begleitung eines seiner Herren besichtigen wollten. Gegen solche Eindringlinge wurde er tückisch. Davor hatte uns schon Schlump gewarnt, und wir hatten es dann selbst während der Wanderung nach Saßnitz erlebt, daß Peter eines Nachts, als wir im Walde rasteten und ihn in den Küchenverschlag des Wagens eingesperrt hatten, einen neugierigen Forstbeamten beinahe übel zugerichtet hätte.

Ja – ich fühlte mich unter meines zottigen Lieblings Schutz – nur zu sicher!

Plötzlich nämlich entglitt Peters Ohr meiner Hand. Er hatte sich losgerissen.

Ich ahnte, was folgen würde. Ich stand wie gelähmt da. Sekunden nichts – kein Laut, – und um mich her die lastende Finsternis.

Dann in unserem Raum ein unterdrückter Angstruf. Mit einem Satz war ich drinnen. Meine Taschenlampe blitzte auf.

Peter hielt einen Mann umschlungen – Klimke! Und Klimkes Augen waren vor Entsetzen riesengroß, sein Gesicht leichenblaß. Hilfeflehend schaute er dorthin, wo er einen der beiden Zigeuner hinter dem blendenden Strahlenstreifen vermutete.

Ich nahm Peter am Halsband. Meine Stimme kannte er genau. – „Zurück – zurück!“ rief ich leise und puffte ihn mit der anderen Hand in die Rippen.

Er brummte, gehorchte aber.

„Was wollten Sie hier?“ fragte ich Klimke, Peter dicht an mich heranziehend.

Er antwortete nicht gleich. Da drohte ich: „Soll ich den Bär wieder los lassen?!“

„Ich wollte sehen, wie es Ihnen geht,“ stotterte er.

Er log natürlich. Ich konnte mich aber mit ihm nicht lange aufhalten. Ich glaubte jetzt bestimmt, daß die Leute hier uns durchschaut hatten und daß Harst in Gefahr schwebte.

Ich zeigte auf den Eingang des Verschlages. „Dort hinein!“ befahl ich Klimke. „Den Bär behalte ich als Wächter hier in diesem Raum. Sofern Sie um Hilfe rufen, geht es Ihnen schlecht.“

Er wagte keinen Widerstand, keine Widerrede. Viel Mut besaß er nicht. Ganz geduckt schlich er in den Verschlag, den ich wieder verriegelte, nachdem ich Fips herausgelockt hatte.

Dann streifte ich schnell meine Weiberröcke ab. Darunter trug ich hoch aufgekrempelte, gestreifte Männerbeinkleider. Ich wollte durch die Röcke nicht behindert werden.

Ohne Mühe kroch ich zum Fenster hinaus, kroch weiter auf allen Vieren um das Haus herum nach dem Vordergarten. Es war jetzt hell genug, um den Langen deutlich zu erkennen, der da vor mir am Flaggenmast stand und wieder in Pausen an der Leine zog.

Mir war dieser Anblick eine große Beruhigung. Ich sagte mir, daß Harst bisher wohl kaum hier draußen von den beiden erwischt sein könnte, sonst würde Miskulski nicht so gelassen seine seltsame Arbeit verrichten.

Ich wandte mich dem Steilhang zu, kletterte links über den niedrigen Zaun und legte mich dann dicht am Rande des Abhanges unter ein paar Tannen, deren Äste ganz tief sich herabsenkten. So konnte ich sowohl die See als auch Miskulski und das Haus beobachten.

Ich sah auf dem Meere kaum zweihundert Meter von der Küste ab einen kleinen Segler, der sehr langsam nach Süden fuhr, dann wendete und nun mit gerefftem Großsegel nach Norden steuerte, abermals parallel dem Strand entlang. Dieses Auf- und Abkreuzen wiederholte sich vier mal. Daß der Segler die Jacht war, daran zweifelte ich nicht. Ich merkte auch, daß die Strecke, die er beim Kreuzen zurücklegte, etwa sechshundert Meter lang war und daß ihr Mittelpunkt der Fahnenstange gegenüber lag. Dann erschien auf der Jacht erst ein grünes, nun ein rotes und wieder ein grünes Licht. Daraufhin kam Miskulski sofort aus dem Vorgarten an den Abhang und verschwand links von mir in einem Gestrüpp, das sich bogenförmig weit ins Land hineinzog. Es konnte nur dasjenige sein, in dem der kleine Motor und der Aufzug verborgen waren[6].

Ich hatte mich jetzt aufgerichtet. Aber Miskulski zu folgen, getraute ich mich nicht. Das konnte wohl ein Harst wagen, der gelenkig wie ein Akrobat war, nicht ich.

Und dann erblickte ich auch diesen Harst. Ein Rauschen der Zweige rechts von meinem Versteck hatte meinen Kopf argwöhnisch herumgeschnellt.

Er stand kaum drei Schritt entfernt, nickte mir zu, drohte mir aber gleichzeitig mit dem Finger und deutete auf das Haus. Das hieß: Marsch – zurück in den Keller.

Ich trat schnell dicht vor ihn. Überhastet berichtete ich, daß wir nun einen Gefangenen in Peters bisherigem Gelaß hätten.

„Ah – also deshalb!“ flüsterte er nun, als ich nichts mehr hinzuzufügen wußte. „Schraut, passen Sie scharf auf Klimke auf. Es darf nicht offenbar werden, daß wir ihn nun in unserer Gewalt haben,“ fügte er hinzu. „Ich komme sofort nach, will nur noch feststellen, ob Miskulski wieder zum Strande hinabfährt.“

Er glitt davon. Ich schlich mit größter Vorsicht in den Keller zurück, überzeugte mich, ob Klimke noch in seinem Kerker saß, fand ihn auch in einer Ecke auf dem Boden hocken und riegelte ihn wieder ein, nachdem ich ihn nochmals gewarnt hatte, ja nicht etwa um Hilfe zu rufen. Er hatte mich nur ganz verstört angeschaut und keinen Ton erwidert.

Nach etwa einer halben Stunde hörte ich die Kellertür laut zufallen und ebenso laute Schritte auf der Treppe, die sich unserer Tür näherten.

Unwillkürlich packte ich wieder Peter, der neben mir gelegen hatte, am Halsband. Es mußte Miskulski sein! Denn – wie hätte Harst es wagen dürfen, so geräuschvoll zurückzukehren!

Und doch war es Harst. Die Tür ging auf. Er hatte eine brennende Petroleumlampe in der Hand, sagte, als ob nichts Besonderes geschehen wäre, – und er nannte mich beim richtigen Namen:

„Da wären wir, lieber Schraut. – Ich habe mir den kleinen Scherz erlaubt, den Motor auszuschalten und die Stromzuleitung zu unterbrechen, als Miskulski gerade wieder emporschwebte. Nun hängt er in dem Förderkorb genau in der Mitte des Abhangs und kann weder nach oben noch nach unten, denn an dem dünnen Drahtseil kann kein Mensch hochklettern. Er reißt wie verrückt an der Leine, die mit dem Motoreinschalthebel verbunden ist, und vermutet vorläufig nur eine Betriebsstörung. – Sie wundern sich, daß ich jetzt so tue, als ob ich hier zu Hause wäre? – Sehr einfach: ich habe Klimke und Miskulski vorhin belauscht, konnte aber nur die Sätze verstehen: „Gut, daß wir sie zu Gerda geschickt haben.“ – Das sagte Miskulski. Und Klimke antwortete: „Sie tut mir so leid. Sie ist so ängstlich. – Wenn Du Dich nur nicht täuschst, und die beiden doch harmlos sind –“ – Natürlich war Frau Hella gemeint. Die beiden konnten sie jetzt hier nicht brauchen, da sie uns ans Leder wollten. Klimke ist hier als Spion erschienen, um festzustellen, ob wir schliefen. Nachher hätten sie uns dann wohl etwas gewaltsam zu entlarven gesucht.“ Er hatte all das ohne Scheu in gewöhnlichem Ton gesagt, ohne seine Stimme zu dämpfen. Nun ging er auf Klimkes Kerker zu, befahl unserem Gefangenen [zu antworten, um auch den letzten Teil des Geheimnisses] herauszubekommen[7]. – Klimke schwieg auf alle Fragen hartnäckig.

Plötzlich erklärte Harst mit Nachdruck: „Ihre Verstocktheit hilft Ihnen gar nichts. Ich weiß, was Sie und Ihre Gefährten hier treiben – jetzt weiß ich’s! Und was ich noch [nicht][8] weiß, wird mir die nächste Nacht verraten.“

Da lachte Klimke ironisch auf. Das war aber auch alles. Er wurde wieder eingesperrt, und Harst und ich verließen nun gemeinsam das Haus und begaben uns nach dem Abhang in das große, hohe Gestrüpp.

– – – – – – – –

Der Morgen graute bereits. Die See war leer. Nur in der Ferne waren ein paar Fischerboote zu sehen.

Harst ließ den Motor arbeiten. Das Drahtseil rollte sich auf der Trommel auf, und der an einem zurückziehbaren Balken hängende Korb kam höher und höher. Miskulski schaute mit wutverzerrtem Gesicht zu uns empor. Harst empfing ihn, den Revolver in der Hand, befahl ihm, auf den Abhang zu klettern, wo ich dem Langen dann die Hände mit Harsts buntem, großem Taschentuch binden mußte. Wir brachten ihn dann in den Keller. Hier konnte er Klimke Gesellschaft leisten, da er genau wie dieser keine von Harsts Fragen beantwortet hatte.

Wir durchsuchten nun die Villa, fanden aber nichts, was uns irgendwie über die Pläne der Leute Aufschluß gegeben hätte. Harst schickte mich dann nach Saßnitz. Ich sollte Karl holen, der hier die beiden Gefangenen bewachen sollte. Um halb sieben Uhr war ich mit Karl wieder zurück. Harst gab ihm genaue Verhaltungsmaßregeln, besonders über die Verpflegung der beiden, und gleich darauf wanderten wir, jetzt ohne Fips und Peter, gen Saßnitz.

Harst war recht schweigsam. Erst auf meine Bemerkung, er habe doch wohl vorhin den Klimke nur anzapfen wollen, als er gesagt hätte, er wisse jetzt alles, taute er auf und meinte: „Lieber Schraut, – es ist tatsächlich so. Zweierlei hat mich heute nacht auf die richtige Spur geleitet: die drei Kisten von gestern – Sie besinnen sich, – und das Kreuzen der Jacht auf derselben Stelle. – Wir wollen jetzt die Sache aber nicht weiter erörtern. Ich gebe zu: alles weiß ich noch nicht. In meinem Hirn spukt dauernd der Name Jolante herum. Ich vermute, er hat mal zu irgend einem Verbrechen in Beziehung gestanden. Zu welchem – das bekomme ich trotz meines tadellosen Gedächtnisses nicht heraus.“

Um acht Uhr gingen wir zu dem Gemeindevorsteher in dessen Privatwohnung. Dieser, ein älterer Herr und früherer Gutsbesitzer, fiel aus allen Wolken, als Harst ihm den Ausweis der Berliner Polizei zeigte.

„Ich bin Harald Harst, Herr Gemeindevorsteher, und ich stelle hier der geheimnisvollen Jacht nach. Ich bitte Sie um strengste Diskretion, dann werde ich Ihnen sagen, weshalb ich mich Ihnen anvertraue,“ erklärte er in seiner gelassenen Art. – Der Gemeindevorsteher erwiderte, Diskretion wäre hier selbstverständlich.

„Danke. – So bitte ich Sie also, in aller Stille ein Fräulein Gerda Plauk alias Gerd und die jetzt bei ihr weilende Frau Hella Klimke zu verhaften und einzeln irgendwo – es braucht nicht gerade im Arrestlokal zu sein – festzuhalten. – Haben Sie einen Mann, der verschwiegen ist? Dann lassen Sie bitte diesen diese Sache erledigen. Vielleicht geht es so am besten, wenn Sie sofort die beiden Damen auf das Amt bestellen. – Abends würde ich Sie gut als Zeugen gebrauchen können. Wollen Sie sich also vielleicht gegen zehn Uhr in der einsamen Villa draußen zwischen hier und Stubbenkammer einfinden.“

Der Gemeindevorsteher sagte mit Freuden zu. Wir gingen nun nach unserer Kneipe und unserem Wohnwagen, wo Harst dem Wirt ein langes Märchen auftischte, das unsere Rückkehr ohne Fips und Peter erklären sollte.

Mittags war Harst beim Gemeindevorsteher, berichtete mir dann, daß die Gerd sehr patzig ihm gegenüber gewesen wäre und daß Frau Klimke sehr viel weinte, daß aber beide genau so hartnäckig geschwiegen hätten wie unsere Gefangenen im Keller. Nach dem Mittagessen machten wir uns dann wieder nach der Villa auf. Wir fanden dort alles in Ordnung. Karl Malke hatte die beiden gut bewacht. Wir fühlten uns jetzt wie die rechtmäßigen Herren des Hauses. Nur als wir den Postboten kommen sahen, schlossen wir uns im Hause ein und verhielten uns ganz still. Er warf einen Brief in den Briefspalt der Hintertür und verschwand ahnungslos, daß die Villa zur Zeit von Zigeunern besetzt war. Harst besichtigte den Brief, der den Abgangsstempel Berlin trug und an Miskulski – Herrn Franz Miskulski, Ingenieur – gerichtet war. Er schnitt ihn ohne weiteres auf und überflog den kurzen Inhalt, reichte ihn mir dann mit einem – „Da haben wir’s ja!“ – Ich las folgendes: „H. ist bestimmt nicht im Sanatorium bei seiner Mutter, wie ich schon depeschierte. Auch der Junge, dessen H. sich bei seiner Arbeit bedient, ist plötzlich von hier abgereist. Wohin, war nicht zu ermitteln. Auch im Universum-Klub nichts Neues, obwohl M. scharf aufpaßt. – Gruß – Dein St.“

„Dieser M. kann nur der neue Klubdiener Mingloff sein,“ meinte Harst. „Er ist es fraglos auch gewesen, der diese, unsere jetzige Aufgabe an die Leute hier verraten hat, die ihn bestochen haben werden.“ – Ich will hier gleich bemerken, daß diese Vermutung Harsts sich nachher als zutreffend herausstellte. St. war ein Spießgeselle Miskulskis namens Stelling.

Bis zum Abend langweilten wir uns recht sehr. Ein neues Verhör, das Harst mit Klimke und Miskulski vornahm, hatte abermals kein Ergebnis. Um zehn erschien der Gemeindevorsteher. Er war genau so gespannt, was sich nun in der kommenden Nacht ereignen würde, wie ich selbst. Doch Harst schwieg sich aus und meinte, er wolle uns die Überraschung nicht verderben. Wir saßen nun in dem Wohnzimmer mit den Fichtenmöbeln und unterhielten uns über alles Mögliche. Harst war sehr zerstreut. Als ich eine Bemerkung über diese seine Geistesabwesenheit machte, sagte er ärgerlich: „Ich grüble noch immer über Jolante nach.“ – Und gerade gegen Mitternacht sprang er dann plötzlich auf, rief: „Ich hab’s – ich hab’s! Nein – daß mir aber gerade diese Sache nicht eingefallen ist!“

Aber was ihm eingefallen war, bekamen wir nicht zu hören.

Um ein Uhr machte Harst die dreifarbigen Laternen fertig, zündete sie an, hißte sie am Mast empor und ließ mich an der Leine ziehen, damit wie sonst das Blinkfeuer zustande kam. Er und der Gemeindevorsteher gingen bis an den Abhang und schauten nach der Jacht aus.

Und – sie erschien wirklich wieder. Und wieder kreuzte sie über eine Stunde hin und her. – Dann mußte ich die Laternen abblenden, und sehr eilig begaben wir uns mit Hilfe des Aufzuges einzeln zum Strande hinab. Hier, wo nur ein etwa sechs Meter breiter Uferstreifen vorhanden war, mußten der Gemeindevorsteher und ich uns lang am Fuße des Abhangs hinlegen. Harst blieb aufrecht stehen. Sehr bald kam ein winziges Boot, in dem nur ein einzelner Mann saß. Dieser hatte, da die See ziemlich unruhig war, genug damit zu tun, sein Boot heil an Land zu bringen und erkannte zu spät, daß es nicht Miskulski war, der ihn erwartete.

Wir sprangen zu und packten den Mann. Er war so überrascht, daß er sich gar nicht wehrte. Er hatte einen blauen Seemannsanzug an und trug eine blaue Seglermütze. – Das kleine Boot war leer.

Auch er antwortete auf keine Frage. Nur als Harst ihm dann eine schwarze Seidenmaske aus der Tasche zog, entschlüpfte seinen Lippen ein leiser Fluch. Dieser Verbündete Miskulskis hatte einen echten blonden Spitzbart und mußte ein Seemann seinem tiefgebräunten Gesicht nach sein. – Harst und ich bestiegen dann das Boot und ruderten nach der Jacht hinüber, während der Gemeindevorsteher den neuen Gefangenen mit Hilfe seines Revolvers in Schach hielt. Zu unserem Erstaunen fanden wir auf der Jacht dann nur einen alten, einfachen Mann und einen halbwüchsigen Burschen vor.

Der alte Graubart zeigte sich sofort zugänglicher. „Ich wußte, daß die Geschichte eines Tages böse enden würde,“ sagte er brummig. „Ich bin der Eigentümer dieser Motorjacht, von Beruf Fischer, und hatte sie mir in diesem Frühjahr zu Spazierfahrten mit den Badegästen angeschafft. Ich wohne in Dranske. Das ist ein kleiner Ort an der Nordwestküste Rügens. Anfangs April kamen zwei Herren zu nächtlichen Fahrten. Sie bezahlten mich und meinen Enkel da sehr gut, aber wir mußten auch reinen Mund halten über alles. Die Herren erzählten mir, sie hätten zufällig von einem Goldschatz gehört, der gerade hier gegenüber der einsamen Villa auf dem Meeresgrund liege. Die See ist an dieser Stelle sehr flach, nur etwa zehn Meter tief, und diese Untiefe läuft weithin parallel zur Küste von Nord nach Süd. Wir haben dann stets mit einem besonders konstruierten Schleppnetz den Meeresboden abgesucht, aber nur dreimal was herausgefischt, einmal eine kleine Kiste, dann drei Kistchen und gestern ein eisernes Kästchen, das in ein Stück Leinwand eingewickelt und verschlossen war. Der, der die Jacht immer gesteuert hat, gehört eigentlich auch nicht zu den Bewohnern der Villa. Es ist ein Steuermann der Handelsmarine namens Steffen, und der Miskulski hat ihn auch nur gemietet. Steffen ist die ganze Sache auch schon über trotz des hohen Lohnes, den wir bekommen. – Sie fragen, wie die beiden Herren hießen, die im April meine Lotte mieteten? Nun – Klimke und Miskulski nannten sie sich. Aber ich glaube nicht, daß es die richtigen Namen von ihnen sind –“ –

Als wir an Land zurückgekehrt waren, ließ Harst den Steuermann Steffen wieder frei. Dieser begab sich wieder auf die Jacht, die sofort davonfuhr. – Zuerst brachte der Korb dann den Gemeindevorsteher, dann mich und zuletzt Harst nach oben. Dieser jedoch ließ eine lange Weile auf sich warten. Wir sahen, daß er, in dem Korbe stehend, den er in der Mitte der Steilküste hatte halt machen lassen, die lehmige, rissige Wand mit der Taschenlaterne ableuchtete. Er schien in den Spalten etwas zu suchen. Als er nun oben erschien und sich aus dem Korbe schwang, hatte er einen in ein Stück Zeug eingewickelten Gegenstand im Arm. Seine Augen leuchteten, als er erklärte: „Wir haben Miskulski gerade zur rechten Zeit gestern abgefaßt.“ – Kaum zehn Minuten später saßen wir alle, auch die beiden Gefangenen und Karl, im Wohnzimmer. Der große Augenblick war da, wo die Schleier dieses Geheimnisses fallen sollten. Und Harst begann:

„Vor etwa zwei Jahren wurde von zwei gewiegten Hochstaplern, Klauswitz alias Klimke und Mürgner alias Miskulski, bei dem Juwelier König in Berlin ein großer Raub verübt. Die Beute, deren wertvollstes Stück ein berühmtes Perlenkollier war, das unter dem Namen „Die Augen der Jolante“ allgemein bekannt ist, mußten die Diebe dann aber auf der beabsichtigten Flucht nach Schweden von Bord des Rügendampfers Freya aus in die See werfen, da sie einen Kriminalbeamten unter den Mitfahrenden erkannt hatten, dem sie die Schmucksachen nicht ausliefern mochten. Wo diese Versenkung der Beute stattgefunden hatte, wußte bisher niemand. Die Verbrecher hatten nach ihrer noch an Bord erfolgten Verhaftung erklärt, nicht genau angeben zu können, an welcher Stelle sie vier Kistchen und eine Kassette ins Meer geschleudert hätten. Sie wurden zu mehrjähriger Gefängnisstrafe verurteilt, entwichen aber, fanden sich wieder zusammen und klügelten nun einen Plan aus, wie sie ihre Schätze wieder heben könnten, die sie absichtlich gerade gegenüber dieser einsamen Villa damals der See anvertraut hatten, damit sie nachher einmal danach fischen könnten. Inzwischen hatte Klauswitz alias Klimke sich mit einem braven Mädchen verheiratet, die nicht ahnte, daß er ein Verbrecher war. Die arme junge Frau hat mir gestern nachmittag selbst erzählt, wie und wann sie Klimke kennen gelernt hat. Mürgner alias Miskulski hatte seine Geliebte Gerda Plauk in Saßnitz als Spionin eingemietet, während er mit dem Ehepaar Klimke hier jede Nacht der Jacht Lotte durch das Blinkfeuer die Stelle bezeichnete, wo man hauptsächlich mit dem Schleppnetz kreuzen müßte. Gestern nachmittag, als ich mir die drei Kisten ansah, deren Inhalt freilich schon anderswohin geschafft war, erkannte ich, daß sie sehr lange im Wasser gelegen haben müßten. Und da reimte ich mir endlich zusammen, weshalb die Jacht hier vor der Villa kreuzte. Nur wonach gefischt wurde – das wurde mir erst klar, nachdem ich durch den Namen Jolante plötzlich auf die berühmte Perlenkette gekommen war. Diese Kette wurde gestern von der Jacht mit dem Netz hochgeholt. Als Miskulski dann merkte, daß ihm Gefahr drohe, als der Förderkorb plötzlich festsaß, da verbarg er die Kassette in einer Spalte an der Wand, wo ich sie aber gefunden habe.“ Er öffnete sie und nahm das Perlenkollier heraus.

„Und dies – sind die Augen der Jolante!“ Er hielt die prachtvolle Kette hoch. Matt erstrahlten die Perlen im Lampenlicht. Perlen bedeuten Tränen. Und Hella Klimke hat ihretwegen viel geweint. Aber – sie ließ sich nicht etwa von ihrem Manne scheiden. Sie liebte ihn, obwohl er ein Verbrecher war. –

Unsere schöne Zeit als Zigeuner und Zirkusbesitzer war vorüber. Wir kehrten nach Berlin zurück, wo im Universum-Klub die Aufklärung des Geheimnisses der grauen Motorjacht große Sensation hervorrief und wo Harst dann sofort die neue Aufgabe bezeichnet wurde. Diese lautete: „Welchen Zweck haben die drei Anzeigen im Berliner Kurier vom 16., 22. und 28. Mai des Jahres, Morgenausgabe, links oben Seite 6, Kugelrand.“

 

 

Die Dame im Lackhut.

 

Es tröpfelte leicht, als wir auf dem Kurfürstendamm in das Auto stiegen. Harst hatte dem Chauffeur als Ziel eine Straßenkreuzung nordwestlich von Steglitz, einem Berliner Vorort, angegeben, die selbst dem Kraftwagenführer ganz unbekannt zu sein schien.

Der Lichtschein der vorbeihuschenden Laternen wurde seltener und seltener. Wir waren durch die Villenkolonie Grunewald und Dahlem gekommen und fuhren nun einen endlos langen, unbebauten Straßenzug entlang. Harst hatte bisher schweigend seine geliebte Mirakulum geraucht und schien tief in Gedanken versunken. Ich wagte nicht, ihn durch eine Frage zu stören, obwohl ich zu gern gewußt hätte, was er heute eigentlich vorhatte, und ob diese abendliche Spazierfahrt etwa mit der neuen Aufgabe zusammenhing, die seine Wettgegner ihm gestellt hatten. Zwölf besonders schwierige Probleme hatte er ja zu lösen übernommen, und es ging dabei um einen Wetteinsatz von Millionen.

Plötzlich sagte er nun, indem er sich vorbeugte und zum Fenster hinausschaute: „Aha – der Chauffeur findet sich nicht zurecht. Mag er noch eine Weile vergeblich nach der Straßenkreuzung suchen, die – es gar nicht gibt. Er sollte uns ja nur hier in diese Gegend bringen. Man muß vorsichtig sein, wenn man wie wir fast immer hinter Gesetzesverächtern her ist.“

„Wir sind also bei der neuesten Arbeit?“ meinte ich.

„Sogar sehr. Es ist ja auch höchste Zeit, daß wir anfangen. Gestern wurde mir die Aufgabe genannt, und den ganzen heutigen Tag brauchte ich dazu, die merkwürdigen Anzeigen im Berliner Kurier zu studieren, zu sondieren und mit ein paar anderen zu vergleichen, die mich dann veranlaßten, diesen kurzen Ausflug zu unternehmen. Darüber unterhalten wir uns aber besser daheim.“

Er drückte auf den Gummiball. Auf den Pfiff hin hielt das Auto sofort. Wir stiegen aus. Harst spielte den Ärgerlichen. – „Chauffeur, wenn Sie hier nicht Bescheid wissen, hätten Sie es gleich sagen sollen. Wir kommen ja zu Fuß schneller ans Ziel! – Was macht die Taxe?“ – Er zahlte und gab ein gutes Trinkgeld. Der Chauffeur dankte überrascht und fuhr davon. Wir standen allein auf der asphaltierten Straße, sahen vor uns in der Ferne ein paar erleuchtete Fenster und weiter links den hellen Lichtschein über einer größeren Ortschaft.

Harst ging bis zur nächsten Wegegabelung, beleuchtete den Pfahl mit den Emailleschildern der Straßennamen, nickte befriedigt und machte kehrt. – „Wir sind bereits daran vorübergefahren,“ meinte er kurz. „Der Neubau Wißmannstraße 8 liegt dort.“ Und er zeigte auf ein dunkles Etwas, das bei dem Sprühregen wie eine Ruine aussah.

„Es ist ein alter Neubau sozusagen,“ erklärte er. „Dem Grundstückseigentümer ist das Geld knapp geworden, als das zweite Stockwerk erst halbfertig war, und nun steht der Bau seit dem vergangenen Herbst still.“

Die Sache wurde interessant. Bisher hatte ich gegen diese Spazierfahrt manches einzuwenden gehabt. Obwohl wir uns anfangs Juni befanden, war es bitter kalt, dazu noch Regen und bei mir ein Schnupfen, der schon mehr Grippe war, den ich aber Harst gegenüber als ganz harmlos hingestellt hatte. Sonst hätte er mich zu Hause gelassen. Und das wollte ich nicht, denn ihn auf seinen Spürgängen begleiten zu dürfen, war ja ein Genuß und brachte stets aufregende Momente dieser oder jener Art. Kurz: nun, da ich wußte, daß ein liegen gebliebener Neubau, der dazu noch mitten in leeren Straßenzügen sich erhob, unser eigentliches Ziel war, söhnte mich dies mit allem aus.

„Wir haben noch Zeit,“ fuhr Harst fort. „Die Zusammenkunft erfolgt erst um Mitternacht. Und jetzt ist es erst halb zwölf etwa. Ich bin neugierig, wer die Leute sind, die mit so übertriebener Vorsicht durch Annoncen sich verständigen, und was sie treiben mögen.“

Er bog von der Straße auf eine mit einem schlechten Drahtzaun umgebene Bauparzelle ab und wollte offenbar im Bogen von hinten an das halb fertige Gebäude heran. Wir mußten noch über drei Zäune klettern oder zwischen Stacheldrähten hindurchkriechen. Dann erst lag die Baubude des Neubaus dicht vor uns. Man hatte sie stehen lassen, da ihre morschen Bretter wohl nicht einmal das Stehlen verlohnten. Von dieser Bude bis zur Wißmannstraße hin waren es etwa dreißig Meter, bis zur Rückseite des Neubaus ungefähr fünfzehn.

Harst war gerade über ein Stück Eisendraht gestolpert und fluchte leise, als ich durch die leeren Fensteröffnungen in den Kellerräumen an der rechten Hausseite eine Lichterscheinung aufblitzen sah. Es war wie ein weißer Strich von Funkengarben gewesen, vielleicht ein halbes Meter lang und wagerecht verlaufend. Nur den Bruchteil einer Sekunde hatte dieses Aufleuchten sich gezeigt. Ich glaubte, Harst hätte es nicht bemerkt und teilte ihm nun hastig mit, was ich soeben beobachtet.

„Gut, gut, lieber Schraut,“ meinte er dann flüsternd. „Sie haben nur nicht alles gesehen. – Ah – wahrhaftig, – eine Frauengestalt, die eilig der Straße zuläuft!“ Er wurde erregt. „Schraut, die Person kam aus dem Kellereingang. Jetzt hat die Dunkelheit sie verschluckt. Trotzdem – versuchen Sie sie einzuholen und – markieren Sie den Wegelagerer – verstanden! Das beseitigt am leichtesten den Verdacht, daß Sie hier spionieren wollten.“

Als Harald Harsts Privatsekretär und Mitarbeiter muß man alles sein, alles können und sich – nie verblüffen lassen. Was er wollte, wußte ich. Ich sollte mir die Frau ansehen, womöglich irgendwie herausbekommen, wer sie war.

Meine Grippe war vergessen. Meinen langen Regenmantel aufraffend, jagte ich der Wißmannstraße zu am Neubau vorüber. Ich vermied nach Möglichkeit jedes Geräusch. Nun blinkte matt wie Stahl unter meinen Füßen das Asphaltpflaster. Ich schaute nach rechts, nach links, lauschte angestrengt. Dann glaubte ich rechts etwas wie einen dunklen Schatten auf der Straße wahrzunehmen, auch das Tapp Tapp eiliger Füße zu hören. Ich setzte mich in Galopp. Und – ich holte auf, sehr schnell sogar! Es war die Frau, ohne Zweifel, und ihre Kleidung behinderte sie mehr als mich mein Schnupfen.

Dann schien sie gemerkt zu haben, daß jemand hinter ihr her lief. Sie tat es mir gleich, hob die Röcke an und stürmte nun wie gehetzt weiter. Es half ihr aber nichts. Bald war ich so dicht hinter ihr, daß ich sie anrufen konnte.

„Halt – oder ich schieße!“ – Innerlich lachte ich dazu.

Sie blieb wirklich stehen. Nun war ich neben ihr. Sie hatte einen seidenen, dunklen Regenmantel an, trug einen schwarzen Lackhut und einen dichten schwarzen Schleier.

„Was – was wollen Sie?!“ keuchte sie mühsam hervor. Ich hörte ihrer Stimme die bebende Angst an.

„Ein armer Handwerker bittet nur um eine kleine Gabe,“ krächzte ich noch heiserer, als der Schnupfen es mit sich gebracht hätte. Ich hatte den Mantelkragen während der Jagd hochgeschlagen und die Krempe meines weichen, grauen Filzhuts nach unten gestülpt, duckte mich nun auch ganz krumm zusammen.

Ich fühlte die prüfenden Blicke der Frau, die ihrer Stimme nach noch jung – sehr jung sein mußte. Sie faßte in die Manteltasche, sehr zögernd, wandte dabei wie lauschend den Kopf nach links.

Und ich vernahm das Trappeln von Pferdehufen, aber kein Räderrollen. Nun sah ich auch einen großen, dunklen Fleck, der schnell auf uns zukam.

Da – riß ich der Frau die Geldbörse aus der Hand. Wenigstens etwas sollte sie mir überlassen, etwas, das ihr gehörte, das uns vielleicht über ihre Person Aufschluß geben konnte. Dann war ich mit ein paar Sätzen am nächsten Drahtzaun, blieb an den Stacheln hängen, lief querfeldein, warf mich lang hin und kroch im Bogen nach rechts wieder auf die Straße zu. Kaum hatte ich sie erreicht, als ein geschlossener Wagen, aus der Richtung des Neubaus kommend, lautlos, aber sehr schnell vorüberrollte. Ich hatte bald festgestellt, daß die Frau im Lackhut verschwunden war, und ich reimte mir unschwer zusammen, daß das elegante Gefährt mit den beiden flinken Pferden und dem Kutscher mit Livreezylinder mit hellem Hutband auf die Frau hier gewartet und sie nun davongeführt hatte.

Ich beeilte mich jetzt, zu Harst zurückzukehren. Aber bei der Baubude traf ich ihn nicht mehr an. Ich stand noch da und überlegte, ob ich leise rufen sollte, als er neben mir auftauchte, mich am Arm packte und mir zuraunte:

„Schraut, die Sache hier läßt sich gut an. Da drinnen liegt eine Leiche – dort rechts im Keller, mitten auf dem Bauschutt, – die Leiche eines Knaben von etwa zwölf Jahren.“

Ich hätte im Dienste Harsts eigentlich längst gelernt haben müssen, meine Nerven besser in der Gewalt zu haben. Jetzt prallte ich aber doch zurück, stammelte: „Eine Leiche?! – Etwa – ermordet?!“

Harst schwieg und zog mich in die Baubude hinein. Wir stellten uns hinter die schief in den Angeln hängende Brettertür. – „Es fehlt nicht mehr viel an zwölf, Schraut,“ meinte er dann. „Wir können die anderen sehr bald erwarten. – Falls überhaupt noch jemand kommt!“ fügte er hinzu.

Der Regen fiel stärker. Harst zog seine Uhr. Ich sah die Leuchtpunkte des Zifferblatts und der Zeiger. – „Doch noch eine Viertelstunde,“ flüsterte er. „Wir können’s wagen. Vielleicht trifft meine Vermutung zu, und der Junge läßt sich noch bei geeigneter Behandlung ins Leben zurückrufen, obwohl –“ Er schlich hinaus und auf das Haus zu. Dort machten ihn die Regenschleier unsichtbar. Kaum zwei Minuten blieb er weg. Dann kehrte er mit einer kleinen Gestalt im Arm zurück, legte den Knaben behutsam in der Bretterbude auf die Erde und richtete sich wieder auf.

„Schraut – wir müssen näher heran, sonst sehen wir nichts,“ flüsterte er nun. „Dort vor dem Kellereingang ist ein Behälter zum Kalklöschen eingegraben. Er ist tief genug, um darin knien zu können. – Vorwärts – aber leise!“

Das neue Versteck war für unsere Schuhe und Kleider keineswegs vorteilhaft. Was tat’s! Harst war ja Millionär, und er würde mir ersetzen, was hier verdorben wurde.

Still, fast unheimlich mit seinen dunklen Fensteröffnungen anzuschaun, lag der Neubau kaum fünf Meter vor uns. Mein Herz begann lebhafter zu hämmern. War das nun wieder eine Situation! Hinter uns in der Bude der kleine Tote, den Harst verschleppt hatte, vor uns der Keller, in dem vielleicht ein Verbrechen begangen worden war und in dem sich noch andere Personen einfinden sollten – nach Harsts Andeutungen.

Plötzlich auf der Straße das Rattern eines Autos. Es fuhr vorüber. Die Lichtkegel der Laternen verschwanden schnell wieder. – Harst hatte sich erhoben, schaute dem Auto nach. – „Es hält dort hinten,“ meldete er leise. „Etwa an derselben Stelle, an der wir vorhin ausstiegen. Sollten etwa die Leute, die ich erwarte, ähnlich wie wir dem Chauffeur absichtlich ein falsches Ziel genannt haben?!“

Etwa fünf Minuten vergingen. Harst kniff mich in den Arm. – „Genau 12!“ raunte er mir ins Ohr.

Da sah auch ich einen Herrn im Zylinder und eine Dame im langen Mantel an der Rückseite des Neubaus entlanghuschen. Sie tauchten im Kellereingang unter.

Als ich mich nach Harst jetzt umsah, bemerkte ich nur noch, wie er auf allen Vieren auf das eine Kellerfenster zukroch.

Mein Herz jagte. – Ich wünschte, ich besäße Harsts Nerven! – Unsinn – er hat ja keine, – noch nie habe ich gemerkt, daß er auch nur leicht zusammenzuckte, selbst bei den unverhofftesten Zwischenfällen.

Im Kellerraum blitzte es hell auf. Ich sah aber nur die äußerste Spitze des Lichtkegels einer Taschenlampe, der einmal über den Boden hinglitt und dann für mich nicht mehr sichtbar war. Nur ein schwacher, heller Schein blieb hinter der einen Fensteröffnung nunmehr unbeweglich, so, als ob die Taschenlampe irgendwo einen festen Ruheplatz gefunden hatte.

Der Regen ließ nach. Die Knie taten mir weh. Als ich mich einmal mit der Hand auf den Boden des Kalkbehälters stützte, faßte ich in eine weiche, breiige Masse: Kalk! – Die Minuten schlichen. Nichts geschah. Harst konnte ich nicht sehen. Dann wurde es heller und heller, so daß ich es vorzog, auch den Kopf hinter dem Rande des Behälters zu verbergen. Ich fürchtete, man könnte mich bemerken.

Ich hielt das Knien nicht mehr aus. Mochte auch der Lodenmantel unbrauchbar werden. Ich setzte mich. Und – ich saß in einer Wasserlache, rutschte schnell mehr nach rechts.

Da – wie ein elektrischer Schlag ging’s mir durch den Körper. Jemand hatte meinen Hut berührt! – Mein Kopf fuhr herum.

Gott sei Dank: Harst!

„Kommen Sie, Schraut,“ meinte er gelassen. „Die beiden sind nicht mehr da.“

Ich mußte dann den Mantel ausziehen, der völlig von Kalk klebte, mußte zu Fuß bis nach Steglitz hinein, fand glücklich ein Auto, ließ den Chauffeur nach der Nachtigallstraße 32 fahren, – denn dort erwartete mich Harst mit dem in meinen Mantel gehüllten Knaben.

Nachtigallstraße 32 war das erste Haus jenseits des unbebauten Terrains. Es lag vereinzelt, und Harst hatte es vorher für unsere Zwecke ausgesucht. Als er das Auto sich nähern sah, trug er den Knaben bis an die Haustür. Dem Chauffeur wurde gesagt, das Kind sei plötzlich hier bei Bekannten erkrankt. Der Mann schöpfte keinerlei Verdacht. Er fuhr uns dann nach Schmargendorf, aber nicht nach der Blücherstraße 10, dem Harstschen Hause, sondern nach der nächsten Querstraße, wo wir anscheinend daheim waren. Ich tat, als wollte ich die Haustür aufschließen. Indessen bezahlte Harst den Chauffeur. Als das Auto um die Ecke gebogen war, nahmen wir unsere leichte Last und gelangten damit glücklich in Harsts Arbeitszimmer.

Eine halbe Stunde später hatten wir den Knaben, der sehr einfach, fast ärmlich gekleidet war, den Krallen des Todes entrissen. Er lag jetzt in Harsts Bett und schlief.

Ich saß auf dem Ledersofa in der gemütlichen Ecke. Vor mir auf dem runden Tischchen brannte die elektrische Stehlampe mit dem japanischen Seidenschirm. Harst ging im Zimmer auf weichen Morgenschuhen lautlos auf und ab. Dann holte er eine Flasche Sherry Brandy, schenkte auch mir ein Spitzglas voll und trank nach einem ernsten: „Uns kann diese Herzstärkung nichts schaden!“

Unaufgefordert leistete ich mir noch eine Herzstärkung. Harst rollte sich den Klubsessel näher und nahm Platz. Ich wußte, jetzt würde er sprechen. Er hatte schon vorhin ein Päckchen Zeitungen aus seinem Schreibtisch herausgenommen, breitete nun sechs Blätter vor sich auf der Tischplatte aus, die so zusammengefaltet waren, daß bestimmte Stellen des Anzeigenteils die Oberschicht bildeten. Er langte nach dem silbernen Zigarettenkasten, nahm eine Mirakulum und strich ein Streichholz an – alles das mit Bewegungen wie ein Automat. Ich merkte, er war mit seinen Gedanken anderswo.

Die ersten Rauchringe schwebten hoch, zerflatterten. Dann begann er: „Unsere Aufgabe lautet diesmal:

„Welchen Zweck haben die drei Anzeigen im Berliner Kurier vom 16.[9], 22. und 28. Mai des Jahres, Morgenausgabe, links oben, Seite 6, Kugelrand.“

Sie kennen diese Annoncen, Schraut. Wir haben sie uns ja genügend angesehen. Trotzdem will ich sie Ihnen nochmals vorlesen. Nummer eins, vom 16., fünf Zentimeter hoch, acht Zentimeter lang, hat den Wortlaut:

„Wißmacht – Wißmacht ist das Allerbeste!“

Weiter – vom 22. –:

„Wißmacht – Wißmacht ist das Allerfeinste!“

Vom 28. –:

„Wißmacht – Wißmacht ist das Billigste!“

Für den harmlosen Leser haben diese Anzeigen nichts Besonderes an sich gehabt. Wißmacht kann ein neues Seifenpulver oder dergleichen sein, mögen die meisten gedacht haben. Aber – meine Wettgegner müssen irgendwie dahinter gekommen sein, daß diese Annoncen keine Reklame waren. Wie sie’s herausgebracht haben, verschwieg man mir. Nun – das ist ja auch gleichgültig. Jedenfalls soll ich nun ermitteln, was es mit diesem Wißmacht auf sich hat. – Gestern ging ich an die neue Aufgabe heran. Während Sie, lieber Schraut, mich auf einem Spaziergang vermuteten, war ich in der Expedition des Kuriers. Mein Name genügte, den Diensteifer der Herren bis ins unerträgliche zu steigern. Hoffentlich sind sie wirklich verschwiegen. Ich bat darum. Wir müssen ja stets auf unserer Hut sein. – Ich erfuhr, daß die Anzeigen brieflich eingegangen sind, eingeschrieben, zugleich mit einem Betrag, der die wahren Kosten der Annoncen weit überstieg. Aufschrift und Anzeigenentwurf waren getippt, ebenso das Anschreiben. Absender wollte ein Herr Ernst Felisch, Werder, Gartenstraße 15, sein. Ich habe die dortige Polizei angefragt – telephonisch. In ganz Werder gibt es keinen Felisch, was ich mir schon gedacht hatte. Immerhin sind die drei eingeschriebenen Briefe dort aufgegeben worden. Den letzten Briefumschlag und das dazu gehörige Anschreiben habe ich von der Expedition ausgehändigt erhalten. Beide bieten nichts Besonderes. Man erkennt nur, daß eine alte Schreibmaschine benutzt worden ist. – Immerhin wußte ich nun, daß es mit den Anzeigen eine eigene Bewandtnis haben mußte. Ich habe mir dann hin und her überlegt, was sie bedeuten könnten. – Eine geheime Verständigung war’s vielleicht. Dazu erschienen sie aber zu kurz, zumal ja in allen dreien nur das letzte Wort wechselte. – Das letzte Wort! Konnte es nicht so etwas wie ein Kennwort für eine andere Anzeige scheinbar ebenso harmlosen Inhalts sein? – Ich ging diesem Gedanken weiter nach. Ich sah die Morgennummern des Kuriers vom 16., 22. und 28. ganz sorgfältig durch. Ich entdeckte nichts. Da tat ich dasselbe bei den Morgenausgaben der folgenden Tage. Und – der Zusammenhang war gefunden, denn in der Nummer vom 18. stand unter Vermischte Anzeigen folgendes:“

Harst nahm ein viertes der zusammengefalteten Blätter auf.

„Also folgendes, lieber Schraut:

„Allerbeste, haben verstanden. Erwarte Dich W. 8 heute 12.“

So, das war die Antwort auf die eine Wißmacht. – Und auf die vom 28. steht hier in der Nummer vom 1. Juni:

„Billigste. 3. Juni 12.“

Und heute, nein, gestern, denn Mitternacht ist längst vorbei, war der 3. Juni. – So weit war ich nun. – Was 12 bedeutete, konnte ich unschwer erraten – nach dem Kursbuch, wo auch die Nachtzeiten unterstrichen sind: Also: zwölf Uhr nachts! – Nun aber der Treffpunkt, wo die Antwortenden die Allerbeste, Allerfeinste, Billigste erwarten wollten. – Endlich fiel mir auf, daß die erste Erwiderung im Gegensatz zu den kürzeren zwei und drei noch die Worte enthielt: „haben verstanden. Erwarten Dich W. 8.“ – Was sollte das heißen? Bezog sich das „haben verstanden“ etwa auch auf dieses W. 8? – Vermutlich ja, sagte ich mir, da es bei der zweiten und dritten Antwort fehlt. – Die Antwortenden waren sich also über die Bedeutung dieses W. 8 aus der ersten Anzeige „Wißmacht“ klar geworden. Konnte nun auch ich nicht aus dem Wortlaut dieser Annonce den auf diese Weise vereinbarten Treffpunkt ergründen? – Gewiß! Als ich erst dies alles mir logisch zurechtgelegt hatte, blieb ja nur „Wißmacht“ als das einzige Wort übrig, das einen verborgenen Sinn haben konnte. – So, lieber Schraut, jetzt sollen Sie zeigen, daß auch Sie kombinieren können.“

Ach wie oft schon hatte Harald Harst sich mit einer ähnlichen Aufforderung – erfolglos an mich gewandt! Immerhin – ich wollte es versuchen. Und – siehe da! – heute hatte ich einen glücklichen Tag. Geradezu triumphierend rief ich:

„W. 8 – Wißmacht! – Wißmacht beginnt mit einem W, und endigt mit „acht“! Mithin ist W. 8 – Wißmacht.“

„Sehr gut,“ lobte Harst. „Und weiter?“

Oh – jetzt war ich im Zuge. Vielleicht hilft bei mir gerade der Schnupfen, vielleicht läuft die Denkmaschine dann besser.

„Streicht man von Wißmacht die „acht“, so erhält man Wißm…, – und wir waren vorhin im Neubau Wißmannstraße 8!“ erklärte ich eifrig.

„Ja, wir waren heute, besser gestern, dort, und ich – bereits vorgestern nachmittags, nachdem ich genau wie Sie, lieber Schraut, das „Wißm“ als den Anfang eines Straßennamens und dann auch „unsere“ Wißmannstraße nach einiger Mühe als die wahrscheinlich richtige herausgefunden hatte. – Nach einiger Mühe! In Berlin und den Vororten gibt es im ganzen nach den Adreßbüchern vier Straßen dieses Namens. Ich nahm also ein Auto und fuhr fast drei Stunden spazieren, bis ich ausgerechnet als die letzte unsere W. 8 besuchte und dort den Neubau entdeckte. Er kam mir gleich von außen so geheimnisvoll vor, daß ich das Auto fortschickte und ihm einen Besuch abstattete. Dabei stieß ich rechts im Keller auf einen Raum, in dem neben und vor einem Kasten zum Ziegelsteintragen folgendes lag: Eine Lockennadel, sechs abgebrannte Streichhölzer, sechs Zigarettenmundstücke, Marke Optimus, a 8 Pfennig, ein Stückchen von einem Gummiabsatz, eine Silberpille Mundparfüm und ein Stückchen einer Fahrkarte 2. Klasse, auf dem man gerade noch von dem Abfahrtort „der“ und als Ziel Berlin lesen konnte. – Diese Kleinigkeiten verrieten mir, daß der Kellerraum einmal von einer Dame in Begleitung eines Herrn besucht worden war, denn das Gummiabsatzteilchen war für eine Damenhacke zu groß. Weiter verriet mir aber das Fahrkartenstück einen gewissen Zusammenhang zwischen Werder – der – und diesen Kellergästen – zwischen Werder als Absendeort der Wißmacht-Anzeigen. Und deshalb hielt ich eben unsere Wißmannstraße für die einzig hier in Frage kommende.“

Harst rauchte eine neue Mirakulum an. „Nun zu unserem Abenteuer in Nummer 8. Es kann kaum dunkler und undurchsichtiger sein. – Sie sehen eine Lichterscheinung aufleuchten. Gleich darauf flieht eine Frau im Seidenmantel und Lackhut aus dem Keller, der Sie nachher die Geldbörse entreißen und auf die ein elegantes Gefährt mit Gummirädern und so weiter gewartet hat. Diese Geldbörse aus Krokodilleder haben wir schon geprüft. Sie enthält fünfzehn Mark, eine kleine Nagelfeile und ein winziges Kinderzähnchen. Sonst nichts. Sie verschweigt uns alles, was wir gern wissen möchten. – Dann finde ich den Knaben, den ich erst für tot halte, den wir in der Bude verbergen und der so ärmlich angezogen ist, daß er gar nicht recht zu den Leuten paßt, die sich in „Wißmacht“ treffen wollten. Wollten! – Sie fanden die geflüchtete Frau ja nicht mehr vor, diese beiden, die dann Punkt 12 Uhr erschienen und die etwa zwanzig Minuten warteten, wobei der Herr im Zylinder abermals Zigaretten rauchte und mit seiner Begleiterin nur wenige Worte wechselte. Und diese Begleiterin? – Man könnte auf die Vermutung kommen, es wäre dieselbe Frau, die so eilig davonlief, denn auch sie hatte einen langen Seidenmantel, einen Lackhut und war schwarz verschleiert. – Dann schließlich der Junge, der jetzt in meinem Bett schläft. Wir haben von ihm bisher nichts erfahren können. Er ist zu matt von der langen Betäubung. – Ich komme damit zu einem der wesentlichsten Punkte, lieber Schraut, über den wir noch nicht gesprochen haben. – Wodurch wurde er betäubt? – Ich will es Ihnen erklären. Als ich in den Keller eindrang, nachdem die Frau geflohen war, fand ich das Kind ohne spürbare Pulstätigkeit. Ich fand auch sehr bald heraus, daß in jenem Kellerraum offenbar absichtlich ein Mordanschlag gegen irgend jemand vorbereitet worden war. Die elektrischen Drähte des beim Bau des Hauses verwendeten Lastenaufzugs außen am Hause waren so hergerichtet, daß der, der einen am Boden liegenden Brief aufnehmen wollte, sie berühren mußte. Die Lichterscheinung, die wir sahen, war eine elektrische Entladung. Sie traf den Knaben, betäubte ihn und zerstörte den Brief zur Hälfte. – Hier ist die andere Hälfte.“

Harst griff in die Tasche, reichte mir den halb verkohlten Umschlag.

„Sie sehen, Schraut, daß es ein leerer Umschlag ist, zugeklebt, darauf die Anschrift:

Eilt!

An Wiß

Der Rest ist vernichtet. – Sollte also heißen: An Wißmacht. – Nun hätten wir alles beieinander. Und nun sagen Sie mir: wie in aller Welt soll man daraus auch nur ungefähr eine Theorie der Zusammenhänge herstellen?! – Ich kann’s nicht, Schraut. Ich habe mir soeben bei der Promenade durch das Zimmer jede Einzelheit nach allen Seiten hin überlegt. Ich stehe vor einem vollkommenen Rätsel.“

„Ich erst recht,“ sagte ich ehrlich. „Am interessantesten ist jedenfalls meines Erachtens die Frage, ob die zweite Frau im Lackhut dieselbe war wie die, der ich die Börse –“

Ich schwieg. Ich hatte nebenan in Harsts Schlafzimmer ein lautes Geräusch gehört. Es hatte so geklungen, als ob jemand unversehens gegen einen Stuhl stößt und dieser auf den Dielen ein Stück weiterrutscht. Gleichzeitig war aber auch Harst aus seinem Sessel hochgefahren. Jetzt tat er auf seinen Morgenschuhen zwei lautlose Sprünge nach der Schlafstubentür hin, riß sie auf.

Tiefe Dunkelheit dort drinnen. – Ich hatte mich aus meiner Sofaecke weit vorgebeugt. Ich sah, wie Harst die Nachttischlampe vor seinem Bett einschaltete, sah nun auch den blonden Struwwelkopf des Jungen in den Kissen, mit dem Gesicht nach der Wand zu.

Dann verschwand Harst nach rechts hin, wo der mächtige Kleiderschrank steht. Ich hörte dessen Tür knarren, hörte das Knacken des Schlosses, hörte beides nach einer Weile nochmals. Nun kam Harst langsam in das Arbeitszimmer zurück. Über dem linken Arm trug er eine Lodenpelerine und einen seiner Gummimäntel, in der linken Hand ein paar braune Halbschuhe.

„Es war nur das Fenster, das halb offen steht und das der Wind bewegt hat,“ sagte er ziemlich laut und schloß die Schlafstubentür hinter sich.

Kaum war dies geschehen, als er sich sofort auf den nächsten Stuhl setzte, die Kleidungsstücke auf den Teppich gleiten ließ, seine Morgenschuhe abstreifte und die Halbschuhe überzuziehen begann.

„Schraut!“ flüsterte er, „schnell – holen Sie ganz leise Ihren Hut. Der Junge liegt jetzt angezogen im Bett. Nur seine Stiefel stehen noch da. Es ist ein geriebener kleiner Bursche. Er will auskneifen. Wir müssen ihm heimlich nach, denn nur so können wir dieses Wißmacht ergründen –“

Ich schlich hinaus, über den Flur, in meine Wohnung. Im Augenblick war ich mit dem Hut zurück. Harst reichte mir den Umhang. Er selbst hatte den Gummimantel bereits an.

„Auf die Straße hinaus,“ raunte[10] er mir zu. Fügte sehr deutlich und nur für den kleinen Betrüger da drinnen hinzu: „Gute Nacht also. Ich werde noch etwas arbeiten.“

Wir verließen das Haus in aller Stille und überschritten die Straße, standen nun im Schatten der Bäume drüben und warteten. – Wir warteten umsonst. Nach einer halben Stunde etwa – mir kam’s so lang vor, aber es waren doch nur einige zwanzig Minuten gewesen – wurde Harst mißtrauisch, eilte in sein Schlafzimmer, war sofort wieder bei mir.

„Dieser kleine Halunke!“ rief er schon von weitem. „Natürlich ausgerückt. Aber durch den Hintereingang und den Gemüsegarten! Er muß gemerkt haben, daß wir ihm auflauerten. Nicht zu glauben – solch’ ein Pfiffikus! Aber – gerade diese Flucht beweist mehr als alles andere, daß die Leute, die sich dort im Keller zusammenfanden, auf sehr faulen Pfaden wandeln! Bedenken Sie, Schraut: der kleine Bursche muß ja nach dem elektrischen Schlage noch außerordentlich schwach gewesen sein! Trotzdem sucht er sich uns, unseren Fragen und den anderen Folgen seiner Unterkunft bei mir zu entziehen! Also: sehr schlechtes Gewissen!“

Ich pflichtete ihm bei. – Er stand jetzt neben mir und starrte zum bewölkten Himmel empor. Seine grauen Augen mit den langen, seidigen, dunklen Wimpern hatte er halb geschlossen. Ich kannte diese Art, seinen Blick zu verschleiern. Dann war ihm stets etwas eingefallen, das er im Geiste nun schnell verarbeitete.

Plötzlich nahm er mich unter den Arm, zog mich mit fort: „Trab, Schraut, – Trab, – sonst kommen wir zu spät!“

Wir liefen, als wären wir verfolgte Einbrecher. Wir fanden ein leeres Auto. Der Chauffeur weigerte sich, nach der – nicht existierenden – Straßenkreuzung vor Steglitz zu fahren. – „Ick hab’ all Schluß jemacht, will in die Jaraje!“ meinte er. – Zwanzig Mark genügten jedoch, ihn umzustimmen.

So ging’s denn abermals dorthin, wo wir in dieser Nacht schon einmal gewesen; abermals suchte der Chauffeur die Straßenkreuzung, abermals wurde Harst scheinbar ungeduldig und schickte den Mann nach Hause. Dann – wieder im Trab dem Neubau zu. Und während wir so dahinstürmten – bisher hatte Harst nicht ein Wort zu mir gesprochen –, sagte er stoßweise:

„Schraut – ich habe in dieser Nacht einen schweren Fehler begangen! Es ist so gut wie selbstverständlich, daß die Frau im Lackhut, die vor Entsetzen über den Tod des Knaben floh – sie hat ihn sicher für tot gehalten, – Hilfe herbeiholen und versuchen wird, den Knaben fortzuschaffen. Denken Sie daran, daß sie Verbündete hat, die ihr ergeben sind, so zum Beispiel den Kutscher des eleganten Gefährts, das doch auf sie dort weiter oben in der Straße wartete und das – nun, haben Sie’s nicht gesehen, Schraut, als wir eben im Auto vorüberkamen. Es steht ja wieder da weit hinten. Mir schien, als säße aber eine Frau jetzt auf dem Bock. Wenn wir doch nur noch einen der Gesellschaft erwischen würden! Mein Fehler bestand darin, daß wir nicht sofort hierher zurückkehrten, als wir den Jungen glücklich ins Bewußtsein zurückgebracht hatten. Da hätte mir spätestens dieser Gedanke kommen müssen, den wir jetzt erst verwirklichen. – Ah – da ist der Neubau. Wenn nur der verdammte Regen aufhören wollte. Es gießt jetzt wieder Strippen. Man sieht so wenig dabei –“

– – – – – – – –

Wir standen nun vor dem Neubau still. Ich keuchte, und der Schweiß rann mir unter dem Hutleder hervor die Nase entlang. Harst atmete ganz ruhig. Er war ja auch zwölf Jahre jünger, und sein Körper gut trainiert für Anstrengungen aller Art.

„Schraut, Sie bleiben hier vorn,“ befahl er. „Sollte irgend jemand aus dem Neubau zu entweichen suchen, so halten Sie den Betreffenden rücksichtslos fest.“

Dann verschluckten ihn die Regenschleier.

Ich überlegte. Hier auf der Straße Wache zu stehen, war eine mißliche Sache. Obwohl im Osten der Himmel sich bereits lichtete, war es infolge des Platzregens, der gerade herniederging, so dunkel, daß ich kaum von der Mitte aus die Hausfront entlangschauen konnte. War es da nicht klüger, ich pirschte mich ganz nahe an den wartenden Wagen heran? Denn dieser konnte ja nur den- oder diejenigen gebracht haben, die Harst jetzt wohl noch in den Kellerräumen auf der Suche nach dem Knaben vermutete. – Ja – so war’s am richtigsten, ohne Frage! – Und kurz entschlossen setzte ich mich wieder in Trab, vermied aber zu laute Schritte, lief mehr auf Fußspitzen.

Da – hinter mir ein Schuß – noch einer. Sie kamen ohne Frage von der Rückseite von Nr. 8 her. Ich blieb stehen. Was nun? Sollte ich umkehren? War Harst etwa in Gefahr?

Nun Pferdegetrappel. Abermals flog mein Kopf herum. Der Wagen nahte. Ich duckte mich zusammen, huschte in den Straßengraben. Mein Umhang verschmolz mit der Dunkelheit in eins.

Der Wagen fuhr vorüber, hielt plötzlich. Ich gewahrte einen Mann, der in langen Sätzen vom Neubau daherkam.

Die Schüsse – und der Mann wurde nicht verfolgt, Harst war nicht hinter ihm drein! War Harst das Opfer der Schüsse geworden?! –

Ein Gedanke! Der Kerl, der da dem haltenden Wagen zurannte, würde auch mich nicht schonen. Am besten also, ich – Und dem Gedanken folgte augenblicklich die Ausführung.

Als das Gefährt nun kurz wendete und die Pferde dann im Galopp davonrasten, hing ich hinten zwischen den vorstehenden Federn, an denen ich mich festhielt, während ich die Beine über die Hinterachse gelegt hatte.

Ich werde diese Fahrt nie vergessen. Hundertmal glaubte ich: Du hältst es länger nicht aus – laß Dich herabfallen! – Und hundertmal siegte die Energie trotz der wahnsinnigen Schmerzen in den Händen und trotz des Gefühls, mir würden die Arme aus den Gelenken gerissen. – Ich durfte nicht schlapp werden – durfte nicht! Denn da vorn auf dem Bock saß ja vielleicht Harsts Mörder neben der Frau! Ich hatte gesehen, wie er sich auf den Bock schwang. Und dies gab mir eine ungeahnte Willenskraft.

Wir fuhren bald langsamer, nur noch im Trab. Die Gummiräder und die tadellosen Federn des Wagens mußten für einen, der drinnen in den Polstern saß, sehr angenehm sein. Für mich erhöhte dieses wiegende Schaukeln nur die Qualen.

Wir hatten Dahlem passiert, bogen in die Hubertusallee der Villenkolonie Grunewald ein. – Wohin würde die Reise gehen, wie lange würde ich’s noch aushalten – wie lange wohl?

Da – der Trab mäßigte sich. Die Pferde hielten – hielten vor einem breiten Gittertor.

Ich hörte, wie der Mann vom Bock sprang, sah ihn nun am Gittertor stehen, dessen Flügel langsam zurückwichen. Er öffnete es. Und ich – ich kroch auf allen Vieren bis zum nächsten Baum am Rande der Promenade, richtete mich auf und machte mich dahinter ganz schlank.

Der Wagen fuhr in einen von Wirtschaftsgebäuden umgebenen, asphaltierten Hof ein, an dessen rechter Seite ein schmuckes Häuschen die Kutscherwohnung verriet. Der Mann spannte die Pferde aus. Die Frau – sie trug einen dunklen Hut mit ein paar Blumen und einen gestreiften, halblangen Mantel, war klein und rundlich – flüsterte dabei eifrig mit ihm, ging dann in das Häuschen. Nachher verschwand auch der Mann hinter derselben Tür. Schon vorher waren zwei Fenster des Häuschens hell geworden. Auf den gelben Vorhängen zeichnete sich jetzt der Schatten eines Knaben ab, der auf dem Fensterkopf etwas suchte.

Eines Knaben! Deutlich war zu erkennen, daß das Haar wirr und hochgekämmt war. Und unser Patient hatte gleichfalls so einen struwweligen Haarschopf gehabt. –

Die Sorge um Harst trieb mich nach der Wißmannstraße zurück. Eine gute Stunde hatte ich zu marschieren, bis ich am Ziel war. Inzwischen war der Morgen angebrochen. Die fahle geheimnisvolle Dämmerung eines Regentages lagerte über dem Gelände zu beiden Seiten des endlosen Asphaltweges, auf dem ich hastig dahinschritt, von dem ich nun zögernder links abbog – auf den Hof des Neubaus.

Eine Viertelstunde später gab ich das Suchen auf. Selbst in der Kalkgrube hatte ich mit einer Latte herumgestochert. Der Mann konnte Harsts Leiche ja irgendwo schnell verborgen haben.

Nun drehte ich mich nochmals um, warf einen letzten Blick über die Bretterbude, über all das Gerümpel, und wollte nun heim nach der Blücherstraße. Mein Herz war mir so schwer. Ich fühlte es ordentlich wie ein Gewicht in der Brust. Harst tot! Was sollte ich jetzt zuerst unternehmen? Ob ich nicht besser gleich die Polizei benachrichtigte?

Ich drehte mich um, tat den ersten Schritt nach der Hausecke hin.

Da: „Morgen, lieber Schraut! Der Tote, den Sie suchen und den Sie bei Ihrer Art des Absuchens einer Örtlichkeit nie gefunden hätten, sitzt die ganze Zeit über hier oben.“

Ich blickte empor. Und – er saß im ersten Stock auf dem Mauerrande einer Fensteröffnung. – Freilich – dort hatte ich mich nicht hinaufbemüht. Der Neubau hatte ja weder Treppen noch Leitern.

„Gott sei Dank!“ rief ich und atmete erleichtert auf.

Da verschwand Harst schon, und wenige Sekunden später war er neben mir, streckte mir die Hand hin.

„Sie scheinen Angst um mich gehabt zu haben, wohl der beiden Schüsse wegen –“

„Oh – Sie – Sie haben ja eine dick geschwollene Lippe!“ entfuhr es mir. „Ihr Kragen ist blutig, und –“

Harst lächelte ein wenig. „Beinahe hätte ein Zahnarzt an mir etwas zu verdienen bekommen. Ein Glück, daß die Harstschen Zähne so standhaft sind. Der Kerl schlug gehörig zu. – Doch – was stehen wir hier? Ich habe Durst auf starken Kaffee und – Hunger! Nach einer solchen Nacht ist das erklärlich –“

Wir gingen. Der Regen hatte ganz aufgehört. Und im Osten zeigte sich ein Stück blendend heller Himmel. Harst deutete dorthin und sagte sinnend: „Ich wünschte, auch für uns träte bald Klarheit in dieser Sache ein. Noch einmal möchte ich dem Manne nicht begegnen, der eine so harte Faust hat, wenigstens nicht nachts in Nummer 8.“

Er holte sein goldenes Zigarettenetui hervor, bot mir eine Mirakulum an und rauchte schweigend die ersten Züge.

Dann begann er: „Aus Ihrem langen Ausbleiben, lieber Schraut, schließe ich, daß Sie irgend einen Erfolg gehabt haben. Erzählen Sie zunächst, dann komme ich heran.“ – Ich tat’s und fügte zum Schluß hinzu: „Bevor ich meinen Posten hinter dem Baum aufgab, bemerkte ich links neben dem Gittertor an einer Pforte ein Messingschild. Ich habe es entziffern können. „Barentraub“ stand darauf.“

„Ah – Barentraub – Geheimer Kommerzienrat Barentraub. Ich kenne dessen Besitzung – von außen. Den Wirtschaftsgebäuden gegenüber liegt auf der anderen Straßenseite inmitten eines riesigen Parks die schloßartige Villa. Ein herrlicher Besitz, Schraut. Er grenzt an den Hubertussee nach Westen zu. – Also Barentraub!“

Er schüttelte unzufrieden den Kopf. „Schraut – die Geschichte wird immer verwickelter. Wenn fünfzigfache Millionäre zu derartig dunklen Dingen wie Wißmacht in Beziehung stehen, so tut man gut, noch vorsichtiger als sonst zu sein. Geld ist Allmacht –“

Hinter uns kam eine müde Taxameterdroschke angeklappert.

„Steigen wir ein,“ meinte Harst. „Ich bin müde.“

Wir fuhren sehr gemächlich der Blücherstraße zu. Und Harst berichtete nun folgendes: „Ich war kaum an die Rückfront des Neubaus gelangt, als ich auch schon im Keller den Lichtschein einer Taschenlaterne sah. Ich schlich bis an[11] das betreffende Fenster und erblickte einen Mann mit leicht ergrautem Bart, der einen schlecht sitzenden Überzieher und einen steifen schwarzen Hut trug und mit der Taschenlampe in der Rechten den schuttbedeckten Boden ableuchtete. Er murmelte dabei im Selbstgespräch allerlei vor sich [hin][12]. Ich konnte aber nur wenig verstehen. Er seufzte oft, war fraglos sehr niedergedrückt und wiederholte häufig: „Mein Gott – was soll nun werden?!“ – Sehr bald verließ er mit einem „Es nutzt ja doch alles nichts!“ den Keller und kam auf den Hof. Hier trat ich ihm entgegen.

„Wer sind Sie?“ fragte ich.

Er prallte zurück, griff in die Tasche, zischte förmlich: „Schurke – Sie – Sie sollen –“ Da hob er auch schon den Arm. Zwei Blitze zuckten auf. Ich war schnell zur Seite und dann auf ihn zugesprungen. Aber er war auf der Hut. Seine Faust traf mich ins Gesicht, ein zweiter Boxhieb vor den Magen. Ich war also fürs erste erledigt, schnappte nach Luft und – der Kerl riß aus. Als ich mich leidlich erholt hatte, stellte ich fest, daß Sie und der Wagen verschwunden waren. Dann kletterte ich dort in die Fensterbrüstung hinauf, rauchte fünf Mirakulum und ließ mir die heutige Nacht mit allem Drum und Dran nochmals – vergeblich durch den Kopf gehen. Und dann erschienen Sie, lieber Schraut. Es war rührend mit anzusehen, wie emsig Sie nach der Leiche eines durch eine Knallpistole Erschossenen suchten. Ich sage Knallpistole. Es war nämlich nur so ein Hundeschreckmittel, mit dem der Mann auf mich feuerte. Ich hörte es gleich am Knall. Patronen, die vorn ein Geschoß haben, geben eine ganz andere Detonation. Und als der Kerl zischte „Schurke – Sie – Sie sollen“, da wollte er hinzufügen – „mich nicht fangen“, nicht etwa – „daran glauben“ oder eine ähnliche ernsthafte Drohung. – So, damit wäre ich fertig. Ich weiß nichts mehr – Eigentlich weiß ich ja genug. Aber dieses Wissen ist Stückwerk, ist ein Neubau, dem noch vieles fehlt, ehe er ein Ganzes wird.“ –

Daheim angelangt kochte Harst für uns auf seinem elektrischen Kocher Kaffee. Ich saß wieder in der gemütlichen Ecke. Es war jetzt ein viertel sechs. Draußen schien die Sonne.

Harst hatte die Fenster weit aufgemacht. Nun blieb er vor dem Schreibtisch stehen, hob ein Blatt Papier auf, schien zu lesen.

„Ein Abschiedsgruß unseres Patienten,“ sagte er. „Der Junge muß es im Schlafzimmer beim Schein der Nachtlampe geschrieben haben. – Hier ist sein Dank.“ Er reichte mir den Zettel. Eine ungeschickte Kinderhand hatte geschrieben:

Ich danke Ihnen herzlich für alles. Ich habe an der Tür gelauscht, und daher weiß ich, Sie sind keine von denen, die ihr nachstellen, und wenn Sie edel sein wollen, so kümmern Sie sich nicht mehr drum, und dann ist das für alle gut. – K. Sch.

„Dieser Dank ist immerhin in einer Beziehung wichtig, ganz abgesehen davon, daß er den braven Charakter des Jungen beweist,“ sagte Harst und schenkte die kostbaren Delfter Tassen voll. „Es heißt da ja – „die ihr nachstellen –“ Wir wissen nun wieder etwas mehr: es wird jemandem nachgestellt! – Wer mag es sein, Schraut?“

„Ich denke, hier kommt nur die Dame im Lackhut in Frage,“ erklärte ich sofort.

„Richtig – nur sie! – Aber welche der beiden Lackhut-Trägerinnen? – War Nr. 1 und Nr. 2 ein und dieselbe Person? – Sie sehen, die Frage beschäftigt uns schon wieder.“

„Gestatten Sie eine Bemerkung,“ meinte ich. „Sie müssen doch gesehen haben, ob die Nr. 2, die mit dem Herrn im Keller saß, helle oder dunkle Handschuhe aufhatte. Die von Nr. 1 waren jedenfalls hell. Ich denke Wildleder, waschbar. Ich fühlte es, als ich ihr die Börse entriß. Jedenfalls keine glatten Glacees!“

Harst hatte den Kopf schnell gehoben, nickte mir zu.

„Bravo, Herr Sekretär, bravo! Das war ein glücklicher Einfall von Ihnen! Meine Nr. 2 trug nämlich ganz dunkle Handschuhe. Und da nicht anzunehmen ist, daß Nr. 1 etwa inzwischen die Handschuhe gewechselt hatte, sind wir nunmehr auf dem Wege zur Klarheit ein Millimeter weitergekommen.“

Weitere Unterhaltung über „unseren Fall“ lehnte er nun jedoch ab. Und eine halbe Stunde drauf lag ich im Bett. Um elf Uhr vormittags weckte Harst mich.

„Aufgewacht, Schraut! Duschen Sie schnell, ziehen Sie sich an und dann – an die Arbeit.“

Er war lebhaft angeregt, sozusagen kampfesfreudig. Ich kenne diese Art an ihm zur Genüge. Wenn er sich so gibt, weiß er stets, daß er siegen wird.

Als wir nachher im Auto nach dem Bankgeschäft Barentraub u. Co. in der Leipziger Straße fuhren, sagte ich forschend: „Ich vermute, Sie haben ein Mittel entdeckt, der Wahrheit oder besser der Klarheit auf die Spur zu kommen.“

„Aber lieber Schraut, – wenn ich auch in der Nacht immer wieder erklärt habe, ich fände mich in alldem nicht zurecht, so hieß das doch nie im Leben, daß ich einen Mißerfolg befürchtete. Ich bitte Sie: wir haben ja jetzt so zahlreiche Angriffspunkte, daß ich sogar in kurzem die Schleier über diesem Wißmacht vollständig lüften werde.“ – So sprach er, und – er behielt recht.

In der Bank wollte Harst zum Schein eine Mexiko-Aldavara-Silber-Aktie verkaufen. Dies gab ihm Gelegenheit, den Prokuristen beiseite zu bitten. Was sie verhandelten, hörte ich nicht.

Wir traten wieder auf die Straße hinaus, wo jetzt um die Mittagszeit bei dem prächtigen Juniwetter ein gefährliches Gedränge herrschte, zumal wieder Erdarbeiten im Gange waren, die den halben Bürgersteig sperrten.

Harst zog mich in die leere Wilhelmstraße.

„Die Aldavara-Aktien sind gestiegen. Ich soll sie behalten. Das wußte ich selbst. Was ich nicht wußte, ist, daß die ganze Familie Barentraub seit April in Rom weilt, die ganze Familie, Vater, Mutter, zwei erwachsene Töchter, – Zwillinge, zwanzigjährig. – Ganz interessant: – Zwillinge! Und unsere beiden jungen Damen waren sich in der Gestalt doch sehr ähnlich –“

„Hm,“ machte ich nur. Ich verstand dieses „interessant“ nicht.

„Nicht hm, lieber Schraut. Ich sagte ja schon: fünfzigfache Millionäre können so ziemlich alles, – auch scheinbar in Rom sein und doch zu dunklen Zwecken längst wieder in Berlin sich aufhalten. – Warten wir ab. – Jetzt geht’s nach dem Gemeindeamt Steglitz. – Weshalb wohl?“

„Keine Ahnung,“ meinte ich ehrlich.

„So denken Sie doch nach! Sie machen sich die Sache immer zu bequem. – Auto – halt! – Einsteigen, Schraut. – Chauffeur, Gemeindeamt Steglitz.“

„Ich komme nicht drauf,“ sagte ich kläglich nach einer geraumen Weile.

„Und dabei ist’s so einfach! – Die Person, die die drei Anzeigen Wißmacht einrückte, muß doch genau gewußt haben, daß die, für die die Annoncen bestimmt waren, durch dieses Wißmacht darauf aufmerksam werden würden! Mithin kannten beide Teile unsere Wißmannstraße Nr. 8 sehr genau – einen Neubau! Ich betone – einen Neubau, an dem doch nur spätere Mieter oder der Besitzer Interesse haben kann. Wer kennt sonst wohl noch Nr. 8, einen liegen gebliebenen Bau?! – Und deshalb müssen wir feststellen, wem das Grundstück gehört. Von dem Eigentümer dürften wir dann nötigenfalls etwas über Leute erfahren, die gerade in jene einsame Gegend ziehen wollten.“

„Sehr schön alles, Herr Harst,“ wagte ich einzuwenden. „Aber Barentraubs werden doch nicht in ein Miethaus ziehen, wo sie doch –“

„Genug, Schraut – genug!“ unterbrach er mich. „Sie werden nie ein erstklassiger Detektiv werden! Wer beißt sich denn auf einer Fährte fest?! Das wäre Stümperei! Nur wenn man alles aufklärt, jede Kleinigkeit, entwirrt man das Ganze – anders nicht!“

Das Auto hielt. Harst hieß den Chauffeur warten.

– – – – – – – –

Der zuständige Beamte in der Bauabteilung war ein älterer, sehr gesprächiger Herr. Harst führte sich mit der Bemerkung ein, er hätte zufällig gesehen, daß der Bau Wißmannstraße 8 unvollendet geblieben sei; er möchte das Grundstück erwerben.

Da hatte der alte Herr, dessen weißer Schnurrbart unter der Nase den eifrigen Schnupfer verriet, sofort die Arme hochgereckt und gerufen: „Tun Sie’s, – tun Sie’s, damit wir endlich unsere Steuern erhalten! – Ein Unglücksbau, meine Herren – nicht nur für uns! Der Eigentümer Blink sitzt im Irrenhaus, hat sein Vermögen verschwendet, – wo, wie, weiß so recht keiner.“

Harst warf mir einen Blick zu. Das hieß:

„Abermals eine interessante Einzelheit!“

Und der Weißbart fuhr fort: „Er hat daher auch ’n Vormund – seinen Schwiegersohn, Regierungsrat Stachel. Der wohnt Charlottenburg, Kantstraße 52, unweit des Bahnhofs. An den wenden Sie sich bitte. Ein sehr liebenswürdiger Herr. Noch jung – hat schnell Karriere gemacht.“

Harst fragte, ob etwa schon vorher jemand auf Wohnungen in dem Neubau reflektiert hätte.

„Aber nein doch, – nein, – das Haus sollte ja ein Sanatorium werden – mit größerem Park. Hinter dem Grundstück stehen ja ein paar Tannen. Für den Anfang genügt das. – Ja – ein Sanatorium für Herrn Blinks anderen Schwiegersohn, den Doktor Görner, der jetzt in Werder ein kleines Sanatorium für Nervenkranke hat – in unserer Obststadt Werder. Dort befindet sich auch der arme Blink. Wenn ich vorhin Irrenanstalt sagte, so trifft das zu, denn das Sanatorium Havelruh in Werder ist wohl lediglich eine Privatirrenanstalt mit dem harmloseren Namen Sanatorium.“

Abermals ein Blick Harsts – ein aufleuchtender Blick! – Ich verstand: Werder – Werder, – und das Stückchen Fahrkarte war ja nach Harsts Überzeugung eine solche Werder–Berlin! –

Wir dankten dem freundlichen Herrn und gingen, fuhren heim, aßen zu Mittag, machten auf Harsts Wunsch Maske und besuchten gegen vier Uhr nachmittags den Regierungsrat. Wir waren jetzt zwei biedere, solide Handwerksmeister und Brüder, die gern Hausbesitzer werden wollten.

Ein nettes Hausmädchen führte uns in das Arbeitszimmer Stachels. Dann erschien er selbst. Harst machte den Sprecher, berlinerte etwas, sagte, wir hätten von der Gemeinde Steglitz Bauterrain kaufen wollen, und so weiter.

Der Regierungsrat hatte ein angenehmes Gesicht, trug blonden Spitzbart, war aber zuerst sehr zugeknöpft. Erst als Harst ganz im Sinne seiner Rolle scherzend ein Päckchen Tausendmarkscheine zeigte, mit der Hand drauf schlug und meinte: „Wir sind zahlungsfähig – bis zu 60 000 Märker in baribus,“ da taute jener auf, blieb jedoch recht zerstreut. Mir fiel auf, daß er sehr blaß aussah, übernächtig und matt. Nach einer halben Stunde waren wir dann überein gekommen, am nächsten Nachmittag fünf Uhr das Grundstück gemeinsam zu besichtigen. Wir verabschiedeten uns, und Stachel geleitete uns in den Flur. Dort hing neben unseren Hüten auch ein Zylinder.

Harst vergriff sich, nahm den Zylinder, lachte: „Beinah’ hätt’ ick Ihnen Ihre Angströhre entführt, Herr Regierungsrat.“

Da erst ging mir urplötzlich ein Licht auf! Harst hatte sich absichtlich vergriffen, hatte mich nur auf den Zylinder aufmerksam machen wollen!

Als wir unten auf der Kantstraße angelangt waren, sagte ich schnell:

„Blonder Spitzbart – Zylinder –: Stachel ist der Herr von der vergangenen Nacht!“

„Ja – einen Teil der an dem Neubau interessierten Personen haben wir gefunden, – einen Teil der Leute, die sich durch die Anzeigen verständigen, lieber Schraut. Ich hätte ihn auch dann wiedererkannt, wenn ich sein Gesicht nicht im Keller gesehen hätte. Auf seinem Schreibtisch lagen zwei Schachteln Optimus-Zigaretten a 8 Pfennig. Und die Mundstücke im Keller waren auch Optimus. – Wir sind jetzt ein ganzes Meter vorwärtsgekommen. – Jetzt zum Potsdamer Fernbahnhof, wo die Züge von Werder einlaufen.“

Harst hatte das Stückchen Fahrkarte 2ter mit, zeigte es an der Bahnsteigsperre einem Schaffner, reichte diesem gleichzeitig drei Zigarren mit Binden und bat um eine der bereits den Fahrgästen von Werder abgenommenen Karten zweiter Klasse – nur zu einem kurzen Vergleich.

Es stimmte: das grüne Pappstückchen war ein Teil einer Werder–Berlin-Fahrkarte.

Es war jetzt halb sechs. Harst stellte fest, daß um 6 Uhr 10 Minuten der nächste Zug nach der Obststadt an der Havel abging.

Um 7 Uhr 15 Minuten standen wir vor dem Eingang von Havelruh. Ein Krankenwärter empfing uns. Harst erklärte, er wollte seine Schwester hier unterbringen, die gemütsleidend wäre. Sofort wurden wir in das Empfangszimmer geführt, und gleich darauf trat auch Doktor Heinrich Görner ein – glattrasiert, sehr gemessen, sehr höflich und – für einen Nervenarzt für meinen Geschmack mit zu unstätem Blick.

Harst spielte hier wieder den Zimmermeister Jakob aus der Müllerstraße, Berlin N. Wir waren ja noch im „Kostüm“. Er zahlte dann gleich für seine Schwester, die er übermorgen bringen würde, 200 Mark an, was Doktor Görner noch liebenswürdiger machte.

„Übrigens war ich schon gestern hier in Werder, Herr Doktor,“ meinte Harst nun. „Da wurde mir aber auf dem Bahnhof gesagt, Sie wären nach Berlin gefahren.“

„So?!“ Ich merkte, Görner war etwas verlegen. „Dann – dann müssen Sie aber recht spät mich haben besuchen wollen,“ fügte er unsicher hinzu.

„Unsereiner hat am Tage wenig Zeit, Herr Doktor. ’s war, denk’ ick, so jejen neune rum. Jenau weiß ick ’s nich. Ick hab’ den Kopp jetzt so voll. Ick will ’n Neubau kaufen, so’n verkrachten Besitz von einem Herrn, der irgendwo in ne Anstalt is.“

Görner wurde aufmerksam.

„Neubau – hm. Das interessiert mich. Ich suche selbst ein billiges Grundstück näher bei Berlin. Dürfte ich fragen, Herr Jakob, wo –“

„Aber natierlich dürfen Sie, Herr Doktor, zumal ick mir det Jeschäft doch noch sehr beschlafen werde. – Also es ist ne Parzelle auf Steglitzer Terrain, Wißmannstraße 8.“

„Welch ein Zufall!“ rief Görner, aber es klang sehr gemacht, dies Erstaunen. „Das Grundstück gehört ja meinem Schwiegervater –“

Nun erzählte Harst von unserem Besuch bei Stachel. Und wir schieden dann von Görner mit beinahe freundschaftlichem Händedruck.

Auf dem Bahnhof – bis dahin hatte Harst sich in Schweigen gehüllt – sagte er:

„Schraut, der Regierungsrat war mißtrauisch. Er hielt uns wohl zunächst für Spione. Der Doktor ist gänzlich harmlos gewesen und geblieben – ich meine was unsere Persönlichkeiten angeht. Im übrigen halte ich aber gerade ihn für einen sehr gefährlichen Burschen. Diese Leute mit unsicherem Blick, öliger Liebenswürdigkeit und gekünstelter Gemessenheit sind stets fragwürdige Naturen. Sie spielen immer eine gewisse Rolle, sind nie sie selbst, weil sonst aus allen Winkeln bei ihnen der Halunke hervorgrinsen würde. Und – er war gestern in Berlin, ist spät abends hingefahren. Es schien ihm peinlich, daß angeblich ein Bahnbeamter seine Abfahrt bemerkt hatte. Das gibt zu denken –“

Wir betraten den Warteraum, bestellten etwas Warmes und eine Flasche Rotwein, und Harst biederte sich mit dem Wirt an, erzählte bald von seiner unglücklichen, gemütskranken Schwester, die er nun in Havelruh unterbringen würde.

Der Wirt mußte mittrinken. Bei der dritten Flasche machte er so allerlei Andeutungen über Görner. – „Sie sollten Ihre Schwester besser woanders in Pflege geben, Herr Jakob. Ich will mir nicht die Zunge verbrennen. Aber – im Vertrauen – in Havelruh gibt’s für Patienten mehr Kaltwasserbäder als Essen. – Ne, – fragen Sie nicht, – ich bin vorsichtig! Der Görner – mit dem muß man gut Freund sein, der spioniert alles aus – alles. Vorhin war wieder einer von seinen Machern hier und fuhr nach Berlin zurück. Weiß Gott, was er mit – Doch ne – nun Schluß! Prost – reden wir von was anderem.“

Das war jedoch einem Harst gegenüber nicht leicht. Er fing von Grundstückspreisen an und landete auf dem Umwege über den Neubau, den wir kaufen wollten, wieder bei Görner. Nun fielen von seiten des Wirtes doch abermals ein paar Bemerkungen. Der Doktor – total verschuldet – Lebemann – Rennwetten, Spieler, Schürzenjäger – die arme Frau!

Damit war’s aber auch zu Ende.

Um halb zehn trafen wir wieder auf dem Potsdamer Bahnhof ein, nahmen ein Auto und waren kurz vor zehn in der Delbrückstraße der Villenkolonie Grunewald, gingen nun sehr langsam an dem Wirtschaftshof Barentraubs vorüber, sahen in dem Kutscherhäuschen Licht, kletterten dann sehr eilig über das hohe Eisengitter des Parks und schlichen auf die Villa zu, die so hinter Hecken und Bäumen versteckt liegt, daß man von der Straße nur das Dach mit den vielen Türmchen bemerkt.

Harst wollte feststellen, ob Barentraubs nicht doch daheim wären. – „Man muß eben alles nachprüfen, Schraut,“ hatte er zu mir gesagt. „Obwohl ich jetzt die beiden Zwillinge aus meinen Berechnungen schon so gut wie ausgeschaltet habe.“

Mir erschien dieses Eindringen in den fremden Park äußerst gewagt. Aber Harst beruhigte mich. „Wenn wir abgefaßt werden, lassen wir uns ruhig verhaften, und in einer halben Stunde sind wir dann wieder frei. Ich habe ja meinen Ausweis mit Photographie mit, Polizeistempel darunter, bitte[13] darauf, dem Assessor a. D. Harst tunlichst Beistand zu leisten, da er – und so weiter.“

Wir bogen nun gerade aus einer schmalen Allee von Buchsbaum in einen breiteren Weg ein, als wir vor uns Stimmen hörten. Es war noch ziemlich hell, und wir drückten uns schleunigst dicht an die Hecke.

Die Stimmen kamen jedoch nicht näher. Wir krochen nun auf allen Vieren weiter.

In einem Halbkreis von Krüppelbuchen lag eine Fontäne in Gestalt eines vier Strahlen ausspeienden Meeresungeheuers. Dahinter stand eine Marmorbank. Darauf saßen drei Personen, ein Mann und zwei Frauen.

Wir lagen lang am Boden an der Ostecke des Halbkreises, verstanden jedes Wort, konnten aber von den Personen nur dunkle Umrisse erkennen.

Eine tiefe Männerstimme sagte jetzt:

„Lassen Sie mir doch das Verjniejen, liebe Frau Doktor. Das bißchen Strom tut dem Geheimrat wahrhaftig nischt. Sie werden Ihre Freude dran haben –“

Der Mann stand auf, machte sich tief gebückt am Rande der Fontäne etwas zu schaffen, und plötzlich flammten die vier Strahlen in farbigem Lichte auf.

Es war eine Leuchtfontäne, und der Mann hatte die Beleuchtung eingeschaltet.

„Wie schön!“ hörten wir eine helle Stimme. Und nun trat die Sprecherin näher an das Bassin heran, wurde von dem Lichtschein des glänzenden Sprühregens getroffen, und – da packte Harst meinen Arm, drückte ihn.

Die Frau dort drüben hatte – einen Lackhut auf. Darunter zogen sich zwei helle Streifen herab, – ein blonder, tief getragener Scheitel.

Von der Villa her plötzlich wütendes Bellen.

Der Mann pfiff laut. Und Harst zerrte mich hastig fort. Im Galopp jagten wir dem Gitter zu, kletterten hinüber.

Die Straße war ganz einsam. Harst blieb stehen, holte tief Atem.

„Wir haben Glück gehabt, Schraut. Es war das Bellen einer Dogge! Ich danke – wenn die uns zu fassen gekriegt hätte! Und – wissen Sie, wer der Beleuchter war? Kein anderer als der, der dem Zahnarzt zum Verdienst verhelfen wollte. Es muß der Kutscher Barentraubs sein. Und – die im Lackhut nannte er „Frau Doktor“. – Die Sache klärt sich – sehr sogar!“

– – – – – – – –

Er schritt jetzt auf die gegenüberliegenden Wirtschaftsgebäude zu:

„Warten Sie hier, Schraut. Ich bin sofort wieder da. Gehen Sie dort bis zur Ecke.“

Ich sah noch, daß er an der Gitterpforte auf den elektrischen Knopf drückte. An der Straßenecke blieb ich stehen, zündete mir als Anregungsmittel eine Zigarre an und ging wieder ein Stück langsam in die Delbrückstraße hinein.

Hinter mir kam jemand her, schritt an mir achtlos vorüber, bog plötzlich links ab. Einen Moment sah ich ein sehr scharfes Profil mit Hakennase, als dieser einsame Herr den Kopf nach der Richtung des Barentraubschen Wirtschaftshofes gedreht hatte. Die nahe Laterne hatte gerade voll dieses Profil beleuchtet.

Es war – Doktor Görner – mit hochgeschlagenem Ulsterkragen. Ich sah nun auch Harst, der eilig ausschritt und mit dem Taschentuch geräuschvoll die Nase putzte. Er blieb bei mir nicht stehen. Ich hatte kehrt gemacht. Er raunte mir zu: „Vorsicht!“

Ich folgte ihm gemächlich. In der Nebenstraße wartete er auf mich.

„Schraut, haben Sie den Doktor bemerkt?“ flüsterte er überstürzt und riß sich den falschen, rötlichen Schnurrbart ab. „Hier – nehmen Sie meinen Überzieher über den Arm. So, jetzt hoffe ich, wird er mich auch ohne Naseputzen nicht wiedererkennen. – Halt – Ihren Hut her. So – auch Ihren Eisenschlips. Passen Sie genau auf, wo ich bleibe, aber lassen Sie sich nicht sehen.“

Er verschwand schnell wieder in der Delbrückstraße.

Auch ich nahm mir den falschen Vollbart ab, ebenso die Perücke, trug den Hut in der Hand, als wäre mir zu heiß. Meine Billardkugel von Schädel muß im Laternenlicht recht stark geleuchtet haben.

So machte ich mich hinter Harst drein, zog aber doch noch schnell auch meinen kurzen Mantel aus, trug nun beide überm Arm wie einen. So war ich ganz harmloser Abendluftgenießer.

Harst war etwa vierzig Schritt vor mir. Ich behielt diese Entfernung bei. Wir kamen so in die Hubertusallee, an Roseneck vorüber, nach Dahlem hinein, – weiter, immer weiter. Ich hörte, wie Harst erst in der Hubertusallee einen Gassenhauer gepfiffen hatte. Jetzt war er ganz still, ging sehr langsam und immer in der Baumreihe entlang. Dann machte er plötzlich halt. Die Bäume hatten ein Ende. Auch ich blieb stehen. Nach einer Weile kam er mir entgegen.

„Schraut, der Doktor ist gut hundertfünfzig Meter weiter jetzt,“ sagte er. „Sie ahnen doch, wohin er will?“

„Etwa nach dem Neubau?“

„Ja – sehr wahrscheinlich. Vielleicht plant er eine neue Teufelei. Nun – er wird sich wundern! Lassen wir ihm noch mehr Vorsprung. Wir finden ihn schon noch. – Wenn ich das geahnt hätte, als ich dem Jungen meinen Ausweis gab!“ fügte er hinzu. „Diese Nacht kann noch aufregender als die verflossene werden.“

„Ausweis – Jungen? Vielleicht unserem Patienten?“ fragte ich verwundert.

„Gewiß – dem Kurt Schlicht, dem Enkel des Kutschers Schlicht. – Er erkannte[14] mich nicht. – Ich mußte dann schleunigst verschwinden, denn Schlichts und die Frau im Lackhut erschienen drüben am Parkeingang.“

Ich hätte ihn gern noch weiter ausgeforscht. Aber er lehnte jedes Gespräch ab, rauchte eine Mirakulum und meinte nur einmal wie zu sich selber redend: „Wenn sie nur dem Rufe Folge leisten möchten! Es gäbe eine hochdramatische Szene –“

Die heutige Nacht war recht hell. Als der Neubau in Sicht kam, bog Harst links ab. Wir kletterten wieder über verschiedene Zäune, gelangten so von hinten zunächst an die Bretterbude.

Harst kniff mich in den Arm: im Keller rechts war Licht.

Wir näherten uns nun sehr vorsichtig den Fenstern, drückten uns dicht an die Mauer – Harst rechts, ich links von der Fensteröffnung.

Ich schob den Kopf vor.

Der Doktor kniete auf dem Schuttboden und warf mit der Rechten Mörtelstücke und Ziegelsteinreste übereinander, während er in der Linken eine eingeschaltete Taschenlampe hielt.

Ich schaute nach Harst hin. Der gab mir ein Zeichen mit der Hand, deutete in den Keller hinein. Ich verstand. Ich nahm aus der Brusttasche meine Taschenlampe, wartete nun.

Harst hatte seinen Revolver hervorgeholt. Dann – ein Satz durch die Fensteröffnung, noch ein Sprung, ein Stoß und Görner, der vor Schreck wie gelähmt war, lag lang da.

„Keine Bewegung – Kriminalpolizei!“ rief Harst drohend. – Ich beleuchtete die Szene von draußen.

„Hierher, Kollege, – binden Sie ihm die Hände mit dem Taschentuch!“ Harsts Stimme war scharf und drohend. „Rühren Sie sich nicht, Doktor Görner. Ich schieße sofort! Leuten wie Ihnen gegenüber darf man nicht lange fackeln.“

Görner war bleich und wie willenlos. Er ließ alles mit sich geschehen. Erst als er auf dem Ziegelkasten saß, den in der vorigen Nacht Stachel und die andere Frau im Lackhut als Sitz benutzt hatten, wurde er lebendig, schrie uns plötzlich an: „Was wollen Sie von mir?! Was habe ich denn getan, daß Sie mich wie einen Verbrecher behandeln?! Es soll Ihnen teuer zu stehen kommen!“

„Schweigen Sie!“ sagte Harst kalt. „Was Sie getan haben, weiß ich, und – ich kann es Ihnen beweisen – nämlich einen Mordversuch an Ihrer Frau! – Kein Wort weiter. Sonst stecke ich Ihnen einen Knebel zwischen die Zähne! – Hier, Kollege,“ wandte er sich an mich, „hier ist mein Revolver. Ich gehe mal auf die Straße. Und wenn Doktor Görner verdächtige Bewegungen macht, schießen Sie! Ich verantworte es.“

Ich war mit Görner allein. Seine Augen irrten erst hilfesuchend umher, dann sah ich, wie ihm dicke Schweißperlen auf die Stirn traten. Die Angst begann sich seiner zu bemächtigen. Wie kraftlos saß er nun zusammengesunken da. Er hatte uns beide nicht wiedererkannt, hielt uns fraglos für Beamte.

Dann draußen Stimmen, Schritte.

Harst kam; hinter ihm zwei Damen, ein Herr. Die Damen trugen Lackhüte, sahen sich sehr ähnlich. Der Herr war Regierungsrat Stachel.

Görner schnellte hoch, rief: „Lotti, man hat mich hier –“ – „Setzen Sie sich!“ fiel ihm Harst ins Wort. „Sie haben hier nur zu reden, wenn Sie gefragt werden. Ihre Gattin will und kann Sie nicht vor dem Zuchthaus retten.“

„Meine Herrschaften, ich werde mich kurz fassen,“ wandte er sich an die drei. „Wer ich bin, wissen Sie. Ich habe Kurt Schlicht deshalb meinen Ausweis gegeben, damit Sie sofort erkennen sollten, daß Ihnen von einem Harald Harst nur Hilfe werden konnte. Ich freue mich, daß Sie meiner Aufforderung gefolgt und sofort hierher gekommen sind. Als ich dem Knaben dies nahelegte, ahnte ich noch nicht, daß auch der Mann sich hier einstellen würde, der gestern hier einen Mordversuch unternommen hat.“

Bisher hatte der Regierungsrat regungslos da gestanden. Jetzt fuhr sein Kopf hoch. Auch die Damen machten Bewegungen des Staunens.

„Mordversuch? – Sollte denn etwa –“ Weiter kam Stachel nicht.

„Lassen Sie mich alles erklären,“ sagte Harst, ihn unterbrechend. „Sie haben mir gegenüber soeben vor dem Hause kurze Andeutungen gemacht, weshalb Frau Görner ihrem Gatten entflohen ist. Ich überschaue jetzt den Sachverhalt vollständig. – Die Geschwister Blink heiraten vor zwei Jahren; die ältere wird Frau Regierungsrat Stachel, die jüngere, Charlotte, Frau Doktor Görner. Sehr bald verliert Herr Blink infolge verfehlter Spekulationen sein Vermögen. Der Neubau hier, der des Doktors Mitgift werden sollte, kann nicht beendet werden. Nun beginnt, nachdem Blink als schwermütig von seinem Schwiegersohn in dessen Anstalt aufgenommen ist, für Frau Görner ein entsetzliches Martyrium. Sie merkt, daß ihr Mann sie nur des Geldes wegen geheiratet hat, daß ihre Gesundheit immer schlechter wird. Ihre Schwester und ihr Schwager vermuten, daß Görner, der ein sehr geschickter Hypnotiseur ist, absichtlich irgendwie ihre Gesundheit untergräbt. Sie, die längst mit Görner verfeindet sind, raten Charlotte, ihn zu verlassen. Sie weigert sich. Ihr Wille ist dabei offenbar durch Suggestion lahmgelegt. Dann hat sie aber eines Tages doch die Kraft, ihrem Ungeheuer von Mann zu entfliehen. Sie findet bei dem früheren Kutscher ihres Vaters Schlicht Unterkunft, wagt es jedoch nicht, offen mit Schwester und Schwager in Verbindung zu treten. Da ersinnt sie die Anzeigen Wißmacht. Zweimal treffen sich die drei in dem Neubau. Inzwischen hat der Regierungsrat gemerkt, daß sein Haus von Privatdetektiven überwacht wird, die nur in Görners Sold stehen können, der so seiner Frau wieder habhaft zu werden hofft. Dann entdeckt Görner aber die dritte Anzeige mit Wißmacht im Kurier, eilt in der vergangenen Nacht gegen halb elf etwa hierher, findet hier die Leitungsdrähte, entwirft sofort einen Plan, wie er seine Frau beseitigen könnte, wobei er darauf rechnet, daß sie zuerst an Ort und Stelle sein wird. Er schreibt mit Bleistift auf einen Briefumschlag „An Wißmacht“, legt ihn so hin, daß der, der ihn aufnimmt, vom elektrischen Strom getroffen werden muß. Er denkt, der Briefumschlag wird dabei verbrennen. – Frau Görner erscheint diesmal jedoch in Begleitung des Knaben. Dieser sieht den Brief, hebt ihn auf. Frau Görner flieht, hält den Jungen für tot, dessen Großvater nachher sich aufmacht, um die Leiche zu holen. Er findet nichts, trifft mich, hält mich für einen der Spione Görners, schlägt mich nieder. Als er nach Hause kommt, ist der Knabe wohl und munter daheim. Inzwischen sind aber auch Herr Stachel nebst Frau hier gewesen, haben umsonst gewartet und gehen wieder von dannen. – Frau Görner ahnt nichts von dem Mordanschlag. Sie kann sich den Unfall des Jungen nicht erklären. – Ihr Gatte kommt heute wieder nach Berlin. Er weiß jetzt auch, wo seine Frau sich verborgen hält. Er sieht sie heute abend wohl und munter mit Schlichts den Park verlassen, eilt an den Schauplatz seines geplanten Verbrechens, vergräbt die Drähte wieder und wird dabei von uns abgefaßt. – So muß sich, vielleicht mit ganz geringen Abweichungen, alles zugetragen haben. – Sie, Doktor Görner, werde ich jetzt der Polizei übergeben. Der nur halb verbrannte Briefumschlag wird zu Ihrer Verurteilung genügen, zumal Sie hier noch ein Stückchen einer Fahrkarte Werder–Berlin verloren oder weggeworfen haben. – Nur eins möchte ich gern von Ihnen noch wissen, Frau Doktor: Wer hat für Sie die Anzeigen von Werder aus an den Kurier gesandt? – Wohl Kurt Schlicht, Ihr kleiner Freund? – Sie nicken. Ich danke.“ –

Die drei gingen stumm hinaus. Görner würdigten sie nicht eines Blickes. –

Als wir gegen ein Uhr morgens heimkamen, sagte Harst zu mir: „Es war ein recht schwieriges Problem – scheinbar! – Merken Sie sich also: jede Kleinigkeit nachprüfen. – Dieser Fall beweist, wie gut man dabei fährt.“ –

Am nächsten Abend erhielt Harst von seinen Wettgegnern die nächste Aufgabe zugestellt. Ihr Wortlaut war: „Ist die Komtesse Blinkenstein wirklich von Wilddieben beseitigt worden, wie die Polizei annimmt?“

 

 

Ruine Blinkenstein.

 

Wir, mein Brotherr Harald Harst und ich, sein Privatsekretär und Gehilfe Schraut, waren abends gegen neun Uhr mit einem Wagen von der nächsten Eisenbahnstation in dem Dorfe Blinkenstein eingetroffen und in dem einzigen größeren Gasthause „Zum Dachsbau“ abgestiegen, saßen nun in dem sogenannten Herrenzimmer beim Abendbrot und schwatzten mit dem Wirt, dem wir uns als Güteragenten aus Berlin vorgestellt hatten.

Harst führte natürlich wie immer die Unterhaltung, sprach über landwirtschaftliche Verhältnisse wie einer, der auf dem Stoppelacker groß geworden, lenkte dann aber sehr bald ganz unauffällig das Gespräch auf das nahe Schloß Blinkenstein und seine Bewohner.

Wir waren ja nur deshalb hier nach dieser von jedem Verkehr ziemlich abgeschnittenen Gegend gekommen, da Harsts Wettgegner ihm die Aufgabe gestellt hatten, das Verschwinden der Komtesse Vera Blinkenstein aufzuklären. Wir wußten über dieses bisher in das tiefste Dunkel eines undurchdringlichen Geheimnisses gehüllte Ereignis nur das, was in den Zeitungen gestanden hatte. – Am 2. Mai des Jahres war die zwanzigjährige, ebenso stolze wie schöne einzige Tochter des Majoratsherrn Grafen Karl Wilhelm Blinkenstein um acht Uhr morgens nach einer Schonung unweit des Schlosses gewandert, wo sich offenbar eine Fuchsfamilie eingenistet hatte. Die Komtesse wollte nach dem Fuchsbau suchen und hatte daher ihren Lieblingshund, einen sehr kräftigen Teckel namens Lumperl, mitgenommen. Als sie nachmittags gegen drei zur Mahlzeit noch nicht zurück war, wurden ihre Eltern besorgt, zumal in den ausgedehnten Forsten seit einem halben Jahr eine Wildererbande in frechster Weise, aber auch ebenso vorsichtig ihr Unwesen trieb. – Alles Suchen nach Komtesse Vera war umsonst. Man fand lediglich den an einen Baum angebundenen Hund und am folgenden Tage auf einem Fahrweg, der die Schonung durchschnitt, ihr grünes Jägerhütchen. Dieser Hut wies fünf kleine Schrotlöcher auf. Der Verdacht war also gegeben, daß die junge Dame durch einen Schrotschuß niedergestreckt und ihre Leiche beseitigt worden war. Doch – diese Leiche konnte trotz eifrigster Arbeit gewiegter Kriminalbeamter und trotz Verwendung berühmter Polizeihunde nicht entdeckt werden. Jetzt waren seit jenem für Schloß Blinkenstein und die ganze Umgebung so aufregenden 2. Mai volle drei Wochen verstrichen. Nichts hatte sich jedoch geändert. Die Leiche war nicht zu finden, ebensowenig das elegante Selbstspanner-Jagdgewehr, das die Komtesse bei sich getragen hatte. Und nun wollte mein Herr und Lehrer Harald Harst in diesem wenn nicht gerade außergewöhnlichen, so doch jedenfalls geheimnisvollen Fall seine nie versagende Detektivbegabung wiederum erproben. –

Kaum hatte Harst von dem Grafen Karl Wilhelm zu sprechen begonnen, indem er fragte, ob der Majoratsherr wohl Teile seiner Ländereien zur Parzellierung verkaufen würde, als der Wirt ganz von selbst von dem Verschwinden der Komtesse allerlei Einzelheiten erzählte, die allerdings kaum etwas Neues brachten.

Der Wirt hieß Michael Gruber, war ein kleiner, hagerer Mensch mit dünnem, blondem Vollbart, trug eine Brille und machte einen recht günstigen Eindruck auf mich.

Als er nun erwähnte, daß das Jägerhütchen der Verschwundenen tatsächlich erst am folgenden Tage gegen fünf Uhr nachmittags am Wege in einem Brombeergestrüpp gefunden worden und daß dieses Bekleidungsstück sozusagen das Einzige wäre, was die armen Eltern von ihrem Kinde zurückerhalten hätten, trat Harst mir auf den Fuß. – Das hieß: Achtung – wichtig.

Trotzdem gähnte er jetzt laut, meinte: „Ich besinne mich. Die ganze Geschichte stand ja in den Zeitungen. Aber es muß lange her sein. Ich habe so gar kein Gedächtnis für derartiges – nur für mein Geschäft! – Sollen nicht Wilddiebe die Dame ermordet haben?“

„Wer kann wissen?!“ Der Wirt zuckte die Achseln. „Ich persönlich glaube nicht daran. Nein – Wilddiebe mag’s hier geben, – aber der Vera von Blinkenstein wär’ selbst der rüdeste Kerl nicht zu Leibe gegangen. Stolz war sie und blendend schön, – doch was die für die Armen ringsum tat, das wußte jedes Kind!“ Er redete in dieser Art weiter und pries die Komtesse als die zwar unnahbare, aber trotzdem gütige Fee aller Notleidenden.

Harst gähnte abermals. – Gleich darauf betrat ein besser angezogener Mann das Zimmer, setzte sich mit einem „’n Abend auch“ an den kleinsten Tisch neben den Ofen, bestellte ein Glas Bier und blätterte in alten Zeitschriften.

Gruber redete ihn mit Herr Luck an, kümmerte sich aber nicht viel um ihn. Wieder nach etwa fünf Minuten erschien ein neuer Gast, nahm an einem dritten Tische Platz und ließ sich etwas Warmes und ein Glas Grog geben.

Herr Luck blieb nur kurze Zeit. Kaum war er hinaus, als Harst mir schon wieder auf den Fuß trat. – Weshalb – begriff ich auch jetzt nicht recht.

Gleich darauf sagte er zu Gruber: „Ich muß mir noch ein wenig Bewegung machen, sonst kann ich nicht schlafen. Sie schließen doch wohl erst spät?“

„Na – Mitternacht wird’s immer!“

Wir traten auf den freien Platz hinaus, an dem das Wirtshaus lag. Uns gegenüber erhob sich die Kirche und das Pfarrhaus, weiter rechts das Schulhaus mit den Lehrerwohnungen über den Unterrichtsräumen. Die Fenster dort waren erleuchtet. Jemand spielte Harmonium.

Harst hatte sich umgeschaut, raunte mir nun zu:

„Vorwärts – dort geht er! Ihm nach – aber vorsichtig!“

Ich war recht verdutzt. – „Ihm nach?“ – Ja – wem denn? – Da besann ich mich auf Harsts Fußsignal „Achtung“!

Ah – also er konnte nur Herrn Luck meinen. Ganz fraglos hatte er also bereits eine Beobachtung gemacht, die ihn veranlaßte, diesem Luck zu folgen. Wir schienen mithin schon mitten „bei der Arbeit“ zu sein.

Harst verstand es vortrefflich, jemandem unbemerkt nachzuschleichen. Ich hatte es von ihm gelernt – wie alles, was mit der Detektivkunst zusammenhing. Freilich – was ich gelernt hatte, waren sozusagen nur die gröberen Fertigkeiten, denn für die feineren und feinsten, wie er sie besaß, gehört ja eine ausgesprochene Begabung.

Die Nacht war nicht gerade zu dunkel. Wolkenfetzen segelten über den ausgestirnten Himmel hin. Über uns hörten wir oft die Schreie nach Norden ziehender Wildvögel.

Luck – er war groß, sehnig und hatte eine Kinnpartie wie eine Bulldogge – wanderte durch die Felder auf einem sandigen Landweg dem Walde zu. Dunkel, drohend wie Riesenmauern lag der Forst vor uns. Plötzlich schwenkte Luck aber nach links ab. Wir waren jetzt etwa eine Viertelstunde hinter ihm her. Er schritt nun auf einem Feldrain, auf dem es hie und da wilde Rosenstöcke und verkümmerte Kiefern gab, einer Baumgruppe zu, die wie ein schwarzer Fleck inmitten der Saatfelder lag.

Harst warf sich plötzlich lang hin. Ich tat dasselbe. Er raunte mir dann zu:

„Vorsicht, Schraut. Der Luck hat sein bisher recht sorgloses und unauffälliges Benehmen geändert. Er kriecht auf allen Vieren. Die Sache wird interessant.“

Wir schoben uns nun gleichfalls auf dem Bauche vorwärts. Etwa fünfzig Schritt vor der Bauminsel hörte ich von vorn her den Ruf eines Käuzchens. Drei Mal erklang dieser unheimliche Schrei, von dem der Volksmund behauptet, wer ihn an drei Nächten hintereinander zur selben Stunde vernimmt, müsse sterben.

Harst stieß mich leicht an. „Natürlich ein Signal, Schraut. Die Nachahmung des Vogelrufs war sehr mäßig.“ – Dann kroch er weiter. Ich sah nun, daß die Bäume vor uns hauptsächlich Tannen waren, mächtige Stämme, darunter auch offenbar ausländische mit breit ausladendem[15] Astkranz.

Die nächsten Tannen hatten wir noch etwa fünf Schritt vor uns, als wir hinter den Bäumen einen hellen Lichtstreifen aufblitzen sahen. Dann eine laute, befehlende Stimme: „Halt – Hände hoch!“

Und nun – ich fuhr vor Schreck zusammen – ein kurzer, harter Knall, – noch einer.

Harst war schon auf den Füßen, rannte in langen Sprüngen auf die Tannen zu. Der Lichtschein dort war erloschen. Auch ich stürmte vorwärts. Dann – war Harst plötzlich verschwunden. Ich hörte noch etwas wie einen dumpfen Krach; fast in derselben Sekunde riß mir eine unbekannte Gewalt den rechten Fuß, auf dem gerade die Last meines Körpers ruhte, unter dem Leibe weg, und ich schlug lang zu Boden und zwar so hart, daß mir für Sekunden förmlich das Bewußtsein schwand. Ich war in hohe Farnkräuter gefallen, und als ich mich nun aufrappelte, tauchte dicht vor mir Harsts Kopf auf. Seine Rechte drückte mich wieder in das Gras zurück, und wie ein Hauch war seine Stimme: „Keinen Laut – keine Bewegung!“

Auch er duckte sich ganz tief zusammen. Wir lauschten nun. Sehen konnten wir nichts. Ich vernahm zunächst nur das Rauschen der Tannen. Es klang so friedlich, so beruhigend; dann aber drang ein Ton an mein Ohr, der mir einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Es war ein Kreischen, als ob ein gequältes Tier in höchster Todesangst aufschreit.

Dann wieder schob Harst sich näher an mich heran, flüsterte: „Geben Sie mir Ihre Hand, Schraut. So – was fühlen Sie hier?“

Aha – es war ein dünner Draht, der etwa zehn Zentimeter über der Erde sehr straff gespannt war.

„Passen Sie auf!“ hauchte Harst. „Ich ziehe an dem Draht –“

Kaum hatte er’s ausgesprochen, als abermals dieses jämmerliche Kreischen ertönte.

Dann Harsts Stimme: „Fort von hier! Mir nach, Schraut. Aber halten Sie Ihren Selbstlader bereit.“

Er kroch wie ein Indianer in ein Roggenfeld hinein, das schon ziemlich hoch stand und uns vollständig verbarg. Kaum hatten wir uns hier niedergelassen, mit dem Gesicht nach dem unheimlichen Tannenhain zu, als der bisher von einer dichten Wolkenbank verhüllte Mond hervortrat und sein mildes Licht über die nächtliche Erde warf.

Und – in demselben Moment auch krampfte sich Harsts Hand um meinen Arm: „Schraut, jetzt gilt’s! Zielen Sie ganz ruhig. Unser Leben hängt davon ab.“

Ich stierte geradeaus. Und ich erblickte rechts und links von der Stelle, an der wir soeben noch in den Farnkräutern gelegen hatten, je zwei dunkle Tierkörper, hochbeinig, kräftig, – sah, wie sie lautlos, sprungbereit vorwärtstappten, ganz langsam, – wie sie nun unserer auf das Kornfeld zuführenden Spur eiliger folgten.

Dann – hob Harst den Arm. Die vier Hunde kamen jetzt im Trab daher. Noch fünf – noch drei Schritt. Nun waren sie am Rande des Roggenschlages angelangt, nun – knallte es bei Harst: Peng – peng – peng.

Auch ich schoß, – drückte drei Mal ab.

Da riß mich Harst schon weiter. Wir krochen durch die engen Halme; dann liefen wir tief geduckt, bis wir den Feldweg erreichten. Hier machte Harst halt und sagte hastig:

„Säubern wir uns, Schraut. Aber recht sorgfältig. Niemand darf ahnen, daß wir etwas anderes als Geschäftsleute sind.“

Dann ging’s nach dem Dorfe zurück; streckenweise im Trab. Mit einem Male sagte Harst: „Langsamer, gemächlicher!“, begann zu pfeifen, zündete sich schnell eine Zigarette an, klemmte den weichen Filzhut unter den Arm.

Nun sah ich, weshalb er so den Harmlosen zu spielen suchte. Vor uns erschienen drei Männer. Der mittelste trug Uniform. Es war der im Dorfe wohnende Gendarm. Die beiden anderen aber waren der Hauptlehrer des Dorfes und unser Wirt Michael Gruber. Alle drei waren mit Jagdgewehren bewaffnet. Der Gendarm wollte uns ins Verhör nehmen, aber Gruber sagte sofort: „Lassen Sie nur, Schmiedecke. Ich kenne die Herren. Es sind Güteragenten aus Berlin. Sie wohnen bei mir.“

Dann fragte Gruber uns: „Haben Sie die Schüsse gehört?“

„Ja – wohl eine Treibjagd. Es waren ja so viele Schüsse,“ meinte Harst mit mäßigem Interesse.

Die drei lachten schallend los. „Treibjagd!“ sagte der Gendarm. „Bei Nacht! Man merkt, daß Sie keine Jäger sind! – Na – trotzdem werden Sie ja aber wohl angeben können, ob’s erst zwei und dann nach einer Weile etwa acht Schüsse sehr rasch hintereinander waren und woher sie kamen – ich meine, woher der Schall kam.“

Harst nickte. „Erst zwei, dann mehrere. Das stimmt. Und woher? – Hm – ich denke von dort, wo der dunkle Fleck inmitten der Felder liegt.“

„Aha – von der verfluchten Ruine!“ schimpfte der Gendarm zwanglos. „Danke schön, meine Herren,“ fügte er hinzu. „Wir müssen weiter.“

Harst wandte sich an den Wirt. „Herr Gruber, wenn’s nicht gerade gefährlich wäre, – dann käme ich gern mit. Man könnte dann doch in Berlin am Stammtisch was erzählen.“

Der Gendarm lachte wieder, antwortete anstelle Grubers:

„Ja – ob’s gerade gefährlich ist?! Wer weiß. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie sich anschließen.“

Wir gingen, Gruber zwischen uns, hinter dem Gendarm und dem Hauptlehrer drein. Gruber erzählte uns, daß er mit seinen jetzigen Begleitern gerade Skat bei offenen Fenstern im Herrenzimmer gespielt hätte, als die Schüsse sehr undeutlich aus der Ferne herüberklangen.

„Also eine Ruine ist jener schwarze Fleck dort?“ fragte Harst.

„Ja, die Ruine der alten Burg Blinkenstein. ’s heißt – Ruine kann man’s kaum nennen. Es ist mehr ein großer Trümmerhaufen, von Unkraut, Dornen und Brombeeren überwuchert. Die Dorfjungens spielen dort gern Ritter und Räuber, aber nur am hellen Tage. Nachts wagt sich niemand gern hin. Sie wissen ja, meine Herren, jeder Ruine wird ein Geist angedichtet. Hier natürlich auch. In letzter Zeit ist dieser Geist angeblich – wieder mehrfach gesehen worden. Er soll eine Ritterrüstung tragen und seinen Kopf mit dem Helm darauf unterm Arm. Alles Unsinn, selbstredend! Weibergewäsch, Ammenmärchen! Bevor ich diesen Ritter – der Volksmund nennt ihn Ritter Jürgen, weil ein Graf Jürgen Blinkenstein ums Jahr 1480 wegen Mordes geköpft worden ist – nicht mit eigenen Augen mir angeschaut habe, redet mir keiner solches Blech ein.“

– – – – – – – –

Als wir uns der Ruine, wieder denselben Feldrain benutzend, näherten, tat Harst sehr ängstlich, meinte, wir wollten die drei doch lieber nicht stören und daher etwas zurückbleiben.

Der Gendarm warf uns einen spöttischen Blick zu. „Ja, ja, Vorsicht ist der bessere Teil der Tapferkeit!“ murmelte er.

Dann waren wir allein. Der Mond beschien jetzt die Felder und die Bauminsel vor uns so hell, daß man recht genau alles erkennen konnte.

Harst faßte mich unter. „Schraut, wir haben riesiges Glück gehabt. Wir können mehr als zufrieden sein,“ flüsterte er. „Und alles nur, weil ich zu beobachten verstehe, weil jener Luck, als er das Herrenzimmer verließ, den Hut des anderen, zuletzt erschienenen Gastes mitnahm, der ihm ganz unauffällig beim Eintritt in die Stube zugeplinkt hatte. – Ja – man muß nur die Augen offen halten! – Beide trugen ziemlich ähnliche, graue, weiche Filzhüte. Aber an dem Lucks steckte hinten ein Federstutz. Und doch langte er nach dem anderen Hut! Also war es Absicht, daß er diesen vom Kleiderriegel herablangte. Und der Zweck dieses Hutaustausches? – Es gibt da nur eine Erklärung: In dem Hut ohne Stutz steckte eine Mitteilung für Luck – ein Zettel! – Und weil somit zwischen diesen Männern, die sich nicht zu kennen schienen, doch fraglos eine sehr vertraute Verbindung besteht, weil ferner der andere sich warmes Essen geben ließ und vorläufig also nicht wieder fort wollte, schlich ich dem Luck nach. – Ich trat Ihnen ja auch auf den Fuß, Schraut. Allerdings zweimal. Über die Bedeutung des ersten Signals „Achtung“ sprechen wir später.“

Die drei Männer vor uns waren hinter den Bäumen verschwunden.

„Schnell – sehen wir, ob die Hunde noch da sind,“ meinte Harst.

Wir fanden zwar die Stelle, wo die Bestien, die doch fraglos auf den Mann dressiert gewesen, aufheulend zusammengebrochen waren, entdeckten aber von den Tieren selbst keine Spur mehr, obwohl wir im Umkreis von zwanzig Schritt alles absuchten.

Harst wunderte sich nicht weiter darüber. „Es war anzunehmen,“ sagte er lebhaft. „Jedenfalls sind wir hier einer Verbrecherbande auf der Spur, die mit recht gefährlichen Mitteln für ihre Sicherheit sorgt, – auch mit recht raffinierten. – Die Drähte am Boden waren ja auch nur Alarmvorrichtungen. Stellen wir fest, ob auch sie weggeschafft sind.“

Er ging auf die Tannen zu mit schlurfenden Schritten. Wir stießen jetzt auf kein Hindernis. Dann bahnten wir uns durch die Zweige einen Weg und betraten nun eine kleine Lichtung, in deren Mitte sich ein Hügel erhob, in dem man erst nach genauerem Hinsehn die unkrautüberwucherte Ruine erkannte. Von der früheren Burg war als Mauerwerk nur noch der Unterteil des nördlichen Eckturmes bei dieser unsicheren Beleuchtung zu unterscheiden.

Der Gendarm und seine Begleiter suchten gerade vor uns am Südrande des Ruinenhügels das Gestrüpp mit Hilfe elektrischer Taschenlampen ab.

„Eine sehr überflüssige Arbeit,“ meinte Harst nachdenklich. „Immerhin beweist sie mir, daß –“

Er schwieg. Gruber hatte plötzlich gerufen:

„Da – da, – seht –!“

Ich schaute hin. Und ich gebe zu: zum zweiten Mal an diesem Abend überlief es mich wie ein Eisesschauer.

Denn dort auf den Mauerresten des Eckturmes stand nun, deutlich sich gegen die dunkle Tannenkulisse abzeichnend, Ritter Jürgen genau so, wie ihn Gruber uns beschrieben hatte. Seine Rüstung leuchtete matt. Der Kopf fehlte. Er trug ihn im Arm, – das heißt, es war nur ein weißer Totenschädel mit einem Helm darauf.

Ich war so überrascht, daß ich mich ganz regungslos verhielt. Harst hatte kaum den Spuk erblickt, als er auch schon mit dem scheinbar entsetzten Rufe: „Der Geist – der Geist!“ davonrannte, – aber nicht etwa zurück, woher wir gekommen, sondern rechts um den Hügel herum den Überresten des Turmes zu.

Alles, was nun folgte, spielte sich so blitzschnell ab, daß ich mir über den Verlauf der Dinge erst später klar wurde. – Der Gendarm hatte seine Büchse angelegt, schoß auf den Spuk. In demselben Moment verschwand dieser. Dann hörten wir Harst brüllen: „Zu Hilfe – zu Hilfe!“, stürmten ihm nach. Ich war doch der leichtfüßigste, bog nun um ein paar Haselnußbüsche und erblickte Harst, der am Boden lag und seinen Stehkragen abreißen zu wollen schien. Er zerrte mit beiden Händen daran herum, rief nun: „Schnell – helfen Sie mir. Mein Hals steckt in einer Drahtschlinge, die man mit aller Gewalt zuzuziehen sucht. Meine Hände bluten schon.“

Ich sprang zu. Ebenso der Hauptlehrer, der sehr geistesgegenwärtig seine Mütze zwischen Harsts Gurgel und die Schlinge schob, so daß der Draht hier nicht mehr gefährlich werden konnte. Inzwischen hatte der Gendarm mit seinem Taschenmesser den straff gespannten Draht, der etwa in Richtung auf den Turm zu weiterlief, durchzusägen begonnen. Es gelang ihm auch. Plötzlich war Harst frei, stand auf, sagte kläglich:

„Na – von diesem Abenteuer habe ich übergenug! Nicht zehn Pferde kriegen mich wieder hier an diesen Ort. Wenn ich nur erst in meinem Bett läge!“

Wie vorzüglich er doch schauspielern konnte! Ich mußte ihn immer wieder bewundern.

Der Gendarm hatte nach dem Draht gesucht, sagte jetzt:

„Eine verfluchte Teufelei! Der Draht ist weg – spurlos!“

„Nur die Schlinge habe ich noch um den Hals,“ meinte Harst ängstlich und streifte sie nun über den Kopf, besichtigte sie und erklärte: „Es ist bester Klavierdraht. Mir wären Kehle und Schlagadern glatt durchgeschnitten worden, wenn ich eine Sekunde später gemerkt hätte, daß die Schlinge mir über den Kopf glitt. Ich packte jedoch sofort zu. Meine Hände beweisen, wie stark diejenigen gezogen haben, die mich umbringen wollten.“

Er zeigte uns seine Handflächen. Gerade an den Handwurzelschwielen war die Haut stellenweise tief eingekerbt und blutete.

Während ich nun die Blutung zu stillen suchte, nachdem Harst sich die Wunden mehrmals ausgesaugt hatte, verteilten der Gendarm und die beiden anderen sich auf der Nordhälfte der Lichtung und ließen die Strahlenkegel ihrer Taschenlampen überallhin fallen. Sie trugen diese vorsichtshalber in der Linken, in der Rechten aber ihre gespannten und entsicherten Büchsen. Doch – sie fanden weder irgend etwas Auffälliges, noch ereigneten sich neue aufregende Zwischenfälle.

Mittlerweile hatte Harst Gelegenheit gehabt, mir folgendes in bester Laune zuzuraunen: „Schraut, diesmal war ich dem Ende verflixt nahe – tatsächlich! Aber – es schadet nichts! Wir sind nun gewarnt, wissen, mit wie rücksichtslosen Leuten wir es zu tun haben. Wir werden im Notfall ebenso rücksichtslos sein. Wurst wider Wurst!“ Dann lachte er leise auf. „Der Ritter Jürgen war gottvoll! Haben Sie gesehen, daß sein Helm ein moderner Infanteriehelm war? Die Rüstung dagegen schien echt zu sein. Ich hörte die Schrote des Schusses des braven Wachtmeisters auf Metall aufschlagen. Er hätte mit einer Kugel schießen sollen. Das wäre wirksamer gewesen. Aber er wollte wohl den Herrn Geist nur „ankratzen“. – Eine tolle Nacht, Schraut! Ich bin gespannt, wie die Sache sich weiterentwickeln wird. – Was mag aus Luck geworden sein? Ich fürchte fast, hier hat heute jemand sein Leben lassen müssen, – ein, – na wer wohl, Schraut?“ Er fragte dies in sehr ernstem Ton.

„Luck vielleicht?“

„Hm – Sie nennen eine einzelne Person. Ich meinte aber die Gattung. – Ich will Ihnen helfen. – Ich nehme mit Bestimmtheit an, daß der Graf Karl Wilhelm noch immer durch Detektive nach seiner Tochter suchen läßt. Eigentlich doch selbstverständlich – nicht wahr? – Natürlich geschieht’s in aller Heimlichkeit. Gruber erzählte uns nun vorhin, daß Luck seit acht Tagen im Dorfe bei seinem Vetter, dem Hauptlehrer Bleichert, als Gast sich aufhalte, um hier als Photograph Landschaftsbilder für einen Ansichtskartenverlag aufzunehmen. Da kam mir sofort der Gedanke, daß diese Vetternschaft wohl nur eine künstliche wäre. Kurz – ich halte Luck für einen Detektiv oder einen Kriminalbeamten. Und der andere Mann, dessen Hut Luck nachher aufsetzte, ist eben ein zweiter von – der Konkurrenz, mein lieber Schraut. Ich wette ferner: der Gendarm, Bleichert und Gruber sind eingeweiht. Des Wachtmeisters Ausruf aber „die verfluchte Ruine!“ scheint mir darauf hinzudeuten, daß Luck und sein Kollege die Ruine ständig überwacht haben und daß Luck seinen Kollegen ablösen ging. Wir werden ja bald herausbringen, ob ich recht habe.“

Er wollte noch weiter sprechen. Aber in demselben Augenblick sahen wir von Süden her sehr eilig einen Mann auf uns zukommen.

„Ah – es ist Lucks Kollege!“ flüsterte Harst.

Der, der jetzt Lucks Hut mit Federstutz trug, war ein kleiner, schlanker Mensch mit blondem Schnurrbart und Hornkneifer. Seine Bewegungen verrieten Kraft und Gelenkigkeit.

Er trat auf uns zu, grüßte und fragte:

„Was ist hier vorgefallen?“

Da gewahrte er den Hauptlehrer, der gerade hinter den Sträuchern auftauchte, und lief jetzt im Trab zu ihm hin.

„Das genügt,“ meinte Harst. Und nach kurzer Pause fügte er hinzu: „Wir sind hierher gekommen, um die Komtesse Vera zu suchen, und wir werden nun, fürcht’ ich, noch auf Lucks Mörder fahnden müssen.“

Dann steckte er sich eine seiner geliebten Mirakulum an, sog den Rauch in die Lunge ein, deutete ganz unvermittelt auf eine altehrwürdige Eiche, die dort vor uns mit ihrer mächtigen Krone die Tannen verdeckte, und sagte: „Ein kolossaler Baum. – Wie alt schätzen Sie ihn? – Ich glaube, hundert Jahre mindestens.“

Gleich darauf gesellten sich die vier anderen zu uns. Sie waren sehr schweigsam und bedrückt.

Der Gendarm bat uns dann, nach dem Dorfe zu gehen und von der Postnebenstelle aus nach der Kreisstadt W. in seinem Auftrag an den dortigen Gendarmerieoberwachtmeister folgendes telephonisch zu bestellen: „Sofort im Auto alles hierher.“ – Das genüge, meinte er. Der Oberwachtmeister wisse schon Bescheid.

Wir verließen sofort das Gehölz und wanderten nach Blinkenstein zurück. Harst sagte unterwegs: „Sie wollen die Ruine ganz genau durchsuchen. Vielleicht besitzt der Oberwachtmeister einen Polizeihund. – Sie werden nichts finden. Leute, die so raffiniert sind wie diese Verbrecher, die mit Alarmvorrichtungen und später spurlos verschwindenden Drahtschlingen arbeiten, werden sich auch vor einem dressierten Köter zu schützen wissen.“

Dann blieb er stumm und nachdenklich. Nachher, als wir unseren Auftrag erledigt hatten, setzten wir uns noch in das Herrenzimmer des Dachsbaus und plauderten mit Grubers erwachsener Tochter Anna, die sich ganz eingehend nach unseren Erlebnissen erkundigte.

Sie war ein zartes, blasses Mädchen mit recht traurigen Augen. Über ihrem feinen Antlitz lagerte es stets wie eine Wolke düsteren Schwermuts. Ihre Stimme war müde, monoton und klang wie zerbrochen. Sie mußte entweder von Natur schwermütig veranlagt sein oder aber ein großes Herzeleid hinter sich haben.

Harst verstand es meisterhaft, jeder Unterhaltung ganz zwanglos eine ihm genehme Wendung zu geben. Sehr bald war das Gespräch daher bei dem Verschwinden Vera von Blinkensteins angelangt. Als Harst halb im Scherz fragte, ob die Komtesse als reiche Erbin nicht zahlreiche Bewerber gehabt hätte, zumal sie doch sehr schön gewesen sein solle, entfuhr es Anna Gruber in gehässigem Tone:

„Die?! Bewerber?! Ein so hochmütiges Weib! Und dabei noch kokett!“

Plötzlich errötete sie jäh. Ihr kam zum Bewußtsein, was sie soeben halb und halb verraten hatte. Sie stand schnell auf, ging unter einem Vorwand hinaus.

Harst neigte sich über eine Zeitung, tat als deute er auf eine bestimmte Stelle, beugte sich weit vor dabei und flüsterte:

„Eifersucht! Ohne Frage! – Sehr wichtig, Schraut. – Dieses Mädchen muß noch mehr wissen.“

– – – – – – – –

Leider zeigte sich Anna nicht mehr. Grubers Frau brachte uns, als wir auf die Tischglocke drückten, den bestellten Tee, verschwand aber gleichfalls bald wieder. Dann suchten wir unser Zimmer auf. Es war ein sehr großer Raum mit drei Fenstern im ersten Stock. Harst holte aus seinem Handkoffer sein Fernglas hervor, stellte sich an das Mittelfenster und sagte nach einer Weile: „Man kann von hier bis zur Ruine hinübersehn. Ich bemerke dort helleren Lichtschein, als ihn Taschenlampen hergeben. Man hantiert dort jetzt mit großen Laternen herum. Vielleicht ist der Oberwachtmeister schon da. Wenn er ein Auto benutzt hat, ist’s sehr gut möglich –“

Dann gingen wir schlafen. Morgens, als wir gegen neun unten auf der Veranda Kaffee tranken, erschien Gruber, setzte sich zu uns und erkundigte sich nach Harsts Befinden. – Wir waren hier natürlich unter anderen Namen und verkleidet abgestiegen, will ich noch bemerken.

Harsts Hände schmerzten zwar noch, würden aber in kurzem heilen. – Gruber freute sich, daß die Verletzungen so leichter Natur gewesen und erzählte uns dann, daß mit Hilfe von Förstern und Gendarmen bis nach Sonnenaufgang jeder Zentimeter Boden bei der Ruine abgesucht worden sei – leider ergebnislos! Nur Blut hätte man am Rande eines nahen Kornfeldes bemerkt, auch Spuren von Hunden. Sonst nichts – nichts. – Über Luck sprach er nicht, ebenso wenig wie Harst unser erstes Abenteuer mit den Drähten und den vier Hunden erwähnte.

Als Harst ihn fragte, was denn eigentlich die Schießerei bei der Ruine zu bedeuten gehabt hätte, hob er nur die Schultern, als wollte er sagen: „Keine Ahnung!“

Grubers Tochter wich uns aus. Daher erklärte Harst, wir könnten unser Gastspiel hier getrost aufgeben. Ich war erstaunt. Aber er lächelte vielsagend.

Wir beglichen unsere Rechnung gleich nach dem Mittagessen, verabschiedeten uns und wanderten zu Fuß angeblich nach dem nächsten Dorf. Als wir – unsere Handkoffer trugen wir selbst – den Wald erreicht hatten, bog Harst sehr bald in eine dichte Schonung ab. Hier machten wir auf einer kleinen Blöße Toilette, das heißt, entnahmen unseren Koffern ein anderes Kostüm, stutzten uns recht naturgetreu zurecht, verbargen unsere Koffer, Mäntel und Schirme unter einem Laubhaufen, schnitten uns dicke Knotenstöcke ab und pilgerten als sehr echt aussehende, sehr ungewaschene Stromer dem Schlosse Blinkenstein zu. Wir wußten, daß die Schonung, in der die Komtesse den Füchsen hatte nachspüren wollen und wo sie gegen elf Uhr vormittags auch noch von einem Waldarbeiter lebend gesehen worden war, östlich des Schlosses lag. Wir fanden denn auch den Waldweg, der die Schonung durchschnitt und auf dem nachher der Hut der Komtesse in den Brombeeren gelegen hatte.

Harst war wieder recht schweigsam. Auf diesem Fahrwege begegneten wir dann einem alten Manne, der mit einer Schaufel die Löcher ausfüllte, sehr gemächlich arbeitete und dabei sein Pfeifchen rauchte. Harst blieb bei ihm stehen.

„Langweiliges Geschäft, wat? Sie müss’n hier schon ne ganze Zeit den Wegedoktor spielen, Vaterken, denn Sie haben schon ’n gehör’ges Stück geschafft.“

Der Alte war froh, etwas Zerstreuung zu finden. Wir setzten uns an den Straßenrand, und Harst lockte nun aus dem Manne so allerlei heraus, was nicht ganz unwichtig zu sein schien. Dann gab er ihm zwanzig Mark und schickte ihn zum Krämer nach dem Dorfe, damit er uns dort allerlei einkaufe.

Harst schaute ihm nach, nickte mir dann fast strahlend zu und sagte, sich die Hände reibend trotz der Heftpflaster: „Ja, ja – ein wahres Glück, daß dieser Alte hier bereits fast einen Monat an dem Wege herummurkst! Gepriesen sei seine Fertigkeit, die Arbeit wie Kautschuk zu recken! Ich glaube jetzt schon zu wissen, was aus der Komtesse geworden ist. – Sie sehen mich so verdutzt an, lieber Schraut?! Ja – können Sie denn nicht ein wenig kombinieren?! – Überlegen Sie mal, was der Alte uns alles erzählt hat. Also:

Erstens: Schloß Blinkenstein besitzt eine berühmte Gemäldegalerie. Außerdem ist der Graf als Sammler wertvoller Antiquitäten bekannt. Das Schloß steht auf derselben Stelle, wo früher das sogenannte „alte Schloß“ sich erhob, das vor fünfzig Jahren niederbrannte, wobei nur ein Seitenflügel stehen blieb. In diesem befinden sich jetzt die Gemälde.

Zweitens: An jenem Tage, als die Komtesse von Wilddieben ermordet worden sein soll, war es ganz windstill, so daß der alte Mann mit aller Bestimmtheit erklärte, er hätte jeden Schuß, der hier in der Schonung gefallen wäre, unbedingt hören müssen. Dies hätte er auch den Kriminalbeamten gesagt, aber die hätten nichts auf seine Behauptung gegeben, daß von acht morgens bis vier nachmittags nicht geschossen worden wäre.

Drittens: Der Alte behauptet weiter, das von den Schroten durchlöcherte Jägerhütchen hätte er gleich am 2. Mai bemerken müssen, wenn es damals schon in den Brombeeren gehangen hätte. – Es wurde ja tatsächlich erst am 3. gefunden. Und der Alte meint, jemand habe es nachträglich in die Sträucher geworfen.

Viertens: Damals am 2. Mai mittags, sagte der Alte weiter, habe hier auf diesem Wege ein einfacher Kastenwagen gehalten, und zwar zwei volle Stunden. Der Wagenlenker sei ein Fremder, hier in der Nähe nicht Ansässiger, gewesen. Der mit einer Plane zugedeckte Kasten des Wagens habe fraglos einem[16] Menschen als Ruhelager gedient, denn die Plane habe sich wiederholt bewegt und auch Zigarrenrauch sei darunter emporgestiegen. Dem Wagenlenker aber war, so meint der Alte, seine Anwesenheit auf dem Wege sehr unangenehm. Er habe versucht, den Alten wegzuschicken. Dann sei ein Pfiff aus der Schonung links vom Wege ertönt, worauf der Wagen endlich weiterfuhr. – Auch auf all dies hätten die Beamten nichts gegeben. –

So, lieber Schraut, – muß ich nun auch noch das Letzte aufzählen?! – Denken Sie doch mal scharf nach. Wir haben ja schon eine Menge Material zusammen.“

„Die Leiche ist mit dem Wagen weggeschafft worden,“ erklärte ich zögernd.

Harst pfiff ein paar Takte als Antwort: „Oh wie so trügerisch sind Frauenherzen –“ – aus Rigoletto. Dann wurden wir plötzlich von rückwärts barsch angerufen:

„Was tun Sie hier?“

Wir sahen uns zwei älteren, stattlichen und vornehmen Herren gegenüber.

„Wir ruhen aus,“ erklärte Harst bescheiden.

„Ihre Papiere her!“ befahl der eine wieder. „Ich dulde keine Landstreicher in meinen Forsten. Letztens ist wieder ein Stück Schonung niedergebrannt – natürlich durch das verdammte Rauchen. – Also her mit den Papieren –“

Harst ließ seinen schäbigen Filz wie zufällig aus der Hand gleiten, bückte sich danach. Und da hörte ich ganz leise: „Ausreißen!“

Ich verstand. Harst sprang auch schon über den Weg und tauchte zwischen den jungen Stämmen der Tannen unter. Ich rannte hinterdrein. Sehr bald mäßigte er das Tempo, meinte: „Die beiden holen uns ja doch nicht ein!“

Dann gingen wir stets parallel dem Wege unserem Einkäufer entgegen, faßten ihn auch glücklich ab und nahmen unsere Reichtümer, die in einem alten Getreidesack steckten, in Empfang. Der Alte erhielt drei Mark und dünkte sich ein Krösus. Bevor wir uns von ihm trennten, fragte Harst noch: „Wie hieß doch der Lehrer, den die Anna Gruber heimlich geliebt hat?“

„Herbert Uhlich.“

Wir schlugen die Richtung nach der Ruine ein. – „Den Namen merken Sie sich, Schraut!“ sagte Harst. „So – und nun werden wir in der Ruine unser Nachtlager aufschlagen. Aber – wir müssen uns bis ins kleinste unserem Kostüm entsprechend benehmen! Unser Leben hängt davon ab, Schraut. Wir werden dort dauernd heimlich beobachtet werden. Stecken Sie gleich hier Ihren Mehrlader entsichert in die rechte Jackentasche.“

In einem Gebüsch stellten wir uns aus dem Sack zwei Ranzen her und packten in diese die Lebensmittel und alles andere ein. Nun waren wir selbst bis auf diese primitiven Rucksäcke echte Stromer.

Gegen sechs Uhr nachmittags erreichten wir die Ruine. Keine Seele war dort. Harst suchte einen Lagerplatz aus, wählte eine Stelle an der Nordwand der Eckturmreste, schnitt Zweige ab und baute uns eine Art Schutzdach.

Gerade als wir dann im Grase auf dem[17] Bauch lagen und trocken Brot und Wurst aßen, während zwischen uns eine Flasche Kümmel stand, erschienen zwei städtisch gekleidete Herren und eine Dame, steuerten auf uns zu und begannen ein Gespräch mit uns. Eigentlich nur mit Harst. Ich spielte den Maulfaulen. Nach einer Weile meinte einer der Herren:

„Hören Sie: ein Vorschlag! Ich bin Maler. Sie beide gäben famose Modelle ab. Kommen Sie mit. Sie erhalten Freiquartier bei uns, außerdem pro Tag jeder zwei Mark. Wir wohnen für den Sommer drüben im Dorfe Blinkenstein in der kleinen Villa am Nordausgang. – Nun – wie wär’s?“

Harst nickte. „Jut – wird jemacht! Aberscht wir kennen erscht nach Dunkelwerden antreten. Der Jraf is hinter uns her. Kriegt er uns, läßt er uns einspunnen. Hier sind wir sicher.“

„Na, da irren Sie sich gewaltig,“ sagte der Maler eifrig. „Hier stöbern jetzt die Gendarmen umher. Ein Mann soll hier in der verflossenen Nacht ermordet worden sein.“

„Det is uns ejal. Jetzt werd’n die Jendarms nich mehr kommen. Hier soll’s ja spuken. Nu – wir kümmern uns ooch um Jeister ’n Dreck. – Also wie jesagt – nach Dunkelwerden – janz bestimmt.“

Der Maler versuchte alles Mögliche, Harst umzustimmen. Ich merkte, daß er uns von hier entfernen wollte. Aber Harst tat, als fürchte er sich davor, bei Tage die Strecke freies Feld bis zum Dorfe zu passieren. Schließlich zogen die drei ab.

Harst lief ihnen dann nach. Sie waren schon ein ganzes Stück weg. Als er zurückkam, reichte er mir eine Zigarre. – „Ick hab’ vier Stick ergaunert,“ sagte er. Später merkte ich, daß er lediglich hatte feststellen wollen, ob die drei sich auch wirklich entfernten.

Er lag nun wieder auf dem Bauche und rauchte. Die Zigarren waren tadellos. Wir sprachen wenig. Nach Anbruch der Dämmerung machten wir uns auf den Weg. Kaum waren wir auf dem Felde – auf einem Rain, der nach Westen direkt auf das Dorf zulief, als er begann:

„Die Sache entwickelt sich anders, als ich dachte, Schraut. Aber auch so werden wir zum Ziel kommen. – Besinnen Sie sich: Gruber sprach von drei Malern und einer Malerin, die seit Ende April in der Villa wohnen und mit ihren Staffeleien bald hier bald dort sich aufbauen. Der Graf hat sie ebenfalls kennen gelernt und ihnen auch gestattet gehabt, ein paar seiner alten Meister zu kopieren. – Also drei Männer, Schraut, und ein Weib. Dieses und zwei der Herren Künstler haben wir nun gesehen und gesprochen. Die Künstlermähnen der beiden Kerle waren Perücken, und ihre Augen und Hände verrieten dem scharfen Beobachter, daß es erstens Leute sind, die sich dauernd von Gefahren umlauert glauben – ihre unstäten Blicke sagten genug, – und daß zweitens der lange, schwarzbärtige von Beruf Geiger und der kleinere, glattrasierte wahrscheinlich Drechsler ist. Es gibt eben für viele Berufsarten an den Fingern der sie Ausübenden ganz bestimmte Merkmale. Hierüber wollen wir zu gelegenerer Zeit sprechen. – Das Weib wieder verdient ein noch größeres Fragezeichen. Ich wette, wir werden ihr Bild im Verbrecheralbum irgend eines größeren Polizeipräsidiums finden. Nun der dritte. Den werden wir ja erst sehen. Aber – nicht in der Villa. Nein – er hält sich anderswo auf und arbeitet schwer, – in der Nähe hier. Ein wahres Glück, daß Gruber von drei Männern sprach. Hätte er nur ganz unbestimmt Maler erwähnt, so wären wir diesem dritten Burschen in die Arme gelaufen und mit Pistolenschüssen niedergestreckt oder auf eine andere, heimtückischere und vielleicht noch sicherere Art ins Jenseits spediert worden. Wenn ich den Ausdruck soeben gebrauchte, „er arbeitet schwer“, so meine ich nicht etwa eine künstlerische Tätigkeit. Nein, lieber Schraut, – er beschäftigt sich mit Schaufel und Spitzhacke. Haben Sie nicht unter den Tannen neben der Ruine überall Mauersteintrümmer und Erde bemerkt, die anders geartet sind als die der Ruine und der Boden ringsum?“

„Gewiß. – Aha – die Leute suchen in der Ruine nach einem Schatz, Herr Harst.“

„So was Ähnliches, Schraut. Warten Sie ab, Ihnen werden schon noch die Augen vollends aufgehen! – Um nun „unseren“ Fall, das heißt das Verschwinden der Komtesse, schnell restlos aufzuklären, werden Sie morgen unter einem Vorwand das Haus unserer freundlichen Gastgeber für einen Tag verlassen und wieder als Güteragent folgendes erledigen. Sie sollen nach dem Städtchen Garz, das etwa acht Meilen von hier entfernt liegt, fahren und sich dort heimlich erkundigen, ob der jetzt dort angestellte Lehrer Herbert Uhlich am Abend des 1. Mai einen Kastenwagen – wie dieser aussah, wissen Sie ja von dem alten Wegearbeiter – gemietet und für den 2. Mai Urlaub genommen hat und von Garz abwesend war. Finden Sie den Kastenwagen, so untersuchen Sie ihn unauffällig ganz sorgfältig. Vielleicht entdecken Sie in dem Kasten des Wagens noch eine Lockennadel oder sonst etwas „Weibliches“, vielleicht auch ein paar dunkelblonde Frauenhaare oder Fasern eines grünen Lodenrocks, wie ihn die Komtesse damals trug. Und wenn Sie noch Zeit haben, dann überzeugen Sie sich, wo und wie der junge Lehrer, der ja ein bildhübscher stattlicher Mensch sein muß, dort wohnt. Vielleicht besuchen Sie ihn auch unter einem guten Vorwand und stellen fest, was er auf Sie für einen Eindruck macht. – Es ist auch möglich, daß er den Kastenwagen in einem Dorfe gemietet hat, das an der nach[18] hier führenden Chaussee liegt. – Nun – Sie können immerhin bei diesem Auftrag beweisen, ob Sie etwas von mir gelernt haben. – Aha – da haben wir ja die Villa vor uns. Beachten Sie, daß von hier ein recht ausgetretener Pfad nach der hinteren Gartenpforte läuft. Die Leutchen wandern diesen Weg also sehr oft entlang. Und nun – Vorsicht, Schraut. Wir sind Strolche, nichts weiter. Reden Sie selbst fast nichts. Ich werde wieder die Unterhaltung führen. In der kommenden Nacht kann die Bande nichts unternehmen. Die Gendarmen werden vielleicht sogar die Ruine mehrere Nächte sehr scharf überwachen. Dann aber – blüht unser Weizen!“

– – – – – – – –

Wir wurden im Stall ganz behaglich untergebracht, erhielten ein reichliches Abendbrot und gingen dann zu Bett. Allerdings waren diese Betten nur Strohschütten und Decken. Am Morgen raunte Harst mir zu: „Wir waren die Nacht über eingeschlossen. Aber ich werde das Gitter des kleinen Fensters heute durchsägen, so daß wir es jeden Moment entfernen können.“

Nach dem ersten Frühstück erklärte ich dem langen Schwarzbärtigen, der sich Winter nannte und hier den Ton angab, ich müßte unbedingt für einen Tag weg. Wir hätten in der Herberge in Garz unsere Papiere verpfändet, und er möchte uns doch zehn Mark Vorschuß geben, damit wir unsere dortige Zeche bezahlen könnten.

Dieser feine Vorwand war Harsts Erfindung. – Der Schwarze gab mir sogar zwölf Mark und lieh mir noch einen Anzug, der dem kleineren Glattrasierten, Bönig mit Namen, gehörte. Der Anzug zeigte überall Erdflecken, besonders an den Knien. Ausgebürstet sah er noch recht gut aus.

Harst faulenzte bis zu meiner Rückkehr am anderen Morgen, machte sich aber doch durch etwas Gartenarbeit nützlich. Die Malerin – sie hieß Magda und wollte des Schwarzen Frau sein – skizzierte ihn auch, aber offenbar nur, damit der Schein bewahrt würde.

Als ich wieder in der Villa eintraf, stand Harst gerade mit dem Schwarzen auf dem Hofe. Nach dem Mittagessen legten wir uns in den verwilderten Gemüsegarten ins Gras, und nun mußte ich Bericht erstatten. Ich tat’s mit Stolz, denn ich hatte viel ausgerichtet. Ich hatte den Wagen und in dem Wagenkasten in einer Fuge der Bodenbretter sogar zwei Lockennadeln gefunden. – Harst besichtigte sie. – „Echtes Gold!“ meinte er. „So teure Dinger kann sich nur eine Komtesse Blinkenstein leisten.“ – Herbert Uhlich, der junge Lehrer, war wirklich vom 1. Mai abends bis zum folgenden Abend verreist gewesen, angeblich nach der Provinzialhauptstadt. Der Wagen gehörte einem Onkel von ihm, der in Garz eine Bäckerei besaß. Uhlich wohnte in dem Städtchen seit dem 4. April, seit seiner Versetzung dorthin, in einem netten Häuschen außerhalb der Stadt dicht am Walde. Ich war bei ihm gewesen als angeblicher Lebensversicherungsagent. Ich hatte von ihm einen vorzüglichen Eindruck gewonnen. Er war einer jener Volksschullehrer, die ihrem Stande alle Ehre machen. Offenbar hatte er das Bestreben, in allem den feingebildeten Mann zu beweisen. Er war liebenswürdig, zwanglos, heiter. Freilich – zu versichern gab es bei ihm nichts. Selbst seine Schwester, die ihm die Wirtschaft führte, die ich aber nicht zu Gesicht bekam, war bereits in einer Lebensversicherung eingekauft.

Harst nickte zu meinem Bericht wiederholt, als wollte er damit andeuten: „Alles so, wie ich’s mir gedacht habe.“

Nun sagte er, als ich fertig war: „Natürlich muß er weit außerhalb der Stadt wohnen. Er wird auch keinerlei Verkehr pflegen.“

Ich war überrascht. „Allerdings, er erklärte mir, er lebe ganz zurückgezogen nur seinen Studien.“

„Haben Sie eine Schußwaffe bemerkt?“

„Ja – eine einläufige Vogelflinte.“

„So so – dann ist ja alles beieinander! Lieber Schraut, ich bin sehr zufrieden mit Ihnen – sehr! – Dieser Fall ist erledigt – gänzlich, restlos. Ich könnte jetzt sofort zum Grafen gehen und ihm sagen, wie seine Tochter beseitigt wurde.“

„Aber – aber der Herbert Uhlich sieht wirklich nicht so aus, als ob er jemand –“

„Und doch hat er’s getan! Und sein Onkel ist Mitwisser, ist der Wagenlenker gewesen. – Dieser Fall zeigt so recht wieder, lieber Schraut, daß bei unserem freiwillig erwählten Beruf doch alles auf das Kombinationstalent ankommt. Was hat nicht die Polizei alles aufgestellt, um die Sache zu klären! Gerade das Wichtigste beachtete sie nicht: die Behauptung des Alten, daß damals kein Schuß gefallen ist und daß das grüne Hütchen erst nachträglich in die Brombeeren geworfen sein kann. – So, nun werden wir uns dem neuen Falle zuwenden – der Ruine. Diese Geschichte hat übrigens mit der Komtesse nicht das geringste zu tun. – Das Gitter ist jetzt lose, Schraut. In der verflossenen Nacht war ich daher auch in dem Tannenwäldchen. Beinahe hätten mich die Gendarmen bemerkt. Sie hatten drei Hunde bei sich. Auch der Oberwachtmeister war dort; ebenso Gruber und der Hauptlehrer. Ich hörte, wie der Oberwachtmeister sagte: „Es ist ja doch alles zwecklos. Weiß Gott, was aus Luck geworden ist. Wir können doch nicht jede Nacht hier wachen.“ – Ich nehme also an, daß sie die Sache aufgeben und daß sehr bald – unser Weizen blühen wird. – Heute vormittag beobachtete ich dann unsere liebenswürdige Malerin, wie sie mit Staffelei und einem großen Farbenkasten der Ruine zustrebte, wohin sich vorher schon ihr Herr Gemahl begeben hatte. Leider schloß der Farbenkasten oben nicht ganz. Aus der Spalte stieg Dampf hervor. Mithin wird wohl ein warmes Essen für den fleißigen Dritten darin gewesen sein. Sonst nichts Neues, lieber Schraut. Aber – vielleicht wird’s heute nacht etwas lebhaft hergehen.“ –

Wir lagen auf unseren Strohschütten. Harst holte seine Uhr hervor. Das Leuchtzifferblatt ließ ihn die elfte Stunde erkennen. – „Es wird Zeit,“ meinte er. „Entsichern Sie Ihre Pistole, Schraut.“

Vorher hatten wir gehört, daß unsere Stalltür von außen wieder ganz leise verschlossen worden war. Wir kletterten zum Fenster hinaus. Harst voran. Es regnete leicht, und ein scharfer Wind umheulte die einsame Villa. In einem Hinterzimmer im ersten Stock sahen wir Licht. Harst holte eine Leiter und ließ mich bis zur Höhe der Fenster emporsteigen. Die Vorhänge schlossen nicht ganz dicht. Um einen Tisch saßen die Malerin, der Glattrasierte und ein Fremder herum. Auch dieser trug das Haar sehr lang und hatte einen rötlichen Spitzbart. Er war breitschultrig, der reine Athlet. Auf dem Tische standen drei schmale, hohe Handkoffer. Auf der Erde zwei gepackte größere Koffer. Was die drei sprachen, konnte ich nicht verstehen. Als ich Harst dann Bericht erstattete, meinte er kurz: „Aha – sie rüsten zum Aufbruch. Wir sind gerade noch zur rechten Zeit gekommen. Die schmalen Koffer sind die Hauptsache! – Der Fremde, Rotbärtige, ist natürlich der dritte, der fleißige Arbeiter. Und der schwarze Winter wird jetzt die Wache haben.“

Harst brachte die Leiter wieder an Ort und Stelle zurück. Dann schlichen wir auf Umwegen dem Wäldchen zu. In dessen Nähe angelangt, krochen wir auf allen Vieren weiter.

Harst war zwei Schritt voraus. Als wir durch die Tannenkulisse uns hindurchschoben, machte er plötzlich halt, griff nach hinten, zerrte mich neben sich, raunte mir zu: „Da – auf dem Eckturm –“

Ich schaute hin. Und wieder überlief es mich kalt, obwohl ich doch wußte, daß Ritter Jürgen nur ein lächerlicher Hokuspokus war.

Dort stand wieder das Gespenst ohne Kopf, – regungslos wie eine Bildsäule. Die Rüstung – die ganze Gestalt leuchtete in einem schwachen Licht. Sie sah wirklich so aus, daß man das Fürchten lernen konnte.

„Phosphorlösung oder Radium,“ flüsterte Harst. „Aber eine Frechheit von dem Kerl, heute sich dort oben aufzubauen. – Nun – warten wir, bis er verschwindet. Wir können ihm dort schlecht an den Kragen, oder wir müßten ihn gerade herunterschießen, was ich aber vermeid…“

Weiter kam er nicht. Eine laute Stimme ertönte von der Ruine her – drohend, scharf:

„Rühren Sie sich nicht, oder – Sie sind im nächsten Moment eine Leiche! Sie bieten ein glänzendes Ziel, und ich schieße nie vorbei!“

Sehen konnten wir den nicht, der den Geist derart überrascht hatte. Dazu war’s zu dunkel. Die Entfernung bis zu den Turmresten, die vielleicht vier Meter hoch waren, betrug etwa 25 Schritt.

Ich fieberte fast vor Erregung, wollte dem zu Hilfe, der es mit dem noch immer ohne jede Bewegung dastehenden Ritter Jürgen aufgenommen hatte. Aber Harsts Faust zog mich zurück.

Dann abermals dieselbe Stimme: „Kommen Sie herab, Herr Geist. Ihre Rolle ist ausgespielt. Ich zähle bis drei. Sind Sie inzwischen nicht hier unten, feuere ich!“

Der unheimliche Spuk mit dem Helm und Totenschädel unterm linken Arm rührte sich nicht.

„Eins!“ vernahmen wir deutlich.

Nach einer Weile: „Zwei!“ Dies noch lauter und drohender.

Da – urplötzlich, wie weggewischt, war Ritter Jürgen verschwunden.

Einige Sekunden nur das Rauschen der Tannen – nichts weiter.

Nun – ein Schuß – noch einer – peng – peng.

Nun – ein gellender Aufschrei, der jedoch sofort in einem seltsamen Gurgeln erstickte.

Da schnellte Harst hoch, stürmte vorwärts. Ich ihm nach. Aber – kaum hatte er einen Sprung gemacht, als er der Länge nach hinschlug. Und ich fiel genau neben ihn. Ich suchte mich aufzurappeln. Doch seine Hand legte sich schwer auf meine Schulter, die andere verschloß mir den Mund.

Ich stierte nach der Ruine hinüber. Nichts war mehr zu sehen, zu hören.

Dann brachte Harst seinen Mund ganz dicht an mein Ohr: „Es war der Kollege Lucks. Wir wären doch schon zu spät gekommen, hätten nur alles verdorben. Der Mann lebt nicht mehr. Es war das Todesröcheln eines, dem man den Hals durchgeschnitten hat.“

Wir blieben etwa zehn Minuten, tief in das Gras geduckt, liegen. Harst tastete mit den Händen die Umgebung ab, flüsterte nun: „Wir müssen sehr vorsichtig sein. Vor uns ist noch ein Stolperdraht.“ Dann kroch er auf die mächtige Eiche zu, deren unterster Hauptast im Bogen über den Turmresten sich emporreckte. Wir kamen, ganz sacht vorwärtskriechend, links von dem Riesenstamm an eine abgestorbene Kiefer. An dieser begann Harst emporzuturnen. Dann warf er mir eine Leine zu. Ohne seine Hilfe wäre ich nie nach oben gelangt. Nun deutete er auf einen starken Eichenast, der für uns ganz leicht mit den Händen zu greifen war, raunte mir zu: „Dort hinauf. Aber – nicht zu heftig den Ast bewegen.“

Abermals half er mir, so daß ich nun als erster dort auf der Eiche im Reitsitz saß. Das weitere war nicht schwierig. Wir kletterten höher in die Krone hinauf, bis wir uns etwa vier Meter über der untersten Astgabel befanden.

Hier hatten wir kaum drei Minuten mäuschenstill gesessen, als unter mir ein feines Glöckchen ertönte. Wo? – konnte ich nicht feststellen. Dann spürte ich Harsts Atem an meiner Wange: „Sie kommen,“ hauchte er. „Schaun Sie nach dem Turm hin –“

Dieser lag halblinks von uns etwa fünf Meter entfernt. Ich blickte nach dem eingestürzten Mauerwerk hinab. Nun gewahrte ich zwei Gestalten nur als dunkle, sich bewegende Klumpen, die von der Südseite, wo der Turm völlig mit seinen Trümmern eine geneigte Fläche bildete, emporstrebten. Jetzt stand der vorderste dort, wo der Geist vorhin so regungslos verharrt hatte. Und ich sah, wie dieser Mann den Ast der Eiche umklammerte, sich geschickt emporzog und nach dem Stamm balancierte. Hier, wo dieser sich in drei Äste teilte, bückte er sich. Und urplötzlich drang nun zu uns ein schwacher Lichtschein empor.

Der Riesenbaum war hohl! Und gerade in der untersten Astgabel mußte sich der Zugang zum Inneren befinden, fraglos in Gestalt eines Deckels aus Baumrinde, so daß man von dieser Falltür nicht so leicht etwas bemerken konnte.

Ich sah, wie der Mann in den hölzernen Schacht hinabkletterte. Der andere folgte, schloß den Deckel, der nach oben hochgeklappt gewesen war.

Ich hörte, wie Harst einen Seufzer der Erleichterung ausstieß. Dann raunte er mir zu: „So – nun haben wir sie!“ Das klang so triumphierend. Und auch ich freute mich, obwohl mein Anteil an diesem Erfolg gleich Null war.

Harst flüsterte weiter: „Lassen wir zehn Minuten verstreichen. Dann ihnen nach. Und dann – werden unsere Pistolen sprechen, falls auch nur einer dieser Mordgesellen Miene zum Widerstand macht. – Na, lieber Schraut, wissen Sie nun, um was es sich hier handelt? – Nicht um Schätze, die die Ruine birgt. Nein – um des Grafen wertvollste Gemälde und altertümliche Goldsachen, die ja insgesamt einen Wert von über einer Million haben sollen. Der Rotbärtige, der sich am seltensten öffentlich zeigt und der auch nicht mit ins Schloß zum Kopieren der Bilder ging – übrigens ist nur die „Magda“ Malerin, – scheint als entlassener Diener des Grafen diesen ganzen Plan entworfen zu haben. Er hatte irgendwie in Erfahrung gebracht, daß von dem alten Flügel des Schlosses ein stellenweise verschütteter Gang hier nach dieser uralten Eiche führte. Anders war den Gemälden und den Goldsachen nicht beizukommen, als durch diesen Gang. Die Bande suchte ihn also wieder passierbar zu machen, arbeitete abwechselnd in den Tiefen der Erde. Der Schutt wurde teilweise unter die Tannen geworfen. Um die Dörfler nachts von hier fernzuhalten, mußte Ritter Jürgen sich auf dem Turme zeigen. Außerdem hielten die Verbrecher sich aber auch die vier Hunde, die wir erschossen haben, – Kreuzungen zwischen Bulldogge und Dobermann. Ferner die anderen Vorsichtsmaßregeln: Alarmdrähte und so weiter. Die Bande wäre auch fraglos unbelästigt geblieben, wenn nicht das Verschwinden der Komtesse die beiden Detektive Luck und Paulig – des letzteren Namen nannte uns Gruber so nebenbei – herbeigeführt hätte. Diese sind den Spukgerüchten nachgegangen. Luck wurde dann damals vermutlich erschossen. Und nun hat heute auch den anderen das Schicksal ereilt. Der Mann ist sehr unvorsichtig gewesen – sehr. – Was das urplötzliche Verschwinden des – Geistes anbetrifft, so ist die Sache herzlich einfach. Der gleißende Ritter ohne Kopf hatte natürlich im Brustharnisch seinen Kopf verborgen und dort auch Sehschlitze oder -löcher. Der rechte Arm wird ein künstlicher gewesen sein. Den richtigen rechten Arm hielt er auf dem Rücken. Um den Hals wird er einen Überzug aus schwarzer Seide, eng zusammengelegt, getragen haben, den er nach Belieben mit der Rechten sehr schnell über die Rüstung gleiten lassen konnte. Auf diese Weise kam das Verschwinden zustande. – So, das wäre alles. – Nun – hinunter in das Innere des Baumes. Ich klettere voran.“

* * *

Der Abstieg bot keine Schwierigkeiten. Nun standen wir in einem gemauerten, feuchten, kellerähnlichen Raum. An der einen Seite bemerkten wir Kisten, Weidenkörbe, Spaten, Hacken und eine elektrische Batterie, deren Drähte in den nach Südost zu verlaufenden Gang hineinführten. An der anderen lag ein Haufen leere Säcke.

Als Harst ein paar davon aufhob, prallte ich entsetzt zurück. Ein blutbesudeltes Totenantlitz stierte uns an. Es war der Detektiv Paulig. Um seinen Hals lag eine Schlinge von dünnem Draht. Die Luftröhre und die Schlagadern waren durchgeschnitten von dem unzerreißbaren Metall.

„Also wirklich!“ sagte Harst düster und deckte das furchtbare Totengesicht wieder zu.

Dann ließ er den Schein seiner Taschenlampe in den Gang fallen, schritt hinein, sehr behutsam, leuchtete stets den Boden und die Wände dieses gemauerten, engen Weges ab.

Wir kamen daher auch nur langsam vorwärts. Nach fünf Minuten vielleicht trafen wir auf die erste, verschüttet gewesene Stelle. Die Verbrecher hatten das Erdreich kunstgerecht abgestützt durch Balken und Bretter.

Noch zwei solcher Stellen fanden wir. – „Sie haben harte Arbeit gehabt,“ flüsterte Harst.

Abermals verstrichen Minuten. Dann bog der bisher schnurgerade verlaufende Gang in scharfem Winkel nach rechts ab. Harst war jetzt sorgloser geworden. Plötzlich griff er nach der rechten Seite, riß etwas herab, packte mich, zerrte mich zu Boden. „Hinlegen!“ keuchte er.

Der Schein meiner Lampe traf sein Gesicht. Es war leichenblaß.

„Was – was gibt’s?“ fragte ich verwirrt.

Er hielt mir seine rechte Hand unter die Augen. Diese Hand hatte einen doppelten, besponnenen Kupferdraht umklammert.

„Schraut – hätte ich den Bruchteil einer Sekunde später den Draht hier abgerissen, so wären wir jetzt nichts als – blutige Fetzen,“ sagte er leise. „So dicht war uns der Tod noch nie –“

Er beleuchtete die rechte Mauer neben uns. Dort steckte eine blaue Metallkapsel. Der Draht führte hinein.

„Eine Dynamitpatrone, Schraut! – Und da vor uns quer über den Gang ist dicht am Boden ein anderer Draht gespannt. Ich bemerkte ihn zu spät. Aber ich war doch auf eine ähnliche Teufelei gefaßt. Ich konnte mein Körpergewicht nicht mehr verlegen, mußte mit dem vorgestreckten Fuß den Draht berühren. Die einzige Rettung war der Versuch, die Leitung zu zerstören. Ich riß mit aller Kraft an den besponnenen Drähten. Es glückte –“

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Dann ging’s weiter. Er wieder voran. Einige Minuten schritten wir wieder mit äußerster Vorsicht dahin.

Da – Harst schaltete seine Lampe aus.

„Weg mit dem Licht!“ befahl er hastig.

Auch ich drückte den Knopf meiner Lampe herunter.

Um uns nun nachtschwarze Finsternis; nun Harsts Stimme – ein Raunen nur: „Ich habe vor uns etwas blinken sehen. Nehmen Sie die Pistole zur Hand, und – hinlegen, ganz platt auf den Bauch –“

Mein Herz jagte.

Ringsum kein Laut – nichts – nichts.

Nach einer Weile glaubte ich etwas wie ein Scharren zu hören. – Harst kniff mich in den Arm.

Und dann – mit einem Schlage schoß eine blendende Lichtflut auf uns zu – so grell, daß ich die Augen zudrückte. Dicht über mir das singende Pfeifen einer Kugel – noch einer.

Harst feuerte jetzt ebenfalls – ganz schnell hintereinander. Ich riß die Lider auf.

Der grelle Lichtkegel war noch da. Ich zielte darauf, krümmte den Finger.

Peng – peng – peng.

Ein gellender Schrei. Ein Echo in dem Gange, das mir in den Ohren dröhnte. – Ich befand mich wie im Fieberdelirium.

Harst war vorwärtsgeschnellt, schaltete seine Lampe ein. Ich raste hinterdrein.

Dort lag neben einer großen Azetylenlaterne ein Mensch auf dem Rücken – der kleine Glattrasierte. Eine Kugel war ihm über der Nase in die Stirn gedrungen.

„Er hat hier Wache gehalten,“ sagte Harst kurz. „Weiter – wir werden die beiden anderen noch bei der Arbeit finden.“

Nach gut fünf Minuten gelangten wir an eine Wendeltreppe, die in einem engen, hohen Schacht emporführte. Sie war aus Eichenholz, das tief nachgedunkelt hatte im Laufe der Zeit.

Abermals Harsts Befehl: „Licht aus!“ Doch jetzt hatte ich’s im gleichen Moment schon von selbst getan, da ich von oben her ein metallisches Klirren[19] vernahm.

Und wieder dieses lähmende Dunkel um uns. Dazu ein dumpfer Geruch wie in einem tiefen, nassen Keller.

Nun oben Lichtschein, das Knarren der Treppenstufen.

Wir hatten inzwischen die Patronenrahmen der Selbstlader frisch gefüllt. – Mochten sie nur kommen!

Und sie kamen.

Der vorderste war der Schwarze, Lange. Er trug auf dem Rücken einen Sack, hielt ihn mit beiden Händen.

Jetzt war er auf der letzten Treppenwindung angelangt, fluchte leise: „Verdammt – eine nette Last!“ Er machte halt, ruhte sich aus.

„Vorwärts doch!“ brummte der Rotbärtige, der gleichfalls einen Sack schleppte. „Vorwärts, Karl! Den Teufel auch – Du hättest nicht so viel einpacken sollen.“

Da – Harsts Anruf:

„Hände hoch – keine Bewegung. Wir schießen sofort.“

Und fast in demselben Augenblick auch schon ein Knall, – dann sauste eine schwere Last auf mich herab; ich sank wie vom Blitz gefällt zu Boden, hörte nur noch das helle Peng – peng, – dann verlor ich das Bewußtsein.

Als ich erwachte, lag ich in einem sehr eleganten Zimmer auf einem Diwan. Harst stand über mich gebeugt, flößte mir jetzt Kognak ein.

„Gott sei Dank, Schraut; der Rotbärtige hatte Ihnen den Sack auf den Kopf geworfen. Es hätte einen Genickbruch geben können.“

Neben ihm bemerkte ich nun auch den Grafen Blinkenstein. Ich befand mich in einem Zimmer des Schlosses. Sehr bald erholte ich mich. Inzwischen hatte der Graf bereits den Gendarm im Dorfe telephonisch verständigt, die in der einsamen Villa zurückgebliebene Frau zu verhaften. Sie wurde später zu Zuchthaus verurteilt. Die beiden von Harst auf der Wendeltreppe niedergeschossenen schwer verwundeten Verbrecher lebten nur noch einen Tag. Die beiden Detektive Luck und Paulig waren gerächt.

Am nächsten Mittag saßen wir mit dem Grafen, jetzt wieder im Kostüm der Güteragenten, auf der Schloßterrasse. Es war ein sonnenklarer, warmer Tag.

„Herr Graf,“ begann Harst. „Den für Sie wichtigsten Erfolg unserer hiesigen Tätigkeit habe ich mir für diesen Augenblick aufgespart. Sie wissen jetzt, wer ich bin: ein Liebhaberdetektiv, der infolge einer Wette eine Anzahl schwieriger Probleme lösen muß! Meine Wettgegner verlangten, ich sollte das Verschwinden der Komtesse Vera aufklären. Deshalb kam ich hierher. Ich – habe es aufgeklärt! Aber ich fürchte, Sie werden mit diesem Ergebnis nicht zufrieden sein. Ihr Stolz wird dadurch empfindlich verletzt werden. – Nehmen Sie noch immer an, Ihre Tochter sei tot?“

„Ja – natürlich. – Übrigens – ich verstehe Ihre Andeutungen nicht im geringsten, und –“

Harst machte eine kurze Handbewegung. Der Graf schwieg.

„Wenn Sie nun zum Beispiel erfahren würden, daß Ihre Tochter lebt, aber die Absicht hat, weit unter ihrem Stande zu heiraten, – wie würden Sie –“

Der Graf war aufgesprungen. „Lebt – lebt?!“ rief er. „Wenn das wahr wäre, dann – dann könnte geschehen oder geschehen sein, was da wollte! Bedenken Sie: Mein einziges Kind!“

„Bitte nehmen Sie wieder Platz, Herr Graf. Nun ist ja alles gut. – Ja, Ihre Tochter lebt. Sie liebte heimlich ihren Jugendgespielen, den jetzigen Lehrer Herbert Uhlich. Sie hat nie von ihm gelassen. Aber – sie kannte wohl Ihre strengen Ansichten, durfte nicht hoffen, je mit Ihrer Einwilligung Uhlichs Frau zu werden. Als dieser April nach Garz versetzt wurde, ward in ihr die Sehnsucht nach dem Geliebten so mächtig, daß sie mit ihm verabredete, hier – ein spurloses Verschwinden vorzutäuschen. Uhlich holte sie damals am 2. Mai mit einem Kastenwagen aus der Schonung ab. Der Kasten war mit einer Plane bedeckt, die beide verbarg. Sie fuhren so nach Garz in das kleine, abseits gelegene Haus, in dem er wohnte, und dort weilt sie noch jetzt als – seine Schwester. Das Jägerhütchen warf erst am 3. Mai Uhlichs Onkel in die Brombeeren, nachdem man es durch einen Schrotschuß durchlöchert hatte. Man wollte auf diese Weise einen Mord wahrscheinlicher machen. Eine eifersüchtige Äußerung der Wirtstochter Anna Gruber; weiter dann die Behauptungen eines alten Wegearbeiters brachten mich auf die richtige Spur.“

Graf Blinkenstein saß eine Weile regungslos mit gesenktem Kopf da. Dann reichte er Harst die Hand.

„Ich danke Ihnen für alles, was Sie hier erreicht haben. Ich werde noch heute nach Garz fahren. Meine Tochter wird Frau Uhlich werden. Und wenn wir Hochzeit feiern, müssen Sie beide dabei sein.“ –

Die Hochzeit fand vier Wochen später statt. Als wir am Hochzeitsmorgen jetzt als Gäste des Schloßherrn nach der Ruine wanderten (den unterirdischen Gang hatte der Graf sprengen und zuschütten lassen), sagte Harst gedankenvoll:

„Ja, lieber Schraut, – es waren damals doch recht aufregende Tage hier. – Und doch möchte ich diese Erinnerungen nicht missen, die verknüpft sind mit dem Ritter Jürgen und der Ruine Blinkenstein.“

 

Inhalts-Verzeichnis

Die Augen der Jolante

Die Dame im Lackhut

Ruine Blinkenstein

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Torpedohalbflotille“.
  2. Fehlendes Wort „in“ ergänzt.
  3. Die folgende Zeile ist doppelt; die erste Zeile davon hat einen fehlerhaften Text.
  4. „Schmuggler-Jacht“ / „Schmugglerjacht“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Schmugglerjacht“ geändert.
  5. Fehlendes Wort „hin“ ergänzt.
  6. In der Vorlage steht: „war“.
  7. Dieser Satz: „Nun ging er auf Klimkes Kerker zu, befahl unserem Gefangenen herauszubekommen.“ macht so keinen Sinn. Denn Harst befiehlt dem Gefangenen ja nicht, aus dem Kerker herauszukommen, sondern Harst versucht durch Fragen etwas herauszubekommen. Hier fehlt eine Zeile. Text sinngemäß ergänzt.
  8. Fehlendes Wort „nicht“ ergänzt.
  9. In der Vorlage steht: „6.“.
  10. In der Vorlage steht: „rannte“.
  11. In der Vorlage steht: „in“.
  12. Fehlendes Wort „hin“ ergänzt.
  13. In der Vorlage steht: „Bitte“.
  14. In der Vorlage steht: „kannte“.
  15. In der Vorlage steht: „ausladenem“.
  16. In der Vorlage steht: „einen“.
  17. In der Vorlage steht: „den“.
  18. In der Vorlage steht: „noch“.
  19. In der Vorlage steht: „Knirren“.