Eine Erzählung für die Jugend von
W. Kabel.
Mit 20 Illustrationen von
Max Henze.
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO26, Elisabeth Ufer 44
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1919 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 26.
Ein fahlgrauer, leicht ins Gelbliche spielender Himmel spannte sich über dem Indischen Ozean aus. Die schwache Brise war kaum imstande, die See zu bescheidenen Wogen aufzumuntern und genügte noch viel weniger dazu, die furchtbare Backofenglut dieses Tages durch einen auffrischenden Luftzug zu mildern. Obwohl die Sonne durch die den Himmel bedeckenden Wolkenschleier nur wie ein hellerer Fleck hindurchschimmerte, ihre Strahlen also nicht einmal ihre volle Wärme abgaben, zeigte das Thermometer auf Deck des mittelgroßen Frachtdampfers, der ruhig und stetig durch diese scheinbar Siedehitze ausströmende See dahinzog, um die Mittagszeit 36 Grad.
Der Dampfer trug zu beiden Seiten des Bugs in Metallbuchstaben den Namen Nassovia, war in Hamburg beheimatet und gleichzeitig für die Beförderung von Fracht und Fahrgästen eingerichtet. Er hatte schon eine stattliche Reihe von Jahren die Tour Hamburg, Neapel, Suez, Aden, Kolombo, Padang, Batavia und zurück für seine Reederei treu und ohne Unfall befahren, war jetzt schon etwas klapperig geworden und durfte keinen Anspruch mehr darauf erheben, verwöhnte Reisende zu beherbergen. Er mußte sich schon mit Leuten begnügen, deren Mittel für eines der modernen schwimmenden Riesen-Luxushotels nicht ausreichten.
Zu diesen mit Glücksgütern bisher nicht gerade gesegneten Fahrgästen gehörte auch ein vierzehneinhalbjähriger Knabe, der sich nach dem plötzlichen Tode seiner Eltern jetzt auf dem Wege zu dem Bruder seines Vaters, einem Plantagenbesitzer auf der Insel Sumatra, befand, wo dieser seinem Neffen eine neue Heimat geben wollte. Obwohl der Kaffeepflanzer, der es in jahrelanger unermüdlicher Arbeit zu großem Wohlstand gebracht hatte, für das einzige Kind seiner einer Typhusepidemie zum Opfer gefallenen nächsten Verwandten eine recht reichliche Summe geschickt hatte, war der Vormund des Knaben doch ganz damit einverstanden gewesen, daß Olaf Kersten die Nassovia benutzte, mit deren zweitem Steuermann sich der Junge einmal sehr angefreundet hatte, als jener zum Besuch von Verwandten in Olafs Vaterstadt weilte. –
Auf dem Vorschiff der Nassovia hatte sich eine Gesellschaft chinesischer Gaukler, die in Kolombo, dem Haupthafen der Insel Ceylon, an Bord gekommen war, häuslich eingerichtet. Es waren im ganzen vierzehn Personen, darunter acht Männer, zwei Frauen und zwei halberwachsene Jungen.
Diese gelben Fahrgäste waren, um möglichst billig zu reisen, mit dem Kapitän der Nassovia dahin einig geworden, daß sie auf Plätze im Zwischendeck verzichteten und auf dem Vorschiff sich auf der Steuerbordseite zwischen ihrem zahlreichen, aus Kisten und Körben bestehenden Gepäck lagern durften.
Heute nun, am dritten Tage nach der Abfahrt aus Kolombo, hatte Olaf Kersten, der scheinbar schlafend auf dem Aufbau der Kombüse (Schiffsküche, zumeist im Vorschiff untergebracht) lag, unter dem Rande seiner über das Gesicht gedeckten Mütze verschiedenes bei den Gelben bemerkt, was ihm recht sonderbar vorgekommen war. Einen festen Schlaf täuschte er nur deshalb vor, um das Tun und Treiben der Gaukler aus nächster Nähe studieren zu können. Sie benutzten nämlich diese Zeit erzwungener Muße an Bord der Nassovia zum Einüben neuer Kunststücke, und dies hatte für Olaf soviel Interesse gehabt, daß er die Chinesen, die sich ihre kleinen Tricks bei ihren Zauberkünsten nicht gern ablauschen lassen wollten, auf diese Weise trotz ihrer scheuen Vorsicht zu überlisten hoffte, was ihm ganz gut gelang.
So bekam der blonde, kräftige Junge manches zu sehen, was ihm zeigte, wie verblüffend einfach die meisten der Kunststücke der Gelben waren, wenn man wie er so etwas auch hinter die Kulissen schauen durfte. Das Vorderdeck war gerade ganz leer. In der Glut der Mittagshitze hatte sich alles nach unten geflüchtet. Die Chinesen waren daher auch wohl fest überzeugt, völlig unbeobachtet zu sein. Plötzlich hörten sie dann mit ihren Übungen auf, schauten sich erst nach allen Seiten mißtrauisch um, worauf zwei von ihnen die größte der zu ihrem Gepäck gehörigen Kisten aufschlossen, den Deckel zurückschlugen und sofort ein Stück Leinwand darüber breiteten.
Diese Kiste war fast zwei Meter lang und etwa ein Meter breit und hoch, bestand aus poliertem Mahagoniholz und war grellbunt mit Drachen und Vögeln bemalt. Angeblich enthielt sie ein paar Wachsfiguren, die die Chinesen zu ihren Kunststücken brauchten.
Dann konnte Olaf Kersten zu seinem Erstaunen weiterhin folgendes wahrnehmen. Einer der Gaukler war halb unter die die Kiste verhüllende Leinwand[1] geschlüpft und hatte von seinen Genossen ein Gefäß mit Wasser und einen Teller, gefüllt mit gedünstetem Reis, zugereicht bekommen, war nun ganz unter die Leinwand gekrochen und erst nach gut zehn Minuten wieder aufgetaucht. Während dieser Zeit hatte das Leinen sich dauernd bewegt, unter dem sich die Gestalt des offenbar knienden und hauptsächlich die rechte Hand zu irgend welchen Verrichtungen gebrauchenden Gelben scharf abzeichnete.
Olaf war sofort insofern argwöhnisch geworden, als der Verdacht ja nur zu nahe lag, die Chinesen könnten in der geräumigen Kiste einen Menschen, den sie gefangen und versteckt hielten, verbergen. Hierfür sprach auch das, was der aufgeweckte Knabe dann weiter sah.
Der Chinese unter der Leinwand reichte Gefäß und Teller leer zurück – leer! Dann gab ihm einer der anderen wieder ein paar Früchte. Diese waren verschwunden, als der Gaukler nun wieder unter dem Leinen hervorkam und die Kiste verschloß. So schnell er aber auch den Deckel zumachte, – Olaf hatte doch einen Blick in den großen Kasten hineinwerfen können. Und da hatte er an dem einen Ende etwas bemerkt, das er für ein mit einem Schleier bedecktes Gesicht hielt. Gewiß – es konnte ja auch ein Wachskopf sein! Aber – trinken denn leblose Wachsfiguren Wasser, essen sie Reis und Früchte?!
Kurz: Olaf war jetzt überzeugt, seine Vermutung müsse zutreffend sein. Auch das, was er bisher gar nicht beachtet hatte, nämlich eine ganze Anzahl Löcher in dem Deckel, die unter der Malerei nicht weiter auffielen, bestärkten ihn noch in diesem Argwohn. Es konnten ja Luftlöcher für den Gefangenen sein, der sonst erstickt wäre.
Bei guter Gelegenheit tat er dann so, als ob er plötzlich erwachte, verließ seinen Ruheplatz und suchte sehr bald seinen Freund, den zweiten Steuermann, auf, berichtete diesem das soeben Erlebte ganz eingehend und fand auch bei Karl Mautner, so hieß der noch junge, gutherzige Seemann, volles Verständnis für seinen Verdacht.
Nachdem die beiden diese recht seltsamen Beobachtungen Olafs nach allen Seiten hin erörtert hatten, erbot sich der Knabe, in der kommenden Nacht die Chinesen aus noch größerer Nähe zu belauschen, da er annahm, sie würden den Gefangenen zweifellos auch nachts mit Speise und Trank versehen.
Mautner hatte auf diesen Vorschlag zu des Knaben Erstaunen erwidert, es wäre ja allerdings weit einfacher, wenn der Kasten nötigenfalls gewaltsam untersucht würde. Aber die Verhältnisse an Bord lägen zur Zeit ja leider infolge der Erkrankung von sechs Matrosen an Dysenterie (eine Darmkrankheit) derart, daß man es nicht wagen dürfe, mit Gewalt gegen die Gaukler vorzugehen, die sofort bei den anderen, im Zwischendeck untergebrachten chinesischen Kulis Unterstützung finden würden. Gerade die dreißig Kulis hätten sich ja mit ihren Landsleuten nur zu schnell angefreundet und wären überhaupt recht frech und aufsässig. Reibereien mit ihnen müsse man durchaus vermeiden. Es sei ja schon häufiger vorgekommen, daß gerade dieses gelbe Gesindel von chinesischen Landarbeitern selbst noch größere Dampfer als die Nassovia in seine Gewalt gebracht, völlig ausgeplündert, auf Strand gesetzt und sich dann irgendwohin spurlos „verkrümelt“ hätte.
Olaf hatte von dieser immerhin im Bereiche der Möglichkeit liegenden Gefahr für den Dampfer bisher nichts geahnt. Desto eifriger waren deshalb auch seine Bitten, ihn als Kundschafter gegen die Gelben zu benutzen. Mautner hatte dies nur sehr zögernd dem Knaben zugesagt, hatte erst noch mit dem Kapitän sprechen wollen, dann aber hiervon Abstand nehmen müssen, da dieser inzwischen gleichfalls erkrankt und der erste Steuermann zumeist halb betrunken und viel zu bequem war, sich um Dinge zu kümmern, die nicht mit seinen Dienstobliegenheiten zusammenhingen.
So schien denn Olafs brennender Wunsch, etwas zur Aufklärung des Inhaltes der Kiste tun zu dürfen, wirklich erfüllt zu werden. Um zehn Uhr abends war er nach Mautners Kabine geschlichen, die im Mittelaufbau unter der Kommandobrücke lag, und hatte hier gewartet, bis es draußen völlig finster geworden war. Mautner hatte jedoch inzwischen, da allerlei Bedenken in ihm aufgestiegen waren, den Entschluß gefaßt, den Knaben auf diesem Kundschaftergang zu begleiten, obwohl sein rechter Fuß, der durch den herabfallenden Buganker gestern stark gequetscht worden war, ihn vorläufig zum halben Krüppel machte. Als er Olaf nun leise in der verdunkelten Kabine von seiner Absicht verständigte, erhob dieser hiergegen wortreichen Einspruch, meinte, der Steuermann könnte vielleicht bei seiner jetzigen Unbeholfenheit alles verderben, und fügte hinzu, er brauche seinetwegen wirklich nicht in Sorge zu sein, da er sich aufs Anschleichen sehr gut verstehe. Habe er doch daheim in seiner Vaterstadt Seeburg mit seinen Freunden stets hauptsächlich Indianer gespielt und sich dadurch eine körperliche Gewandtheit erworben, die ihm schon häufig von Nutzen gewesen sei.
„Gewiß, Du bist für Dein Alter sogar recht stark und dabei fix und geschmeidig wie ein Wiesel,“ meinte der Steuermann, halb und halb schon wieder beruhigt. „Trotzdem, mein Junge, gebe ich die Erlaubnis zu diesem Abenteuer recht ungern. Du bist meiner Obhut von Deinem Vormund anvertraut worden, und von mir wird man Rechenschaft fordern, wenn Dir etwas zustößt. Mit den Chinesen ist nicht zu spaßen, Olaf! Vergiß das nicht. All diese Gelben sind schlau und scheuen vor nichts zurück, wenn es ihr Vorteil oder ihre Sicherheit erheischt. – Da, stecke diesen kleinen Revolver zu Dir. Du bist so wenigstens in der Lage, Alarmschüsse abgeben zu können. – Besser wär’s, die ganze Sache unterbliebe. Versprich mir jedenfalls hier in die Hand, nichts zu tun, was unvorsichtig wäre.“
Olaf gab dieses Versprechen gern ab. Dann schlüpfte er hinaus auf Deck, ließ sich hier sofort lang auf alle Viere nieder und kroch so an der Steuerbordreling weiter auf den Lagerplatz der Chinesen zu, die sich aus einem Teil ihres Gepäcks eine Art Verschlag hergestellt hatten.
Hier auf dem Vorschiff befand sich jetzt keine Wache, da die Erkrankungen an Bord größte Schonung der Leute erforderten. Nur auf der Brücke lehnte der das Steuerrad bedienende Mann, und ein zweiter war auf dem Hinterdeck postiert, wo der wertvollste Teil der Ladung der Nassovia in zwölf wasserdichten, sicher verstauten Kisten lagerte.
Olaf war bei der herrschenden tiefen Dunkelheit ohne Schwierigkeiten bis zum Lager der Gaukler gekommen, lag jetzt eng an die Planken des Decks geschmiegt hinter einem großen Korb aus Weidengeflecht, auf dem ein zweiter, kleinerer stand. Diese Körbe bildeten die Wand des Verschlages der Gelben nach dem Mittelschiff hin. Sie waren von innen mit Decken gelegt, die durch Bambusstangen straff gespannt wurden.
Der Knabe ersah aus einem auf das Deck fallenden, rötlichen Lichtschein, daß die Chinesen in ihrer primitiven Kabine eine Laterne brennen hatten, hörte auch leises Flüstern und spürte den scharfen Geruch von Zwiebeln, die die Gelben ja ebenso als Nahrungsmittel bevorzugen, wie den Reis. Vorläufig hieß es also geduldig warten. Anscheinend waren ja die, die er belauschen wollte, noch bei der Nachtmahlzeit.
Der verdächtige Kasten war vor den Eingang des Verschlages geschoben, so daß Olaf davon nur gerade eine Ecke sehen konnte. Dies genügte auch. Wenn der Deckel geöffnet werden sollte, würde er sich schon näher heranpirschen.
Die Zeit schlich endlos langsam hin. Das gleichmäßige Stampfen der Maschinen und das Glucksen und Plätschern der Wellen schläferten den Knaben immer mehr ein. Dazu war es auch jetzt noch so heiß, daß ihm trotz des leichten, dunkelgrauen Leinenanzugs der Schweiß von der Stirn tropfte.
Olaf merkte, daß er nicht mehr lange munter bleiben würde, mochte er sich auch noch so anstrengen, die Augen offen zu behalten. Sie fielen ihm immer wieder zu. Diese letzten Tage mit ihrer Siedehitze hatten jeden an Bord erschöpft, wie sehr auch ihn, das fühlte er jetzt erst so recht.
Da kam er auf den Gedanken, die bleierne Müdigkeit dadurch zu verscheuchen, daß er, anstatt wie bisher still dazuliegen, sich irgendwie beschäftigte. Er holte also sein Messer aus der Tasche hervor, klappte die große Klinge auf und gedachte nun in die zwischen der Reling und den Körben gespannte Decke ein kleines Loch zu schneiden, durch das er dann die Chinesen würde beobachten können. Die Decke bestand jedoch aus einem sehr festen, rauhen Stoff, der zudem noch nachgab, so daß es nicht leicht war, die Spitze der Klinge hindurchzubringen.
Dann machte Olaf plötzlich in seiner Arbeit halt. Zweierlei hatte ihn lauschend und in ängstlicher Spannung das Messer sinken lassen: Erstens hatte sich in dem unteren, größeren Korbe etwas bewegt. Ein leises Knistern und Knarren war laut geworden, dem dann ein schwaches Stöhnen mit einem verklingenden Seufzer folgte. Und zweitens hatte Olaf bei seinen gegen die Decke gerichteten Bohrversuchen mit einem Mal auf der anderen Seite einen Widerstand gespürt, worauf sofort aus dem Gelaß ein halb unterdrückter Ausruf erklungen war.
Der Knabe merkte, wie sein Herz schneller zu klopfen begann. Er ahnte, daß die Spitze seiner Messerklinge wahrscheinlich einen der in dem Verschlage hockenden Chinesen berührt hatte, ahnte auch eine unmittelbare Gefahr, griff nach dem Revolver, während er gleichzeitig vorwärts zu kriechen begann.
Dann tauchte neben ihm ein Schatten auf. Etwas Schweres, Weiches fiel ihm über den Kopf, und fast in demselben Augenblick fühlte er zwei nur zu kräftige Hände, die seinen Hals wie Eisenklammern umspannten. Der Hilferuf, den er noch ausstoßen wollte, erstickte in einem dumpfen Gurgeln; seine Arme sanken schlaff herab im ersten Schreck, packten dann aber in furchtbarer Todesangst die würgenden Hände, zerrten daran, vergeudeten nutzlos ihre Kräfte gegen die überlegene Stärke des unsichtbaren Feindes.
In demselben Augenblick fühlte er zwei Hände, die seinen Hals
wie Eisenklammern umspannten.
Bald schwand Olaf das Bewußtsein[2]. Es war ihm, als versinke er in einen endlosen Abgrund, in eine dunkle eisige Tiefe. Aber gerade die seinem Körper plötzlich zuteil werdende Abkühlung war seine Rettung. Er kam zu sich, fand sich halb unter Wasser, machte unwillkürlich Schwimmbewegungen und gelangte so schnell genug nach oben, um durch ein paar Atemzüge die leichte Betäubung vollends von sich abzuschütteln.
Dann klärten sich auch seine erst noch ganz wirren Gedanken. Er erinnerte sich an die letzten Vorfälle, an seinen verzweifelten Widerstand gegen den Angreifer, den er nur durch das leichtsinnige Umgehen mit dem Messer herbeigelockt hatte. Seine entsetzliche, verzweifelte Lage erkannte er nun mit mitleidsloser Deutlichkeit. Dort – dort jener dunkle Schatten mit den zwei Lichtpünktchen war die Nassovia, die unaufhaltsam ihren Weg fortsetzte, deren Schraubengischt er noch hell schimmern sah wie einen weißen, schnell dahinziehenden Vogel. Und dort – ja – was war’s, das da neben dem Dampfer über die See hinzuwandeln schien wie ein ungeheures Gespenst? Was nur – was –?
Olaf vergaß fast über diesem angestrengten Schauen die für ihn so trostlose Gegenwart. Seine Blicke, sein ganzes Denken gehörten nur dem unbekannten Etwas dort drüben. Wenn eine Woge ihn hob, konnte er ja den Dampfer und das jetzt auf ihn zustrebende, rätselhafte Gebilde recht genau verfolgen. – Nun abermals ein neuer Eindruck für seine Sinnesorgane: Er vernahm ein stärker und stärker werdendes Sausen und Brausen, als ob ganz in seiner Nähe ein schwerer Sturm wüte. – Dieses Geräusch war’s, das ihn plötzlich über die Natur jenes Riesengespenstes aufklärte. Eine Wasserhose nur konnte es sein, jene seltsame Wirkung starker, saugender Luftwirbel, die in den Tropen gar nicht selten sind und deren hochgerissene Wassermassen bald langsamer, bald schneller vorwärtsrückende Säulen bilden.
Näher und näher kam das Ungetüm mit anschwellendem Getöse. In der Angst entrang sich Olafs Lippen da ein schriller, wilder Schrei.
„Hilfe – Hilfe –!“
Kaum drang der Ton seiner eigenen Stimme ihm in die Ohren, als er sich auch sofort bewußt ward, wie zwecklos diese Rufe sein mußten. Ringsum befand sich ja nichts als die endlose Wasserwüste; da vor ihm aber das Verderben, der wandernde, flüssige Berg, der, wie er einmal gelesen hatte, bei einem Zusammentreffen schon mit einem geringen Hindernis einzustürzen pflegte. Dann aber würde er unter dieser gewaltigen Wassermasse begraben werden, würde nie mehr auftauchen.
Und doch: sein von Entsetzen wiederum fast stehen bleibendes Herz zwang ihm neue Hilferufe ab. Er wußte kaum mehr, was er tat, schwamm jetzt der Wasserhose gerade entgegen. Noch fünfzig – noch dreißig Meter war sie entfernt. Nochmals ein wahnwitziger Aufschrei der Todesangst:
„Hilfe – Hilfe –!“
Dann ging ein Ruck durch Olafs Körper. Er fühlte sich emporgehoben, schwebte in der Luft, schloß die Augen, dachte nicht anders, als daß das Verderben ihn[3] unversehens gepackt habe, fiel irgendwo hart auf und vernahm gleichzeitig eine tiefe kraftvolle Stimme von scharfem, metallischem Klang, die ein paar Worte in einer ihm fremden Sprache ausrief.
Da öffnete er die Augen, schaute verwirrt um sich. Er lag auf dem kleinen Vorderdeck eines langen, flachen Bootes. Ein Rattern und Knattern erreichte sein Ohr, bekannte Laute, die nur von einem Motor herrühren konnten. Nun roch er auch deutlich die Dünste von Benzin und Maschinenöl, jene kennzeichnende Mischung, die jedem kleineren Motorfahrzeug überall anhaftet. Und neben ihm wieder bemerkte er die kniende Gestalt eines Mannes, der vor dem Gesicht eine schwarze Maske trug und der sich nun über ihn beugte und in englischer Sprache fragte:
„Wer bist Du, mein Junge?“
Olaf beherrschte das Englische leidlich. Er verstand die Frage wohl, war aber noch zu schwach zum Antworten. Sein Blick glitt in Erinnerung an die wandernde Wassersäule noch mit einem Ausdruck des Todesgrauens seitwärts. Und wirklich: dort zog das Ungeheuer dahin! Gerade noch im letzten Moment hatte ihn das durch seine Hilferufe angelockte Motorboot gerettet.
Der Maskierte hielt ihm jetzt eine Flasche an die Lippen, sagte freundlich:
„Trink’, armer Junge. Es ist Wein. Du brauchst eine kleine Herzstärkung.“
Olaf nahm einen langen Schluck. Sehr bald merkte er die Wirkung, richtete sich nun vollends zu sitzender Stellung auf, nannte dem gütigen Manne seinen Namen sowie die Ursachen seines unfreiwilligen, gefährlichen Bades und dankte ihm für seine Rettung mit bewegten Worten.
Der Maskierte murmelte etwas vor sich, das wie „Gelbe Bestien!“ klang, als Olaf die Chinesen erwähnte. Dann sprach er mit einem Male Deutsch, ein dialektfreies Deutsch mit nur ein wenig harter Betonung der Konsonanten.
„Also Olaf Kersten heißt Du. Ich weiß nicht, Olaf, ob ich Dich zu Deiner Errettung beglückwünschen kann. – Du schaust mich überrascht an, verstehst nicht recht, was mich zu dieser Bemerkung veranlaßt hat. Nun, es gibt bisweilen plötzliche Wendungen in unserem Schicksal, die nur scheinbar für uns günstig sind, – nur scheinbar! Eine besondere Verkettung von Umständen hat Dich mir in den Weg geführt. Besondere Umstände sind es auch, die mich zwingen, Deinen Lebensweg vorläufig mit dem meinen zu vereinen. Ich kenne Dich nicht, Junge. Ich muß vorsichtig sein. Vielleicht kannst Du Treue bewahren und ein Versprechen, einen Schwur halten. Das muß ich erst erproben. Zunächst jedenfalls betrachte Dich als meinen Gefangenen! Ich warne Dich vor einem Fluchtversuch! Die Strafe wäre strengste Haft an einem Orte, dem noch keiner entronnen ist. Im übrigen sollst Du gut behandelt werden. Wenn Du willst, mache Dich nützlich. Aber – unterlaß alle Fragen! Du wirst vieles sehen, was Deine Neugier, Deine Teilnahme erweckt. Niemand würde Dir antworten. Meine Leute sind verschwiegen. Du wirst Dich auch kaum mit ihnen verständigen können.“
Dann schritt er davon und ließ Olaf allein.
Der Knabe sann über das soeben Gehörte nicht weiter nach. Er war noch zu erschöpft, um den merkwürdigen Inhalt dieser Sätze des Maskierten voll zu begreifen. Nur eins prägte sich in seinen Gedanken mit aller Klarheit aus: daß er gefangen war, daß seine Zukunft sich nun ganz anders gestalten würde, als er je hätte ahnen können.
Seine Aufmerksamkeit galt nun den anderen Leuten, die mit auf dem Motorboot sich befanden, das eine sehr bedeutende Geschwindigkeit besaß, wie schon allein der scharfe Luftzug bewies, der Olafs Gesicht umstrich. Die Dunkelheit war jedoch zu groß. Er erkannte die Gesichtszüge der vier Mann nur ganz verschwommen, die sich weiter nach dem Heck zu hin und her bewegten.
Ganz still saß er da in seinen tropfenden Kleidern. Seine Gedanken eilten auch nach der Nassovia zurück zu seinem Freunde Mautner. Da packte ihn die Reue, dessen ernste Mahnung zur Vorsicht nicht besser befolgt zu haben. Wie würde sich Mautner nun um ihn sorgen, der ihm doch nur so widerstrebend die Erlaubnis zu dem Schleichgange gegeben hatte! Welche Aufregung würde entstehen, wenn sein Fehlen auf dem Dampfer bemerkt wurde.
Olafs Gewissen regte sich stärker und stärker. Er bedauerte seinen Leichtsinn, der ihn dazu verführt hatte, das Messer zu ziehen und den Bohrversuch an der dicken Decke vorzunehmen.
Da kam einer der Leute des Bootes auf ihn zu und entriß ihn seinem trüben Sinnen. Olaf sah, daß er einen Farbigen vor sich hatte, einen mittelgroßen, breitschultrigen Mann mit gelbbraunem, bartlosem Gesicht.
Schweigend reichte der Farbige ihm einen Teller, auf dem Schiffszwieback, ein kalter gebratener Fisch und einige Früchte lagen, und verschwand wieder.
Doch der Junge war noch zu matt, etwas zu genießen. Er stellte den Teller neben sich, strich das feuchte Blondhaar aus der Stirn und entkleidete sich seiner Leinenjacke, entfernte aus ihr das Wasser durch Auswinden und breitete sie auf den Planken aus. Die übrigen Kleidungsstücke mochten ruhig an seinem Körper trocknen. In diesen Breiten brauchte man eine Erkältung nicht zu fürchten.
Schon wollte er dann nach einer aufgerollten Fahne greifen, um sie als Kopfkissen zu benutzen, und den Versuch machen, ob er einschlafen könne, als er weit voraus in der Fahrtrichtung des Bootes ein paar schwache Lichtpünktchen wahrnahm. Sofort stieg die Vermutung in ihm auf, es könnte die Nassovia sein, und ebenso schnell schloß er aus der Tatsache, daß der Dampfer doch eigentlich längst aus Sicht sein müsse, auf eine absichtliche Einhaltung einer bestimmten Entfernung zwischen den beiden Fahrzeugen, das heißt auf eine Verfolgung der Nassovia durch das Motorboot, das bei seiner Länge von etwa neun Meter schon mehr als Kutter zu bezeichnen war.
Diese Beobachtung machte ihn schnell wieder vollends munter. Er ahnte, daß die Verfolgung, von der die Bemannung des Dampfers nichts wußte, einen ganz besonderen Zweck haben müsse, erinnerte sich nun auch an die seltsamen Reden des Maskierten und gelangte so zu dem vorläufig noch unsicheren Verdacht, der Motorkutter sei vielleicht gar ein Piratenfahrzeug, das es auf die Nassovia abgesehen habe. Kein Wunder, wenn er jetzt mit größerer Spannung genau auf alles achtgab, was hüben und drüben vorging.
Zunächst ereignete sich nichts, dann aber änderte der Kutter mit einem Male den Kurs, beschrieb einen Bogen und schlug die Richtung nach Westen ein, beschleunigte auch die Fahrt und mußte daher in kurzem weit ab von der Nassovia sein, also – die Verfolgung aufgegeben haben. So dachte Olaf wenigstens zunächst. Dann aber schaute er nach dem Dampfer aus, und – siehe da! – jetzt konnte man dort drüben anstatt der beiden Hecklaternen ganz deutlich die drei Positionslichter, weiß, rot, grün in einem Dreieck erkennen. Die Nassovia hatte mithin gewendet und fuhr auf ihrem bisherigen Kurs zurück. Dies aber konnte nur einen einzigen Grund haben: Olafs Verschwinden war bemerkt worden, und auf Mautners Veranlassung suchte man die in den letzten Stunden zurückgelegte Strecke nach ihm ab, vielleicht in der Annahme, er sei über Bord gefallen. Die Wahrheit konnte ja selbst Mautner kaum ahnen, da er den Chinesen wohl einen solchen brutalen Mord, wie sie ihn tatsächlich beabsichtigt hatten, [nicht][4] zutrauen würde.
Doch – was half es Olaf, daß die Nassovia diese Zeit für ihn opferte und wahrscheinlich sehr langsam auf demselben Kurs zurückdampfte?! Das Motorboot flüchtete in Windeseile nach Westen, und bereits fünf Minuten später waren die Positionslaternen mit bloßem Auge nicht mehr zu bemerken.
Der Knabe hatte das Interesse an dem, was sich um ihn her ereignete, jetzt verloren. Tiefe Mutlosigkeit und Niedergeschlagenheit lasteten auf ihm und weckten abermals das Bedürfnis nach Schlaf. Er streckte sich der Länge nach aus, schob die zusammengeballte Flagge unter den Kopf und war auch sehr bald in das Reich der Träume hinübergeschlummert.
So entging ihm, daß der Kutter nun wiederum wendete und mit halber Motorkraft durch die Nacht wie ein schwarzer, länglicher Fleck dahinstrich. Auf dem Dache der kleinen Mittelkajüte aber stand jener Mann, der Olaf vorhin mit eigener, sicherer Faust aus dem Wasser gezogen hatte. Jetzt trug er keine Maske, jetzt konnte man auch den schlanken Wuchs seiner ebenmäßigen Gestalt gerade in dieser Haltung am besten erkennen, wo er regungslos, das Fernglas an den Augen, nach dem Dampfer ausspähte. –
Eine Stunde etwa war verstrichen. Da erwachte Olaf plötzlich. Einer der Leute des Kutters hatte ihn aus Unachtsamkeit mit dem Fuße angestoßen.
Er richtete sich auf, rieb sich schlaftrunken die Augen und brauchte einige Zeit, bis er sich in die Wirklichkeit nach den angenehmen Träumen, die ihn in sein Elternhaus und seine erste Kindheit zurückgeführt hatten, vollständig hineinfand.
Ah – da gerade voraus – – das waren ja wieder zwei Hecklichter, und jetzt ganz, ganz nahe, kaum hundert Meter entfernt. Sollte es die Nassovia sein?! Dann war der Kutter ihr doch wieder gefolgt, nachdem sie die Suche nach dem Verschwundenen eingestellt hatte.
Auf recht seltsame Weise sollte er über diese Frage Aufschluß erhalten. – Zunächst aber stellte er fest, daß die Nacht noch immer mit schwarzen Schleiern auf der leicht bewegten See lagerte und daß der Kutter jetzt lautlos, fast ohne jedes Maschinengeräusch, dahinglitt. Der Motor arbeitete also nicht. Vielmehr mußten die Schrauben durch eine andere Kraft angetrieben werden. Und hier kam ja nur noch die Elektrizität in Betracht.
Jetzt nahm er wieder wahr, daß das Boot dem Dampfer noch näher rückte. Plötzlich zuckte dann auf diesem ein grünes Flämmchen auf, sicherlich irgend ein Signal. Das Flämmchen erlosch sehr bald. Als Olaf nun nach dem Heck des Kutters hinschaute, sah er, wie dort ebenfalls ein solches grünes, leicht flackerndes Licht erschien, ebenso schnell aber auch wieder verschwand.
Die Entfernung der beiden Fahrzeuge betrug nur noch einige fünfzig Meter. Jetzt – das war doch da vorn ein klatschendes Geräusch gewesen, als sei ein größerer Gegenstand ins Wasser gefallen. Da – wieder dasselbe Geräusch, – nur etwas schwächer.
Der Kutter hatte seine Maschine gestoppt. Dafür waren zwei sehr lange Ruder aufgetaucht die von zwei auf dem Deck der Mittelkajüte stehenden Leuten gehandhabt wurden. Und jetzt kamen der Maskierte und ein Farbiger nach vorn, stellten sich gebückt zu beiden Seiten des Bugs auf und starrten angestrengt auf die Wasseroberfläche. Von Olaf hatten sie keinerlei Notiz genommen.
Der Knabe merkte, daß es sich hier um Vorgänge handele, die mit der Nassovia irgendwie zusammenhingen. Er ließ kein Auge von den beiden Männern, die da ganz dicht vor ihm suchend über die dunkle See blickten.
Nun: – der Maskierte warf sich lang hin, den halben Oberkörper über Bord, schien ins Wasser greifen zu wollen, zerrte jetzt mit aller Kraft etwas Schweres empor.
Ein menschlicher Kopf erschien über den Deckplanken, dann der in zwei Rettungsringen steckende Oberleib eines Mannes. Gleich darauf befand sich dieser vollständig im Boot, bewegte sich in sehr merkwürdiger Weise hin und her, bis der Maskierte ihm in deutscher Sprache drohend zuraunte:
„Niedersetzen – sofort! Oder es gibt eine Handspeiche zu kosten!“
Der Mann gehorchte. Inzwischen hatte aber auch der Farbige etwas aus dem Wasser aufgefischt und an Bord gehoben.
Olaf traute seinen Augen nicht. Denn – ein Kind, ein Mädchen, war’s, das nun leise schluchzend vor Ermattung auf das Deck sank.
Olaf traute seinen Augen nicht. Ein Mädchen war’s, das nun
leise schluchzend vor Ermattung auf das Deck sank.
Ein Mädchen! Und genau wie dem, den der Maskierte aus dem Wasser gezogen, waren auch diesem Kinde unter den Armen zwei Rettungsringe offenbar mit Leinen so befestigt, daß es nicht herausgleiten konnte.
Olaf begriff nichts – nichts von alledem! Was bedeutete dies nur, was?! Und weshalb die drohende Sprache des Maskierten dem gegenüber, den er doch selbst dem feuchten Element entrissen hatte?!
Die Ereignisse jagten sich jetzt förmlich. Kaum hatte der Knabe richtig erkannt, daß er tatsächlich ein kleines Mädchen vor sich hatte, als von der Nassovia das Knattern mehrerer Schüsse herübertönte. Fünf waren’s. Olaf hatte mitgezählt. Den Schüssen folgte ein wildes Geschrei, das dann urplötzlich verstummte.
In dieser nächtlichen Einsamkeit des Ozeans und in dieser nur durch das Plätschern und leise Rauschen der Wellen unterbrochenen Stille wirkten die Schüsse und das laute, fast tierische Brüllen geradezu unheimlich. Olaf fühlte, wie ihm ein Eisesschauer über den Leib rann. Noch unheimlicher aber war das drückende Schweigen, das jetzt wieder ringsum lauerte und vielleicht im nächsten Moment aufs neue von irgend welchen nervenaufpeitschenden Tönen unterbrochen werden konnte.
Und wirklich: aus der Richtung des Dampfers ein abermaliges Aufplatschen. – Sollte dort noch eine dritte, in Rettungsringen steckende Person über Bord gesprungen sein, fragte Olaf sich, da er die beiden ersten Geräusche dieser Art schnell in Gedanken mit den soeben aus dem Wasser Aufgefischten in Verbindung gebracht hatte.
Doch nein – hier bei diesem dritten Aufplatschen konnte es sich um einen Menschen nicht handeln, auf den der Maskierte und der Farbige vorbereitet waren, denn sie hatten ja mittlerweile ihre Plätze verlassen und sich nach dem Heck begeben[5], während die beiden Ruderer die langen Riemen bereits eingezogen und die Schraube langsam zu schlagen begann.
Der Kutter bewegte sich schneller, beschrieb einen Bogen nach Westen, schien nun die Nassovia verlassen zu wollen, die ihre Fahrt ununterbrochen fortgesetzt hatte.
Da geschah etwas Neues, etwas so Unerwartetes, daß der Knabe vor Schreck zur Seite prallte.
Neben ihm hatte sich geräuschlos eine Gestalt halb auf das Deck geschwungen, kroch nun triefend von Wasser ganz auf die Deckplanken, hob den Kopf, flüsterte:
„Ich bin’s, Mautner! Nichts verraten!“
Dann wandte der Steuermann sich nach vorn, wo der Mann und das Kind dicht nebeneinander saßen. Was er ihnen zuraunte, verstand Olaf nicht, obwohl er kaum zwei Meter entfernt war. Und nun schlüpfte Mautner auf allen Vieren nach der Mitte des Bootes zu, wo das kleine Vorderdeck endete und zwischen diesem und der erhöhten Mittelkajüte ein schmaler, ungedeckter Teil sich befand. Hier tauchte er wie in einer Versenkung unter.
Olaf hatte ihm in grenzenlosem Erstaunen nachgestarrt. In seinem Kopfe wirbelten die Gedanken. Das, was er hier soeben erlebt hatte, war ja so außergewöhnlich gewesen, daß es mehr in einen phantastischen Traum hineinzugehören schien. Aber diese ruhelosen Gedanken des Knaben verdichteten sich schnell zu ernstester Sorge um die Sicherheit seines Freundes, des Steuermanns. Er fürchtete, einer der Leute des Kutters könnte ihn bemerkt haben. Seine Blicke wanderten deshalb argwöhnisch nach dem Heck hinüber, wo die kleine Besatzung undeutlich sichtbar war. Als jedoch mehrere Minuten vergangen waren, ohne daß etwas geschah, als das Motorboot nun mit zunehmender Geschwindigkeit dahinschoß, atmete er erleichtert auf. Mautner war offenbar von den Leuten nicht gesehen worden und befand sich vorläufig in Sicherheit. Aber – wie lange noch?! Bei Tagesanbruch mußte er ja entdeckt werden! Und – was dann?! Wie würde der Maskierte ihn dann behandeln?! Und weshalb nur.
Olaf schrak zusammen. Die begonnene Gedankenreihe führte er nicht zu Ende. Ein Farbiger war schnell über das Deck der Mittelkajüte geschritten, hatte mit langem Satz das Vorderdeck erreicht, kam dicht an dem Knaben vorüber, nahm das kleine Mädchen in die Arme, nachdem er die Rettungsringe entfernt hatte, und trug es in die Kajüte, die nach beiden Seiten, nach Bug und Heck hin, eine niedrige Tür besaß.
Der Knabe hatte jetzt genau gesehen, daß das Kind sich schwach gewehrt hatte, als der Mann es aufhob. Auch leise geschluchzt hatte es wieder, worauf es aber von dem Farbigen halblaut ziemlich rauh angefahren worden war.
Eine geraume Zeit verstrich nun abermals, ohne eine Änderung des Bildes auf dem dahinjagenden Kutter zu bringen. Die Nassovia war längst verschwunden. Olaf saß noch an derselben Stelle; weiter nach vorn der Fremde, den der Maskierte geborgen hatte. Die Besatzung des Bootes blieb am Heck, wo sich der gedeckte Raum für den Motor und das Steuerrad befand.
Olaf schob sich langsam näher an den still und zusammengesunken auf den Deckplanken hockenden Unbekannten heran. Jetzt konnte er Einzelheiten von dessen Gestalt unterscheiden. Der Mann war alt, hatte einen schon weißgrau schimmernden Bart und starkes, infolge der Nässe nach allen Seiten starrendes Kopfhaar.
Der Graubärtige hob den Kopf. Und Olaf erblickte jetzt erst die aus dem Munde des Fremden herausragenden Zipfel eines weißen Tuches, eines Knebels also, der durch ein breites Band in seiner Lage festgehalten wurde.
„Was in aller Welt bedeutet das nun wieder?!“ dachte Olaf erschrocken. „Ein Knebel? Und – der Alte ist ja auch gefesselt! Seine im Schoß ruhenden Hände sind zusammengeschnürt –“
Schon hatte er sein Messer hervorgeholt, wollte gerade diese Fesseln ohne langes Überlegen durchschneiden, als er noch einen schnellen Blick nach dem Heck warf.
Und dort leuchtete jetzt klar und strahlend eine große Laterne mit grünen Gläsern, die einer der Leute des Kutters hoch emporhielt.
Olafs Hand mit dem Messer sank herab. Er wollte warten. Vielleicht wurde auch dieses Signal erwidert.
Seine Vermutung traf zu. Aus der Dunkelheit auf Steuerbordseite stieg plötzlich eine Rakete sprühend in langer Kurve auf, zerplatzte und streute drei weiße Leuchtkugeln aus, die so hell die Umgebung bestrahlten, daß der Knabe dort drüben ein Schiff mit zwei Masten, einem Schornstein und hohem Mittelaufbau wahrnahm.
Die Leuchtkugeln erloschen nach wenigen Sekunden. Der Kutter aber wendete und hielt auf das jetzt wieder in das Dunkel untergetauchte Fahrzeug zu, erreichte es sehr bald, legte sich an das herabgelassene Fallreep und wurde hier vertäut.
Ein paar Laternen blitzten auf, Leute kamen das Fallreep hinab, nahmen das Kind in Empfang und trugen es nach oben. Dann erschien der Maskierte neben Olaf, befahl ihm an Bord des Dampfers zu gehen, wo ihm ein Schlafraum angewiesen werden würde.
Den Knaben empfing oben an Deck wieder ein Farbiger, geleitete ihn nach dem Hinterschiff und hier über eine schmale Treppe in eine recht geräumige Kabine, in der an der Decke eine elektrische Birne brannte. Dann ging er schweigend davon. Olaf war allein, schaute sich um, fand die Einrichtung einfach, aber alles peinlich sauber, sah nun auch das von innen durch eine Eisenscheibe fest verschraubte kleine runde Fenster und wurde durch dieses erst auf den Gedanken gebracht, ob man ihn wohl eingeriegelt habe. Er drehte den Messingschloßknopf der Tür herum. Sie war nicht versperrt. Er war also ein Gefangener, dem man wirklich volle Bewegungsfreiheit hier an Bord gewähren wollte.
Hier an Bord! Was war dies für ein Schiff? – Nur eine Antwort gab es da nach dem Vorausgegangenen: Ein Piratenfahrzeug, zu dem der Kutter gehört hatte.
Mit dieser Überzeugung ging Olaf dann auch schlafen, schlüpfte unter das Moskitonetz und überdachte nochmals, im Dunkeln mit offenen Augen daliegend, die seltsamen Geschehnisse dieser Nacht, bevor die Erschöpfung nach all den Aufregungen ihm sacht die Lider zudrückte.
In derselben Nacht befand sich die „Petersburg“, ein neuer, großer Frachtdampfer der Reederei B. Assumoff in Odessa, auf der Rückreise von Batavia über Benkoelen nach ihrem Heimathafen im Schwarzen Meer.
Benkoelen ist ein Hafenort an der Westküste der Insel Sumatra. Dort in der Nähe lagen die ausgedehnten Plantagen des russischen Großkaufmanns Boris Assumoff, der als der vielseitigste Geschäftsmann des damals noch unter der Regierung des Zaren stehenden Riesenreiches berühmt und berüchtigt war.
Der Kapitän der Petersburg war ein Deutscher, ein Seemann noch von der alten Schule, der alles Moderne tief verachtete. Und hierzu rechnete er unter anderem besonders die Funkensprucheinrichtung, die kürzlich auf Befehl Assumoffs auch in den Frachtdampfer eingebaut worden war trotz des Widerspruchs des brummigen Johannes Scherbaum, des Kapitäns, auf dessen Rat der Großkaufmann sonst recht viel gab und der in seiner derben Art erklärt hatte, ne drahtlose Telegraphiermaschine passe zu nem Frachter etwa wie ne Orgel in nen Schweinestall.
Bisher war nun das Funkerhäuschen auf der Kommandobrücke tatsächlich mehr zum Staat da gewesen. Die Funksprüche, die Herr Assumoff probehalber gesandt hatten waren ihrem Inhalt nach ganz harmlos und zwecklos gewesen. Kapitän Scherbaum wollte es deshalb auch gar nicht glauben, daß es sich um eine wirklich wichtige Depesche seines Reeders handeln könne, als er mitten in der Nacht geweckt wurde.
Wenn die Erfinder der drahtlosen Telegraphie all die Kraftausdrücke gehört hätten mit denen der so unsanft aus einem festen „Grogschlaf“ aufgescheuchte alte Seebär sie und ihre Erfindung belegte, würden sie sich fraglos entschlossen haben, den Kapitän wegen Beleidigung und auch wegen Bedrohung zu verklagen.
Scherbaum nahm dem Matrosen fluchend den Zettel ab und ging damit unter die brennende Pendellampe. Ein Blick – er stutzte! Und dann folgte eine wahre Auslese von Verwünschungen, denn – die Depesche war zu allem Unheil noch in der von Assumoff ausgeklügelten Chiffreschrift abgefaßt, die der Alte nun erst ins Russische mit Hilfe des Schlüssels übertragen mußte.
In sehr mangelhafter Toilette setzte Scherbaum sich an den Tisch und machte sich an die Arbeit. Eine Stunde brauchte er dazu. Nun überflog er den Text, und ein „Der Assumoff ist übergeschnappt!“ entfuhr ihm.
Trotz dieser Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit seines Brotherrn ließ er sofort den ersten Steuermann und den Ingenieur zu sich holen und las ihnen die Depesche vor.
Batavia, 3. Juli 1908.
Das Verschwinden unserer Dampfer Zarewitsch und Baku ist jetzt aufgeklärt. Die Mannschaften sind hier eingetroffen. Beide Schiffe wurden im Indischen Ozean angesichts der Küste Ceylons von einem Piratendampfer genommen und versenkt, die Leute aber nach einer entlegenen Insel verschleppt. Da ich diese ungünstigen[6] Nachrichten halb und halb vorausgesehen hatte, ließ ich die Petersburg hier in Batavia vor zwei Wochen jene sechs versiegelten Kisten an Bord nehmen, über deren nähere Bestimmung Sie rechtzeitig unter gewissen Voraussetzungen das Nötige erfahren sollten. Dieser Fall ist jetzt eingetreten. Die Kisten enthalten vier Revolvergeschütze und dreißig Gewehre sowie die nötige Munition. Ich fürchte nämlich, daß jenes Piratenschiff auch der Petersburg irgendwo auflauern wird. Seien Sie also vorsichtig und treffen Sie sofort alle Vorkehrungen, um einen Angriff abwehren zu können. Der Freibeuter ist ein Dampfer von etwa 1800 Tonnen, schlank gebaut, hat Schonerbrigg-Takelung und führt Geschütze an Bord. Nähere Beschreibung des Dampfers fehlt, da die Kaperung unserer Schiffe nachts erfolgte. Jedenfalls sucht der Pirat den Eindruck eines harmlosen Frachtdampfers zu erwecken. Sein Kapitän trägt eine schwarze Seidenmaske vor dem Gesicht. Die Besatzung besteht aus Turkmenen. – Nochmals ermahne ich Sie zu größter Vorsicht. Sorgen Sie dafür, daß nicht zu dem Familienunglück, das mich vor kurzem betroffen hat, noch der Verlust der Petersburg mit ihrer wertvollen Ladung hinzukommt.
Assumoff.
Auch der Ingenieur und der Steuermann schüttelten die Köpfe über dieses Telegramm. Der alte Scherbaum aber knurrte: „Wir leben doch nicht vor hundert Jahren! Piraten! Das gibt’s jetzt ja gar nicht mehr! Ich verstehe die ganze Geschichte nicht. Was redet der Assumoff da zum Beispiel auch von nem unlängst geschehenen Familienunglück?! Vor vierzehn Tagen habe ich mit ihm doch noch in Batavia gesprochen. Da war er ganz vergnügt. Von Unglück keine Spur. Und in Benkoelen auf der Pflanzung hätte mir der Direktor doch wohl was erzählt, wenn er von irgend nem besonderen Pech unseres Chefs ne Ahnung gehabt hätte. Und die hätte er haben müssen! Die Plantage hat ja Telephonverbindung mit Batavia, und Assumoff würde dem Direktor als seinem alten Freund sicher nichts verschwiegen haben. – Hol’s der Deubel, – ich kann mir aus dem ganzen Wisch keinen Vers machen – ne, nie im Leben!“
Der Kapitän fand zwar mit dieser Beurteilung der Depesche bei seinen beiden Untergebenen volles Verständnis. Nichtsdestoweniger waren diese aber dafür, den Befehlen des Reeders unbedingt nachzukommen.
So wurde denn die Mannschaft gegen ein Uhr nachts vollzählig geweckt und mit dem Inhalt des Telegramms vertraut gemacht. Und wieder eine Stunde später war tatsächlich alles an Bord der Petersburg zu wärmstem Empfang der Piraten bereit. Unter den Leuten waren mehrere, die bei der Kriegsmarine gedient hatten und daher mit den Revolvergeschützen umzugehen wußten. Ein Gewehr konnte jeder abfeuern. Ob auch damit treffen, war allerdings eine andere Frage. Die Stimmung der Besatzung hatte der Kapitän durch eine Extraverteilung von Rum und durch das Versprechen einer klingenden Belohnung für den Fall eines Sieges über die Freibeuter derart gehoben, daß die Leute nichts sehnlicher wünschten, als sich mit dem Piratendampfer messen zu dürfen.
Der alte Scherbaum konnte noch immer nicht so recht an die Wahrheit des Inhalts der Depesche glauben. Boris Assumoff war ja dafür bekannt, zuweilen Geschäftskniffe anzuwenden, auf die sonst kein Sterblicher kam. Diese Zweifel verschwieg der Kapitän aber wohlweislich. Er hatte die Hälfte der Mannschaft wieder in das Logis[7] (Wohn- und Schlafraum der Besatzung im Vorschiff) geschickt, nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, und ließ nun durch mehrere mit Nachtgläsern versehene Matrosen beständig nach allen Seiten scharf Ausschau halten. Mehr konnte er nicht tun. Er legte sich dann auch selbst angekleidet auf das Sofa in seiner Kajüte, und ein Glas starker Grog half mit, den Schlaf in kurzem herbeizuführen.
Doch bereits nach einer halben Stunde rüttelte ihn Macdonald, der erste Steuermann, wach, der als Engländer den vielleicht bevorstehenden Kampf mit den Freibeutern mehr als Sport auffaßte, gerade deshalb aber mit Leib und Seele dabei war.
„Kapitän, soeben ist gerade vor uns ein Dampfer aufgetaucht. Dies erscheint mir verdächtig. Die Schiffsroute für die Tour Kolombo–Padang verläuft mindestens fünf Seemeilen weiter östlich. Ich habe die Petersburg dem fremden Schiff ausweichen lassen. Ich denke aber, wir rufen’s an, indem wir Notsignale geben und eine Steuerhavarie vortäuschen. Der Dampfer ist weit kleiner als wir.“ Er entwickelte dann ganz begeistert seinen Plan mit allen Einzelheiten, wie man ohne Gefahr die Piraten – falls sie es waren! – überrumpeln könne.
Scherbaum eilte auf die Brücke. Hier meldete ihm der zweite Steuermann, daß der Dampfer dort drüben gleichfalls der Petersburg in großem Bogen aus dem Wege gegangen sei.
Die beiden Schiffe lagen jetzt in etwa fünfhundert Meter Entfernung auf einer Höhe, mußten sich aber sehr bald aus Sicht kommen bei ihrem entgegengesetzten Kurs.
Der Kapitän ließ sich von dem englischen Steuermann und dem Ingenieur schließlich dazu bereden, dem verdächtigen Dampfer, der auf die Notsignale der Petersburg in keiner Weise geantwortet hatte, näher auf den Leib zu rücken.
Fünf Minuten später war die Petersburg als das bedeutend schnellere Schiff dem Fremden bis auf hundert Meter nahe gekommen. Scherbaum rief ihn durch das Sprachrohr an. Wieder blieb eine Antwort aus. Da war auch der Alte überzeugt, das richtige Wild gestellt zu haben, und rief den Befehl hinüber:
„Sofort stoppen, oder wir geben einen Schuß in den Maschinenraum ab.“
Der Fremde schwenkte darauf kurz nach Westen ein und zeigte der Petersburg das Heck, die geringste Zielfläche.
Nun war es klar: Es konnte nur der Pirat sein, der es nicht wagte, mit dem größeren und schnelleren Schiffe anzubinden.
Jetzt hatte sich auch Scherbaums ein gewaltiger Jagdeifer bemächtigt. Die Aussicht, den Freibeuter unschädlich zu machen, war ja auch zu verlockend. Ruhm und Rubelscheine winkten. So gab er denn den Befehl, den Fremden zu überholen und ihm einen scharfen Schuß dicht vor den Bug zu feuern als eindringlichere Mahnung zu sofortigem Stoppen.
Dies geschah denn auch. Der laute, kurze Knall des Revolvergeschützes war kaum verhallt, als der andere Dampfer plötzlich auf die Petersburg zusteuerte und sie zu rammen versuchte. Das Manöver gelang jedoch nicht, hatte nur zur Folge, daß die Leute der Petersburg jetzt Gelegenheit hatten, den Scheinwerfer ihres Schiffes auf das Deck des Piraten zu richten, wo man nun deutlich eine Menge aufgeregt hin und her rennender Chinesen erkannte.
„Teufel noch eins – was bedeutet das?!“ brüllte der alte Scherbaum. „Gelbgesichter dort drüben?! Die Geschichte wird immer verrückter!“
Inzwischen hatte der erste Steuermann schon einigen Matrosen, die leidliche Schützen zu sein behaupteten, auf die Beine der Chinesen zu schießen befohlen. Auf das Geknatter der Schüsse erhob sich an Deck des Fremden ein Angstgeschrei, vermischt mit den Schreien der Getroffenen, als seien alle Teufel der Hölle losgelassen.
Scherbaum lachte grimmig dazu. „Aha – das Deck ist wie ausgefegt,“ rief er dann frohlockend. „Und jetzt stoppt die Bande auch die Maschine. – Bord an Bord jetzt mit dem Piraten, Kinder, und dann wie ’n Blitz auf den Räuberkahn! Wir wollen’s ihnen zeigen!“
Es kam jedoch ganz anders. Vor den enternden Matrosen der Petersburg tauchten plötzlich mit hoch erhobenen Händen mehrere Weiße auf, die sich als die eigentliche Besatzung des deutschen Dampfers Nassovia zu erkennen gaben. Diese sei durch eine Horde chinesischer Passagiere, Kulis und eine Gauklertruppe, erst vor einer Stunde überwältigt worden, wobei zwei der Gelben durch Revolverschüsse verletzt seien.
Vor den enternden Matrosen tauchten plötzlich mit hoch erhobenen
Händen mehrere Weiße auf.
Zunächst wurden nun die unter Deck geflüchteten Chinesen einzeln herausgeholt, nach Waffen durchsucht und dann in einen sicheren Raum unter steter Bewachung eingesperrt. Dies geschah ohne jeden Widerstand von Seiten der Gelegenheits-Piraten, die vom Seeräuberhandwerk offenbar keine Ahnung und nur die ihnen günstigen Umstände hatten ausnutzen wollen, um die Nassovia zu berauben.
Mittlerweile war der Morgen angebrochen. Es wurde schnell heller und heller. Die beiden Dampfer lagen noch immer Bord an Bord, und jetzt, wo die Gemüter sich etwas beruhigt hatten, ließ sich der alte Scherbaum von dem ersten Steuermann der Nassovia ganz eingehend schildern, was sich auf dem deutschen Schiff in der verflossenen Nacht abgespielt hatte.
Merkwürdig genug war dieser Bericht, und Scherbaums durch Kautabak leicht gebräunten Lippen entschlüpften zwischenein allerhand Ausrufe ungläubigen Staunens.
„Infolge der Krankheit,“ fuhr der Steuermann nach den einleitenden Sätzen fort, „waren wir nur noch unserer sieben hier auf der Nassovia, das Maschinenpersonal nicht mitgerechnet. Ich wollte um ein Uhr morgens die Wache übernehmen, war auch schon in den Kleidern, als unser zweiter Steuermann Mautner meine Kabine betrat und mir mitteilte, daß einer unserer Passagiere, ein Knabe namens Olaf Kersten, von den chinesischen Gauklern wahrscheinlich beseitigt worden sei, die er habe heimlich belauschen wollen, weil er vermutete, sie hätten in einer ihrer Kisten einen Gefangenen verborgen. – Mautner war sehr besorgt um den Jungen, den er schon überall gesucht hatte, ohne die Chinesen etwas merken zu lassen. Auf eigene Verantwortung hatte er bereits die Nassovia wenden und langsam auf unserem bisherigen Kurs rückwärts dampfen lassen, in der Hoffnung, die gelbe Bande könnte den Knaben nur schwach betäubt, vielleicht durch einen Schlag, über Bord geworfen haben und die Nassovia jetzt noch zur rechten Zeit erscheinen, um den vielleicht um sein Leben Schwimmenden wieder aufzufischen. – Gewiß, Mautner gab selbst zu, daß die Aussicht, auf diese Weise den Jungen zu retten, falls er überhaupt noch lebend auf den Wellen trieb, verschwindend gering sei, zumal ja eine Wasserhose von seltener Höhe und Stärke unseren Kurs erst gekreuzt und dann ziemlich genau auf unserem Wege gleichfalls zurück gewandert war. Jedenfalls war Mautner sehr niedergeschlagen und äußerte auch, am meisten bringe der Gedanke sein Blut in Wallung, daß es wahrscheinlich ausgeschlossen sei, den Chinesen dieses Verbrechen nachzuweisen. Da tauchte in mir eine andere Vermutung auf: Vielleicht hatten die Gaukler den Knaben gleichfalls in einen ihrer Körbe gesteckt! – Mein Kollege schüttelte hierzu zwar den Kopf, war dann aber ganz einverstanden mit meinem Vorschlag, das Gepäck der Gelbgesichter sofort gründlich zu durchsuchen. Wir vereinbarten, daß Mautner zunächst die Chinesen-Truppe heimlich beobachten, ich aber unsere Leute auf dem Achterdeck zusammenholen sollte. Dies geschah. Wir hatten insgesamt vier Revolver und Mautners moderne Pistole zur Verfügung. Inzwischen war ich auch bei unserem kranken Kapitän gewesen, hatte ihm von allem Mitteilung gemacht und um seine Einwilligung zu einem nötigenfalls gewaltsamen Vorgehen gegen die Chinesen gebeten. Er war über Mautners Eigenmächtigkeit, mit der dieser die Nassovia hatte umkehren lassen, recht aufgebracht und befahl mir, den Dampfer sogleich wieder auf den alten Kurs zu bringen, da diese Suche nach dem Knaben jetzt der Dunkelheit, dann aber auch der zahlreichen Haifische und auch der Wasserhose wegen ganz aussichtslos sei. Im übrigen wollte er unser Vorhaben gestatten. – Die Nassovia wendete also, während wir auf dem Achterdeck auf die Rückkehr Mautners warteten. Er hatte mir gesagt, er würde sich nach einer halben Stunde auf dem Achterdeck wieder einfinden; bis dahin würden unsere Leute wohl bereit sein. Als die halbe Stunde längst verstrichen war, wurde ich unruhig. Ich schlich nach dem Vorschiff, wo Mautner hinter dem Aufbau der Kombüse einen Beobachtungsposten hatte beziehen wollen. Dort war er nicht. Aber – auch der Verschlag der Chinesen, den sie sich aus Kisten und Körben hergerichtet hatten, war so gut wie leer. Ich leuchtete mit einer elektrischen Taschenlaterne hinein. Nur die beiden Frauen hockten dort mit stumpfsinnigen Gesichtern und kauten – Zwiebeln. Während ich noch dastand und überlegte, ob etwa auch mein Kollege[8] der Hinterlist der Gelben zum Opfer gefallen sei, hörte ich von der in das Zwischendeck hinabführenden Treppe her ein Geräusch, drehte mich um und – sah ein Dutzend Gestalten auf mich zuspringen. Zum Glück hatte ich meinen sechsschüssigen Revolver in der Hand, gab sofort Feuer. Fünfmal konnte ich abdrücken, dann riß mich die heulende und brüllende Chinesenbande zu Boden und schleppte mich nach achtern in den Speisesaal, wo ich bereits all unsere gesunden Leute mit Ausnahme der Maschinisten und Heizer vorfand. Die Gelben hatten die Matrosen nach einem natürlich vorher genau festgelegten Plan in Gemeinschaft mit den im Zwischendeck mitreisenden Kulis überwältigt, als ich nach Mautner sehen wollte. Wo dieser geblieben ist, weiß ich nicht. Die Chinesen – ich habe den Anführer der Gaukler bereits gefragt – behaupten, über ihn nichts angeben zu können. – So hat sich der Überfall auf uns abgespielt. Hinzufügen könnte ich noch, daß die gelbe Bande, als sie erst von Ihrer Petersburg aus einige Kugeln in die dürren Stelzen erhalten hatte, uns schleunigst freigab und mich besonders noch winselnd bat, für sie später vor Gericht ein gutes Wort einzulegen. Sie seien keine Piraten von Beruf, und nur der Umstand, daß die Besatzung der Nassovia durch die Krankheit so wenig widerstandsfähig geworden, habe sie zu diesem unüberlegten Tun verführt.“
Der alte Scherbaum zuckte die Achseln. „Ein paar von den Gelbgesichtern werden sicher gehängt. Schadet auch nichts. – Nun wollen wir mal die Gaukler des angeblichen Kisten-Gefangenen und des Knaben wegen gehörig ins Gebet nehmen, wobei etwas Nachhilfe mit dem Tauende sehr von Nutzen wäre. Meiner Erfahrung nach hilft ein gutes Dutzend „sanfte“ Hiebe auf die Kehrseite vortrefflich die Zunge lösen.“
Das Tauende trat in Tätigkeit, und nicht zu wenig. Trotzdem: Die Chinesen schworen bei all ihren Ahnen, weder von einem Gefangenen noch über den Verbleib Olaf Kerstens etwas zu wissen.
Auch eine Durchsuchung ihres Gepäckes förderte nichts Belastendes zu Tage.
Der erste Steuermann der Nassovia, der in nüchternem Zustand ein sehr brauchbarer Mensch war, wollte nun von Scherbaum gern darüber aufgeklärt werden, weshalb denn überhaupt die Petersburg Veranlassung genommen habe, die Nassovia anzuhalten.
So kamen die beiden Seeleute auf Assumoffs Depesche und auf den Piratendampfer zu sprechen.
Der Steuermann lächelte etwas ungläubig, als der Korsar und dessen Kapitän mit der schwarzen Maske erwähnt wurde. „Landsmann,“ sagte er zu dem alten Scherbaum, „glauben Sie denn an ein solches Märchen? Piraten – Unsinn! Wenn die beiden Dampfer Ihrer Reederei unweit der Küste Ceylons gekapert worden wären, hätte dies so lange gar nicht geheim bleiben können, da der Freibeuter doch auch andere Schiffe und nicht nur die Ihres Herrn als ebenso gute Beute weggenommen haben würde. Gäbe es einen solchen Piratendampfer, dann spräche man schon längst in allen Hafenkneipen Indiens und der Sunda-Inseln davon.“
Während dieser Unterhaltung standen Scherbaum und der den Grog noch mehr als dieser verehrende Steuermann auf der Brücke der Petersburg, die gerade die Trossen losmachte, um von der Nassovia freizukommen und ihre Reise nach Kolombo mit der gesamten Chinesenbande an Bord fortzusetzen.
Am anderen Ende der Brücke wieder beobachtete ein Mann der Tageswache mehr aus Langeweile mit dem Glase einen soeben am westlichen Horizont aufgetauchten Dampfer, der eine auffallend starke Qualmwolke hinter sich ließ.
Der Matrose trat jetzt plötzlich auf die beiden zu und meldete Scherbaum das aufkommende Schiff, indem er noch hinzusetzte, ihm scheine es, als ob jener Dampfer dort brenne.
Der alte Kapitän nahm sofort selbst das Glas, erklärte dann: „Stimmt – der steht in Flammen. Es ist Christenpflicht, ihm zu Hilfe zu eilen. Wir haben ja ohnedies schon so viel Zeit hier vertrödelt, daß ein paar Stunden mehr nichts ausmachen.“
Gleich darauf schlugen die Schrauben der beiden Dampfer an, die nun, die Petersburg zweihundert Meter etwa voraus, auf das brennende Schiff zuhielten.
– – – – – – – –
Olaf Kersten ängstigten schwere Träume. Er durchlebte nochmals die furchtbaren Augenblicke, als die Wasserhose ihn bedrohte, mit aller Deutlichkeit, nur daß sein schlafbefangenes und doch krankhaft reges Hirn aus der Naturerscheinung jetzt ein vorweltliches Ungeheuer machte, das ihn fressen wollte.
Vor Entsetzen schrie er so laut auf, daß der Ton seiner eigenen Stimme ihn weckte.
Schweißgebadet lag er da und starrte in das Dunkel seiner Kabine hinein. – Richtig – er befand sich ja an Bord des Korsarendampfers, dessen Kapitän der Maskierte zu sein schien, und nicht mehr auf der friedlichen Nassovia. Beinahe hätte er seine Erlebnisse auf dem Motorkutter jetzt auch für bloßen Traumspuk angesehen wie den Lindwurm. – Die Nassovia! Und Mautner – sein Freund. – Als dieser Name in seiner Gedankenreihe auftauchte, fuhr er von seinem Lager förmlich hoch.
Was mochte wohl aus Mautner geworden sein, der doch auf dem Kutter sich versteckt hatte?!
Diese Frage ließ ihm keine Ruhe. Schließlich drehte er das Licht in seiner Kabine an, schlüpfte in seine Kleider und begab sich an Deck.
Die Morgendämmerung lag bereits mit fahlem Licht über der nur leicht bewegten See. Das Achterdeck war leer. Auf der Brücke standen drei von den gelbbraunen Matrosen. Dafür ging es auf dem Vorschiff desto lebhafter zu. Als Olaf dort erschien, winkte ihm ein älterer Mann mit faltigem Gesicht zu und erklärte ihm in miserablem Englisch, dort sei die Kombüse; er solle sich nur etwas geben lassen, falls er Hunger habe.
Olaf dankte dem alten Farbigen, dachte an den vielleicht hungernden Mautner und bat den Schiffskoch, der ebenfalls Asiate war wie all die anderen, um Zwieback und etwas Fleisch. Er wolle in seiner Kabine essen und dann wieder schlafen gehen, fügte er hinzu. Der Koch sprach ein wenig Deutsch, machte ihm ein großes Paket zurecht, gab ihm einen Teller, Messer, Gabel und auch einen Topf kalten Tee mit und sagte, er wolle stets gut für ihn sorgen. Er liebe die Deutschen.
Als Olaf das Vorderdeck wieder betrat, stellten die farbigen Matrosen, die sämtlich gleichartige Leinenanzüge und weiche, breitkrempige Leinenhüte, alles in Gelbgrau, trugen, gerade vier große Kessel in einer Linie auf; die Kessel waren mit Holz, Papier, Teerstücken und anderen leicht brennbaren Dingen gefüllt.
Als Olaf das Vorderdeck wieder betrat, stellten die farbigen Matrosen
gerade vier große Kessel in einer Linie auf.
Olaf zerbrach sich den Kopf, wozu die Kessel wohl gebraucht werden sollten, und fragte schließlich den Alten mit dem zerfurchten Gesicht nach der Bedeutung dieser Menge Brennstoff in den eisernen Behältern.
Der Alte, der sich Aribu nannte, grinste freundlich und erwiderte: „Gefangene Jung nicht soll fragen. Alles sehen – nicht fragen!“
Da fielen Olaf die Verhaltungsmaßregeln ein, die der Maskierte ihm gegeben hatte. Richtig: fragen durfte er nicht.
Er ging weiter, durchschritt den Gang, der auf Steuerbord unter der Brücke hindurchführte, und schlenderte auf dem Achterdeck wie absichtslos auf den hier vor den Davits (eiserne Kranbalken) auf Stützen liegenden Kutter zu. Nachdem er sich vorsichtig umgeschaut hatte, spielte er weiter den Harmlosen und tat so, als wolle er sich den Kutter innen genauer ansehen, kletterte auf das Deck und verschwand in der kleinen Kajüte. Hier wartete er eine Weile. Als niemand sich um ihn kümmerte, öffnete er die vordere Tür und kroch auf den Verschlag zu, in den das Vorschiff durch das kleine Vorderdeck und durch eine mit einer niedrigen Tür versehene Querwand umgewandelt war. Die Tür hatte außen nur einen Riegel, kein Schloß. Er öffnete sie, schlüpfte in den Verschlag, zog sie dann wieder zu. Es war hier drinnen leidlich hell, da in jede Bordwand zwei runde Fenster eingelassen waren. Der Verschlag enthielt allerlei Kisten, Blechkannen, aufgerollte Segel, Taurollen und zwei kleinere Anker.
Von Mautner war nichts zu sehen. Olaf hatte jedoch schon festgestellt, daß, wenn der Steuermann noch hier versteckt war, er nur dort vorn unter dem Haufen Segel liegen konnte.
So war’s denn auch. Als der Junge zwei schwere Segelpacke fortgeräumt hatte, erblickte er seinen Freund, der mit einer Pistole in der rechten Hand sprungbereit in seinem Winkel hockte und gefürchtet hatte, von den Leuten des Korsarendampfers zufällig hier aufgestöbert worden zu sein.
Die beiden verständigten sich schnell über das Nötigste. Dann holte Olaf das Eßpaket und den Tee aus der Kajüte und erfuhr nun von Mautner, der es sich indessen gut schmecken ließ, das Wichtigste über die Vorgänge an Bord der Nassovia.
„Wo’s nottut überlege ich nicht lange,“ meinte Mautner jetzt, in seinem Bericht fortfahrend. „So auch in dem Augenblick nicht, als ich zehn von den Kulis nachschlich, die sich nach dem Achterdeck wandten und beinahe von unserem ersten Steuermann bemerkt worden wären, der nach vorn wollte, wahrscheinlich um mich zu holen. Die zehn Gelben hatten unsere ahnungslosen Leute auf dem Achterdeck im Nu und auch ganz lautlos niedergerungen. Ich hätte da nicht viel helfen können. Außerdem – und das gab bei mir den Ausschlag – hatte ich ja schon vorher beobachtet, daß die Männer der Gaukler-Truppe die große Kiste und einen Weidenkorb in aller Stille und mit vieler List auf das Achterdeck geschafft hatten, indem einer von ihnen die dort aufgestellte Wache in ein Gespräch verwickelte und ganz dicht nach dem Heck hinlockte. Ich ahnte, daß Kiste und Korb noch eine besondere Rolle spielen würden, und lag daher in meinem neuen Versteck hinter der Ankerwinde ganz ruhig, selbst als die Bande dann unseren Leuten über den Hals kam. Gleich darauf brachten die Gaukler Kiste und Korb angeschleppt, öffneten sie und halfen einem Manne und einem kleinen Mädchen heraus, denen sie blitzschnell Rettungsringe überstreiften und die sie dann, ehe ich noch zuspringen konnte, einfach über Bord stießen. Ich war so entsetzt und auch so sprachlos über das soeben Geschaute, daß eine ganze Weile verstrich, ehe ich mich genügend gefaßt hatte, um diese Vorgänge mir ihrer wahren Bedeutung nach klar zu machen. Die Rettungsringe waren’s, die mich vermuten ließen, daß der Mann und das Kind von einem hinter der Nassovia herfahrenden Schiff aufgefischt werden sollten. Während ich mir dies noch überlegte, hörte ich mehrere Schüsse fallen, darauf ein furchtbares Gebrüll. Sicherlich hat unser erster Steuermann seinen Revolver benutzt, bevor man auch ihn überwältigen konnte. Ich glaubte mich jetzt auf dem Achterdeck allein, richtete mich auf und spähte nach dem Fahrzeug aus, das meiner Ansicht nach die beiden so roh ins Wasser Gestoßenen aufnehmen sollte, und das dicht hinter uns sein mußte. Meine Augen sind ja vorzüglich, und so nahm ich wirklich etwas wie einen dunklen Schatten wahr, der dort in unserem Kielwasser schwamm. Das Interesse für das fremde Fahrzeug wäre mir beinahe verhängnisvoll geworden. Der Anführer der Gaukler tauchte plötzlich mit geschwungenem Beil neben mir auf, und – nur ein Sprung über Bord konnte mich noch retten. Ich sprang. – Und hatte dann auch das Glück, den Bordrand des Kutters zu erwischen. Dir sowohl als auch dem Manne und dem Kinde flüsterte ich dann zu, nichts von meiner Anwesenheit zu verraten.“
Olaf brannte schon längst eine Frage auf der Zunge. „Meinen Sie, daß dieser Dampfer tatsächlich ein Freibeuter, ein Korsar ist, Herr Mautner?“ forschte er nun gespannt.
„Nach dem zu urteilen, was der Maskierte zu Dir gesprochen hat und was ich durch eins der Fenster meines Verschlages von den Vorgängen auf dem Achterdeck dieses Schiffes beobachten konnte, gibt es nur eine Antwort: Ja! – Dieser Dampfer hat nämlich eine auf der Innenseite mit Stahlplatten unauffällig gepanzerte Reling. Dann wird es auch keinem Kapitän eines harmlosen Schiffes einfallen, sich vor Fremden eine Maske vorzubinden.“
Gleich darauf verabschiedete Olaf sich von dem Steuermann, der dem Knaben noch erklärt hatte, man würde ja wahrscheinlich recht bald sehen, was es mit diesem Dampfer auf sich habe.
Als der Junge dann von dem Kutter auf das Deck sprang, bemerkte er sofort dicke, schwarze Qualmwolken, die vom Vorschiff herkamen und immer stärker wurden. Neugierig darauf, ob etwa der Inhalt der Kessel angezündet sei, eilte er nach vorn, stieß in dem Gang unter der Brücke jedoch auf den Maskierten, der ihn anhielt und ihm freundlichen Tones einen guten Morgen wünschte. Dann fügte jener noch hinzu:
„Sehr bald wirst Du nun erfahren, Olaf, welches Handwerk ich treibe. Ich könnte Dich ja in Deine Kabine einschließen lassen, nehme aber davon in der Erwartung Abstand, daß Du, komme was kommen mag, nicht zu entfliehen suchst. Du hast bereits von mir gehört, welche Strafe Deiner bei dem geringsten Ungehorsam wartet.“
Hierauf ließ er den Jungen stehen und verschwand hinter der Tür seiner im Mittelaufbau unter der Brücke gelegenen Kajüte.
Olaf blieb auf Deck. Die Bemerkung des seltsamen Mannes über „das Handwerk, das er treibe“ konnte ja nur so gedeutet werden, daß der Korsar einen Überfall auf ein Schiff vorhabe.
Die Rauchmassen, die tatsächlich den vier Kesseln entstiegen, hüllten bald den ganzen Dampfer ein. Olaf hielt jedoch trotz der tränenden Augen und trotz des Hustenreizes so lange auf Deck aus, bis Aribu, der hier offenbar den ersten Steuermann spielte, ihn mit in seine ebenfalls im Mittelaufbau befindliche Kabine nahm.
Inzwischen hatte der Junge bereits zwei Dampfer wahrgenommen, die von Südost her sich näherten. Durch das Fenster der Kabine Aribus, der sehr bald wieder gegangen war, verfolgte er diese Schiffe weiter. Schließlich benutzte er sogar Aribus Fernglas hierbei, und nun, wo er den kleineren der Dampfer durch das Glas recht genau betrachtete, entschlüpfte seinen Lippen unwillkürlich der Name Nassovia!
Ja – es war die Nassovia mit den rot-weißen Streifen um den dicken Schornstein. Und jetzt – jetzt sollte sie die Beute des Piraten werden, nachdem sie doch in der vergangenen Nacht von den Chinesen genommen war?! Wie hing dies zusammen? Und – der zweite, größere Dampfer, – was mochte das für ein Schiff sein? Etwa auch eine Prise des gelben Gesindels?!
Olaf wurde nicht klug aus alledem. Er gab sich jetzt auch nicht weiter Mühe, die Widersprüche zu lösen, die er in diesen neuen Ereignissen entdeckte. Er beobachtete nur.
Zuweilen hinderte ihn der am Kabinenfenster entlangstreichende Qualm am Sehen. Trotzdem gewann er ein klares Bild von der Kühnheit und Verschlagenheit des maskierten Kapitäns des Piratendampfers.
– – – – – – – –
Der alte Scherbaum lehnte am Geländer der Brücke seiner Petersburg und sagte soeben zu dem Engländer Macdonald, dem ersten Steuermann:
„Der Dampfer drüben qualmt als ob er Pech geladen hätte. Das Feuer scheint im Vorschiff zu wüten. – Aha, jetzt verläßt die Besatzung den Dampfer. Sie kommt im Kutter herüber. Sieh an – sogar ’nen Motorkutter haben sie. – Macdonald, das Fallreep soll heruntergelassen werden. Der Kutter scheint an uns mehr Gefallen zu finden als an der Nassovia.“
Wenige Minuten darauf legte das Motorboot am Fallreep an. Der Kapitän der Petersburg knurrte oben auf der Brücke: „Alles braune Halunken drin! Auch nicht ein Weißer! Komische Sache.“
Die Sache wurde noch viel komischer.
Die Insassen des Kutters, gegen fünfzehn Farbige stiegen die Treppe empor. Erst als sie sämtlich oben, tauchte noch ein einzelner Mann aus der Kajüte des Kutters auf.
Und dieser Mann – trug eine schwarze Maske!
Scherbaum sah’s und die kurze Stummelpfeife fiel ihm vor Schreck aus dem Munde.
Eine schwarze Maske – der Pirat! – Blitzschnell machten des Alten Gedanken diesen Sprung. Dann brüllte er von der Brücke herab:
„Vorsicht – Gewehre holen – sofort!“
Zu spät! – Der Maskierte war mit zwei langen Sätzen eben auf Deck der Petersburg, riß jetzt zwei Revolver aus der Tasche, rief den neugierig und ahnungslos dastehenden Matrosen der Petersburg zu:
„Hände hoch – keinen Widerstand!“
Der Maskierte war mit zwei Sätzen auf Deck der Petersburg,
riß zwei Revolver aus der Tasche und rief: „Hände hoch –
keinen Widerstand!“
Und seine fünfzehn Leute hatten ebenso plötzlich wie er Revolver und halblange, indische Hauschwerter in den Händen, schlossen schnell einen Kreis um die Überraschten.
Scherbaum fluchte auf die Köpfe der Piraten eine ganze Symphonie herab. Was half’s?! – Nichts! Nur ein einziger, Macdonald, hatte eine Waffe in der Tasche, eine Selbstladepistole, legte auf den Maskierten an, wollte abdrücken.
Der bemerkte die Gefahr im letzten Augenblick, schnellte zur Seite.
Ehe der Engländer von neuem zielen konnte, krachte schon der Revolver des Korsarenkapitäns.
Macdonalds rechter Arm sank schlaff herab; die Hand ließ die Pistole fallen. Die Kugel hatte den Oberarm glatt durchschlagen.
Mit diesem einen Schuß war aber auch jeder Widerstand auf der Petersburg gebrochen. Nur Scherbaum wütete noch oben auf der Brücke in ohnmächtigem Grimm. Dann sah er den Maskierten auf die Treppe zukommen, dann standen die beiden Männer sich gegenüber.
Der alte Scherbaum war ganz blaurot im Gesicht vor Wut. Mit geballten Fäusten, zitternd vor Aufregung, schrie er, und seine Stimme schnappte des öfteren über:
„Sie – Sie werden baumeln für diesen Streich, Freundchen! Wenn Sie nicht sofort mit Ihrer Gaunerbande mein Schiff verlassen, dann – dann –“
Der Maskierte erwiderte oder besser ergänzte mit einer höflichen Verbeugung gegen den Alten:
„– dann soll es Ihnen übel ergehen! – Nicht wahr, so wollten Sie doch fortfahren, Kapitän! – Nun, daß diese Drohungen auf mich nur lächerlich wirken, werden Sie selbst bei ruhiger Überlegung einsehen.“ Er sprach Deutsch, genau so wie der alte Seebär in der Erregung sich seiner Muttersprache bedient hatte.
„Wie?!“ entfuhr es Scherbaum jetzt, „sind Sie etwa ein Landsmann von mir?! Dann schämen Sie sich in Ihre schwarze Piratenseele hinein, Sie Schwindler, Sie Betrüger, Sie –“
Der Korsarenkapitän hatte herzlich aufgelacht. Und dieses heitere Lachen verschlug dem Alten die Rede.
„Ich habe schon viel von Ihrer Grobheit gehört,“ meinte der Maskierte nun. „Eigentlich haben Sie ja recht. Ich habe Sie betrogen. Sie glaubten einem brennenden Dampfer zu Hilfe zu kommen und – liefen einem[9] Korsaren in die Arme, der sich den kleinen Scherz erlaubt hat, auf seinem Vorderdeck in vier Kesseln den nötigen Qualm zu erzeugen. – Doch nun zu den – geschäftlichen Dingen. Sie und Ihre Leute verlassen sofort die Petersburg in den beiden größten Rettungsbooten, nehmen genügend Proviant mit und segeln drei Tage lang nach Süden. Dann erst können Sie jeden Ihnen beliebigen Kurs nehmen. Die Petersburg wird nachher versenkt. – Was gibt’s, Aribu?“ wandte er sich an seinen soeben auf der Brücke erschienenen ersten Steuermann.
Aribu flüsterte ihm etwas zu.
„Ah!“ entfuhr es dem Korsarenkapitän. „Dacht’ ich’s mir doch! – Nun gut, Aribu, laß die Chinesen an Deck bringen. Ich werde Gericht halten.“ Er hatte dies in einer Sprache gesagt, die Scherbaum nicht verstand, die ihn aber an das Türkische erinnerte.
Aribu verließ die Brücke. Inzwischen hatte der Alte einzusehen Zeit gehabt, daß er klüger tat, dem Korsaren gegenüber einen anderen Ton anzuschlagen. Er verlegte sich jetzt aufs Bitten. Der Korsar solle sich doch mit der Ladung der Petersburg begnügen und das Schiff selbst verschonen. Er – Scherbaum – würde ja durch eine Versenkung des Dampfers noch auf seine alten Tage brotlos werden. Und er habe daheim in Odessa eine Frau und vier unverheiratete Töchter! Diese seien leider mit Schönheit so wenig begnadet, daß sie nie einen Mann bekommen würden. – So bat der Alte. Wie erstaunt war er nun, als der Korsar ihm die Hand hinstreckte und sagte:
„Gut – die Petersburg wird nicht versenkt – Ihretwegen! Geben Sie mir aber Ihr Ehrenwort, drei Monate lang dort zu bleiben, wohin ich Sie mit dem Dampfer schicken werde. Auch Ihrem Reeder dürfen Sie auf keine Weise von dieser meiner Milde Nachricht geben, etwa durch Funkspruch.“
Scherbaum sank eine ganze Wagenladung Steine vom Herzen. Er wollte sich wortreich bedanken, doch der Maskierte winkte kurz ab.
„Lassen Sie das,“ meinte er. „Wären Sie nicht ein Deutscher, – nichts könnte den Dampfer vor der letzten Reise in die Tiefe des Indischen Ozeans retten.“ Dann nickte er Scherbaum ein „Auf Wiedersehen!“ zu und verließ die Brücke. –
Wie war’s nun inzwischen der Nassovia ergangen? – Nicht anders als dem russischen Frachter. Auch dort hatte ein Boot mit zwölf Farbigen am Fallreep festgemacht, und die Überrumpelung der kleinen Besatzung war dann noch schneller und leichter vor sich gegangen als auf dem Russen.
Auf dem Piratendampfer aber qualmten die vier Kessel noch immer.
„Es ist klar, weswegen,“ sagte der alte Scherbaum zu seinem zweiten Steuermann. „Wir sollen die Bauart des Korsarendampfers nicht zu genau erkennen. Jetzt ist diese verdammte Räucherei also nur noch ne Vorsichtsmaßregel. Vorhin aber war’s ne List, um ungefährdet – zwei Fliegen mit einer Klappe zu fangen!“
Der Motorkutter des Korsaren war sehr bald nach der so tadellos geglückten Wegnahme der Petersburg nach dem in Qualmwolken gehüllten Dampfer zurückgekehrt, der sich inzwischen noch ein gutes Stück von den beiden gekaperten Schiffen entfernt hatte.
Olaf Kersten stand jetzt ganz vorn am Bugspriet des Korsaren, wo er von den nach achtern ziehenden Rauchmassen in keiner Weise belästigt wurde. Alles, was seit dem Auftauchen der beiden Dampfer geschehen war, hatte er genau beobachtet, da Aribu ihm das Fernglas vorläufig belassen hatte. Er wußte jetzt aber auch, welchen Namen und welchen Außenbordanstrich der Freibeuter trug. Beides hatte er erst hier von diesem Platz aus feststellen können.
Der Korsarendampfer zeigte zu beiden Seiten des Bugs den in leuchtend roter Farbe gemalten Namen Kavete[*1], während er im übrigen gelb gestrichen war mit Ausnahme eines schwarzen Streifens, der die Reling von dem eigentlichen Schiffsrumpfe trennte.
Der Junge hatte den Kutter heranjagen sehen. Er wunderte sich auch jetzt wieder über dessen hohe Geschwindigkeit, die selbst für ein Boot mit kräftigem Motor auffallend groß war. Während er noch die riesige Heckwelle anstaunte, die wie ein Wasserberg dem Kutter folgte, fiel ihm Mautner ein, der bisher in seinem Versteck im vorderen Verschlage offenbar noch nicht bemerkt worden war. Ob der Steuermann wohl die günstige Gelegenheit, als der Kutter am Fallreep des großen Dampfers dort vertäut lag, dazu benutzt haben mochte, sich irgendwo an Bord jenes Schiffes zu verbergen, auf das er sich doch fraglos bei der allgemeinen Aufregung aus Anlaß der Überrumpelung der Besatzung leicht hätte hinüberschwingen können?
Olaf lag viel daran, diese Frage zu klären. Er verehrte Mautner wie einen zweiten Vater, und der Gedanke, den Steuermann gleichfalls auf dem Korsarenschiff zu wissen, war für ihn eine große Beruhigung gewesen. Besaß er doch so einen Menschen, mit dem er sich von Zeit zu Zeit heimlich aussprechen und an dessen gereiftere Lebenserfahrung er sich wenden konnte. Nun war es jedoch recht zweifelhaft, ob Mautner es nicht vorgezogen hatte, sein immerhin nicht ungefährliches Abenteuer, das mit dem Sprunge in die nächtliche See begann, schleunigst durch Verlassen seines Verstecks zu beenden.
Das zurückkehrende Motorboot machte jetzt am Fallreep des Korsaren fest. Olaf hatte genau aufgepaßt, wieviel Leute sich an Bord befanden. Es waren nur drei gewesen, und diese drei sah er jetzt in dem Treppenaufbau des Achterdecks verschwinden.
Hastig verließ er seinen bisherigen Beobachtungsposten und lief durch den dicken Rauch hindurch nach dem Fallreep hin, eilte die Stufen abwärts und verschwand in dem Vorschiffsverschlag des träge auf und nieder schaukelnden Kutters.
„Herr Mautner – Herr Mautner!“ rief er ganz atemlos. „Ich bin’s – der Olaf! Ich will nur zusehen, ob Sie –“
Über ihm auf den Deckplanken Schritte. Er verschluckte vor Schreck das nächste Wort, lauschte mit klopfendem Herzen, hörte nun auch Stimmen über sich, hörte den Motor anspringen, merkte an der Veränderung des Schaukelns, daß der Kutter wieder den Freibeuter verließ und davonfuhr.
Olaf saß ganz starr vor Entsetzen auf einer der Kisten. In seinem Hirn hasteten die Gedanken. Würde nicht der Maskierte, wenn man ihn hier zufällig jetzt entdeckte, annehmen, daß er habe fliehen wollen?! Und – hatte nicht der Korsarenkapitän ihm bei dem geringsten Ungehorsam mit strengster Einsperrung an einem Orte gedroht, dem – und das hatte jener damals mit erhobener Stimme betont! – noch niemand entronnen sei.
Daran erinnerte sich Olaf jetzt. Er verwünschte deshalb auch seine Voreiligkeit, die ihn dazu verführt hatte, so unbedacht hier hinabzusteigen. – Was nun?! Wie nur konnte er diesen Leichtsinn wieder gut machen?!
Zunächst wollte er sich hinter denselben Segelrollen verkriechen, die auch Mautner als Deckung benutzt hatte. Sie waren unachtsam übereinander geworfen, – der beste Beweis, wie eilig der Steuermann den Verschlag verlassen hatte.
Nun hockte der Junge hinter den mühsam aufgerichteten Leinwandrollen. Es war nicht nur die hier herrschende Hitze, die ihm den Schweiß aus allen Poren trieb. Nein, auch die Angst und die Aufregung taten ihr Teil dazu.
Nicht lange dauerte es, dann hörte der Motor zu arbeiten auf, dann begann der Kutter wieder unregelmäßiger und schwächer zu schaukeln, wurde auch jenes Knarren und Quietschen vernehmbar, das durch das Reiben der Bordwand gegen das Holz eines Fallreeps entstand.
Der Kutter hatte also wieder einen der gekaperten Dampfer erreicht. Der Knabe in seinem Versteck hatte jetzt nur einen Wunsch: daß das Motorboot recht bald nach der Kavete zurückkehren möchte und daß er ungesehen wieder aus dieser Falle herauskäme.
Doch – er mußte sich noch gedulden. Minute um Minute verstrich. Auf Deck des Kutters regte sich nichts. Die drei Leute hatten ihn sicherlich verlassen, waren auf dem Dampfer, an dem das Motorboot jetzt festgemacht hatte. War dies nun die Nassovia oder das größere Schiff? fragte Olaf sich. Bald hatte dann auch die Neugier über die Angst gesiegt. Er arbeitete sich hinter den Rollen hervor und schaute durch eines der runden Fenster, von dem aus er die Bordwand des Dampfers deutlich sehen konnte. Sie war dunkelgrau gestrichen. Und da – da war ja auch der große Fleck, von dem die Farbe abgerieben war und den Mautner stets ärgerlich als „Schandmal für ein deutsches Schiff“ in seiner Ordnungsliebe bezeichnet hatte.
Die Nassovia also! – Da begann in Olafs Herzen ein neuer Kampf. Zu gern hätte er nur einen einzigen Blick über die Decks des Dampfers geworfen, auf dem er im Verlaufe dieser Reise so viele frohe Stunden verlebt hatte. Wie mochte es wohl auf der Nassovia aussehen, die dem maskierten Korsarenkapitän ja genau so ahnungslos ins Garn gegangen war wie das andere Schiff? Was war wohl aus den Chinesen geworden, und was aus der großen Mahagonikiste und dem Weidenkorbe, in dem es sich gleichfalls gestern nacht so geregt hatte, als sei darin ein lebendes Wesen verborgen?
Auch dieser Kampf zwischen neugierigem Interesse und Furcht vor dem Entdecktwerden dauerte nur wenige Minuten. Dann schlüpfte Olaf aus dem Verschlage hinaus und zunächst in die kleine Mittelkajüte. Hier kletterte er auf den Klapptisch und reckte den Kopf bis zum Oberlichtfenster empor. Er sah, daß niemand in der Nähe war. Nun hastete er auch das Fallreep hoch und schaute durch die offene Relingpforte über das Vorderdeck. Alles sicher. Dort lag das Gepäck der Chinesen; dort – ja, das war eine große Blutlache. Nun den Kopf nach links gedreht, – die Brücke ebenfalls leer! Nur – vom Achterdeck her vernahm er plötzlich eine laute, herrische Stimme, die des Korsarenkapitäns.
Der bisherige glückliche Verlauf dieses Wagnisses gab Olaf nun auch den Mut, auf allen Vieren nach dem Gang hinzukriechen, der auf Steuerbord unter der Brücke hindurch auf das Achterdeck führte. In diesen Gang mündeten die Türen von vier Kabinen. Und eine dieser Türen stand offen; es war die Pendeltür nach dem Waschraum, die schon immer etwas schief in den Gelenken gehangen hatte und nie von selbst zugefallen war. Dies kam dem Jungen jetzt zu statten, denn sie bildete nun gleichsam einen Wandschirm, der den Gang halb versperrte und es einem Lauscher möglich machte, hinter ihr Posto zu fassen und derart gedeckt sowohl zu hören als auch zu sehen, was auf dem Achterdeck vorging.
Olaf Kersten brachte jetzt den Kopf dicht an die Spalte zwischen Tür und Wand. Kaum vier Meter vor ihm standen die zu der Gauklertruppe gehörigen acht Männer dicht beisammen, bewacht von fünf Matrosen des Korsaren. Vor den Chinesen aber saß der Maskierte auf einer Ecke der großen Mahagonikiste. Er trug wieder die schwarze, bis an die Oberlippe reichende Seidenmaske; auch die blaue, doppelreihige Jacke und die Schirmmütze aus demselben Stoff wie heute morgen, als Olaf ihm auf dem Deck des Freibeuters begegnet war. Nur hatte er jetzt um den Leib einen Riemen geschnallt, an dem links ein seltsam geformter, breiter Säbel mit langem Elfenbeingriff hing. Später erfuhr der Junge, daß es ein sogenanntes Samurai-Schwert war, eine sehr alte und sehr wertvolle japanische Waffe, deren Stahlklinge Eisenstäbe glatt durchschlägt.
Außer diesen Personen befand sich niemand weiter auf dem Achterdeck. Von den Leuten der Besatzung der Nassovia war nicht einer zu bemerken.
Jetzt erhob der Maskierte drohend den Arm gegen den dicht vor ihm stehenden Anführer der Gaukler und rief:
„Wie, Du wagst an meinen Worten zu deuteln?! Du suchst Dein Verhalten dadurch zu rechtfertigen, daß Du angibst, Du hättest einzelnes von dem vergessen, was zwischen uns vereinbart wurde?! – Ich werde Dein Gedächtnis etwas auffrischen. Vielleicht gestehst Du dann ein, gerade das getan zu haben, wovor ich Dich so eindringlich warnte: Vor dem geringsten Ungehorsam!“ –
Diese Szene, der Olaf Kersten hier unbemerkt beiwohnen durfte, war das Gericht, das der Korsarenkapitän über die schuldigen Chinesen hatte abhalten wollen, wie er dies Aribu gegenüber geäußert hatte. Er bediente sich jetzt des Englischen, das auch den weitgereisten bezopften Gauklern geläufig war.
Nach kurzer Pause begann er nun wieder: „Ich war nach Kolombo gekommen, um dort ein Kind zu entführen, das unter dem Schutze eines alten Dieners in einem Hotel leicht erkrankt zurückgelassen war, da seine Eltern ihre dringende Reise nach Batavia fortsetzen mußten. Ich hatte mir die Schwierigkeiten, dieses mein Vorhaben auszuführen, geringer gedacht. Um mich nicht unnötig bloßzustellen, beschloß ich, das Kind durch andere rauben zu lassen. Ich suchte Dich, den Führer Eurer Truppe, kennen zu lernen, in der Hoffnung, in Dir ein brauchbares Werkzeug zu finden. Ich hatte mich nicht getäuscht. Gegen einen entsprechenden Lohn warst Du schnell bereit, alles zu tun, was ich verlangte. Ich entwickelte Dir meinen Plan, wie das Kind ganz unauffällig verschwinden könnte, weiter auch, wie Du es mir dann wieder ausliefern solltest, und ich fügte hinzu, daß Du nachher an Bord der Nassovia alles vermeiden müßtest, was Dir und den Deinen Ungelegenheiten bringen oder gar eine gerichtliche Untersuchung herbeiführen könnte. Ich erklärte Dir zur Begründung dieser ernsten Warnung, daß es mir darauf ankäme, den Verbleib des Kindes in möglichst tiefes Dunkel zu hüllen, und daß diese meine Absichten dadurch gefährdet werden könnten, wenn Ihr irgend eine Unvorsichtigkeit hier auf der Nassovia begehen würdet. – Besinnst Du Dich jetzt schon etwas besser?“
Der Chinese zog den Kopf tief zwischen die Schultern ein, machte ein klägliches Gesicht und erwiderte zögernd:
„Oh, Master haben zu armen Chinaman vielleicht so sprechen wollen –“
Der Korsarenkapitän stieß ein hartes Lachen aus.
„Du willst Dich nicht besinnen! – Nun – ich werde noch mehr Einzelheiten erwähnen. Vielleicht arbeitet Dein Hirn dann besser. – Ihr konntet das Kind nicht entführen, ohne auch den alten Diener mitzunehmen. Die Umstände waren Euch nicht günstig. Die strenge Hafenkontrolle in Kolombo machte es dann nötig, Eure beiden Gefangenen in Eurem Gepäck verborgen mit auf die Nassovia zu schmuggeln, auf der Ihr schon Plätze bis Batavia belegt hattet. Unsere weitere Vereinbarung ging dahin, daß Ihr in der vierten Nacht nach der Ausreise von Kolombo das Kind und den Diener an Tauen über Bord lassen solltet. Ich wollte beide dann in ein Boot aufnehmen, mit dem ich mich bis unter das Heck des Dampfers heranschleichen zu können hoffte. Und – was habt Ihr nun statt dessen getan?! Ohne jeden zwingenden Grund warft Ihr Eure Gefangenen über Bord in die See, wo nur zu leicht einer der zahlreichen Haie sie hätte anfallen können, bevor es mir noch gelang, sie aufzufischen. Ein glücklicher Zufall war’s, daß ich rechtzeitig das Aufschlagen der beiden Körper im Wasser hörte, daß ich beide dann auch an Bord meines Kutters hochziehen konnte. Ihr habt gehandelt wie wilde Bestien! Nicht einmal mit dem zarten Kinde hattet Ihr Erbarmen, dem ich jede unnötige Angst ersparen wollte. Schlimm genug, daß es vier Tage in dem Korbe zubringen mußte! – Das war Euer erster Ungehorsam. Nicht genug hiermit, hattet Ihr inzwischen bereits mit Euren dreißig Landsleuten, den Kulis, den Überfall auf die noch gesund gebliebenen Leute des Dampfers verabredet, – Ihr, die Ihr doch jede Unvorsichtigkeit unterlassen solltet! So kam’s denn, wie ich jetzt erfahren habe, daß der Dampfer Petersburg Euch gerade zur rechten Zeit begegnete, um größeres Unheil zu verhüten, das heißt, um Euch alle zu entwaffnen. – Nun – wie steht es jetzt mit Deinem Gedächtnis?“ Bei den letzten Worten hatte der Korsarenkapitän sich erhoben und das Schwert halb aus der Scheide gezogen.
Da war’s mit der Frechheit des Chinesen vorbei. Er warf sich aufheulend und nicht anders wähnend, als daß der Maskierte ihn bei einer neuen Lüge kurzer Hand niederstoßen würde, lang auf die Planken hin, winselte in feiger Angst ein Geständnis seiner Schuld hervor und fügte noch hinzu:
Da war’s mit der Frechheit des Chinesen vorbei. Er warf sich
aufheulend auf die Planken hin.
„Oh, Master nicht vergessen dürfen, daß arme Chines’ es waren, die es Master erst möglich machten, beide Dampfer gleichzeitig zu erbeuten. Master sind große Pirat, wie ich jetzt gemerkt, und Master nicht werden arm Chinaman wegen kleines Versehen töten –“
Wieder lachte der Maskierte hart und schneidend auf, sagte dann voller Verachtung:
„Du hältst mich so halb und halb für Deinesgleichen, weil ich mir meine Seegesetze allein mache, weil ich denen nehme, die zu viel haben, weil ich vogelfrei bin als Freibeuter! – Nein, Du erbärmlicher, brutaler Wicht, – zwischen uns gibt’s denn doch eine Schranke, die uns trennt: das Mitgefühl mit all denen, die es verdienen! – Du zitterst vor dem Tode! Und doch warfst Du, der Du wissen mußtest, wie leicht Eure Gefangenen den Haien zum Opfer fallen konnten, die beiden einfach über Bord, warfst sie dem Tode in den Rachen, demselben Tode, den Deine feige Seele jetzt mit Recht befürchten würde, wenn ich für Dich nicht noch ein schlimmeres Ende wüßte als das durch das Gebiß eines Haifisches!“
Er schwieg, wandte sich an seine Leute.
„Gebt ihm zunächst das Tauende zu kosten, – fünfzig Streiche, – den anderen dreißig,“ befahl er kurz. „Das Weitere ordne ich später an.“ –
Mit atemloser Spannung hatte Olaf diese seltsame Gerichtssitzung verfolgt. Gerade jetzt, als der Korsarenkapitän den vor Angst brüllenden und seine Beine umklammernden Chinesen mit kräftigem Fußtritt beiseite stieß, hörte der Junge vom Vorschiff her schwere Schritte, sprang kurz entschlossen in den Waschraum hinein und riß die Tür zu.
Die Schritte kamen den Gang entlang. Die Tür des Waschraums hatte ein kleines, rundes Fensterchen. Olaf schaute hindurch, zuckte zusammen, konnte kaum einen Ausruf des Entsetzens unterdrücken, denn, drei Leute der Kavete führten den gefesselten Mautner vorüber.
Mautner entdeckt – gefangen! – Dem Jungen stand das Herz still bei diesen Gedanken.
Gefangen! Und – was würde der Maskierte nun über den beschließen, der, im Verschlage des Kutters versteckt, sich an Bord der Kavete befunden hatte?!
Olaf wollte Gewißheit haben um jeden Preis. Er sagte sich sehr wohl, daß es vielleicht schon bemerkt worden sei, wie er diese Tür hier soeben so hastig geschlossen hatte, daß es ein Wagnis sei, sie wieder zu öffnen, um die neuen Vorgänge auf dem Achterdeck ebenfalls zu belauschen.
Doch – all das war ihm jetzt gleichgültig. Handelte es sich doch um Mautner, seinen gütigen Freund und Beschützer! – Langsam schob er die Tür wieder auf.
Dort stand der Steuermann vor dem Korsarenkapitän, der ihn mit den unter der Maske hervorleuchtenden Augen scharf musterte und dann leise etwas fragte, wahrscheinlich, um von den Chinesen nicht gehört zu werden, die jetzt an der Reling sich ängstlich zusammendrängten.
Mautner antwortete ebenso leise. Dann rief der Maskierte befehlend:
„Man hole je drei Leute der Besatzung der beiden Schiffe herbei. Sie sollen Zeugen sein, daß ich kein Erbarmen kenne, wenn es meine eigene Sicherheit erfordert!“
Olaf mußte jetzt schleunigst die Tür wieder schließen, da einer der Matrosen der Kavete auf den Gang zukam.
Zehn Minuten später etwa waren auf dem Achterdeck der Nassovia die sechs befohlenen Leute der beiden gekaperten Dampfer versammelt. Auch der alte Scherbaum befand sich unter ihnen. Die Chinesen waren vorläufig unter Deck geschafft worden. Dafür standen jetzt fünf der braunen Matrosen des Piraten an der Reling, hatten Gewehre in den Händen, die gleichfalls von der Petersburg mit herübergebracht worden waren.
Olaf wagte sich jetzt wieder vorsichtig im Schutze der leise geöffneten Tür in den Gang hinaus. Er rechnete damit, daß niemand auf die sich bewegende Tür achten würde.
So hörte er denn, wie der alte Scherbaum gerade ausrief:
„Herr, das ist Mord, glatter Mord! Vorhin haben Sie sich doch mir gegenüber menschlich gezeigt, indem Sie mir versprachen, die Petersburg nicht zu versenken. Und jetzt – jetzt wollen Sie diesen Mann hier nur deshalb erschießen lassen, weil er auf dem Kutter in seinem Versteck blieb, anstatt sich Ihnen offen zu zeigen?! Nur deshalb auch, wie Sie soeben selbst sagten, um uns zu beweisen, was uns bevorsteht, wenn wir Ihren Befehlen nicht pünktlich nachkommen?! – Herr, wer Sie auch sind, – ich warne Sie, – es gibt eine Vorsehung dort oben, die über uns wacht, die –“
„Genug!“ fiel der Korsar dem erregten Alten ins Wort. „Ich habe nicht Zeit, mich mit Ihnen in eine Erörterung darüber einzulassen, ob mein Vorgehen gegen diesen Mann hier, der jetzt nur zufällig von meinen Leuten unten im Laderaum der Petersburg erwischt worden ist und der mir als Spion hätte gefährlich werden können, gerechtfertigt erscheint oder nicht. Es bleibt bei meinem Befehl. Verfügen Sie sechs sich jetzt auf das Vorderdeck. Ich will Sie insofern schonen, als Sie nicht Zeugen der Erschießung dieses Menschen sein sollen, – nur seines Begräbnisses, das ich ihm wie jedem Seemann zukommen lassen will.“
Scherbaum war ganz bleich vor Aufregung geworden.
„Sie – Sie sind ein Schurke, ein Mörder, ein gemeiner Bösewicht!“ brüllte er. „Sie werden –“
Da hatte ihn schon einer der braunen Matrosen unsanft gepackt und stieß ihn vorwärts dem Gange zu.
Olaf war halb bewußtlos in den Waschraum getaumelt, hatte die Tür nur angelehnt, ohne an seine eigene Sicherheit zu denken. In seinem Hirn brannte nur ein Gedanke: Mautner sollte sterben – sterben – sofort!
Die Beine versagten ihm den Dienst. Er sank in einer Ecke der kleinen Zelle in die Knie. Sein Kopf schlug gegen die Wand. Seine Hände falteten sich unwillkürlich, und über seine Lippen kam ein wirres Stoßgebet für den Mann, den er liebte wie seinen Vater.
Dann schnellte er förmlich hoch. Eine Salve hatte auf dem Achterdeck gekracht!
„Mautner – Mautner tot!“ stöhnte er, an allen Gliedern zitternd.
Schritte tappten nach einer Weile an dem Waschraum vorüber.
Olaf erhob sich mühsam. Er hatte jetzt das Entsetzen überwunden, fühlte nur noch die bebende Angst, hier entdeckt zu werden, wollte auf den Kutter zurück, sich dort wieder verkriechen. Er bangte um sein Leben, denn dieser – dieser Elende, dieser Mörder mit der Maske, war ja zu allem fähig.
Jetzt schob er die Tür ganz, ganz behutsam auf. Nun ein Blick nach dem Achterdeck hin.
Da standen an der Steuerbordreling die sechs Zeugen von den beiden Dampfern, die Matrosen der Kavete und der Maskierte. Die braunen Piraten hielten ein Brett, auf dem eine in eine deutsche Flagge eingewickelte Leiche festgebunden war. Und jetzt – jetzt flog das Brett über Bord.
Olaf war mit zwei Sätzen auf dem Vorderdeck, mit zwei Sprüngen das Fallreep hinab in dem Kutter, schlüpfte in den Verschlag, hinter die Leinwandrollen.
Eine Art Betäubung überkam ihn jetzt. Nach den Aufregungen der letzten Stunde versagten seine Kräfte. Wie im Halbschlaf gingen seine Gedanken wirre Pfade.
Allmählich klärten sie sich. Olafs Geist war wieder imstande, das soeben Erlebte in seinen Einzelheiten zu überschauen. – Mautner war tot, ermordet – ohne Grund! Und Mautner war sein Freund gewesen, mehr noch, seit er ihn näher kannte, hatte er den Schmerz über den Tod der Eltern langsam überwinden gelernt, hatte er in Mautner den gefunden, der ihm das Verlorene ersetzte. Und diesen Mann hatte der Korsar erschießen lassen – diesen Mann!
Das sollte gerächt werden, das würde er an denen vergelten, die Mautners Mörder waren. Ja – nur ein Ziel sollte ihm fernerhin noch vorschweben. Rache – Rache!
So dachte Olaf Kersten. Eine heiße Blutwelle schoß ihm ins Gesicht. Er fühlte, wie alle Schwäche von ihm wich, wie stark dieses eine Empfinden ihn beeinflußte, wie es seine Phantasie anregte, wie es jede Muskel in ihm spannte, dieser heiße Wunsch, Vergeltung zu üben. –
Der Kutter war wieder in Fahrt. Olaf merkte es nicht. Seine Gedanken waren anderswo, wanderten Zukunftswege, brüteten Pläne aus, den Mörder Mautners, das ganze Korsarenschiff zu verderben.
Da – ein anderes trat plötzlich als klares Erinnerungsbild in die Reihe dieser hastenden Gedanken ein: die Szene, wie er in wahnwitziger Angst der Wasserhose blindlings entgegenschwamm, wie dann eine starke Faust ihn hochgerissen hatte auf das Vorderdeck des Kutters.
Sein Retter – das war ja derselbe Mann, der nun so kaltblütig gemordet hatte! Sein Retter! – Das blieb der Maskierte, mochte er auch vorhin einen anderen erbarmungslos vor die Gewehre gestellt haben! – Und – an seinem Retter wollte er jetzt den Tod Mautners rächen?!
Bange Zweifel stiegen in ihm auf. Durfte er sich zum Werkzeug dessen machen, an den seine Mutter ihn glauben gelernt hatte, – an Gott, an eine gerecht waltende Vorsehung; durfte er es sich anmaßen, da den Richter zu spielen, wo er nur Gefühle des Dankes hegen durfte?!
Dann – abermals taucht in seinem Gedächtnis etwas Neues auf, – die Worte des Korsarenkapitäns an den Führer der Gaukler, das darin liegende Geständnis, daß jener das Kind hatte seinen Eltern entführen lassen, – noch dazu auf diese Weise – in einen Korb eingezwängt – vier Tage lang!
War dies nicht schon allein Beweis genug für die rohe Denkungsart des Piraten?! – Was wollte es da bedeuten, daß der Maskierte dem Chinesen gegenüber andere Gefühle betont hatte, daß er von Mitleid, von Menschlichkeit gesprochen hatte! Konnte dies nicht erheuchelt gewesen sein?!
Ja – nur Heuchelei war’s gewesen! Und diese Überzeugung gab jetzt den Ausschlag. Der Korsarenkapitän als Lebensretter war vergessen. Nur noch an ihn als Mörder dachte der Junge.
Auge um Auge, Zahn um Zahn! –
So fuhr Olaf Kersten dem neuen Abschnitt seines Lebens auf der Kavete entgegen.
Olaf hatte Glück. Nachdem der Kutter wieder an dem Korsaren festgemacht hatte, gelang es ihm, unbemerkt auf Deck und in seine Kabine zu schlüpfen. Hier warf er sich in Kleidern auf sein Bett und verfiel auch sofort, durch die Anstrengungen vollständig erschöpft, in einen bleiernen Schlaf.
Als er erwachte, sah er zu seinem Erstaunen sofort, daß die Eisenplatte vor dem Fenster verschwunden war. Er schaute hinaus. Die Sonne war bereits im Sinken begriffen. Durch rötliche Dunstmassen leuchtete sie dicht über dem Horizont wie der ferne Schein eines Riesenfeuers hindurch.
Der Himmel war im übrigen wolkenlos und klar. Der Wind hatte aufgefrischt, und die Kavete wiegte graziös ihren schlanken Leib auf den gleichmäßigen Wogen, deren Schaumkämme vom Widerschein des Sonnenuntergangs zart rosa schimmerten.
Olaf spürte Hunger, tauchte schnell Gesicht und Hände in das Waschbecken und ging dann nach vorn nach der Kombüse, ließ sich von dem freundlichen Koch Essen geben und setzte sich mit einem Teller voll Fleischbrühe mit Reis oben auf das niedrige Dach des Kombüsenaufbaus.
Hier stellte er fest, daß das Meer weithin leer war. Die beiden gekaperten Dampfer waren verschwunden. – Was mochte aus ihnen geworden sein? – Olaf wußte ja nur das eine, daß der Piratenkapitän die Petersburg nicht hatte versenken wollen. Dies war ja aus den zornigen, empörten Worten des alten Seemannes hervorgegangen, mit denen er dem Maskierten gegenüber Einspruch gegen die Ermordung Mautners erhoben hatte.
Aber die Nassovia? Welches Schicksal war ihr beschieden gewesen? – Zu gern hätte Olaf den Steuermann Aribu danach gefragt. Doch – es hatte ja keinen Zweck. Aribu würde nicht antworten.
Olafs Blicke wanderten nun prüfend über das Korsarenfahrzeug hin. Er, der in einer Hafenstadt groß geworden, verstand einiges von Schiffen, konnte recht gut ihre Bauart beurteilen und die Segler nach ihrer verschiedenen Takelage als Dreimaster, Bark, Brigg, Schoner und deren Zwischenstufen unterscheiden.
Jetzt, wo er zum erstenmal kritisch die Kavete betrachtete, fiel ihm sehr bald verschiedenes auf. Besonders merkwürdig erschienen ihm die Deckaufbauten, die den überschlanken Schiffskörper plump wie einen gewöhnlichen Frachtdampfer machten. Aus verschiedenen anderen Kleinigkeiten schloß er dann weiter, daß der Schornstein nur eine Attrappe aus Eisenblech und das Schiff mit Motoren, nicht mit einer Dampfmaschine ausgerüstet sein müsse. Hierfür sprachen besonders die Geräusche aus dem Maschinenraum und der schwache Benzingeruch, der überall zu spüren war. Immer mehr verstärkte sich der Verdacht bei ihm, die Kavete sei ursprünglich eine Privatjacht gewesen und erst später umgebaut worden. Hierauf deutete auch ihre Geschwindigkeit hin, die sehr beträchtlich war. –
Die Sonne war jetzt verschwunden. Der Korsar fuhr etwa südwestlichen Kurs. – Auf der Brücke hatten bisher nur zwei Mann gestanden, der, der das Steuerrad bediente, und eine Wache, die mit einem Glase hin und wieder den Horizont absuchte.
Jetzt tauchte noch ein dritter oben auf. Olafs Augen weiteten sich. Ja – es war der Korsarenkapitän, doch – ohne Maske! – Er sprach mit dem Steuerer, führte dann eine Pfeife an die Lippen.
Ein paar schrille Pfiffe. Aribu, der ganz vorn mit mehreren Matrosen eine Menge Ballen und Kisten in den Laderaum mittels eines Kranes hinabgeschafft hatte, wiederholte die Signale.
Aus dem Mannschaftslogis im Vorschiff erschienen eiligst die Matrosen, begannen die Segel für die beiden Masten der Kavete bereitzumachen.
Die weiße Leinwand flog hoch, entfaltete sich knallend und spannte sich, prall gefüllt, straff. Der Korsar verbeugte sich tief nach Steuerbord vor der frischen Abendbrise, pendelte noch einmal nach Backbord, richtete sich wieder auf, legte sich abermals langsam nach Steuerbord über und segelte so mit ziemlich schrägen Decks stolz und sicher weiter.
Olaf hatte mit Interesse diese Manöver beobachtet, hatte gemerkt, wie vortrefflich die braune Mannschaft ihren Beruf verstand, wie vorzüglich die ganze Disziplin an Bord war.
Die Maschine hatte zu arbeiten aufgehört. Trotzdem lief die Kavete nach des Jungen Schätzung noch ihre zwölf Knoten, war also auch ein vorzüglicher Segler.
Dann kam einer der Matrosen und befahl Olaf zum Kapitän. Dieser saß barhäuptig auf dem Achterdeck in einem Liegestuhl, hatte vor sich ein Tischchen, auf dem ein Teebrett mit allerlei Speisen stand, neben sich aber einen Schiffsstuhl, auf dem er jetzt den Knaben Platz nehmen ließ.
Olaf betrachtete verstohlen das Gesicht des Mannes, dem er Rache geschworen.
Der Korsarenkapitän hatte einen ausgesprochenen Charakterkopf. Sein volles, an der Seite leicht gescheiteltes Haar besaß einen seidigen Glanz. Unter einer sehr hohen, eckigen Stirn lagen zwei große, dunkle Augen, darüber starke, fast schwarze Brauen. Nase und Mund waren edel geformt. Die Kinnpartie, breit und etwas vorspringend, verriet rücksichtslose Energie. Das Gesicht war schmal, tief gebräunt und hatte einen seltsam traurigen Ausdruck, der Olaf sofort ebenso auffiel wie der sinnende, fast schmerzliche Blick der großen Augen.
Und diese Augen musterten jetzt ohne besondere Schärfe den Knaben, der unruhig auf seinem Stuhl hin und her rückte. Dann begann der Kapitän freundlich und vertraulich mit seiner angenehmen Stimme, die doch so ganz anders klingen konnte, wie Olaf schon erfahren hatte – heute vormittag auf dem Achterdeck der Nassovia den Chinesen gegenüber.
„Olaf Kersten, ich hätte Dich auf die Nassovia zurückschicken können, die jetzt dem gleichen Ziel entgegenfährt, das ich auch der Petersburg bestimmt habe. Besondere Gründe veranlassen mich jedoch, Dich bei mir zu behalten. Ich will Dir heute nur so viel sagen, daß Dein Name mir nicht fremd war, daß ich wußte, Du seist auf der Nassovia. Ich hätte Dich von Bord dieses Schiffes ohnedies auf das meine geholt. Niemand auf der Nassovia ahnt, daß Du noch lebst. Nur einer hatte Kenntnis davon – Mautner!“ Er schwieg, fragte dann, Olaf scharf anblickend: „Du hast doch mit Mautner gesprochen?“
Der Junge wurde erst rot, dann blaß. – Was bedeutete diese Frage? Wußte der Kapitän etwa, daß Mautner auf dem Kutter versteckt gewesen war? Hatte der Steuermann dies vor seinem Tode noch eingestanden?
Er wagte daher nicht zu lügen. Ein trotziger Mut überkam ihn. Die Farbe kehrte in seine Wangen zurück, und widerwillig stieß er hervor:
„Ja – ich sprach mit ihm, ich brachte ihm etwas zu essen, als er –“
Der Korsar winkte ab. „Ich weiß alles, Olaf, alles, auch daß Du in dem Waschraum der Nassovia verborgen warst, als ich Gericht hielt über die Chinesen und Mautner. Eine Tür, die wiederholt geöffnet und geschlossen wird, verrät so manches. – Wie gedenkst Du Dir Dein Leben hier auf der Kavete einzurichten?“
Ah – das war’s ja, was der Junge im Stillen für seine finsteren Pläne erhofft hatte. Und hastig erwiderte er nun:
„Darf ich nicht Schiffsjunge auf der Kavete werden? Ich habe den Seemannsberuf schon immer geliebt.“
Des Kapitäns ernstes Gesicht umspielte ein kaum merkliches trübes Lächeln.
„Den Seemannsberuf, – ja, das glaube ich. Aber auch den eines – Korsaren?“ meinte er langsam.
„Auch den! Dafür bin ich ja jung,“ entfuhr es Olaf, und er sprach halb und halb die Wahrheit.
„Also Schiffsjunge eines Piraten, eines Korsaren,“ sagte der Kapitän, indem er aufstand und dem Jungen die Hand auf die Schulter legte. „Und dies ist Dein Wunsch, obwohl Du gehört hast, daß ich Kinder stehlen lasse, daß Menschenleben mir nichts bedeuten, wenn es meine Sicherheit zu erfordern scheint?! Bist Du Dir auch klar darüber, Olaf Kersten, daß wir alle hier auf der Kavete vogelfrei sind, daß jedes Kriegsschiff, das uns überwältigt, ohne weiteres das Recht hat, uns aufzuhängen oder zu erschießen?!“
„Ja – all das habe ich mir sogar sehr reiflich überlegt,“ entgegnete der Junge, indem er an seine Rachepläne dachte. Dabei schaute er den Korsarenkapitän offen und sogar ein wenig herausfordernd an.
„Gut denn. Von heute ab bist Du einer der Unsrigen. Um Dir den Schwur abzunehmen, den auch die anderen alle freiwillig geleistet haben, dazu bist Du noch zu jung. – Geh’ jetzt. Mache Dich nützlich, wo es geht, und schau’ Dich erst ordentlich an Bord um. Du kannst auch dem Kinde, das vorläufig bei uns bleiben wird, die Zeit vertreiben helfen. Es befindet sich im sogenannten Salon der Kavete. Dieser liegt unweit Deiner Kabine auf Backbord.“
Damit war Olaf entlassen.
Mittlerweile hatte die Dunkelheit schnell zugenommen. Die Kavete hätte jetzt eigentlich, wenn sie ein ehrliches, harmloses Schiff gewesen wäre, die üblichen Positionslaternen führen müssen. Aber sie zog es vor, wie ein finsterer Gesell durch die immer stärker bewegte See dahinzuziehen.
Olaf stieg eilig die Treppe zu den Heckräumen des Korsarendampfers hinab. Er konnte die Zeit kaum erwarten, wo er von dem kleinen Mädelchen näheres über ihre Entführung, ihren Namen und ihre Heimat hören und sie auch bei Licht sich ansehen konnte. In der vorigen Nacht war es ja zu dunkel gewesen, des Kindes Gesichtszüge zu erkennen. Nur eins hatte er bemerkt: Die Kleine besaß prächtiges, blondes, sehr langes Haar.
Der Gang nach dem Salon hin zweigte dicht hinter Olafs Kabine ab. Hier brannten jetzt überall wie auch gestern nacht kleine elektrische Birnen unter mattgrünen Glocken. Vor der Salontür stand einer der braunen Matrosen Wache. Der Junge wunderte sich, daß der ernste Mann ihn ohne weiteres durchließ. Dies sprach dafür, daß der Posten ganz bestimmte Anweisungen erhalten hatte.
Olaf klopfte an. Kein Herein – nichts. Er klopfte nochmals. Da öffnete der Matrose selbst ihm die Tür, machte gleichzeitig eine einladende Handbewegung.
Der Salon war ein viereckiger, vornehm eingerichteter Raum. An der mit blaßgelber Seide bespannten Decke brannte eine elektrische Krone. Die drei Fenster waren von innen mit Eisenscheiben fest versperrt. In der Mitte stand auf einem kostbaren Teppich ein langer Tisch mit zwölf in dem Boden verschraubten Polstersesseln.
Von diesen Sesseln waren jetzt nur zwei benutzt – von dem Kinde und jenem Alten, den der Piratenkutter gestern gleichfalls aufgefischt hatte.
Bei Olafs Eintritt hoben die beiden Gefangenen, die nebeneinander saßen, die Köpfe von einem Buche hoch, in dem sie geblättert hatten. Es war ein großer Band mit zahlreichen Bildern. Dann rief der Alte in schlechtem Englisch:
Bei Olafs Eintritt hoben die beiden Gefangenen die Köpfe von
einem Buche hoch, in dem sie geblättert hatten.
„Sieh da, – der kleine Bursche ist’s, der gestern nacht sich gleichfalls auf dem Kutter befand.“ Er stand schnell auf, trat auf Olaf zu und musterte ihn von Kopf bis Fuß.
Er war sehr breitschultrig, dieser Graubart, hatte ein ehrliches, offenes Gesicht und trotz seiner Jahre noch sehr lebhafte Bewegungen.
„Gestern gewann ich den Eindruck, mein Junge,“ fuhr er nun fort, „daß Du mit den Leuten dieses Schiffes nichts zu tun hast, daß Du vielmehr ähnlich wie meine kleine Feodora und ich auf den Kutter gelangt warst. Nun sehe ich, Du darfst hier scheinbar ungehindert umhergehen. – Wer bist Du nun eigentlich, und was führt Dich zu uns?“
Inzwischen hatte Olaf Zeit gefunden, das Mädchen sich genauer zu betrachten. Noch nie glaubte er ein so liebreizendes Gesicht, noch nie so schönes Blondhaar und so wundervolle, große blaue Augen gesehen zu haben. Wie ein Engelsköpfchen, wie ein Engel war dieses vielleicht zehnjährige Kind.
Doch – er mußte jetzt dem Graubart antworten und sich von dem hübschen Bilde dort am Tisch losreißen.
Ja – antworten mußte er. Aber – was sollte er erwidern? Sollte er zugeben, daß er mit zur Mannschaft der Kavete gehörte? – Nein – er schämte sich, besonders vor der Kleinen. Denn er konnte weder ihr noch diesem alten Manne jetzt sofort erklären, weshalb er Schiffsjunge eines Piraten geworden.
So entgegnete er denn nach kurzem Nachsinnen:
„Ich kam in der letzten Nacht ebenfalls als Gefangener hier an Bord. Ich heiße Olaf Kersten, bin in der kleinen Hafenstadt Seeburg in Holstein geboren –“
Da rief der Alte dazwischen: „Donner noch eins, Junge, – das nenn’ ich ne Überraschung! – Hand her, Landsmann! Auch ich bin Deutscher, stamme auch von der Waterkant, bin Pommer und führe den ehrlichen Namen Hesekiel Brümmel.“
Dann mußte Olaf, nachdem der Alte ihn mit der Kleinen bekanntgemacht hatte, ohne jedoch ihren Vatersnamen zu nennen, den beiden gegenüber sich mit an den Tisch setzen und seine Erlebnisse auf der Nassovia erzählen. Als er die Mahagonikiste erwähnte, schlug der Alte mit der Faust auf die Tischplatte, sagte ingrimmig: „Aha – meine Kiste, das heißt die, in der ich gesteckt habe –“ Und als der Korb nun auch herankam, der große Weidenkorb, strich er der kleinen Feodora über das Blondhaar und meinte zärtlich: „Ja, ja, das war der Käfig meines armen Vögelchens hier – “
Nun wußte Olaf nichts mehr hinzuzufügen, da er seine Abenteuer an Bord der Kavete zunächst verschweigen wollte.
Der Graubart begann Olaf darauf nach allem Möglichen auszufragen. Aus diesen Fragen ging hervor, daß er nicht wußte, wo er sich befand, und daß er über die Person dessen, der die Entführung der Kleinen veranlaßt hatte, ganz im unklaren war.
Olaf brachten diese Fragen sehr in Verlegenheit. Er fürchtete, sich von dem Kapitän vielleicht sehr ernste Rügen wenn nicht gar eine Strafe zuzuziehen, wenn er die Wahrheit sagte. Er half sich dadurch, daß er dem Alten nach den ersten ausweichenden Antworten erklärte, er habe dem Kapitän dieses Schiffes Stillschweigen geloben müssen. Nur unter dieser Bedingung sei ihm gestattet worden, sich ungehindert an Bord zu bewegen.
Hesekiel Brümmel zog die Stirn jetzt in tiefe Falten. Seine Augen, die von buschigen, grauen Brauen beschattet waren, blickten Olaf mißtrauisch an. Dann meinte er leise und geringschätzig:
„Du bist ein Lügner. Du willst mir die Wahrheit vorenthalten. Ich glaube jetzt fast, man hat Dich als Spion zu uns geschickt.“
Da öffnete auch die Kleine zum ersten Mal den Mund:
„Ja, Onkel Brümmel, – er ist ein garstiger Junge. Er lügt. Ich sehe es ihm an.“
Alles hätte Olaf ertragen, nur nicht diese Verurteilung durch dieses feine, zarte Stimmchen.
„Ich bin kein Spion!“ rief er mit hochrotem Gesicht. „Ich schwöre beim Andenken meiner geliebten Eltern: man schickte mich hier in den Salon, um Feodora Gesellschaft zu leisten.“
Der Alte ließ ein nachdenkliches, zweifelndes „Hm – hm!“ hören. Aber die Kleine war leichter zu überzeugen, erklärte nun mit drolliger Wichtigkeit:
„Ich glaube ihm jetzt. Außerdem, Onkel Brümmel: der Olaf lag oder saß doch gestern nacht in genau so nassen Kleidern auf dem Kutter wie wir. Und – woher sollte er wohl etwas von der Kiste, dem Korbe und den Chinesen wissen, wenn er nicht auf der Nassovia gewesen wäre.“
„Na, Dorchen, – das alles muß ihm bekannt sein, wenn er mit zu den Leuten dieses Schiffes gehört, das uns jetzt weiß Gott wohin bringt,“ meinte der Graubart genau so mißtrauisch wie vorhin. „Mag er nur gehen, woher er gekommen. Wir brauchen niemand zur Gesellschaft. Wir beide sind uns genug. Ich bin froh, daß ich mein kleines Vögelchen wieder leidlich aufgeheitert habe nach all den schrecklichen Tagen. Der Junge wird Dich nur aufregen, Dorchen. Es ist besser, er läßt uns allein. Der alte Brümmel –“
Er schwieg plötzlich. Ein dumpfer Krach war oben auf Deck ertönt. Gleichzeitig war es wie ein Zittern durch das ganze Schiff gegangen. Der Kronleuchter hatte leise geklirrt, und Dorchen rief nun erschrocken:
„Oh – ein Gewitter – ein Donnerschlag!“
Da wurde die Tür nach dem Gange aufgerissen. Der Posten trat ein, winkte Olaf hastig zu. Ohne Zögern folgte dieser der stummen Aufforderung, ließ sich nicht einmal Zeit, den beiden Gefangenen ein Abschiedswort zuzurufen. Er ahnte, daß sich etwas Besonderes, wahrscheinlich etwas der Kavete Ungünstiges ereignet haben müsse.
Draußen im Gange flüsterte der Matrose ihm in schlechtem Englisch zu:
„Du sollst Dich bei dem Kapitän melden. Beeile Dich.“
„Ist etwas geschehen? Was bedeutete der dumpfe Knall vorhin?“ fragte Olaf fliegenden Atems.
Da legte der Posten den Zeigefinger auf seine Lippen. Und der Junge verstand: Fragen zu stellen war verboten.
Kaum hatte Olaf vorhin den Kapitän verlassen, als der Ausguckmann von der Brücke diesem durch das Sprachrohr einen Dampfer meldete, der südöstlichen Kurs laufe und wahrscheinlich in nächster Nähe der Kavete vorüberkommen werde.
Der Kapitän sprang auf, eilte auf die Brücke und nahm dem Matrosen das Nachtglas ab. Mit bloßem Auge waren nur die Lichter des Dampfers zu sehen gewesen. Das Fernglas brachte das fremde Schiff jedoch so nahe, daß der Korsarenkapitän sehr bald festgestellt hatte, es könne sich nur um einen jener modernen Torpedobootzerstörer handeln, die vielfach auch als Depeschenboote verwendet werden. Deutlich unterschied er jetzt zwei niedrige, schräge Schornsteine und den langgestreckten Rumpf, merkte auch an den dicken Qualmmassen, die den Schloten entquollen, daß das Kriegsschiff seine Kessel unter höchster Dampfspannung hielt und mit voller Geschwindigkeit fuhr.
Jetzt ließ er das Glas sinken. Seine Signalpfeife schrillte, wurde vom Vorschiff mit denselben schrillen Pfiffen beantwortet. Das bisher fast leere Deck des[10] Korsaren verwandelte sich im Nu in einen Tummelplatz für einige dreißig braune Gesellen, die mit erprobter Schnelligkeit der Kavete ein völlig verändertes Aussehen gaben.
Der Schornstein, der ja nur eine Attrappe aus dünnem Blech war, verschwand ebenso wie die Kommandobrücke über dem Mittelaufbau und wie die erhöhten Decks am Bug und am Heck. Sie bestanden nur aus leicht zusammenzusetzenden Holzplatten, während die Teile der Brücke nur miteinander verschraubt waren, so besonders das Geländer und das Steuerhäuschen, der Kompaßständer und das Steuerrad nebst Maschinentelegraph.
Alles wurde so in wenigen Minuten unter Deck verstaut, was an der Kavete an einen Dampfer erinnert hätte. Jetzt bot sie vollständig das Bild einer Schonerbrigg dar, wie diesem Schiffstyp besonders in Amerika als Schnellsegler gebaut wird.
Während dieser Arbeiten hatte der Kapitän, der jetzt an einem am Heck eingefügten Steuer stand, sein Schiff mehr nach Westen abfallen lassen und durch dieses Manöver eine Beobachtung der Vorgänge an Deck von dem nahenden Zerstörer aus insofern unmöglich gemacht, als die weitgebauschten Segelflächen der Kavete wie ein Schirm sich vor dem Korsaren ausspannten.
Das Kriegsschiff war noch fünfhundert Meter entfernt, als es auch schon seinen Scheinwerfer aufflammen ließ und dessen Strahlenkegel auf die Kavete richtete.
Aribu, der neben dem Kapitän an der Reling lehnte, stieß eine leichte Verwünschung aus, sagte dann unruhig und besorgt: „Die Geschichte erscheint mir verdächtig –“
„Mir auch,“ meinte der Kapitän gelassen. „Sei doch froh, Aribu, daß es mal wieder eine kleine Abwechslung gibt. Wir werden den Herren da drüben schon eine Nase drehen.“
Der Zerstörer rauschte heran. Das Piratenschiff war jetzt taghell erleuchtet.
„Ah – sie zeigen Lichtsignale!“ rief Aribu.
„Wir sollen beidrehen,“ ergänzte der Korsar mit eherner Ruhe. „Gut, tun wir ihnen den Gefallen.“
Seine Pfeife schrillte. Flinke Hände refften die Segel. Die Kavete richtete sich auf, verlangsamte ihre Fahrt, beschrieb einen Bogen in den Wind und schaukelte nun träge auf den dunklen Wogen.
Der Zerstörer war stets auf zweihundert Meter dem Segler nahegeblieben, dem er sich durch die Signale als Kriegsfahrzeug zu erkennen gegeben hatte.
„Ich begreife nicht, was man von uns will,“ meinte Aribu. „Wie kommt nur ein Zerstörer in diese Gegend des Indischen Ozeans? – Wenn die Sache nur gut abläuft!“
„Befiehl den Leuten, sich für alle Fälle bereitzuhalten,“ erwiderte der Kapitän kurz. „Und denkt daran, daß sich nur fünf bis sechs Mann auf Deck sehen lassen dürfen. Ein harmloser Handelsschoner hat keine fünfunddreißig Köpfe an Bord wie wir. Wir stehen jetzt hier wie auf einer grell beschienenen Bühne. Jede Bewegung sehen die drüben. Also Vorsicht.“
Aribu schlenderte dem Mittelaufbau zu. Dessen beide Außenbordkabinen enthielten je zwei geschickt verborgene 12-cm-Geschütze modernster Konstruktion. Im Augenblick waren diese schußbereit gemacht. Die Kabinenfenster dienten als Geschützluken und konnten samt den Rahmen hochgeklappt werden.
Der Zerstörer zeigte ein neues Signal: „Schickt ein Boot mit den Schiffspapieren herüber!“
Der Korsarenkapitän rief den bereitstehenden Signalmaat herbei.
„Antworte: Die See geht zu hoch für unsere Boote. Welches Schiff drüben?!“
Der braune Matrose handhabte seine Signallaterne sehr geschickt, sandte durch Morsezeichen das Befohlene dem Zerstörer zu.
Darauf von dort die Erwiderung: „Hier russischer Torpedojäger Newa. – Wir senden die Pinasse.“
Der Korsarenkapitän wandte sich hastig an den soeben wieder erschienenen Aribu.
„Russischer Torpedojäger! Das trifft sich gut. Wär’s ein Engländer oder ein Franzose gewesen, hätte ich den Kopf anderswie aus dieser Schlinge gezogen.“ Dann folgten ein paar Befehle für die Bedienungsmannschaften der Geschütze und für den ersten Maschinisten.
Die Pinasse der Newa löste sich drüben von dem schlanken Schiffsrumpf ab und näherte sich dem Piraten.
In der Backbordkabine wurden die beiden Fenster hochgeklappt.
„Ich wette auf Treffer auf den ersten Schuß,“ sagte der eine Richtkanonier.
„Bei der kurzen Entfernung keine große Sache,“ meinte der andere.
Die Pinasse hatte die Hälfte Wegs hinter sich, als aus dem einen Kabinenfenster ein Feuerstrahl heraussprang und gleich darauf ein zweiter, leiserer Knall von drüben her ertönte. Die Granate saß mittschiffs dicht über der Wasserlinie, krepierte und riß ein großes Loch in die Bordwand.
Auf den Krach des Schusses, unter dem es wie ein Beben durch den Leib der Kavete ging, hatte der erste Maschinist den Hebel der Anlaßsteuerung herumgerissen. Die beiden Motoren sprangen an, die beiden Schrauben wirbelten gurgelnde Gischtmassen auf, und der Pirat schoß vorwärts wie ein losgeschnellter Pfeil.
Da gerade betrat Olaf das Deck. Noch lag das Licht des Scheinwerfers voll auf der Kavete. Der Knabe war daher auch zunächst so geblendet, daß er die Lider unwillkürlich schloß. Dann flog sein Blick jedoch in grenzenlosem Erstaunen über die Decks des Korsaren bin. Olaf glaubte zu träumen. War das noch die frühere Kavete?! Ja – sie war’s, denn dort stand ja hochaufgerichtet am Heck der Kapitän, dort Aribu an der Reling.
Der Knabe lief auf den Kapitän zu, der ihn mit den hastigen Worten empfing: „Ich weiß nicht, wie diese Begegnung mit dem Schiffe drüben für uns ausgehen wird. Du bist nicht mehr Schiffsjunge der Kavete. Ich will nicht, daß Du vielleicht unser Schicksal teilst. Betrachte Dich nur mehr als meinen Gefangenen. Begib Dich –“
Der Knabe lief auf den Kapitän zu.
Vom Vorschiff des Piraten war schon vorher auf den Scheinwerfer drüben ein lebhaftes Gewehrfeuer eröffnet worden. Es hatte Erfolg. Der Scheinwerfer erlosch. Dies geschah in demselben Augenblick, als der Korsarenkapitän dem Knaben den Befehl geben wollte, vorläufig in seiner Kabine zu bleiben. Doch nur die Worte „Begib Dich –“ kamen noch über seine Lippen, denn gleichzeitig mit dem Verschwinden des weißen Strahlenkegels und mit dem Eintritt einer jetzt noch tiefer erscheinenden Dunkelheit, als sie es in Wirklichkeit war, zerriß ein neuer Knall die Luft, dem auf der Kavete ein furchtbares Krachen und Splittern folgte. Eine Granate hatte dicht vor dem Mittelaufbau ein gutes Stück der Reling weggerissen und auch in den Deckplanken arge Verwüstungen angerichtet.
Olaf war wie betäubt. Erst des Kapitäns laute Stimme brachte ihn wieder zu sich, ließ ihn nun gleichfalls nach Westen schauen, wohin des Korsarenführers ausgestreckter Arm deutete.
Dort rauschte ein hochbordiger Dampfer heran, den bis dahin niemand bemerkt hatte, da aller Augen nur auf das ostwärts vor dem Piraten befindliche russische Kriegsschiff gerichtet gewesen waren.
„Ah – ein abgekartetes Spiel gegen uns!“ hatte der Kapitän des Korsaren seinem ersten Offizier zugerufen, als der scharfe Schuß von dem zweiten Schiff ihn erst auf dieses aufmerksam machte.
Die Ereignisse überstürzten sich jetzt förmlich. Auch der Zerstörer hatte den fliehenden Freibeuter unter Feuer genommen, erzielte jedoch nur einen einzigen Treffer, der den Mittelaufbau ihm halb einriß und die beiden Geschütze auf Steuerbord außer Gefecht setzte. Der andere, große Dampfer wieder ließ jetzt gleich zwei Scheinwerfer spielen, und abermals lag nun die Kavete in den weißen Lichtkegeln wie das Bild eines riesigen Kinoapparates da. Ein wahrer Hagel von Geschossen sauste über sie hin, während sie mit voller Ausnutzung ihrer starken Motoren dem Verderben zu entrinnen trachtete.
Olaf Kersten hatte sich zuerst ängstlich hinter der Ankerwinde am Heck zusammengeduckt. Als der Mittelbau unter dem Einschlag der Granate fast zur Hälfte in Trümmer ging, änderten sich seine Empfindungen. Die Angst, hervorgerufen durch das Unerwartete dieser wildbewegten Szenen, schwand, machte einer schadenfrohen Freude Platz.
Des Korsaren letztes Stündlein schien ja gekommen! Der Mord an Mautner, die Unmenschlichkeiten an dem Kinde würden gerächt werden! Er, Olaf Kersten, brauchte nicht mehr auf Vergeltung zu sinnen. Eine höhere Macht hatte eingegriffen.
Auge um Auge, Zahn um Zahn!
Daß er selbst sich mit in höchster Lebensgefahr befand, daran dachte er nicht. Wie ein Rausch war es über ihn gekommen. Gleichsam als einer, der sich gar nicht hier auf dem arg bedrängten Freibeuter, sondern auf einem der Angreifer befand, verfolgte er die weiteren Vorgänge, wünschte, daß all die Geschosse, die zischend in die Wogen einschlugen, besser gezielt wären, daß eines davon den Lebensnerv der Kavete, den Maschinenraum, treffen möchte.
Doch – diesen aus blindem Rachedurst aufsteigenden schlechten Wünschen blieb die Erfüllung durch des Korsarenkapitäns eiserne Ruhe, seine glänzende seemännische Befähigung und die Schnelligkeit seines Schiffes versagt. Die Kavete hatte in wenigen Minuten die Entfernung zwischen sich und den Verfolgern so bedeutend erweitert, hatte auch beiden jetzt nur das schmale Heck als Zielfläche zugekehrt, daß das Geschützfeuer immer zweckloser wurde. Die Geschosse zeigten mehr Neigung für die Wogenkämme und rauschenden Wellen, als für den Rumpf des Piraten.
Olaf beobachtete mit wachsender Enttäuschung, daß der Korsar jetzt die besten Aussichten hatte, seinen Feinden zu entschlüpfen. Aus dieser Enttäuschung wuchsen in dem Herzen des erbitterten Jungen schnell andere Gedanken hervor, verdichteten sich dann plötzlich zu einem bestimmten Plane.
Olaf sah, daß das Glück hier auf Seiten des Verbrechens war. Die höhere Macht griff nicht ein, die Übeltäter zu strafen. Deshalb wollte er es tun, wollte wenigstens versuchen, den Freibeuter den Verfolgern in die Hände zu spielen.
Er richtete sich auf, warf noch einen Blick auf den Korsarenkapitän, hob unwillkürlich die geballte Faust, schüttelte sie drohend gegen den, der sein Lebensretter war, was er in all seinem Schmerz um Mautners Tod längst vergessen, und eilte nach vorn nach der Kombüse. Niemand beachtete ihn.
Der alte freundliche Koch stand vorn am Bugspriet, hatte jetzt nur Gedanken für den Kampf, der seine Seele aufrührte bis in die tiefsten Tiefen und Erinnerungen weckte, die viele Jahre zurücklagen, Erinnerungen an die weiten Steppen Innerasiens, an den ewigen, blutigen Kleinkrieg gegen die russischen Unterdrücker, an die Soldaten des Zaren, die das Volk der Turkmenen trotz aller Gegenwehr schließlich doch zu Sklaven gemacht hatten.
Olaf war allein in der großen Vorratskammer neben der Kombüse, sah sich suchend um, nahm den Stöpsel aus einem hohen Blechgefäß, roch in den Hals hinein.
Ah – Petroleum! – Wilde Freude lohte in ihm auf. Er packte die schwere Kanne. Glucksend floß die ölige Masse auf den Boden, verbreitete sich überall hin bis in die fernste Ecke, wobei das Stampfen des Schiffes, das Auf und Ab, das Herüber und Hinüber noch mithalfen.
Nun ein Streichholz! Er fand eine Schachtel in der Kombüse, fand auch ein Stück Papier. Es lohte auf, flog mitten hinein in die Vorratskammer.
Olaf hetzte davon, auf Deck, zitternd an allen Gliedern hastete er nach vorn, gesellte sich zu dem Koch, der ihn erst gar nicht bemerkte.
Olaf bebten die Knie. Ein Schwindel packte ihn. Jetzt, wo die Tat vollendet war, kam auch schon die Reue. Jetzt erst dachte er an jenen Augenblick, wo das Riesengespenst der Wasserhose gierig auf ihn zugestrebt war, als dann im letzten Moment eine Hand ihn emporriß. Und diese Hand war die des Mannes, der nun untergehen mußte samt seinem verbrecherischen Fahrzeug! Feuer im Schiff! Und zwei Verfolger auf den Fersen! Da gab’s keine Rettung mehr!
Die Reue kam, auch noch anderes bald: die Verzweiflung. Olaf war das blonde Kind da unten eingefallen, das arme Vögelchen, – Dorchen! Hatte er jetzt nicht auch dieses kleine Wesen dem Tode überantwortet, würde nicht vielleicht der Korsarenkapitän bis zuletzt einen Verzweiflungskampf gegen die Feinde führen, bis zuletzt – bis zum Versinken der schußdurchlöcherten Kavete?!
Da sah der Koch den Knaben mit bleichem Gesicht neben sich, da sprach er ihn an, lächelte:
„Ja – das alles treibt das Blut aus den Wangen, kleiner Gefährte! Du zitterst! – Man gewöhnt sich daran. Schau nur, wie flink unser Schiff ihnen davonläuft, schau, wie –“
Er brach ab. Sein Kopf fuhr empor. Und Olaf drückte unwillkürlich die Augen zu, erwartete jetzt, daß der Koch rufen würde: „Es brennt, – aus der Kombüse schlagen Flammen hoch!“
Doch an sein Ohr drangen andere Worte.
„Ein drittes Schiff! Dicht vor uns!“ Der Koch rannte nach dem Heck. Bereits am Mittelaufbau merkte er dann, daß dieses neue Fahrzeug bemerkt sein mußte, denn die Kavete wich ihm schon in kurzem Bogen aus.
Olaf hatte die Augen wieder geöffnet, blickte scheu nach dem Dach der Kombüsentreppe hin. Dort mußten ja die ersten Qualmschwaden aufsteigen, dort die Flammen durch den Treppenaufgang hochschießen.
Nichts – nichts! Kein noch so leichter Rauch war sichtbar.
Er begriff das nicht. Das brennende Papier hatte das Petroleum unbedingt entzünden müssen. Es war ja selbst fettig gewesen, mußte schnell auch das Petroleum aufgesogen und noch heller gebrannt haben!
Er wartete, den Blick stier auf die Kombüse gerichtet. Dann fuhr er leicht zusammen. Eine Gestalt war dort soeben herausgeschlüpft – dort, wo die Vernichtung der Kavete durch den Brand beginnen sollte, aus dem Treppenaufgang, – verschwand nun in dem Eingang zum Mannschaftslogis wie ein Schatten.
Olaf hatte nicht Zeit gefunden, die Gestalt näher, genauer zu betrachten. Nur das hatte er bemerkt: es war keiner der braunen Matrosen!
Wer war’s also – wer?!
Olaf dachte an Hesekiel Brümmel. Ja – richtig, der soeben im Mannschaftslogis Untergetauchte hatte einen Bart gehabt. Es konnte nur der Alte sein, der treue Beschützer des armen Vögelchens.
Der Junge wollte Gewißheit haben, lief nach achtern, traf hier mit dem Koch zusammen, der ihm etwas zurief, hastete trotzdem weiter, stand nun vor der Tür des Salons, nickte der Wache flüchtig zu riß die Tür auf.
Am Mitteltisch saß der Alte, hatte Dorchen auf dem Schoß. Und Dorchen – schlief, schlief ganz fest, während das Verderben der sausenden Geschosse das Schiff umlauerte.
Olaf drückte die Tür hinter sich zu, stotterte verlegen: „Ich wollte nur sehen, ob –“
Da winkte Brümmel ihm ärgerlich ab, deutete auf das Kind, flüsterte mit zornfunkelnden Augen:
„Scher’ Dich, Bursche! Wecke mir Dorchen nicht auf! Jetzt weiß ich Bescheid: Verruchtes Piratengesindel seid Ihr. Und die Kleine habt Ihr entführt, um von meinem Herrn ein Lösegeld zu erpressen!“
Olaf schlich hinaus. Er wollte nicht noch mehr hören von dem wütenden Alten. Was hätte dieser aber wohl dazu gesagt, daß er die Kavete hatte in Flammen aufgehen lassen wollen?! Ob er diese vorschnelle Tat gebilligt hätte? – Jedenfalls stand das eine fest: Hesekiel Brümmel war nicht der Mann, der aus der Kombüse nach dem Logis hin verschwunden war und der vielleicht das Umsichgreifen des Feuers verhindert hatte – vielleicht! Diese Frage würde ja bald gelöst werden. Olaf wollte es selbst tun, wollte nochmals in die Kombüse hinab und sich überzeugen, ob jemand noch gerade zur rechten Zeit das brennende Papier irgendwie unschädlich gemacht habe.
Oben auf Deck hatte sich inzwischen nicht viel geändert. Die Kavete war gezwungen gewesen, einen neuen Kurs einzuschlagen, um auch dem dritten Schiffe zu entgehen, das bisher das Feuer noch nicht eröffnet hatte. Hiermit mußte der Korsarenkapitän zunächst jeden Augenblick rechnen. Bald merkte er aber, daß dieser neue Gegner offenbar harmloser war und keine Geschütze führte, anscheinend sogar nicht einmal über Gewehre verfügte, da die Kavete ihm ja bei dem kurzen Ausweichen auf etwa achtzig Meter nahe gekommen war und somit die Möglichkeit eines Feuerüberfalls vorgelegen hatte. Es machte überhaupt den Eindruck, als sei dieses dritte Schiff hier nur zufällig erschienen und als handele es mit den beiden anderen nicht im Einverständnis, denn es beteiligte sich nicht weiter an der Verfolgung und war sehr bald wieder im Dunkel der Nacht untergetaucht.
Als Olaf jetzt an Deck erschien, konnte er mit einem schnellen Blick folgende Lage der drei Schiffe zueinander feststellen: Der Pirat steuerte direkt südlich. Rechts von ihm, etwa fünfhundert Meter entfernt, fuhr der hochbordige Dampfer in gleicher Höhe mit dem Flüchtling dahin, da dieser infolge des Ausweichmanövers vor dem dritten Schiff viel von dem inzwischen bereits erzielten Vorsprung eingebüßt hatte. Der Zerstörer wieder war weiter zurück und gab sich alle Mühe, den Freibeuter von links zu überholen.
Gerade jetzt hatte der Korsarenkapitän die Überzeugung gewonnen, daß der zuletzt auf dem Kampfplatz erschienene Dampfer als Gegner nicht in Betracht kam, änderte demzufolge abermals den Kurs und steuerte wieder wie schon vorher Südwest[11], um den Geschützen des hochbordigen Schiffes, die weit besser bedient wurden, das kleinste Ziel zu bieten.
Die beiden Scheinwerfer ließen nicht von dem Freibeuter ab. Sie waren ihm mindestens ebenso gefährlich wie die größtenteils weit daneben gehenden Granaten. Inzwischen hatten die braunen Matrosen nun auch mit vieler Mühe die noch unversehrt gebliebenen beiden Geschütze, um sie gegen die Scheinwerfer unbehinderter benutzen zu können, auf das Achterdeck geschleppt.
Olaf bemerkte auch diese Veränderung, verfolgte gespannt das Laden der mattglänzenden Rohre, wurde dann aber durch einen barschen Zuruf beiseite geschickt.
Der eine Richtkanonier zielte, wartete das Überholen des Schiffes (die seitlichen Schwankungen; Stampfen, Schwankungen in der Längsrichtung) und den Moment, wo der Rumpf auf Steuerbord den höchsten Punkt erreicht hatte, ab und feuerte.
Der Donner dieses Schusses und der Krach eines neuen Treffers auf der Kavete vereinigten sich zu einem einzigen ohrbetäubenden Knall. Eine Granate war schräg von der Seite, die Bordwand mittschiffs durchschlagend, in den Maschinenraum eingedrungen.
Der Korsarenkapitän erkannte augenblicklich, daß das Geräusch der Motoren jetzt bedeutend schwächer war, sagte sich sehr richtig, daß nur noch einer von ihnen lief. Die Kavete verlor denn auch zusehends an Schnelligkeit.
Immerhin: auch auf dem großen Dampfer drüben hatte der Schuß gut gesessen. Einer der beiden Scheinwerfer war erledigt.
Was wollte dies jedoch gegenüber dem jetzigen Schneckentempo der Kavete besagen! Das Schicksal des Piraten war besiegelt, wenn nicht ein ganz außergewöhnlicher Glückszufall schnellstens eintrat. – So dachte auch Olaf, der die Vorgänge genau beobachtete und schon aus dem wilden Hin und Her an Deck ersehen hatte, wie verzweifelt schlecht es um den Flüchtling stand.
Vom Hecksteuer her neue Befehle des Kapitäns, deren klare, ruhige Sprache ihre Wirkung nicht verfehlte.
Zehn Mann stürzten in den Laderaum hinab, kehrten mit großen, schweren Blechgefäßen mit sehr breitem Halse zurück. Lunten sprühten auf, wurden in die dazu bestimmten Öffnungen der Gefäße geschoben, die dann über Bord flogen, während die Kavete einen langen Bogen beschrieb.
Olaf begriff zunächst nicht, um was es sich hier handelte. Er hatte einmal etwas von Minen gelesen, die ein verfolgtes Schiff ausstreut, um den Feind zu vernichten oder doch aufzuhalten. Bald erkannte er dann, welchen Zweck die jetzt auf den Wogen schwimmenden und dicke Qualmmassen ausspeienden Blechkannen hatten: sie sollten durch dichte Rauchschleier sowohl das Licht der Scheinwerfer wirkungslos als auch die ganze Verfolgung schwieriger machen. – Nie hätte er geglaubt, daß es ein chemisches Gemenge geben könnte, das unter einer derartig starken Qualmentwicklung verbrannte. Bereits wenige Minuten nach Ausführung dieses letzten Versuchs, dem überlegenen Gegner zu entrinnen, hatte der Pirat auf diese Weise zwischen sich und den Feind eine breite, undurchsichtige Bahn beizenden Rauches gelegt, der infolge seiner chemischen Beschaffenheit dicht über der Wasseroberfläche mit dem Winde hintrieb, ohne in leichte Schwaden zu zerflattern.
Olafs Gefühle waren jetzt ganz andere. Seine Teilnahme gehörte jetzt der Kavete. Er freute sich, daß es dem Kapitän gelungen war, auch diese kritische Lage zu überwinden. Nun – er sollte sehr bald noch mehr erleben, das ihm eindringlich bewies, welch hervorragender Geist den Freibeuter befehligte.
Der Wind jagte den Qualm hinter der jetzt nur langsam dahinschleichenden Kavete her. Da ließ der Kapitän, der das Steuer an den zweiten Offizier, einen sehr großen Mann namens Mirza Chan[12] abgegeben hatte, wenden und tauchte bald mit seinem Schiff in den Rauchmassen unter, indem er die Richtung einschlug, aus der der Zerstörer zu erwarten war. –
Auf der Newa hatte man inzwischen den Ersatzscheinwerfer glücklich aufgestellt und den elektrischen Strom hineingeleitet. Der Mechanismus arbeitete jedoch schlecht. Immer wieder versagte er, so daß der Lichtkegel urplötzlich erlosch, wieder aufflammte, abermals erlosch. Dann wurde man die ersten Rauchschleier gewahr, sah, daß der Freibeuter trotz der grellen Beleuchtung von seiten des Dampfers wie ein Bild hinter immer zahlreicher vorgeschobenen Milchglasscheiben undeutlicher und undeutlicher und schließlich ganz unsichtbar wurde.
Der Kommandant des Zerstörers ließ stoppen. Es erschien ihm doch zu gefährlich, in diesem Nebelmeer blindlings darauf los zu fahren. Er rechnete damit, daß der Qualm sich sehr bald verziehen würde. –
Die Kavete wurde gerade durch die Lichtblitze des unregelmäßig arbeitenden Scheinwerfers auf die Newa aufmerksam, schlich ganz nahe und feuerte kurz hintereinander zwei Granaten in den Maschinenraum des Feindes hinein, der dann nur noch als halbes Wrack steuerlos auf den Wellen schaukelte. Gewehrfeuer genügte, auch diesen Ersatzscheinwerfer völlig unbrauchbar zu machen.
Nach diesem kecken, kurzen Überfall machte der Freibeuter sich auf die Suche nach dem anderen Gegner. Dieser wurde, wie sich nachher zeigte, von einem Manne befehligt, dessen Vaterland seit Jahrhunderten die Weltmeere als seinen ausschließlichen Besitz betrachtet und dessen Marine auf eine ruhmreiche Vergangenheit zurückblicken kann.
Der große Dampfer beging nicht den Fehler des Russen, blieb vielmehr in halber Fahrt und steuerte kühn in den dicken Qualm hinter dem Flüchtling drein. Daß der Pirat die Frechheit besitzen würde, die Feinde jetzt einzeln abzutun, daran dachte freilich auch der nicht, der jetzt von der Brücke des hochbordigen Schiffes aus seine Befehle an seine aus Chinesen bestehende, seemännisch ganz ungeschulte Mannschaft weitergab.
Das Stampfen der Maschine des Dampfers war selbst in diesem gelbbraunen Nebelmeer auf recht weite Entfernung zu hören. Der Korsarenkapitän, der diesen Angreifer längst als Frachtschiff neuester Bauart erkannt hatte, führte die Kavete von hinten an den Feind heran, dessen Bordhöhe fast die doppelte des Korsaren war. Unbemerkt wurde vom Bug aus eine leichte Bambusleiter an das Heck des Feindes gehakt. Als erster kletterte der Maskierte – denn jetzt trug er wieder den schwarzen Seidenstoff vor dem Gesicht – auf das Achterdeck des Gegners, gefolgt von zwanzig seiner erprobten Leute.
Als erster kletterte der Maskierte auf das Achterdeck des Gegners,
gefolgt von zwanzig seiner erprobten Leute.
Olaf Kersten hatte die Vorbereitungen zu diesem Entermanöver klopfenden Herzens mit angesehen, hatte dann, ohne jemand zu fragen, als letzter die Leiter betreten.
Aribu, der jetzt die Kavete führte, wollte ihn zurückhalten, bekam ihn noch gerade am linken Fuß zu packen. Olaf riß sich los, hastete die Sprossen hoch; noch ein Satz über die Reling; dann stand auch er auf dem Deck des Feindes.
Hier hatten sich jetzt die braunen Piraten bereits wie lautlos gleitende Schatten überallhin verteilt, hatten die Chinesen, wo diese vor ihnen in dem dick über dem Deck lagernden Qualm auftauchten, schnell und ohne Lärm überwältigt und gebunden. Alles verlief genau so, wie der Korsarenkapitän es unter Ausnutzung der günstigen Umstände angeordnet hatte.
Olaf tappte unschlüssig in den gelbgrauen Schwaden der Brücke zu, kam gerade an den Fuß der Treppe, als der Maskierte mit fünf Mann die Stufen hinaufzueilen begann.
Oben auf der Brücke hörte man jetzt eine laute, barsche Stimme, die in englischer Sprache wütend brüllte:
„Gelbe Hunde, sitzt Ihr auf Euren verdammten Ohren?! Bringt alles an Laternen auf Deck, was Ihr nur auftreiben könnt. Und – der Scheinwerfer wird gedreht, daß er das Deck beleuchtet. Man sieht ja die Hand vor Augen nicht. Macht fix, Ihr bezopften faulen Hunde, oder Euch soll die Pest in den –“
Die Stimme brach plötzlich ab. Der Scheinwerferkegel war herumgeschwenkt, verwandelte die Qualmschwaden in milchige, durchsichtige Schleier. Und durch diese hindurch hatte der Führer des Dampfers jetzt soeben den Korsarenkapitän erblickt, hatte vor ungläubiger Überraschung den begonnenen Satz nicht beendet. Da war der Maskierte schon neben ihm, hielt ihm den Revolver vor das Gesicht, rief drohend:
„Ergebt Euch – oder!“
Auf Deck knallten jetzt ein paar Schüsse. Wildes Geschrei folgte. Und auf der Brücke war Olaf Kersten hinter den Kommandanten des Feindes geschlüpft, hatte nur beobachten wollen, wie der Freibeuter mit diesem fertig würde, hatte dann einen Chinesen am anderen Ende bemerkt, der den Arm hob, der mit dem Revolver auf den Maskierten anschlug.
Olaf riß die kleine, zierliche Waffe, die ihm Mautner auf der Nassovia für alle Fälle in die Hand gedrückt hatte, blitzschnell und ohne zu überlegen aus der Tasche, zielte, drückte ab.
Der Chinese taumelte zurück. Und des Korsarenkapitäns Mütze flog ein Stück weit durch die Luft, fiel dann nieder – durchlöchert von dem Bleigeschoß, das dem Leben des Maskierten ein Ziel gesetzt hätte, wenn dem Schützen nicht gerade beim Abziehen selbst eine Kugel in die rechte Schulter gefahren wäre.
Die fünf Matrosen hatten schon die beiden auf der Brücke befindlichen Leute niedergerungen und gebunden. Einer davon war ein Europäer, eben der, dessen rücksichtslose Tatkraft die Chinesen mitfortgerissen und zu seinen blinden Werkzeugen gemacht hatte. Der andere aber war der von Olaf unschädlich gemachte Schütze.
Da – gerade jetzt lichteten sich die Qualmmassen immer mehr. Der große Dampfer hatte die treibende Nebelwolke überholt, lief jetzt in der freien, frischen Seebrise weiter.
Strahlend hell beleuchtete der Scheinwerfer das ganze Schiff.
Der Maskierte stand dicht vor dem Europäer auf der Brücke, sagte jetzt mit deutlichem Spott:
„Ich gebe zu, es ist für mich eine vollkommene Überraschung, dieses Wiedersehen mit Ihnen, Master Macdonald. Zum zweiten Mal haben wir jetzt einen kleinen Strauß miteinander ausgefochten. Sie haben abermals verspielt.“
Dann wandte er sich an Olaf, nickte ihm zu:
„Dank, mein Junge, herzlichen Dank! Deine Kugel hat mir das Leben gerettet. Einen Bruchteil einer Sekunde später, und mein Schiff hätte seinen Herrn verloren!“ Er reichte Olaf die Hand, fuhr dann fort: „Weißt Du auch, wo wir uns befinden? – Auf der Petersburg, auf demselben Dampfer, den ich bereits einmal genommen hatte. – Ich bin wirklich begierig zu erfahren, was hier vorgegangen sein mag. Halb und halb kann ich’s mir ja wohl zusammenreimen.“
Da erschien einer der Leute der Kavete auf der Brücke, meldete, daß in der Kajüte der Petersburg Kapitän Scherbaum und der Ingenieur eingesperrt seien. Der Schlüssel zu der Tür sei nicht zu finden.
Macdonald, dem die Arme auf dem Rücken gefesselt waren, erklärte jetzt, er habe den Schlüssel in der Tauche. Sein längliches, bartloses Gesicht hatte bereits den Ausdruck überlegener Ruhe wiedergewonnen. Und mit einer halben Verbeugung gegen den Freibeuter fuhr er nun fort: „Ich habe das Spiel verloren. Trotzdem: Meine Hochachtung vor Ihren geistigen Fähigkeiten, Kapitän. – Schade, daß Sie nicht als ehrlicher Seemann die Meere durchkreuzen. Jeder Reeder würde sich um einen solchen Schiffsführer bemühen.“
Der Korsar erwiderte nichts, nahm Olaf dann mit in die Kajüte. Hier begrüßte der alte Scherbaum den Maskierten mit den Worten:
„Master, denken Sie nicht, daß ich mein gegebenes Wort gebrochen habe. Ich bin ganz schuldlos an all diesen Dingen. Mein erster Steuermann, der Macdonald, hat trotz seiner Fleischwunde im Arm noch so viel Unternehmungslust gehabt, mit dem Chinesengesindel gemeinsame Sache zu machen.“
Der Freibeuter gab Scherbaum die Hand. „Macdonald deutete schon an, daß Sie nichts mit diesem verfrühten Wiedersehen zwischen uns zu tun haben. Eigentlich hatten wir ja erwartet uns erst auf den Tschapos-Inseln[*2] wieder zu begegnen. – Bitte, ich möchte nun auch von Ihnen hören, wie es Macdonald fertiggebracht hat, die Petersburg in seine Gewalt zu bekommen.“
Jetzt erfuhr Olaf Kersten alles, was ihm bisher noch über das Schicksal der beiden am letzten Morgen gekaperten Dampfer verborgen geblieben war. –
Der Maskierte hatte die beiden Schiffe entlassen, nachdem jeder einzelne der Besatzung sein Wort gegeben, die erhaltenen Befehle unter allen Umständen auszuführen. Diese Befehle lauteten dahin, daß die Dampfer auf kürzestem Wege mit drei Seemeilen Abstand einige ihnen näher bezeichnete, zu den Tschapos-Inseln gehörige Eilande aufsuchen sollten. Für den Fall der Nichtbefolgung dieser Anweisungen hatte der Freibeuter der Besatzung mit Erschießen gedroht und an das Ende Mautners erinnert, hatte auch warnend hervorgehoben, daß er in der Nähe der beiden Dampfer sich halten würde. Bis auf Macdonald hatten die Besatzungen das geforderte feierliche Versprechen abgegeben. All den Leuten stand ja die schnelle Exekution an dem zweiten Steuermann der Nassovia als ernste Warnung vor Augen. Macdonald allein weigerte sich und wurde daher ebenso wie die gesamten Chinesen in einen großen Verschlag der Petersburg eingesperrt, vor dessen Tür zwei Matrosen des russischen Dampfers ständig Wache halten sollten.
Kapitän Scherbaum war denn auch ernstlich bemüht gewesen, so zu handeln, wie das gegebene Wort es von ihm verlangte. Nachdem die Kavete die beiden Dampfer entlassen hatte und ihnen vorausgeeilt war, hatte es der Engländer jedoch drei Stunden später verstanden, die Chinesen für einen Plan zu gewinnen, wie man sich der Petersburg bemächtigen könne. Der Plan war durch Macdonalds Verschlagenheit und Energie geglückt. Das Maschinenpersonal des Dampfers hatte dann, bewacht von den Gelben, seinen Dienst weiter versehen müssen, während die ganze übrige Besatzung dauernd eingesperrt gehalten wurde.
Abermals vier Stunden später begegnete die voraus fahrende Petersburg gerade bei Beginn der Abenddämmerung dem Zerstörer, der von Wladiwostok vor kurzem nach dem Indischen Ozean beordert worden war, um hier auf eine Privatjacht zu fahnden, die bis vor einem halben Jahr Eigentum eines Großfürsten gewesen und dann an der Malabar-Küste Vorderindiens[13] unweit der Hafenstadt Goa von Piraten eines Nachts in überraschendem, unblutigem Angriff gekapert und nach Ausschiffung der Mannschaft und des Besitzers von denselben Freibeutern davongeführt worden war.
Zwischen dem Kommandanten der Newa und Macdonald war genau vereinbart worden, wie man das Korsarenschiff, das man in der Nähe vermutete, überrumpeln könne. Auch die Nassovia hatte man aufgefordert, sich an diesem Überfall zu beteiligen, der doch fraglos einen vollen Erfolg versprach. Der kranke Kapitän des deutschen Schiffes lehnte jedoch unter Hinweis auf sein verpfändetes Ehrenwort ab, das man, wie er betonte, gerade diesem Piraten gegenüber nicht brechen dürfe, der die beiden Dampfer nicht zu versenken fest zugesagt habe. –
Soweit des alten Scherbaums Bericht, der alles was sich später abspielte, genügend erklärte.
Olaf hatte hoch aufgehorcht, als die Jacht des Großfürsten erwähnt wurde. Für ihn stand jetzt außer Zweifel, daß die Kavete und die Tatjana – das war der Name des großfürstlichen Privatfahrzeugs gewesen – ein und dasselbe Schiff und die jetzigen Leute des Korsaren dieselben seien, die auch vor Goa damals die Jacht gekapert hatten. Die Bauart der Kavete[14] sprach ja in allem für ihre einstige friedliche Bestimmung, ferner auch die prunkvolle Einrichtung des Salons, des jetzigen Kerkers des alten Brümmels und des blonden Kindes.
Olaf war mit Recht gespannt darauf, wie der Korsarenkapitän mit dem Engländer Macdonald und den Chinesen abrechnen würde. Er erwartete bestimmt ein strenges, blutiges Strafgericht, hatte sich hierin aber sehr getäuscht.
Der Freibeuter zeigte sich von einer Großmut, die der Junge bei dem Manne, der Mautner so kaltblütig hatte hinmorden lassen, einfach nicht begriff.
In Olafs und Scherbaums Gegenwart erklärte der Maskierte dem Engländer, er trage ihm diesen beinahe geglückten Anschlag auf sein Schiff deshalb nicht weiter nach, weil Macdonald von vornherein die Abgabe seines Ehrenwortes abgelehnt habe und weil er – der Korsar – an Stelle Macdonalds vielleicht genau so gehandelt haben würde. Mut, Entschlossenheit und Schlauheit seien Eigenschaften, für die er volles Verständnis besitze.
Man sah es dem Engländer an, wie sehr ihn diese würdige, vornehme Sprache eines Mannes, der alle menschlichen Gesetze verachtete, in Erstaunen setzte. Freiwillig gab er nun ohne erneute Aufforderung sein Wort, den Befehlen des Freibeuters ohne Falsch nachzukommen. – Die Chinesen wurden dann wieder sicher eingesperrt, und auch sie kamen auf diese Weise leichten Kaufs davon.
Die beiden Schiffe, die Petersburg und der gelbe Korsar, blieben bis zum Morgengrauen neben einander mit abgestoppten Maschinen liegen und besserten mit aller Eile ihre Schußbeschädigungen aus, soweit sich dies hier auf offener See tun ließ.
Der Ersatzmotor der Kavete wurde für den durch die Granate unbrauchbar gewordenen als erste und wichtigste Reparaturarbeit aufgestellt und probeweise angelassen. Dann kam das Granatloch in der Bordwand heran, schließlich auch die notdürftigste Ausflickung des Mittelaufbaus.
Der neue Tag unterbrach die rastlose Tätigkeit auf beiden Schiffen, auf denen es bei dem Kampfe der verflossenen Nacht nur wenige Verwundete gegeben hatte, für die aufs beste gesorgt wurde.
Nachdem die Morgendämmerung so weit vorgeschritten war, daß man die See weithin überblicken konnte, wurde auch der wrackgeschossene Zerstörer weit ab im Westen sichtbar. Die Nassovia schien ihre Fahrt nach den Tschapos-Inseln ruhig fortgesetzt zu haben.
Olaf, der wacker beim Ausbessern des Mittelaufbaus mitgeholfen hatte, sah nun, wie der Motorkutter der Kavete mit Aribu und Macdonald an Bord auf die Newa zusteuerte und dann nach einer Viertelstunde zurückkehrte.
Die Unterhandlungen mit dem Zerstörer, der bereits im Sinken begriffen und nicht mehr zu retten war, hatten zur Folge, daß die Besatzung des Kriegsschiffes auf die Petersburg übernommen wurde. Der Kommandant hatte mit für seine Leute die Versicherung abgegeben, sich genau so wie die Mannschaft der beiden gekaperten Dampfer vorläufig als Gefangene zu betrachten.
Eine halbe Stunde später verschwand der Zerstörer in den Wellen, von dem der Korsarenkapitän noch alles hatte auf sein Schiff schaffen lassen, was für ihn von Wert war. Der über dem Horizont aufsteigende Feuerball der Sonne fand die Kavete bereits in voller Fahrt nach ihrem Schlupfwinkel auf den Tschapos-Inseln. Die Petersburg folgte entsprechend ihrer geringeren Geschwindigkeit weit langsamer. –
Olaf Kersten hatte, abgelenkt durch die aufregenden Ereignisse, an seinen mißglückten Versuch, den Freibeuter in Flammen aufgehen zu lassen, kaum mehr gedacht. Erst jetzt, als die Kavete sich von der Petersburg getrennt hatte, als Ruhe wieder auf dem gelben Korsaren eintrat und die Matrosen für die schweren Stunden durch Ausgabe von Wein und anderen guten Dingen entschädigt wurden, fiel ihm der Vorratsraum der Kombüse wieder ein, der doch völlig von Petroleum überschwemmt sein mußte.
Unter einem Vorwand suchte er den alten freundlichen Koch in dessen kleinem Reich auf. Er wollte sich selbst davon überzeugen, wie es um die Stätte bestellt war, von der aus der Brand sich über das ganze Schiff hatte fortpflanzen sollen.
Der Koch war schlechter Laune, erklärte dem Jungen dann, er habe viel Arbeit gehabt. In der Vorratskammer sei, wahrscheinlich infolge der Erschütterung des Schiffes durch den ersten Treffer, eine Petroleumkanne umgekippt und habe ihren Inhalt vollständig auf den Fußboden entleert.
Olaf war im ersten Augenblick sprachlos über diese kurze Begründung, die der braune Koch für seine gereizte Laune soeben gegeben hatte, denn er hatte ja erwartet, auch etwas von dem angebrannten Papier zu hören, das er doch mitten in den Vorratsraum geworfen hatte. Nun ging aus den Worten des offenbar ganz ahnungslosen Kochs eins klar hervor. Jener Mann, den Olaf zunächst für Hesekiel Brümmel gehalten, mußte alle Spuren, daß hier eine Brandlegung beabsichtigt gewesen, sorgsam und schnell entfernt haben!
Der Junge stand vor einem Rätsel! Die Frage, wer in aller Welt jener Unbekannte gewesen sein könnte, ließ ihm selbst dann noch keine Ruhe, als er nach einer kräftigen Mahlzeit zum Umsinken müde seine Kabine und sein Lager aufgesucht hatte. Fortwährend grübelte er über dieses seltsame Eingreifen jenes Menschen nach, den er, wenn auch nur flüchtig, aus dem Kombüseneingang[15] hatte herauskommen sehen. Schließlich siegte dann aber doch die Müdigkeit. Er schlief ein, träumte viel von dem ihn verachtenden Hesekiel Brümmel, von der blonden Feodora und auch von dem Kapitän des gelben Korsaren, der ihn heute nur noch mit „kleiner Freund“ angeredet hatte und so überaus gütig zu ihm gewesen war.
Als er dann erwachte, sich gewaschen hatte und auf Deck gegangen war, sank die Sonne gerade ins Meer. Die feurige Lohe am westlichen Horizont färbte auch heute Himmel, Meer und Wogen mit einem wunderbaren, zarten Rot, das auch das Piratenschiff wie in einen neuen Anstrich tauchte.
Dann stutzte der Junge. Tatsächlich – es war das kleine, blonde Dorchen, das dort dicht vor dem Mittelaufbau auf einem Teppich auf den Deckplanken mit ein paar Puppen spielte, während der alte Brümmel dicht dabei in einem Liegestuhl saß und scheinbar behaglich ein Pfeifchen rauchte.
Dorchen hatte Olaf kaum erblickt, als es auch schon auf ihn zugesprungen kam, ihm das Händchen hinstreckte und vertraulich rief:
„Du sollst mit mir spielen, hat jener Mann dort gesagt.“ Dabei zeigte sie auf Aribu, der oben auf der Brücke stand.
Da erst wurde Olaf gewahr, daß die Kavete inzwischen wieder ihr Äußeres verwandelt, daß sie wieder einem mit schwerfälligen Aufbauten und einem dicken Schornstein versehenen Frachtdampfer glich.
Auch Hesekiel Brümmel schien sich jetzt mit den Dingen abgefunden zu haben, war recht freundlich zu Olaf und begann auch des öfteren eine Unterhaltung mit den braunen Seeleuten, die sämtlich dem blonden Kinde jede Laune und jeden Wunsch zu erfüllen bestrebt waren.
Olaf hörte dann von Dorchen, daß sie und ihr Beschützer schon mittags hatten an Deck kommen dürfen, wo die Kleine sehr bald sich mit diesem oder jenem der Matrosen anzufreunden wußte. Der Koch hatte ihr dann mit recht geschickter Hand die Puppen angefertigt, und zu ihm fühlte Dorchen sich auch mit am meisten hingezogen, da er ihr allerlei Leckereien zusteckte.
Am nächsten Morgen wurde Olaf zum Kapitän in dessen Kajüte gerufen. Zum ersten Mal betrat er jetzt diesen Raum, dem man an der Einrichtung sofort ansah, daß er fraglos einmal das Privatgemach des Großfürsten, des ehemaligen Besitzers der Kavete oder besser der Tatjana, gewesen.
Abermals fiel dem Knaben jetzt der schmerzliche Ausdruck des schmalen Gesichts des Freibeuters auf. Seine jugendliche Phantasie hatte sich das Bild eines Korsaren so ganz anders ausgemalt. Und wiederum begriff er nicht, wie ein Mann mit diesen ernsten, schwermütigen Augen so kaltblütig gerade Mautner hatte erschießen lassen, während die Chinesen doch, wie er inzwischen erfahren hatte, mit einer bloßen Tracht Prügel weggekommen waren.
Der Piratenkapitän hatte Olaf mit gütigen Worten begrüßt und ihm dann erklärt, er könne sich jetzt wieder als Schiffsjunge der Kavete betrachten, möge sich vorläufig der kleinen Feodora widmen und nur nebenbei sich nützlich machen. – Dann reichte er dem Knaben einen langen, reichverzierten persischen Dolch mit Scheide und Ledergehänge, sagte, Olaf solle diese Waffe zum Andenken an den gutgezielten Schuß auf den Chinesen als Geschenk annehmen.
Der Junge war hochbeglückt, dankte wortreich und trug fortan die prächtige Stoßwaffe stets bei sich.
Die folgenden zwei Tage vergingen Olaf wie im Fluge. Dorchen belegte ihn völlig mit Beschlag, und er war unermüdlich, neue Spiele zu ersinnen, um sie zu zerstreuen. Der alte Brümmel blieb gleichmäßig freundlich. Und doch glaubte der Junge herauszufühlen, daß es im Herzen des graubärtigen Landsmannes ganz anders aussah. Wenn Brümmel sich unbeachtet glaubte, folgten seine Augen den braunen Matrosen mit Blicken, in denen Haß und finstere Pläne zu lauern schienen. Auffallend war es auch, daß er allen Gesprächen über Dorchens Eltern auswich und daß die Kleine genau so vorsichtig in ihren Äußerungen war. Es unterlag kaum einem Zweifel: Der Alte hatte dem Kinde verboten, über diese Dinge dem Spielgefährten Auskunft zu geben. Daher wußte Olaf noch immer nicht einmal den Vatersnamen Feodoras, auch nichts über ihre engere Heimat. Nur daß ihre Eltern irgendwo in Südrußland ansässig waren, hatte er aus einigen Bemerkungen des Kindes entnommen, und dann hatte ihm Brümmel einmal freiwillig die näheren Umstände geschildert, unter denen er und Dorchen in Kolombo damals entführt worden waren.
Der Kapitän des gelben Korsaren blieb in diesen Tagen stets in seiner Kajüte, wenn die beiden Gefangenen sich an Deck befanden. Im übrigen ereignete sich nichts von Wichtigkeit. Das Meer blieb weithin leer. Dann kamen am vierten Tage der Trennung von der Petersburg früh morgens einige winzige Koralleninseln in Sicht, die von mehreren Gürteln von Riffen umgeben waren, um die eine hohe, gefährliche Brandung wütete. Die Inseln waren dicht mit Wäldern bedeckt, die hauptsächlich aus Kokospalmen und Eukalyptusbäumen bestanden, wie Aribu dem Knaben erklärte, der voller Interesse die Gruppe der Eilande mit dem Fernrohre musterte. Aribu erzählte Olaf auch, daß nur die südlichsten, von hier aus nicht sichtbaren Inseln des Tschapos-Archipels bewohnt seien und daß diese Eilande dort den nordwestlichen Ausläufer der weit zerstreuten Tschapos-Gruppe bildeten, deutete auch auf einen oben abgeplatteten Bergkegel, der über das Grün der tropischen Wälder hinwegragte, und bezeichnete ihn als erloschenen Vulkan, der steil aus dem Meere aufsteige und um den herum sich dann die Milliarden und Übermilliarden von Korallentierchen angesiedelt hätten, deren Bauten schließlich zur Entstehung ganzer Inseln führen.
Die Kavete steuerte die Eilande von Norden her an. Brümmel und Dorchen hatten heute unten im Salon bleiben müssen. So war Olaf denn die beste Zeit und Gelegenheit gegeben, genau zu beobachten, wie der Kapitän des gelben Korsaren sein Schiff mit Ruhe und Sicherheit durch die schmalen Kanäle der Riffbarrieren, durch reißende Strömungen und weißen Brandungsgischt steuerte. Sehr bald erkannte er, daß sich durch dieses Labyrinth gefährlicher Hindernisse und gurgelnder Wassermassen nur der hindurchfinden konnte, der mit allen Einzelheiten der durch nichts gekennzeichneten Fahrrinne völlig vertraut war. Aribu bestätigte Olaf denn auch, daß ein Unkundiger kaum imstande sei, die Eilande zu erreichen, die deshalb auch von den Bewohnern der größeren, im Süden liegenden Inseln des Archipels nie besucht würden.
Die Kavete hatte nach Durchquerung der Riffkränze einen engen Kanal zwischen zwei Inselchen angesteuert, der, vielfach gewunden, schließlich in ein seeartiges Becken mündete, das von einem Dutzend der winzigen Eilande eingeschlossen war und an dessen Südseite jener stumpfe Bergkegel sich erhob, der in diese Umgebung von flachen grünen Koralleninseln so gar nicht mit seinen grauschwarzen, moos- und flechtenbewucherten Felswänden hineinpaßte.
Dieses Becken, nach allen Seiten hin gegen Sicht und selbst gegen die heftigsten Stürme geschützt, war der Schlupfwinkel des gelben Korsaren.
Olaf, der doch bereits auf Ceylon all die Wunder tropischen Pflanzenwuchses hatte anstaunen dürfen, konnte es kaum erwarten, bis die Kavete unweit der Nordecke des etwa viereckigen Berges Anker geworfen und ein Boot ausgeschwungen hatte, in dem auch er mit an Land durfte.
Das Boot sollte Trinkwasser holen und zwar aus einer natürlichen Zisterne des Felskegels, da es auf Koralleneilanden selten Quellen oder Wasserläufe gibt. Olaf wurde daher zuerst zusammen mit dem Koch am Ufer der nächsten Insel gelandet, wo dieser nach Schildkröten suchen wollte, die hier sehr zahlreich waren.
Man fand denn auch in kurzem fünf Schildkröten von jener Art, deren Fleisch einen gesuchten Handelsartikel bilden und deren Aufzucht an der Küste Vorderindiens auch auf besonderen Farmen gewerbsmäßig geschieht. Hier lernte Olaf verschiedene andere Meeresbewohner, außerdem durch den Koch aufmerksam gemacht, in der Freiheit kennen, von denen er bisher kaum etwas gehört hatte, darunter Fische von geradezu phantastischen Formen und Farben, ferner die berüchtigten giftigen Wasserschlangen des Indischen Ozeans, dann auch den nicht minder gefährlichen Kaff oder Zauberfisch, einen Fisch von dreißig Zentimeter Länge, dessen Rücken- und Bauchflossen in je fünf sehr scharfe, giftige Spitzen auslaufen.
Eine Wanderung durch den lichten Wald des Inselchens brachte nicht minder Sehenswertes. Papageien, Nashornvögel, buntschillernde Wildtauben und kleinere gefiederte Arten belebten die Bäume; Käfer und Schmetterlinge wiegten sich von einer farbenprächtigen Blüte zur anderen, Spinnen bis zu Daumenlänge hatten ihre Riesennetze zwischen den Stämmen schlanker Palmen gespannt, und das Zirpen und Singen großer Grillen gab zu diesem ganzen, in all seiner Üppigkeit und Mannigfaltigkeit so bezaubernden Vegetationsbild eine zarte Musikbegleitung ab.
Der Koch, mit den Eigentümlichkeiten dieser Eilande wohlvertraut, suchte jetzt nach einem ihm schon bekannten hohlen Eukalyptusstamm, in dem wilde Bienen nisteten, die er schon wiederholt ihrer Honigschätze beraubt hatte. Er fand den Baum bald, sah in der Öffnung des Stammes die fleißigen Insekten ab und zu fliegen, und schickte Olaf aus, trockene Zweige und das starken Qualm erzeugende Laub eines immergrünen, unserem heimischen Buchsbaum ähnlichen Strauches zu sammeln. Hierbei entfernte der Junge sich schließlich bis zum Weststrande des Inselchens, wo diesem durch einen Wasserstreifen von nur etwa zwölf Meter Breite getrennt, das nächste Eiland gegenüberlag.
Als Olaf merkte, daß der Wald hier ein Ende hatte, wollte er wieder umkehren. Er ließ sich aber doch noch die Zeit, einen Blick nach dem Nebeneiland hinüberzuwerfen. Dort drüben zog sich nun eine schmale Lichtung tief in einen Hain von Kokospalmen hinein. Rotblühende Blumen schufen in dieser Waldblöße einen einheitlichen, von keiner anderen Farbe unterbrochenen Teppich. Es war dies ein so eigenartiges Bild, daß der Knabe unwillkürlich an einen mit Blut gefüllten Weiher dachte, der von den Palmen dicht umgeben war. Und der Gedanke an Blut rief ihm wieder die Vorgänge damals auf der Nassovia ins Gedächtnis zurück, als er von dem Motorkutter aus heimlich an Bord geschlichen war und dann auf dem Vorderdeck die Blutlachen gesehen hatte. Und – keine halbe Stunde später war ja sein lieber Freund Mautner erschossen worden! Der Knall der Salve schien ihm noch in den Ohren zu dröhnen.
Mautner! Karl Mautner! – Was war’s, das den Knaben plötzlich zusammenfahren ließ? Was weitete seine Augen in ungläubigem Staunen? Was trieb die frische Farbe aus seinen Wangen?
Was war’s, das den Knaben plötzlich zusammenfahren ließ?
Olaf glaubte eine übernatürliche Erscheinung vor sich zu haben. Doch nein! Derlei gab es ja nicht. Nur ein Trugbild war’s, – dieser Mann da drüben mitten in den roten Blüten, der regungslos dastand und nach dem Knaben hinschaute, – es konnte ja nur eine Sinnestäuschung sein, denn – es war ja Mautner, Mautner in demselben Anzug, wie er ihn zuletzt gesehen!
Olaf schloß die Augen einen Moment. War’s nur ein Trugbild, so würde es jetzt verschwunden sein. – Er öffnete sie wieder und – atmete wie befreit auf. Er sah nichts mehr als den roten, weiten Blütenteppich, über den jetzt ein Schwarm Papageien kreischend hinwegstrich.
Als er zu dem Koch mit einem Arm voll Reisig und Zweigen zurückkehrte, schaute der ihn forschend an, meinte, er sehe sehr blaß und fast verstört aus. Olaf berichtete dem freundlichen Alten sein seltsames Erlebnis. Der Koch nickte, sagte dann, und jetzt zum ersten Male kam der Name des zweiten Steuermanns der Nassovia über seine Lippen: „Du hast an Mautner gedacht, und deshalb gaukelte Dir Dein Hirn dieses Bild eines Toten vor, der – aus anderen Gründen sterben mußte, als Du bisher angenommen hast.“
Dann fachte er am Fuße des hohlen Stammes ein stark qualmendes Feuer an, verscheuchte die Bienen und packte die herausgeschnittenen Waben in die korbähnlichen Riesenblätter einer erst halb entwickelten Rafflesia, die bekanntlich die größte aller Blumen ist und deren ausgewachsene Blätter einen Durchmesser von zwei Meter haben, während die metergroßen Blüten einen sehr unangenehmen Geruch ausströmen, der den Verwesungsdünsten eines Tierkadavers ähnlich ist.
Die Jolle holte die beiden dann wieder mit ihrer reichen Beute an Bord, wo Dorchen ihrem Spielgefährten sofort entgegengesprungen kam und ihn mit Vorwürfen überhäufte, weil er sie nicht mitgenommen hatte.
Der alte Hesekiel Brümmel stand schweigend dabei und beugte sich dann über die Reling, schaute offenbar nach der Jolle und dem größeren Boote aus, die jetzt beide unten am Fallreep vertäut lagen.
Abermals stieg in Olaf das Mißtrauen gegen den Beschützer der Kleinen auf, der sich fraglos nur zu all der Freundlichkeit und scheinbaren guten Laune gewaltsam zwang, um seine innersten Gedanken besser zu verbergen. Besonders dieses Interesse, das Brümmel jetzt für die Boote bekundete, kam Olaf recht verdächtig vor. Trug der Alte sich etwa mit Fluchtgedanken? – Dies wäre ja bei der Unmöglichkeit, die brandungumtobten Riffbarrieren in einem offenen Fahrzeug zu passieren, ein Wahnsinn gewesen.
Der Junge überlegte, ob er Brümmel nicht vor einer solchen Unbesonnenheit warnen sollte, zumal dieser ja nicht hatte mitbeobachten können, wie schwierig es gewesen, die Kavete bis in dieses stille, verborgene Wasserbecken zu bringen. Nachher tat er’s dann wirklich, als Dorchen in der Kombüse verschwunden war, um ihren Freund, den Koch, zu besuchen.
Brümmel hörte schweigend mit niedergeschlagenen Augen zu, schüttelte nun den Kopf und meinte mit einem nicht ganz echten harmlosen Auflachen:
„Keine Sorge, mein Junge! Wo werde ich Dorchen der Gefahr aussetzen, in der Brandung zwischen den Riffen umzukommen! Nein – ich kann warten. Der Kleinen Vater ist sehr reich. Er wird das Lösegeld schon bezahlen, um das es den Piraten doch nur zu tun ist.“
Damit war die Sache erledigt, und der Alte sprach von anderen Dingen. Olaf traute ihm jedoch nicht und nahm sich vor, die Augen gut offen zu halten.
Am Nachmittag begannen dann die Instandsetzungsarbeiten auf der Kavete, deren Beschädigungen damals auf offener See ja nur notdürftig hatten ausgeflickt werden können. Der Korsar wurde jetzt zum größten Teil entladen, damit sein Rumpf höher aus dem Wasser herausstieg und man auch das Schußloch in der Bordwand bequem ausbessern konnte.
Fast alles, was auf der Kavete nicht niet- und nagelfest war, wanderte auf die Insel hinüber, die Olaf nun bereits bekannt war. Auch Brümmel, Dorchen und die ganze Besatzung wurden in Zelten am Strande untergebracht.
Der Kapitän erschien heute wiederum erst an Deck, als die beiden Gefangenen bereits ihr neues Heim bezogen hatten. Es war dies ein sehr geräumiges Zelt aus Segelleinen mit zwei Abteilungen und allen nötigen Einrichtungsgegenständen. Sogar einen Fußboden hatte man aus Brettern schnell zusammengeschlagen, um die Erdfeuchtigkeit fernzuhalten.
Olaf, der gerade einen Blasebalg trat, in dessen Feueröffnung Bolzen zum Vernieten von Eisenplatten glühend gemacht wurden, mußte dem Kapitän nun in die Jolle folgen, ohne daß dieser zunächst erklärte, wohin er zu fahren beabsichtige. Er ruderte selbst, legte dann an der Nordwestseite des stumpfen Bergkegels an, dessen Steinwände dicht über dem Wasser seltsame Gebilde, förmliche Auswüchse, hatten, die vielfach eine beträchtliche Höhe und Länge besaßen und unregelmäßigen, in das Becken hinausragenden Mauern glichen. Der Kapitän klärte Olaf über ihren Ursprung mit kurzen Worten auf. Es handele sich um erstarrte Lavamassen, die in flüssigem Zustande dem Krater des jetzt erloschenen Vulkans entströmt und, an den Seiten herabfließend, schichtweise erkaltet seien.
Er hatte die Jolle zwischen zwei dieser Mauern hineingelenkt, die kaum drei Meter voneinander entfernt, den Zugang zu einer Ausbuchtung des Berges bildeten, die man hier in solcher Ausdehnung kaum vermutet hätte und die sich so tief in die Steinmassen hineinzog, daß im Hintergrunde dieser Grotte nur noch schwache Dämmerung herrschte.
Olaf ahnte jetzt, daß der Kapitän ihn in Dinge einweihen würde, die vielleicht nur noch den braunen Verbündeten des Korsaren bekannt waren. Er hatte sich nicht getäuscht. Der Kapitän hatte die Jolle im tiefsten Winkel der Grotte an einem Steine mit der Kette festgemacht, zündete nun eine Laterne an und sprang auf den kurzen, steinigen Uferstreifen, über dem sich wenige Meter weiter zurück die Gesteinmassen zu einer schräg ansteigenden Decke wölbten.
Olaf folgte ihm auf einen stummen Wink hin, kletterte hinter ihm drein und erreichte so einen Spalt in der Felsendecke, der gerade breit genug war, einen Menschen hindurch zu lassen. Hier waren zu beiden Seiten eiserne Stäbe mit Blei in den Fels eingegossen, mit deren Hilfe man ganz bequem wie auf einer Leiter in dem dunklen Kamin emporsteigen konnte. Jetzt hatte dieser ein Ende. Olaf sah sich in einer weiten, fast kreisrunden Höhle mit kuppelförmiger Decke, von der lange Steinzapfen herabhingen. Eines dieser Gebilde – es handelte sich gleichfalls um erstarrte Lava – war nun ähnlich wie die Felsspalte zu einer Leiter ausgestaltet worden, an der man bis dicht unter die Deckenwölbung gelangte. Hier ging wieder ein schräges Loch aufwärts und mündete oben auf der Plattform des erloschenen Vulkanes, der auf andere Weise bei seinen steil abfallenden, gut fünfzig Meter hohen Wänden nicht zu erklimmen war.
Die flache Spitze des Berges zeigte nach der Mitte zu eine trichterförmige Vertiefung. Lavaüberreste täuschten hier Steine und Felsstücke vor und boten gute Deckung nach dem Meere hin. Der Kapitän des gelben Korsaren löschte die Laterne aus und setzte sich hinter eine hohe Anhäufung der vulkanischen[16] Auswurfstoffe. Olaf mußte neben ihm Platz nehmen.
Dann begann jener, indem er seinem Schiffsjungen vertraulich die Hand auf die Schulter legte:
„Mein kleiner Freund, Du kennst jetzt so ziemlich alle meine Geheimnisse. Ich weiß, daß Du verschwiegen bist. Außer mir hat nur Aribu bisher diesen hohlen Vulkankegel betreten, dessen Zugang ich durch einen Zufall entdeckt habe. Ich brauche Dich hier notwendig als Beobachter, denn ich erwarte das Eintreffen der Nassovia und der Petersburg vielleicht schon heute gegen Abend. Ersterer ist langsamer als der Russe, und beide dürften ziemlich gleichzeitig in Sicht kommen. Ich habe ihnen Befehl gegeben, sich diesen Inseln von Westen zu nähern und, sobald dieser platte Berg am Horizont aufgetaucht ist, die Maschinen zu stoppen. Ich würde dann den Kutter mit weiteren Befehlen hinübersenden. Es ist also nötig, den westlichen Horizont ständig zu beobachten. Dies soll Deine Aufgabe sein, da ich für die Ausbesserungsarbeiten meine Leute sämtlich brauche, die außerdem, wenn sie auch das Geheimnis dieses Berges kennen, doch nicht so weit eingeweiht sind, daß sie von einem Zugang bis zur Kuppe hinauf etwas wissen. – Du wirst Dich hier oben demnach so bewegen müssen, daß Du von den Inseln und der Kavete aus nicht bemerkt werden kannst. Ich lasse Dir dieses Fernglas zurück, mit dem Du von Zeit zu Zeit den Horizont im Westen abzusuchen hast. Erspähst Du die Dampfer oder einen von ihnen, so steigst Du in die Grotte hinab, wo das Dingi[*3] für Dich bereitliegen wird, mit dem Du an Land ruderst. Hier habe ich auch für mich ein Zelt errichten lassen. Hinzuzufügen muß ich noch, daß die Dampfer Anweisung haben, bei Eintreffen[17] in der Nähe der Gruppe nach Dunkelwerden von Zeit zu Zeit ein rotes, dann ein grünes und wieder ein rotes Licht abzubrennen. Merke Dir: rot, grün, rot. – Auch nach Aufflammen dieser Signale gibst Du mir sofort Nachricht. Ich werde dann Aribu mit dem Motorkutter an Bord der Schiffe senden, damit er als Lotse sie in unseren Schlupfwinkel hineinführt. – Nun wollen wir nach der Jolle zurück und das Bündel holen, das ich mitgenommen habe und das alles enthält, was Du hier oben auf Deinem einsamen Posten brauchst.“ –
Die Sonne war bereits im Sinken begriffen, als Olaf auf der Kuppe nach kurzem Abschied von dem Kapitän allein blieb.
Jetzt hatte er Muße genug, die wunderbare Aussicht zu genießen, die sich ihm von diesem Platze aus bot. Er hatte sich hinter einen Lavablock gelegt und erfüllte nun zunächst seine Pflicht, indem er mit dem Glase den westlichen Horizont absuchte. Doch das Meer war nach dieser Richtung hin einsam und leer. Dann kroch er nach der anderen Seite der Plattform hinüber, baute sich hier am Strande eine kleine Schutzmauer mit einem Sehschlitz und beobachtete nun das Leben und Treiben unten auf dem Korsaren und auf der nahen Insel, bemerkte an deren Ufer zwischen den ersten Palmen die Zelte und ein paar flackernde, eng zusammenliegende Feuer, erkannte den Koch, der über den Flammen seine Töpfe und Tiegel aufhing, erkannte auch durch das scharfe Fernrohr Dorchen und den alten Brümmel, die dicht am Strande eine große Schildkröte in Augenschein nahmen.
Dann richtete er das Glas von einer anderen Stelle aus nach Süden. Dort ragten aus den blauen Fluten des Ozeans zahlreiche grüne Flecke hervor, darunter auch ein besonders umfangreicher, die Hauptinsel des Tschapos-Archipels Diego Garcia, wie der Kapitän ihm vorhin noch erklärt hatte, wobei er noch erwähnte, daß Diego Garcia bewohnt sei und für die Schiffahrt nach den indischen beziehungsweise ostafrikanischen Häfen als einzige Zwischenstation große Bedeutung habe, daher auch von den Engländern als den Besitzern des Archipels als Kohlenstapelplatz eingerichtet sei.
Dort im Süden bemerkte Olaf nun auch ein paar Rauchsäulen, die auf regeren Dampferverkehr hindeuteten. Nach diesem Rundblick begab er sich schnell wieder auf seinen westlichen Beobachtungsposten zurück, musterte wiederum den Horizont und begann sich nun etwas häuslich hier oben einzurichten.
Das Bündel enthielt tatsächlich alles, was er brauchte: Zwei Decken, Proviant, eine Kanne Trinkwasser, eine Laterne, Zündhölzer und – ein Buch: „Die Wunder der Tiefsee“, das der Kapitän wohl in der Absicht beigepackt hatte, Olaf über die Langeweile hinwegzuhelfen.
Zunächst stellte diese sich nicht ein. Der Junge machte sich sehr bald über die Eßvorräte her und schaute sich dann wieder eine Zeit lang das Treiben unten auf der Kavete und am Strande des Eilandes an, wo es jetzt gegen Abend nach Einstellung der Reparaturarbeiten recht lebhaft herging. Immer zahlreicher flammten die Lagerfeuer auf, und nach Dunkelwerden boten die neu erstandenen Zelte und die Menschen, die sich um sie herum bewegten, bei der flackernden Beleuchtung durch die brennenden Scheite ein recht phantastisches[18] Bild dar, das den Knaben sofort an eine Erzählung über ein Piratennest auf einer einsamen Insel erinnerte, wo eine ähnliche nächtliche Szene beschrieben war. Nun erlebte er eine solche in Wirklichkeit, sah unter sich ausgebreitet das Wasserbecken, die Eilande, den ganzen Schlupfwinkel des gelben Korsaren, dessen Schiffsjunge er durch eine Verkettung so merkwürdiger Umstände geworden.
Und abermals suchte er im Westen, auf seinen Decken weich und behaglich ausgestreckt, den Horizont ab. Die abendliche See hatte sich, da der Wind allmählich fast ganz eingeschlafen war, vollständig beruhigt und lag da wie eine dunkle, unendliche, kahle und unfruchtbare Ebene. Die ersten Sterne tauchten am wolkenlosen Nachthimmel auf. Ein Schwarm Seevögel kam mit schweren Flügelschlägen näher, wollte sich auf die Bergkuppe niederlassen. Das Licht der Laterne, die Olaf angezündet hatte, um in dem Buche lesen zu können, verscheuchte sie. Dann stieg der Mond aus den Fluten als silbernes Horn empor. Die Stille ringsum, nur unterbrochen von dem leisen Rauschen der Brandung, weckte in dem Knaben ganz eigenartige Gedanken. Das Buch konnte ihn trotz der lebendigen Schilderungen der in den Tiefen des Meeres hausenden Bewohner nicht fesseln. Er dachte an alles Mögliche, – immer neue Pfade ging sein lebhafter Geist. – Sein Onkel, der Besitzer der Plantage unweit von Benkoelen, fiel ihm ein. Längst hätte er ja dort auf der Pflanzung eingetroffen sein müssen, wenn nicht der gelbe Korsar erschienen wäre. Auch an Mautner erinnerte er sich wieder, an die Erscheinung in der blutroten Blumenwiese; ebenso an Brümmel und Dorchen, an den Kapitän. Und da tauchte schon wieder jene Frage in ihm auf, die ihn verschiedentlich so lebhaft beschäftigt hatte: weshalb wohl der Kapitän das Kind geraubt haben möge. – Um Geld zu erpressen? – Nein, das hätte so wenig zu dem Freibeuteranführer gepaßt! – Andere Zwecke mußte dieser mit der Kleinen verfolgen. Aber – welche nur, welche? –
So lag Olaf da und sann und grübelte. Hin und wieder griff er nach dem Fernrohr und schaute nach den Dampfern, nach den Lichtsignalen aus. Es war jetzt ganz finster geworden. Der Mond hatte sich hinter seinen, von Osten kommenden Wolkenschleiern halb versteckt.
Dann merkte Olaf, daß er müde wurde. Es mochte jetzt Mitternacht sein. Um vier Uhr morgens hatte der Kapitän ihn ablösen wollen.
Der Junge wollte sich munter erhalten, kroch nun wieder hinter die Schutzmauer, um das Zeltlager zu betrachten, richtete sich dann aber zu seiner vollen Größe auf, da ihn jetzt ja niemand mehr hier oben bemerken konnte.
Er stellte das Fernglas auf die Lagerfeuer ein, die mit bloßem Auge nur wie rote Pünktchen sich ausnahmen. Vier Feuer brannten jetzt, und zwei Wachen schlenderten langsam auf und ab. Sonst regte sich nichts mehr dort am Strande des Inselchens.
Dann horchte Olaf plötzlich auf, lauschte angestrengt.
Dann horchte Olaf plötzlich auf und lauschte angestrengt.
Von Osten her wehte jetzt eine schwache Nachtbrise, kaum zu spüren. Und doch war’s dem Jungen gewesen, als bringe sie ein gleichmäßiges Geräusch von der See her mit herüber, – ein leises Rattern.
Nein – er mußte sich getäuscht haben! Es war wohl nur die Brandung, die ihm Töne zutrug, die sein mißtrauischer Geist umgestaltete zu dem leisen, schnell verklingenden Rattern und Stampfen.
Olaf streckte sich wieder auf seinen Decken aus. Das scheinbare Geräusch hatte seine Phantasie unwillkürlich so stark angeregt, daß jedes Müdigkeitsgefühl geschwunden war und er sich nun allerhand abenteuerliche Ereignisse ausmalte, die in Wirklichkeit nie geschehen würden: Einen Angriff auf den Schlupfwinkel der Freibeuter, blutige Kämpfe, wilde Heldentaten des Kapitäns, ein leichenbesätes Schlachtfeld.
So fest spann er sich in diese Phantasien ein, daß er ganz seine Pflicht vergaß. Dann schreckte er auf, dachte an die Signale – rot – grün – rot, griff nach dem Fernrohr.
Da – mit einem Ruck war er auf den Füßen.
Keine Täuschung jetzt: Das waren Schüsse – laute Rufe, abermals Schüsse!
Mit zwei Sätzen befand er sich auf der anderen Seite der Kuppe, zitternd vor Erregung, völlig verwirrt von dem Lärm, der zu ihm heraufklang.
Ein Blick hinab in die Tiefe, hinab zum Inselstrande genügte: Was sein Hirn ihm soeben noch an unwirklichen Bildern gezeigt hatte, spielte sich jetzt dort ab, wo das Zeltlager noch vorhin in so friedlicher Ruhe dagelegen hatte.
Die Piraten waren überfallen worden, ganz unvermutet, – angegriffen von einem Gegner, der sorgsam alles vorbereitet hatte, um einen vollen Erfolg davonzutragen.
Von der nächsten Insel neben dem jetzt von den Korsaren bewohnten Eiland warf ein großer Scheinwerfer seine blendende Lichtbahn über das Lager hin. Und begünstigt durch diese klare Beleuchtung hatten die Angreifer die schlafenden, völlig überrumpelten Freibeuter sofort unter ein so heftiges Gewehrfeuer genommen, daß die wenigen Überlebenden sehr bald die Arme zum Zeichen der Unterwerfung hochreckten.
Olaf bebten die Hände so sehr, daß er das Fernglas kaum richtig an die Augen bringen konnte. Erst als unten in der Tiefe der Lärm des Kampfes bereits verstummt war, hatte er sich so weit gefaßt, daß er den Schauplatz genau zu betrachten vermochte. Der Scheinwerferkegel schnitt gleichsam aus der dunklen Nacht ein scharf abgegrenztes Bild heraus, ein Bild voller eilender Menschen, voller regungslos hingestreckter Körper, ein Bild mit dem freundlichen Hintergrunde des Palmenwaldes, dessen Kronen weißlich schimmernd hin und her wehten in der sanften Nachtbrise.
Olaf erfaßte jetzt immer mehr Einzelheiten. Er sah, daß die Angreifer, die Sieger, zum Teil gleichmäßige Seemannsanzüge trugen, zum Teil aber Chinesen waren. Sofort dachte er an die Besatzung des gesunkenen Zerstörers, an die Gauklertruppe und die Kulis. Kein Zweifel: die Russen hatten hier mit den Gelben gemeinsame Sache gemacht.
Dann wieder beobachtete er, wie der dicht umzingelte Rest der Freibeuter immer zu zweien an die nächsten Stämme der Kokospalmen gebunden wurde, wie besonders die Chinesen die Gefangenen mißhandelten unter tierischem Hohngelächter. Das war offenbar die Rache für die Prügel, die einige von ihnen erhalten hatten.
Und weiter sah er, daß man jetzt den offenbar verwundeten Kapitän allein an einen Baum band, obwohl er sich kaum auf den Füßen halten konnte.
Allmählich wurde das Treiben dort am Strande ruhiger. Olaf stellte fest, daß die Sieger jetzt aus der in drei großen Haufen aufgeschichteten Ladung der Kavete mehrere Fässer in die Nähe der Feuer rollten, daß ein Siegesmahl begann und bald zu einem tollen Zechgelage ausartete. Die Russen sangen Lieder, tanzten um die lodernden Feuer, brüllten, schwangen ihre Trinkgefäße, gossen den Gefangenen den Branntwein ins Gesicht; die Chinesen hatten sich wieder um ein entfernteres Feuer geschart, wo es genau so wild herging. Der Scheinwerfer war längst erloschen. Die Leute, die ihn bedient hatten, wollten auch ihren Teil an der Siegesfeier haben.
Olaf zählte jetzt die Überlebenden, von denen sicher einige noch verwundet waren. Er zählte nur elf Mann einschließlich des Kapitäns. – Seine Phantasie hatte ihm vorhin ein blutiges, leichenbesätes Kampffeld gezeigt. Jetzt hatte er es vor sich. Dort abseits lagen ja die Toten neben- und übereinander, wie die Chinesen sie auf Befehl ihrer weißen Verbündeten beiseite getragen und auf einen Haufen geworfen hatten.
Der Schiffsjunge des gelben Korsaren hatte sich auf einen Lavablock gesetzt. Die Füße wollten ihn nicht mehr tragen. Zu viel Schreckliches hatte er soeben geschaut, Szenen voller Wildheit, Blutvergießen und Grausamkeit, Beweise für das schnelle Auflodern aller in der Menschenseele verborgenen schlechten Instinkte.
Ihm graute vor alledem. Und dann dachte er an sich selbst. Was sollte nun aus ihm werden? Sollte er hinab auf den Platz wüster Trunkenheitsorgien und den Siegern sich in der Hoffnung ausliefern, daß sie ihn schonen würden?
Nein – abwarten wollte er zunächst! Die halben Bestien dort unten, diese von Branntwein überfließenden, hin und her taumelnden Männer, die ihr Mütchen immer wieder durch neue Roheiten an den Gefangenen kühlten, waren in diesem Zustande zu allem fähig.
So saß er denn, einsam und verlassen, hoch oben auf dem harten Felsen, sah, wie einer nach dem andern dort neben den Feuern halb bewußtlos niedersank, wie die Feuer niedriger und niedriger brannten, schließlich ganz erloschen, hörte nun keinen Laut mehr aus der Tiefe zu sich heraufdringen – nur das friedliche Wispern der Bäume, das Rauschen der Brandung und hin und wieder auch den Schrei einer Möwe, die nach all dem wilden Lärm ihren Nistplatz am Gestade der nahen Eilande noch nicht wieder aufgesucht hatte.
Olaf Kersten erhob sich plötzlich. Wie die feurige Zickzacklinie einer elektrischen Entladung die gewitterdunkle Nacht mit einem Mal in blendende Helle taucht, ebenso jäh war in seinem sorgenerfüllten Hirn ein belebender Gedanke aufgezuckt, hatte die Nacht seiner bangen, verzweifelten Hoffnungslosigkeit in klare, zielbewußte Entschlossenheit verwandelt.
Seine Laterne brannte noch. Eilig begann er den Abstieg durch den hohlen Vulkankegel, langte in wenigen Minuten in der wasserumspülten Grotte an, fand hier das winzige Boot, sprang hinein, stieß ab und gewann glücklich das freie Wasser des offenen Beckens, trieb mit lautlosen Ruderschlägen sein Fahrzeug weit ab vom Lagerplatz an den Strand, zog es ein Stück auf den muschelbesäten, weißen Uferstreifen und tauchte im Schatten der Bäume unter.
Den kleinen Revolver in der Rechten, schlich er am Rande des Waldes weiter, bis er vor sich die hellen Zelte schimmern sah. Auf allen Vieren kroch er näher, machte des öfteren halt, lauschte gespannt.
Nichts Verdächtiges! Nur das Schnarchen der schlafenden, trunkenen Sieger erreichte sein Ohr.
Weiter also. Nun hatte er den ersten Stapel der Ladung der Kavete erreicht, schmiegte sich hinter ein paar Kisten.
Da – neben ihm ein Geräusch – eine Stimme:
„Olaf ich bin’s!“
Er knickte vor Schreck zusammen. Das Gespenst – die Erscheinung – Mautner – Mautners Stimme war’s!
Ein Schrei des Entsetzens wollte ihm über die Lippen dringen.
Eine schwere Hand verschloß ihm noch zur rechten Zeit den Mund; dazu abermals die Stimme:
„Junge – so sei doch vernünftig! Ich lebe ja – bin Gott sei Dank sehr frisch und munter! Der Kapitän hat mich ja nur zum Schein erschießen lassen. Eine ausgestopfte Puppe flog auf dem Brett in die See. Er wollte nur zeigen, daß mit ihm nicht zu spaßen sei, wollte die Besatzungen der Petersburg und der Nassovia vor einem Wortbruch warnen! – Begreifst Du nun? – Ich war’s leibhaftig, der heute vormittag dort auf der Nachbarinsel stand. Ich bekam keinen schlechten Schreck, als ich Dich sah, warf mich dann schleunigst lang zu Boden. Ich sollte mich ja nicht eher Dir und den anderen zeigen, bis der Kapitän dies für gut befand. Nur die Leute der Kavete waren eingeweiht. Und ich habe auch den törichten Streich verhindert, mein Junge, den Du mit dem Petroleum vorhattest. Mein falscher Bart aus Werg hat Dich also wirklich getäuscht. Ein Glück, daß ich den Brand noch verhüten konnte, Olaf! Ich sah Ähnliches voraus, ahnte Deine rachsüchtigen Pläne. Mag der Kapitän auch ein Pirat sein – er hat auch seine edlen Eigenschaften. – Doch nun genug hiervon. Die Gegenwart erheischt schnelles Handeln. Ich nehme an, Dich hat dieselbe Absicht hergeführt wie mich. Der Kapitän hatte mir auf der Nachbarinsel ein Zelt errichten lassen. So entging ich der Metzelei. – Dort drüben stehen, wie ich schon festgestellt habe, zwei Chinesen bei den Gefangenen Wache. Es sind dies der Anführer der Gaukler und einer seiner Genossen, der lange, dürre Degenschlucker. Wir müssen die beiden zunächst unschädlich machen. Auch sie sind nicht ganz nüchtern. Vorhin, als ich sie beschlich, hockten sie auf einem leeren Faß. Aber – sie haben sicherlich Revolver bei sich. Ich weiß schon, wie wir sie abtun. Ich werde einfach einen der Russen spielen, der aufgewacht ist und auf sie zu torkelt. Hier – dieses mit feuchtem Sand gefüllte Tuch ist für solche Arbeit die beste Waffe. – Ich werde vorankriechen. Folge mir. Und – wenn’s ganz schlimm kommt, schlag’ mit diesem Ruder zu, das ich erst benutzen wollte.“
Olaf tastete jetzt nach Mautners Hand.
„Oh – ich – ich freue mich ja so, daß Sie leben!“ flüsterte er.
Mautner preßte des Jungen Finger. „Schon gut, mein kleiner Freund, schon gut. Ich glaub’s gern, daß Du froh bist, kein Gespenst neben Dir zu haben! –Doch – vorwärts jetzt – und Vorsicht!“
Die beiden Chinesen saßen noch auf dem Fasse, unterhielten sich halblaut und berieten, wo man noch in dieser Nacht den wertvollsten Teil der Ladung des Piraten verbergen könne, damit er den Russen entgehe.
Dann hörte der eine das Geräusch von Schritten, schaute sich um, sprang auf, war aber sofort beruhigt, als er die schwankenden Bewegungen des Nahenden sah.
Mautner war bei dieser Dunkelheit kaum als der zweite Steuermann der Nassovia zu erkennen. Sehr geschickt und getreu seiner Rolle fuchtelte er lallend mit den Armen in der Luft umher. Dies verdeckte eben die Bewegung des Ausholens, um mit dem Sandsack zuschlagen zu können.
Nun stand er dem Anführer der Gaukler dicht gegenüber, nun gewahrte er dessen Zurückzucken, ahnte, daß er erkannt sei.
Da schlug er zu. Und der Gelbe brach auch augenblicklich ohne jeden Laut zusammen.
Der andere Chinese hätte vielleicht Zeit gefunden, einen Warnruf auszustoßen, ehe Mautner abermals zum Schlage gekommen wäre.
Doch – gerade als der erste Gelbe umknickte, erhob sich hinter dem zweiten Olaf Kersten, und das schwere, eichene Ruder traf mit dumpfem Krach den kahlen unbedeckten Schädel, streckte auch diesen Wächter bewußtlos nieder.
„Gewonnen!“ flüsterte Mautner. „Los nun – schneiden wir die Gefangenen von den Bäumen.“
Olaf schlüpfte schon auf den Kapitän zu. Hier bekam der persische, haarscharfe Dolch die erste Arbeit. Die Stricke fielen herab, und – der Befreite sank stöhnend vornüber. Eine Kugel hatte ihm den Oberschenkel durchbohrt, eine zweite den Kopf leicht gestreift.
Olaf schlüpfte schon auf den Kapitän zu. Hier bekam der
persische, haarscharfe Dolch die erste Arbeit.
Die Energie des seltsamen Mannes siegte über die Schwäche des matten Leibes. Er raffte sich auf, stand auf den Füßen. Olaf stützte ihn.
„Geh, – hilf die anderen befreien,“ raunte er dem Jungen zu.
Olaf eilte weiter.
Drei der braunen Matrosen, darunter auch der Koch, hingen nur noch als Leichen in ihren Fesseln, waren inzwischen ihren Wunden erlegen. Von den übrigen sieben waren zwei durch die Mißhandlungen so übel zugerichtet, daß sie getragen werden mußten.
Der Motorkutter, der an der Spitze einer schmalen Landzunge vertäut lag, sollte die Flüchtlinge aufnehmen.
Da war es Olaf, der den Kapitän auf Brümmel und die Kleine aufmerksam machte, an die bisher niemand gedacht und die auch der Junge weder während des Überfalles noch nachher bemerkt hatte.
Mautner hatte Olafs Worte gehört, mischte sich nun ein und erklärte kurz, der Alte und das Kind befänden sich nicht mehr auf den Inseln. Er würde später näheres hierüber erzählen. Jetzt müsse man zusehen, möglichst schnell von hier fortzukommen, da ein Zufall jeden Augenblick die Lage zu Ungunsten der soeben Befreiten ändern könne. Es brauchte nur ein halbwegs Nüchterner der Russen oder Chinesen zu erwachen, das Verschwinden der Gefangenen bemerken und Lärm schlagen, dann sähe man sich einer erdrückenden Übermacht gegenüber, und der Ausgang des sicher nur kurzen Kampfes könne nicht weiter zweifelhaft sein.
Der Korsarenkapitän wollte sich jedoch nicht so ohne weiteres mit diesen Angaben über Brümmel und Dorchen begnügen. „Sie ahnen nicht, welchen Wert gerade die Kleine für mich hat!“ stieß er in einer an ihm ganz fremden Erregung hervor. „Ich muß sie wieder haben – muß! Sind die beiden etwa geflohen.“
„Ja. In der Jolle. – Doch lassen Sie jetzt alle Fragen nach Einzelheiten. Das hat für später Zeit. – Hinauf auf den Kutter, Kapitän. – Da – sehen Sie – da ist tatsächlich einer der Leute an das nur noch glimmende Feuer getreten. Er facht die Glut an, wirft Holz hinauf. – Fort mit uns, oder wir sind verloren.“
Nur widerwillig gab der Kapitän nach.
Der Kutter wurde losgemacht und zunächst nur mit Hilfe seiner langen Ruder lautlos bis zur Kavete gebracht. Dies geschah auf ausdrücklichen Befehl des Kapitäns.
Mautner begriff nicht, was den Freibeuter veranlaßte, noch an dem zur Flucht ja doch nicht zu benutzenden leeren Schiff anzulegen.
„Wartet!“ meinte der Kapitän jetzt kurz und stieg mühsam und hinkend das Fallreep empor.
Bald tauchte er wieder auf. Als er kaum das Deck des Kutters betreten hatte, erhob sich auf der Insel wüstes Geschrei. Man konnte erkennen, daß Leute mit Feuerbränden hin und her eilten. Schleunigst stieß der Kutter von der Kavete ab, schlich weiter dem Kanal zwischen den Inseln zu, der auf die Riffbarrieren mündete.
Dann konnte man es wagen, den Motor anzulassen. Gewiß, das große Boot besaß ja auch eine Antriebsvorrichtung durch Akkumulatoren. Doch diese waren erschöpft und nicht wieder mit Elektrizität geladen worden.
Unter dem Druck der Schraube schoß der Kutter schneller und schneller dahin, durchquerte den Wasserstreifen zwischen den Inselgestaden und den Riffkränzen, lief nun in das gefährliche Fahrwasser der Riffe ein, wo jedes falsche Steuermanöver das Verderben bringen konnte.
Der Kapitän hatte sich durch einige Gläser Wein gestärkt, steuerte nun selbst den Kutter, während Aribu, der unverletzt dem Unheil entronnen war, ganz vorn auf der Spitze stand, auf das Fahrwasser achtgab und seinem Herrn die nötigen Weisungen zurief. Mit halber Kraft schlängelte das Boot sich durch die Untiefen und schmalen Fahrrinnen. Jetzt bei Nacht war dieses Passieren der den Inseln vorgelagerten Korallenbänke ein Wagnis, das nur Leute wie der Kapitän und Aribu auf sich nehmen konnten, die hier eben mit jeder Zacke, jeder Klippe vertraut waren.
Mautner und Olaf verfolgten denn auch mit leisem Herzklopfen jede Bewegung des Steuerrades. Zuweilen schrammte der Kiel des Kutters fühlbar über Korallenäste hin, ohne jedoch fest aufzufahren. Dann glaubte Olaf von Backbord her aus der Ferne etwas wie einen verklingenden Hilferuf zu hören.
Da – abermals dieses schnell verwehende „Hilfe – Hilfe –!“
Auch der Kapitän war aufmerksam geworden. Und Mautner raunte ihm jetzt erregt zu:
„Es können nur Brümmel und die Kleine sein. Die Jolle ist natürlich in der Brandung gescheitert.“
Der Motor wurde abgestellt. Nun vernahm man in längeren Pausen deutlicher das angstvolle Rufen.
„Was tun?“ meinte der Kapitän, indem er ein Fernrohr in die dunkle Nacht hinaus richtete, – dorthin, wo der weiße Kranz der donnernden Brandung leuchtete. „Wir dürfen den Kutter nicht der Gefahr aussetzen, sich irgendwo festzurammen auf einer Klippe oder sich den Boden aufzureißen. Hier befinden wir uns noch in leidlich stillem Wasser. Hundert Meter weiter kommt für uns das Schlimmste: das Durchqueren des eigentlichen Brandungsstreifens! – Und doch: Wir müssen die beiden retten!“
Aribu hatte bereits schweigend begonnen, seine Oberkleider abzuwerfen, hieß dann Olaf aus der Kammer im Vorschiff ein paar Leinen herbeibringen.
Der Kapitän wußte sofort, was jener vorhatte.
„Aribu, es ist eine Tollkühnheit!“ sagte er leise. „Du wirst –“
Der erste Offizier des Korsaren fiel seinem Herrn ins Wort:
„Ich bin der beste Schwimmer von uns, bin unverletzt. Es muß gelingen!“
Die Leinen wurden zusammengeknotet. Das eine Ende band Aribu sich unter den Armen um die braune Brust. Dann ließ er sich über Bord gleiten, schwamm davon, erreichte eine schmale Brücke niedriger Korallenbänke, eilte auf dem schlüpfrigen Pfade zu Fuß weiter, verschwand in der Dunkelheit.
Minuten bangster Spannung folgten. Die Leine lief immer weiter ab. Olaf hatte sie in der Hand, meldete nun, daß er drei kräftige Rucke spüre, das vereinbarte Zeichen, daß die Verunglückten gefunden seien.
Nach einer Weile abermals drei Rucke. Aribu kam also mit dem Kinde zurück, das er zuerst hatte in Sicherheit bringen sollen.
Es gelang. Jetzt hob er die leichte Last empor. Mautner nahm ihm das ohnmächtige Mädchen ab, lang auf dem Vorderdeck liegend. Und Aribu trat zum zweiten Male den gefahrvollen Weg an. Er blutete bereits aus mehreren Wunden, die ihm die scharfen Korallenäste gerissen hatten.
Mautner nahm ihm das ohnmächtige Mädchen ab.
Der Korsarenkapitän bemühte sich in der Kajüte um das bewußtlose Dorchen. Sehr bald kam die Kleine zu sich, nachdem sie eine Menge Seewasser erbrochen hatte. Mautner half, ihr etwas verdünnten Wein einflößen.
Aribu rettete auch den Alten. Als er nun auch selbst mit Hilfe Mautners an Deck kletterte, brach er kraftlos zusammen, erholte sich aber schnell.
Der Kutter setzte seine Fahrt fort. Die schwache Ostbrise hatte genügt, die Brandung an der äußersten Riffreihe bis zu wütendstem Toben aufzupeitschen. Es schien minutenlang, als sollte der Kutter hier für alle Zeiten samt seinen Insassen ein gischtumbraustes Grab finden. Sturzseen fluteten über das Boot hin, drückten die Spitze so tief herab, daß die Schraube nur die Luft peitschte. Es waren Augenblicke, wie selbst Mautner als Seemann von Beruf sie noch nicht durchlebt hatte.
Dann ein letztes hartes Schrammen an einer heimtückischen Korallenkante und der Motorkutter schoß in die freie See hinaus.
Olaf brüllte ein befreites Hurra. Der ernste, schweigsame Kapitän lächelte dazu.
Die Gefahr war vorüber. Der Kutter wiegte sich in stetiger Fahrt auf den langen Wogen des Ozeans. Schnell beförderte dann die Pumpe in dickem Strahl das eingedrungene Wasser aus dem Kielraum. Eine Untersuchung der Bordwände zeigte, daß nur eine Naht mittschiffs leck gesprungen war. Geteertes Werg füllte die Spalte sehr bald ganz dicht aus.
Dann wurde auf dem Achterdeck am Steuer Kriegsrat gehalten. Jetzt erfuhren Mautner und Olaf auch, was sich auf der Petersburg und der Nassovia abgespielt hatte, da die russischen Matrosen, besonders ihr Anführer, ein Bootsmannsmaat, sich dem Kapitän der Kavete gegenüber ihres Streiches höhnend gerühmt hatten.
Die Petersburg hatte die Nassovia am letzten Abend eingeholt und mit ihr gemeinsam wie befohlen von Westen her die Inselgruppe angesteuert. Inzwischen war jedoch der Bootsmannsmaat des gesunkenen Zerstörers eifrig an der Arbeit gewesen, unter den russischen Matrosen, die sich ja sämtlich ebenso wie die Chinesen auf der Petersburg befanden, Stimmung für eine Meuterei zu machen, indem er den Leuten erklärt hatte, wie leicht es sei, die Offiziere der Newa und die Besatzung des Dampfers zu überwältigen, die gewillt waren, das dem Korsaren gegebene Versprechen einzuhalten und sich auf den Inseln für volle drei Monate internieren zu lassen. Weiter hatte er ihnen auch verlockend geschildert, daß ihnen die wertvolle Ladung der beiden Dampfer und auch des Piratenschiffes zufallen würde und daß man mit der Petersburg dann irgend einen kleinen Hafen aufsuchen sollte, wo sich die Ladungen der Schiffe zu Geld machen ließen, worauf man sich in alle Winde zerstreuen und nach Belieben monatelang die goldene Freiheit mit gefüllten Taschen genießen könnte. – So kam es, daß, bevor die Dampfer noch die vereinbarten Lichtsignale geben konnten, erst die Petersburg und dann auch die Nassovia in die Gewalt der Matrosen geriet, die sofort auch die Chinesen freiließen und sie sich als Verbündete sicherten. Der Maat, die Seele der ganzen Meuterei, führte beide Dampfer nach der Ostseite der Gruppe, ließ hier fünf Boote bemannen und auch einen der Scheinwerfer sowie die nötigen Akkumulatoren von der Petersburg mitnehmen. Bei der Suche nach einer Durchfahrt durch die Riffe zerschellten zwei Boote. Den übrigen drei gelang es mehr durch einen Zufall, das östlichste der Eilande zu erreichen. Ein paar als Kundschafter ausgeschickte Leute beobachteten dann das Lager der Piraten, warteten, bis nur noch die beiden Wachen munter waren, und brachten ihre Meldungen dem Haupttrupp zurück, auf die hin der Maat seine weiteren Anordnungen traf. Der Überfall gelang nur zu gut. Die umzingelten, aus den Zelten hervorstürzenden Freibeuter wurden zusammengeschossen. –
Das war’s, was der Anführer der Meuterer triumphierend dem Korsarenkapitän berichtet hatte.
Jetzt konnte auch Mautner seinerseits dem Kapitän mitteilen, was er von Brümmels und der Kleinen Flucht mitbeobachtet hatte, denn der Alte war bisher infolge gänzlicher Erschöpfung nach dem stundenlangen Aufenthalt auf einer winzigen Klippe, an der er sich nach der Zertrümmerung der Jolle, das Kind im Arm, festgeklammert hatte, noch nicht fähig gewesen, irgend etwas über sein Entweichen zu äußern. Genau so stand es mit Dorchen.
Mautners Zelt hatte sich an der Südseite derselben Insel befunden, auf der die Meuterer landeten. Er war noch ein wenig am Strande auf und ab gegangen, als er Stimmen vernahm, näher schlich und die drei Boote gewahrte. Zunächst wußte er nicht, was hier vorging. Nachher folgte er den ausgesandten Spähern, konnte sich aber noch immer nicht das Richtige zusammenreimen, da er in der Dunkelheit die Leute nicht als Russen erkannt hatte, sich auch nicht nahe genug heranwagte, um verstehen zu können, welcher Sprache sie sich bedienten. Die Kundschafter zogen sich wieder zurück. Mautner aber war sich noch immer nicht klar darüber, was er tun sollte. Er vermutete, ein fremdes, vielleicht englisches Kriegsschiff könnte den Schlupfwinkel der Freibeuter ausheben wollen. Dann durfte er es nicht wagen, sich zu Gunsten der Piraten einzumischen. So lag er denn abwartend in fünfzig Meter Entfernung nordwärts des Lagers am Strande in einem Gebüsch, gerade dort, wo auch die schmale Landzunge sich in das Wasserbecken hineinerstreckte, an deren Spitze der Kutter und die Jolle festgemacht waren. Sehr bald bemerkte er Brümmel und Dorchen, die wahrscheinlich die Rückseite ihres Zeltes aufgeschnitten hatten, in den Wald geschlüpft und in weitem Bogen bis hierher gelangt waren. Brümmel bestieg dann mit dem Kinde die Jolle und entfernte sich ungesehen mit vorsichtigen Ruderschlägen. Mautner hielt diese Flucht für die beste Abwendung der Gefahr, die den beiden bei einem Angriff auf das Lager der Piraten durch abirrende Kugeln gedroht hätte. In kurzem erfolgte dieser Angriff dann auch wirklich. Der Steuermann wurde Zeuge der bestialischen Roheit, mit der besonders die Chinesen die meisten der verwundeten Piraten vollends abtaten. Da beschloß er, nachdem er jetzt die Angreifer im Lichte des Scheinwerfers erkannt und sich ungefähr die diesem Überfall vorausgegangenen Vorgänge auf der Petersburg zusammengereimt hatte, die Überlebenden der Kavete zu retten. –
Der Korsarenkapitän hatte bis jetzt keine Zeit gefunden, sich bei Mautner und Olaf für deren tatkräftige Hilfe zu bedanken. Er holte dies jetzt mit warmen Worten nach, wobei er hervorhob, daß die beiden Deutschen keinem ganz Unwürdigen ihre aufopfernde Unterstützung geschenkt hätten und daß auch der Tag kommen würde, wo Mautner und Olaf seine traurige und ungewöhnliche Lebensgeschichte hören sollten.
Die nunmehr folgende Beratung nahm nicht viel Zeit in Anspruch. Der Korsarenkapitän bewies von neuem jene klare, schnelle Entschlußfähigkeit, die er schon so oft an den Tag gelegt hatte.
Er beabsichtigte, zunächst die Nassovia, auf der die Meuterer doch fraglos eine geringere Anzahl ihrer Leute als auf der Petersburg zurückgelassen hatten, in seinen Besitz zu bringen, was völlig lautlos geschehen mußte. An Schußwaffen verfügte man ja auch nur über Olafs Revolver. Nur Hieb- und Stichwaffen sollten verwendet werden.
In aller Eile fertigte man nun aus geeigneten Holzstücken und den Rudern kurze Keulen an. Inzwischen hatte sich der Kutter nach Osten gewandt. Sehr bald wurden die beiden völlig abgeblendeten Dampfer in der Ferne durch das Glas sichtbar. Sie lagen etwa dreihundert Meter voneinander entfernt mit abgestoppten Maschinen da und trieben mit einer schwachen Strömung nach Norden. Zum Ankern war die Meerestiefe hier zu groß.
Die Nassovia wurde dann als das südlichere Schiff mit dem Fernrohr ausgemacht. Der Kutter näherte sich ihr von rückwärts. Der Motor war abgestellt worden, und lediglich ein kleines Notsegel drückte ihn lautlos dem Dampfer näher und näher.
Unbemerkt kam der Kutter längsseits, fand das Fallreep niedergelassen und legte sich daran fest. Sofort erklommen der Kapitän, Mautner, Olaf und drei der braunen Matrosen das dunkle Deck, auf dem nur eine Wache an der Reling des Vorschiffes lehnte. Es war einer der Kulis. Er wurde ohne Lärm überwältigt, gebunden und auch geknebelt, nachdem er in seiner Angst verraten hatte, daß sich auf der Nassovia im ganzen nur acht Meuterer befanden, die in der Kajüte des Kapitäns jetzt ihren Rausch nach dem auch hier gefeierten Siegesgelage ausschliefen.
Zunächst befreite man nun die eingesperrte Besatzung der Nassovia, die von den Meuterern, sogar die Kranken, in brutalster Weise behandelt und mit Stricken gebunden worden war. Verstärkt durch sieben Leute, deren Wut gegen die Meuterer keine Grenzen kannte, ging man den in der Kajüte des Kapitäns Schlafenden zu Leibe. Sie wurden ebenfalls gefesselt und geknebelt, ehe sie recht zur Besinnung kamen.
Der weitere Angriff auf die Petersburg verlief genau so lautlos und günstig. Auch hier waren die Meuterer noch halb trunken, wurden gleichfalls bis auf die Wache, die der Korsarenkapitän hatte niederschlagen müssen, im Schlaf überwältigt.
Als der alte Kapitän Scherbaum, der zusammen mit den anderen Leuten der Petersburg im Kielraum, Hände und Füße mit Eisendraht gefesselt, gelegen hatte, als freier Mann das Deck seines Schiffes wieder betrat, schwor er unter einer wahren Flut halb komischer Verwünschungen einen furchtbaren Eid, seine zerschundenen Handgelenke, deren Haut der Eisendraht stellenweise durchschnitten hatte, an den Meuterern blutig zu rächen. Auch die Offiziere der Newa taten so, als ob sie mit einem recht strengen Vorgehen gegen ihre Matrosen ganz einverstanden wären. Da man sie aber ungefesselt in Scherbaums Kajüte bei lediglich verschlossener Tür vorgefunden hatte, lag der Verdacht nur zu nahe, daß sie in Wahrheit ihren Leuten es durchaus nicht so sehr nachtrügen, die beiden Dampfer in ihre Gewalt gebracht und den Überfall auf das Piratenlager unternommen zu haben.
Der Korsarenkapitän machte ihnen gegenüber auch kein Hehl daraus, in ihnen halb und halb Wortbrüchige zu sehen, ließ sie dann weiter in der Kajüte vorläufig streng bewachen.
Dann nahm er Mautner, Olaf und seinen alten Vertrauten Aribu beiseite und entwickelte ihnen seine weiteren Absichten.
„Besondere Gründe zwingen mich, die Petersburg als den schnelleren der beiden Dampfer für meine Zwecke zu gebrauchen, während die Nassovia nunmehr unbehindert ihre Fahrt fortsetzen kann. Der Verlust des größten Teils meiner Leute macht es mir vorläufig unmöglich, mein bisheriges Handwerk in demselben Maßstabe fortzusetzen, zumal ja auch mein schönes Schiff, meine Kavete, eigenhändig von mir in Brand gesteckt worden ist.“ Er schwieg und deutete dorthin, wo die kleinen Inseln lagen.
Mautner, Aribu und Olaf waren bei dieser Mitteilung unwillkürlich ungläubige, bedauernde Ausrufe über die Lippen geschlüpft. Jetzt fuhren ihre Köpfe herum. Und wirklich: dort im Osten färbte den Himmel rote Glut; und aus diesem breiten Feuerschein wieder leckten zwei besonders hohe Flammenzungen zum nächtlichen Firmament empor: die beiden brennenden Masten des gelben Freibeuters.
Aribu war’s, der jetzt im Tone halber Mißbilligung die Frage ausstieß: „Herr – ich begreife nicht – weshalb diese Vernichtung unseres schönen, schnellen Fahrzeugs?!“
„Weil es für uns ja doch verloren war – für immer!“ erwiderte der Korsar mit einer gewissen Wehmut. „Selbst wenn es uns unter großen Blutopfern vielleicht gelungen wäre, unseren Schlupfwinkel wieder in unsere Hand zu bringen, – wie hätten wir mit den wenigen Leuten die Kavete wohl wieder schnell genug seefertig machen können, um gegen all die Zufälligkeiten, die sich aus unserer jetzigen Lage ergeben können, rechtzeitig geschützt zu sein, das heißt bereit zu sein, jeden Augenblick das offene Meer zu gewinnen?! – Nein, Aribu, – glaube mir: ich sehe weiter wie Du! Die Kavete war für uns kaum noch zu retten! Deshalb ließ ich sie in Flammen aufgehen! Das Schiff, das ich mir unter Gefahren erobert, das einst einem der ärgsten Bedrücker eines ganzen Reiches gehörte und das ich dann, meine eigenen Gesetze über Mein und Dein mir machend, über die Meere führte, das mir jetzt ans Herz gewachsen war wie ein treues, lebendes Wesen, – dieses Schiff sollte nicht wieder herabsinken zur Lustjacht eines Großfürsten, sollte nie mehr den früheren Namen Tatjana tragen! – Dort brennt es nieder bis zum Wasserspiegel; dort in der kleinen Bucht, wo wir es damals für unsere Zwecke umbauten, wo wir es Kavete – Hütet euch! – tauften, soll es auch sein nasses Grab finden. Wir aber werden mit der Petersburg dorthin dampfen, Aribu, wo unser Feind in banger Sorge um den Verbleib dessen trauert, das selbst seinem harten Herzen noch über Gold und Reichtümern steht! – Wir haben keine Zeit zu verlieren. Kapitän Scherbaum wird kaum Schwierigkeiten machen, sich uns gegen das Versprechen, nachher unbeschadet mit der Petersburg die Heimreise nach Odessa fortsetzen zu dürfen, samt seiner Besatzung zur Verfügung zu stellen. – Auch für uns schlägt jetzt die Scheidestunde, lieber Mautner. Sie können an Bord der Nassovia zurückkehren. – Ich liebe die Deutschen, denn Deutschland ist auch zur Hälfte mein Vaterland. Ich habe mich gefreut, in Ihnen einen Mann kennen gelernt zu haben, auf dessen Wort genau so sicher Verlaß war wie auf das des alten Scherbaums. Leben Sie wohl, Mautner!“ Er streckte ihm die Hand hin.
Doch der Steuermann schüttelte den Kopf.
„Nein, Kapitän, – ich bleibe bei Ihnen, denn ich vermute, daß Sie Olaf Kersten, meinen kleinen Freund, über dessen Wohl und Wehe ich zu wachen habe, mit auf der Petersburg behalten wollen. Weshalb weiß ich nicht. Er könnte doch –“
Der Freibeuter unterbrach ihn.
„Gut – bleiben Sie! Vielleicht ist es besser so. Ich sagte schon vorhin, daß auch die Zeit kommen wird, wo ich es für angebracht halte –“
Einer der braunen Matrosen erschien in höchster Eile neben dem Kapitän, rief, indem er nach Süden deutete: „Ein Dampfer mit drei Schornsteinen – ein sehr schnelles Schiff – es kann nur ein Kreuzer sein!“ –
Es war ein Kreuzer. Gleich darauf ließ er seine Scheinwerfer spielen. Die weißen Strahlenkegel krochen über das Meer hin, tasteten wie die Finger einer Riesenhand in die Dunkelheit hinein. Signalraketen stiegen von seinem Deck auf, und mit unheimlicher Geschwindigkeit näherte er sich der etwa dreihundert Meter entfernten, ihm am nächsten liegenden Nassovia.
Der Kapitän des gelben Korsaren hatte das Kriegsschiff eine Weile durch das Glas beobachtet. Jetzt gab er den Seinen ein paar kurze Befehle, wandte sich dann an Mautner und Olaf:
„Die Sachlage ist anders geworden. Ich muß Ihnen beiden nunmehr freistellen, ob Sie es wagen wollen, selbst jetzt noch bei mir auszuharren. Der Kutter wird mich und die Meinen in das Versteck bringen, das ich für Fälle der Not bereit habe. Alles Weitere findet sich später. – Entscheiden Sie sich.“
Da war’s Olaf, der ganz begeistert erklärte, er bleibe auf dem Kutter, – er sei Schiffsjunge der Kavete nach wie vor!
Auch Mautner reichte dem Korsaren nur stumm die Hand. Gleich darauf schoß das Motorboot nach Nordost davon, in einer Richtung, in der es durch die dazwischenliegende hochbordige Petersburg gegen die Scheinwerfer zunächst geschützt war. Dann steuerte der Pirat den Kutter in weitem Bogen den Inseln zu, wo der Feuerschein der Kavete jetzt noch heller den Nachthimmel färbte und sogar die Ostseite des Bergkegels so stark beleuchtete, daß sie wie eine riesige, rötliche Mauer aus der Dunkelheit emporzuragen schien.
Und wieder eine halbe Stunde später hatte das Boot die gefährliche Passage durch die Riffbarrieren hinter sich und den stillen Wassergürtel erreicht, der sich zwischen den Gestaden der Inseln und der letzten Riffreihe hinzog. Jetzt aber schlug der Kutter nicht den früheren Weg nach dem Wasserbecken ein, wandte sich vielmehr nach Westen, umrundete zwei der Eilande und lief dann in eine enge Bucht ein. Hier verließen ihn seine sämtlichen Insassen. Dann wurden seine beiden Bodenventile geöffnet, er lief voll und sank an einer etwa sechs Meter tiefen Stelle.
Der Kapitän hatte all dies ohne nähere Erklärung angeordnet, hatte nur zu Mautner kurz geäußert: „Nachher werden Sie einsehen, weshalb und wie richtig ich handele.“
Dann setzte Aribu sich an die Spitze des kleinen Zuges. Der Korsar selbst mußte von zweien seiner Leute ebenso wie die beiden Verwundeten auf schnell hergestellten Bahren getragen werden. Seine Beinwunde machte es ihm unmöglich, größere Strecken zu gehen, besonders da er sie sich bisher nur oberflächlich hatte verbinden können.
Dorchen schritt neben Olaf dahin. Hinter ihnen gingen Mautner und der alte Brümmel. Dieser schimpfte in einem fort halblaut vor sich hin, bis Mautner ihn streng anfuhr: „Vergessen Sie nicht, daß es einer der von Ihnen jetzt mit so viel Schmähworten belegten Piraten war, der Sie und die Kleine nach Ihrem unverantwortlich leichtsinnigen Fluchtversuch mit eigener Lebensgefahr rettete.“
Das half. Brümmel schwieg, meinte dann nach einigen Minuten entschuldigend: „Sie haben ganz recht! Aber – versetzen Sie sich mal in meine Lage! Mir wurde Feodora anvertraut. Und – was müssen wir jetzt alles durchmachen. Von einem unglaublichen Abenteuer geht’s zum anderen! Und immer wird die Kleine mitgeschleppt.“
„Oh – sehen Sie nur. Sie geht ja ganz vergnügt neben Olaf her!“ lächelte Mautner.
Da hatte der stille Zug auch schon den Wald verlassen und betrat das Ufer der Insel gerade dort, wo sich der erloschene Vulkan zwischen diesen Platz und das jetzt von den Meuterern besetzte Lager der Freibeuter schob und wo derselbe Bergkegel, vor dem auf der anderen Seite die Kavete knisternd und knallend in Flammen aufging, einen riesigen Schatten warf, während zu beiden Seiten die Ufer der das Becken einschließenden Inseln in rötliche Glut getaucht waren.
Hier wurden nun die Tragbahren in einem Gebüsch abgesetzt. Dann verschwanden Aribu und zwei der braunen Matronen, holten aus einem durch den Sturz mehrerer Bäume entstandenen Dickicht ein winziges, nur für zwei Mann berechnetes Boot aus Aluminiumblech heraus und schafften es ans Ufer. In diesem Miniaturboot, das einst ebenfalls zu der eleganten großfürstlichen Jacht gehört hatte, lagen zwei ebenso winzige Ruder.
Der Kapitän und die Kleine stiegen als die ersten, die nach dem Bergkegel übergesetzt werden sollten, hinein. Der Korsar trieb das Boot mit langen, kraftvollen Ruderschlägen dorthin, wo zwischen den Lavamauern der enge Kanal in die Grotte führte. Hier half er Dorchen heraus, zündete eine Laterne an, stellte sie auf einen Felsblock, bat das Kind, ohne Furcht auf seine Rückkehr zu warten, und landete gleich darauf wieder am Ufer bei den harrenden Gefährten. Nun mußte Olaf als nächster in das Boot, wurde in der Grotte abgesetzt und konnte der Kleinen Gesellschaft leisten.
In knapp zehn Minuten befand sich der ganze Trupp in der tiefen Ausbuchtung des erloschenen Vulkanes.
Aribu war’s, der nun allein in der Felsspalte aufwärtsklomm, nachdem er eine Weile mit dem Korsarenkapitän abseits gestanden und beraten hatte.
Mautner machte große Augen, als er Aribu durch den Kamin nach oben verschwinden sah. Der alte Brümmel murmelte schon wieder etwas wie „die richtige Räuberhöhle!“ vor sich hin, und Dorchen bestürmte Olaf mit Fragen, ob sie nicht auch dort hinaufklettern dürfe.
„Später,“ meinte der um eine Antwort ein wenig verlegene Junge. Und der Kapitän nickte ihm zu und meinte:
„Ganz recht – später! – Olaf, Du könntest mit Herrn Mautner eigentlich so etwas Ausschau halten, was die Meuterer treiben. Ich fand, es war jetzt auffallend still auf dem Lagerplatz. Wir hätten es ja bei der Überfahrt hierher unbedingt hören müssen, wenn’s dort lebhafter zugegangen wäre.“
Mautner war sofort bereit zu diesem kurzen Ausflug in dem Aluminiumfahrzeug. Bot dieser doch eine Abwechslung, die durchaus des Steuermanns einem Abenteuer nie abgeneigtem Sinn entsprach. – Sehr bald hatten sie den engen Kanal hinter sich und fuhren nun dicht am Fuße des Bergkegels entlang bis dorthin, wo der Feuerschein in der brennenden Kavete das Becken noch immer taghell erleuchtete. Hier legten sie im Schutz einer Lavaaufhäufung an und konnten nun auch das kaum hundert Meter entfernte Lager bequem überblicken. Zu ihrer großen Überraschung entdeckten sie jedoch weit und breit keine lebende Seele.
Hier konnten sie nun auch das kaum hundert Meter entfernte
Lager bequem überblicken.
Mautner erklärte, hierfür gebe es nur eine Erklärung: Die Meuterer mußten die Anwesenheit des Kreuzers an der Ostseite der Gruppe irgendwie erfahren haben und hatten sich anderswohin zurückgezogen, da sie annehmen mußten, das Kriegsschiff würde gerade an diese durch den Feuerschein kenntlich gemachte Stelle zuerst einen Landungstrupp senden.
Olaf hatte für das brennende Schiff weit mehr Interesse als für das verödete Lager mit den leeren Zelten, den beiden Stapeln von Fässern, Ballen und Kisten und dem ebenso deutlich wahrnehmbaren Haufen der gefallenen Piraten. Wehmütig sah er die gierigen Flammen bereits bis fast zum Wasserspiegel hinablecken. Von den Masten und den Aufbauten war nichts mehr übrig. Hin und wieder barst unter der Hitze im Innern des Schiffes die Verbindung der Spanten. Und diese vom Prasseln des Feuers halb erstickten Töne des auseinanderreißenden Holzes klangen fast wie ein klagendes Stöhnen, waren wie die Sterbeseufzer des dem Untergang geweihten Korsarenfahrzeugs.
Mautner mahnte jetzt an die Rückkehr nach der Grotte, da hier ja doch nichts zu beobachten sei.
Als sie bei den Gefährten anlangten, war inzwischen auch Aribu wieder erschienen. Der Kapitän gab nun das Zeichen zum Aufstieg nach der Kraterhöhle. Aribu nahm die Kleine hierbei unter seine besondere Obhut. Die Verwundeten, auch der Kapitän wurden angeseilt und emporgezogen.
Olaf, der diesen so gut verborgenen Ort bereits kannte, war sehr gespannt darauf, was Aribu wohl allein dort oben im Auftrage seines Herrn getan haben möge. Als nun auch er den runden, überwölbten Raum betrat, bemerkte er zunächst drei große, brennende Schiffslaternen, die an den Wänden hingen und genügend Licht spendeten, um all das erkennen zu lassen, was hier wie durch Zauberhand plötzlich aufgetaucht und was noch wenige Stunden vorher, wie der Knabe am besten wußte, nicht dagewesen war: mehrere Kisten, Fässer und Blechkannen, eine Anzahl wollene Decken, ein Dutzend moderne Gewehre, Revolver und mancherlei anderes. – Olaf betrachtete alle Dinge mit ungläubigem Staunen, fragte sich mit Recht, wo sie nur so schnell hergekommen sein könnten. Die Antwort war einfach genug: Aribu mußte sie vorhin aus einem Olaf noch unbekannten Versteck hier in diese Höhle geschafft haben! – Es gab also in dem Bergkegel noch weitere Räume, die sich jedoch nur dem Eingeweihten öffneten. –
Während nun die Verwundeten zuerst versorgt wurden und Aribu auch den Kapitän verband, dessen Oberschenkelschuß ein recht bösartiges Aussehen angenommen hatte, mußten Mautner und Olaf die Spitze des Bergkegels erklimmen, um von dort abermals Ausschau nach den Vorgängen auf den Inseln zu halten. Mautner kletterte hinter dem Jungen an der Lavazacke mit ihren Steigeisen hoch, sagte dann, als sie droben angelangt waren:
„Nie hätte ich vermutet, daß dieser Berg derartige Geheimnisse in sich birgt. In der Tat: dies hier ist der richtige Piratenschlupfwinkel! Selbst die Phantasie des vielseitigsten Erfinders spannender Seeromane könnte hier kaum noch etwas hinzudichten.“ Olaf ließ ein zweifelndes Hm hm hören, meinte dann:
„Und doch bin ich überzeugt: Es gibt in diesem erloschenen Vulkan noch andere Geheimnisse!“ Dann teilte er seinem Freunde und Beschützer das mit, was er soeben unten in der runden Höhle sich überlegt hatte.
Mautner schüttelte den Kopf. „Unglaublich! Also wirklich noch ein verborgener Raum!“ Dann wurde seine Aufmerksamkeit jedoch durch Ereignisse abgelenkt, die sich durch plötzlich einsetzendes, sehr lebhaftes Gewehrfeuer unten auf den Inseln bemerkbar machten.
Inzwischen war die Färbung des Horizontes im Osten in ein fahles Blaugrau übergegangen. Der neue Tag zog herauf. Und die schnell zunehmende Helle ließ das, was auf den Inseln sich abspielte, immer deutlicher erkennen.
Der Kreuzer hatte es fertiggebracht, in mehreren Booten gegen hundert Mann zu landen, die sehr bald mit den Meuterern in ein Feuergefecht gerieten, dessen Ausgang vielleicht für letztere günstig gewesen wäre, wenn das Kriegsschiff nicht plötzlich auch mit seiner Artillerie in den Kampf eingegriffen hätte. Die schweren Schiffsgranaten säuberten sehr schnell die von den Meuterern besetzt gehaltene Waldlinie und scheuchten sie auf die Insel zurück, auf der sie in der verflossenen Nacht mit mehr Glück und ohne Verluste die Piraten fast ganz aufgerieben hatten.
Doch auch hier verfolgten die heulenden Geschosse sie, tasteten mit ihren weitstreuenden Sprengstücken die Insel ab und machten es dem Landungskorps leicht, den Gegner so in die Enge zu treiben, daß er sich bald auf Unterhandlungen einließ.
Die immer höher steigende Sonne beleuchtete die bedingungslose Unterwerfung der Meuterer, ihre Abführung nach den Booten des Kreuzers, den Mautner jetzt als einen englischen erkannt hatte, und das Sammeln der Toten und Verwundeten.
Jetzt war der Lagerplatz dort unten wieder voller Leben und Bewegung. Offiziere des Kreuzers nahmen nun auch die gefallenen Piraten in Augenschein.
Da packte Olaf plötzlich Mautners Arm mit hartem Griff.
„Ah – sie haben soeben unter den Toten einen hervorgezogen, der sich noch aufzurichten vermag. Schauen Sie nur genau hin, Herr Mautner!“
Gerade in diesem Augenblick schob sich Aribu zwischen die beiden Deutschen, fragte flüsternd: „Nun, wie steht’s auf den Inseln?“ – Als Mautner ihm berichtete, daß einer der Leute des Korsaren offenbar noch am Leben und von den Engländern soeben in den Schatten der Bäume getragen sei, nahm Aribu Olafs Fernglas und spähte lange hinunter. Dann erklärte er: „Es ist so. Nicht alle waren tot, die die Chinesen dort zusammengetragen hatten. Und – leider lebt gerade der von uns, den der Kapitän schon wiederholt wegen grober Verstöße gegen die Schiffsdisziplin als einzigen hatte verwarnen müssen, – der einzige Unzuverlässige von uns.“
Welche Folgen die Auffindung dieses Mannes haben sollte, zeigte sich bereits eine Stunde später.
Der Kapitän der nunmehr in den Wassern des stillen Beckens verschwundenen Kavete hatte ja von vornherein mit einer sehr energischen Verfolgung des Kutters durch den Kreuzer gerechnet, hatte deshalb auch von einer Flucht ins offene Meer hinaus abgesehen, da das Kriegsschiff ihn dort entweder bald eingeholt oder doch durch Funksprüche dafür gesorgt hätte, daß auf das Motorboot überall gefahndet würde. Die geheimen Räume des erloschenen Vulkanes waren somit für die Insassen des Kutters vorläufig der einzige Ort, an dem sie geduldig abwarten konnten, bis der Kreuzer wieder davonfuhr. – In dieser selben Weise hatte auch der Kapitän sich jetzt soeben zu Mautner geäußert, den Aribu in die runde Höhle hinabgeschickt hatte, damit jener über die Bergung des einen noch Lebenden aus dem Leichenhaufen sofort Bericht erstatte.
Der Korsarenkapitän verschwieg Mautner seine Besorgnisse nicht, die auch in ihm nunmehr aufgestiegen waren und die darauf hinausliefen, daß er eine Verräterei von Seiten dieses Mannes fürchte, der vielleicht, um straflos auszugehen, den Engländern das Geheimnis des scheinbar unersteigbaren Vulkankegels mitteilen könnte, wodurch diese dann nur zu leicht auf die Vermutung kommen würden, die Insassen des entflohenen Kutters hätten hier einen Unterschlupf gesucht.
Der Kapitän hatte leider mit diesem Verdacht eines drohenden Verrats wieder einmal das rechte getroffen. Olaf und Aribu, zu denen sich auch sehr bald wieder Mautner gesellte, bemerkten, wie die Landungstruppen des Kreuzers die Ufer des Beckens mit weiten Zwischenräumen besetzten, sahen dann auch, daß der gefangene Pirat in ein inzwischen in dem Becken erschienenes Boot gehoben wurde, das sofort, gefüllt mit bewaffneten Matrosen auf jene Stelle des Berges zu hielt, wo die Einfahrt zwischen den Lavawänden nach der Grotte führte.
Olaf als der gewandteste wurde sofort von Aribu in die Höhle hinabgeschickt. Kaum hatte der jetzt in leichtem Wundfieber daliegende Kapitän die verhängnisvolle Botschaft vernommen, als er auch schon aufsprang und seinen Leuten Befehl erteilte, sich zu schleunigstem Verlassen dieses Schlupfwinkels bereit zu halten.
Auch Mautner und Aribu stiegen jetzt hastig an der Lavazacke abwärts, hörten noch, wie der Kapitän den Seinen zurief:
„Noch ist nicht alles verloren! Vernehmt denn, was bisher nur Aribu und mir bekannt war: Dort in jener Ecke, wo der scheinbar mit dem Boden in eins verschmolzene, flache Lavablock lagert, gibt es eine Öffnung in den Felsmassen dieses Vulkanes, die in eine zweite, weit umfangreichere Höhle als diese hier hinabgeht. – Vorwärts, beseitigt schnellstens alle Spuren unseres Aufenthaltes hier, hinab mit den Kisten und Fässern! Nichts darf in diesem Raum zurückbleiben, das unsere Anwesenheit verraten könnte.“
Aribu hatte schon Mautner zugewinkt, zeigte ihm, wie der Lavablock zur Seite gedrückt werden mußte, um das zackige, runde Loch im Steinboden der Höhle freizugeben.
Alle Hände regten sich. Im Umsehen waren die Kisten verschwunden, die Fässer, die Decken.
Alle Hände regten sich. Im Umsehen waren die Kisten verschwunden,
die Fässer, die Decken.
Als letzte blieben Aribu und Mautner hier oben, leuchteten nochmals jeden Winkel ab, stiegen dann erst den anderen auf einer Holzleiter in die untere Höhle nach, indem sie den Lavablock gemeinsam[19] von unten über die Öffnung schoben. In diesen war ein starker, eiserner Haken in einer Vertiefung der Unterseite mit Blei eingegossen. Eine Kette, die bis in die zweite Höhle hinabreichte, konnte hier durch Felsstücke so schwer belastet werden, daß es für Menschenkräfte dann unmöglich war, den Block auch nur um Millimeter zu verschieben. Jedenfalls bildete dieser einen Verschluß des Zugangs in die untere Höhle, wie er kaum besser und sicherer hätte angelegt werden können.
Mautner blickte sich jetzt in dem neuen Versteck genau so neugierig und erstaunt um, wie alle anderen mit Ausnahme des Kapitäns und Aribus es getan hatten.
Dieser Hohlraum des erloschenen Vulkanes unterschied sich ganz wesentlich von dem darüber befindlichen, war weit niedriger, dafür aber bedeutend ausgedehntere senkte sich nach Osten zu, gleichzeitig sich verengernd, allmählich abwärts und ging dann in einen etwa drei Meter breiten Tunnel über.
Kaum waren die Insassen des Kutters hier sämtlich vereinigt, als der Kapitän mit lauter Stimme erklärte, er verbiete jedem, in den Felsengang dort einzudringen. „Sehr schwerwiegende Gründe machen mir dieses Verbot zur Pflicht,“ fügte er hinzu. „Ich will verhüten, daß in den Herzen derer, die ich mit in dieses Versteck nahm, Gefühle wach werden, die nur zu leicht auch gefestigte Charaktere zu unsinnigem Tun verleiten könnten.“
So sprach der Kapitän. Nachher, als man sich einigermaßen häuslich hier eingerichtet, wo in zahlreichen Kisten, Fässern und Ballen nicht nur Lebensmittel, sondern auch eine Unmenge der verschiedenartigsten Dinge aufgestapelt waren, trat dann Aribu zu Mautner und Olaf heran und forderte sie auf, ihn zu begleiten. Sie nahmen leere Wasserkannen und zwei der Laternen mit, betraten nun, doch offenbar mit Zustimmung des Kapitäns, den verbotenen, schräg in die Tiefe hinabführenden Tunnel, der sehr bald eine kurze Biegung nach Süden machte und an dieser Stelle horizontal verlief.
Hier blieb Aribu stehen, sagte mit einer gewissen Feierlichkeit: „Es ist der Wille meines Herrn, daß nur Ihr beide schauen sollt, was in den Seelen schwacher Menschen eine bis zum Wahnsinn gesteigerte Habgier hervorruft. Euch vertraut mein Herr! Nur Euch! – Hört Ihr das feine Rauschen dort vor uns? Es ist ein unterirdischer Wasserlauf, der mit geringem Gefälle eine kleine Höhle durcheilt und in einem Felsloche wieder verschwindet. – Kommt, seht selbst!“
Und Mautner und Olaf sahen – schlossen die Augen, rissen sie wieder auf, glaubten zu träumen.
Der Gang erweiterte sich hier zu einer viereckigen Höhle von etwa zehn Meter Seitenlänge. Von rechts herkommend, durchströmte ein gurgelndes, dunkles Gewässer in der Mitte diesen unterirdischen Raum, dessen Wände, dessen Boden überall von glänzenden Streifen durchzogen wurden, die das Licht der Laternen goldgelb widerspiegelten[20], verstärkten und so eine Lichtflut schufen, die geradezu die Augen blendete.
Mautner war’s, der jetzt leise ausrief:
„Gold ist’s – Goldadern sind’s, die das Gestein durchziehen!“
„Gold ist’s – Goldadern sind’s, die das Gestein durchziehen!“
„Ja, Gold, reines Gold!“ erwiderte Aribu ernst. „Nicht Millionen-, Milliardenwerte dieses edlen, sündigen Metalls lagern hier, das Menschen beglückt, Menschenherzen vergiftet. – Laßt uns die Wasserkannen füllen. Das Gold wird gegen unseren Durst nichts helfen!“
Mautner und Olaf schauten dann noch einmal über diese gleißenden, dick in den Fels eingesprengten flimmernden Bänder hin. Und der Steuermann fragte Aribu nun: „Der Gang geht scheinbar noch weiter in die Tiefe, nicht wahr?“
„Ja. Er ist einmal die Ausflußöffnung der feuerflüssigen Massen im Erdinnern gewesen. Man spürt es noch jetzt, wenn man ihn tiefer abwärts verfolgt. Die Hitze in ihm steigert sich sehr bald derart, daß man zur Umkehr gezwungen wird. Mein Herr meint, er geht hinab bis zu einer Ansammlung glühender, brennender Hohlräume.“
Dann kehrten die drei wieder nach dem neuen Versteck zu den übrigen zurück.
Volle acht Tage brachte man in dieser unterirdischen Welt zu, ohne jede Verbindung nach außen, ohne zu wissen, was droben auf den Inseln inzwischen vorgegangen war.
Ob die Engländer tatsächlich die obere Höhle betreten hatten, erschien ungewiß. Freilich – selbst lautere Geräusche wären in diese Tiefe durch den Lavablock nicht hinabgedrungen.
Am neunten Tage morgens gab der auch jetzt noch ständig von Fieberschauern geplagte Kapitän den Befehl, Aribu und Mautner sollten mit aller Vorsicht den Block lüften und feststellen, ob die Inseln frei vom Feinde seien.
Die obere Höhle war leer. Die beiden erstiegen dann die Bergkuppe, hielten sorgsam Ausschau. Nirgends zeigte sich etwas Verdächtiges. Bis gegen Mittag wurde diese genaue Beobachtung fortgesetzt, um ganz sicher zu gehen, daß nicht etwa von den Engländern Leute zurückgelassen seien, die die Insassen des Kutters abfangen sollten, falls sie sich zeigten.
Dann erst begaben Mautner und Aribu sich durch die Felsspalte nach der Grotte, die mit dem Becken in Verbindung stand. Hier war damals auch das Aluminiumboot versenkt worden. Man brachte es ohne Schwierigkeiten wieder an die Oberfläche, entleerte es, und die beiden Männer wagten sich nun hinaus auf die sonnbeschienene Flut, unter der das Korsarenschiff, halb zerstört durch das Feuer, als trauriges Wrack ruhte, wagten sich hin nach dem einstigen Lagerplatz, fanden dort nichts mehr vor als nur wertlose Dinge und eine lange Reihe von flachen Grabhügeln, vor denen ein Pfahl mit einer Tafel daran in die Erde eingerammt war. Auf die Holztafel aber war mit schwarzer Ölfarbe plump geschrieben:
Hier ruhen vierzehn russische Seeleute, einundzwanzig Piraten, neun Chinesen.
Nachdem Mautner und Aribu dann noch die Bucht besucht hatten, wo der Kutter versenkt war, und diesen in dem klaren Wasser leicht aufgefunden hatten, kehrten sie nach dem Vulkankegel zurück.
Fünf volle Tage nahmen dann die Hebungs- und Instandsetzungsarbeiten des Motorbootes in Anspruch. Während dieser Zeit wurden alle nur erdenklichen Vorsichtsmaßregeln angewendet, um eine Überraschung durch Fremde, seien es Engländer oder sonstige, zu vereiteln. Nachts schlief man nach wie vor in der großen Höhle, während oben auf der Bergkuppe eine Wache die Umgegend beobachtete.
Das Befinden des Kapitäns hatte sich inzwischen eher verschlechtert als gebessert. Der Schußkanal war vereitert, und durch keinerlei Mittel gelang es, die Wunde zum Verheilen zu bringen. Trotz der häufigen Fieberanfälle schonte der Kranke sich nicht, half überall mit, soweit es seine geschwächten Kräfte erlaubten. Mautner warnte ihn wiederholt. Doch der Kapitän wollte nicht darauf hören. Eine stete Unrast quälte ihn. Mautner hatte das Gefühl, als ob jener den baldigen Tod vorausahne und vorher noch Wichtiges erledigen wolle.
Dann war der Kutter seefertig. Er besaß jetzt ein volles Verdeck, eine niedrige Reling aus Eisenblech, führte auch zwei Revolvergeschütze mit sich, die aus den Vorratsräumen des Bergkegels stammten.
Der Kapitän hatte die Abfahrt für elf Uhr vormittags bestimmt. Eine halbe Stunde vorher begaben er und Aribu sich nochmals in die unterirdischen Räume des Berges hinab, betraten die Goldhöhle.
Aribu ahnte nicht, was sein Herr vorhatte.
Dieser befahl seinem treuen Gefährten nun, ihm zu helfen, die Abflußöffnung des Wasserlaufes zu verstopfen. – Schweigend arbeiteten sie, schleppten Felsstücke auf Felsstücke heran, dichteten die Zwischenräume durch Leinwandpfropfen ab.
Der unterirdische Bach nahm einen neuen Weg – den Felsengang abwärts in die heißen Tiefen der Erde. –
Der Kutter verließ die Bucht, steuerte in den Ring ruhigen Wassers vor der letzten Riffreihe hinaus. Hier wurde der Motor abgestellt, hier versammelte der Kapitän seine Leute und die anderen Insassen um sich, deutete auf den erloschenen Vulkan, der durch eine Lücke in den grünen Wäldern in seiner ganzen Größe sichtbar war, begann dann:
„Schaut hin! Weißliche Wölkchen entquellen dem Felsloch, das zur Spitze des Berges führt. Ich habe vorhin mit Aribu das unterirdische Gewässer in den Gang geleitet, der hinabläuft zu feuerflüssigen Massen tief unter den oberen Erdschichten. Ich tat’s in der Absicht, den Berg für alle Zeiten für Menschen unzugänglich zu machen, ihn zu zerstören, zu sprengen durch die Kraft der Wasserdämpfe, in die der unterirdische Bach sich bei der Berührung mit den glühenden Massen schnell verwandeln muß. Jene Wölkchen dort sind die ersten Anzeichen der Katastrophe. Das Ventil für die Wasserdämpfe, eben der Zugang zur Bergspitze, ist zu klein für die ständig sich steigernde Menge des heißen Brodems, den die Erde dort aushaucht. Der Druck der Dämpfe wird sich ins Ungemessene steigern, wird –“
Ein furchtbarer Knall gebot ihm Schweigen.
Die Katastrophe war da.
Eine unsichtbare Riesenfaust schien den Bergkegel zu schütteln. Er schwankte. Dann schoß an der Ostseite eine weiße, ungeheure Wolke hoch, verhüllte alles, breitete sich über die Inseln aus.
Und aus dem Innern der Erde kam’s hervor wie der Donner einer fernen Kanonade. Die Palmen am Ufer erzitterten, das Wasser wallte auf. Wellen brandeten gegen den Strand, schaukelten den Kutter hin und her.
Dann trat wieder Stille ein. Der Wind wehte die Dämpfe hinweg. Immer mehr lichteten sich die weißen Schleier. Nun tauchten die Wipfel der Wälder auf, nun war die Aussicht nach dorthin wieder frei, wo der steile erloschene Vulkan mit seinen Geheimnissen einst trotzig über die kleine Inselwelt hinweggeschaut hatte.
Er war nicht mehr, war verschwunden. Die Wasser des Beckens fluteten nur noch über eine niedrige Anhäufung zerrissener Felsmassen hinweg, über eine flache Gruppe neu erstandener Klippen.
Und abermals begann der Kapitän:
„Lockendes Gold lagerte dort unten nahe unserem Schlupfwinkel! Es hätte nur Eure Habgier geweckt, Ihr meine Getreuen! Deshalb verschwieg ich Euch das größte Geheimnis des Berges. Jetzt wird niemand jene blinkenden Schätze je wieder erblicken, niemanden werden sie verführen zu habgierigen Gedanken!“ –
Der Motor sprang an, der Kutter kam in Fahrt, durchquerte die Riffbarrieren, erreichte die hohe See und fuhr mit östlichem Kurse weiter.
– – – – – – – –
Die Hafenstadt Benkoelen (Benkulen, malaiisch Bangkahulu) im südlicheren Teile der Westküste Sumatras, der nächst Borneo größten der Sunda-Inseln, ist gleichzeitig die Hauptstadt des Verwaltungsbezirkes (Residentschaft, wie die Holländer als Herren der Insel es nennen) gleichen Namens. Sie liegt inmitten eines schmalen, ungesunden, aber äußerst fruchtbaren Küstenstriches am Ufer des Flusses Benkoelen, der jedoch für größere Schiffe nur etwa drei deutsche Meilen aufwärts befahrbar ist.
Der Hafen selbst ist gegen Stürme wenig geschützt. Die meisten Schiffe legen daher an der vorgelagerten, fünf Kilometer entfernten Ratteninsel an. –
Zwölf Tage nach den zuletzt geschilderten Ereignissen näherte sich spät abends von Norden her der Ratteninsel ein niedriger, langgestreckter Motorkutter mit abgeblendeten Lichtern und steuerte eine schmale Bucht an, die auf der Westseite der Insel sich in vielfachen Windungen in das teilweise mit tropischem Urwald bedeckte Land hineinzog.
Am Steuer des Kutters stand ein breitschultriger Farbiger. Neben ihm saßen auf der vertieften Steuerbank drei Europäer, von denen einer noch recht jung war, während wieder der eine der beiden Männer durch Kissen und Decken gestützt wurde und sehr leidend zu sein schien.
Jetzt hob dieser die Hand und deutete auf ein paar Hütten am Nordstrande der Bucht.
„Dort wohnt mein Vertrauter Achmed,“ sagte er. „Ich sehe Licht in seinem Häuschen. – Aribu, lege den Kutter an den kleinen Landungssteg und hole Achmed herbei.“ Der Kranke hatte nur mit sehr schwacher Stimme sprechen können. Es war der Kapitän des gelben Korsaren, dessen Zustand trotz der von Wind und Wetter so sehr begünstigt gewesenen Reise quer über den Indischen Ozean immer schlechter geworden war.
Olaf, der neben ihm saß, fühlte ihm jetzt nach dem Puls, wandte sich dann an Mautner mit den besorgten Worten:
„Das Fieber scheint stärker geworden zu sein. Reichen Sie dem Kapitän doch wieder ein Pulver.“
Doch der Leidende wehrte ab. „Es ist nur die Aufregung, mein Junge. Ich bin begierig auf die Nachrichten, die Achmed mir bringt. Unendlich viel hängt für mich davon ab. Nein – nicht unendlich viel – sogar alles, der ganze Erfolg dieser letzten anderthalb Jahre meines Lebens.“
Der Kutter war jetzt an dem kleinen Landungssteg vertäut. Aribu eilte davon und kehrte schon nach zehn Minuten mit einem zweiten Manne zurück, der dem Äußeren nach ein Stammesgenosse des ersten Offiziers der jetzt zerstörten Kavete sein mußte.
Achmed begrüßte seinen Herrn mit deutlichen Zeichen schmerzlicher Überraschung über dessen Hinfälligkeit. Dann bat der Kapitän den Knaben und Mautner, ihn mit den beiden Farbigen allein zu lassen.
Eine gute halbe Stunde währte die Unterredung. Hierauf eilte Achmed nach seinem kleinen Hause zurück, weckte seinen malaiischen Diener und schickte ihn nach der Ostseite der Insel, wo in einem zierlichen Landhause unweit der bescheidenen Hafenanlagen der holländische Polizeiarzt wohnte.
Der Malaie zahlte gut, und der Arzt ließ sofort seinen leichten, von einem kleinen, ausdauernden Pferde gezogenen zweirädrigen Wagen anspannen, langte in einer Viertelstunde bei Achmeds Pflanzung an und wurde zu dem kranken Kapitän geführt, den man inzwischen in einem Zimmer des Hauses untergebracht hatte. Zwei Petroleumlampen brannten hier und verbreiteten genügend Licht.
„Ich wünsche über meinen Zustand offene Auskunft,“ sagte der Korsarenkapitän zu dem wohlgenährten, in weißes Leinen gekleideten Holländer. „Sie brauchen mich nicht zu schonen. Ich weiß ja selbst bereits mit ziemlicher Bestimmtheit, daß ich nicht mehr zu retten bin.“
Der Arzt sah sich die vereiterte Wunde nur flüchtig an.
„Es tut mir leid,“ erklärte er dann. „Sie haben recht. Es ist eine Blutvergiftung eingetreten, gegen die ärztliche Kunst machtlos ist.“
„Wie lange habe ich noch zu leben?“ fragte der Kapitän kurz.
„Vielleicht drei Tage – vielleicht. Ihr Körper ist durch das ständige Fieber sehr geschwächt.“
„Es ist gut. Ich danke Ihnen.“
Der Holländer kehrte heim. Der dem Tode Verfallene aber beriet sich abermals mit Achmed und Aribu.
Dann holte dieser Mautner und Olaf von dem Kutter ab, ermahnte noch die braunen Matrosen, ja recht gut auf Brümmel achtzugeben, dem man noch immer nicht trauen dürfe, und führte die beiden Deutschen zu dem Kranken.
In dem luftigen Zimmer, an dessen Decke ein großer Fächer beständig hin und her schwang und einige Kühlung verbreitete, saßen dann vier Menschen um das Lager des Korsarenkapitäns herum, seine beiden Vertrauten, der deutsche Steuermann und der Schiffsjunge der Kavete.
Aribu mußte seinem Herrn ein Glas Wein reichen. Die matten Augen des Leidenden belebten sich etwas. Er ließ sich durch Kissen im Rücken stützen, begann nun, indem er das Wort an die beiden Deutschen richtete:
„Die Stunde völliger Offenheit ist da. Ihr habt sie verdient; Ihr wart treu und opfermutig. – Meine Lebensuhr tickt nur noch schwach. Bald wird sie ganz stehen bleiben. Vorher aber ist noch etwas zu vollenden, wobei ich mich selbst nicht mehr beteiligen kann und das doch an die Klugheit, den Mut und die Aufopferungsfähigkeit eines Mannes die höchsten Anforderungen stellt, ebenso sehr an die seiner Gehilfen, denn allein vermag niemand auszuführen, was ich geplant hatte. Ob Ihr beide, Mautner und Olaf, mich unterstützen wollt, – dies sollt Ihr entscheiden, nachdem Ihr meine gewiß nicht alltägliche Geschichte gehört habt. – Meine Familie stammt aus Riga. Wir sind Deutschbalten, aber russische Untertanen, gehörten zu dem Riesenreiche des Zaren, wo Willkür, Bestechlichkeit, Mißachtung der Gesetze zu Hause sind. Die Barone v. Schratthus, seit langem schon verarmt, waren gezwungen, sich recht kümmerlich durchzuschlagen. Mein Vater nannte sich einfach Karl Schratthus, wurde schließlich Aufseher in einer Fabrik des Großkaufmanns Boris Assumoff in Odessa. Hier an den Gestaden des Schwarzen Meeres wurde ich als einziges Kind meiner Eltern sehr einfach erzogen. Der kleine Georg Schratthus hat eigentlich nichts als Arbeit und Darben kennen gelernt.“
Da unterbrach Mautner den Kapitän, fragte gespannt:
„Verzeihen Sie, – sind Sie etwa der Chemiker Georg Schratthus, dessen Name vor etwa drei Jahren so viel als der des Erfinders einer neuen Art von Gasmotoren genannt wurde und der später –“
„Ich bin’s,“ fiel ihm jener ins Wort. „Gedulden Sie sich nur einen Augenblick. Sie werden gleich hören, welche Rolle gerade eine meiner Erfindungen in meinen Schicksalen spielt. – Unter mancherlei Entbehrungen machten meine Eltern es möglich, mich eine höhere Schule und später eine deutsche Universität besuchen zu lassen, wo ich erst Maschinenbaufach, dann aber aus Neigung Chemie studierte. Schon als Student beschäftigte ich mich eifrig mit dem Gedanken, das bisherige Verfahren der Stahlgewinnung zu vereinfachen und zu verbessern. Nachdem ich mir dann den Doktortitel erworben und durch kleinere Erfindungen etwas von mir reden gemacht hatte, bot mir der reiche Herr Assumoff die Stelle eines ersten Chemikers seiner Maschinenfabriken in Odessa an. Freudig griff ich zu. Ich konnte nun auch meine Eltern besser unterstützen und hoffte, ihnen einen glücklichen Lebensabend als Dank für all ihre Liebe und Opferfreudigkeit verschaffen zu können. In Odessa begann ich dann wieder an dem mir seit Jahren vorschwebenden Problem zu arbeiten – dem der Verwandlung von Roheisen in Stahl mit Hilfe sehr starker elektrischer Ströme. Zwei volle Jahre währten meine in aller Heimlichkeit in meiner Wohnung im elterlichen Hause betriebenen Experimente. Dann war ich am Ziel. Ich weihte meinen Vater ein, und dieser, der Assumoff für einen edlen, vornehmen[21] Charakter hielt, obwohl die ganze übrige Welt ihn anders beurteilte, schlug mir vor, Assumoff meine Erfindungen anzubieten oder mit dem vielfachen Millionär sie gemeinsam auszubeuten. – Assumoff erklärte mir dann, bevor er mit mir einen schriftlichen Vertrag über die Ausbeutung der Erfindung schließen könne, müsse ich ihn ganz genau in das neue Verfahren der Stahlgewinnung einweihen. Ich jedoch, der gerade durch die Tätigkeit in seiner Fabrik und durch häufigen persönlichen Verkehr ihn als einen jener großzügigen, völlig gewissenlosen Geschäftsleute erkannt hatte, die zur Wahrung ihres eigenen Vorteils vor nichts zurückschrecken, mißtraute ihm und erwiderte, mein wertvolles Geheimnis erst nach Sicherstellung meiner Rechte preisgeben zu wollen. Nach zwei Tagen wurde in meiner Wohnung eingebrochen. Ich merkte, daß die Diebe nur zum Schein einige Wertsachen mitgenommen, es in Wahrheit aber auf etwaige Notizen über meine Erfindung abgesehen gehabt hatten. Wer diese Diebe gedungen, konnte kaum zweifelhaft sein. Erfolg hatten sie nicht gehabt, denn wohlweislich hatte ich über das neue Verfahren keinerlei schriftliche Aufzeichnungen gemacht. Ich trug es nur in meinem Kopfe bei mir. Da konnte es mir niemand stehlen. Dann ließ Assumoff mich rufen, kam wieder auf meine Erfindung zu sprechen und bot mir dafür eine lächerlich kleine Summe an, 50 000 Rubel, während jede deutsche Großfirma mir das Zehnfache anstandslos bezahlt hätte. Natürlich lehnte ich ab, indem ich darauf hinwies, daß mein Verfahren eine völlige Umwälzung auf dem Gebiete der Stahlgewinnung bedeute und zugleich eine etwa zwanzigfache Ersparnis gegen jetzt, wodurch das Stahlwerk, das mein Verfahren einführe, alle anderen in kurzem totmachen könne. Da begann Assumoff zu handeln, bot 100 000, schließlich eine Viertelmillion. Ich blieb fest. Als wir uns trennten, hatte ich das Gefühl, mich vor ihm als einem unversöhnlichen Feinde sehr inachtnehmen zu müssen. Ich bat am folgenden Tage um Urlaub zu einer Reise nach Deutschland. Er ahnte, daß ich dort meine Erfindung verkaufen wollte. Der Urlaub wurde mir bewilligt, aber – am Morgen des nächsten Tages erfolgte meine Verhaftung wegen – Teilnahme an einer Verschwörung, die gegen das Leben des Zaren gerichtet sein sollte. Auch mein Vater und meine Mutter wurden unter der gleichen Anschuldigung eingekerkert. – Ich wußte sofort, wessen Geld hier am Werke gewesen. Nur Assumoff konnte, gestützt auf seine Beziehungen zu den höchsten Kreisen, diesen Streich wider mich und die Meinen begangen haben. Eine volle Woche wurde ich durch Verhöre gequält, in denen ich nichts aussagen konnte, da ich ja von nichts wußte und da die ganze Untersuchung ja auch nur eine traurige Komödie war. Ich sollte eben gefügig für die Wünsche des Herrn Assumoff werden, der sich dann auch eines Tages in meiner dunklen, feuchten Zelle einfand und mir heuchlerisch erklärte, er wolle mir zur Freiheit verhelfen, ich tue ihm sehr leid, ebenso meine Eltern, er glaube auch an meine Schuldlosigkeit, er besitze großen Einfluß, – den er aber nur für mich geltend machen könne, wenn ich mich erkenntlich zeigen und ihm die Erfindung für 50 000 Rubel überlassen wollte. In meiner maßlosen Empörung schrie ich ihm Worte ins Gesicht, die er nur durch höhnisches Lachen beantwortete.“
Der Korsarenkapitän schwieg eine Weile, um neue Kräfte zu sammeln. All diese Erinnerungen regten ihn sichtlich auf. Dann fuhr er fort:
„Zwei Wochen später bereits befand ich mich auf dem Wege nach Sibirien. Ich war, ebenso mein Vater, zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt worden. Meine Mutter überlebte das Entsetzliche, diese schamlose Gerichtskomödie, bei der Assumoff als Hauptbelastungszeuge gegen uns aufgetreten war, nicht lange[22]. Ich kam in ein Bleibergwerk in die Nähe von Naryn, einer Festung dicht an der chinesischen Grenze. Wohin mein Vater verschleppt worden ist, weiß ich heute noch nicht. – In jenem Bleibergwerk arbeiteten nun auch 35 Turkmenen, einst freie Söhne der Steppen östlich des Kaspischen Meeres, jetzt an Eisenketten geschmiedete Sträflinge wie auch ich. Mit einem der Turkmenen, der in Europa, besonders in Deutschland und Schweden, vor seiner Verurteilung jahrelang als Maschinist gelebt hatte, freundete ich mich an. Dieser Turkmene ist mein treuer Gefährte Aribu, der dort neben dem ebenso treuen Achmed sitzt. – Aribu erzählte mir, daß er und seine 34 Stammesangehörigen zuletzt für einen russischen Großkaufmann auf dessen großer Viehfarm unweit Merw, dem wichtigen Knotenpunkte der Transkaspischen Eisenbahn, angestellt gewesen seien. Hier hätten sie im Bett eines früheren Flusses Goldkörner entdeckt und dann dem Farmbesitzer gegenüber ihre Rechte als die ersten Finder des goldhaltigen Sandes geltend machen wollen, wären jedoch plötzlich verhaftet und wegen eines Überfalls auf einen Güterzug, den sie nie begangen hätten, zu je zehn Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. – Da mir nun bekannt war, daß der vielseitige[23] Assumoff sich auch als Viehzüchter versuchte, kam mir die Vermutung, auch hier könnte er abermals Leute, die ihm unbequem waren, auf dieselbe Weise wie mich beseitigt haben. Ich fragte nach dem Namen des Russen, und Aribu antwortete: Assumoff! – Ich berichtete nun auch meine Leidensgeschichte. Das Bewußtsein, von demselben Schurken in die Giftluft des Bleibergwerks geschickt worden zu sein, brachte uns einander schneller näher als ein jahrelanger Verkehr. Wir begannen sehr bald Fluchtpläne zu schmieden. Endlich bot sich uns dann Gelegenheit, unser sorgsam vorbereitetes Wagnis auszuführen. Wir wurden verfolgt, entkamen aber doch über die Grenze nach Afghanistan, schlugen uns bis Indien durch und arbeiteten hier ein Jahr an einem neuen Bahnbau, darbten und sparten, nur um so viel Geld zu erübrigen, daß wir den Plan verwirklichen konnten, der in Aribus racheerfülltem Geist entstanden war und den ich dann weiter vervollständigt hatte. – Ich muß mich kürzer fassen. Das Sprechen strengt mich sehr an. – In uns allen lebte nur ein Gedanke: Vergeltung zu üben an dem, der uns so gewissenlos seiner Habgier geopfert hatte! – Wir wollten Piraten werden, wollten die zahlreiche Handelsflotte Assumoffs vernichten, hierbei aber auch die nötigen Geldmittel uns verschaffen, ihn später in ähnlicher Weise auch um seine sonstigen Besitztümer bringen zu können. Er sollte arm werden, bettelarm! Das war das Ziel, das uns vorschwebte. – Wundert Euch nicht, Mautner und Olaf, daß ich als gebildeter Mensch mich so weit vergessen konnte, Seeräuber spielen zu wollen! Denkt daran, was ich gelitten – unschuldig gelitten, daß ich als Sträfling geprügelt, mit Fußtritten bedacht worden war, daß meine Mutter aus Gram gestorben, mein herzensguter Vater irgendwo ebenfalls als Sträfling schmachtete. All diese Demütigungen, all diese in mir aufgespeicherte nutzlose Wut gegen Assumoff, gegen die bestechlichen russischen Beamten, gegen die rohen Aufseher im Bleibergwerk bei Naryn hatten mich die ganze Menschheit hassen und verachten gelernt. So wurde ich Korsar. Vor dem Hafen von Goa kaperten wir die Jacht jenes Großfürsten, der Assumoffs bester Freund war und der, wie mir schon früher klar geworden, seine Hand mit im Spiele gehabt haben mußte, als das Gericht in Odessa meinen Vater und mich verurteilte. – Mit der Jacht suchten wir dann nach einem sicheren Schlupfwinkel, entdeckten die kleinen Inseln und das Becken, den Eingang zu dem Bergkegel und vor kurzem dann auch die Goldschätze des erloschenen Vulkanes. – Unsere ersten Taten waren die Versenkung von zwei Dampfern der Handelsflotte Assumoffs. Aus Vorsicht trug ich bei diesen Überfällen eine Maske. Ich hätte zu leicht als der Chemiker Georg Schratthus erkannt werden können, der in Odessa seiner Zeit eine so angesehene Stellung eingenommen hatte und dessen Bild auch verschiedene Zeitschriften als das eines vielversprechenden jungen Erfinders gebracht hatten. Besonders mußte ich mich später auch hüten, Brümmel mein Gesicht sehen zu lassen, der sich meiner vielleicht erinnert hätte. Ob er jetzt, wo ich in der letzten Zeit auf dem Kutter und auch schon in den Höhlen des Vulkanes die Seidenmaske abgelegt hatte, mich nicht erkannt hat, ist ungewiß. Er hat sich nie etwas anmerken lassen, obwohl er doch als Diener der Gattin Assumoffs, die ihn aus ihrem Elternhause nach Odessa bei ihrer Heirat mitnahm und an der er mit hündischer Treue hängt, mich seiner Zeit oft genug gesehen hat. Anders steht es mit Dorchen. Sie war damals noch zu klein, als ich im Hause Assumoffs verkehrte, um sich auf mich zu besinnen. – Ja – ich wollte nicht, daß Assumoff erfuhr, wer der geheime Feind war, der seine Reichtümer mitleidlos vernichtete. Deshalb also die Maske! – Inzwischen hatte ich vier von meinen Leuten, reichlich mit Gold versehen, das aus dem Vulkanberge stammte, nach den Orten geschickt, wo ich am leichtesten über die Bewegungen der Handelsfahrzeuge unseres Feindes Erkundigungen einziehen konnte. Achmed, der hier in Benkoelen tätig war, wo Assumoff droben am Flusse gleichen Namens eine Riesenplantage und auch ein wunderbares Schloß besitzt, war es dann, der mir melden konnte, unser Todfeind wolle mit seiner Frau und seinem Kinde wieder einmal Indien und auch seine Plantage auf Sumatra besuchen. – Als ich dies hörte, kam mir blitzartig der Gedanke, Assumoff zu zwingen, sein an meinem Vater und mir begangenes Unrecht öffentlich einzugestehen und zu veranlassen, daß jenes Urteil gegen uns aufgehoben würde. – Ich will hier noch nachholen, daß ich einen anderen Plan, nämlich den, meinen Vater irgendwie mit Hilfe der Goldschätze des Vulkanes zu befreien, schon vorher erwogen hatte. Hier nun bot sich mir eine Gelegenheit, Assumoff an der einzigen Stelle seiner verhärteten Seele zu packen, an der noch weichere Gefühle verborgen waren. Ich wußte, daß er an seiner Frau, einer Deutschen, und seiner kleinen Tochter mit einer Liebe hing, die ihm niemand zutraute. – Deshalb also ließ ich Feodora entführen, Feodora Assumoff, die uns allen jetzt ans Herz gewachsen ist.“
Wieder schwieg der Kapitän einen Augenblick, wandte sich dann an Olaf:
„Mein lieber Junge, nun zu Dir! – Ich sagte einmal, ich hatte gewußt, daß Du auf der Nassovia nach Benkoelen unterwegs wärest, sagte weiter, ich würde Dich von Bord der Nassovia auf andere Weise auf die Kavete geholt haben, wenn nicht ein Zufall uns kurz vorher auf dem Kutter zusammengeführt hätte. – Alldem liegt eine Geschichte zu Grunde, bei der wiederum Assumoff eine verbrecherische Rolle spielt. Die Plantage Deines Oheims ist der Assumoffs benachbart, hat aber weit besseren Boden und wirft mehr Gewinn ab. Assumoff hätte sie Deinem Onkel gern abgekauft. Dieser wollte jedoch von einem Verkauf weder jetzt noch in alle Zukunft etwas wissen. Da hat der geriebene Schurke denn – und auch dies hatte Achmed ermittelt und mir gemeldet – Deinen Oheim eines Mordes an einem europäischen Geschäftsreisenden beschuldigen und auch die Beweise hierfür den holländischen Gerichten durch seine Kreaturen liefern lassen. Er ging also zum dritten Male nach demselben Rezept vor. Dies geschah, als die Nassovia gerade von Hamburg in See gegangen war. Dein Onkel befindet sich noch heute in Untersuchungshaft im Gefängnis in Benkoelen. Der Prozeß gegen ihn wird, wie Achmed mir heute mitteilte, in wenigen Tagen beginnen und sicherlich mit seiner Verurteilung zum Tode enden, da zwei natürlich von Assumoff bestochene Zeugen beschwören werden, den Mord beobachtet zu haben. – Doch nicht nur auf Deinen Onkel hat der Schurke es abgesehen, nein, auch auf Dich als dessen Erben, der ihm dabei hinderlich sein würde, die Plantage des angeblichen Mörders billig an sich zu bringen. Er wußte, daß Dein Onkel Dich hier in Benkoelen erwartete, und deshalb solltest Du – für immer verschwinden, sobald Du hier gelandet wärest. – Wenn ich jetzt behaupte, Assumoff ist ein Ungeheuer in Menschengestalt, werdet Ihr mir kaum widersprechen. Jetzt weilt er in seinem Schlosse auf seiner Plantage. Dort hatte ich ihn unter den nötigen Vorsichtsmaßregeln für meine persönliche Sicherheit aufsuchen wollen. Dort sollte er sich verpflichten, all seine eben erwähnten Verbrechen wieder gut zu machen. Dann erst würde er sein Kind wiedersehen. – Achmed hat mir berichtet, Assumoff wäre völlig gebrochen an Leib und Seele durch die Entführung Feodoras. Er wird also vielleicht zu Unterhandlungen bereit sein. Nur – die diese Unterhandlungen führen, müssen jeden Moment auf eine Hinterlist dieses hartgesottenen, schlauen Verbrechers gefaßt sein, der fraglos in der Hoffnung, sein Kind befreien zu können, ohne die für ihn so schweren Bedingungen zu erfüllen, auf Mittel und Wege sinnen wird, die Unterhändler festzuhalten und von ihnen ein Geständnis zu erpressen, wo seine Tochter sich befindet.“
Da erhob Mautner sich, trat an das Lager des Todgeweihten, streckte ihm die Hand hin und sagte:
„Ich übernehme es mir, selbst einem Assumoff die Spitze zu bieten! Ich verspreche Ihnen, Kapitän: Was in menschlichen Kräften steht, soll geschehen, diesen Schurken gefügig zu machen.“
„Ich danke Ihnen, Mautner,“ erwiderte der Korsar mit zufriedenem Lächeln. „Daß Sie mir helfen würden, nachdem Sie meine Schicksale und die Untaten dieses Bösewichts erfahren, erhoffte ich bestimmt. – Stellen Sie sich aber Ihre freiwillige Aufgabe nicht zu leicht vor. Gewiß: Assumoff ist bereits mürbe nach all der Angst um sein Kind! Aber ein Mensch wie er wird stets mit Heimtücke sich herauszuwinden suchen – stets! Ich warne Sie also: Doppelte, dreifache Vorsicht ist ihm gegenüber nötig, zumal ja das Eingeständnis seiner Verbrechen ihn selbst ins Gefängnis bringen muß, wobei ich besonders an seinen Schurkenstreich hier in Benkoelen gegen Olafs Onkel denke. Die holländischen Gerichte werden den, der Zeugen bestochen hat, um einen Unschuldigen aus Eigennutz zu verderben, nicht schonen. Mit einem Wort: Assumoff zu besiegen, ist ein sehr gefährliches Unterfangen!“
„Trotzdem – ich wage es!“ erklärte der Steuermann fest.
„Und ich – ich begleite Sie!“ rief Olaf und sprang mit blitzenden Augen auf. „Auch ich will das meine dazu tun, meinen Onkel von dem schmählichen Verdacht schnellstens zu reinigen!“
Doch der Kranke schüttelte jetzt ebenso wie auch Mautner ablehnend den Kopf.
„Selbst für meinen wackeren Schiffsjungen ist dieser Ausflug nach Assumoffs Schloß, einer früheren, uralten Rajahburg[24], denn doch zu gefahrvoll,“ meinte der Kapitän ernst und mit Nachdruck. „Ich kann es nicht verantworten, Dir die Teilnahme zu gestatten. – Ich, Dein Kapitän, verbiete Dir also, Dich Mautner anzuschließen, der nur noch Achmed, Aribu und zwei andere meiner Leute mitnehmen soll.“
Olaf schien noch etwas erwidern zu wollen, setzte sich dann aber und lauschte schweigend der eifrigen Beratung der drei Männer, die damit endete, daß man in der nächsten Nacht an die schwierige Aufgabe herangehen wollte.
Die sumpfigen Ufer des Benkoelen-Flusses sind dicht mit Gestrüpp, darunter auch Riesenfarne bis zu sechs Meter Höhe, und Schilffeldern bedeckt, die stellenweise nur eine schmale Fahrrinne freilassen. Nur dort, wo die Baulichkeiten von Pflanzungen dicht am Flusse stehen, hat man für freie Uferstrecken gesorgt und in diese feste Landungsstege hinausgebaut zur Erleichterung des Frachtbootverkehrs nach der nahen Hafenstadt hin.
In einem der Schilffelder an der linken Stromseite ankerte in einer drückend schwülen Nacht ein Kutter, der sich in aller Heimlichkeit nach Dunkelwerden flußaufwärts bis an diese Stelle geschlichen hatte, von wo aus man die auf der anderen Seite liegende Rajahburg des russischen Großkaufmanns Assumoff wie ein finsteres Rätsel mit all ihren phantastischen Türmen, Erkern und Altanen undeutlich erkannte.
Auf der Bank am Steuer saßen vier Männer, tauschten nur hin und wieder geflüsterte Bemerkungen aus. Ein fünfter stand auf dem Deck der kleinen Kajüte und spähte[25] mit Hilfe eines Glases nach der Rajahburg hinüber, dessen östliche Grundmauern von dem Flusse bespült wurden und aus mächtigen Steinquadern bestanden, in die eine eiserne Treppe eingelassen war, deren Stufen bis zu einem großen Altan emporführten. Die hinter diesem Altan liegenden, sämtlich mit starken Ziergittern versehenen Fenster waren hell erleuchtet.
Dort, wo das Schilffeld in den Urwald überging, erhob sich plötzlich ein furchtbares, angstvolles Gekreisch.
Achmed, der neben Mautner saß, erklärte auf dessen fragenden Blick hin, ein schwarzer Panther habe sich wahrscheinlich soeben aus einer Affenherde ein Opfer herausgeholt.
Und wieder nach einer Weile begann es im Schilfe sehr verdächtig zu knistern und zu rauschen.
Der mit der hiesigen Tier- und Pflanzenwelt vertraute Achmed beugte sich weit über Bord, beruhigte die anderen dann: „Nur ein Krokodil! Man riecht jetzt auch die Moschusausdünstung.“
Mautner steckte sich eine neue Zigarre an, brummte: „Die verdammten Moskitos! Eben hat mich wieder so ein Vieh gestochen! – Wie lange sollen wir denn nur noch warten? Es muß ja beinahe Mitternacht sein.“
„Erst müssen die Gäste das Schloß verlassen haben. Nur Geduld,“ meinte Achmed. „Als ich vorhin in unserem kleinen Aluminiumboot nach drüben und auch glücklich auf den Altan gelangt war, konnte ich durch die Fenster gerade beobachten, wie Assumoff sich sehr eifrig mit dem alten Kapitän Scherbaum und mit Macdonald, dem Steuermann der Petersburg, unterhielt. Er hat sie fraglos wieder über unser gelbes Korsarenschiff ausgefragt, hofft noch immer, irgend etwas von ihnen erfahren zu können, das ihm auf die Spur des Kindes verhilft.“
Mautner rauchte ein paar Züge. „Richtig – was ich noch fragen wollte, Achmed,“ sagte er dann. „Wissen Sie eigentlich, ob die gefangen genommenen Chinesen und Russen bestraft worden sind?“
„Drei Chinesen hat der Kommandant des englischen Kriegsschiffes aufhängen lassen. Die Meuterei der Besatzung der Newa ist vertuscht worden. So hat’s Scherbaum in einer Kneipe in Benkoelen erzählt, nachdem Assumoff den Dampfer durch Funkspruch hierher beordert gehabt hatte. Übermorgen soll die Petersburg nun wieder in See gehen, wie ich gehört habe. Besonders ihr Vorderdeck war durch die Schüsse der Kavete übel zugerichtet. Die Reparatur machte viel Arbeit.“
„Und die Nassovia ist bereits in Batavia eingetroffen?“
„Ja. So stand’s in der Schiffsliste des hiesigen Hafenamts. Sie werden sie in Batavia noch erreichen können, bevor sie ihre Ladung gelöscht hat.“
Jetzt meldete Aribu, – er war der, der vom Kajütdeck aus die Rajahburg beobachtet hatte, – daß drüben an der Treppe ein Motorboot angelegt habe.
„Dann wird’s bald Zeit für uns,“ meinte Achmed. „Das Boot holt die Gäste nach der Stadt zurück.“
Er hatte recht. Diener mit Laternen geleiteten die Gäste des Plantagenbesitzers die Treppe hinab. Vom Altan aus rief eine tiefe, volle Stimme noch ein „Auf Wiedersehen!“ hinunter. Dann schoß das Boot stromabwärts davon.
Eine halbe Stunde darauf erloschen droben die Lichter hinter den Fenstern. Nur zwei blieben hell.
Schon wollte man jetzt den Kutter mit Hilfe der Ruder und der langen Bambusstoßstangen in offenes Wasser drücken und ihn dann an der Treppe festlegen, als flußabwärts wiederum das Knattern eines Bootsmotors hörbar wurde. Man wartete also noch. Es war ein ganz kleines Boot mit einem Heckmotor, wie Aribu durch das Glas feststellte. Nur zwei Leute befanden sich darin. Einer davon stieg an der Treppe aus und eilte zum Altan empor. Hier mußte er anscheinend lange klopfen, bevor ihm geöffnet wurde. Das kleine Boot war inzwischen längst wieder nach der Stadt zu verschwunden.
„Wahrscheinlich ist’s einer jener Leute gewesen, zu denen Assumoff in anrüchigen Geschäftsbeziehungen steht und die er nur nachts empfängt,“ meinte Achmed. „Für uns bedeutet dieser Besuch vielleicht eine endlose Verzögerung. Sehr unangenehm also! Wir müssen vor Tagesanbruch hier fertig sein oder die ganze Sache bis morgen nacht verschieben.“
„Vielleicht war’s auch ein Angestellter Assumoffs,“ mischte sich Aribu ein. „Das[26] Boot fuhr ja zurück nach der Stadt. Und das läßt doch schließen, daß der Besucher heute nicht mehr nach Benkoelen will. Ich denke, wir gehen mit dem Kutter nach einer Weile ruhig an die Treppe heran, und Du schaust dann oben einmal nach, wie die Dinge stehen.“
Mautner war ganz einverstanden damit. –
Achmed kam jetzt wieder die Treppe lautlos hinuntergehuscht, stieg auf den Kutter über und meldete, daß Assumoff allein in seinem Arbeitszimmer am Schreibtisch sitze. Die Fenster stünden offen, und die Vorhänge seien zurückgezogen.
„Gut – vorwärts denn,“ befahl Mautner, wandte sich nochmals an einen der Leute, der im Kutter zurückbleiben und diesen zu sofortiger Abfahrt bereithalten sollte, ermahnte ihn zu größter Wachsamkeit und gab ihm noch verschiedene Verhaltungsmaßregeln.
Lautlos glitten vier dunkle Gestalten nun die Stufen aufwärts. Das Zimmer mit den erhellten Fenstern lag an der Steinbrüstung, so daß man sich weit über diese hinauslehnen mußte, wenn man einen Blick hineinwerfen wollte.
Die Turkmenen trugen ebenso wie Mautner Segeltuchschuhe mit Gummisohlen. Kriechend gelangten die vier bis an die Brüstung. Hier richtete Mautner sich langsam auf und beugte sich über die hohe Steineinfassung. Der Schreibtisch stand in der Mitte zwischen den beiden Fenstern. Assumoff, ein schlanker, großer Mann mit schwarzem, straff gescheiteltem Haar, einen Spitzbart und dunklen Augen unter in der Mitte zusammengewachsenen Brauen, saß in einem bastseidenen Anzug da und las eine Zeitung. Vor ihm glimmte eine Zigarette in einer Aschenschale.
Mautner, der sich einige Menschenkenntnisse zutraute, sagte sich, daß bereits die äußere Erscheinung dieses Mannes auf eine außergewöhnliche Charakterbildung hindeutete. Dieses schmale Gesicht trug den Stempel brutaler Rücksichtslosigkeit und kraftvollen Selbstbewußtseins.
Nun mußte Achmed, wie verabredet, den Russen auf den Altan zu locken versuchen.
Mit leiser Stimme rief er in malaiischer Sprache, indem er sich an der Steinbrüstung voll aufrichtete.
„Tuwan (Herr) – Tuwan Assumoff!“
Dieser blickte auf, erhob sich, trat an das dem Altan nächstliegende Fenster, steckte den Kopf durch die Stäbe des geschwungenen Ziergitters und fragte:
„Was solls? Wer bist Du?“
„Ein Bote vom Telegraphenamt. Hier ist eine Depesche für Dich, Tuwan, gleich mit Rückantwort. Ich wollte vom Park aus ins Schloß. Aber niemand öffnete mir. Der Torwächter war nicht in seinem Häuschen.“
„Gut. Ich komme.“
Mautner hatte alles mitangehört. Er war erstaunt, daß Assumoff so leicht und schnell in die Falle ging. Er hätte ihn für mißtrauischer gehalten.
In der Mitte des Altans führte eine breite, schwere Flügeltür in dieses Stockwerk der alten Rajahburg.
Der Russe schloß von innen auf, trat dann unbesorgt in die Dunkelheit hinaus, wurde von hinten sofort gepackt und sah auch schon Mautners Revolver dicht vor seiner Stirn.
„Keinen Laut,“ warnte der Steuermann. „Sie haben nichts zu fürchten. Wir sind keine Banditen, haben mit Ihnen ein anderes Geschäft glatt zu machen.“
Assumoff wehrte sich nicht im geringsten.
„Was wollen Sie von einem unglücklichen Vater, der den Verlust seines einzigen Kindes betrauert?!“ sagte er mit trauriger Stimme. „Sie sind ein Weißer, wie ich sehe. Ich kenne Sie jedoch nicht. Ich wüßte nicht, welcher Art das Geschäft sein könnte, das wir zu erledigen hätten. Wenn Sie Geld erpressen wollen, – Sie sollen es haben. Ich bin ein armer, gebrochener Mann, der nicht mehr an seinem Reichtum hängt.“
Mautner, dem diese Sprache Assumoffs denn doch zu übertrieben wehleidig vorkam, blieb auf seiner Hut.
„Ich warne Sie nochmals!“ flüsterte er. „Meine Gefährten stechen Sie lautlos bei der ersten verdächtigen Bewegung nieder.“
„Überflüssige Drohung,“ meinte der schlanke Mann mit gleichgültigem Achselzucken. „Führen Sie mich in mein Zimmer. Ich gebe mein Ehrenwort, daß ich niemand zu Hilfe rufen werde.“
Durch die Flügeltür gelangte man in einen langen Flur, in dem nur in der Ferne eine Lampe an der Decke brannte. Gleich rechts stand eine Tür offen, durch die man in einen Salon und dann weiter in das Arbeitszimmer gelangte.
Hier mußte Assumoff sich wieder vor seinen Schreibtisch setzen, das Gesicht nach der Mitte des Zimmers hin. Er gehorchte mit müder Gelassenheit, sagte dann:
„Bitte nehmen Sie Platz. Die Stühle da stehen noch so, wie meine Gäste darauf gesessen haben. – Wieviel Geld verlangen Sie?“
Mautner trug kein Bedenken, die Verhandlung jetzt in aller Ruhe zu beginnen, ließ sich auf einen der unter dem brennenden Kronleuchter auf einem Perserteppich im Halbkreis aufgestellten Stühle nieder und winkte auch Achmed und Aribu neben sich. Der vierte von ihnen, der Turkmene Mirza Chan, trat dicht hinter sie.
So konnten sie Assumoff genau im Auge behalten, der sich kaum zwei Meter vor ihnen befand. Verrat war von seiner Seite kaum zu fürchten. Was sollte er auch gegenüber zwei auf ihn gerichteten Revolvern und einem Wurfbeil, das Mirza Chan an die Schulter gelehnt hochhielt, tun?!
Mautner begann nun die Verhandlungen, indem er zunächst erklärte, er und seine braunen Freunde seien keine Erpresser. Sie kämen vielmehr im Auftrage eines Mannes, dem es vielleicht möglich sein würde, das geraubte Kind seinen Eltern zurückzubringen.
Da belebte sich plötzlich Assumoffs mattes, teilnahmloses Gesicht. Er sprang auf, rief mit halb unterdrückter Stimme:
„Ah – belügen Sie mich nicht! Spielen Sie nicht mit einem Vaterherzen, das in Sehnsucht nach seiner Tochter sich verzehrt! – Schnell – sprechen Sie die Wahrheit, – wissen Sie wirklich einen Mann, der mir meine Seelenruhe wiedergeben könnte?!“
Er spielte seine Rolle vorzüglich, dieser geniale, großzügige Verbrecher.
Mautner ließ sich jetzt wirklich täuschen, nannte die Bedingungen, unter denen Feodora ausgeliefert werden würde.
Assumoff hatte sich wieder gesetzt. Um seinen Mund spielte jetzt ein Lächeln teuflischen Hohnes.
„Das habe ich nur wissen wollen,“ sagte er schneidend. „Also Georg Schratthus steckt wirklich dahinter. Ich habe es geahnt!“
Eine kleine Pause. Mautner fühlte jetzt geradezu, daß irgend ein Verhängnis über ihm und seinen Begleitern schwebte. Dieses hohnlachende Antlitz, diese blitzenden Augen des Russen waren ja nicht anders zu erklären als durch eine drohende Hinterlist. Der Steuermann blickte sich daher in dem hellen Zimmer schnell mißtrauisch um, stand auf, wollte zur Tür, um sie zu verschließen.
Da hatte Assumoff schon gerufen:
„Hinunter mit ihnen! Hinunter –!“
Mautner setzte zum Sprung an, wollte sich auf den Russen stürzen, fühlte mit einem Male den Boden unter seinen Füßen nachgeben, versank in eine unbekannte Tiefe, prallte auf einen der gleichfalls abwärtsgleitenden Turkmenen auf, packte verzweifelt in die leere Luft, griff nochmals zu, bekam jedoch nur eine Ecke des Teppichs zu fassen, der diesen Sturz mitmachte. Dann ein Ruck, ein Knäuel von Menschen und Stühlen, und – nachtschwarze Finsternis. –
Oben in Assumoffs Zimmer hatte sich die doppelte Falltür, die der Teppich verdeckt hatte, wieder geschlossen.
Hinter einem Vorhang trat – der alte Brümmel hervor. Er war der Mann gewesen, der in dem kleinen Motorboot vorhin hier eingetroffen war, nachdem er aus dem Hause Achmeds auf der Ratteninsel glücklich hatte entfliehen können, leider ohne das Kind, das in einem anderen Raume festgehalten wurde; er war’s auch, der den hinter dem Vorhang verborgenen Hebel niedergedrückt und so die Falltür hatte spielen lassen.
Assumoff nickte ihm zu. „Brav gemacht, Alter! – Komm nun, betrachten wir uns die Leute einmal ganz nahe, die gegen mich aufzutreten wagten.“
Brümmel schaute seinen Herrn jetzt so merkwürdig forschend an, fragte dann unsicher: „Beruht das alles, was der deutsche Seemann Ihnen soeben an Anklagen vorgehalten hat, etwa auf Wahrheit, Herr Assumoff? Wenn dem so wäre, würde ich mir die schwersten Vorwürfe machen, mitgeholfen zu haben, die vier dort hinabzuschicken!“
„Unsinn!“ lachte der Russe. „Wahrheit?! Alles erlogen, erfunden! – Doch – folge mir nun! Die Leute sollen doch wenigstens sehen, wo sie sich befinden! Dann aber – hin nach der Ratteninsel vor Benkoelen, um Feodora zu befreien und die übrige Piratenbrut unschädlich zu machen!“ –
Mautner hatte bald durch das Tastgefühl der Hände festgestellt, daß sie samt dem Teppich und den Stühlen in ein großmaschiges Drahtnetz gefallen waren, welches nun unter dieser Belastung wie ein riesiger Beutel sich lang nach unten gereckt hatte. Dicht aneinander gepreßt standen Mautner und Aribu halb aufrecht, während Achmed und Mirza Chan in liegender Stellung zwischen die Stühle gedrückt wurden.
Mautner rief die Gefährten an, erhielt Antwort und war froh, daß niemand verletzt zu sein schien. Dann suchte er seine Jackentasche heranzukommen, in der eine elektrische Lampe steckte. Er fand sie, schaltete sie ein, leuchtete nun umher.
Das Riesennetz hing an vier Seilen frei in der Luft in einem quadratischen, gemauerten Schacht etwa zwei Meter über dem Boden.
Da – gerade als Mautner Achmed auf die Beine helfen wollte – tat sich in diesem Boden eine Falltür auf. Gleichzeitig sank das Netz schnell tiefer und tiefer, durch das Loch der Falltür hindurch, – immer weiter abwärts.
Mautners Nase spürte einen scharfen, unangenehmen Geruch. Das – das war die Ausdünstung von Raubtieren! Er erschrak, ahnte, was ihm und seinen Gefährten bevorstand, richtete die Lampe nach unten.
Dort schlichen lautlos in ihrem nach dem Park hin durch ein Gitter verschlossenen Zwinger vier – sechs große rotgelbe Katzen umher, – Tiger – Sumatratiger!
Plötzlich hielt das Netz an, etwa drei Meter über den Bestien, die jetzt, durch den weißen Lichtstrahl erregt, dumpf zu brüllen begannen.
Und dann tat sich eine in einer Höhe mit dem Netz liegende kleine eiserne Tür auf. Assumoff und der alte Brümmel wurden sichtbar, jeder mit einer sehr hellen Laterne in der Hand.
Und dann tat sich eine in einer Höhe mit dem Netz liegende
kleine eiserne Tür auf.
Mautner hatte Brümmel kaum erkannt, als er auch schon ausrief: „Ah – es gibt keine göttliche Gerechtigkeit mehr auf Erden! Brümmel entflohen! Das Verbrechen siegt! Alles – alles war umsonst.“
Ein lautes Hohngelächter Assumoffs folgte. „Ja – alles war umsonst! Ihr alle werdet sterben – alle, das ganze Piratengesindel! Und Euer Korsarenkapitän mag jetzt zusehen, wie er seinen Vater freibekommt. Wen ich verderben will, der ist nie und nimmer zu retten.“
Der alte Brümmel trat etwas zurück. Er hatte seinen Landsmann Mautner auf dem Kutter genügend kennen gelernt, um zu wissen, daß der Steuermann einen Ausspruch wie den soeben von dem Versagen der göttlichen Gerechtigkeit und dem Siege des Verbrechens nie getan hätte, wenn er nicht fest von der Schuld Assumoffs überzeugt gewesen wäre. – Und weiter: Nie hätte er, Hesekiel Brümmel, sich dazu hergegeben, die Falltür aufklappen zu lassen, wenn er geahnt hätte, wohin die Abstürzenden geraten würden! Assumoff hatte ihn in dieser Beziehung belogen, hatte nur von dem Netz gesprochen, in dem die vier sich fangen sollten. Er, der bisher stets angenommen hatte, Dorchen sei nur entführt worden, um ein hohes Lösegeld zu erpressen, gelangte jetzt zu einer ganz anderen Ansicht über den Korsarenkapitän, auch über Assumoffs Charaktereigenschaften. Sein Gewissen regte sich. Er sah die gelben Riesenkatzen unten lüstern die Köpfe heben; Mautners Ausruf gellte ihm noch immer in den Ohren: „Das Verbrechen siegt!“ und nicht minder seines Herrn höhnische Erwiderung, besonders die letzten Sätze, die ja ein halbes Schuldgeständnis enthielten.
Ganz leise schlich er davon, eilte durch die langen Flure, pochte schließlich an eine Tür, pochte stärker, bis eine Frauenstimme von drinnen fragte: „Was gibt’s – wer ist dort?“ –
Der in dem Kutter zurückgelassene Turkmene fuhr erschrocken zusammen, als vor ihm ganz plötzlich – Olaf Kersten auftauchte, der ihm dann triumphierend erklärte, daß er vorn in dem Verschlage die Fahrt als blinder Passagier mitgemacht habe. „Jetzt will ich sehen, wie’s da oben im Schlosse steht,“ fügte er hinzu. „Ich bin nicht ohne Waffe, o nein! nur ist diese anderer Art, als Du jetzt wohl denkst! Wenn Mautner nichts ausrichten sollte, – mir gegenüber wird Assumoff machtlos sein!“
Dann verschwand er die eiserne Treppe hinan. –
Assumoff schloß die kleine Pforte, wollte wieder in sein Zimmer zurück, sah, daß Brümmel verschwunden war, murmelte vor sich hin: „Waschlappen! Er vertrug wohl diesem Bild der über meinen stets hungrigen Kätzlein hängenden Piraten nicht!“ öffnete gleich darauf die vom Salon in sein Arbeitszimmer führende Tür, prallte zurück.
In der Mitte unter dem Kronleuchter stand der Schiffsjunge des gelben Korsaren.
Assumoff ahnte, wer dieser neue Besucher war. Brümmel hatte ihm ja auch von dem Spielgefährten Feodoras erzählt.
„Was treibst Du hier?“ sagte er scharfen Tones. „Du bist Olaf Kersten, nicht wahr?“
Olaf schaute ihn ohne Furcht an.
„Ich bin’s! Und ich habe vom Altan aus mit angesehen, wie Mautner und die anderen drei dort unten verschwanden, habe auch Brümmel gesehen, der uns entwischt ist. Jetzt ist unser Motorkutter bereits wieder unterwegs nach der Ratteninsel. Dorchen wird von dort verschwinden, wo sie jetzt weilt, und niemals werden Sie Ihre Tochter wieder in die Arme schließen können, wenn Sie nicht all die Ihnen gestellten Bedingungen ehrlich erfüllen.“
Assumoff setzte sich in seinen Sessel am Schreibtisch, lächelte und sagte: „Oh – Du scheinst ja eine recht giftige kleine Kröte zu sein! Und – Du kommst Dir wohl ungeheuer schlau vor! – Ein Kutter braucht eine Stunde bis zur Ratteninsel, der elektrische Funke in meinem Telephondraht bis zur Polizeiwache der Ratteninsel nur Sekunden. Die Polizei wird also früher an Ort und Stelle sein, mein Bursche.“
„Sie werden nicht telefonieren,“ erwiderte Olaf bestimmt.
„Hier – lesen Sie diesen Brief, den Dorchen für Sie verfaßt hat, nachdem ich ihr heute nachmittag, ohne den Kapitän oder Mautner vorher zu fragen, alles – verstehen Sie mich recht – alles! – erzählt hatte, was Sie an Schlechtigkeiten begangen haben. Lesen Sie! Vielleicht denken Sie dann anders als jetzt!“
In diesem Augenblick ertönte von der Salontür her eine weiche, schmerzerfüllte Frauenstimme:
„Boris, ich beschwöre Dich: gib der Wahrheit die Ehre! Hast Du wirklich so viel Unglück angestiftet, so viel Herzeleid über Unschuldige gebracht, wie mein alter treuer Brümmel mir soeben anvertraut hat? – Seit langem ahne ich, daß Deine Seele dunkle Geheimnisse birgt, seit langem wächst die Entfremdung zwischen uns ständig! – Heute will ich endlich klar sehen.“
Eine hohe, schlanke, blonde Frau kam nun langsam in ihrem seidenen, schleppenden Gewand auf Assumoff zu, blieb neben Olaf Kersten stehen, wiederholte leise:
„Die Wahrheit will ich wissen – die volle Wahrheit!“
Dann nahm sie Olaf den Brief ab, riß den Umschlag auf, entfaltete den weißen Bogen und las laut und deutlich:
Papuschka!
Der Olaf Kersten lügt nicht. Und der sterbende Kapitän der Kavete auch nicht. Ich weiß jetzt, weshalb man mich entführt hat. Und die Mamuschka wird es von mir erfahren. Dann werden wir beide fort von Dir gehen, ganz weit fort, wenn Du nicht alles gut machst, was Du getan. Aber ich weiß, Du liebst Dein Dorchen und die Mamuschka, und Du wirst zeigen, daß Du mein edler, guter Papuschka bleiben willst. – Dein Dorchen.
Assumoff war bleich geworden, schlug jetzt die Hände vor sein verstörtes Gesicht, stöhnte auf:
„Mein – mein Kind – mir das – das!“
Regungslos saß er minutenlang da. Er kämpfte mit sich. Dann stand er auf, ging zu dem Vorhang hin, tastete nach dem Hebel. –
Als Assumoff verschwunden war, als die eiserne Pforte wieder zufiel, hatte Mautner gerade seinen Revolver aus der Tasche herausgelangt.
„Schade,“ sagte er ingrimmig. „Ich hätte den Schuft über den Haufen geschossen.“
Aribu schrie plötzlich auf.
Einer der Tiger hatte mit kurzem Anlauf sich hochgeschnellt, hatte sich in den Maschen des Drahtnetzes dort festgekrallt, wo Aribus Füße sich befanden.
Mautner senkte die Waffe, schoß dicht an Aribus Oberschenkel vorbei. Der Tiger heulte, ließ sich herabfallen, kroch in eine Ecke des Zwingers.
Da sprang schon ein zweiter. Jetzt in der Richtung auf den festgeklemmt daliegenden Achmed zu. Mautner konnte den Revolver jetzt nicht gebrauchen. Die Bestie wurde durch Achmeds Körper verdeckt.
Mit einem Male begann sich das Netz aufwärts zu bewegen, während der Tiger gewandt mit seinen Krallen immer höher kletterte, um der menschlichen Beute durch die Öffnung von oben beizukommen.
Immer schneller hob sich das Netz. Mautner blickte empor. Über ihm lag ein helles Viereck: Die Falltür im Fußboden von Assumoffs Zimmer. Immer näher rückte das helle Viereck. Aber auch der Tiger hatte nun fast den Rand des Netzes erreicht.
Da – schoß Mautner, – drückte nochmals ab, nochmals.
Die Bestie heulte auf. Und mit drei Kugeln im rotgelben Leibe sprang sie jetzt auf das helle Viereck zu, um sich in Sicherheit zu bringen. Das Netz war dicht darunter angelangt. Nur deshalb tauchte nun plötzlich vor den Augen der entsetzt Zurückprallenden über dem Ausschnitt der Dielen im Arbeitszimmer der halbe Leib des Tigers[27] auf.
Frau Assumoff war in die Knie gesunken. Ihr Gatte aber ergriff seinen Schreibtischsessel, holte damit zum Schlage aus. Wie ein gelber Blitz fuhr’s da auf ihn los. Der Sessel fiel zur Seite. Und unter der Bestie lag Assumoff; stinkender Atem schlug ihm aus dem Raubtierrachen entgegen; seine linke Schulter wurde von der Pranke der Bestie zerfleischt; das furchtbare Gebiß öffnete sich dicht über seinem Halse.
Wie ein gelber Blitz fuhr’s da auf ihn los. Der Sessel fiel zur
Seite.
Olaf hatte schnell den ersten Schreck von sich abgeschüttelt. Er sah Assumoff hintenüberstürzen unter dem Ansprung des Tigers, riß seinen kleinen Revolver aus der Tasche, glitt von rückwärts an den gelben Tierkörper heran, hielt die Mündung hinter das kurze, spitze Ohr, drückte ab – nochmals ab – wieder ab.
Der Tiger zuckte hoch, sank zur Seite, suchte auf die Beine zu kommen. Es waren seine letzten krampfhaften Bewegungen. –
Gleich darauf sauste das kleine Motorrennboot Assumoffs den Fluß abwärts; darin befanden sich Aribu, Olaf und der Bootsmann des russischen Millionärs.
Der Kutter wurde dicht vor der Stadt überholt. Beide glitten weiter nach der Ratteninsel, nahmen die Kleine und den todkranken Kapitän an Bord, fuhren nach der Stadt, wo Aribu bei dem holländischen Oberrichter des Bezirks einen kurzen Brief Assumoffs abgab. Der Oberrichter machte sich schnell fertig und begleitete Aribu nach dem Hafen, nach den Booten.
Assumoff lag auf dem Diwan in seinem Arbeitszimmer. Brümmel und Mautner hatten ihn notdürftig verbunden. Er wußte, daß er sterben mußte. Die linke Schulter und die linke Brustseite bildeten nur noch eine blutige, zerfetzte Fleischmasse.
Seine Frau saß neben seinem Lager, hielt seine Hand.
Dann kam Mautner, meldete, daß die Boote in Sicht seien.
Assumoff richtete sich auf, horchte.
Draußen auf dem Altan jetzt Stimmen. Dorchen stürzte herein, rief:
„Papuschka – mein Papuschka!“ Und Assumoff hatte sein Kind wieder. Tränen rannen ihm über das schmerzverzerrte Gesicht.
Nun führten Aribu und Mautner den Kapitän des gelben Korsaren[28] ins Zimmer, setzten ihn behutsam in den Sessel, der vor dem Diwan bereitgestellt war.
Die Augen der beiden Todfeinde ruhten ineinander. Dann senkte der Russe die seinen, flüsterte: „Verzeihen Sie mir, Georg Schratthus, – verzeihen Sie einem Verblendeten.“
„Wir beide werden in kurzem vor Gottes Richterthron stehen!“ sagte der Kapitän ernst. „Ich verzeihe Ihnen, Boris Assumoff!“
Dann wurde der Oberrichter gerufen, und vor ihm gab Assumoff alles das zu Protokoll, was er als schwere Last nicht mit auf die letzte Reise nehmen wollte.
Wer der Mann war, dem der Tod gleichfalls auf der Stirn geschrieben stand, wer die braunen Männer waren, die sich um ihn bemühten, erfuhr der Oberrichter nicht. –
Assumoff hauchte seine schuldbeladene Seele eine Stunde später aus. Die ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages fielen auf ein starres, jetzt im Tode seltsam friedliches, heiteres Antlitz.
Und am Abend dieses Tages, als dieselbe Sonne im Westen ins Meer tauchte, trugen Aribu und Mautner den sterbenden Kapitän hinauf auf die Plattform des Turmes der alten Rajahburg. Hinter ihnen her kamen schweigend und ernst all die anderen, deren Lebenswege die des früheren Korsaren nur gekreuzt hatten oder aber mit ihnen in einer Richtung dahingegangen waren.
Georg Schratthus hatte das Meer noch einmal sehen wollen, das Meer, das er geliebt, das er mit der Kavete durchkreuzt hatte.
Blutrot glühte der ferne Horizont. Und zarte Röte strahlte zurück auf das Gesicht des Korsaren, dessen Augen sich immer mehr umflorten.
Dann richtete er sich noch einmal auf, tastete nach Aribus Hand, rief mit letzter Kraft:
„Unser Ziel ist erreicht. Das Unrecht ist gesühnt. Mein Vater wird frei sein! Verlasse ihn nicht, Aribu, wie Du mich nicht verlassen hast!“
So starb er. –
Im Parke des Schlosses am Benkoelen-Flusse liegen zwei Gräber dicht nebeneinander. Nur die Eingeweihten wissen, daß unter den Hügeln zwei Todfeinde ihre letzte Stätte gefunden haben.
Frau Assumoff ist mit ihrem Kinde nicht mehr nach Odessa zurückgekehrt, bewohnt jetzt die Rajahburg. Häufig findet sich Olaf Kersten dort als lieber Gast ein. Von der Plantage seines Onkels hat er’s nicht weit. Dann versäumen die beiden jungen Menschenkinder es nie, die Gräber im Parke mit frischen Blumen zu schmücken, stehen davor Hand in Hand, – Dorchen und der Schiffsjunge des gelben Korsaren.
Ende!
Anmerkungen des Verlages:
Anmerkungen: