Harald Harst
Aus meinem Leben
Band: 209
Erzählt von
Max Schraut
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1927 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 16.
Der Berliner Vorortzug lief in die Station Birkenwalde ein. Es war neun Uhr abends und dazu ein Hundewetter, leichtes Schneetreiben, eisiger Wind … Nur ein paar Fahrgäste stiegen aus, zumeist mit Aktentaschen oder Paketen, – Birkenwalder, denn ein Fremder würde sich um diese Zeit und bei solchem Wetter kaum nach dem stillen, behaglichen Nest verirren.
Als letzte passierten zwei ältere Männer in bescheidenen Wintermänteln, die abgegriffenen Mützen tief in die bärtigen Gesichter gezogen, mit ihren prallen Rucksäcken die Sperre.
Der Beamte, der die Fahrkarten abnahm und doch jeden Birkenwalder kannte, blickte den beiden etwas erstaunt nach. Sie waren ihm fremd, und der Schnapsgeruch, der hinter ihnen herwehte, entlockte ihm die geringschätzige Bemerkung: „Stromer!!“
Damit besah er sich die Fahrkarten, die der kleinere der beiden abgegeben hatte: Zweiter Klasse!
Er rief daher den verdächtig duftenden Kerlen nach, deren abgerissene schäbige Mäntel, ausgefransten Hosen und schmierigen Stiefel, in all ihrer Erbärmlichkeit voll zur Wirkung gekommen waren …:
„He – – Sie da!! Dies hier ist erst Birkenwalde!“
Der Lange, Dürre drehte sich um …
„Jeht dir ’n Dreck an!!“
Und dann schritten sie weiter …
Diese grobe Antwort ärgerte den Beamten. Die beiden Kerle hatten in ihm irgendein unbestimmtes Mißtrauen erregt. Aber – Dienst ist Dienst, – er konnte hier nicht weg … So ließ er die Stromer denn laufen, die ausgerechnet Zweiter gefahren waren! –
Am anderen Vormittag hörte dieser selbe Beamte von einem Kollegen, daß heute früh acht Uhr auf der Chaussee zwischen Birkenwalde und Möckritz (am Möckritz-See[2]) der reiche Gärtnereibesitzer Fritz Kuhnert ermordet aufgefunden worden war.
Als der Beamte nachmittags seine in Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße 1, wohnende Braut besuchte und von dem Morde ihr und seinen Schwiegereltern erzählte, schwieg er plötzlich mitten im Satz und rief: „Herrgott, – – die beiden Stromer!!“ – –
An diesem kalten Februartag saßen Harald und ich gegen sieben Uhr abends in Harsts Arbeitszimmer, – ich am Schreibtisch, er im Korbsessel am warmen Kamin mit einem Buche über „Wunder der Biologie“.
Vor mir lagen eine Nummer der Londoner Times und eine etwa gleich alte Nummer des Bombay Recorder.
Beide Zeitungen enthielten ziemlich gleichlautende Artikel, die für Harst und mich von großem Interesse waren.
Die Times schrieb (Abendausgabe vom 15. Januar):
„Die Gefahr, daß das großasiatische Revolutionskomitee, das sich bekanntlich als „Guddai-Orden“ in vielen Hafenstädten Indiens, Siams, Chinas und Japans eingenistet hatte, nochmals in bedrohlicher Weise sich regen könnte, nachdem der sogenannte Orden im November des Vorjahres gesprengt worden war, dürfte nunmehr endgültig beseitigt sein, da es dem Kreuzer „Nelson“ vor dem Hafen von Goa geglückt ist, das U-Boot jenes Doktor Shing Guddai, der die Seele dieser großasiatischen Verschwörerbande war, durch drei Volltreffer zu versenken. Das Tauchboot, das bekanntlich seinerzeit mit Hilfe des später auf unklare Weise verstorbenen Radschas Bara Dhug Chassi von Bawari unserer Marine geraubt wurde, ist gehoben worden. Man fand in dem Wrack außer dreißig Toten – Inder, Malaien, Chinesen – eine Anzahl wertvoller Papiere, die es ermöglichten, einen neuen vernichtenden Schlag gegen den Orden zu führen.
Unter den Leichen, und dies mag hier besonders hervorgehoben werden, war nicht eine, von der man mit Bestimmtheit hätte sagen können: dies ist Doktor Shing Guddai!
Mithin dürfte die von dem deutschen Globetrotter Max Schraut im Dezember ausgesprochene Vermutung, er habe durch das Helmfenster der Taucherausrüstung Doktor Guddai wiedererkannt, wohl lediglich auf die rege Phantasie dieses Freundes des bekannten Weltenbummlers Harst, der sich so ungern als Liebhaberdetektiv bezeichnen läßt, zurückzuführen sein.
Doktor Guddai und der Radscha von Bawari starben gleichzeitig, das steht fest. Und wenn auch die stille Verehrerin des Fürsten und Hochverräters Bara Dhug Chassi, die berühmte russische Sängerin Fanny Aldow, nachher samt ihrem Juwelenkasten von Bord des Zerstörers „Bombay II“ verschwand, so ist auch dies kein Beweis dafür, daß zwei bereits in Verwesung übergegangene und nachher in Asche zerfallene Leichen, Guddai und der Radscha, trotz allem wieder zum Leben erstanden sein sollen, wie Harald Harst dies andeutete, der ja überhaupt ein Meister in der Kunst ist, für sich durch schwer ergründbare Behauptungen Reklame zu machen. So gern auch wir neidlos anerkennen wollen, daß er bei dem Kampf gegen die Guddais einiges geleistet hat, so müssen wir doch anderseits darauf hinweisen, daß seine Art, politische Affären von Weltbedeutung selbstherrlich unter Ausschaltung der zuständigen Behörden zu erledigen, gerade uns Engländern äußerst unsympathisch ist, da die Harstschen Gepflogenheiten stark an das anmaßende Wesen der Deutschen vor dem Kriege erinnern, als sie uns durch ihre Skrupellosigkeit beinahe vom Weltmarkt verdrängt hatten, – – was nun hoffentlich ein für allemal den deutschen Krämern verriegelt ist.“
Es war heute an diesem Februarabend vor kaum fünf Minuten gewesen, daß Harst mir diese beiden Zeitungen, die er längst gelesen, wortlos überreicht hatte.
Ich war empört.
Also das war Englands Dank dafür, daß Harald den Malaien Doktor Guddai im Schlosse Bawari zur Strecke gebracht hatte!!
Ekelhaft!! – Allerdings war die Times ja auch eines jener Blätter, die noch heute den Haß gegen Deutschland möglichst frisch zu erhalten suchten.
„Eine Frechheit, Harald!“ rief ich jetzt und schlug mit der Faust auf den Zeitungswisch.
Ich drehte mich um …
Harst lachte … die Zigarette in seinem Mundwinkel wippte vergnügt …
„Neid!“ meinte er. „Neider lacht man aus …!“
„Weshalb gabst du mir diesen gedruckten Dreck erst heute?“ – und ich stand auf und lehnte mich an den Kamin.
Er hob die Schultern … „Ich denke, wir hatten gerade genug zu tun in den letzten Wochen! Da war der Fall Anelucker, ferner die Geschichte mit dem grünen Gummiball … Seit heute erst dürfen wir Ferien feiern. Und da habe ich dir doch auch unser Ferienzeugnis überreichen wollen … Die Zensur der Times lautet: Schraut – schwatzhaft, phantastisch, – Harst: eingebildeter Narr! – Nun hast du’s schwarz auf weiß, was du bist …“
Er lachte wieder … Und er war wirklich in Laune. Seine grauen Augen lachten mit, und um das magere Kinn bildeten sich die Fältchen stiller Heiterkeit.
Da … läutete es draußen …
„Hm,“ meinte Harald ernst werdend. „Etwa ein Klient? Das wäre peinlich … Die Ferien wären denn doch zu kurz gewesen …“
Ich ging öffnen und betrat in Begleitung eines jüngeren Bahnbeamten wieder das behaglich warme Zimmer.
„Herr Ernst Gulitzki möchte uns etwas mitteilen, Harald …“ Und ich schaltete den Kronleuchter ein.
„Setzen Sie sich, Herr Gulitzki,“ sagte Harald freundlich. „Seien Sie nicht so ängstlich … Hier ist eine Zigarre … Sie kommen, wie ich sehe, aus angenehmer Gesellschaft … Die junge Dame, mit der Sie zusammen waren, ist wohl Ihre Braut gewesen, – blond, hellblond … Aber sie sollte sich die Augenbrauen nicht nachtuschen. Beim Küssen gibt das zuweilen bräunliche Flecke auf der Stirn des anderen Teiles … – Sind Sie erstaunt? – Nicht doch …! Sie tragen einen Verlobungsring, haben ein paar blonde Härchen auf der Jackenklappe Ihres tadellosen blauen Sonntagsanzugs, den Sie doch heute am Freitag wohl nur Ihrer Braut zu Ehren angezogen haben … – Also – was bringen Sie?“
Gulitzki sog verlegen an seiner Zigarre und platzte dann heraus:
„Mein Schwiegervater schickt mich her … Er wohnt hier in der Nähe, Blücherstraße 1, und er meinte, ich solle Ihnen mal gleich erzählen, was ich vielleicht zur Aufdeckung des Birkenwalder Mordes beitragen kann … Ich bin nämlich in Birkenwalde beschäftigt, Dienst an der Sperre, Herr Harst, und gestern abend habe ich da zwei Stromer …“ – er erzählte das, womit ich dieses unser Abenteuer mit Gamderlan, dem Menageriebesitzer, eingeleitet habe.
Harst hatte die Augenbrauen etwas hochgezogen. Ihm sowohl wie mir war es vollkommen neu, daß der Gärtnereibesitzer Fritz Kuhnert nicht mehr unter den Lebenden weilte. Wir hatten die Abendzeitungen noch nicht gelesen.
„… Herr Kuhnert lag halb im Chausseegraben,“ berichtete Gulitzki weiter. „Sein Körper wies vier furchtbare Wunden auf, die offenbar von einer Kartoffelhacke herrührten. Er war vollkommen ausgeplündert. – Es ist nun bereits festgestellt, Herr Harst, daß er sich gestern um halb neun aus seinem Hause zwischen Birkenwalde und Möckritz entfernt hat und in dem Bahntunnel in Birkenwalde gegen neun auf und ab gegangen ist, als ob er jemand mit dem Zuge um neun erwartete. Weil nun doch die beiden verdächtigen Stromer …“
„Schon gut,“ winkte Harald ab und warf mir einen langen Blick zu. „Schon gut … Ich würde Ihnen unter diesen Umständen den dringenden Rat geben, Ihre Beobachtungen unverzüglich der Kriminalpolizei mitzuteilen. Hier bitte – – Fahrgeld für ein Auto …! Bitte – – und hier noch eine Zigarre … Beeilen Sie sich … Fahren Sie nach dem Alexanderplatz …“
Ernst Gulitzki entfernte sich verwirrt.
„Vielleicht habe ich ihn ein wenig zu hastig weggeschickt,“ meinte Harald, als ich das Zimmer wieder betrat, nachdem ich Gulitzki hinausgelassen hatte. „Aber – dieser Mord, mein Alter, ist mir auf die Nerven gefallen … wahrhaftig! Vorvorgestern mittags saß Fritz Kuhnert noch hier bei uns und erzählte uns von dem grünen Gummiball, und heute … tot!!“
Ich stand vor Haralds Sessel …
Sagte leise: „Auch mir fuhr die Unglückskunde böse in die Knochen! Der Bahnbeamte sollte ahnen, daß wir die beiden Stromer gestern abend waren!!“
Der Leser gestatte mir einen Sprung rückwärts – bis zum Dienstag mittag halb zwölf.
Da hatte sich Herr Fritz Kuhnert, Gärtnereibesitzer, Birkenwalde, Waldstraße 18, bei uns melden lassen … Hatte uns folgendes erzählt:
„… Herr Harst, daß man Sie nicht mit Kleinigkeiten behelligen darf, weiß ich sehr wohl, und daß Sie die Kürze lieben, gleichfalls …“
„Sie gefallen mir, Herr Kuhnert … weiter.“
„Meine Gärtnerei und Baumschule ist ein sehr ausgedehnter Besitz und stößt nach Süden zu an ein ganz einsam liegendes Grundstück, auf dem eine Villa steht, die einem Russen gehört, einem der vielen russischen Flüchtlinge. Meine kleine Tochter hatte nun gestern ihren großen grünen Gummiball über den Zaun auf das schräge Stalldach der Villa geworfen, – sie behauptet zufällig! Aber es ist eine kleine freche neugierige Krabbe, meine Uschi, und wahrscheinlich wollte sie nur einen Grund schaffen, einmal den Hof der Villa zu betreten, wo jetzt drei Wagen einer Wandermenagerie stehen, die der Russe aus Gutmütigkeit dort hat unterstellen lassen, wie er mir selbst gelegentlich erzählte. Herr Wonzow[3] ist überhaupt ein sehr angenehmer Nachbar. – Meine Uschi kletterte also wirklich über den hohen Bretterzaun, fand ihren Ball und … kam plötzlich schreckensbleich zu mir in eins der Treibhäuser gerannt …
„Vati, Vati, in dem Stall von Herrn Wonzow ist ein Tiger! Ein so – so großer Tiger … Und als ich kaum durch die offene Tür in den Stall getreten war, sprang er auf mich zu, Vati … Aber er war angekettet … Oh Gott, wie habe ich mich erschreckt!! Wirklich – – ein Tiger, Vati, so lang wie ein Pferd …!!“
Dabei blieb sie, Herr Harst: lang wie ein Pferd! – Und weil meine Uschi nun ein tapferes Mädel ist, das sogar mit der Luftbüchse Sperlinge schießt, kam mir die Sache insofern nicht ganz einwandfrei vor, als es doch von Wonzow sehr leichtfertig gewesen wäre, wenn er etwa in seinem Stall angekettete Raubtiere hielte. Ich ging also zu ihm. Er lachte mich aus. „Ihre Uschi hat geträumt,“ meinte er. „Der Menageriebesitzer Gamderlan besitzt nur acht Affen, zwei Bären, einen Leopard und fünf Schlangen, der alte arme Teufel! Was Ihre Uschi sah, war der Leopard, der schon so altersschwach ist, daß er keinem Huhn mehr was anhaben kann! Gewiß, der Kälte wegen steckt Gamderlans Viehzeug jetzt in dem warmen Stall …“ – So sprach er, aber er war sichtlich verlegen dabei, Herr Harst, und als ich ihn bat, mir die Tiere doch mal zu zeigen, erklärte er, Gamderlan sei nach Berlin gefahren und habe den Stallschlüssel mitgenommen, und – das war gelogen, denn ich hatte den Menageriebesitzer soeben noch auf dem Hofe gesehen. Ich schwieg jedoch, tat ganz harmlos, verabschiedete mich und fragte daheim meine Uschi nochmals aus … Sie blieb dabei: Es sei ein Tier gewesen, mindestens viermal so groß wie ein Leopard, und ein solches Tier gebe es nicht mal im Berliner Zoo … – Da ich nun heute hier in der Stadt zu tun hatte, bin ich gleichzeitig auch zu Ihnen gekommen, Herr Harst, weil …“ – und er wickelte etwas aus einem braunen Bogen – „weil meine Uschi, der Frechdachs, heute früh ihren Ball wieder auf das Stalldach geworfen hat, hinterdrein geklettert ist, die Stalltür geöffnet hat und die Riesenbestie in dem Stall den großen Gummiball mit einem Prankenhieb derart zerfetzt hat …, – hier sind die Reste des Balles! Und das soll ein altersschwacher Leopard können?!“
Harst fragte noch einiges über Wonzow und Gamderlan und versprach dann, daß wir beide uns mal um die Sache etwas kümmern würden, Kuhnert solle aber die Geschichte vorläufig für sich behalten. –
Das war Dienstag mittag.
Abends waren wir in Birkenwalde. Um zehn Uhr brachen wir in den Stall ein – durch ein Oberfenster, fanden aber nur die Käfige mit harmlosem Viehzeug. Der Leopard war wirklich nur noch angehender Bettvorleger.
Auch die drei Menageriewagen untersuchten wir. Sie waren leer.
Mittwoch vormittag telefonierte Harald an Kuhnert, daß Klein-Uschi sich getäuscht haben müsse. Nur der Leopard könne es gewesen sein, der unweit der Tür angekettet war und der den grünen Ball so übel zugerichtet habe.
Kuhnert gab sich zufrieden. Aber Mittwoch abend elf Uhr rief er uns an und teilte mit, Gamderlan sei soeben in aller Stille mit seinen drei Wagen davongefahren, und Wonzow habe verkleidet den zweiten Wagen gelenkt, den dritten aber eine Frauensperson, die er noch nie gesehen habe, – und bei der ganzen Sache stimme etwas nicht.
Worauf Harst ihn beruhigte und versprach, wir würden der Sache nochmals nachgehen.
Donnerstag dann verabredeten wir mit Kuhnert ein Zusammentreffen im Bahntunnel in Birkenwalde. Und da wir unsere Stromermasken erst im Vorortzuge anlegten, fiel es dem Beamten an der Sperre natürlich auf, daß wir Zweiter gefahren waren.
Kuhnert und wir begaben uns zur Rückseite des bewußten Stalles, und während Kuhnert im Hofe der Wonzow-Villa Wache hielt, drangen wir in das dunkle, leere Haus ein und durchstöberten es vom Keller bis zum Boden, nachher auch ebenso den Stall – ganz sorgfältig, fanden jedoch abermals nichts irgendwie Verdächtiges. Harst erklärte Kuhnert, vorläufig sei der Fall „Grüner Gummiball“ nun für ihn erledigt. Kuhnert begleitete uns noch bis zum letzten Zuge nach Berlin, und – – dann wurde er eben bei der Rückkehr nach seiner Großgärtnerei ermordet, wie wir jetzt, Freitag abend, zu unserem Schreck soeben erfahren hatten. –
Der Leser ist nun im Bilde. –
Harst hatte sein Buch „Wunder der Biologie“ zugeklappt und weggelegt. Er hatte es erst gestern gekauft, und eigentlich hatte ich mich darüber gewundert, denn in unserer Bibliothek gab es bereits ein Dutzend Werke ähnlichen Inhalts.
Er nahm bedächtig eine neue Zigarette und schaute unverwandt auf den roten Lichtstreifen, der durch die verglaste Kamintür auf das schwarze Bärenfell fiel.
„Die kleine Uschi Kuhnert, die nun den Vater verloren hat, wird wohl doch recht gehabt haben mit ihren Größenangaben,“ sagte er sinnend.
„Hinsichtlich des angeblichen Tigers?!“
„Ob es ein Tiger war, steht dahin … Jedenfalls ein Raubtier von unheimlichen Abmessungen … – Glaubst du, daß ich das Buch gestern aus bloßer Laune erwarb?“
Man muß sich an Harstsche Gedankensprünge gewöhnen. „Hängt dieser Buchkauf mit dem grünen Ball zusammen?“ fragte ich zweifelnd.
„Ja, mein Alter … leider!!“ – Er griff wieder nach dem Buche. „Gestatte, daß ich dir aus Kapitel drei einiges vorlese …“
„Die Japaner gehören ebenfalls zu jenen asiatischen Völkern, die weit tiefer in die Geheimnisse der Natur eingedrungen sind, als dies je einem noch so gelehrten Europäer gelingen dürfte. Sie verfügen über gewisse Rezepte zu Geheimtränken, durch die sie aus normalen Kindern Riesen züchten können. Ein offensichtlicher Beweis für diese ihre Kunst sind die Sumotori[4], ihre Ringkämpfer.
Der Japaner hat eine Durchschnittsgröße von 1,50 Meter und ein Durchschnittsgewicht von 120 Pfund. Die Sumotori, die sämtlich, wie die Japaner ruhig zugeben, „künstliche“ Riesen sind, werden über zwei Meter groß und wiegen bis zu 400 Pfund, ohne daß sie dabei etwa als „krankhaft aufgeschwemmt“ gelten können. Im Gegenteil, die fabelhafte Gelenkigkeit und Kraft der japanischen Ringer ist weltbekannt.“
Er schob das Buch wieder beiseite und blickte mich an …
„Hole mal die Reste des grünen Gummiballes, mein Alter …“
Ich zögerte. „Meinst du etwa, daß dieser Gamderlan, der ein weißhaariger Greis sein soll, ähnliche biologische Versuche mit … Tieren angestellt und etwa … Riesenviecher gezüchtet hat?“
„Ja. – Hole den Ball …“
Dann lagen die Reste von Klein-Uschis Spielzeug in seinem Schoße. „Ich habe mir diesen zerstörten Ball bereits sehr genau angesehen,“ erklärte er, immer noch in jener halbabwesenden Art, die stets beweist, daß sein reges Hirn gleichzeitig verschiedene Gedankengänge erledigt. „Du erkennst hier die Löcher von vier scharfen Krallen und hier noch eine tiefe Schramme einer fünften Kralle. Diese Krallenlöcher – der Ball hatte einen Durchmesser von 38 Zentimeter – liegen so weit auseinander, daß man aus diesen Entfernungen ungefähr auf die Größe der Pranke des Tieres schließen kann, das heißt, sie muß fast doppelt so breit als eine Tigerpranke gewesen sein. Ein Raubtier mit solchen Pranken gibt es nicht – gibt es normaler Weise nicht.“
Ich lehnte wieder am Kamin …
„Harald, der Fall „Grüner Ball“ war also für dich noch lange nicht erledigt?!“
„Ja und nein … Ich wollte abwarten, was meine Erkundigungen in Birkenwalde eintrugen. Du weißt, daß wir dort einen Bekannten haben, der uns zu Dank verpflichtet ist …“
„Ah – der Fabrikbesitzer Kurt Schulze?“
„Stimmt. Ich habe ihn gestern angerufen und ihn gebeten, in aller Stille über Wonzow, Gamderlan und die sonstigen Bewohner der Villa des Russen Erkundigungen einzuziehen. Er ist zuverlässig, verschwiegen, weltgewandt und energisch. Wollen sehen, was er ausrichtet.“ – Er rauchte ein paar Züge … „Um auf Kuhnert zurückzukommen: der Bahnbeamte erwähnte vier entsetzliche Wunden, die von einer Kartoffelhacke herrühren müßten. Ich glaube, es wird keine Hacke, sondern die Pranke eines „Kunsttieres“ gewesen sein.“
„Mein Gott!“ rief ich … „Dann ist Kuhnert womöglich ermordet worden, weil er sich allzuviel um die einsame Villa gekümmert hat?! Dann … dann würden vielleicht auch wir in ernsthafter Gefahr schweben, weil wir doch die Villa durchsucht haben!“
„Die Gefahr ist schon da,“ meinte Harald leise.
„Wo?!“
„Draußen …! Das Übliche: ein paar Spione in stets wechselnden Masken. Heute früh acht Uhr stellte ich ihre Anwesenheit fest.“
„Und du nimmst an, daß Wonzow und Gamderlan, die doch fraglos unter einer Decke stecken, diese Leute abgeschickt haben?“
Er nickte und starrte wieder in den roten Flammenschein der Buchenscheite.
„Ja … – Kuhnert beschrieb uns den Menageriebesitzer Gamderlan als weißhaarigen Greis mit auffallend dunkler Hautfarbe. Die drei Spione draußen sind fraglos ebenso dunkelhäutig, sind Asiaten, Inder oder Malaien.“
Das letzte Wort betonte er …
Malaien!
Das wirkte wie ein elektrischer Schlag …
„Harald, denkst du etwa an … Doktor Shing Guddai?“
„Vielleicht … – Ich muß wohl zumindest an ihn denken … Daß weder er noch der Radscha von Bawari tot sind, ist gewiß. Ich wußte es schon damals im Schlosse von Bawari, habe aber bisher darüber geschwiegen. Du besinnst dich, daß die beiden Leichen von den Hindupriestern in dem einen Saale aufgebahrt wurden. Die Leichen waren scheinbar bereits in Verwesung übergegangen, rochen stark, und man hatte karbolgetränkte Tücher über die Toten gebreitet. Diese Tücher reichten bis zum Marmorfliesenboden des Saales hinab. Als sie auf Befehl des Marinekommandanten aus Bombay gelüftet wurden, lag auf den Holzgestellen nur noch eine Schicht grauer Asche in den Umrissen eines menschlichen Körpers. Ich habe mir damals die Fliesen unter den Gestellen genauer angesehen. Die Leichen waren fraglos durch unsichtbare Falltüren trotz der strengen Bewachung entfernt worden. – Jedenfalls: Guddai und der Radscha leben meiner Überzeugung nach, und du hast dich damals, als wir nach dem Juwelenkasten Fanny Aldows tauchten, nicht geirrt, als du in dem Gegner, der mir den Luftschlauch zerschneiden wollte, Guddai hinter dem Helmfenster zu erkennen glaubtest. Die Londoner Times, fürchte ich, wird sehr bald bitter bereuen, diesen Hetzartikel da vom Stapel gelassen zu haben, denn Doktor Guddai, der Fürst und der Orden werden dem britischen Weltreich, das ja in Asien mit am stärksten interessiert ist, noch böse Nüsse zu knacken geben. – Ob Gamderlan wirklich Guddai ist, kann ich natürlich noch nicht mit Bestimmtheit behaupten. Vieles spricht dafür.“
Er schwieg und horchte …
„Mathilde redet im Flur mit jemandem …“ sagte ich …
Unsere dicke Köchin klopfte schon an, trat ein und überreichte Harald einen Brief.
„Ein Eilbrief …“ – und dann entschwebte sie wieder mit ihren 200 Pfund.
„Von Kurt Schulze aus Birkenwalde,“ – und Harst schnitt den Umschlag auf …
Ich will Herrn Schulzes Schreiben hier verkürzt wiedergeben. –
Erstens: „Alexis Peter Nikolaus Wonzow, ehemaliger Privatsekretär der Fürstin Utschapin, der ersten Hofdame der letzten Zarin. – Erwarb die Villa vor vier Jahren, lebt dort ganz allein, nimmt nur Gärtner, Aufwärterin für Tage und Stunden, – sehr wohltätig, bescheidener, ruhiger, vornehmer Mann, fünfzig Jahre alt, befreundet mit der berühmten russischen Sängerin Fanny Aldow, die jetzt als verschollen gilt, vor einem Jahr aber noch längere Zeit bei Wonzow wohnte. – Wonzows nächster Nachbar ist der in der verflossenen Nacht ermordete und beraubte Baumschulenbesitzer Kuhnert, den ich sehr genau kenne. Kuhnert hat über Wonzow stets nur das Beste gesprochen.“
Zweitens: „Schmuhl Gamderlan, Besitzer einer kleinen Wandermenagerie, drei Wagen, kam im Dezember (etwa am 28.) zu Wonzow. – Ungarischer Zigeuner, 75 Jahre alt, Papiere in Ordnung. Hatte vier Zigeuner als Gehilfen bei sich, Verwandte von ihm, drei Männer, eine ältere schmierige Frau mit Gesichtsflechte. Diese vier entließ er, nachdem Wonzow ihm gestattet hatte, die drei Wagen auf dem Hofe der Villa unterzustellen. – Wonzow hat Kuhnert gegenüber betont, daß er Gamderlan vorher nicht gekannt habe, daß er eines Tages auf der Chaussee spazieren gegangen und den Wagen mit den elenden Kleppern begegnet sei. Da habe ihm der nebenher schreitende Alte leid getan, und nur deshalb habe er ihn bei sich aufgenommen.“
Drittens: „Über die Villa Wonzows möchte ich noch folgendes bemerken, werter Herr Harst. Wonzow hat gleich nach seinem Einzug in dem zweietagigen Hause bauliche Veränderungen vornehmen lassen, die ein Unternehmer aus Berlin ausgeführt haben soll. Ich habe mich nun erkundigt, wer dieser Bauunternehmer gewesen ist. Dabei konnte ich feststellen, daß Wonzows Angabe unwahr gewesen. Fremde Maurer und Zimmerleute, anscheinend mongolische Russen, haben die baulichen Veränderungen ausgeführt. Was in der Villa geändert wurde, erfuhr niemand. Außen wurden sämtliche Fenster mit starken Ziergittern versehen.“ –
Viertens: „Aus Anlaß der Ermordung Kuhnerts hat heute mittag die Berliner Mordkommission auch Wonzow, der anderthalb Tage verreist gewesen, als Nachbar Kuhnerts vernommen. Dabei hat Wonzow angegeben, er habe Kuhnert zum letzten Male am Montag oder Dienstag dieser Woche gesehen, und zwar habe er sich darüber beschwert, daß Gamderlans Tiere im Stalle der Villa untergebracht seien. – Gamderlan ist übrigens mit seinen Wagen bereits wieder unterwegs. Er soll in dieser Woche die Villa verlassen haben.“
So weit der Inhalt des Briefes.
Harst öffnete die Kamintür und stieß den Brief in die Glut. „Es ist besser so, mein Alter … Wir müssen vorsichtig sein. – Nun, wie denkst du über Wonzow? – Ich habe sofort vermutet, daß auch, falls Gamderlan Guddai ist, auch der Fürst und seine Geliebte Fanny Aldow dort herumspuken würden. Die Zigeunerin mit der Gesichtsflechte ist Fanny Aldow gewesen, und einer der Zigeuner war Seine Hoheit der tote Radscha von Bawari. Die Gesichtsflechte war natürlich Kunst, – Schminke … – Zweifelst du noch?“
„Nein, nein …! Nur möchte ich dich bitten, mir sogleich auch deine weiteren Kombinationen mitzuteilen. Glaubst du, daß Wonzow mit zum Guddai-Orden gehört?“
„Ja. Kuhnert beschrieb[5] ihn uns als schlanken Mann von gelblicher Gesichtsfarbe, stark hervortretenden Backenknochen und schrägen Augen. Wonzow ist ein Mongole, behaupte ich, also Asiate.“
„Und – – weiter?“
„Du pumpst mich wirklich gänzlich aus, mein Alter. Nun gut … – du besinnst dich, daß der Fürst vor einem Jahr wieder mal in Europa war. Damals verschwand das englische U-Boot. Er stahl es mit seiner Jacht für den Orden. Und zur selben Zeit war Fanny Aldow Wonzows Gast. Wonzow, der vielleicht die europäische geheime Niederlassung des Ordens leitete, wird damals wohl auch den Radscha insgeheim empfangen haben. So lernten sich Fanny und der Fürst kennen, der ihr dann nachreiste, wie wir wissen, und sie mit Liebesanträgen verfolgte. Fanny Aldow ahnte nichts von dem Orden der Guddai. Erst in Bawari gingen ihr die Augen auf. Aber ihre stille Leidenschaft für den geistvollen Radscha siegte: sie war sein, gilt aber als verschollen.“
„Und der Mord an Kuhnert?“
Harald strich sich mit der Linken über die tief gefurchte Stirn … „Dir ist bekannt, daß der Orden bereits Hunderte von Menschen gemordet hat, daß Shing Guddai als Großmeister dieses Ordens ohne jede Skrupel handelt und befiehlt. Ihm geht es um den Sieg Asiens über die Europäer … Er ist Idealist, Politiker, Fanatiker und … Asiate!! Asiate – das besagt alles. Sein Spiel geht um Hunderte von Millionen seiner Rassenbrüder! Was tut’s da, daß ein paar tausend Europäer vielleicht schon den Vorbereitungen für den entscheidenden Schlag geopfert werden müssen?! Hat Napoleon an Menschenopfer, die unvermeidlich, gedacht, als er sein europäisches Imperium errichten wollte, hat die Entente die Toten berücksichtigt, als sie Deutschland zu dem Wirtschaftskriege zwang? – Ich vermute, daß Kuhnert, als unternehmender, aber unvorsichtiger Mann nochmals in die damals scheinbar leere Villa allein eingedrungen ist … Und da muß er etwas entdeckt oder beobachtet haben, das niemals ein anderer erfahren durfte … Und da … hat man ihn durch das „Kunsttier“ töten lassen und in dem Schneetreiben auf die Chaussee geschafft, nachdem man ihm alle Wertsachen abgenommen hatte, um einen Raubmord vorzutäuschen.“
Ich hatte auf die letzten Sätze kaum mehr recht hingehört, denn ein anderer Gedanke hatte sich in meinem Hirn mit schreckhafter Klarheit eingenistet und ward nun zu hastigen Worten:
„Harald, wenn draußen Guddais Spione lauern, so ist dies ein Beweis, daß es uns genau so ergehen wird, wie Kuhnert, denn – – Shing Guddai oder Wonzow wissen offenbar, daß die beiden Stromer …“
Harst hob den Kopf.
„Hältst[6] du mich für leichtfertig, Schraut? – Als ich die drei braunen Kerle heute früh bemerkte, habe ich natürlich sofort die nötigen Maßnahmen getroffen, damit nicht etwa hier unser gemeinsamer Aufenthaltsraum samt uns beiden in einem schönen Augenblick durch eine Bombe in die Luft fliegt. Eine Bombe würde hier am zweckdienlichsten sein, und wenn Guddai uns auch in Indien geschont hatte, so liegen die Dinge nunmehr ganz anders. Guddai ist ein Gehetzter, ein vogelfreies Wild … Zwei seiner Schlupfwinkel haben wir ausgehoben … Seinen dritten dort in Birkenwalde wird er verteidigen … bis aufs Messer – – gegen uns …“
Er sprach jetzt merkwürdig ernst …
„Unser Leben, mein Alter, ist zurzeit keinen Pfifferling wert … Unser Leben war noch nie so bedroht wie jetzt … – Ich wette, daß die infernalische Schlauheit dieser Asiaten längst dieses unser Haus bis in seinen letzten Winkel ausspioniert hat. Der Guddai-Orden, den England für ausgelöscht hält, könnte jeder europäischen Geheimorganisation als Vorbild dienen. Unsere Geheimbündler sind klägliche Stümper, nur Asien bringt Charaktere hervor, die … – ich schweife ab. Also – meine Gegenmaßnahmen … Ich habe heute vormittag acht Uhr unseren alten Freund Kriminalkommissar Bechert angerufen und ihm mitgeteilt, daß er doch durch seine Beamten drei braune Kerle, die da um unser Haus herumlungern, unter strengster Beobachtung halten solle, weil ich mit einem Attentat rechne. – Mehr gab ich ihm nicht an. – Unsere Berliner Kriminalpolizei, vielleicht nächst der englischen die beste, schützt uns. Das genügt mir. Kein Bombenwerfer würde Zeit finden, seine Bombe zu schleudern, zumal unser Haus zehn Meter von der Straße entfernt ist. Der Attentäter müßte also dicht an den Vorgartenzaun treten, und – – drüben im Mietshause Nr. 23 stecken zwei von Becherts Leuten in der Pförtnerwohnung mit Karabinern …“
Ich nickte zerstreut …
Mir war trotz Haralds Versicherung, daß jede unmittelbare Gefahr ausgeschaltet sei, wenig behaglich zumute.
Mehr um irgendetwas zu reden und meine Gedanken abzulenken sagte ich:
„Zu welchem Zweck sollte Gamderlan-Guddai die Riesentiere gezüchtet haben?“
Harald hob die Schultern. „Das weiß ich nicht … Es ist ja überhaupt bei alledem noch so vieles unklar und dunkel. Zum Beispiel: Gamderlan hat mit seiner kleinen Menagerie doch offenbar schon lange Europa durchwandert. Aber dieser Gamderlan kann nicht Guddai gewesen sein, denn Guddai war in Indien. Wo blieb also der wahre Gamderlan? Wie und wo übernahm der landflüchtige Doktor Guddai dessen Rolle? War der echte Gamderlan etwa auch ein Guddai-Bruder? Wozu die Menagerie? Wo wurde das Riesentier künstlich großgezogen? – Ich könnte diese Perlenschnur von Fragen beliebig verlängern …“
Wie er so zurückgelehnt da saß, ein Bild kühlster Gelassenheit, kam mir wieder wie so oft der Wunsch, daß ich seine Nerven haben möchte – oder besser: seine nicht vorhandenen Nerven!
Er sprach weiter … „Wenn wir zu Abend gespeist haben, müssen wir unserem Heim für einige Zeit Lebewohl sagen und verschwinden … Das Schwierige ist: wie kommen wir unbemerkt hinaus? – Ich habe mir schon den ganzen Tag bis zur Dunkelheit darüber den Kopf zerbrochen, und …“
„Sehr überflüssig …“ fiel da eine fremde Stimme aus dem im Dämmerdunkel liegenden Fensterwinkel ein, wo neben dem Rauchtischlein eine Ständerlampe und ein vierter Klubsessel stehen.
Aus dem Klubsessel erhob sich ein kleiner hagerer Herr mit grauem Spitzbart und grauem Scheitel und rundem rotwangigem Gesicht …
Das runde Gesicht und die helle Hautfarbe waren mir fremd.
Die Stimme nicht …
Es war der Malaie Doktor Shing Guddai in neuer Aufmachung … –
Harst veränderte seine bequeme Stellung nicht um einen Deut …
Ich war blaß geworden. Ich fühlte es …
„Bitte, Herr Doktor, setzen Sie sich hier an den Kamin,“ sagte Harald … „So … Zigarette gefällig?“
Guddai griff zu … Jetzt im hellen Licht der auf dem Kaminsims brennenden Stehlampe konnte ich die meisterhafte Durchführung seiner Maske bewundern. Er sah wie ein Europäer aus …
Seine klaren, scharfen Augen blickten zu mir empor, der ich dicht neben ihm am Kamin stand …
„Herr Schraut, es könnte Ihnen einfallen, mich angreifen zu wollen … Versuchen Sie es lieber nicht. Nebenan in der Bibliothek befinden sich zwei Leute … Und die Tür ist angebohrt … gerade passend für Luftbüchsen … die geräuschlos arbeiten. – Darf ich um Feuer bitten, Herr Harst … Danke … genügt … – Ja, es ist nun drei Monate her, daß wir uns in Bawari zuletzt sahen … Nein, Verzeihung, nicht in Bawari, auch nicht auf dem Meeresgrunde … Ich sah Sie beide in der Villa Wonzow …“
„Und – wie sind Sie in mein Haus gelangt, Herr Doktor?“
„Durch die Baumkronen … Sie sollten die Linden und Kastanien auf Ihrem Hofe fällen lassen …“
„Wie lange sind Sie hier?“
„Seit fünf Uhr … Sie tranken gerade Kaffee droben im Zimmer Ihrer Frau Mutter. Ich habe die ganze Zeit hinter dem Sessel gehockt – dort in der Ecke …“
„Also alles gehört …“
„Alles …“
„Und nun?“
„Nun müssen wir irgendwie zu einer Einigung gelangen, Herr Harst. Ich möchte Sie beide schonen – tatsächlich! – Treten Sie in den Orden ein.“
Das kam selbst Harald überraschend …
Mir nicht, denn in meiner Aufregung hätte ich selbst noch Tolleres gleichmütig hingenommen.
„Wie meinen Sie das, Herr Doktor?“ fragte Harald kopfschüttelnd. „In den Guddai-Orden eintreten …?! Wir – als Europäer?!“
„Warum nicht?! – Europas sogenannte Kultur hat sich überlebt, Europa ist siech. Genau wie das alte Rom einst an seiner Überkultur zugrunde ging und durch die urwüchsige Kraft germanischer Söldner spielend leicht unterworfen wurde, ebenso wird es dem morschen Europa gehen – durch uns Asiaten. Schauen Sie sich zum Beispiel hier in Ihrem deutschen Vaterlande um … Was sehen Sie? Nichts als Parteihader, Parteihaß, sittliche Verkommenheit, die sich durch Niggermusik und andere Verrücktheiten das Mäntelchen einer neuen „Kunstepoche“ umhängt … – Was haben Sie und Ihr Freund noch in diesem Hexenkessel zu suchen?! Sie beide sind international, Sie sind Kosmopoliten, Sie …“
„… Ein Irrtum, Doktor! Wir sind Deutsche.“
„Dann ist es höchste Zeit, daß Sie Ihre Intelligenz in den Dienst einer besseren Sache stellen …! Was ist heute Deutschland?! Ich bitte Sie! Ein Spielball der frechen Launen anderer Staaten, ein Land ohne Saft und Kraft, ein gefesselter Sklave. – Meine Herren, Sie werden in den Orden eintreten …!“ Seine Stimme wurde schärfer. „Ich brauche Sie beide! In drei Jahren wird Europa nicht mehr existieren … Dann wird es nur noch eine asiatische Kolonie sein … – Herr Harst, ich biete Ihnen den Gouverneurposten der Kolonie Deutschland an! Dann können Sie Ihrem Vaterlande besser dienen als jetzt – freilich unter meiner Aufsicht …!“
Er hatte sich langsam erhoben, die Zigarette weggelegt …
Seine Augen glühten …
Fanatiker …
Asiate …
„Herr Harst, – ich befehle! Sie beide werden Guddai werden, Ordensbrüder! Schauen Sie dorthin … Sehen Sie die beiden kleinen Läufe der Luftbüchsen in der Türfüllung …? – Ich befehle! Und wenn Sie nicht gehorchen, wenn Sie mir nicht sofort Ihr beider Ehrenwort geben, heute nacht zwölf Uhr vor der Villa Wonzow sich einzufinden, werde ich hier zwei Tote zurücklassen …“
Harald senkte etwas den Kopf …
„Sie … nutzen Ihr Übergewicht aus, Herr Doktor, – weiß Gott …!! Und da ich überzeugt bin, daß wir hier tatsächlich sterben müssen, wenn wir uns weigern, da ich ferner durch meinen Tod niemandem nützen könnte, so … gebe ich nach!“
Er schaute Guddai voll an …
„Herr Doktor, – also für mich und Schraut unser Ehrenwort: wir werden um zwölf vor der Villa sein!“
„Sehr verständig!“
„Halt – ich stelle Bedingungen, Doktor …“
„Bitte …“
Walpurgisnachtspuk …?!
Szenen aus einem Film, gegen die selbst die Phantastik von Metropolis verblaßt?!
Ja – so war es …
Auch Harald war aufgestanden …
„Doktor, meine Bedingungen lauten: Sie schonen den Bahnbeamten Gulitzki und den Fabrikbesitzer Kurt Schulze!“
„Hm, – – nun gut, – zugebilligt.“
„Dann: jeder Mord unterbleibt, so lange wir dem Orden angehören …“
„Gern … Ich komme auch ohne Morde aus.“
„Dann wären wir einig. Wir werden um zwölf vor der Villa sein und natürlich niemandem mitteilen, was soeben hier geschehen.“
„Ich bin zufrieden, meine Herren, – mehr noch, ich freue mich, denn Sie sind mir von unschätzbarem Werte. – Leider habe ich jetzt keine Zeit mehr, mich Ihnen zu widmen … Wir sehen uns um zwölf wieder.“
Er lächelte plötzlich …
Ich kannte dieses Lächeln …
Er trat zu der Tür, die in die Bibliothek führte, und … zog aus den Löchern der Füllung zwei handlange Pappröhren hervor, die vollkommen wie die oberen Enden von Büchsenläufen aussahen …
Warf sie auf den Tisch …
„Ich habe Ihr Ehrenwort! Im Nebenzimmer ist niemand … – Nun lassen Sie mich bitte hinaus, Herr Schraut … – Auf Wiedersehen …“
Ich schritt wie ein Betrunkener in den Flur … öffnete die Haustür, sah Guddai durch den Vorgarten gehen – verschwinden …
Der Wind trieb mir nasse Schneeflocken ins Gesicht …
Wie wohl das tat!! –
Und als ich zu Harald mit klarem Kopf zurückkehrte, stand er am Schreibtisch und telephonierte mit Bechert …
„… ja – ziehen Sie Ihre Leute wieder zurück … Das Ganze war ein Irrtum meinerseits … Ich bin soeben darüber aufgeklärt worden … – Tatsächlich, Bechert, ein Irrtum oder besser: die Überängstlichkeit eines neuen Klienten …! – Jedenfalls besten Dank …“
Er legte den Hörer weg …
Ich stand vor ihm …
„Harald?!“
„Ja?“
„Harald, du willst wirklich …“
„Ich habe mein Wort noch nie gebrochen … – Und jetzt wollen wir nach oben zu meiner Mutter gehen und Abendbrot essen … und starken Rotwein trinken, damit wir unser seelisches Gleichgewicht wiederfinden …“
Eine Tür knarrte leise …
Wir fuhren herum …
Zwischen den türkischen Portieren der Bibliothek verneigte sich ein dunkelhäutiger Herr in tadellosem Gehpelz … Hut in der Hand …
Der Radscha Bara Dhug Chassi von Bawari …!!
Der tote Radscha …!
Er blickte noch genau so ernst und melancholisch darein wie einst …
„Meine Herren, wir mußten vorsichtig sein … Nun weiß ich, daß Herr Harst einst Gouverneur der asiatischen Unterkolonie Deutschland werden wird. – Herr Schraut, wenn Sie mich freundlichst hinauslassen wollen … Auf Wiedersehen, meine Freunde …“
Mir war zumute wie einem, der einen ungeheuer spannenden Roman liest und darüber alles ringsum vergißt und sich selbst als handelnde Figur in diesen Roman einreiht …
Ein Roman?!
Nein!! Ein Doktor Shing Guddai war der Dichter eines Weltdramas und zugleich der Direktor einer Theatertruppe, deren Statisten die Völker Asiens waren …
Aus Guddais und des Radschas Munde hatte die Redensart vom „Gouverneur von Deutschland“ nichts Albernes an sich gehabt …
Wir kannten den Orden und seine Leiter!! –
Als ich Harsts Arbeitszimmer wieder betrat, nachdem ich Seine tote Hoheit bis zur Pforte geleitet hatte, stand Harald mitten in der Bibliothek, deren Flügeltür er weit geöffnet hatte …
Auf dem eichenen Mitteltisch lagen zwei kurze Luftbüchsen.
Unser Leben war also doch keinen Pfifferling wert gewesen, und Guddai hatte das Spiel mit den Pappröhren nur deshalb gewagt, um uns durch den Fürsten belauschen zu lassen …!
Asiatische Verschlagenheit!! –
Wir gingen zum Abendbrot nach oben. Harald war glänzender Laune … Frau Harst merkte nichts …
Ich trank fünf Glas Chateau Mousson, und dann erst war ich wieder Max Schraut … –
Halb zehn …
Harald hat von seiner Mutter in besonders inniger Weise Abschied genommen. Es war ein Abschied, kein bloßes Gute-Nacht-Sagen wie sonst. Ich sah, wie er sie mit einem lieben Scherzwort an sich zog und küßte – sie, die nichts ahnte … Ich sah, daß seine Augen dabei leicht umflort waren … Er beherrschte sich, er ließ seine Mutter nicht fühlen, wie es in seinem Herzen ausschaute. Es konnte eine Gute Nacht für immer werden …
Und weil ich diese Szene richtig eingeschätzt hatte, begriff ich auch, daß die kommenden Tage über unser Leben, über Sein oder Nichtsein entscheiden würden.
Nun waren wir wieder unten in seinem Arbeitszimmer. Der Weindunst aus meinem Hirn war zerflattert.
Harst setzte sich an den Schreibtisch, legte die glimmende Zigarette auf die Aschenschale und meinte: „Falls du noch letztwillige Verfügungen zu treffen hast, mein Alter …“
Ich stand hinter ihm.
„Es war eine … Torheit, daß wir uns zwingen ließen,“ stieß ich hervor.
Er hatte einen Briefbogen genommen und begann zu schreiben …
„Torheit?!“ sagte er, und die Feder glitt hastig über das Papier. „Torheit wäre es gewesen, uns niederknallen zu lassen … Besieh dir einmal die Luftbüchsen … Feinste Präzisionsarbeit … Wir werden sie mitnehmen …“
Seine Feder kreischte leise.
Er besitzt die Gabe, seine Gedanken spalten zu können. Er schreibt einen Brief und spricht gleichzeitig über ein ganz anderes Thema.
Ich ging durch die offene Flügeltür in die Bibliothek und blieb vor dem langen Eichentisch stehen. Die beiden Luftbüchsen lagen noch dort …
Aber sie interessierten mich nicht. Harsts ernste Abschiedsstimmung hatte sich auch meiner bemächtigt. Ich schaute mich in diesem langgestreckten Raume mit den hohen Bücherregalen und Schränken etwa wie jemand um, der eine Reise in unerforschte Gegenden wagen will, nicht weiß, ob er zurückkehrt und daher sein Heim ein letztes Mal mit bebendem Blick umfängt.
Dort in der Ecke der schwarze Bechstein-Flügel, an dem Harald fast täglich, wenn wir zu Hause waren, mir vorgespielt hatte – er, den man kaum mehr zu den Dilettanten rechnen konnte.
Dort an der Wand das Bild seines Vaters, seiner Großeltern: schlichte Handwerker, aber in den Gesichtern doch bereits die untrüglichen Zeichen einer Intelligenz, die in dem letzten der Familie Harst (und das war mein Freund, der letzte Harst) sich so außerordentlich entwickelt hatte.
Und dort der kostbare Eckschrank, uralt, ohne bestimmten Stil, – darin lagen Haralds Andenken an seine Reisen … Nicht jene Andenken, wie sie der Durchschnittsglobetrotter mit heimzubringen pflegt. Jedes Stück hier eine Rarität – jedes … Und welch merkwürdige Dinge …! Jedes erinnerte an einen Kriminalfall … Das Ausland war am zahlreichsten vertreten, Indien mit gut fünfundsiebzig Prozent. –
Ich hatte mich so in meine rückschauenden Gedanken vertieft, daß ich gar nicht merkte, wie Harald neben mich getreten war … Da hier überall Perser und echte Brücken liegen, war er mit seinem leichten federnden Schritt nicht zu hören gewesen.
„Solch ein Abschied fällt schwer,“ meinte er leise. „Wir gehen diesmal vielleicht wirklich dem Tode entgegen, und deshalb … hätte ich eine Bitte, mein lieber Alter …“
Ich blickte ihn an. Der Ton seiner Stimme klang fast – fast rührselig …
„Und diese Bitte wäre?“ fragte ich gespannt.
„Daß du nachher meine Mutter bewachst, schützt, – was vielleicht nötig werden wird,“ – er flüsterte nur noch. „Guddai wird vor keinem Mittel zurückschrecken, wenn er merkt, daß asiatische Schlauheit europäischer kühler Klugheit unterlegen ist …“
„Was … heißt das?!“
„Leiser! – das heißt nur etwas ganz Selbstverständliches …“
„Also … du willst nicht in den Orden eintreten?“
„Ich denke nicht daran …“
„Aber – – unser Ehrenwort?“
„Bitte, das bezog sich nur darauf, daß wir heute nacht zwölf Uhr vor der Villa Wonzow sein werden …“
„Allerdings … doch …“
„Nun – – doch?!“
„… Wenn wir dort um zwölf warten, wird man uns in die Villa holen und uns dann zwingen, auch …“
„Man wird uns nicht hineinholen …!!“
Er lächelte ein wenig … „Man wird sich hüten, uns hineinzuholen, sage ich dir … Und wenn wir dort eine Stunde umsonst gewartet haben, ist unser Versprechen erfüllt. – Schau’ mich nicht so verdutzt an, Max Schraut … Europäische Klugheit ist vielleicht doch besser als asiatische Schlauheit! – Komm’ in unser Ankleidezimmer …“
Die elektrischen Lampen verstärkten ihre Lichtfülle in den hohen Stehspiegeln.
Harald hatte den einen Schrank geöffnet und nahm die beiden Tschakos und Mäntel und Lederkoppel der Schupobeamten heraus: das gehörte mit zu unserem Maskenvorrat.
Er nickte mir zu. „Ja – als Schupos, mein Alter … – Aber nicht das allein … Das wäre eine halbe Sache … Unter die Mäntel unsere dicken Sportanzüge, doppelte Unterwäsche, in die Taschen eine peinlich genaue Auswahl von Handwerkszeug. – Beginnen wir …“ –
Es war genau zehn, als ein großes neues Taxameterauto zwei Schupowachtmeister nach dem Nordosten Berlins führte – in jene Straßen, wo abends das Laster und das Verbrechen in mannigfachster Gestalt an schmierigen Mietskasernen entlangschleicht …
Diese beiden Beamten, die hier offenbar genau Bescheid wußten, stiegen an einer Ecke aus, das Auto mußte warten und der Chauffeur, der bereits zehn Mark Anzahlung erhalten, beobachtete, wie die „Grünen“, die jetzt freilich besser in „Graublaue“ umgetauft werden müßten, in einer Kellerspelunke verschwanden.
Dieses elende Lokal war um diese Stunde noch ziemlich leer. Auf die wenigen Gäste und den[7] dicken Wirt machte das Erscheinen der uniformierten Beamten nur insofern Eindruck, als sich sonst hier nur die Kriminalpolizei in Zivil blicken ließ.
An einem Tischchen knobelten zwei ausgemergelte Burschen mit roten Halstüchern und Schmalztolle einen Schnaps aus. Ihre leicht flatternden Hände, der trübe Blick, das fahle Graugelb ihrer stoppligen Wangen: es waren Kokser, Kokainschnupfer! Nebenbei Gelegenheitsdiebe, Klingelfahrer mit einem Programm von Vorstrafen.
Der größere der Beamten, der einen dunklen Schnurrbart hatte, war nach kurzer Umschau auf die Kokser zugesteuert.
Sie blickten ihn lauernd an …
„Mitkommen!“ befahl er kurz …
Achselzuckend und sich rekelnd erhoben sie sich …
Zu vieren ging’s nach dem Auto zurück.
„Einsteigen!“
Die Kokser gehorchten.
Und der kleinere der „Grünen“ raunte dem Chauffeur zu:
„Jetzt nach Birkenwalde … – Chaussee nach Möckritz.“
„Aha, Herr Wachtmeester, – – der Mord an ’n Järtnereibesitzer Kuhnert, – – mir jeht ne Latichte uff!“
Die beiden Kokser saßen auf den Rücksitzen, und der eine meinte nach einer Weile: „Wat is denn nu eijentlich los, Herr Oberwachtmeester …? Wir fahren doch jar nich nach ’n Alex … Det hier is doch schon die Oranienstraße …“ („Alex“ ist das Polizeipräsidium am Alexanderplatz.)
Harst sagte kurz:
„Ihr werdet schon Bescheid wissen – – nachher …“
Und er nahm den dunklen Schnurrbart ab, fragte gemütlicher: „Na, kennst du mich noch, Schiller-Karl?“
Schiller-Karl schielte, und sein Spitzname lautete richtig „Schiel-Karle“, war aber längst in Schiller-Karl umgewandelt worden.
Der Bursche beugte sich vor … „Donnerwetter – – Herr Harst!“
„Ja, mein Lieber: Harst!“
„Det Jeschäft is richtig!! Herr Harst – Sie als Jrüner, – – da wackeln alle Schieberbäuche!! – Wat woll’n Se nu von ’n Lampen-Fritze und mir?“
„Zunächst nur eine kleine Auskunft … Wart ihr beide unlängst in Birkenwalde?“
Da fuhr Schiller-Karl hoch … „Herr Harst – mein heilijet Ehrenwort, mit den Mord da im Chausseegraben haben …“
„Schon gut … Wart ihr dort? – Ehrlich sein, Schiller-Karl! Schraut und ich waren nämlich auch da … in der Nacht, als es so verflucht scharf wehte … Und da glaubte ich euch beide in der Nähe der Villa eines Russen Wonzow erkannt zu haben – Wo ihr abends zu finden seid, wußte ich. Nun rede – aber lüge nicht … Was wolltet ihr dort? Nur baldowern?“
Was Harald hier vorbrachte, stimmte alles. Wir hatten die beiden tatsächlich gestern nacht unweit der Villa auf der Chaussee getroffen. Ich hatte sie nicht erkannt. Harst ja …
Schiller-Karl hüstelte … „Hm – ick dreh’ mir nich jern selbst ne Krawatte, Herr Harst … Ick habe mit die Kuhnert- Jeschichte nischt zu tun, und mein Freind Fritze ooch nich …“
„Das weiß ich. Ihr braucht keine Angst zu haben … – Wer hat euch den Tipp mit der einsamen Villa gegeben?“
„Herr Harst, Sie sind n’ anständiger Herr … Also: den Tipp hatten wir von ’n Kollegen, der zu die Schränker jehört … (Geldschrankeinbrecher) Der hat uns rausjeschickt, – stimmt, baldowern sollten wir …“
„Dachte ich mir … Nun hört mal zu. Der Herr Wonzow dort ist ein Bekannter von uns. – Wart ihr in der Villa?“
„Nee – Jott behüte …! Nur rund rum so … Aber da is nischt zu machen … Überall Gitter, und außerdem …“
„Außerdem?“
„Ihnen jesagt, Herr Harst: Wir haben unsern Freind, den Schränker, dringend abjeraten … Wenn Sie den Herrn Wonzow kennen, dann … (er sprach plötzlich reinstes Deutsch, dieser verlumpte ehemalige Student) … dann werden Sie auch wissen, daß da nicht alles recht geheuer ist …“
„Allerdings … Ihr meint die Hunde in der Villa?“
„Hunde?! Das waren keine Hunde, Herr Harst … Wir waren auf dem Hof und haben durch das eine Fenster in den dunklen Flur geschaut … Da glühten im Finstern zwei Augenpaare, gelbgrün, wie Kuhaugen so groß – noch größer … Das waren andere Biester, Herr Harst … Und da zogen wir denn schleunigst Leine …“ –
Ich überlegte mir diese Angaben Schiller-Karls. Wir beide waren kurz nach den Koksern auf dem Hofe gewesen und dann in die Villa eingedrungen. Und wir hatten keinerlei Tier angetroffen.
„Du sagst die Wahrheit, Schiller-Karl?!“ mahnte Harald etwas zerstreut.
„Bestimmt!“
„Gut denn … da Herr Wonzow wie gesagt unser … Freund ist, möchte ich ihm mitteilen, daß der Schränker Absichten auf die Villa hatte. Ihr sollt dies bestätigen, nichts weiter. Ihr werdet dadurch keinerlei Unannehmlichkeiten haben und erhaltet jeder noch fünfzig Mark.“
„Das läßt sich hören!“ schmunzelte der Schiller-Karl.
Harst verteilte Zigaretten, und während das Auto bereits durch stille Straßen der Spreevororte flitzte, erzählte der gescheiterte Student von seinem allmählichen Niedergang, Stufe um Stufe … –
Drei Minuten vor Mitternacht schritten vier Personen die Chaussee Birkenwalde–Möckritz entlang … –
Wenn ich nur gewußt hätte, was das alles sollte?! Weshalb diese beiden Begleiter, die in der kalten Nacht erbärmlich froren?!
Halb reimte ich mir ja das Richtige zusammen.
Aber die andere Hälfte?!
Februarnacht – draußen im Freien auf leicht beschneiter Chaussee zwischen hohen Zäunen knarrender Kiefern …
Wind trieb die Schneekrümel aus einer vereinzelten Wolke zur Erde … Sonst der Himmel sternenklar …
Rechts von der Chaussee ein weißer Staketenzaun, eine Tannengruppe, eine helle Villa …
Daneben das Gelände der Gärtnerei – ein großes Haus zwischen Beeten, Anpflanzungen, Gewächshäusern … Ein einsames Licht dort im Erdgeschoß, und ich stelle mir vor, wie dort jetzt vielleicht Klein-Uschis Mutter in tränenlosem Schmerz den unbegreiflichen jähen Verlust betrauert: Kuhnert, der dem Guddai-Orden zum Opfer gefallen, der sterben mußte, weil er zu viel gesehen oder gehört hatte. –
Und in der Wonzow-Villa im Hochparterre auch zwei erleuchtete Fenster …
Dicht vor uns gehen die beiden Kokser, Hände auf dem Rücken, als ob sie gefesselt seien: Harsts Befehl!
Dicht hinter ihnen wir beide, zwei Schupobeamte …
So kommen wir langsam an der Villa vorüber …
Es ist genau Mitternacht …
In der kleinen Winternacht dringt der Uhrenschlag irgendeiner Turmuhr deutlich herüber – zwölf Schläge.
Wir sind vorüber.
Schiller-Karl dreht den Kopf.
„Na nu, ick dachte ins Warme zu kommen …! Und nu loofen wir vorbei? Det is doch da die Vilja …“
„Kehrt!“ kommandierte Harst …
Wir … kommen abermals vorüber …
Im Vorgarten der Villa regt sich nichts.
Wir schreiten weiter …
„Kehrt!“ kommandierte Harst.
„Wat soll det?!“ brummt der Kokser-Karl.
Es hilft ihm nichts …
Die Promenade geht weiter …
Vierzig Schritt an der Villa vorbei gen Möckritz, vierzig Schritt gen Birkenwalde …
Ich konnte mir ungefähr vorstellen, in welch peinlicher Verlegenheit dort in der Villa die Herren Obermacher des Guddai-Ordens sich befanden … Sie konnten sich natürlich aus dieser Fensterpromenade zweier Beamten und zweier Häftlinge keinerlei Vers machen, würden zweifellos stark beunruhigt sein und niemals ahnen, daß gerade wir in den Uniformen steckten!
Und – diese Fensterpromenade ging weiter …
Bis etwa um ein Viertel eins ein kleiner Zwischenfall eintrat – durch das Erscheinen eines stämmigen Herrn im Sportpelz, der plötzlich, als wir gerade wieder umkehrten, hinter einem Chausseebaum hervortrat.
„Halt!“
Wir standen still.
Der Herr beleuchtete uns mit einer Taschenlampe.
„Was treiben Sie hier?“ fragte er ebenso scharfen Tones.
Die Stimme kannten wir: ausgerechnet Kriminalkommissar Doktor Pestrin von der Berliner Mordkommission!
Ich war gespannt, wie Harst sich jetzt aus der Affäre ziehen würde.
Er trat auf Pestrin zu …
„Harst!“ flüsterte er ihm zu …
„Ah – nicht möglich!“
„Stören Sie uns bitte nicht. Sie erfahren später alles Nötige …“
„Also – Kuhnert?!“
„Ja und nein …“
„So?! – Stimmt da was in der Wonzow-Villa nicht? – Ich beobachte Sie vier schon eine ganze Weile.“
„Alles stimmt dort … – Sie kennen ja meine etwas absonderlichen Methoden, Doktor – Wiedersehen … Nehmen Sie keinerlei Notiz von uns!“
Wir gingen weiter, und Pestrins Taschenlampe erlosch.
Pestrin – einer der Besten vom Alex! Gut sind sie ja alle dort im roten Polizeipalast, – Elite …! Und leicht haben sie’s weiß Gott nicht.
Unsere Promenade wurde fortgesetzt.
Vor uns brummte Schiller-Karl: „Det war also Pestrin! – Herr Harst, der hat letztens doch den …“
„Schweig!“
Wir kamen an der Villa vorüber. Jetzt waren alle Fenster dunkel.
Die Schneewolke war davongesegelt, und die weißen leichten Schneewehen, die die Sonne morgen so schnell verschlucken würde, erhöhten noch das Dämmerlicht der Sternennacht … Man konnte auf fünfzig Meter ganz gut alles erkennen.
Eine ferne Uhr schlug zwei Schläge …
Halb eins.
Harst sagte leise: „Auch eine halbe Stunde Warten genügt. Unsere Pflicht haben wir erfüllt. Jetzt werde ich den Brief in den Kasten neben der Zaunpforte werfen.“
„Welchen Brief?“
„Den ich daheim nach dem Abendbrot schrieb, letztwillige Verfügung – – an Doktor Shing Guddai. – ‚Wir hatten unser Wort gegeben, um Mitternacht vor der Villa zu sein. Wir hatten zwei Berliner Verbrecher mitgebracht, die den Versuch gemacht hatten, vorige Nacht bei Wonzow einzudringen, um die Gelegenheit zu einem Einbruch größeren Stils auszukundschaften. Da Sie offenbar keinen Wert mehr darauf legen, mit uns in vereinbarter Weise weiter zusammenzuarbeiten, sind unsere Abmachungen nichtig geworden. Betrachten Sie uns daher nach wie vor als … Europäer! Sie verstehen mich. – Harald Harst.‘ – Das steht in dem Briefe, den ich nun wirklich seiner Bestimmung zuführen kann. Ich hatte, ehrlich gesagt, noch immer gefürchtet, daß Guddai uns trotz der Uniformen erkennen und hineinholen würde. Das wäre fatal geworden. Aber – wir haben Glück gehabt, und du wirst zugeben, mein Alter, daß wir ganz so gehandelt haben, wie wir als zukünftige Guddais handeln mußten: wir brachten zwei Verbrecher mit, die es auf die Villa abgesehen hatten!“
Er schritt rasch der Zaunpforte zu. Ich hörte die Klappe des Briefkastens herabfallen.
Meine beiden Häftlinge glotzten Harst fragend entgegen …
„Zum Auto!“ kommandierte Harald.
Das hielt zweihundert Meter weiter an der Chausseebiegung dicht vor den letzten Häusern von Birkenwalde.
Der Chauffeur, der seinen Chauffeurkragen hochgeklappt hatte, schlief. Ich weckte ihn.
„Steigt ein!“ befahl Harst den Koksern. „Chauffeur, Sie bringen die Herren nach Berlin zurück … Hier ist das Fahrgeld – und hier habt ihr jeder den versprochenen Fünfziger … – Macht fix …!“
Er kurbelte selbst den Motor an. Das Auto jagte davon, und wir beide wollten uns seitwärts in die Büsche schlagen …
Stutzten … horchten …
Der Kraftwagen war noch keine dreißig Meter entfernt …
Ein schriller Schrei dort … noch einer …
Stille …
Das Auto verschwand.
Harst packte meinen Arm …
„Schraut, die armen Kerle …!! Schraut, wenn wir mit eingestiegen wären!! – – Fort von hier!“
Wir rannten in den Wald hinein. Helfen konnten wir ja doch nicht mehr. Der Chauffeur – – es war bestimmt nicht derselbe gewesen … Und im Wagen hatte man auf uns gelauert: man – – Guddais Mörder, vielleicht er selbst!
Wir rannten …
Und als ich einen Blick rückwärts warf, traf mich’s wie ein Keulenhieb … Über den hellen Strich der Chaussee setzte ein riesiges graugelbes Tier – – hinter uns drein …
„Harald – – ein … Kunsttier!“ kreischte ich …
Er bog nach rechts ab …
Zufall: hier lag eine vom Sturm halb entwurzelte Kiefer … Ihre Krone hatte sich zwischen zwei anderen Bäumen festgekeilt. Der Wurzelballen stand hoch wie ein Schutzschild aus Geflecht, Moos und Erde …
In das Loch der Wurzelmasse sprangen wir …
Heraus mit den Pistolen.
„Ruhe!“ mahnte Harald … „Ruhe!!“
Ein Trillerpfiff irgendwo in der Nähe – noch einer …
Die Riesenbestie, die da mit Sätzen wie [ein][8] Rennpferd heranjagte, stutzte, machte kehrt …
Noch ein Trillerpfiff …
Stille …
Nur unsere keuchenden Atemzüge, das Rauschen des märkischen Forstes und fernes, fernes Hundegebell.
Harald zog mich aus dem Wurzelloch heraus …
„Weiter, mein Alter … rasch … Ehe sie uns einkreisen …!“
Er fand sich unschwer zurecht. In einer Schonung verbargen wir die Mäntel, Tschakos und Koppeln … Streiften die weichen Mützen über …
Weiter …
Fabrikant Schulze besitzt da unweit dieser Schonung in Birkenwalde noch ein großes eingezäuntes Gartengrundstück, auf dem ein kleines, massives Häuschen steht, das unten nur einen Raum mit Zementfußboden und oben unter dem Dach einen zweiten, ohne Fenster, hat. Dieses Häuschen, mehr Waschküche als Sommerlaube, hatte er auf Haralds Bitte bereits vorgestern für alle Fälle mit mancherlei ausgestattet, was wir für ein Notquartier brauchen konnten.
Unweit des Zaunes machten wir halt. Harst holte das Fläschchen mit dem Terpentinöl hervor. Wir rieben die Schuhsohlen ein und eilten bis zur nächsten Querstraße näherten uns von der anderen Seite wieder dem Grundstück und … waren gleich darauf oben in dem Bodenraum des Häuschens, hatten die Tür nur angelehnt und warteten.
Ich war in Schweiß geraten. Der Schreck beim Anblick des graugelben Untiers saß mir noch in allen Gliedern.
„Kognak – – trink’!“ – Harst reichte mir die Flasche.
Auch er nahm einen gehörigen Schluck.
Wir lagen hier oben auf weicher Holzwolle, und als Harst nun seitwärts tastete, fand er auch die Wolldecken, breitete sie über uns.
Wir spähten nach links, wo die Schonung allmählich in den Hochwald überging.
Eine Dame im Pelz und ein Herr traten plötzlich aus der Schonung auf den Weg. Der Herr führte einen Wolfshund an der Leine, und dieser hatte die Nase dicht am Boden. Sie gingen sehr schnell – genau auf unserer Spur, – aber an der Zaunecke versagte der Hund: Terpentin!
Er lief hin und her …
Suchte … Der scharfe Geruch irritierte ihn …
Bis der Herr sich bückte (der Größe nach konnte es der Radscha sein), sich wieder erhob und die beiden schleunigst umkehrten. Da erst bemerkten wir zwei weitere Gestalten, die im Schatten der Schonung in Bereitschaft gestanden.
Harst sagte zufrieden:
„Nun haben wir die Herrschaften genarrt, sind frei … Da – – sie verschwinden in der Schonung … Und nun wagen wir’s …! Springe hinab …“
„Was willst du?“
„Pestrin suchen … Er ist sicherlich noch irgendwo auf der Chaussee und fraglos nicht allein … Dann dringen wir in die Villa ein … Es muß reiner Tisch gemacht werden, denn …“
Diesem „denn“ folgte nur ein Stöhnen, Keuchen, ein paar raschelnde Laute, ein heiseres Auflachen … kalt, erbarmungslos:
Wie Doktor Shing Guddai lacht!
Bevor ich mit der Schilderung dieser unheimlichen Februarnacht fortfahre, möchte ich hier etwas einfügen, das den Leser darüber aufklären soll, weshalb seinerzeit die deutsche Presse (genau so wie die ausländische) über diese Ereignisse in Birkenwalde fast völlig geschwiegen hat, so daß niemand aus den dürftigen Andeutungen über die „große asiatische Verschwörung“ einen Zusammenhang mit dem Tode Kuhnerts und dem des Chauffeurs Hermann Batt und der beiden armen Teufel von Koksern entdecken konnte. – Heute, wo all das längst vom Publikum vergessen ist, lüfte ich im Einverständnis mit den zuständigen Stellen den undurchsichtigen Schleier eines der packendsten Geheimnisse mit politischem Hintergrund. Heute werden alle die, die sich noch auf die Zeitungsnotizen über Gamderlans seltsame Menagerie besinnen, erst verstehen, was in Wahrheit hinter diesen unklaren Angaben über „Raubtiere ungewöhnlicher Art“ sich verbarg: ein Teil des Kampfes gegen Shing Guddai, gegen ganz Asien, gegen fanatische, skrupellose Idealisten, gegen Freiheitsstreiter, denen man trotz allem die Achtung nicht versagen darf! – Die Regierungen waren damals überein gekommen, der Öffentlichkeit die scheinbar phantastischen Ziele des Guddai-Ordens vorläufig zu verschweigen, zumal Japan schwer kompromittiert war und auch Siam, Afghanistan und Kaschmir sowie einige andere asiatische Staaten in ähnlicher Weise ihre fleckige Weste verbergen mußten. Jetzt darf ich – mit gewissen Einschränkungen – der Welt die Augen öffnen und beweisen, daß Doktor Guddai nach drei Jahren einen Krieg entfacht haben würde, gegen den der Weltkrieg eine harmlose Schießerei gewesen wäre. – Daß dieses Massenmorden verhindert wurde, war weniger Haralds Verdienst. Eine Frau starb durch eigene Hand, und ihr Tod zerfetzte Guddais Riesenpläne zu jämmerlichen Stücken … –
Wenn ich hier in meinem Schreibsessel heute an jene Tage zurückdenke, wo wir beide ganz allein den Kampf gegen Guddai ausfochten, wenn ich mir überlege, wie recht Harald hatte, als er vorhin meinte, die Geschichte des Guddai-Ordens müßte von einem Historiker aufgezeichnet werden, der mehr als ich armseliger Chronist die Fähigkeit besitzt, ein Weltdrama in nüchternen Farben doppelt eindrucksvoll zu malen, dann – – möchte ich beinahe die Feder weglegen und … verzichten …
Ich kann ja doch nur in großen Zügen die Akte dieses Dramas schildern und die Akteure kaum leidlich skizzieren.
Immerhin: Nur ich darf den Schleier lüften, nur Harst und ich wissen, was wir verraten dürfen und was nicht … –
Weiter also …
Stöhnen, Keuchen, – – der stille nervenpeitschende Lärm eines vergeblichen Ringens in knisternder Holzwolle …
Wie viele es waren, die da urplötzlich sich über mich geworfen hatten, mich würgten, – ich wußte es nicht.
Aus der Finsternis des Bodenraumes waren sie gekommen …
Der Griff um meine Kehle war Eisenzange. Mein schwindendes Bewußtsein nahm als letzten unauslöschlichen Eindruck ein paar harte, erbarmungslose Worte aus Doktor Shing Guddais Munde in das Nichts körperlicher und geistiger Wesenlosigkeit mit hinüber – Worte in jenem asiatischen Hafenslang aus Sprachbrocken aller[9] Länder:
„In den See mit ihnen!!“ –
Und ich kam wieder zu mir …
Ich, ein Bündel, mit Draht umschnürt, mit einem Tuche als Knebel im Munde, das ebenso roh mit Draht über die Wangen hin befestigt war … Die im Genick zusammengedrehten Drahtenden stachen in die Haut, und dieser Schmerz wie von stumpfen Nadeln, die ruckweise tiefer getrieben werden, mochte mich vielleicht rascher ins Leben zurückgerufen haben.
Ruckweise …
Und diese Rucke waren das Schaukeln eines Bootes, das durch Ruder vorwärtsgetrieben wurde.
Es mußte ein plumper großer Fischerkahn sein. Er hatte offenbar keine Metalldollen, sondern Holzpflöcke, zwischen denen die Ruder sich bewegten. Ich merkte dies an dem leisen Knarren und Quietschen. – Der Kahn roch nach Teer. Aber noch ein anderer Geruch, weit stärker, belästigte meine gereizten Nerven: Patschuli, unverkennbar Patschuli, jenes in Rußland so beliebte Parfüm, dessen Aufdringlichkeit dem Geschmack dessen, der es benutzt, kein gutes Zeugnis ausstellt. Es war dasselbe Parfüm, das schon im Radschaschlosse in Bawari, als wir Doktor Guddai und den Fürsten endgültig ausgeschaltet zu haben glaubten, eine gewisse Rolle gespielt hatte. Fanny Aldow hatte es benutzt, und ich ging wohl nicht fehl, wenn ich annahm, mein Knebel sei ein Stück von der intimen Garderobe der berühmten russischen Sängerin, die sich und ihren Juwelenschatz aus heißer Liebe zu dem Radscha dem Orden zur Verfügung gestellt hatte. –
Meine Gedanken klärten sich immer mehr …
Ich lag auf den harten Bodenbrettern des Nachens auf dem Rücken – – ein Bündel, ein Mensch, zum Tode bestimmt.
Guddais Nachsicht und Geduld war zu Ende. Wir sollten verschwinden. Der Möckritz-See war ja so nahe …
Ich sah nichts …
Ich hatte einen Zeugfetzen über den Augen …
Aber mein Gehör war schärfer denn je. Die anderen Sinne schienen bis auf das Gefühl und den Geruch tot zu sein. Das Gehör arbeitete doppelt so gut.
Der Kahn konnte nur von einer einzelnen Person gerudert werden, die davon nicht viel verstand. Eine unwillige leise Stimme gab zuweilen die Richtung an – russisch …
„Mehr links … mehr rechts …“
Die Stimme war die Fanny Aldows. –
Die körperliche Schlaffheit verging … Ich wurde allmählich von einer wahren Gier gepackt, hier nicht etwa untätig abzuwarten, bis das Äußerste eintrat, bis man uns ins Wasser schleuderte. Denn daß Harald mit in dem Nachen war, erschien mir selbstverständlich.
Da – wieder die gedämpfte Stimme …
Wieder russisch … Was ich von dieser schwer zu erlernenden Sprache gelegentlich aufgeschnappt habe, ist wenig. Trotzdem verstand ich den Befehl:
„Binde die Steine an die Füße, Iwan!“
Iwan? – Ob das etwa Wonzow war? Ob aber die Sängerin ihren Landsmann in dieser Weise kommandieren würde?
Und – sollte ich jetzt nicht, wo das Geräusch der Ruder verstummte und mir’s zur Gewißheit machte, daß außer uns nur zwei Personen in dem Nachen, wenigstens den Versuch wagen, trotz meiner Hilflosigkeit mich zur Wehr zu setzen?
Die Ruder polterten auf die Sitzbretter.
„Mach schnell!“ rief die Aldow ungeduldig …
Iwan brummte etwas …
Dann … ein kurzer Aufschrei …
Ein Aufspritzen des Wassers …
Ich fuhr mit einem Ruck hoch …
Harst hatte bereits eingegriffen … Iwan war über Bord geflogen …
Und hinter mir, dicht hinter mir mußte die Sängerin sitzen …
Hoch mit dem Oberkörper …
Beine angezogen …
Mit den Beinen abgestoßen …
Mein Kopf ein Rammbock …
Und ich traf …
Ein zweiter Schrei …
Mein Schädel mußte die Aldow gerade unter der Brust getroffen haben …
Sie mußte hintenüber gestürzt sein. Ihr Fuß schlug gegen mein Ohr …
Hier ging’s ums Leben …
Rücksicht?! – – eine Torheit!
Ich schnellte herum, über die Bank hinweg … Ich wollte mit der Last meines Leibes die Sängerin niederhalten … Ich fiel weich … Mein Kopf fuhr ihr unter das Kinn …
Ein neuer Schrei …
Und – wehrlos wie ich war, benutzte ich die einzige natürliche Waffe weiter, die mir zur Verfügung stand …: meinen Schädel … –
Gentleman gegenüber Damen – – gewiß! Aber nicht in einer Situation wie dieser …
Ich wollte nochmals Rammbock spielen … Mir war alles gleichgültig. Der Lebenstrieb schafft Berserkerwut …
Wollte …
Aber die weiche Masse unter mir, der warme Frauenkörper regte sich nicht … Das halb über der Bank hängende Knie stieß an meine Schulter – regte sich nicht.
Sollte der Kinnstoß so nachhaltig gewirkt haben?! – Unbehagen beschlich mich …
Dann … Geräusche hinter mir …
Und der Nachen schwankte gleichzeitig, neigte sich nach einer Seite …
Iwan!!
Harst hatte ihn ins Wasser gestoßen – auch mit Hilfe des Kopfes …
Harst war gefesselt wie ich, mußte es sein, sonst hätte er sich längst gemeldet …
Und Iwan hing nun am Bootsrand, wollte sich wieder hineinschwingen …
Wohlverstanden, ich sah noch immer nichts! Der verdammte Lappen machte mich noch immer blind … Wenn ich ihn nur irgendwie hätte abstreifen können …
Wie?!
Der Kahn neigte sich noch mehr …
Ich rutschte nach rechts …
Da bohrte sich etwas durch die Augenbinde – etwas Scharfes, Spitzes …
Berührte mein linkes Augenlid … Ich prallte mit dem Kopf in automatischer Bewegung zurück, um mein Auge zu schützen …
Schnarrend riß der Stoff … Eine Spalte klaffte in dem Lappen, ein Sehschlitz. Ich sah – – mit dem linken Auge nur … Aber ich sah …
Einen Mann halbrechts – ein im Sternenschein flimmerndes Messer …
Iwan wollte, sich nur mit der einen Hand festklammernd, nach Harst stoßen …
Meine gefesselten Beine schwangen blitzschnell herum … trafen den Feind mitten ins Gesicht, – – die derben Winterschnürstiefel waren nicht zart wie Frauenhändchen …
Der Mann verlor den Halt, glitt ins Wasser zurück …
Dieselben Stiefel trommelten auf seine Finger, bis er losließ …
Der Kahn schwankte … richtete sich wieder auf …
Ein Blick auf die Frauengestalt halb unter mir … Es war Fanny Aldow, es war die Dame im Pelz von vorhin, und vorn im hochgeschlossenen Pelzkragen blinkte eine mattgoldene große Spange in Halbmondform. Die hatte mir das Tuch zerrissen, mich sehend gemacht … –
Kampf ums nackte Leben … Stiller, wilder Kampf, wortlos, begleitet von keuchenden Atemzügen … Leben um Leben … rücksichtslos, erbarmungslos, Krieg, unheimlicher Kleinkrieg mitten auf düsterem winterlichen See …
… Da tauchten wieder die Hände über dem Nachenrand auf …
Zwischen ihnen ein nasser Kopf …
Blinzelnde Augen … schreckhaft sich weitend, als meine Füße, meine Schuhe wie ein Schmiedehammer herabsausten …
Armer Teufel …!
Er packte den Nachenrand …
Mit letzter Kraft …
Er gurgelte hervor:
„Ich … tue … Ihnen … nichts!“
Deutsch … mit dem harten Akzent des Russen …
„Ich … tue … Ihnen … nichts!“ wiederholte er und schnappte nach Luft …
Erbarmen nahm mir den Mut zur Notwehr …
Ich zögerte …
Da – Harsts vorgebeugter Kopf macht eine unwillige Bewegung …
Ich verstehe: Kein Erbarmen! – –
Es war Notwehr … Der Mann hatte das Messer noch in der Rechten … Der Mann hätte uns mit zwei Stichen abgetan …
Ein schriller Schrei – wie von einer träge schwebenden Möwe[10] …
Der Kopf sackt unter dem Hiebe herab … Die Finger krallen sich noch fest …
Noch …
Nein – – ich bringe es doch nicht fertig, auch diesen Fingern den letzten Halt zu rauben … Ich rutsche – – knie hinter Harst …
Meine Zähne suchen die Drahtenden seiner Handfesseln … Meine Zähne sind Zange … drehen … beißen … drehen …
Mein linkes freies Auge blinzelt nach den hellen Fingern am Bootsrand … Iwans Kops hängt tief – Noch wagte er’s nicht, den Kopf zu heben, aber daß seine Kräfte zurückkehren: die Finger greifen höher, klammern sich fester …
Zähne … Zange …
Gute Zähne …
Mißtrauisches linkes Auge …
Wehe dir, wenn du dich emporschwingen willst, Iwan!!
Der Draht ist isolierter Kupferdraht, neun Millimeter Stärke … Klingeldraht.
Und dann … die letzte Windung …
Ein Ruck Harsts …
Er hat die Hände frei … Er schwingt die Hände nach vorn – nach oben, reißt sich den Lappen vom Gesicht, den Knebel aus dem Munde … Dann ein Griff … Er hat Iwans Messer … Seine Füße sind frei …
Und – – ich bin frei …
Zwei jetzt im Boot als Sieger …
Wir zerren Iwan hinein.
Ein völlig fremdes junges Gesicht mit Mongolenmerkmalen … unverkennbar ein Bewohner der innerasiatischen Steppen, vielleicht ein Baschkire …
„Drehe die Drahtenden zusammen,“ befiehlt Harald mir.
Iwan sitzt gefesselt da – stumpfsinnig, zähneklappernd … aber in den schwarzen Augenschlitzen glüht der Haß.
Wir heben Fanny Aldow empor. Sie ist bewußtlos …
Harst betastet ihren Pelz …
Ich betaste Iwans Taschen, und wir haben jeder eine Repetierpistole, ein Messer und eine Taschenlampe … Was man uns abgenommen, ist wieder ergänzt.
„Rudere!“ sagt Harst. „Dort nach drüben …!“
Wir landen Möckritz gegenüber zwischen ein paar Erlen.
Fanny Aldow kommt zu sich. Harst hat sich um sie bemüht, während ich die plumpen Ruder durch das blinkende Wasser zog. Der Himmel ist klar, und das Weltall zeigt uns seine Millionen von Rätseln in Millionen flammender Pünktchen.
Am Horizont schwebt die stark gekrümmte gelbe Banane der Nacht, der friedliche Mond.
Ringsum Wasser, tote Felder …
Fanny Aldows blasses Gesicht mit der dickgeschwollenen Unterlippe geistert im Schatten der Erlen als heller Fleck über weichem Nerz …
„Ein unerwünschtes Wiedersehen,“ sagt Harst zu ihr und spielt mit der geborgten Pistole. „Danken Sie es Leuten, denen Sie einst in Bawari als Bittende gegenüberstanden, immer in dieser Weise, Frau Aldow?!“
Sie schweigt.
Sie müßte schamrot werden, wenn sie an jene Nacht im Schlosse Bawari denkt …
Sie schweigt, – nur ihre Augen antworten, graublaue Augen mit dem weichen Blick der Russinnen – jetzt mit einem Blick, der morden möchte.
Harst spielt mit der Pistole, läßt die Sicherung knackend hin und her schnellen.
Die Stille wird peinlich, fällt auf die Nerven.
Harst scheint Zeit zu haben.
Ich knete meine Handgelenke … Ich betaste mein blutiges zerstochenes Genick.
Die Stille reizt, – solche Stille wird zu innerem Tosen …
Die Aldow fragt explosiv: „Was wollen Sie tun?“
„Merkwürdige Frage …!“ – Die Sicherung knackt – knackt …
„Sie wollen Iwan und mich der Polizei übergeben!“
„Das täte nur ein Anfänger …“
Sie wird stutzig. – „Wie meinen Sie das?!“
„Ich werde Sie freigeben, wenn Sie mir wahrheitsgemäß ein paar Fragen beantworten.“
„Das darf ich nicht, – und wenn Sie mich erschießen würden!“
„Seien Sie nicht kindisch, Frau Aldow. Erschießen?! Wozu?! Polizei – – wozu?! – Ich werde Sie beide sicherstellen – für mich … auf meine Art … Der Bodenraum in dem Häuschen auf Schulzes Gartengrundstück, der Doktor Guddais Spionen nicht entgangen war und den Guddai richtig bewertet hat, weil Schulze die Decken und das andere wohl etwas unvorsichtig dorthin schaffte, – dort sind Sie beide tadellos aufgehoben, falls Sie nicht antworten wollen.“
„Fragen Sie, Herr Harst …“
„Lügen Sie, so entgehen Sie dem Bodenraum nicht … Also …!! – Ich frage … – Was sollten Sie beide tun, nachdem Sie uns ersäuft hatten?“
„Natürlich in die Villa zurückkehren!“
„Erste Lüge!“
„Nein – es ist die Wahrheit …“
„Schämen Sie sich! – Es ist Lüge … Weshalb hatten Sie ausgerechnet von meinen Sachen mein Schlüsselbund in Ihrer Pelztasche?“
Die Aldow greift unwillkürlich nach der Tasche. Harst lacht …
„Die Schlüssel habe ich … Und auch das Blatt Papier mit der Skizze meiner Wohnung … Bitte – – hier! Und hier im Oberstock ist ein Zimmer angekreuzt. Dort schläft meine Mutter. Sie sollten meine Mutter entführen, Sie beide – noch in dieser Nacht, weil Guddai fürchten mag, ich könnte meiner Mutter zu viel anvertraut haben …“
„Sie … phantasieren!“
„Sie … lügen …! Im Grunde käme beides auf eins hinaus. Phantasie ist dichterische Lüge … Ich bin ein sehr nüchterner Kopf, ein kühler Rechner. – Nun – habe ich recht?“
Sie blieb stumm.
„Auch eine Antwort!“ nickt Harst. „Wohin sollten Sie meine Mutter bringen?“
„In die Villa …“
Er lacht wieder … „Müssen Sie mich für naiv halten!! – Wohin, – – die Wahrheit!“
Die Erlen über uns beginnen zu knarren … Wind kommt auf … Der See plätschert gegen den Kahn.
„Wohin?!“
Sie bleibt stumm.
„Schraut …! Rudere drüben auf das einsame Licht zu. Es muß die letzte Strandvilla von Möckritz sein …“
„Herr Harst!“
„Sie wünschen, Frau Aldow?“
„Ich … ich möchte Sie … unter vier Augen sprechen.“
„Nicht nötig. Was Sie mir zu sagen hätten, weiß ich bereits.“
„Unmöglich!“
„Ich weiß es, glauben Sie mir. – Sie beide sind reif für den Bodenraum. – Schraut, rudere …!“
Ich stoße vom Ufer ab …
Harst dreht Drahtstücke zusammen …
„Ihre Hände, Frau Aldow …! Bitte, keine Umstände …“
Sie läßt sich fesseln.
Ich rudere … Der eisige Wind kühlt mir den heißen Kopf … Mein Genick schmerzt. Flüchtig denke ich an eine Blutvergiftung.
„Herr Harst …“
„Bitte …“
„Lassen Sie sich nur ein paar Worte zuflüstern, und die Situation ist … geklärt.“
Was meint sie damit?!
„Ich verzichte, Frau Aldow … Sie sind mir sicher – in jeder Beziehung! Und noch vor Morgengrauen wird die Villa Wonzow ihre letzten Geheimnisse hergeben müssen …“
Sie bittet weiter … „Nur ein paar Worte …!“
„Schweigen Sie!“
Da gibt sie es auf.
Wir landen neben dem Grundstück am Walde …
Ein stiller vorsichtiger Marsch beginnt. Harst voran, dann die Sängerin, Iwan, – ich als letzter. Iwan hat sich widersetzen wollen … Ein paar Rippenstöße und die Drohung mit der Polizei genügten.
Stiller Marsch gen Birkenwalde – zwanzig Minuten …
Wir erreichen die Schonung, den Zaun …
Haben unsere Gefangenen oben im Bodenraum. Ich lauschte. Harst fesselt sie an die Dielen … bedeckt sie mit Holzwolle, Decken …
Daß sie nicht um Hilfe rufen werden – das ist gewiß! Die Polizei – – nur das nicht! Die Polizei wäre für sie das Ende …
„Frau Aldow,“ sagt Harst, bevor wir uns entfernten, „Sie werden hier nicht frieren … Wenn Iwan sich eine Lungenentzündung holt, wir sind schuldlos. – Auf Wiedersehen …“
„Herr Harst, ich …“
„Geben Sie sich keine Mühe … Ich – bin nun – – gänzlich im Bilde, glauben Sie mir!“
Dann sind wir unten im Garten, klettern über den Eisenzaun …
In der Schonung macht Harald halt.
„Wenn die beiden nach zehn Minuten frei sind, mein Alter, und das können sie, so wie ich sie gefesselt habe, werden sie uns folgen … Aber dann wird das Drama wohl bereits beim Schlußkapitel angelangt sein.“ – Er zieht Frau Aldows Zigarettenetui aus der Tasche … „Bitte, bediene dich … Die Zigarette ist das Morphium der Gesunden, der Nervenstarken … – So … weiter … Nicht übel, die Zigarette … – Du überschaust doch die Lage? – Der Orden glaubt uns erledigt, glaubt, daß alle hinüber sind, die den Verdacht auf die Villa Wonzow lenken könnten. Ich fürchte sehr für Doktor Pestrin … Vielleicht zählt auch er zu den Opfern. Die Herrschaften fackeln ja nicht lange. Hier geht es ums Ganze, hier kämpft Guddai um das Fundament, sein Werk aufs neue aufzubauen …!“
„Willst du etwa allein in die Villa eindringen?“
„Ja … List gegen List … Sei ohne Sorge … Die Herrschaften dort fühlen sich sicher, und unser Erscheinen wird eine solche Verblüffung auslösen, daß wir gewonnenes Spiel haben werden, bevor noch eine Kugel oder dergleichen uns stumm macht.“
„Hm … man wird uns wohl kaum zu Worte kommen lassen …“
„Oh – – man wird, man wird, mein Alter … Ich habe ein Eisen im Feuer, das in Weißglut steht … Es genügt … – – da ist schon die Chaussee … Der Himmel wird wolkig … Es wird wieder schneien … Die Flocken werden morgen auftauen, und sie werden dann Shing Guddais Tränen über den endgültigen Fehlschlag seiner Hoffnungen sein … – Die Villa … Ah – zwei Fenster erleuchtet … Die Herrschaften warten …“
Neben dem Briefkasten, der vor zwei Stunden Haralds Brief verschluckt hat, leuchtet der weiße Knopf der elektrischen Glocke.
Harst läutet … läutet …
Zündet sich dann eine neue Zigarette an und meint: „Rauche nur auch, mein Alter … Es macht einen besseren Eindruck … Und ziehe dir die in der Holzwolle glücklich wiedergefundene Mütze mehr aus der Stirn. Du siehst wie ein Bauernfänger vom Schlesischen Bahnhof aus.“
„Danke – sehr liebenswürdig. – Bist du wirklich in so glänzender Laune?!“
„Wenn ich im Ärmel eine Repetierpistole mit neun Schuß und ein gewisses Stück Papier im anderen Ärmelaufschlag habe – – allerdings! – Man kommt …“
Ja – die Haustür hatte sich geöffnet, und ein Herr eilte zur Pforte …
Durch die Gitterstäbe erkannte ich des Radschas schlanke gemessene Gelenkigkeit.
Er steht …
„Wie – – Harst?!“
Er stottert … – Harst stößt hervor:
„Ja, öffnen Sie schnell … Verrat …!!“
Seine tote Hoheit haben sich schon wieder gefaßt …
„Verrat …?! – Wie meinen Sie das? – Gerade Sie wollen uns warnen, der …“
„Gerade ich!! Öffnen Sie!“
„Nein …! Ich werde …“ – er weiß nicht recht, was er sagen soll … Daß wir beide, die er längst auf dem Grunde des Möckritz-Sees vermutet, jählings hier auftauchen, nimmt auch ihm die Schlagfertigkeit. Er ist dieser Situation gegenüber hilflos … Er möchte drohen, möchte fragen, wie wir freigekommen sind, was aus Fanny Aldow und Iwan geworden …
Über uns am Torbogen ist plötzlich eine starkkerzige Lampe aufgeflammt. Sie bescheint das hellbraune, müde, klassisch-schöne Gesicht dieses heimatlosen Asiaten, der für seine Millionen von Brüdern alles hingab: sein kleines Reich, die alte Burg seiner Ahnen und – auch sein Leben opfern würde dem einen gewaltigen, verzehrenden Gefühl, dem einen, das der Liebe am engsten verwandt: Rassenhaß!
Die peinliche Pause unterbricht Harst …
„Hoheit, wenn ich mich hier in die Villa Wonzow wagen will, so können Sie sich wohl denken, daß ich Sie tatsächlich warnen kann! – Führen Sie uns zu Doktor Guddai. Fürchten Sie keinerlei Verrat. Mein Wort. Schraut und ich sind allein! Der Kriminalkommissar, der vor zwei Stunden – oder drei hier auf der Chaussee …“
Der Radscha wehrt jedes weitere Wort mit der Hand ab … „Die fürchten wir nicht mehr, Herr Harst …Nur Ihre Doppelzüngigkeit …!“
Harald preßt das Gesicht an das trennende Gitter. „Überlegen Sie, was Sie reden!! Ich hatte mein Versprechen gehalten. Schraut und ich waren um Mitternacht zur Stelle. Die beiden Berliner Verbrecher …“
„Schon gut … Der eine konnte noch ein Geständnis ablegen. – Ich nehme den Ausdruck Doppelzüngigkeit zurück. Aber – Sie sind uns zu … schlau! Freilich, wenn Sie Ihr Wort geben, daß nicht etwa hinter Ihnen ein Trupp Beamter lauert, der …“
„Keine Rede davon … Und damit Sie endlich klar sehen: Die Verräterin ist Frau Fanny Aldow, ferner Wonzow und die Mongolen, besser – die mongolischen Russen …“
Der Fürst prallt zurück. Der Hieb sitzt. – Ich – ich ahne nicht, wo das alles hinaus soll …
Und er öffnet die Pforte … Schließt hinter uns ab, geht still voran, den Kopf gesenkt, verloren in bange Gedanken … –
Wir kennen die Villa von zweimaligem nächtlichen Besuch, wir kennen dieses Arbeitszimmer Wonzows mit seiner gediegenen düsteren Ausstattung. Über dem Schreibtisch hängt ein großer Kupferdruck nach dem berühmten Gemälde des Russen Wereschtschagin: Die Erschießung von sechs Nihilisten, im Hintergrunde die Umrisse des Kremls und ein Kirchhof – alles im bleichen Mondlicht einer froststarrenden Winternacht. – Neben diesem Kupferdruck zwei Berühmtheiten aus Rußlands Gegenwart in breiten schwarzen Eichenrahmen, zwei Politiker, die das morsche Zarentum hinwegfegten wie muffige Spinngewebe.
In diesem großen zweifenstrigen Raum duftet es nach Zigaretten und Grog … In fünf Sesseln um den Kaminofen, dessen Tür offensteht und Glutwellen roter Preßkohlen hinausfaucht, sitzen fünf Männer … Erheben sich …
Ein Blick über ihre Gesichter hin: es sind drei Juden und zwei Mongolen … Alle fünf in dunklen Anzügen, unauffällig elegant …
Der Fürst hat sich hinter uns an die Tür gelehnt … In seinem tadellosen Englisch sagte er, ganz Weltmann:
„Die Herren gestatten … Hier die Herren Harst und Schraut, die uns Wichtiges mitzuteilen haben, – dort der persische Fürst Mirza Gandu (das war der kleinere der Mongolen), – dort Seine Durchlaucht Prinz Osman Ali (der andere Mongole), …“ – und dann nennt er drei indische Namen …
Ich höre kaum hin, denn meine Aufmerksamkeit gilt den Handbewegungen der fünf Asiaten, die langsam aus den Schlüsseltaschen ihrer Beinkleider dasselbe hervorholten, was Harst im rechten Ärmel trägt.
Prinz Osman Ali (ich möchte wetten, daß er Chinesenblut in den Adern hat!) fragt den Radscha – und seine Kaltschnäuzigkeit ist mustergültig: „Was sollen die Herren hier?!“ Er zuckt die Achseln … „Über die beiden war doch bereits bestimmt worden … – Und wo ist denn Wonzow? Er hatte doch draußen die Wache …“
„Er mag hinten im Hofe sein,“ meint der Radscha, und seine Miene ist unangenehm eintönig … Ich begreife weshalb: die Guddais hier glauben die Füchse im Fangeisen zu haben … Somit können sie mit uns anscheinend nach Gutdünken umspringen …! –
„Bitte nehmen Sie Platz …“ – Der Radscha deutet auf das Klubsofa an der Hinterwand.
Die Szene gleicht einem Katz- und Maus-Spiel. Zwei gegen sechs, die jeden Moment uns niederknallen können …
Aber Harald muß wohl seiner Sache sehr sicher sein. „Sie erlauben, daß ich weiterrauche … Es wäre schade um diese gute Zigarette, die mir Frau Aldow spendete.“ Er setzt sich … Ich verzichte auf das Sofa und lehne mich an die gepolsterte Seitenwand. Das braune Rindleder knarrt ein wenig, und im Ofen rutscht eine Preßkohle nach vorn und streut knisternde Fünkchen in den breiten Messingvorsatz.
Asien versinkt wieder in die fünf weichen Sessel, bis auf den Radscha, der seine Pistole zerstreut mustert.
„Wo ist Doktor Guddai?“ fragt Harst. Diese Einleitung erscheint ein wenig kühn. Asien rechts von uns zeigt Mißmut.
„Fragen haben wir zu stellen,“ meint Seine Durchlaucht Prinz Osman Ali …
„Sie irren,“ erwidert Harald. „Bevor ich jedoch meine Warnung hier an den Mann bringe, möchte ich bitten, daß die Waffen verschwinden. Sie sind sechs gegen zwei, meine Herren … Stellen Sie sich also kein Armutszeugnis aus. Ich komme ja auch nicht als Feind.“
Asien zaudert. Aber der Radscha schiebt dann als erster die Pistole in die Tasche zurück. Die anderen richten sich nach ihm, und die Situation wandelt sich.
„So,“ sagt Harst und wendet sich dem Fürsten von Bawari zu. „Ich will Ihnen nun schildern, wie wir dem nassen Tode entrannen …“ Und er tut’s mit knappen Sätzen, bleibt bei der Wahrheit, schließt: „Frau Aldow und Iwan liegen jetzt also dort in dem Bodenraum, meine Herren. Als ich Frau Aldow wieder ins Bewußtsein zurückrief, fand ich in ihren Kleidern außer dem Schlüsselbund und der Skizze meiner Wohnung dies hier …“
Er faßt in den linken Ärmelaufschlag und reicht dem Radscha ein kaum handgroßes zusammengefaltetes Blatt …
In demselben Augenblick ertönt vor den Fenstern das schlecht nachgeahmte überlaute Krächzen einer hungrigen Winterkrähe.
Ich sehe, wie auf dieses Signal hin die Köpfe der beiden Mongolen herumfliegen … In ihren Zügen zeigt sich Unruhe …
In Harsts Hand erscheint etwas Dunkles, matt Blinkendes.
Der Radscha hat das Papier, das ich nicht kenne, bereits überflogen, tritt zwei Schritte vor, ist aschgrau geworden …
Die beiden Mongolen schielen zum Fenster …
Harst ruft: „Bleiben Sie sitzen!! – Hoheit, Iwan, die beiden, Wonzow und …“
Der Radscha hat schon seine Pistole herausgerissen …
Seine Linke wirft den drei Indern den Zettel zu …
Grau, kittig, geduckte Bestien – die beiden Mongolen …
Eine Faust donnert gegen die Tür …
Eine Stimme vom Flur: „Öffnet – – öffnet …!“
Der Radscha schließt auf … Herein stürzt Fanny Aldow … Ihre geisterhafte Blässe, ihre halb irren Augen – – und dann hat sie den Zettel in der Hand des einen Inders bemerkt …
Sie eilt auf den Fürsten zu …
Ein Schluchzen … die Lippen versagen, die Zunge stammelt …
Aber Bara Dhug Chassis eisiger Blick läßt ihre flehend erhobenen Arme herabsinken …
Ich beobachte nur dieses schöne Weib, deren Verzweiflung grenzenlos sein muß – – weshalb?! – Dann findet sie Worte – ein Aufschrei, den selbst der harte Knall zweier Schüsse nicht abschwächt …
„Ich liebe dich!! Du bist mir mehr als …“
Ich stiere zur Gruppe am Ofen … Die beiden Mongolen sind aus den Sesseln nach vorn gesunken … Aus ihren Schläfen sickern rote Tropfen …
„Ich – verachte dich, Spionin!“ sagt der Radscha kalt …
Und all das wie ein böser, gräßlicher Traum ohne Zusammenhang …
Was dann folgt: die Schlußszene einer heißen Leidenschaft …
Wieder der schrille Aufschrei …
„Vielleicht sühnt’s der Tod …!“ – – Woher sie die Waffe hatte – vielleicht von Wonzow draußen …
Harst springt zu … Aber der Radscha fängt die Umsinkende auf …
In der allgemeinen Verwirrung zieht er mich zur Tür – in den Flur – zur Haustür hinab, stößt sie auf, reißt mich zurück … Wieder die Stufen empor – hinauf in den ersten Stock …
Oben im Dunkeln stehen wir … Unten Stimmen – hinaus in den Vorgarten – schnell verhallend …
Harst schaltet die Taschenlampe ein … Hier im oberen Flur beleuchtet er den Boden … Der Plüschläufer ist mit Nägeln befestigt. Mitten im Flur ein eingesetztes Stück – an den Rändern je sechs Teppichnägel. Harst bückt sich … Das eingeflickte Stück bauscht sich unter seinen Fingern … Er zieht – zieht es samt einem gleich großen Stück der Dielen empor …
Eine Falltür …
„Warte …!“ Er turnt hinab …
Ich fühle die Schweißperlen auf der Stirn … Meine Hände flattern … Und – von unten her ein dumpfer Knall, der vierte Schuß im Herrenzimmer Wonzows in dieser Nacht …
Harald, Pestrin, zwei Kriminalbeamte klettern nach oben.
Doktor Pestrins Stirn ist blutig …
„Dank, Harst!“ – und er jagt der Treppe zu …
Wir finden im Herrenzimmer … vier Tote. Bara Dhug Chassi liegt quer über der Leiche der Geliebten … Und vor dem Kamin zwischen den Mongolen jenes Papier … Ich hebe es auf …
Stempel, Photographien kleinen Formats … Aufdruck … Unterschriften …
Ein Ausweis für eine kleine Schar blind ergebener Anhänger des Riesenreiches, das über den Ural hinweg seine starken Arme bis ins Herz Asiens reckt und niemals geduldet hätte, daß Asien den Asiaten gehörte …
Da begreife ich … Mein Blick sucht die starren verschlossenen Gesichter über dem Schreibtisch … Wonzow, die Aldow: sie sind dem Zauber neuer Ideen, eines neuen politischen Problems trotz früherer engster Beziehungen zu einer ausgelöschten Dynastie verfallen gewesen, sie haben dem Orden auf ihre Weise gedient – als Spione des gewaltigen Riesen, der sich Asien nicht aus den Krallen winden lassen wollte – durch einen Shing Guddai …
Dies Papier war Harsts Eisen in Weißglut.
Als ich ihn jetzt aber anschaue, lese ich in seinen Mienen nur die Verstörtheit über diesen unbeabsichtigten Ausgang … Die Liebe hat ihm einen Strich durch seine unblutige Rechnung gemacht.
Drei Uhr morgens …
Es hat aufgehört zu schneien. Der Mond wirft helle Kringel auf die dünne Schneedecke zwischen den Kiefern. Wir beide schreiten halb gebückt auf einer klar ausgeprägten Doppelspur dahin – ins Ungewisse hinein – in die Wälder östlich von Birkenwalde …
Die Doppelfährte ist die Wonzows und Iwans. Muß es sein. Pestrin und seine Leute verfolgen die andere Spur, die der drei Inder, die niemals gefunden wurden … Über den See sind sie entwischt, erfahren wir später … –
„Harald …“
Die Kiefern rauschen die Begleitung.
„Ich weiß, was du fragen willst, mein Alter … Nach Gamderlans Menagerie … Wir werden durch Wonzow und Iwan Gamderlan finden, und Gamderlan ist Doktor Guddai.“
„Aber – – die Riesentiere – wozu?!“
„Wenn du dir’s genau überlegst, es gibt nur eine Deutung … – Schneller …! wir müssen unser Letztes hergeben, wir dürfen nicht später als Wonzow und Iwan zur Stelle sein. Sie wissen, wo Gamderlan mit den drei Wagen, den elenden Kleppern und … all dem anderen zu finden ist …“
Er trabt … Ich trabe … keuche … Mein Kopf glüht …
All dem anderen?! Was?! –
Der Schnee liegt so dünn, und es ist Indianerkunst, die Spur nicht zu verlieren …
Harst fällt wieder in Schritt …
„Wenn ich’s geahnt hätte …!!“ sagt er dumpf … „So sollten die beiden nicht sterben … So nicht …! Überhaupt nicht sterben … Und doch – vielleicht ist es so am besten … Im Zuchthaus dahinsiechen … ein Radscha von Bawari – undenkbar! Idealisten – blind vor Haß und Fanatismus …“
„Harald, wozu die Tiere?!“
Er greift in die Tasche … zieht ein kleines rotes Juchtenportefeuille hervor … Klappt es auf … Es ist mit Banknoten gefüllt … Es hat Fanny Aldow gehört, und im teerstinkenden Kahn wechselte es den Besitzer …
„In Ungarn geschah Ähnliches,“ – er schiebt’s wieder in die Tasche …
„Was?!“
Er schweigt … beginnt zu traben …
Ungarn – Ungarn?!
Ich trabe …
Harst bleibt stumm. – Stunden entrinnen … Der Wind hat gedreht … Hohl, feucht streicht er durch die Stämme …
Der Morgen graut …
Wir stehen am Waldrand … Vor uns im Tale ein dämmerndes Panorama … Ein Dorf … noch im Schlaf der scheidenden Nacht. – Eine Chaussee, ein Bächlein …
Der Tauwind wird zu leichtem Rieseln – wie Nebel … Schollen[11] grinsen aus schmierigem Weiß hervor …
„Dort!“ – Harst zeigt …
Links verliert sich die Chaussee im Hochwald … Dort: zwei Wagen sehen wir noch verschwinden – Schauspielerwagen … Gamderlans Menagerie …
„Also hier war er!“ und Harst zieht mich vorwärts … unter den letzten Stämmen, bergab …
Wir laufen … laufen …
Der Tauwind wird zu leichtem Nieseln – wie Nebel … Wir erreichen die Chaussee, kauern hinter hohen Brombeerstauden und Eichenschößlingen. Langsam nähern sich die Wagen. Neben dem vordersten schreiten drei Männer, drei Gestalten, die zu den kläglichen Kleppern passen … Die beiden anderen Wagen sind mit den Deichseln zusammengebunden, alle drei bilden eine Kette, die der weißhaarige Alte lenkt: Gamderlan-Guddai!
Nichts Auffälliges[12] an diesem Zuge, an dieser elenden Wandermenagerie …
Nur daß Wonzow und Iwan eifrigst auf Doktor Shing Guddai einreden …
Plötzlich ändert sich das Bild … Guddai zerrt an den Zügeln … Die Wagen halten …
Und abermals nun hier eine blitzschnelle Folge von wildbewegten Szenen … so blitzschnell, daß der atemlose Beobachter kaum recht begreift, wie sich eins aus dem andern entwickelt …
Guddai stößt Wonzow vor die Brust … ist im Nu auf dem Dach des vorderen Wagens … Sein zerschlissener Umhang entgleitet ihm … In einem schäbigen Tierbändigerkostüm steht er dort oben … Zwei Schüsse knallen … Wonzow schießt vorbei … Der Mann in dem Flitterkittel wirft sich lang auf das Zinkdach, seine Hände greifen nach unten … Knallend fällt die Seitenwand des Käfigwagens herab … Klirrend schnellt die Gittertür hoch … Ein Ungeheuer von Bestie, rotbraun wie ein Fuchs, auch die Gestalt eines Fuchses, springt ins Freie … Wonzow, Iwan – – arme Teufel, – – hinter den Wagen – über den Graben – in den Wald … – Wir sehen zwischen den Rädern hindurch … Eisesschauer jagt uns das gräßliche Angstgeschrei über den Leib – noch ein paar kreischende Töne …
Stille … Wonzow und Iwan sind tot. Was von ihnen später gefunden würde, konnte in eine Schürze gelegt werden.
Stille …
Ich starre noch dorthin, wo die Bestien soeben das Todesurteil des Ordensmeisters vollstreckt haben …
Der durch Worte nicht wiederzugebende Todesschrei eines Pferdes läßt meine Augen blitzschnell wandern … Ein zweites dieser Kunsttiere ist dem einen Gaul auf den Rücken gesprungen … Und hinter den Gitterstäben huschen noch zwei dieser Ungetüme umher – Füchse, Wunder der Biologie, Geschöpfe Doktor Guddais …
Rechts von uns da der gelle Peitschenknall einer Büchse. Ein Förster, – aufgeregt schießt er …
Das Pferd ist zusammengebrochen. Das Untier kollert von seinem Rücken … Unsere Pistolen melden sich …
Aber – Guddai-Gamderlan ist jäh verschwunden …
Sein Flitterstaat taucht jenseits der Chaussee im Walde unter …
Ihm folgen?! Unmöglich! Noch leuchten da die Riesenaugen der noch lebenden Untiere im Halbdunkel des Käfigs …
Wir feuern … Schuß … um … Schuß …
Der Förster kommt herbeigerannt.
Schuß … um … Schuß …
Und als wir nun an den Wagen herankönnen, sind kostbare Minuten verstrichen … – –
Daß Doktor Shing Guddai und die drei Inder entkamen, daß die Bestien sämtlich getötet und in aller Stille verscharrt wurden, daß diese Ungetüme, die in dem doppelten Boden der Wagen untergebrachten Falschmünzergeräte, Waffen, Papiere, Pretiosen zu bewachen hatten, war ja in allen Zeitungen angedeutet.
Falschmünzer … Falsche, aber von echten nicht zu unterscheidende Zwanzigpfundnoten in Bündeln … – Deshalb: Ungarn!! Auch in Ungarn hatten ja seinerzeit ähnliche verblüffende Falsifikate den Francsturz beschleunigen sollen. –
Am Abend dieses Tages saßen wir beide nach fünf Stunden bleiernen Schlafes in Harsts Arbeitszimmer. Da war’s, daß ich aus ernstem Sinnen heraus, das den Toten der Nacht galt, Harst fragte: „Meinst du wirklich, daß Guddai diese Tiere nur gezüchtet hat, um die Wagenverstecke durch sie beschützen zu lassen?“
Und er – leise, zerstreut: „Wonzow und Iwan wollten Guddai beseitigen und die Verstecke plündern … Guddais Tiere taten ihre Schuldigkeit. – Was sie sonst noch sollten?! Wer vermag in ein Asiatenhirn zu schauen?! Wenn Guddai verhaftet werden sollte, was ich nicht glaube, – – würde er schweigen. Vielleicht daß wir später …“
Er beendete den Satz nicht … Kein Fragen meinerseits half. – –
Ich habe hier nicht mehr gesagt, als ich sagen durfte. Wer zwischen den Zeilen zu lesen weiß, wird befriedigt sein. – Die europäischen Mächte waren ausnahmsweise einmal einig: sie haben den Orden ausgetilgt.
Guddai? – Vielleicht …
„Das Haus unter der Erde“, so heißt der Titel des nächsten Bandes, wird uns weiteres bringen.
Das Drama einer großen Liebe ist jedenfalls zu Ende. Zwei Gräber kenne ich, die Harald schmücken und versorgen läßt … Zwei schwarze Marmorsteine kenne ich, auf jedem nur ein Name, darunter der Spruch:
Die Liebe verzeiht alles.
Anmerkungen: