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Ein ritterlicher Buschklepper

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

Mein Familienheim erscheint wöchentlich.
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Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 26, Elisabethufer 44.

 

Ein ritterlicher Buschklepper.

 

von W. Belka.

 

1. Kapitel.

Im Sanatorium Dr. Sinclairs.

Evelyn Palmer kam aus dem Krankenhause heim. Seit vierzehn Tagen spielte sie dort die freiwillige Pflegerin. Es war dies jetzt gerade in Perth Mode, und Evelyn ließ nichts aus, was Mode war, – weder in Kleidung, Haartracht noch in allem sonstigen.

Sie kam heim, traf die Eltern bereits im Speisezimmer beim Vorgericht, setzte sich und begann sehr bald von dem geheimnisvollen Menschen zu erzählen, der nun bereits vier Wochen im Krankenhause mit einer bösen Lungenentzündung liege, jetzt jedoch mit Riesenschritten der Genesung entgegengehe.

Edward Palmer, der reichste Mann der westaustralischen Hafenstadt Perth, verzog sein Bulldoggengesicht zu einem Lächeln und meinte: „Evelyn, ich wittere in diesem Menschen einen besonderen Schützling von dir. – Rück’ heraus mit der Sprache, was soll ich für ihn tun?“

Frau Palmer, eine zarte, stark geschminkte Dame, die sonst nur Interesse für Modeblätter, französische Romane und Stadtklatsch hatte, fragte nun: „Weshalb nennst du den Mann geheimnisvoll, Evelyn? – Du übertreibst gern … Es wird wohl nur ein gewöhnlicher Hochstapler oder dergleichen sein, der es versteht, sich …“

Evelyn, die ein schmales, feines Gesicht, reiches kastanienbraunes Haar und sehr lebhafte dunkelbraune Augen hatte, machte eine abwehrende Handbewegung nach der Mutter hin.

„Tu’ ihm nicht unrecht, Mama,“ sagte sie eifrig. „Vielleicht ist’s auch ein Unglücklicher, der gute Gründe hat, Namen und Herkunft zu verschweigen. – Ich will euch kurz berichten, was ich über ihn weiß. – Vor vier Wochen fanden Fischer am Strande bei Fremantle[*1] ein kleines Boot und darin einen ohnmächtigen, in ein Stück Segeltuch gehüllten Menschen, der im übrigen nichts – nicht ein einziges Kleidungsstück besaß. Als dieser blondbärtige Europäer dann im Krankenhause hier zum erstenmal zum Bewußtsein kam und als seine Personalien nun aufgenommen werden sollten, erklärte er, er habe weder einen Namen noch ein Vaterland; man solle nur in die Bücher hineinschreiben, was man wolle. – Hierbei blieb er. Er verweigerte weiter jede Auskunft über sich. Da er sowohl Englisch, Französisch, Spanisch und Deutsch fließend beherrscht, vermag man auch aus seiner Sprache keine Schlüsse auf seine Nationalität zu ziehen. Jedenfalls steht aber fest, daß er viele Tage in dem kleinen Boot auf dem Meere ein Spielball von Wind und Wetter gewesen sein muß. Als man ihn fand, war sein Gesicht von der Sonne und dem Salzwasser der Wogenspritzer wie zerfressen. – Schließlich will ich noch bemerken, daß ich ihn für einen gebildeten Menschen halte, der, nur durch Schicksalsschläge gezwungen, sein bisheriges Dasein völlig auslöschen und hier ein neues beginnen will. Dies nun sollst du ihm erleichtern, Pa … Nimm ihn in Dein Geschäft auf. Ich behaupte, er wird jede Stelle ausfüllen.“

Edward Palmer kannte eigentlich nur zwei Gefühle: grenzenlose Habgier, die sich freilich schlau unter der Maske eines ehrenwerten Kaufmanns zu verbergen wußte, und dann noch eine ebenso grenzenlose Liebe zu seinem einzigen Kind, zu Evelyn, die er so verwöhnte, vergötterte und verhätschelte, daß ganz Perth darüber lächelte.

„Nun gut,“ meinte er, „ich werde zusehen, ob er sich zum Korrespondenten eignet.“

Evelyn sprang auf und gab Palmer einen schallenden Kuß. –

Eine Woche darauf meldete sich ein noch recht jugendlich aussehender, blonder Herr mit kurzgeschnittenem Bärtchen, gelbem Leinenanzug, Panamahut, hellgrüner Krawatte, zartlila Oberhemd und … Monokel im rechten Auge bei Edward Palmer in dessen Geschäftspalast.

Es war der geheimnisvolle Fremde. – Der Multimillionär hatte erwartet, daß der Mann sehr bescheiden auftreten würde. Nun – unbescheiden war er ja gerade nicht. Aber in seinem ganzen Wesen zeigte sich ein so stark ausgeprägtes Selbstbewußtsein, daß Palmer es nicht wagte, seine stadtbekannte Unhöflichkeit auch jetzt zu beweisen. Im Gegenteil: er mußte sich im stillen eingestehen, daß der Mensch ihm ein wenig imponierte. Jedenfalls war dies kein Durchschnittscharakter, sondern mal etwas ganz Eigenartiges, – eben einer, der wußte, was er wollte, konnte und wert war.

„Hm, Master, – ich stelle Sie also ein,“ erklärte Palmer nun. „Aber – Sie werden sich doch notwendig wieder einen Namen zulegen müssen. Daß der Name, den Sie wählen, von den Behörden hier auch anerkannt wird, dafür sorge ich schon. Edward Palmers Wille ist hier in Perth allein maßgebend.“

„Das weiß ich,“ meinte der Blonde gelassen. „Sie besitzen 10 Schafzüchtereien, 6 Goldbergwerke und etwa ein Fünftel aller Häuser in Perth und Fremantle, Master Palmer. – Hm – einen Namen? – Schwierige Frage! Zunächst der Vorname … – Nun – Allan klingt ganz angenehm, erinnert an das griechische Wort allos, ein anderer. – Also: Allan. – Und der Zuname …“ – er überlegte kurze Zeit – „– ja, der Zuname: Wrack!!“ – Er lächelte mit feiner Selbstironie. „Wrack ist deutsch, kann aber auch englisch sein … Und Wrack bedeutet ein Schiff, dem die Wogen böse mitgespielt haben … – Ich heiße jetzt mithin Allan Wrack …“ – –

Zwei Monate später betrat Allan Wrack das Privatkontor Palmers, der diesen überaus tüchtigen Menschen inzwischen sogar sehr häufig bei sich daheim als Gast empfangen und auch in die ersten Kreise der Hauptstadt Westaustraliens eingeführt hatte.

Allan Wrack lehnte den ihm angebotenen Sessel heute sehr förmlich ab und begann: „Ich sehe mich genötigt, meine Stellung zu kündigen, Master Palmer. Durch Zufall bin ich dahinter gekommen, daß Sie in diesen zwei Monaten, seit ich in Ihrem Geschäft tätig bin, drei Dampfer mit Ballen Schafwolle nach England gesandt haben, die notwendig unterwegs auf See verloren gehen mußten, da Sie in verschiedenen Ballen sehr raffiniert ausgeklügelte Höllenmaschinen untergebracht hatten, die die Ladung nach Tagen in Brand setzten. Diese drei Dampfer sind denn auch verbrannt, und Sie haben ungeheure Summen an Versicherungsgeldern eingestrichen, obwohl doch die meisten der angeblichen Wolleballen nur außen aus reiner Schafwolle, innen aber aus … Holzwolle bestanden. – Wäre ich Ihnen nun nicht so sehr zu Dank verpflichtet, so würde ich die Sache zur Anzeige bringen. Ich werde es nicht tun, werde nur Ihr Geschäft sofort verlassen, da ich hier nicht recht hineinpasse … – Guten Morgen, Master Palmer. – Noch eins: ich rate Ihnen, derartige Betrügereien fernerhin zu vermeiden. Ich werde ein scharfes Auge auf Sie haben, und wenn ich merke, daß … Nun – Sie verstehen mich …!!“

Edward Palmers Gesicht hatte schnell den Ausdruck aufrichtigsten Bedauerns angenommen. Er war nicht bloß habgierig über alle Maßen, er war auch verschlagen und … gefährlich.

„Einen Augenblick, Master Wrack,“ bat er. „Ich sehe, daß Ihre Krankheit sich jetzt leider in Anfällen von Geistesverwirrung wieder äußert. Ich will Sie gern auf meine Kosten in dem Sanatorium meines Freundes Doktor Sinclair für einige Zeit unterbringen. – Glauben Sie mir: dies ist nötig! Sogar sehr nötig! Die unsinnigen Behauptungen, die Sie soeben …“

Er kam nicht weiter. Allan Wrack hatte kurz kehrt gemacht und das elegante Privatkontor verlassen.

Kaum war er hinaus, als Palmers Mienen sich verzerrten. Wie ein Habicht auf seine Beute, schoß er auf das Telephon an der Wand zu und ließ sich erst mit dem Polizeiamt der Stadt, dann mit dem eine halbe Stunde östlich von Perth mitten in den romantischen Darling-Bergen gelegenen Sanatorium verbinden.

Dies alles geschah morgens gegen neun Uhr. Nachmittags gegen fünf fand Edward Palmer sich wie immer daheim zum Dinner ein. Bei Tisch erwähnte er ganz beiläufig mit Ausdrücken größter Teilnahme, daß der arme, so überaus brauchbare Allan Wrack heute nach Doktor Sinclairs Sanatorium habe transportiert werden müssen, da seine schwere Lungenentzündung seine Nerven doch so stark in Mitleidenschaft gezogen hätte, daß er heute früh ganz unvermittelt wirre Reden geführt und sogar allerlei Drohungen ausgestoßen habe. Die Polizei sei sehr bald nach Allan Wracks Wohnung geeilt und habe ihn dort angetroffen, wie er gerade den Ehemann seiner Wirtin, den Lageraufseher Bargell, ganz grundlos mit dem Revolver bedrohte. Daraufhin habe man ihn schleunigst nach der Nervenheilanstalt Sinclairs geschafft.

Evelyn war leichenblaß geworden. „Unmöglich, Pa, – unmöglich!!“ hauchte sie. „Master Wrack ist geistig und körperlichen genau so gesund wie du und ich. Hier muß irgend eine …“

„Genug davon,“ meinte Palmer kurz und mit einer Bestimmtheit, die er Evelyn gegenüber noch nie gezeigt hatte. „Ich mag mir durch solche Gespräche die Mahlzeit nicht verderben lassen …“ – –

Doktor Sinclair hatte den neuen Patienten eines der drei Zimmer der Anstalt anweisen lassen, die für ganz gefährliche Kranke bestimmt waren und die Einrichtungen enthielten, die jeden Fluchtversuch von vornherein als aussichtslos vereitelten.

Allan war der Polizei gegenüber völlig ruhig geblieben. Da er sehr wohl wußte, wer ihn auf diese Weise mundtot machen wollte, nahm er weiter keine Rücksichten mehr und bezeichnete Edward Palmer als das, was er war: einen Betrüger schlimmster Art. – Doch die Beamten hatten nur lächelnd die Achseln gezuckt. Sie wußten: niemand zahlte so hohe Trinkgelder für prompte Erledigung einer Angelegenheit wie der allmächtige Millionär. Und – außerdem deckte sie ja der Befehl ihres Vorgesetzten.

Nach der Einlieferung in das Sanatorium verlangte Allan höflich, den leitenden Arzt sprechen zu dürfen.

Sinclair, ein kleiner hagerer Mann mit einem ewig lächelnden Fuchsgesicht, erschien denn auch in Begleitung von zwei stämmigen Wärtern in Allans Zelle – dieser Ausdruck paßte besser als das harmlose „Zimmer“ – und hörte geduldig den angeblichen Kranken an, der unter anderem erklärte, er habe den Ehemann der Frau Bargell nur deshalb mit dem Revolver bedroht, weil dieser erbärmliche, bei Palmer freilich als Lageraufseher angestellte Trunkenbold das arme Weib abermals in rohester Weise geschlagen hätte.

Der kleine Doktor, dem Edward Palmer monatlich 50 Pfund Sterling (1000 Mark) für den Kranken zu zahlen versprochen hatte – außer den besonderen Kosten für Medikamente und so weiter –, meinte nun mit salbungsvoller Menschenfreundlichkeit:

„Mein lieber Master Wrack, Sie können überzeugt sein, daß ich Sie von hier sofort entlasse, sobald ich die Überzeugung gewonnen haben werde, Ihr Leiden habe sich gebessert. – Glauben Sie mir: Sie sind krank! Schon Ihr Auftauchen hier in Perth, Ihre Weigerung, Angaben über Ihren Namen und Ihre Herkunft zu machen, ferner die Art und Weise, wie Sie sich dann einen Namen wählten, schließlich noch die lächerlichen Anschuldigungen gegen meinen Freund Palmer und Ihr eine sehr leicht zu erregende, gefährliche Heftigkeit verratendes Eintreten für die Frau Bargell, deren Mann übrigens zu Palmers zuverlässigsten Arbeitern gehört, – all das also beweist eine schwere Störung des Nervensystems. – Aber – ich werde Sie gesund machen, so hoffe ich. – Auf Wiedersehen, lieber Master Wrack.“

Allan Wrack lebte wie ein zum Tode Verurteilter. Nicht nur seine Überwachung war äußerst scharf, sondern auch die Behandlung seines angeblichen Nervenleidens konnte lediglich als langsamer Martertod gelten.

Drei Wochen befand er sich nun bereits in dieser Hölle, der ein Satan in Menschengestalt vorstand. Seine frische Gesichtsfarbe hatte sich in ein krankhaftes Graugelb verwandelt; er war erschreckend abgemagert. – Kein Wunder! – Die Kost wäre für ein Kind zu wenig gewesen; und dreimal am Tage wurde er je zwei Stunden in einen Bottich mit eiskaltem Wasser gesteckt. Nachts aber erschien jede Stunde einer seiner beiden Wärter in seiner Zelle, – angeblich, um sich zu überzeugen, ob er nicht etwa einen Selbstmordversuch verübt hätte. So konnte er nicht eine einzige Nacht ungestört schlafen. Ins Freie kam er nie. Vor seinen beiden Fenstern befanden sich lichtdicht schließende Eisenläden. Kein Ton drang von draußen in seine Zelle. Seine Wärter antworteten auf keine Frage. Doktor Sinclair besuchte ihn zwar täglich, schüttelte dann aber immer bedenklicher den Kopf, wenn Allan Wracks Geduldsfaden riß und eine Flut von Bitten, Verwünschungen und Drohungen den Lippen dieses Opfers menschlicher Heimtücke entströmte.

Allan Wrack erkannte nach Ablauf dieser drei Wochen, daß er verloren war, daß nichts ihn retten konnte, daß er hier tatsächlich in kurzem wahnsinnig werden würde. Er gab alle Versuche, Sinclairs oder der Wärter Mitleid zu erregen, auf und brachte die Tage und Nächte in dumpfem Brüten hin, wartete auf die Stunde, wo in seinem müden Hirn jene Veränderung vor sich gehen würde, auf die der ewig lächelnde Satan Sinclair mit allem Raffinement hinarbeitete.

So verging eine neue Woche. Allan Wrack wußte nicht mehr, welchen Tag, welches Datum man hatte. Alles war ihm gleichgültig geworden. Selbst das Entwerfen abenteuerlicher Fluchtpläne hatte er aufgegeben. Abenteuerlich, außergewöhnlich mußten sie ja sein. Mit einfachen Mitteln kam man aus diesem Gefängnis nicht heraus. – Ach – wie sehr hatte er sich seinen klugen Kopf zermartert, etwas zu ersinnen, das ihm den Weg in die Freiheit bahnte …!! Doch – seine Bewachung war zu streng. Nicht einen Augenblick blieb er unbeobachtet. In der eisernen Doppeltür seiner Zelle war ein Guckloch, und hinter diesem Guckloch lauerte beständig ein menschliches Auge … –

Er wartete nun – wartete auf die Erlösung! Eine Erlösung bedeutete es ja für ihn, wenn sein Verstand sich verwirrte, wenn er nicht mehr die klare Denkfähigkeit besaß, sein unendliches Elend als solches zu empfinden.

 

2. Kapitel.

Die Nachbarzelle.

Abends ging stets zur selben Stunde das elektrische Deckenlicht aus. Dann mußte Allan Wrack sich im Dunkeln entkleiden und zu Bett gehen. Aber – das Licht flammte in unregelmäßigen Zwischenräumen immer wieder auf: auch eine Vorsichtsmaßregel. –

Allan Wrack war soeben unter das Zudeck geschlüpft. Heute nachmittag hatte er am Mitteltisch seiner Zelle seine Mutter sitzen sehen – ganz deutlich. Diese Vision zeigte ihm, daß sein Geist sich bereits zu verwirren begann. Die Erlösung nahte also …

Seine Mutter hatte er gesehen!! Und – nun stieg die Heimat vor ihm auf, das Elternhaus, kamen ihm tausend Erinnerungen, – – und sie waren zumeist froher Natur, bis dann eines Tages das Unheil über seine Eltern hereingebrochen war. –

Da trat Wilkins, der rotbärtige Wärter, ein und störte ihn auf aus diesen in die Vergangenheit rückschweifenden Gedanken. – Wilkins kam wie immer an sein Bett, riß ihm das Zudeck weg, betrachtete ihn forschend, sah sich ebenso mißtrauisch im Zimmer um und stampfte wieder hinaus.

Allan Wrack hatte deutlich gespürt, daß Wilkins heute einen starken Branntweingeruch um sich verbreitete.

Eine Stunde verging. Und – abermals trat Wilkins – dem Marterprogramm entsprechend – ein. Doch – jetzt hätte eigentlich Bathurst, der andere Wärter, kommen müssen, denn die beiden erschienen nachts stets abwechselnd. Bisher war es stets so gewesen. – Allan Wrack bemerkte, daß Wilkins noch stärker nach Spirituosen roch und daß er auch verdächtig schwankte.

Wilkins verschwand wieder. Der Gefangene lag regungslos. Blitzartig war in seinem Hirn ein leiser Hoffnungsschimmer aufgezuckt. Wilkins’ Zustand bewies, daß Doktor Sinclair nicht anwesend sein konnte und daß die Wärter sich einen vergnügten Abend machten. Wahrscheinlich war Bathurst eben nicht mehr fähig, den gewohnten Besuch bei Allan zu erledigen …

Kaum hatte Allan Wrack sich dies überlegt, als er ein leises Pochen vernahm. Er schrak zusammen … Noch nie hatte er hier einen solchen Laut gehört.

Er horchte. So stellte er fest, daß ohne Zweifel jemand in dem rechten Nebengemach an die Mauer klopfte. Und an dieser Mauer stand Allans Bett.

Das Klopfen ließ nicht nach. In kurzem hatte Allan Wrack die Absicht des unbekannten Nachbars durchschaut: Verständigung durch Klopftöne! – Und nach fünf Minuten waren bereits die ersten englischen Wörter als Probe hinüber- und herüberdepeschiert. Endlos langsam ging das – endlos langsam, denn die Buchstaben wurden ja in der Reihenfolge im Alphabet nach durch ebensoviele Klopftöne wiedergegeben.

Jetzt entzifferte Allan Wrack das Wort „Dringend“. Und nun stellte er folgenden Hilferuf des Anderen zusammen:

„Retten Sie mich und uns! Wilkins ist betrunken. Ich bin zu schwach, ihn zu überwältigen. Nehmen Sie ihm die Schlüssel ab, lassen Sie mich heraus, und wir sind frei. Ich weiß hier Bescheid! Retten Sie mich, denn ich soll hingemordet werden …“ –

Genau denselben Gedanken hatte Allan ja bereits erwogen: Wilkins zu würgen, bis er die Besinnung verlor, und dann zu fliehen …!!

Allan depeschierte zurück:

„Vorsicht! – Ich werde es versuchen. Nicht mehr klopfen!“

Wie im Fieber befand er sich jetzt. Der Gedanke, vielleicht heute noch hinaus zu gelangen ins Freie, vielleicht wieder die Sterne funkeln, die Sonne leuchten zu sehen und frische Luft atmen zu dürfen, jagte Hitzewellen über seinen Leib – diesen entkräfteten Leib, der doch einst spielend jede Anstrengung ertragen hatte, dessen Gewandtheit berühmt gewesen …

„Ruhe – nur Ruhe!!“ – Immer wieder rief Allan es sich mahnend zu. Nur Ruhe und kaltes Blut konnten ja zum Erfolge führen.

Nun wartete er auf Wilkins. Dieser hatte ohne Zweifel einen Besuch bei ihm bereits versäumt. –

Wie, wenn er überhaupt nicht mehr kam, wenn er zu betrunken war, wenn die Nacht verstrich und … alles Hoffen umsonst gewesen wäre …?!

Ein eisiger Schreck ließ Allan Wrack wie vor Kälte zittern. Klappernd schlugen ihm die Zähne zusammen …

Da – das Schnappen der Schlösser … Und: das Deckenlicht blieb brennen!! Also … kam jemand …!!

Es war Wilkins. – Schwerfällig schwankte er auf das Bett zu, in der Rechten wie immer den Gummiknüttel als Waffe …

Er rülpste laut, brummte vor sich hin …

Allan hielt die Augen geschlossen. Er wußte: Wilkins würde ihn wachrütteln, würde sich über ihn beugen.

Und jetzt, wo die Entscheidung nahte, sagte er sich verzweifelt: „Niemals werden deine Kräfte ausreichen, diesen Riesen zu überwältigen …! Früher hätten sie genügt, jetzt nicht.“ – Und – im gleichen Moment ein neuer Gedanke …!! – Ja – so – so mußte es gelingen …!!

Wilkins packte den Gefangenen bei der Schulter, riß ihn roh hoch, warf ihn zurück in die Kissen. Allan tat, als sei alles Leben aus seinem Körper entwichen.

Der Wärter wurde stutzig, knurrte: „Verdammt – ob der krepiert ist …?“ Und nochmals kniff er Allan in den Arm, daß nachher blutunterlaufene Flecke entstanden.

Dann drehte er sich um, knurrte wieder: „Werde mal den Masseur holen … Der Jimmy weiß, ob einer mausetot ist …“

Er schwankte der Tür zu. Wie ein Blitz war Allan aus dem Bett, – lautlos, zu allem entschlossen; Riesenkräfte fühlte er plötzlich … Seine Rechte ergriff die gefüllte Wasserkaraffe, die auf dem Nachttischchen stand, schwang sie empor …

Ein Krach …: Scherben, Wasser flogen auf den Teppich, und ächzend brach Wilkins zusammen …

Allan Wrack fing ihn auf, schleppte ihn auf das Bett, schlüpfte in seine Kleider, nahm dem Wärter das Schlüsselbund ab und schlich in den Flur hinaus, lauschte hier, huschte zur nächsten Tür linker Hand, fand den richtigen Schlüssel, öffnete und … sah sich einem schmächtigen, großen Jungen gegenüber, der bereits fertig angezogen war.

Und dieser Junge war wie ein lebendes Gerippe. In einem mageren Totenschädel von Leichenblässe lohten ein paar dunkle Augen, und über ein Paar Lippen, die rissig und blutig waren, drang jetzt ein leises: „Endlich – endlich!“

Dann winkte der Junge Allan zu, ihm zu folgen. Sie liefen den matt erhellten Flur entlang, eine Treppe hinab, machten vor einer Tür halt, an der ein Porzellanschild: „Privat“ hing.

„Sinclair kann nicht zu Hause sein,“ hauchte der Junge, der vielleicht fünfzehn Jahre alt sein mochte. „Wir dürfen ohne Waffen nicht fliehen. Wir werden verfolgt werden, wie vielleicht noch nie Menschen gehetzt worden sind …“

Er bückte sich, hob die Fußmatte auf. Darunter lag ein Schlüssel. Er schloß auf, trat ein, zog Allan mit sich.

Hier war’s völlig dunkel. Dann schaltete der Knabe das Licht ein. Allan erkannte ein elegantes Herrenzimmer. Rechter Hand stand ein Gewehrschrank. Im Nu hatten die beiden ausgewählt, was sie brauchten.

Und dann ging’s weiter durch ein Flurfenster in den Park hinab. Sanftes Mondlicht lag über den tropischen Bäumen und Sträuchern. Die Flüchtlinge rannten vorsichtig durch die stillen Wege bis zu den Wirtschaftsgebäuden hin. Ein Hund kam angerast, bellte, beruhigte sich schnell, als der Junge ihn anrief.

Fünf Minuten später hatten sie beide Reitpferde Sinclairs gesattelt, nachdem der im Stalle schlafende Kutscher, ein eingeborener Neger, von ihnen gefesselt und geknebelt worden war. Sie führten die Pferde hinaus auf den Fahrweg, der nach Perth hinlief, und nun erst erklärte der Junge aufatmend:

„Frei – – frei …!!“

 

3. Kapitel.

Auf Billerbie-Station.

„Frei?! – Das sind wir erst, wenn wir das dichter bewohnte Land hinter uns haben,“ fügte Allan Wrack ernster hinzu und schwang sich in den Sattel. „Immerhin – ich möchte den sehen, der mich jetzt wieder in jene Hölle zurückbrächte, kleiner Freund …! Der Mann müßte zweierlei besser verstehen als ich: Reiten und Schießen! – wozu schon so allerlei gehört!“

Nun, der Knabe hatte bereits an der spielend leichten Art, wie sein Retter ohne Steigbügelbenutzung auf den hochbeinigen Falben gelangt war, gemerkt, daß er hier einen Gefährten gefunden, dem ein Pferderücken ebenso lieb wie ein Polstersessel war. Er hatte dies mit einem Blick festgestellt, denn er selbst war ja schon mit acht Jahren in jenen glücklichen Zeiten, die wie ein Traum hinter ihm lagen, mit seinem zierlichen Pony wie verwachsen gewesen. – Auf seines Leidensgefährten letzten Satz hin erklärte er daher kurz: „Glaube ich gern, nach Ihrem Aufsitzen zu urteilen!“ und war gleich darauf ebenfalls im Sattel, ordnete gewandt die Zügel und fügte hinzu: „Hier außerhalb der Mauern der Anstalt weiß ich leider gar nicht Bescheid, Master … Master …“

„Nenne mich Allan, kleiner Freund. Ich heiße Allan Wrack, obwohl … – Doch davon später. – Und du?“

„Ich bin Harry Fleat, einziges Kind des Millionärs Ernest Fleat aus …“

„Nachher Genaueres. – Nun – ich kenne diese Gegend von Ausflügen aus Perth her. Wir müssen erst diese Straße weiter nach der Stadt zu verfolgen und kommen dann auf den breiten Paßweg, der über die Berge führt. – Vorwärts …!“

Er trabte an. Daß Harry reiten konnte, hatte er schon im Stall beim Hinausbringen der Gäule erkannt. Aus dem Trab wurde ein leichter Galopp. Die Straße war gut gehalten, und der Mond stand jetzt gerade über ihnen.

Allan Wrack sog die frische Nachtluft in vollen Zügen ein. Mit jeder Minute fühlte er sich frischer, kräftiger. Sein Körper war doch noch nicht so siech gewesen, wie er gefürchtet hatte.

Die Bergstraße hatte ein altes Flußbett hier benutzt, einen tiefen Kanon mit hohen, steilen Wänden, der gut 800 Meter lang war. Als die Flüchtlinge sich in der Mitte dieses Engpasses befanden, der in vielfachen Windungen die höchsten Erhebungen umging, blitzten dicht vor ihnen zwei Scheinwerfer eines Autos auf, das plötzlich um eine Ecke im schärfstem Tempo dahergerattert kam.

„Doktor Sinclair!“ rief Harry halblaut aus.

Allan Wrack hatte Ähnliches schon befürchtet. Auch er drängte seinen Falben dicht an den Straßenrand. Und – er lächelte dabei, – lächelte, weil er spürte, daß sein Herzschlag ruhig blieb, daß auch seine Nerven bereits wieder zuverlässig waren.

Der Kraftwagen sauste vorbei. Da – als er fast noch mit den Pferden auf einer Höhe war, schnellte der Mann in den Polstern hinten mit einem schrillen Rufe hoch, wandte den Kopf nach den Reitern zurück.

„Hallo – jetzt gilt’s!“ meinte Allan zu Harry. „Galopp, mein Junge! Der Schuft hat Verdacht geschöpft …!“

Sie jagten weiter. Das Auto war um die nächste Biegung verschwunden. Aber – es würde umkehren. Das war sicher …

Drei Minuten einer wilden Hetze über die Kanonstraße hin, in der es hier kein Ausbiegen nach der Seite gab … Allan Wrack sah die Lichtkegel, hörte das Rattern des Motors.

„Er holt uns doch ein,“ rief er Harry zu. „Schritt – Schritt, und absteigen …! Ich werde mit ihm und dem Schofför schon fertig. – Hier – halte meinen Falben, Harry.“

Er nahm eine der beiden Pistolen aus dem Lederfutteral, entsicherte sie, suchte mit den Fingern in der Uhrtasche seiner Weste … Ah – das Monokel war noch da!! Und – ohne Monokel war er ja nie tätig gewesen …

Das Auto nahte in rasender Fahrt. Noch hundert Meter, noch achtzig, vierzig …

Da … die Scheinwerfer schienen plötzlich die rechte Felswand erklettern zu wollen, beschrieben einen Bogen nach rückwärts …

Ein fürchterlicher Krach … Der Motor verstummte. Und der Kraftwagen lag zertrümmert quer über der Straße.

Dann … klägliches Geschrei …: „Hilfe – Hilfe …!!“

Die beiden Flüchtlinge hatten einen Augenblick wie gelähmt regungslos verharrt.

„Sinclair – Sinclair ist’s, der um Hilfe ruft,“ meinte Harry Fleat nun, und seine Stimme zitterte vor Freude. „Die Rache des Himmels!! Er ist in unserer Gewalt, Master Allan … Und – es gibt nichts, das ich so hasse, wie diesen Schurken, der …“

Allan Wrack lief der Unfallstelle zu. Der Schofför lag tot in einer Blutlache neben dem Auto. Sinclair aber hatte der Kraftwagen unter sich begraben. Quer über dem Bauch stand dem Doktor eines der Hinterräder, während eine Eisenstange der Maschinerie mit ihrem losgesprengten einen Ende seine Füße festgeklemmt hatte.

Allan beugte sich über ihn. „Erkennen Sie mich, Doktor Sinclair?“

„Gewiß – gewiß!“ stöhnte der Arzt. „Helfen Sie mir, und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich für Sie alles tun will, was ich nur kann.“ Seine Worte überstürzten sich. Sein fahles, vom Monde beleuchtetes Gesicht war jetzt mehr vor Angst als vor Schmerzen verzerrt.

Allan Wrack erwiderte nichts, stützte die Schulter unter den Wagenkasten, nahm alle seine Kräfte zusammen, richtete sich jedoch wieder auf, so daß Sinclair wimmernd schrie: „Was zögern Sie …?! Hundert Pfund gebe ich, wenn Sie …“

Allan wandte sich an Harry, der mit haßerfüllter Miene den Wehrlosen musterte.

„Zieh’ ihn vor, mein Junge, sobald ich den Wagen etwas angehoben habe …“

„Niemals – niemals!“ Und Harry stampfte mit dem Fuß auf. „Ich will meine Rache! Er – er hat meinen Vater …“

„Du wirst!“ Schneidend scharf klang’s. Und Harry schaute in Allans drohendes Gesicht, dessen Züge jetzt wie aus Stein gemeißelt waren, schaute in ein Augenpaar, das ihn unverwandt fest in Bann hielt. Vor einem dieser Augen, dem rechten, glitzerte das Monokel. Es funkelte wie ein übergroßes Sehorgan im Mondenlicht, wie etwas, dem eine geheimnisvolle Macht entstrahlte …

Harry schlug den Blick zu Boden. Nie mehr wiedersprach er Allan in dieser Weise. Es blieb das einzige Mal.

Gleich darauf lehnte Doktor Sinclair aufrecht an den Trümmern seines Autos. Allan Wrack deutete auf den Schofför …

„Wieder ein neues Opfer, Doktor Sinclair, – Ihr Opfer!“ sagte er kalt. „Auch wir, Harry und ich, wären Ihrer raffinierten Bestialität beinahe unterlegen. Nun – das Schicksal hat es anders gewollt.“

Er hob den rechten Arm … Die Pistole blinkte matt im Lichte des Nachtgestirns. – Der kleine Arzt sank in die Knie, winselte: „Gnade – Gnade …!! Ich werde …“

Ein ironisches Lachen ließ ihn verstummen. „Wie – fürchten Sie etwa, daß ich Sie niederschießen werde?! – Sie kennen mich schlecht!“ meinte Allan Wrack und hob die Pistole noch höher. „Ich wollte Ihnen nur folgendes sagen: An einem, den ich soeben aus solcher Lage befreit habe, der ohne mich hätte … verbrennen müssen – denn Sie sehen ja, dort züngeln die Flammen des ausgelaufenen Benzins hoch! – an dem vergreife ich mich nicht! Aber – ich warne Sie: Ich werde Sie zu finden wissen! Gehen Sie nie mehr ohne Waffe aus! So wahr Sie ein Teufel in Menschengestalt sind: Begegne ich Ihnen, so … wird diese Pistole hier unsere Rechnung glattmachen!“

Er drehte sich kurz um. „Komm, Harry, – die Nacht ist bald vorüber, und wir müssen in Sicherheit sein, bevor es hell wird …“

Sinclair hörte den Galopp der Pferde schwächer und schwächer werden. Er raffte sich auf, begann zu laufen, langte in Schweiß gebadet in seinem Sanatorium an und stürmte in sein Zimmer an den Fernsprecher.

Alle Polizeistationen ringsum rief er an. Dann ließ er sich auch mit der Privatwohnung Edward Palmers in Perth verbinden. – Sehr bald trug der Telegraph die Steckbriefe der Entflohenen in das Land hinaus bis zur entlegensten Farm, wo das Volk der Schafhirten, Schafscherer und Goldsuchergäste mit gierigen Augen las, daß hier leicht 1000 Pfund Sterling zu verdienen wären. – – Australien ist der kleinste und auch der am spätesten der europäischen Kultur erschlossene Erdteil.

Erst im Jahre 1788 wurden von England aus 757 Sträflinge als Kolonisten dorthin geschickt und gründeten die jetzt zweitgrößte Stadt Sydney an der Ostküste. Dann folgten etwa von 1820 an freiwillige Ansiedler, die zunächst die Ost- und Südküste als die klimatisch günstigsten und fruchtbarsten Gegenden besetzten. Nord- und Westaustralien sind zuletzt von Einwanderern besucht worden, letzteres hauptsächlich seines Goldreichtums wegen.

Wenn man bedenkt, daß in noch nicht hundert Jahren in einem bis dahin völlig unerforschten Lande in breiten Küstenstrichen, stellenweise auch tief ins Innere hinein, sich sowohl moderne europäische Kultur als auch Ackerbau, Viehzucht und Bergbau in einem solchen Maße entwickelt haben, daß Australien zum Beispiel die Länder Mittel- und Südamerikas weit überflügelt hat, so muß man dies notwendig als besten Beweis für das Kolonisationstalent Englands gelten lassen, mag man sonst über Großbritannien denken wie man will.

Freilich – im Verhältnis zu dem ungeheuren Gebiet des „kleinsten“ Erdteils ist die Besiedelung eine außerordentlich schwache. Auf acht Millionen Quadratkilometer kommen insgesamt vier Millionen Einwohner, davon etwa 200 000 Eingeborene (Australneger), somit auf einen Quadratkilometer ein halber Mensch.

Viehzucht und Bergbau spielen in Australien die Hauptrolle. Besonders Schafe werden zu Millionen gehalten (letzte Zählung 71 Millionen Stück). Die Schaffarmen haben sämtlich eine Größe von mehreren Quadratmeilen. Zur Beaufsichtigung der Herden sind Unterfarmen angelegt, sogenannte Stationen, und dieser Name „Station“ wird auch jetzt auf kleinere Ansiedlungen angewandt. – Die dünne Besiedelung des Landes macht auch das Halten einer besonderen berittenen Polizeitruppe im Innern notwendig. Diese besteht zum Teil aus Eingeborenen oder Mischlingen zwischen Australnegern und Europäern. Die Australneger sind im ganzen recht intelligent; die Mischlinge sogar äußerst bildungsfähig. Trotzdem hat die Mehrzahl der Australneger sich bis heute ihre alten Sitten und Gebräuche rein erhalten und führt im Innern, nach Stämmen getrennt, ein recht bedürfnisloses Dasein. –

Diese kurzen Bemerkungen über den Erdteil, in dem unser Held Allan Wrack so mannigfache Abenteuer während seiner Laufbahn als gefürchteter Straßenräuber durchmachte, waren zum Verständnis des Folgenden nötig. – Wir fahren nun in unserer Schilderung seiner Flucht fort. –

Als der Morgen graute, befanden Allan und Harry sich bereits außerhalb der Berge auf dem Gebiete einer Farm unweit des Schwanenflusses. Nachdem sie mehrere Drahtzäune von Schafhürden durch die Gatter, die sie stets wieder verschlossen, passiert hatten, gelangten sie in einen ausgedehnten Skrub. Dies sind waldartige, oft unzählige Meilen große Bestände einer Eukalyptusart, die haufenweise bis fünf Meter hohe, dünne Schößlinge hochtreibt und einem solchen Buschwalde, zumal niedriges Unterholz selten ist, ein äußerst eintöniges Aussehen gibt. Ein solches Gehölz wirkt wie ein Wald von lauter Stangen, die in Baumstümpfe eingebohrt sind.

Die beiden Gefährten ritten auf gut Glück mitten in den Skrub hinein, – immer weiter, nur darauf bedacht, ja keinem Menschen zu begegnen, der sie hätte verraten können. Denn daß Sinclair sofort alles versuchen würde, sie wieder einzufangen, davon waren Allan und Harry überzeugt.

Sie sprachen nicht viel. Die Müdigkeit machte sich bei beiden immer mehr geltend. Nach der ersten Aufregung, nach dem Rausche endlicher Freiheit, trat nun der Rückschlag ein. Harry hing wie ein Träumender im Sattel. Und auch Allan Wrack gähnte häufig und verfiel zuweilen in eine Art Halbschlaf.

Außerdem waren sie aber auch hungrig, – so hungrig, daß Allan sich vorgenommen hatte, zunächst einen versteckten Lagerplatz zu suchen und dann irgend ein Wild zu schießen oder aber allein in der nächsten Station vorzusprechen und um etwas Genießbares zu bitten. Harry konnte er hier nicht mitnehmen. Er in Gesellschaft des Jungen wäre zu sehr aufgefallen.

Eine Bodenvertiefung, die frisches Gras für die Pferde bot, wurde dann gegen acht Uhr vormittags ihr vorläufiges Lager. Allan ließ Harry hier zurück und durchstreifte den Wald, wobei er immer nach etwa fünf Schritten mit dem langen, gleichfalls von Sinclair „entliehenen“ Jagdmesser von einem Schößling ein Stück Rinde wegschlug. Er wußte eben, daß man sich nirgends so leicht verirren kann wie in einem Skrub. Er hatte genug darüber gelesen, bevor das Schicksal ihn bei Fremantle stranden ließ – als menschliches Wrack. Zahllose Menschen sind in den Skrubs durch Verirren umgekommen. Und Vieh, das sich verläuft und in eine solche Wildnis gerät, muß dort trotz seines natürlichen Instinkts elend verdursten.

Allan traf nichts Jagdbares an. Immer weiter entfernte er sich nach Osten zu. Der Hunger wühlte in seinen Eingeweiden. Durst kam hinzu, den die Tageshitze noch steigerte. Gehört doch gerade Westaustralien zu den heißesten Gebieten des Kontinents. – Seine geistige und körperliche Spannkraft hatten jetzt notwendig einem Gefühl völliger Mattigkeit weichen müssen. Er hegte nur einen Wunsch: eine Station zu finden, wo er Hunger und Durst stillen könnte …

Plötzlich wurde der Wald lichter. Breite Grasflächen zogen sich wie Zungen in ihn hinein, waren mit hohem Stacheldraht umfriedet und dienten Pferden und Rindern zur Weide. Allan Wrack wurde lebendiger. Wo Pferdehürden, da auch dicht dabei eine Station. Das war ihm bekannt. Er schritt schneller aus. Seine Büchse, einen modernen, doppelläufigen Jagdstutzen (auch aus Sinclairs Gewehrschrank!) versteckte er jetzt in einem Gebüsch. Der Stutzen hätte ihn verraten können. Dann säbelte er mit dem Jagdmesser den Schnurrbart – eine schmerzhafte Prozedur! – bis auf kurze Stoppeln herunter, verbarg Kragen und Krawatte und knüpfte sein Taschentuch um den Hals, um nicht allzu städtisch zu wirken.

Bald stieß er auf ein Wagengleis. Es führte in ein Tal hinab, das von einem Bache durchflossen wurde und dichten tropischen Wald in kleinen Inselstücken aufwies. Gleich darauf sah er auch Rauch hinter den Bäumen aufsteigen. Noch eiliger wanderte er nun dahin. Die weißgekalkten Dächer von drei Wellblechhäusern leuchteten auf. Daneben standen noch ein paar Lehmhütten. Der leichte Wind trieb ihm einen brenzlichen Gestank zu. Vor der Station wurden Rinder gebrannt, das heißt, ihnen wurde mit glühenden Eisenstempeln das Zeichen des Farmbesitzers auf einen Hinterschenkel eingebrannt.

Nur drei Männer waren damit beschäftigt. Als Zuschauer standen mehrere Kinder und ein junges Mädchen unweit des schmalen, doppelten Plankenzaunes, in den die Tiere von einem der Leute einzeln hineingetrieben wurden, so daß sie an dem neben dem Glühofen Postierten vorüber mußten, der mit großer Gewandtheit den ahnungslosen Kühen, Stieren und Bullen blitzschnell den Stempel auf das Fell drückte, worauf die armen Kreaturen stets wie besessen mit dumpfem Aufbrüllen weiter in eine große Hürde hineinrasten.

Gerade als Allan Wrack dieses Bild voll umfassen konnte, trabte ein riesiger Bulle in den Doppelzaun hinein. Zischend brannte nun das Eisen auf seiner Haut. Ein Satz – ein helles Brüllen, – dann machte das bis zur höchsten Wut gereizte Tier kehrt, rannte gegen die Holzplanken, die unter dem Stoß seiner nach oben gekrümmten Hörner sich lösten, schoß durch diese Öffnung hindurch und erspähte als Opfer seiner Rachgier ausgerechnet das junge Mädchen, das in seinem knallroten Kattunkleide ihm nur zu sehr in die Augen stach. Den Kopf senken und auf das Mädchen losstürmen war eins …

Sie erkannte die Gefahr, die blonde Tochter des Stationsleiters Hamilton, – sie erkannte sie, kreischte auf und lief den Gebäuden zu, neben denen soeben Allan Wrack aufgetaucht war.

Kaum zehn Schritt noch, dann hatte der Bulle das Mädchen erreicht. Die Männer brüllten in ihrer Angst wie toll, rührten sich aber nicht vom Fleck. Jetzt hatte Maud Hamilton den Fremden erblickt. Daß sie die Haustür nicht mehr erreichen könnte, wußte sie. So flog sie denn auf Allan zu.

Allan Wrack hatte schon seine eine Pistole aus dem Futteral gerissen. Zwei lange Sätze … Und dicht vor dem Bullen schwenkte er nun mit der Linken den Panama, heulte dazu ein gellendes Hiiii … in höchsten Tönen.

Die Bestie stutzte nun doch einen Moment. Da – feuerte Allan auch bereits – drückte zweimal ab, schnellte sich zur Seite, – leider nicht flink genug. Das linke Horn des Bullen streifte seinen Oberschenkel, schleuderte ihn in die Luft, daß er sich überschlug …

Dies war aber auch des Bullen letzter Angriff auf einen Menschen. Während Allan nun, gestützt von Maud Hamilton, auf das verendete Tier zuhinkte, hatten die drei Männer kopfschüttelnd den Kopf des Bullen sich angesehen, da sie nicht begreifen konnten, daß dieser Riese durch eine Pistole gefällt sein sollte. Ihr Staunen wuchs, als sie feststellten, daß jede Kugel genau ein Auge getroffen hatte und weiter ins Gehirn gefahren war.

Hamilton, ein stiernackiger, rotbärtiger Irländer, wandte sich nun an Allan.

„Master – dank Euch! Ihr seid der Retter meiner Ältesten. Ihr seid aber auch ein Kunstschütze. Beim heiligen Patrick – die Schüsse macht Euch keiner nach.“

Dann musterte er Allan von oben bis unten.

„Master, Ihr seht so aus, als wäret Ihr schwer krank gewesen,“ sagte er freundlich. „Kommt – Ihr sollt’s gut haben hier auf Billerbie-Station. Bleibt bei uns, so lange Ihr wollt …“

Die beiden anderen Männer waren Mischlinge, junge, kräftige Burschen. Hamilton befahl ihnen, allein das Brennen fortzusetzen. – Dann saß Allan mit ihm und der blonden Maud in einem ganz behaglichen Zimmer, das gleichzeitig als Bureau für diese Unterfarm diente. An der Wand hing daher auch ein Fernsprecher. – Allan aß für drei und trank den leichten, einheimischen Wein in schnellen Zügen.

Hamilton war recht neugierig, woher der halb städtisch gekleidete Gast wohl sein und was er hier vorhaben könnte. Er fragte Allan auch nach Kräften aus, ohne viel Feingefühl, stellte immer neue Fragen trotz des mahnenden Winkes seiner Tochter. Allan Wrack erfand ein ganzes Märchen. Hamilton war ihm bald genau so unangenehm, wie er Maud recht gern anschaute, denn sie hatte ein liebliches, leicht gebräuntes Gesicht und schönes, goldig schimmerndes Haar.

Dann rasselte die Klingel des Fernsprechers. Hamilton erhob sich. – „Heil’ger Patrick, – schon wieder ’ne Meldung von der Hauptfarm! Die haben dort auch nichts Besseres zu tun, als … – – Jawohl, hier John Hamilton … Ach was – also zwei Verrückte … 1000 Pfund Belohnung …!! Das könnt’ ich grad brauchen! – Wie sehen die beiden denn aus?“

Allan Wrack hatte ganz plötzlich seine Pistole vorgenommen, erklärte Maud den Mechanismus der modernen, neunschüssigen Waffe …

Da: krach – ein Schuß ging los, und die Kugel schlug Hamilton den Hörer aus der Hand.

Der Irländer war bleich geworden.

„Master, – das kommt davon, wenn man son Schießeisen ungesichert läßt!“ brummte er dann. Er wäre gern grob geworden. Aber – noch überwog die Dankbarkeit gegen den Fremden seine Wut.

„Das Telephon ist hin, Master …! Verdammt!!“ schnauzte er schon weniger rücksichtsvoll, als Allan sich wortreich entschuldigt hatte. „Und – vielleicht hätte ich tausend Pfund verdienen können! Nun aber weiß ich die Personenbeschreibung der Ausreißer nicht … Zwei Verrückte sind da …“

„Beruhigen Sie sich,“ fiel Allan ihm ins Wort. „Ich kann Ihnen helfen, Master Hamilton. Ein Polizeisergeant erzählte mir morgens davon. Der eine der Flüchtlinge ist fast schon ein Greis mit grauem Bart und zwei Warzen auf der Nase, der andere ein Buckliger mit schwarzem Schnurrbart. – Die beiden sind also leicht herauszukennen …“

Hamilton ward wieder besserer Laune. Und nach einer halben Stunde verabschiedete sich Allan Wrack dann, bat noch um eine Wegzehrung und erhielt alles, was er haben wollte. Obwohl sein Fuß sehr schmerzte und er sich auf einen Stock stützen mußte, schützte er doch ein dringendes Geschäft in dem Städtchen Bannister-Low vor, das, wie er wußte, hier in der Nähe liegen mußte. Hamilton wollte ihn hinfahren. Er lehnte ab; er vertrage das Fahren nicht. – Maud drückte ihm kräftig die Hand und schaute ihn mit einem Blick an, der vieles sagte. Noch nie hatte das in der Einsamkeit groß gewordene Mädchen einen Mann kennengelernt, der so stark auf ihr unberührtes Herz wirkte, denn Allan Wrack war ja auch eine recht ungewöhnliche Erscheinung, die Eindruck machen mußte.

Allan humpelte nach Süden davon – absichtlich. Erst später im Skrub schwenkte er nach Nordwest ein und suchte den Busch auf, wo er seine Büchse verborgen hatte.

Hamilton ging zu den beiden Gehilfen vor das Haus und sprach mit ihnen über den merkwürdigen Menschen, der Bullen so sicher in die Augen schoß. Hamilton hatte gegen diesen Kunstschützen, der sich Fred Walker nannte, einen unbestimmten Verdacht gefaßt. Am meisten deshalb, weil Walker den Wagen abgelehnt und dies so schwach begründet hatte. Doch das Brennen der Tiere nahm seine Gedanken bald wieder völlig in Anspruch. So wurde es Mittag. Da, gerade als Hamilton, der Witwer war, mit seinen drei Kindern bei der Mahlzeit saß, kam Besuch. Es war Polizeisergeant Raoul Bourger von der Hauptfarm, ein glühender Verehrer Mauds. Er mußte mitessen, und während man nun ein gebratenes wildes Kaninchen verspeiste, erwähnte er auch die beiden Ausreißer, – die Verrückten.

Hamilton blieb der Mund offen stehen, als Raoul Bourger mit dröhnendem Lachen rief: „Aber Hamilton – was redet Ihr da?! Ein Greis und ein Buckliger! Ja – habt Ihr denn die telephonische Meldung von Palmerston nicht erhalten …?“

Hamilton erzählte nun überhastet von dem Fremden und dem Schuß in den Telephonhörer.

„Zufallsschuß?!“ schrie Bourger und sprang auf. „Absicht – Absicht!! – Vorwärts – ihm nach, – es war einer der Flüchtlinge …!“

Der Irländer holte schnell seine beiden Gehilfen und die drei Hunde herbei. Diese nahmen sehr bald die Fährte auf. Und im Trab folgten Bourger und die Mischlinge dem voranreitenden Hamilton, der die Schweißhunde an der Leine hatte.

 

4. Kapitel.

Doch entkommen …!

Allan Wrack kam sehr langsam vorwärts. Ohne die Wegmarken an den Eukalyptustrieben hätte er sich nie zu Harry zurückgefunden, der im tiefsten Schlaf im Grase lag.

Allan weckte ihn. „Wir müssen sofort unseren Lagerplatz wechseln,“ erklärte er nachdem er sein Abenteuer auf Billerbie-Station kurz geschildert hatte. „Ich traue dem Hamilton nicht. Ein Zufall kann ihm verraten, daß ich ihn belogen habe, was den Greis und den Buckligen angeht.“

Sie sattelten schnell die Pferde, und Allan Wrack umwickelte die Hufe noch mit Stücken einer der Decken, die sie aus dem zertrümmerten Auto mitgenommen hatten, tränkte die Trittflächen der Hufe auch mit Wein, um die Verfolgung durch die Hunde – Hamilton hatte seine drei Rüden ja als guten Fährtensucher gerühmt! – möglichst zu erschweren.

So ritten sie nun wieder nach Osten zu, noch tiefer in die Wildnis hinein. Unterwegs mußte Harry essen und trinken. Auch Allan griff noch zu. Sein linker Oberschenkel war jetzt geschwollen und machte ihm den Reitsitz zur Qual. Aber – es half nichts! Hier stand die goldene Freiheit auf dem Spiel!

Zwei Stunden ging’s ohne Aufenthalt dahin durch die öden Eukalyptusstauden, zwischen denen nur hie und da anderes Buschwerk und ein paar Fieberbäume auftauchten. Dann trafen sie auf einen flachen Bach in einer großen Lichtung, dessen Sand Goldsucher vor nicht langer Zeit ausgewaschen hatten, um nach Körnchen des Edelmetalls zu suchen. In dem Bache drangen sie noch eine halbe Stunde, jetzt nach Süden, vor und machten schließlich in einem kahlen, sandigen Tale halt.

Allan konnte kaum vom Pferde. Harry holte aus dem Bache Wasser und kühlte den Schenkel, der ganz blauschwarz war. Wieder verstrich eine Stunde. Allan Wrack war eingeschlafen. Harry aber lag oben auf dem Rande der nördlichen Anhöhe und beobachtete die Umgebung. Allan hatte ihm eingeschärft, ja recht sorgfältig auf jedes verdächtige Anzeichen achtzugeben, und ihn nötigenfalls sofort zu wecken, hatte noch hinzugefügt, daß plötzlich auffliegende Vögel zumeist rechtzeitige Warner sind.

Harry konnte nicht wissen, daß Raoul Bourger einer der gerissensten Polizisten des Schwanenfluß-Distrikts war. Bourger hatte die Spur der Flüchtlinge selbst dann weiter verfolgt, als die Hunde versagten, erspähte schließlich den Hut des Knaben mit dem Fernglase oben auf dem Hügel, machte mit seinen Begleitern einen großen Bogen und gelangte so von Süden her in das Tal.

Allan Wrack erwachte erst, als die beiden Mischlinge ihn bereits an Händen und Füßen gepackt hatten.

Aber – er hütete sich, die Augen zu öffnen. Er hatte nicht umsonst drüben in der alten Heimat als ein schlauer Kopf gegolten.

Bourger stand mit gespanntem Revolver vor dem Flüchtling und brüllte nun: „Keinen Widerstand, Allan Wrack! Wir wissen, daß Ihr, wenn Ihr auch geisteskrank seid, so doch Eure lichten Momente habt und dann sehr gefährlich werdet – sehr! Ihr habt den Wärter Wilkins mit der Wasserkaraffe erschlagen, habt Doktor Sinclairs Auto zum Teufel geschickt, indem Ihr auf den Schofför schoßt. – Na – Raoul Bourger versteht sein Metier! Mir werdet Ihr nichts anhaben …“ – Er machte eine kurze Pause. „Verdammt – – der Kerl ist ohnmächtig. Ah – sein Bein ist ein Klumpen …! Kein Wunder also. – Los, setzt ihn auf seinen Gaul, reitet nebenher und haltet ihn fest.“

Auch Harry war von Hamilton völlig überrumpelt worden. Mit ihm machte man weiter keine Umstände. Er war schlau genug, Allans Beispiel nachzuahmen und wenn nicht den Bewußtlosen, so doch den harmlosen Geistesgestörten zu spielen, indem er sich bei Hamilton bedankte, daß er ihn aus der Gewalt des Räubers – und er zeigte auf Allan Wrack dabei – befreit hätte.

Deshalb nahm man ihm auch nur die Waffen ab und ließ ihn ungehindert hinterdrein reiten.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Allans Ohnmacht hielt an. Er stöhnte außerdem so jämmerlich, daß Bourger nach einer halben Stunde haltmachte und den Mischlingen befahl, eine Tragbahre aus Baumästen und Decken herzustellen, damit man den Kranken auf diese Weise nach Billerbie-Station bringen könnte, denn das war die nächste Ansiedlung.

Während die beiden Mischlinge auf einen fernen Fieberbaum kletterten und dort Äste abhieben, saßen Hamilton und Bourger neben dem scheinbar im Fieber allerlei Sätze und Worte murmelnden Kranken. Hamilton meinte, die 1000 Pfund hätten Bourger und er leicht verdient, und er grinste vergnügt dabei. Der Polizeisergeant nickte ebenso vergnügt.

Allan schlug zuweilen auch wild mit den Armen um sich, hielt aber die Augen fest geschlossen. Er spielte seine Rolle glänzend.

Raoul Bourger hatte Allans Pistole an seinen Ledergurt gehängt. Als er nun zu Hamilton gerade sagte: „Den Halbbluts geben wir je zehn Pfund ab,“ erhielt er plötzlich von dem „Kranken“ einen solchen Boxhieb unter die Herzstelle, daß er umsank und wie ein Fisch kraftlos nach Luft schnappte. Hamilton ging’s nicht anders. Ehe er noch recht begriffen hatte, was geschah, lag er neben dem Polizeisergeanten auf der Erde.

Im Nu hatten Allan und Harry den beiden Waffen und Munition wieder abgenommen, und gleich darauf trabten sie davon, die vier Pferde der Überlisteten und auch die Hunde als Beute mit sich führend.

Hamilton und Bourger fluchten, wetterten und machten sich gegenseitig Vorwürfe, diesen dreimal verdammten Halunken die Krankheit geglaubt zu haben. Schließlich gerieten sie so aneinander, daß sie als grimme Feinde sich sofort trennten.

Der Sergeant hatte einen meilenweiten Weg vor sich. Und – ans Gehen war er nicht gewöhnt. Enttäuscht, wütend und sich selbst immer wieder einen ausgewachsenen Esel titulierend, wanderte er durch die eintönige Wildnis dahin. Eine halbe Stunde war verflossen. Die Abenddämmerung kam. Plötzlich – und Bourger erbleichte! – trat hinter einem dicken Fieberbaum mit erhobener Pistole ein Mann auf ihn zu, rief:

„Hände hoch!“

Oh – Bourger kannte diesen Befehl zur Genüge. Alle Buschklepper Australiens gebrauchten ihn. Und in den Minendistrikten Westaustraliens gab’s übergenug von dieser Sorte Menschen, denen ein Menschenleben keinen Penny galt. Hier rief nun noch Allan Wrack ihm dieses vermaledeite „Hände hoch!“ zu, also ein Mann, der Bullen wie ein harmloses Baumkänguruh niederknallte.

Des Sergeanten Arme fuhren empor. Und Allan sagte freundlich: „Sie haben nichts zu fürchten, verehrtester Vertreter der Polizeigewalt – gar nichts! Sie haben ja nur Ihre Pflicht getan. Und – Sie haben mir imponiert, weil Sie so gut auf unserer Fährte zu bleiben verstanden. Wenn Sie mir versprechen, von hier nach Palmerston-Station zurückzukehren und uns vor morgen mittag nicht zu verfolgen, so sollen Sie Ihr Pferd sofort wiederhaben. Sie besitzen ein mitfühlendes Herz. Sonst hätten Sie nicht an die Tragbahre gedacht. Das muß belohnt werden.“

Bourger war sprachlos. Aber Allan Wrack meinte alles das völlig ernst. So kam’s, daß der Sergeant sein Pferd zurückerhielt. Bevor er weiterritt – er hatte sich sehr warm bei Allan bedankt – sagte dieser noch:

„Wir, der Harry dort und ich, sind genau so bei richtigem Verstande wie Sie. Doktor Sinclair ist ein Schuft, und ich gebe Ihnen den Rat, sich einmal des Wärters Wilkins Leiche anzusehen. Ich behaupte, Sinclair hat den Mann, der nur bewußtlos war, absichtlich getötet, vielleicht durch Gift, um mich als Mörder hinzustellen.“

Als der Sergeant nun allein davontrabte, schüttelte er des öfteren nachdenklich den Kopf, da er überlegte, ob er es soeben wirklich mit einem Irren zu tun gehabt hätte. Er gelangte schließlich doch zu der Überzeugung, Allan Wrack müsse geisteskrank sein, denn dieser Verdacht gegen den im ganzen Distrikt hochgeachteten Arzt war doch zu lächerlich … –

Hamilton und die beiden Halbbluts hatten eine andere Richtung einschlagen müssen und wanderten gleichfalls mißmutig und stumm dahin. Daß Allan Wrack und Harry ihnen mit Hilfe der Hunde folgen und eine Falle stellen könnten, daran dachte keiner von ihnen.

Sie waren daher genau so entsetzt wie der Sergeant, als ihnen in einer Mulde, wo es nur einzelne Büsche gab, hinter einem Gesträuch hervor derselbe Befehl „Hände hoch!“ entgegenschallte. Aber – auch sie gehorchten.

Allan hielt seine Pistole unerwartet auf sie gerichtet, bis Harry ihnen alle Waffen abgenommen hatte. Dann mußten sie es sich gefallen lassen, daß sie, an den Händen gefesselt, in dem nahen Wald gemeinsam an einen Baum gebunden wurden. Bis dahin hatte Allan nichts weiter gesprochen.

Jetzt trat er vor den Irländer hin und sagte: „John Hamilton, Sie sind ein elender Wicht. Ich habe Ihre Tochter gerettet. – Ihr Dank aber war der eines habgierigen Schurken. Und die beiden Mischlinge taten’s Ihnen gleich. – Ich lasse Sie drei hier zurück. Vielleicht haben Sie Glück und werden gefunden, bevor Sie verhungert sind.“

Er stieg in den Sattel seines Falben. Verächtlich musterte er nochmals durch das eingeklemmte Monokel die drei Männer, besonders Hamilton, meinte dann:

„Undankbarkeit ist schlimmer als ein Totschlag in meinen Augen! – Langweilen Sie sich nicht zu sehr hier mitten im Skrub …“

Darauf ritten die beiden Sieger mit den drei Beutepferden und den Hunden davon. – –

Maud Hamilton hatte heimlich bittere Tränen geweint, als die vier Männer zur Verfolgung der Flüchtlinge aufgebrochen waren. Nun war es Nacht geworden. Noch immer waren die vier nicht zurück. Sie begann zu hoffen, daß jene entkommen würden, der Knabe und der blonde seltsame Mann, der in ihrem Herzen ein stilles Sehnen zurückgelassen hatte.

Zehn Uhr war’s. Ihre Geschwister waren bereits zu Bett gegangen. Sie selbst aber saß noch vor dem Hause und … dachte an diesen Allan Wrack, der ein Wahnsinniger und ein Mörder sein sollte.

Plötzlich tauchte vor ihr eine Gestalt auf …: Allan Wrack in Person, – streckte ihr zwanglos die Hand hin und bat, neben ihr auf der Bank Platz nehmen zu dürfen.

Sie war erst so verwirrt und befangen, daß sie kein Wort hervorbringen konnte. Allan erzählte ihr alles, was geschehen, auch daß ihr Vater und die Halbbluts gefesselt im Walde ständen.

„Strafe muß sein, Maud,“ meinte er nun. „Morgen früh können Sie durch die Hunde, die ich dort vorn angebunden habe, unschwer die drei finden und befreien …“

Sie taute nun immer mehr auf, brachte ihm dann eine Menge Proviant heraus, auch anderes, was er in der Wildnis brauchen würde, und war überglücklich, ihm dienen zu können. Sie wußte jetzt ja: er war kein Geisteskranker; er war nur das Opfer eines Schurkenstreichs. Sie glaubte ihm jedes Wort, denn – ein Mensch von solchem Charakter log nicht!

Nach einer Stunde brach er auf. „Mein kleiner Gefährte wartet drüben … Leben Sie wohl, Maud! Vielleicht auf Wiedersehen.“

Er drückte ihr fest die kleine braune Hand. Da – fühlte er ihre Arme seinen Hals umschlingen, ihre Lippen auf den seinen … – Dann lief sie ins Haus hinein. Allan Wrack aber rief ihr noch durch das Fenster zu: „Sollte Edward Palmer einmal seine Farm Palmerston besuchen wollen und sollten Sie vorher davon hören, Maud, so hängen Sie bitte an demselben Baum, an dem ich die Hunde festgebunden habe, einen Streifen weißes Zeug unauffällig auf und schreiben Sie darauf nur den Tag, wann Palmer in der Farm eintreffen will …“

Ein tränenersticktes „Ja – ich tu’s ja so gern!“ war die Antwort von drinnen …

 

5. Kapitel.

Das Strafgericht.

Eine Woche später standen Allan Wracks Streiche haarklein in der Perther „Morning Post“. Nur … von Mauds heimlicher Liebe zu dem entflohenen Irren war nichts erwähnt. Im übrigen aber hatten die Mischlinge und auch Bourger alles ausgeplaudert, und ein Reporter, dem die Sache zu Ohren kam, einen Artikel daraus gemacht, zu dem Doktor Sinclair noch streng wissenschaftliche Zusätze geliefert hatte, des Inhalts, daß gerade diese scheinbar hochentwickelte Intelligenz bei Geisteskranken ein sicheres Krankheitsmerkmal sei … und so weiter.

Evelyn Palmer las nicht nur diesen, sondern zwei Wochen darauf abermals einen Artikel über den rätselhaften Allan Wrack, der …

… „jetzt auf dem besten Wege zu sein scheint, sich zum populären Buschklepper zu entwickeln. Vor fünf Tagen hat er die Postkutsche nach Gallary angehalten und den hier in Perth ansässigen Lageraufseher der Firma Edward Palmer namens Bargell, der wegen fahrlässiger Tötung seiner armen, von ihm schon oft schwer mißhandelten Frau steckbrieflich verfolgt wurde und verkleidet zu entkommen suchte, mit sich genommen und an die nächste Polizeistation abgeliefert, ohne daß man dort ahnte, wer der Reiter war, der Bargell angeschleppt brachte.

Vor acht Tagen wieder hat dieser merkwürdige Mann, der bei seinen Überfällen auf Postkutschen – bisher hat er es auf acht derartige Unternehmungen gebracht – stets nur Leute ausgeplündert, die einen Aderlaß vertragen können, die Salykocks-Kutsche dicht vor dem Städtchen zum Halten gezwungen und dabei einem Reisenden, der dumm genug war, sich zur Wehr zu setzen, den Revolver aus der Hand, aber auch einen Finger mit abgeschossen, hat dann … und so weiter …“

Evelyn las all das mit blitzenden Augen. Sie hatte ihren Schützling nie vergessen, hätte ihm auch gern geholfen, als er in Sinclairs Sanatorium sich befand, wußte nur nicht, wie sie es anstellen sollte. Daß er geisteskrank sei, daran glaubte sie nicht, hatte es auch stets nie trotz aller Reden ihres Vaters und Sinclairs geglaubt. Gewiß – er mochte damals krankhaft nervös gewesen sein, – mehr sicherlich nicht! – Sie hatte sehr oft an ihn denken müssen, und als nun eines Tages, es war etwa einen Monat nach Allan Wracks Flucht aus dem Sanatorium – Edward Palmer mit den Seinen für einige Tage aufs Land, nach seiner Farm Palmerston gehen wollte, die sehr schön an einem kleinen See gelegen war, sagte sie halb scherzend zu ihrem Vater: „Hoffentlich überfällt uns Allan Wrack nicht unterwegs!“

Seltsamerweise wurde Palmer plötzlich blaß und rief dann unwirsch: „Laß mich mit dem Menschen in Ruhe …!!“ – –

Immer, wenn Palmer nach der Farm kam, gab es vorher große Aufregung. Er war von rücksichtsloser Strenge gegen seine Angestellten. Nichts entging seinen scharfen Blicken. So wurde seinem Erscheinen auf den zur Farm gehörigen Stationen stets mit einem Gefühl der Angst und verbissenen Ärgers entgegengesehen.

Maud war schmal und blaß geworden. Ihr junges Herz verzehrte sich in heimlicher Sehnsucht nach Allan Wrack. Und auch ihre Augen leuchteten auf, als sie von seinen Taten erfuhr, als der Vater einmal anerkennend bemerkte: „Das ist ein Kerl, der Allan Wrack, – der wiegt gut ein Dutzend andere auf …!“ –

Sie hatte denn auch bereits vier Tage vor Palmers Ankunft auf der Hauptfarm den Zeugstreifen an dem Baume befestigt, obwohl sie sich sagte, daß Allan kaum rechtzeitig diese Benachrichtigung finden würde, da er jetzt stets weit östlich nach den Minendistrikten zu aufgetaucht war.

Aber – am dritten Morgen war der Zeugstreifen verschwunden. Dafür hatte sie ein Blatt Papier an derselben Stelle in die Baumrinde eingeklemmt gefunden, auf dem nichts als eine flüchtige, aber sehr gut gelungene Bleistiftskizze zu sehen war: ein Mädchen, das einen Mann küßt. – Die Ähnlichkeit des Bildchens mit den beiden Personen, auf die es abzielte, war sofort ins Auge fallend. Maud verwahrte das Blatt Papier wie einen Schatz. Aber – ihr Sehnen war noch stärker geworden, und nachts weinte sie die Kissen naß in banger Sorge um die Sicherheit des rätselhaften Menschen, der gekommen und gegangen und doch stets um sie war. – –

Edward Palmer hatte von der Hauptstraße nach dem Städtchen Beverly aus einen festen Weg nach seiner Lieblingsfarm anlegen lassen.

An einem heißen Tage verließ das Palmersche Auto sehr früh die Stadt Perth, fuhr zunächst nach dem Sanatorium Sinclairs und holte den Doktor ab, der gleichfalls zwei Wochen ausspannen wollte. Mittags rollte der Kraftwagen mit seinen fünf Insassen, drei Palmers, Sinclair und dem Schofför, auf dem stellenweise durch lange Skrubstrecken führenden Privatwege nach der Farm dahin. Kurz hinter einer Biegung mitten in einem meilenweiten Skrub bemerkte der Schofför auf der Straße einen menschlichen Körper, mäßigte die Geschwindigkeit und hielt nun auf Palmers Befehl dicht vor dem regungslos und mit dem Gesicht nach unten liegenden Manne, vor dessen Kopf eine große Blutlache den Boden bedeckte. Der Mann trug einen grüngrauen Anzug von jenem Stoff, den man englisch Leder nennt, ferner Überschnallgamaschen und um den Hals einen farbigen Gummikragen. Sein Panama lag neben ihm.

Ahnungslos verließen Palmer und der Doktor den Kraftwagen. Sinclair beugte sich über den Fremden, dessen Gesicht in einem Büschel Salzgras ruhte.

Da – sprang der Mann blitzschnell auf die Füße. Ebenso schnell hatte er in jeder Hand eine Pistole.

„Hände hoch, wer nicht eine Kugel wünscht!“ rief Allan Wrack drohend. „Auch die Damen …!! – Aussteigen alles! Nebeneinander treten! – So, danke! – – Harry, hierher! Das Kaninchenblut hat seine Schuldigkeit getan.“

Der Knabe sprang über den Straßengraben und richtete seine Pistole gleichfalls auf die fünf Menschen, die blaß und verstört mit hochgereckten Armen dastanden.

Allan Wrack durchsuchte die drei Männer nach Waffen, fand bei jedem zwei geladene Revolver, lachte kurz auf und meinte: „In der Tasche nützten solche Dinger nichts, meine Herren! – Sie hofften wohl, daß ich ein so schnelles Auto nicht zum Stehen bringen könnte … Sie haben sich getäuscht!“ – Dann zu dem Jungen, der gleichfalls in englisch Leder gekleidet war: „Harry, die Hände auf den Rücken binden!“ – Es geschah.

Palmer und Sinclair rollten die kalten Schweißperlen über das Gesicht. Bisher hatte keiner der Überfallenen auch nur eine Silbe zu äußern gewagt. Jetzt begann Frau Palmer kläglich zu wimmern: „Ich kann die Arme nicht mehr hochhalten, Master Wrack … Gestatten Sie doch …“

„Oh – die Damen dürfen die Arme nun sinken lassen,“ meinte er höflich. „Das Vorspiel ist ja erledigt.“ Dann richtete er das Wort an Evelyn: „Miß Palmer, es tut mir leid, Sie so erschreckt zu haben. Ich schulde Ihnen großen Dank. Sie haben es stets gut mit mir gemeint. Aber – diese kleine Aufregung hier konnte ich Ihnen nicht ersparen. Die Zeit ist da, wo ich mit zwei Schurken abrechnen will.“

Er hob seinen Hut auf. „Vorwärts, Harry, – geh’ voran! – Und Sie fünf folgen im Gänsemarsch. Erst die Damen, dann der Schofför, Palmer und Sinclair. Wer zu fliehen versucht, wird niedergeknallt!“

Der Zug wandte sich mitten in den öden Skrub hinein. Zwei Stunden wurde marschiert. Dann wurde das Gelände hügelig. Einzelne Felsen tauchten auf. Der Skrub ging in eine kahle Kette wild zerklüfteter Steinmassen über. Abermals war eine halbe Stunde verstrichen. Dann bog der Knabe in eine Schlucht ein, in der eine Quelle rauschend über das Gestein sprudelte und wieder im Boden verschwand, wie so viele Wasserläufe Australiens.

Hier stand an der einen Steilwand die verlassene Hütte eines Goldgräbers. Daneben weideten Allans und Harrys Pferde auf einem kleinen Rasenfleck.

Allan Wrack hieß die erschöpften Gefangenen sich auf ein paar Steine im Schatten der Hütte niedersetzen, reichte ihnen kühles Quellwasser und gab den beiden Frauen zusammengelegte Decken als Sitzkissen. Er benahm sich wie einer, der ihm fernstehende Gäste zu bedienen hat.

„Wir müssen die Gerichtssitzung noch hinausschieben, bis Polizeisergeant[1] Raoul Bourger und dessen Freund, der Perther Geheimpolizist Bißford, hier eingetroffen sind. Bourger ist mir ein wenig verpflichtet und hat mir versprochen, mich bis zum nächsten Mittag unbelästigt zu lassen. Bißford brauche ich hier als Zeugen, ebenso den Lageraufseher Bargell, den ich letztens der Polizei auslieferte. – Sie sollen nur den Zuhörer spielen,“ wandte er sich an den Schofför. „Ebenso wie die Damen. Wenn Sie mir feierlich versprechen, nicht zu fliehen und auch sonst keine Dummheiten zu machen, löse ich Ihre Fesseln.“

Der Schofför gab sofort das verlangte Versprechen ab. Er war ein älterer Mann, der in Palmers Diensten grau geworden, trotzdem aber seinen Herrn nicht liebte.

Palmer und Sinclair saßen da und stierten zu Boden. Frau Palmer rang zuweilen verzweifelt die Hände und betrachtete ihren Gatten mit unsicheren Blicken. Evelyn wieder beobachtete den ab und zu gehenden Allan, der für sie immer mehr zur interessanten Romanfigur wurde. Der Schofför Jobbin hatte sich abseits im Schatten der Steinwand des Tales in die hohen Büsche gelegt und war eingeschlafen. Harry Fleat aber hielt am Ausgang der Schlucht Wache.

Allan Wrack sorgte für das Mittagessen. Viel konnte er ja den Gefangenen nicht bieten. Geschirr und Bestecke fehlten. Aber dafür sollten die Damen Kakao, Keks und Süßigkeiten sowie frische Früchte und die Männer geröstete Hammelrippen und mehlige Nardunüsse erhalten, soviel sie mochten.

Die Tür der Hütte lag nach der anderen Seite hin, das heißt, die Gefangenen saßen an der Rückwand. Der Geruch des gerösteten Fleisches zog appetitlich bis zu ihnen hin. Allan reinigte gerade in der Quelle drei Aluminiumbecher, als Sinclair den Kopf hob, sich vorsichtig umschaute und hastig dann Evelyn zuraunte: „Ihnen hat er den kleinen Taschenrevolver nicht abgenommen … Her damit! Wenn der arme Mensch wieder einen seiner Anfälle bekommt, wird er uns alle hinmorden. Ich werde ihn nötigenfalls durch einen Schuß unschädlich machen. Es muß sein!“

Palmers Gesicht klärte sich auf. Und seine Frau flüsterte:

„So gib doch dem Doktor den Revolver, Evelyn!“

„Nein! Ich tue es nicht!“ Evelyn schaute Sinclair fest an. „Es ist eine Lüge. Allan Wrack ist geistig völlig gesund.“

„Du wirst!“ drohte Palmer wutzitternd, und die Worte geiferten ihm über die vor Aufregung bebenden Lippen. „Gehorche – oder du bist … mein Kind nicht mehr! Willst du uns alle etwa verderben helfen?! Du hast doch gehört, welchen Unsinn er schwatzte: von Gerichtssitzung, Sergeant Bourger und Bißford und Bargell. Alles Ausgeburten seines kranken Hirns, diese Dinge! – Schnell, Evelyn, oder …“

Evelyn wurde unsicher. Zögernd nur langte sie in die Tasche. Sinclair war es gelungen, seine Fesseln ganz unauffällig an einer Steinkante durchzureiben.

Allan Wrack kniete noch neben der Quelle, als der Doktor auf allen Vieren im Bogen hinter ihn kroch. Jetzt noch acht Schritt … Aber für ein solches Spielzeug von Revolver war diese Entfernung noch zu weit. Sinclair wagte sich also näher heran. Ein paar großblättrige Disteln boten gute Deckung.

Allan spülte den letzten Becher aus, richtete sich auf und wollte nach der Hütte zurück. Da – hinter ihm Sinclairs quäkende, leise Stimme: „Keine Bewegung, Allan Wrack, oder ich schieße! Stehen Sie ganz still, legen Sie die Hände auf den Rücken … Ich spaße nicht …!! Evelyns Revolver ist jetzt meine Waffe …! Los – gehorchen Sie!“

Allan war nur unmerklich zusammengezuckt. Jetzt erwiderte er: „Ich warne Sie, Doktor Sinclair! Sie werden sehr bald sehen, daß …“ Er schwieg plötzlich. Der breite Abfluß der Quelle spiegelte ihm wider, was hinter ihm vorging. Edward Palmer war neben dem schußbereit dastehenden Doktor aufgetaucht, ebenfalls ohne Fesseln. Sinclair hatte ihn vorhin davon befreit.

Jetzt sprach Allan weiter: „… bald sehen, daß Ihr Spiel verloren ist trotz Evelyns Revolver. Dort links auf der Steilwand der Schlucht liegt Sergeant Bourger mit dem Gewehr im Anschlag und wird …“

Die List gelang. Ein paar Sekunden eilten des Doktors Augen argwöhnisch zum Schluchtrande empor. Das genügte einem Mann wie Allan Wrack. Er hatte die Kopfbewegung Sinclairs im Spiegel der Quelle genau verfolgt, tat jetzt einen Satz nach rückwärts, drehte sich im Sprunge in der Luft um, bekam Palmer als den ihm am günstigsten Stehenden zu packen und hielt ihn als Schild vor sich hin.

Sinclair war im ersten Schreck zurückgeprallt. Jetzt … drückte er mit voller Absicht ab … Einmal – nochmals …

Palmer brüllte auf: „Schuft – ah, – so willst Du mich beseitigen, Du …“ Ein Blutstrom drang ihm aus dem Munde.

Sinclair hätte vielleicht nochmals gefeuert. Aber Evelyn hatte sich in ihrer Sorge um Allan Wrack heimlich genähert und stellte sich plötzlich vor den Vater … Fast im selben Moment knallte auch schon ein Büchsenschuß. Die Kugel riß dem Doktor die kleine Waffe aus der Hand. Harry war der Schütze.

Allan hatte den Schwerverletzten auf den Boden gleiten lassen und den kleinen Sinclair beim Genick genommen. Der kreischte nun in furchtbarster Angst genau wie damals unter dem Auto … – –

Eine Stunde später. Sergeant Bourger und Detektiv Bißford waren inzwischen mit ihrem Gefangenen Bargell eingetroffen. Vor der Hütte lag der sterbende Palmer auf ein paar Decken. Neben ihm saßen seine Frau und Evelyn. Der Doktor war an den Türpfosten gebunden. Die anderen Teilnehmer dieser seltsamen Gerichtssitzung hatten sich dicht daneben auf Steine gesetzt.

Allan Wrack begann nun, oft unterbrochen durch das wimmernde Weinen der Frauen: „Edward Palmer, Sie hat das Schicksal bereits gestraft. Ihr eigener Genosse hat Sie in der Hoffnung niedergeknallt, auch mich gleichzeitig beseitigen zu können. Zu meinem Glück hatten die Kugeln nicht genug Durchschlagskraft. – Palmer, geben Sie zu, sowohl jene Versicherungen durch heimliche Versenkung der Schiffe betrogen als auch mich im Einverständnis mit Doktor Sinclair, um mich stumm zu machen, in dem Sanatorium eingesperrt zu haben? – Dort steht Bargell, der Mitwisser Ihrer Betrügereien, Ihr Helfershelfer! Er hat bereits gestanden.“

Palmer nickte schwach. Und röchelnd stieß er hervor: „Ich gebe alles zu … Sinclair … mich … auf … Gedanken … mit den Schiffen gebracht … Er … mein böser … Geist …“

Frau Palmer schrie auf: „Du – Du – – ein … ein …“ Sie schlug die Hände vors Gesicht; ihr Körper bebte vor Schluchzen.

Allan Wrack wandte sich an Sinclair …

„Nun zu Ihnen. – Außer den Schandtaten, die Palmer bereits eingestanden, beschuldige ich Sie noch folgender Verbrechen. – Erstens: Sie haben Harry Fleats Eltern, die sehr reich waren, durch Gift vor drei Jahren beseitigt, – Sie als scheinbar bester Freund der Familie. Dann haben Sie das einzige Kind, diesen Knaben, als dessen Vormund zu sich genommen und nach kurzer Zeit für unheilbar wahnsinnig erklärt. Sie wollten ihn langsam zu Tode … heilen, Sie Ungeheuer, genau wie mich! – Ferner haben Sie dem bewußtlosen Wärter Wilkins eine Blausäure-Einspritzung gemacht, damit er stürbe und Sie mich als höchst gefährlichen Geisteskranken hinstellen könnten. – Die Leichen des Ehepaares Fleat, auf deren Vermögen Sie es abgesehen hatten, sind auf meine Veranlassung in aller Stille ausgegraben und untersucht worden, ebenso die Wilkins’. Bißford, der Detektiv, sollte sie morgen verhaften. Mein guter Bekannter Bourger aber gönnte mir den Triumph, Sie hier zu entlarven, – inmitten der Skrubs, die jetzt meine Heimat geworden. – Gestehen Sie alles ein, Doktor Sinclair?“

„Nichts – nichts!“ heulte dieser auf. „Sie sind ein Wahnsinniger! Sie selbst werden das Gift in die armen Toten irgendwie hineingebracht …“

„Genug!“ donnerte Allan Wrack ihn an. „Genug, jämmerliche Kreatur!! Du wirst diese Schlucht lebend nicht verlassen! Ich werde Dein Richter sein – zugleich auch für Harry Fleat. – Bindet ihn los, gebt ihm Miß Evelyns Revolver, der noch vier Schuß enthält. Er soll bewaffnet sein, – ich ohne jede Waffe! So werden wir unsere Sache austragen … – Vorher aber noch einiges über mich, den man jetzt den geheimnisvollen, ritterlichen Buschklepper nennt. Ich bin Deutscher, einziges Kind eines einst vermögenden Kaufmanns, den dann gute Freunde an den Bettelstab brachten. So konnte ich meine Schulbildung nicht ausnutzen. Ich wurde, stets schon körperlich gewandt, … Zirkuskünstler, wurde vielleicht der vielseitigste, den es je gegeben: Jockey, Kunstschütze, Akrobat und noch manches andere. Ich verdiente Unsummen. Aber – ich war ein leidenschaftlicher Spieler. So geriet ich in Schulden. Eines Tages packte mich die Sehnsucht nach fernen Ländern. Gleichzeitig auch kam mir der Gedanke, hier in Australien mein Glück als Goldgräber zu versuchen. Auf einer nach Perth bestimmten deutschen Brigg schiffte ich mich ein. Die Brigg scheiterte nördlich von Perth. Ich allein konnte mich in der Jolle retten, trieb dann wohl sehr lange auf dem Meere, wurde schließlich bei Fremantle gefunden. Als ich das Bewußtsein wiedererlangte, hatte ich infolge der auf See ausgestandenen Leiden zeitweise das Gedächtnis an meine Vergangenheit völlig verloren. Ich wollte dies nicht eingestehen, da ich sonst kaum eine Anstellung gefunden hätte. – Mein wahrer Name soll jetzt für alle Zeit ausgelöscht sein. Ich bin hier Allan Wrack, der Buschklepper, geworden und will es auch bleiben. Meinem abenteuerlichen, unstäten Sinn behagt dieses Leben, das mir vielleicht noch öfters Gelegenheit bietet, solche Ungeheuer wie Sinclair zu strafen. – – So – und nun, Doktor Sinclair, folgen Sie mir dort auf jene freie Stelle der Schlucht. Der Zweikampf, das Gottesurteil beginnt! Nochmals: Sie mit dem Revolver, – – ich ohne Schußwaffe, aber mit der Berechtigung, mir eine natürliche Waffe zu suchen, wo ich sie finde …“

Sinclairs Gesicht strahlte Hohn und Wut. Er wußte, daß er ein leidlicher Schütze war … Dieser Allan Wrack sollte nicht Zeit haben, nach einer natürlichen Waffe zu suchen …

Harry und die Männer folgten den beiden. Und Harry war’s, der Sinclair dann den Revolver aushändigte.

Auf dreißig Schritt Entfernung standen die Gegner sich gegenüber. Raoul Bourger zählte laut bis drei.

Sofort rannte Sinclair in langen Sprüngen auf Allan zu, um ihn aus nächster Nähe niederzuschießen.

Aber – ebenso blitzschnell hatte Allan sich gebückt und einen Stein aufgerafft, ein Felsstück von Kinderkopfgröße …

Er schwang ihn hoch in der Rechten, warf, traf auch, traf Sinclair vor die Brust, so daß der Doktor zur Seite taumelte, über einen Baumast stolperte und nach hintenüber stürzte.

Ein Gottesurteil: Durch den Sturz berührte der Zeigefinger den Abzug des Revolvers, während der gekrümmte Arm die Richtung auf die Brust hatte …

Ein heller Knall … Die Kugel durchschlug das Herz … – –

Auch Palmer verschied bald. Kurz vor Sonnenuntergang verließ ein stiller Zug die Schlucht. Die beiden Leichen wurden auf schnell hergestellten Tragbahren mitgenommen.

Raoul Bourger reichte erst Harry und dann Allan die Hand zum Abschied. – „Master Wrack,“ sagte er eindringlich zu diesem, „geben Sie dieses Dasein als Buschklepper auf. Gerade Sie werden doch …“ –

Allan winkte ab. „Still, bester Bourger! Was verstehen Sie von der Romantik dieses Lebens – nichts!! – Auf Wiedersehen – als Gegner natürlich!“ Er lächelte dabei liebenswürdig. Und sein Monokel schillerte rötlich im Lichte der sinkenden Sonne.

Evelyn war absichtlich zurückgeblieben. Allein standen sie sich nun vor der Hütte gegenüber, Hand in Hand.

„Allan,“ begann Evelyn leise und wurde sehr rot, „Allan – ich … ich liebe Sie! Ich will gern Ihre Frau werden. Wir können irgendwo von dem Vermögen meines …“

Doch der schüttelte den Kopf. Und sie schwieg verwirrt. Tränen rannen ihr über die Wangen.

„Leben Sie wohl, Evelyn,“ sagte er herzlich, küßte sie auf die Stirn und ging schnell in die Hütte hinein.

* * *

Alle australischen Zeitungen brachten spaltenlange Berichte über die Vorgänge in der Schlucht, über den Tod der beiden verbrecherischen Genossen und das Gottesurteil, und trugen so den Ruhm Allan Wracks, des ritterlichen Buschkleppers, bis in die fernsten Stationen des Kontinents.

 

Verantwortl. Redakteur: M. Lehmann, Berlin SO 26. – Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26.

 

 

Anmerkung des Verlages:

  1. ↑* Dies ist der zu Perth gehörige Seehafen, 18 Kilometer unterhalb an der Mündung des Schwanenflusses liegend.

 

 

Anmerkung:

  1. „Polizeisergeant“ / „Polizei-Sergeant“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Einheitlich auf „Polizeisergeant“ geändert.