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Allan Garps letzte Stunde

 

 

Harald Harst

 

Band: 343

 

Allan Garps letzte Stunde

 

Von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16

 

1. Kapitel.

Als Garp aus dem Gefängnis kam.

An einem regnerischen Aprilabend verließ ein großer schlanker Herr in dunkelgrauen Wettermantel und mit tief in die Augen gedrücktem Hut das am Berliner Zoologischen Garten gelegene Paradies-Hotel und schritt eilends in das unfreundliche Wetter hinaus. Der Portier warf ihm einen erstaunten Blick nach, murmelte etwas Unverständliches vor sich hin, und die Sache war hiermit vorläufig für ihn abgetan.

Eine halbe Stunde später tauchte derselbe Herr in einer kleinen Kneipe im Berliner Norden auf, fragte den ob solch vornehmen Besuchs sehr überraschten biederen Wirt nach einem Mann namens Huber und wurde daraufhin in das sogenannte Vereinszimmer gewiesen, wo zur mäßigen Freude des Kneipenbesitzers seit einer Stunde drei Leute, die er am liebsten sofort wieder fortgeschickt hätte, denn der „Blaue Schwan“ war ein durchaus einwandfreies und ehrbares Lokal, und der Wirt als alter Berliner hatte für eine gewisse Sorte Menschen einen untrüglichen Blick.

Der hochgewachsene Fremde hatte bei seinem Eintritt in das Vereinszimmer sehr schnell und geschickt eine Halbmaske vor sein Gesicht geschoben und war nun vollkommen unkenntlich.

Die gedämpfte Unterredung dauerte ungefähr eine halbe Stunde. Dann zahlte der Fremde, der seine Handschuhe nicht ablegte, jedem fünfhundert Mark, warf noch zwanzig Mark für die Zeche auf den Tisch und entfernte sich ohne besondere Eile. Der Wirt – genau wie der Portier – schickte ihm einen langen erstaunten Blick nach, und dieser Blick wurde noch mißtrauischer, als einer der drei hastig hinter dem Fremden das Lokal verließ. Aber „Zaunlatte“ hätte sich diese Mühe sparen können. Der große Herr hatte ein Auto bereit und sauste davon, ohne daß Zaunlatte die Nummer lesen konnte. –

In derselben Nacht gegen zwölf Uhr ereilte dann Allan Garp das ihm vielleicht vorausbestimmte Geschick, als er mit seiner Schwester Ellen von Bekannten aus Potsdam heimkehrte. Es regnete wieder, und Garp fuhr daher recht vorsichtig, zumal Ellen, eine ebenso begeisterte wie leichtfertige Motorradlerin, aus reinem Übermut wiederholt seinen Weg kreuzte.

Dicht vor dem Eingang zur Avus-Bahn steigerte Garp das Tempo, um einer Taxe auszuweichen, und fast gleichzeitig – die Ursache hatte er nie begriffen – tauchte seiner Schwester Motorrad wiederum vor ihm auf, und das Unglück war geschehen. Er hatte seine eigene Schwester, mit der er freilich sehr kühl und förmlich verkehrte, überfahren und getötet.

Er kam vor Gericht. Die Zeugen, und das waren der Schofför und die beiden Insassen der Autotaxe, bekundeten übereinstimmend mit einem Polizeibeamten, daß Garp der Taxe zu schnell und auf der falschen Seite ausgewichen sei. Er wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, und sowohl seine Bekannten in Potsdam wie sein einziger noch lebender näherer Verwandter sagten sich völlig von ihm los. Der einzige, der zu ihm hielt und ihm Briefe schickte, war gerade der Mann, von dem er es am wenigsten erwartet hatte.

Er verbüßte seine Strafe in der Anstalt Plötzensee, und der Tag seiner Entlassung war ein noch regnerischerer und noch unfreundlicherer als jener 3. April, an dem ihm das furchtbare Unheil zugestoßen war. Schwere Gewitter tobten über Berlin, und als Allan Garp das Gefängnistor hinter sich hatte, dankte er es Doktor Lohr von ganzem Herzen, daß er ihn mit seinem Auto erwartete.

Richard Lohr war dem Namen nach Rechtsanwalt, sein großes Privatvermögen gestattete ihm jedoch vollkommen, seine etwas merkwürdigen Liebhabereien zu leben. Er war dreißig Jahre alt, hatte eine Zeitlang Strafverteidiger gespielt und beschäftigte sich nun ausschließlich und rein theoretisch mit Kriminalfällen. Sein kühler, klarer Kopf begnügte sich mit einer Ausarbeitung von schriftlichen Theorien über kriminelle Tagesprobleme, und Zeitungen und Zeitschriften rissen sich geradezu nach seinen geistvollen Haarspaltereien, die er in der Art des seligen Sherlock Holmes abzufassen pflegte, die jedoch stets mit Witz und beißender Ironie durchtränkt waren.

Doktor Lohr bewohnte kleine neue Villa im Berliner Vorort Zehlendorf. Als er und sein Gast dort eintrafen, war die Köchin gerade einkaufen gegangen und der Diener säuberte die Zimmer im ersten Stock.

Dieser Diener, Karl Melzer mit Namen, vernahm das Nahen des Autos und das Zufallen der Haustür. Er wollte sich erst etwas säubern, bevor er nach den Wünschen der beiden Herren fragte, vernahm jedoch gleich darauf einen Schuß und erblickte vom Balkon Allan Garp, der wieder zum Auto stürmte und allein davonraste.

Karl Melzer eilte ins Erdgeschoß hinab und fand seinen Herrn mit einem schweren Kopfschuß im Herrenzimmer auf dem Teppich liegen. Er rief die Polizei und einen Arzt an, und da aus Lohrs Wandtresor, der offenstand, mehrere tausend Mark fehlten, wurde hinter Allan Garp sofort ein Steckbrief erlassen. Man entdeckte zwar Lohrs leeres Auto im Grunewald unweit des Restaurants Hundekehle, Garp selbst blieb verschwunden.

Doktor Lohrs Schußverletzung war zum Glück weniger schwer, als es anfänglich geschienen hatte, und seine Vernehmung am Nachmittag ergab, daß er, wie auch die Wunde bewies, von Garp von hinten brutal niedergeknallt worden war, und zwar mit Lohrs eigener Pistole.

Am Abend saßen wir wie stets zu dreien um den großen Kaminofen, und Harsts schmales Gesicht wurde in dem matten Dämmerlicht der Stehlampe nur dann deutlicher sichtbar, wenn er einen Zug aus der Zigarette tat und deren Spitze stärker aufglühte.

Steen, ein Jüngling mit kecker Wippnase und beängstigend modernem Anzug und haarscharfen Bügelfalten, hielt noch die dritte Ausgabe der heutigen Abendpost in Händen, und die Zeitung machte wieder einmal mit wortschreierischen Überschriften über „Allerneuestes über Allan Garps Raubmordversuch“ blendende Geschäfte, obwohl das „Allerneuste“ nur darin bestand, daß nun festgestellt war, Garp sei in einem Wettermantel Doktor Lohrs und in dessen Hut entflohen, die er offenbar in der Diele vom Haken gerissen habe.

Plötzlich schnurrte das Telefon. Harald meldete sich. Wir hörten mit.

„Hier Doktor Lohr, Zehlendorf … Sie kennen mich gewiß dem Namen nach, Herr Harst.“

„Leider … Ihre Angriffe gegen meine Arbeitsmethoden entbehren zuweilen der Sachlichkeit.“

„Um so stolzer dürfen Sie jetzt sein, daß ich Sie bitte, mich sofort zu besuchen. Weshalb, werden Sie sich denken können.“

„Allerdings … – Gut, wir kommen. Schraut und ich. Unser junger Freund Steen ist etwas unpäßlich, leichte Grippe.“

Das war Schwindel. Fred Steen hatte nur anderes zu erledigen.

„Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Harst … Also auf Wiedersehen.“

Wir beide machten uns zum Ausgehen fertig. Im Flur hingen noch am Garderobenständer ein feuchter Wettermantel und ein nasser Hut.

„Fred, Sie nachlässiger Schlingel, – weg mit den Sachen!“, fauchte Harald den tief geknickten Steen sehr ärgerlich an. „Durch Ihre Bummelei können wir in Teufels Küche geraten!“

In unserer stillen Arnoldstraße sind Autotaxen selten. Wir hatten Glück. Zu meinem Erstaunen befahl Harst jedoch dem Fahrer: „Zunächst nach dem Paradies-Hotel am Zoologischen Garten.“

Der Portier im Hotel war noch derselbe wie vor einem Jahr. Er nahm uns in seine Loge und erklärte uns, die Geschwister Garp hätten allerdings „damals“ hier gewohnt.

Durch Harsts eingehende Fragen wurde das Gedächtnis des Portiers schließlich so weit geweckt, daß er uns noch folgendes erzählte: An jenem Abend, als Miß Garp totgefahren wurde, hatte gegen sieben Uhr ein Herr das Hotel verlassen, der offenbar sein Gesicht zu verbergen suchte. Wahrscheinlich sei es aber Doktor Lohr, der Verehrer Miß Garps, gewesen.

 

2. Kapitel.

Harsts geheimnisvolle Verbündete.

Wer das neue Villenviertel von Zehlendorf kennt, weiß auch, wie still und einsam dort die Straßen mit den weiten, noch unbebauten Flächen sind.

Die Großstadt bietet gerade in ihren Randortschaften für verbrecherische Elemente das beste Betätigungsfeld.

Trotzdem kam uns beiden bei diesem finsteren, regnerischen Wetter der jähe Überfall völlig überraschend. Eine große Limousine versperrte uns den Weg, ein paar Kerle knallten uns den Gifthauch von Scheintodpistolen ins Gesicht, und als ich wieder erwachte, lag ich neben dem Taxenschofför im Straßengraben. Leute bemühten sich um uns, und als der nächste Morgen heraufdämmerte, war Harald noch immer nicht gefunden. Nur sein blutbefleckter und von zwei Kugeln in der Brustgegend durchlöcherter Ulster hatte in einem nahen Waldstück gelegen.

Abends mußten Fred und ich jede Hoffnung aufgeben, da Waldarbeiter nachmittags nur mühsam einen brennenden Holzstoß gelöscht hatten, den Unbekannte zusammengetragen haben mußten. In den verkohlten Hölzern fand man Leichenreste, und der Rumpf dieser Reste wies zwei Kugelverletzungen auf. Eine Feststellung der Persönlichkeit des Toten war allerdings unmöglich.

Gegen neun meldete sich dann das Telefon. Hoffnungsfroh hob ich den Hörer ab, es war jedoch zu meiner bitteren Enttäuschung eine unbekannte Frauenstimme, die mir lediglich zurief: „Elf Uhr Restaurant Zum Blauen Schwan, Gartenstraße.“

Trotzdem drückte ich Fred vor Freude sehr derb die Hand.

Fred Steen hatte seinen sogenannten abgeklärten Tag. „Jubeln Sie nicht zu früh, Herr Schraut!“, warnte er. „Im übrigen möchte ich alleruntertänigst fragen, wer hier das Haus bewachen soll, während wir zum Schwan in die Gartenstraße schwimmen. Unser Heim muß einen Wächter haben, – warum, das brauche ich Ihnen nicht erst vorzuhalten.“

„Schmiedecke und Scylla“, erklärte ich kurz und rief auch schon „Argus“ an.

Um Zehn erschienen Kautschuk-Gustav nebst Mastferkel von Terrierhündin, und der endgültig gebesserte Exsträfling war so selig, wieder einmal mit uns zusammen ein Ding drehen zu können, daß er sofort drei Weingläser Kognak hinuntergoß, ein Quantum, das ihm gar nichts ausmachte.

Punkt elf Uhr betraten wir den Schwan, und der zweifellos eingeweihte biedere Wirt führte uns sogleich in das Vereinszimmer, wo wir eine tief verschleierte Dame und einen älteren, bärtigen Mann mit grauen Künstlerlocken vorfanden, der neben sich einen Geigenkasten liegen hatte und der auch ganz wie ein Straßenmusikant aussah, auch der Nasenröte nach. Er trug gestopfte Zwirnhandschuhe.

Ich musterte den Alten prüfend, dann begrüßte ich ihn mit leider verfehlter Begeisterung. „Harald, deine Maske ist vorzüglich, und …“

Der Musiker, der mich ernst durch seine verbogene Nickelbrille anblinzelte, schüttelte den Kopf. „Ein Irrtum, Herr Schraut … Ich bin nicht Ihr Freund, ich habe ihn nie gesehen …“

Ich bückte mich: Der Mann hat dunkle Augen!

Es war wirklich nicht Harald.

Die Verschleierte begann zu sprechen. „Meine Herren, nehmen Sie Platz … – So, – – hier sind Zigaretten … Auch der Rheinwein ist trinkbar … Bedienen Sie sich. – Meinen Namen soll ich Ihnen zunächst verschweigen. Ihr Freund wünscht es so. Er hat mir diesen Zettel mit Fragen übersandt, die ich in Ihrer Gegenwart an den Wirt richten soll. Auch der Name des alten Herrn dort tut vorläufig nichts zur Sache. – Bitte …“ Sie reichte mir den Zettel. Es war Harsts Schrift, und darunter stand das Datum des heutigen Tages und der Vermerk: „Sorgfältig befragen. H.“

Diese höchst seltsame Zusammenkunft in dem mit allerlei Fahnen und Wappen geschmückten Vereinszimmer harmloser Kegelklubs und Kameradenbünde und ähnlicher für die Öffentlichkeit wertloser Bürgerprivatvergnügen wurde noch dadurch vollständig aus jedem Alltagsrahmen herausgehoben, daß die Verschleierte an meiner Seite nicht nur durch Haltung, Benehmen und Kleidung die Weltdame erkennen ließ, sondern daß auch der alte Mann trotz seiner ärmlichen Kleidung seine Zigarre wie ein Kavalier der alten Schule rauchte und seinen Wein mit dem nachsichtigen Lächeln des Rebensaftkenners trank, der zur Not aber mit einer billigen Marke zufrieden ist.

„Fred, holen Sie den Wirt“, befahl ich nun, damit wir zur Sache kämen.

Der brave Kneipenwirt setzte sich.

Die Dame begann nach dem Zettel das Verhör.

„Herr Glast, ich habe Sie für diese Belästigung entsprechend bezahlt … – Vor länger als einem Jahr saßen hier drei Leute, zu denen sich nachher ein vierter gesellte. Besinnen Sie sich?“

„Sehr gut, meine Dame …“

„Können Sie mir den Vierten genauer beschreiben?“

„Nein … Von seinem Gesicht war so gut wie nichts zu sehen.“

Die Verschleierte holte eine Fotografie hervor.

„Kann es dieser Herr gewesen sein?“

„Es wäre möglich …“

„Und die drei anderen, Herr Glast?“

„Oh, da weiß ich etwas besser Bescheid, meine Dame. Damals saß vorn im Lokal ein Straßenhändler, der die drei vom Ansehen kannte. Als sie weggingen, nannte er mir ihre Spitznamen: Zaunlatte, Stotter-Fred und Krokodil, alles drei sehr üble Burschen. Der eine trug ein Monokel, das war „Zaunlatte“. Stotter-Fred war ein kleiner Dicker, und Krokodil fiel durch seine vorgebaute Hechtschnauze auf.“

Ich hatte Bleistift und Notizbuch zur Hand und notierte alles.

Die Verschleierte blickte flüchtig zu dem Musiker hinüber, der gleichfalls schrieb.

„Herr Glast, noch etwas?“

„Nein … Das heißt, Zaunlatte machte den Versuch, dem hochgewachsenen eleganten Vierten, der zuerst verschwand, zu folgen. Ich schaute durch das Fenster. Der Herr hatte ein Auto in der Nähe stehen, wahrscheinlich einen Privatwagen.“

Die Dame sah Harsts Zettel durch. „Noch etwas, Herr Glast. Blieb diese Zusammenkunft die einzige der vier Leute bei Ihnen?“

„Ja, die einzige …“

„Dann danke ich Ihnen. Oder hätten Sie noch etwas zu fragen?“ – Das galt mir.

Ich nahm die Fotografie vom Tische (ein Kabinettbild, halbe Figur), ich hatte längst erkannt, daß es Doktor Richard Lohr war, der wiederholt in Zeitschriften als „der witzigste Kriminaltheoretiker“ gepriesen worden war, und bedeckte das Gesicht mit zwei Fingern, so daß nur Nase, ein Teil des Mundes und der Augen freiblieben. „Herr Glast, betrachten Sie jetzt die Fotografie nochmals … Finden Sie jetzt eine Ähnlichkeit mit größerer Bestimmtheit heraus?“

Der Gastwirt überlegte. „Hm, es kann sein, nein, ich möchte nun doch sagen: Er ist’s!“

„Danke …“ –

Fred Steen räusperte sich. „Herr Glast, wie heißt der Straßenhändler, der die drei ihren Spitznamen nach kannte?“

Das war ein glücklicher Einfall Freds.

Glast lachte gemütlich. „Oh, der Piek sitzt vorn … Soll ich ihn holen?“

„Holen Sie ihn!“

Herr Piek erschien, schob schleunigst die zwanzig Mark in die Tasche, die ihm die Verschleierte gegeben hatte, und erwiderte dann auf eine meiner Fragen:

„So genau weiß ich über die drei nicht Bescheid. Aber heute ist mir eingefallen, als ich von dem Raubmordversuch las, den dieser Schuft von Allan Garp verübt hat, daß damals bei dem Prozeß gegen Garp wegen der Autogeschichte die drei faulen Brüder als Zeugen aufgetreten sind … Stotter-Fred ist nämlich von Hause aus Schofför, und …“ – unter meinem wahrscheinlich sehr starren Blick verstummte der Händler.

Als zehn Minuten später der Musikus und die Dame den Schwan verließen, standen wir drüben in einer Türnische. Aber wir hätten uns dies sparen können, – eine große dunkle Limousine rollte an uns vorüber und der Schofför rief uns zu:

„Anfänger, die ihr seid!!“

Das Auto nahm die beiden auf, und über dem freudigen Schreck, soeben Harsts Stimme vernommen zu haben, vergaßen wir vollständig, nach der Nummer des Wagens zu sehen …

„Anfänger, die ihr seid?“, brummte Fred Steen achselzuckend. „Herr Harst hat gut reden, wo er stets mit uns Blinde Kuh spielt!!“

 

3. Kapitel.

Die Zeitungsannoncen und unser Gast.

Zu Hause fanden wir Kautschuk-Gustav im dick vollgequalmten Zimmer hinter einer frisch geöffneten Kognakflasche vor, während seine fette Scylla in der Sofaecke schlummerte.

Gustav Schmiedeckes Eigentümlichkeiten muß man schon mit in Kauf nehmen. Ein Mann mit so bewegter Vergangenheit ist als Hilfskraft nie zu unterschätzen. – „Herr Schraut, vorhin wurde ein Brief abgegeben“, sagte Gustav. „Der Überbringer war ein Papageien-Onkel, – Sie wissen, so ’n Kerl, mit ’m Kasten vorm Bauch und mit ’m Papagei durch die Lokale zieht …: Liebesorakel und so! Aber es war Herr Harst.“

„Tatsächlich? Wann denn?“

„Vor drei Minuten vielleicht …“

Fred und ich blickten uns verdutzt an. Gustav merkte das und wollte wissen, was wir ausgerichtet hätten. Er war eingeweiht worden, weil sich dies nicht umgehen ließ, und er hörte still zu, als Fred Bericht erstattete und ich den Briefumschlag öffnete, der nur Zeitungsausschnitte – Anzeigen – enthielt. Sonst nichts. Die Bleistiftsanschrift auf dem Umschlag stammte von Harald.

Diese drei Anzeigen waren mit Blaustift numeriert.

1.) „Drei energische Leute, möglichst ein Autofahrer darunter, für gewinnbringende Tätigkeit gesucht. Offerten an die Exp. d. Z. unter Beifügung genauesten Lebenslaufes. – A. B. C. 100.“

2.) „Zaunlattenfabrik wird um noch sorgfältigere Auskunft über Teilhaber ersucht. Großzügiges Unternehmen. 1000 Mark Reingewinn. – A. B. C. 100.“

3.) „Zusammenkunft der Gesellschafter der Zaunfabrik 3. April abends ½8 Blauer Schwan, Gartenstr., Vereinszimmer. – Huber.“

– Auch Fred und Gustav prüften nun den Inhalt dieser merkwürdigen Anzeigen, die für mich ein weiteres Glied in der Kette meiner Schlußfolgerungen wurden. Schon allein „Zaunlatte“ besagte genug. Der hochgewachsene elegante Fremde hatte also vor länger als einem Jahr auf diese Weise Verbündete gesucht, und zwar aus Verbrecherkreisen.

Meine beiden Nachbarn vor dem Kamin pflichteten mir in allem bei. Gustav meinte ehrlich empört: „Solch’ eine Gemeinheit!! Da hat man also den armen Allan Garp damals mit voller Absicht in das Gefängnis geschickt, und die drei sind als Zeugen aufgetreten. Wer aber ist der Vierte? Doktor Lohr?! Hm – ich weiß nicht recht … – Am besten ist, Herr Fred holt jetzt Ihren Gast herbei. Vorhin, als ich oben war, schnarchte er freilich noch.“ – –

Zur Erläuterung über den Gast, den wir seit gestern vormittag heimlich beherbergten, muß folgendes nachgeholt werden. Gegen halb zwölf war bei uns während eines erneuten Regengusses ein Mann erschienen, der Harst flehentlich um Beistand gebeten hatte. Es war der bedauernswerte Garp, der uns dann blaß, erschöpft und verängstigt schilderte, weshalb er so eilig aus der Villa Lohr entflohen sei. – Er hatte mit Lohr die Villa betreten, hatte in der Diele Hut und Mantel abgelegt, Lohr war voraus in sein Arbeitszimmer gegangen. Plötzlich hörte Garp von dort einen Schuß fallen, stieß die Tür auf und sah Lohr blutend am Boden liegen und bemerkte auch den offenstehenden Wandtresor. Da er soeben aus dem Gefängnis gekommen war, hielten seine Nerven diese grausame Erschütterung nicht aus, er überlegte sich blitzschnell, daß man ihn als Täter verdächtigen würde, und in seiner Kopflosigkeit entfloh er und hegte nur die eine Hoffnung, daß Harst ihm helfen würde, auf den ihn Lohr während der Fahrt zur Villa selbst hingewiesen hatte, da Lohr stets Zweifel gehegt hatte, daß es bei dem Autounglück mit rechten Dingen zugegangen sei.

Garps Angaben hatten so sehr den Stempel der Wahrheit getragen, daß Harald den Ärmsten bei uns aufnahm und oben im Fremdenzimmer verbarg. Entscheidend für diesen hochherzigen Entschluß Harsts war hauptsächlich die sehr einfache Überlegung, daß ein Mann wie Allan Garp, mochten auch sein sympathisches Äußere und sein Auftreten trügerisch sein, niemals einen solchen Raubmord versucht haben würde, da sich der Verdacht doch sofort gegen ihn richten mußte. Doktor Lohrs Diener hatte ja gewußt, wen sein Herr aus Plötzensee abholte und hatte ein Zimmer für Garp herrichten müssen. Die Tat wäre den ganzen Umständen nach ein Wahnwitz gewesen, und Harald blieb dabei, daß ein Unbekannter sich eingeschlichen haben könnte und daß das Verbrechen bewußt auf Garp abgeschoben werden sollte. –

Fred ging nach oben, kehrte mit unserem blassen, übernervösen Gast zurück, und wir vier erörterten nun nochmals all die Geschehnisse, wobei die drei Anzeigen eine große Rolle spielten. Auch Garp erkannte jetzt, daß er bestimmt damals am 3. April vor einem Jahr durch niederträchtigste Machenschaften seine Schwester Ellen hatte überfahren sollen, und es war erstaunlich mit anzusehen, wie der junge Deutsch-Engländer angesichts dieser Gewißheit mit einem Schlage seine Selbstbeherrschung zurückgewann und wie er nunmehr mit eisiger, unheimlicher Ruhe meinen Argwohn hinnahm, Doktor Lohr könnte auch jetzt wieder versucht haben, ihn in schwerste Ungelegenheiten zu bringen. Ich blieb dabei, daß Lohr sich selbst den Kopfschuß beigebracht und dem Tresor schon vorher das Geld entnommen habe.

Allan Garp, dessen Mutter eine Deutsche gewesen, erklärte dann seinerseits, er traue Lohr derartige Schurkenstreiche nicht zu, obwohl Lohr als Mensch nie nach seinem Geschmack gewesen sei. „Er bewarb sich um Ellen, und da ich selbst mit meiner einzigen Schwester nicht besonders herzlich stand, übertrug ich diese kühle Reserve auch auf den Rechtsanwalt. Nach dem Autounglück freilich bewies er sich als wahrer Freund. – Nein, Lohr kann kein derartig raffinierter Bösewicht sein, Herr Schraut. Hinter alledem steckt eine andere, uns unbekannte Persönlichkeit als treibende Kraft …“

„Ja, treibende Kraft: Geld!“, sagte Kautschuk-Gustav mit Nachdruck. „Bestimmt Geld! Ihr Onkel mütterlicherseits ist sehr reich, Herr Garp, Sie und Ihre Schwester lebten jahrelang auf dessen indischen Plantagen … – Sind Sie jetzt der einzige Erbe dieses Herrn Theodor Gallandy?“

„Der einzige … Es gibt keine anderen erbberechtigten Verwandten. Oder besser: Ich war der einzige Erbe, denn jetzt hat mein Onkel mich enterbt, weil er Ellen sehr liebte und weil er mir zutraute, meine Schwester … beseitigt zu haben.“

„Verrückt!“, meinte der alte Schmiedecke grob, aber ehrlich. „Schrieb er Ihnen, daß er Sie enterbt habe?“

„Ja.“

„Ihr Onkel muß ein etwas komischer Herr sein!“

„Das stimmt. Wer wie er sein Leben in einer halben Wildnis zugebracht hat, wird leicht ein Sonderling, und Ellen …, nun, Ellen verstand es nur zu gut, sich bei ihm einzuschmeicheln, meine Schwester und ich sind völlig verschiedene Charaktere gewesen. – Herr Schraut, was halten Sie von dieser Unterredung mit der Verschleierten und dem alten Musiker“, wandte er sich mir wieder zu, und man merkte ihm an, wie rege sein Hirn arbeitete, um die Person herauszufinden, die sein Todfeind war.

Wir verstummten, da das Telefon sich meldete.

Es war jetzt ein Uhr, früh, und ich begriff nicht recht, wer uns noch anrufen könnte.

„Herr Harst selbst?“, fragte ein männliche Stimme.

„Nein, Schraut …“

„Bitte, kommen Sie sofort zu mir, – hier ist Doktor Lohr … Ich habe soeben Einbrecher verscheucht, die mir von meinem Nachttisch meine Ausarbeitungen stahlen … Ich habe Ihnen noch mehr mitzuteilen, möchte dies aber nicht durch den Fernsprecher tun … Beeilen Sie sich …“ – Lohr war bei alledem sehr beherrscht wie stets.

Ich überlegte kurz.

„Wir kommen, Herr Doktor …“

Ich wollte den Mann endlich persönlich kennenlernen, der für mich einzig und allein als Garps Todfeind in Betracht kam. – –

Dieses Gespräch hatte ein alter, schäbig gekleideter Kerl, der sich im Stalle des Grundstücks Arnoldstraße 21 häuslich eingerichtet hatte, durch Anzapfen der Telefonleitung mit abgehört. Es war ein großer, etwas gebeugter Mensch mit mehreren Warzen im Gesicht. Lautlos verließ er nun den Stall und bestieg gleich darauf ein an der nächsten Ecke wartendes Privatauto, an dessen Steuer eine Dame saß, wie man trotz der Vermummung erkannte.

„Villa Lohr“, flüsterte der Alte hastig.

Dann sauste die Limousine auch schon davon.

Zwanzig Minuten später lohte in dem Waldstück unweit der Villa Lohr ein mächtiger Holzstoß auf, den irgend jemand aus Kiefernkloben aufgeschichtet hatte. Bevor das Feuer bemerkt wurde, bevor man noch den Brand löschen konnte, hatten auch einige Bäume Feuer gefangen, und als die Feuerwehr anrückte und nach vieler Mühe diesen zweiten Scheiterhaufen erstickt hatte, entdeckte man in der noch schwelenden Glut die unkenntlichen Überreste zweier Männer. Die Polizei erschien, und mitten unter dem Kreis der Neugierigen stand regungslos der große, bärtige, gebeugte alte Mann, und um seine Lippen spielte ein Lächeln, das niemand recht zu deuten gewußt hätte.

 

4. Kapitel.

Der Papageienonkel.

Derweil waren Fred und ich längst bei Doktor Lohr angelangt. Wir hatten während der Fahrt scharf aufgepaßt und die Waffen bereitgehalten, aber dies erwies sich als unnötig.

Der Diener empfing uns und führte uns nach oben in das Schlafzimmer. Lohr lag mit dick verbundenem Kopf im Bett, und seine erste Frage galt Harst. „Wo ist Ihr Freund, Herr Schraut?“

„Beschäftigt“, wich ich aus. – Das also war Doktor Richard Lohr, der große Kriminaltheoretiker! Gewiß, von der bewußten Fotografie her kannte ich ihn schon, aber der bleiche Mann dort in den Kissen mit den spitzen Zügen und dem ironischen Gewohnheitslächeln um die dünnen Lippen glich dem Bilde nur sehr wenig. Der Blutverlust und das leichte Wundfieber schienen Doktor Lohr sehr mitgenommen zu haben.

„Setzen Sie sich, bitte … – Haben Sie das Feuer drüben im Waldstreifen gesehen?“ – Er sprach sehr abgehackt, und seine braunen Augen öffneten sich nur selten zu voller Größe. „Mein Diener berichtete mir davon, diese Fenster gehen nach der anderen Seite hinaus, und aufstehen darf ich noch nicht, der Arzt hat noch jede Aufregung verboten, nicht einmal Zeitungen gibt man mir …“

Er lachte hart. „Wenn nur das Fieber verschwände! Ich bin weiß Gott nicht verweichlicht. Ich finde keine Ruhe. Ich habe da den armen Allan Garp in einen Verdacht gebracht, der vollkommen sinnlos ist. Erst heute ist mein Erinnerungsvermögen so zuverlässig, daß ich mit aller Bestimmtheit sagen kann: Der Tresor war bereits offen, als ich mein Herrenzimmer betrat! Ein Fremder schoß mich von hinten nieder, und dieser Fremde muß auch den Tresor geöffnet haben …“

„Kennt die Polizei diese Ihre neue Überzeugung?“, fragte ich vielleicht etwas zu kühl.

Lohr blickte mich fest an. „Nein! Und das hat seine gewichtigen Gründe, über die ich nicht sprechen will.“ Ein finsterer, feindseliger und verschlossener Zug zeigte sich um seinen Mund. „Ich hatte das alles jedoch schriftlich niedergelegt, die beschriebenen Blätter lagen hier auf dem Nachttisch, die Balkontür war nur angelehnt, ich war eingeschlummert, erwachte und erblickte im Zimmer zwei fremde Gestalten, riß die Waffe unter dem Kissen hervor und gab ein paar Schreckschüsse ab, die draußen im Garten scheinbar ein Echo fanden …“

„Scheinbar?!“

Lohr nickte kurz. „Ja, scheinbar … Ich will damit andeuten, daß zweifellos auch im Garten geschossen wurde und zwar ebenfalls mit Schalldampfer …“ – Er holte seine Pistole unter der Steppdecke hervor, und ich sah, daß der Lauf ein Aufsatzstück trug. Im übrigen hegte ich Lohrs Angaben gegenüber sehr berechtigte Zweifel. Er mochte meine Voreingenommenheit vielleicht spüren, denn sein Gesichtsausdruck und sein Blick wurden noch finsterer. „Ich errate Ihre Gedanken, Herr Schraut“, meinte er fast herausfordernd. „Sie möchten gern die Kugeleinschläge sehen … Nun, mein Bett steht so, daß ich von hier bequem durch die Türspalte in die Luft feuern konnte, und ich bin ein guter und sicherer Schütze …“

… Ich dachte unwillkürlich an die erste verkohlte Leiche mit den beiden Brusttreffern.

„Wie oft drückten Sie heute ab?“, fragte ich etwas doppelsinnig.

Lohr war klug. „Heute?! Ich habe die Waffe seit langem nicht benutzt, Herr Schraut. Es mögen also „heute“ vier Schuß gewesen sein, ja, es waren vier, hier ist der Rahmen, vier Patronen fehlen, vier Hülsen liegen dort … Mein Diener hat sie aufgehoben.“ Dann wechselte er schnell das Thema. „Ich kann nur annehmen, daß meine ursprüngliche Annahme, hinsichtlich des ersten Falles Garp, also betreffs des Autounglücks, durchaus richtig gewesen ist, obwohl mir die Beweise fehlen, – – für Garps volle Schuldlosigkeit“, ergänzte er schnell, wobei sich sein Gesicht verdächtig rötete. „Und ich bin auch der Ansicht, daß irgendein Mensch existiert, der Allan Garp vollends ins Unglück stürzen möchte. Diese Person arbeitet mit Helfershelfern, und zweifellos bestahlen sie mich um meine sehr genauen Ausarbeitungen, die ich hier auf dem Krankenbett ergänzt und weitergeführt hatte und die den Leuten eine leider allzu günstige Handhabe bieten, Gegenschachzüge vorzubereiten.“

– Was sollte das alles?, fragte ich mich abermals, da die Zerfahrenheit der Angaben Lohrs bei mir nur den Eindruck verstärkte, er selbst sei es, der diese Gegenschachzüge genau überlegt habe. Weshalb hatte er uns gerufen?! – In dem Augenblick, als ich mir diese Fragen stellte, wußte ich ja noch nichts von der Auffindung der beiden Toten in dem neuen Scheiterhaufen.

In diesem Stadium unserer Unterhaltung ereignete sich ein nur von mir bemerkter geringfügiger Zwischenfall …

Ich saß so, daß ich durch die Türspalte auf den Balkon hinausblicken konnte. Der Himmel hatte sich ein wenig aufgeklärt, und gegen ein Stück dieses hellen Nachthimmels gewahrte ich draußen auf dem Balkon eine Gestalt, die äußerst vorsichtig uns zu belauschen suchte. Ich sah von dem Mann nur den Schlapphut und den beschatteten bärtigen Kopf und den gebeugten Rücken, – ich blickte schnell wieder weg, aber der Fremde war doch wohl argwöhnisch geworden, er verschwand, und als ich mit drei langen Sätzen draußen auf dem Balkon anlangte, rutschte der Mann bereits in die Tiefe, zog das Doppelseil ein und huschte um die Hausecke.

Am Balkon aber klebte, nur leicht mit einem Faden umwickelt, ein Zettel, den ich schleunigst in den Ärmel schob, bevor Fred noch neben mir auftauchte.

„Beruhigen Sie Doktor Lohr“, sagte ich zu unserm patenten Jüngling sehr hastig. „Es war ein Horcher hier oben … Er ist entwischt.“

Lohr rief nach uns. Fred trat wieder ins Zimmer zurück, ich drückte mich in eine Ecke und schaltete meine Taschenlampe ein und las den unsauberen Papierwisch, – Harsts Handschrift:

„In dem neuen Scheiterhaufen zwei neue verkohlte Leichen mit je zwei Schußwunden. Richte Dich danach. H.“

Auch ich ging in das Zimmer zurück. Doktor Lohr starrte mich forschend an. In seinem Blick lag jedoch nichts von Angst, und – täuschte ich mich?! – hatte sich nicht der ironische Zug um seine Mundwinkel noch verstärkt?!

Ich setzte mich und rückte wie unabsichtlich weiter vom Bettende zur Seite. Lohr fragte nach dem Horcher, – ich antwortete vollkommen geistesabwesend … Unter Lohrs Bett lagen zwei völlig mit Schlamm und Erde bedeckte rote Morgenschuhe …

Lohr war draußen im Garten gewesen. Lohr hatte seine Helfershelfer erschossen … Lohr heuchelte Fieber und Krankheit …

Ich zog meine Taschenlampe wieder hervor. Meine Augen glitten zu Fred hinüber … – Fred ist ein heller Kopf.

Er erhob sich, und bevor der Anwalt ihn noch zurückstoßen konnte, hatte er ihm die Pistole entwunden.

Der Lichtkegel glitt unter das Bett … Ich bückte mich. Hinter den durchweichten schmutzigen Schuhen lag ein zusammengeknüllter nasser Mantel und ein feuchter zerbeulter Hut. Ich angelte die Gegenstände hervor, ohne Lohrs Gesicht auch nur für Sekunden unbeobachtet zu lassen. Seine Züge wurden seltsam starr, seine Augen weiteten sich, und dann, als ich auch den Hut auf den Stuhl neben mich legte, lachte er urplötzlich ganz zwanglos auf …

„Eine gute Idee, Herr Schraut! Allan Garps Todfeind ist nun auch der meinige geworden. Fallen Sie etwa auf den Bluff herein? Die Sachen gehören mir, ja. – aber ich beschmutzte sie nicht … Ich schlief, man holte diese Beweisstücke, durchnäßte sie und schob sie unter das Bett … Eine gute Idee. Jedoch Sherlock Holmes, mein erlauchtes Vorbild, würde sagen: „Nein, lieber Watson, es ist nicht meine Art, mich so plump betrügen zu lassen. Wenn Doktor Lohr das Bett verlassen und die Sachen getragen hätte, würde er sie kaum unter das Bett gesteckt und dann Harst und Schraut herbeigerufen haben.“ Nicht wahr, – das hat doch Hand und Fuß?“

„Nein!“, erklärte ich kalt. „Das hat weder Hand noch Fuß. Sie sind im Garten und im Waldstück gewesen, Doktor Lohr. Wo sollten Sie die nassen Sachen wohl verbergen?! Jedes Verbergen dieser Kleidungsstücke wäre gefährlicher gewesen als Ihre jetzige schlaue Ausrede. Aber mich führen Sie nicht hinters Licht. Ich werde sofort die Polizei verständigen …“

Meine Hand langte nach dem auf dem Nachttischchen stehenden Telefon. Ich berühre den Hörer, – – da schlägt die Glocke an …

„Hallo, – hier bei Doktor Lohr, Zehlendorf …“, meldete ich mich.

Klar und deutlich ertönte aus dem Mikrofon Harsts Stimme zurück:

„Mache gefälligst keinen Unsinn, mein Alter … Falls du die Polizei benachrichtigen wolltest, so warte damit noch … – Schluß …“

Der Apparat sprach sehr laut an. Lohe mußte jedes Wort gehört haben. Ich schaute ihn an …

Er lächelte nachsichtig. „Siehst du, Watson, meine Art ist doch die richtige“, spöttelte er triumphierend.

Meine Geduld war erschöpft. Ich kam mir hier wie ein Narr vor.

„Sie gestatten, daß wir uns verabschieden, Herr Lohr … Auf Wiedersehen – unter anderen Umständen aber …!!“

„Hoffentlich. – Gute Nacht, meine Herren“, sagte Lohr sehr höflich.

Ich nahm die Kleidungsstücke mit, rollte Hut und Schuhe in den Mantel und nickte unten in der Diele dem uns hinauslassenden Diener nur flüchtig und mißtrauisch zu. – –

Um dieselbe Zeit saß unten in Doktor Lohrs Arbeitszimmer im Dunkeln ein Mann mit einem Papageienkäfig und hatte neben sich das Tischtelefon und im Mundwinkel eine süßlich riechende Zigarette. Als er die Haustür klappen und die Schritte der sich entfernenden vernahm, hob er den Hörer von der Gabel.

„Hallo, Doktor …“

„Hallo …!“

„Ich habe an der Tür gehorcht … Ich kam gerade noch zur rechten Zeit nach unten. Die Sache mit den Kleidern hätte böse werden können … Dieser Schraut fällt auf alles herein! – Wiedersehen …“

Der alte Papageienonkel vernahm noch Lohrs vergnügtes Kichern, dann legte er den Hörer weg.

 

5. Kapitel.

Ein Stück Monokelglas.

Wir bogen in einen Fußpfad ein, der nach dem Wäldchen führte. „Tragen Sie gefälligst das Bündel“, meinte ich scharfen Tones. „Bitte!!“

Fred grinste mich von der Seite an. „Das Bündel? Nein! Ich schleppe mich nicht mit unnötigem Ballast, ich habe Augen im Kopf … Die Sohle des einen Morgenschuhs ragt weit vor, und wenn Sie gefälligst den Winkel zwischen dem flachen Absatz und der Sohle sich ansehen wollen: Ich sehe dort trockenes Leder! – Die Schuhe sind absichtlich, aber zu oberflächlich beschmutzt worden. Wer bei diesem aufgeweichten Boden mit den Morgenschuhen im Garten und im Waldstück gewesen wäre, hätte die Dinger vor Nässe auswringen können.“

Abermals grinste Fred, und ich betrachtete den trockenen Fleck und wollte grob werden und hielt trotzdem den Mund.

Lohr war doch nicht im Garten gewesen?! Sollte ich das glauben?! Der Mann war mir mit seinem unleidlich überlegenem Getue höchst widerwärtig. Ich wollte den Argwohn gegen ihn nicht aufgeben.

„Fred“, erklärte ich streng verweisend, „Sie sind ein Frechdachs und ein Strohkopf! Wenn sich in die Ecke zwischen Absatz und Sohle Blätter eingeklemmt haben, muß die Stelle trocken geblieben sein.“

Fred rauchte sich eine Zigarette an. „Blätter?! Woher?! Haben wir Oktober oder Mai?! Lohrs Garten ist ein Schmuckkästchen. Im Mai fallen keine Blätter.“

Ich sagte nichts mehr. Wir näherten uns dem Scheiterhaufen und den wenigen Neugierigen. Die Polizei hatte die Leichen weggeschafft, und die Menge hatte sich verlaufen. Es gab hier nichts mehr zu sehen. Nur ein älterer hagerer Mann im schäbigen Lodenmantel lehnte abseits an einer Kiefer und sog träumerisch an seiner Pfeife. Ich musterte ihn, er hatte Ähnlichkeit mit dem alten Musikus aus dem Blauen Schwan, – ich war mir meiner Sache jedoch nicht sicher, und wir wanderten dem anderen größeren Wäldchen zu, wo der erste Tote aufgefunden worden.

Die Stelle war noch deutlich erkennbar, und als ich nun mit einem langen Ast in den verbrannten Hölzern umherstocherte, eigentlich ohne bestimmte Absicht, blinkte zu meinen Füßen ein Glasstück auf, ich bückte mich schnell, säuberte es und hielt es Fred hin.

„Was ist das?!“

„Ein Stück von einem leicht gewölbten Monokel, – das sieht jeder!“

„Ja, und“ – ich hob es auf, „und Zaunlatte trug ein Monokel, Sie junger Fant!!“

Fred Steen beugte sich vor. „Donnerwetter, – Sie meinen, daß Zaunlatte hier eingeäschert werden sollte?“

Die Antwort gab ein anderer. Hinter den Erlensträuchern trat Harst schnell neben uns, – der Alltagsharst, ohne jede Verkleidung.

„Morgen allerseits“, grüßte er zerstreut. „Dein Fund, mein Alter, bestätigt nur, was ich bereits wußte. Dieses Monokel gehörte Zaunlatte … Der meineidige Bursche, der Garp ins Gefängnis bringen half, starb dort drüben in Lohrs Straße, wo wir überfallen wurden … Er sollte mit uns endgültig aufräumen, aber sein Herr und Meister erkannte rechtzeitig, daß die Sache vorbeiglücken würde und machte … Schluß. Zwei Kugeln genügten.“

„Woher weißt du das?“, fragte ich völlig benommen. „Warst du dabei?“

„Nein. Dann wäre nicht Zaunlatte, sondern der andere gestorben. Ich weiß es von Leuten, die die Schüsse hörten und die leider zu wenig geeignet waren, es mit „ihm“ aufzunehmen. „Er“ ist nämlich noch immer unentdeckt. Ich kenne den Mann nicht. Ich kenne ihn nur als einen absolut gewissenlosen, skrupellosen Schurken. Selbst heute kam ich zu spät … Nun sind auch Stotter-Fred und Krokodil tot, und die nächsten sollen wohl Doktor Lohr und wir drei sein, – der Bursche macht gern reinen Tisch, der tut nichts halb …“

Ich fand die Sprache wieder. „Harald, dein Mantel hatte zwei Kugellöcher …“

„Ja – durch meine Clement …“

„Und wer sind die Dame und der Musikus?“

Er hob die Schultern. „Bedaure … In unserem Beruf sind wir zur Diskretion verpflichtet … – Gib mir das Monokelstück … Danke. Und nun – – lebt wohl, meine Zeit ist sehr besetzt. Sorgt dafür, daß Allan Garp sich nicht etwa auf die Straße wagt … Er ist am allermeisten gefährdet.“

Wir fuhren heim … Allerdings dauerte es geraume Zeit, bis wir eine leere Taxe erwischten. Fred, der sonst den Schnabel nie halten kann, schwieg mit einer Beharrlichkeit, die ihm zweifellos einige Mühe machte. Erst in der klapprigen Taxe sagte er undeutlich, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen:

„Mit Ihrem Kleiderbündel locken Sie keine Wanze hinter der Tapete hervor, Herr Schraut. Sogar Harst nahm von Ihrem Paket nicht die geringste Notiz. Ich wette hundert Mark, daß er genau weiß, wer die Sachen durch den Schmutz zog, – für gewöhnlich werden nur Menschen durch den Schmutz gezogen …“

Seine Diplomatie!!“, bemerkte ich achselzuckend.

Die Taxe hielt, wir stiegen weit vor unserem Hause aus, gingen das letzte Stück zu Fuß, es war heller Tag geworden, ein Milchwagen klingelte, Bäckerjungen rasten auf Rädern vorüber, ein Betrunkner hielt einen Laternenpfahl für seine Geliebte, umarmte ihn und redete sehr zärtlich auf ihn ein. – Dann bogen wir in den kleinen Vorgarten unseres bescheidenen Eigenheims ein, und – – blieben stehen.

Die Haustür war halb offen.

Im Flur sahen wir Kautschuk-Gustavs fette, aber bissige gemästete Scylla liegen, und dieses Unding von Terrier hielt noch einen Stoffetzen zwischen den Zähnen.

Fred pfiff durch die Zähne …

Im Nu war er wieder ein anderer.

„Oberfaul, Herr Schraut!“

Er faßte in die Hüfttasche … Die Sicherung seiner Pistole sprang knackend zurück.

„Lassen Sie das Schießeisen stecken!“, knurrte ich … „Wenn hier ungebetene Gäste waren, sind sie längst über alle Berge.“

„Hm, – und Scyllas Schwanz?!“

Ich blickte schärfer hin.

Scylla hatte den Schwanz eines Windspiels, einen Rattenzagel.

Ich sah eine behandschuhte Hand, die diesen Zagel packte und die scheinbar tote Hündin zur Seite zog.

Fred, jetzt in seinem Element, hatte blitzschnell den Schalldämpfer über den Lauf der Waffe gestreift und auch schon abgedrückt. Der gedämpfte Schuß wurde durch das Bimmeln eines Milchwagens übertönt.

„Fred, Sie gehören in eine Kaltwasserheilanstalt, und außerdem sind Sie ein Sauschütze“, rief jemand aus dem Flur.

„Kommt herein“, befahl Harst ungemütlichsten Tones.

Er schloß die Haustür hinter uns ab. Die Tür rechts, die in unser „Büro“ führte, stand weit offen. In einem Sessel lag der arme Gustav gefesselt und geknebelt und mit einem Ausdruck in den Augen, der einfach unbeschreiblich war.

Harald sagte düster: „Allan Garp ist verschleppt worden … – Dieser Mensch, der sein Todfeind ist, bringt auch mich langsam ins Grab.“

Wenn ich „Harald“ als „Harst“ hier bezeichne, so stimmt das nur bedingt. Harst war zur Zeit ein alter gebeugter bärtiger Mann im feuchten, schäbigen Lodenmantel.

„Kümmert euch um die bewußtlose Scylla“, ordnete er in seiner knappen Art an. „Ein Glück, daß ich mich beeilte, hier mal nach dem Rechten zu sehen …“

Er befreite Gustav, und der gebesserte Exsträfling, der wie betont ein sehr tüchtiger ehrlicher Bursche geworden, wollte sein vielgestaltiges Register von Kraftausdrücken spielen lassen. Er barst vor Wut.

„Schweigen Sie“, fauchte Harst ihn an. „Was ist geschehen?“

Gustav massierte eine nette Beule auf seinem Schädel und erstattete Bericht.

„Vor knapp zehn Minuten läutete es. Ich öffnete, da der Papageienonkel draußen stand und ich annahm, Sie wären es …“

Harst warf den Kopf zurück. Ein erstaunter Blick traf den jetzt kleinlauten Kautschuk-Gustav.

„Unglaublich!! – „Er“ weiß alles … Da kann man noch so oft die Maske wechseln! – Weiter!“

„Der Mann kam herein, nickte uns zu und tat sehr erschöpft und füllte sich ein Glas mit Kognak und trank. Dann – schlug er zu … Und wie!! So etwas von Fixigkeit im Gummiknüppelgebrauch stellt einen Rekord dar. Ich knickte um, Allan knickte um, und selbst die tapfere Scylla bekam eins übergezogen. Mehr weiß ich nicht. Ich erwachte sehr bald, aber da war das Zimmer leer …“

Harst hatte sich mit versteinertem Gesicht in den Schreibsessel niedergelassen.

Scylla winselte, rappelte sich hoch und kroch zu Gustav, der sie zärtlich auf den Schoß nahm.

„Geben Sie mir mal den Stoffetzen“, meinte Harald versonnen.

Die Hündin hielt den schwarzen Lappen noch immer zwischen den Zähnen.

Harst betrachtete das Stück Stoff.

„Von einer Frackhose …!“, entschied er. „Fred, brühen Sie Kaffee auf. Wir müssen Kriegsrat halten. Hier geht es um Menschenleben.“ Er sprach ruhig und gleichgültig. Aber ich kannte diesen Ton. Harald war in diesem Stadium eisgekühlten Abwägens jeden Wortes und jeder Geste am gefährlichsten.

Er nahm eine Zigarette, rauchte still und schwieg, bis Fred mit dem Teebrett wieder erschien.

Wir setzten uns um das Tischchen vor dem Kaminofen, und nachdem Harst eine Tasse brühheiß und schluckweise getrunken hatte, begann er seinen Vortrag.

Wir drei andern spitzten die Ohren … Nur Gustav goß sich heimlich in den Kaffee ein Quantum Kognak, das einem normalen Menschen zu einem Kater verholfen hätte.

 

6. Kapitel.

Der Brief im Futter.

Harst begann:

„Der Fall oder besser die beiden Fälle „Allan Garp“ sind in groben Umrissen geklärt. Irgend jemand – ich schickte euch die von mir herausgesuchten Anzeigen aus den Zeitungen des Vorjahres – legte es darauf an, Garp mit seinem Onkel auseinanderzubringen. Der Jemand warb drei üble Burschen an, und Ellen Garp wurde totgefahren, Allan verurteilt. Alle Bekannten mieden Garp, nur Lohr hielt zu ihm, der Ellen eifrig umworben hatte. Doktor Lohr hatte die Geschwister in Potsdam kennengelernt, und – sehr wichtig! – sein Spürsinn regte sich, als er merkte, wie kühl Allan und Ellen miteinander standen. Er als Kriminaltheoretiker witterte hier ernstere Ursachen, und er wich zum ersten Male von seiner bisherigen Methode ab und spielte Ellens Bewerber. Das hat er mir selbst erklärt.“

Fred riß verwundert die blauen Augen auf.

„Er spielte nur Bewerber?!“

„Ja … Er war von der Theorie zur Praxis übergegangen, aber seine Erfolge blieben gleich Null. Dann kam die Aprilnacht, – Ellen war tot. … – Wir waren damals im Ausland, und für uns blieb der Fall ohne Bedeutung. Dies änderte sich, als Allan hier bei uns Schutz suchte. Ich blätterte die alten Zeitungsbände durch, und ich stieß auf die „Zaunlattenfabrik“, nachdem ich bereits gelesen hatte, daß „Zaunlatte“ in dem Prozeß als Zeuge aufgetreten war. – Soweit seid ihr im Bilde. Nun kam Doktor Lohrs Anruf, wir möchten ihn besuchen. Lohr hat uns nicht angerufen. Es war der „Jemand“, der große Unbekannte …“

Harst wehte die Zigarettenwölkchen zur Seite.

„Ich war leichtsinnig, das gebe ich zu … Ich hatte mich bluffen lassen … – Du besinnst dich auf den Überfall, mein Alter“, wandte er sich an mich. „Dieser Überfall, das betonte ich schon im Walde, war etwas wirr, konfus und klappte nicht. Die Leute, die uns mit den Gaspistolen betäubten, gehörten zur dritten Gruppe.“

Gustav brummte sehr bestimmt:

„Gruppe Musikus und verschleierte Dame.“

„Das trifft zu, lieber Schmiedecke“, nickte Harald zerstreut. „Ich muß mich geistig erst sammeln, denn die damaligen Vorfälle sind äußerst verworren. Außerdem bin ich bis zu einem bestimmten Grade zum Schweigen verpflichtet, und dies erschwert mir eine leidlich klare Darstellung. Nehmen wir also an, mein Alter, zwei Parteien hatten es auf uns beide abgesehen, und die eine, die mit der Limousine, kam der anderen zuvor.“

„Gruppe Musikus mit Gaspistolen, also Gruppe drei“, warf Gustav ein und trank schnell seinen Kaffee, der nur noch Kognak war.

„Immerhin“, fuhr Harst fort, „wurde dadurch das gefährlichere Attentat vermieden, die Leute der Gruppe drei verscheuchten Herrn Jemand und die Zaunlatte, und Herr Jemand knallte Zaunlatte nieder, weil der Mann ihm unbequem wurde, ein Holzstoß lohte auf, ich erwachte, und eine weinende Frau klagte mir ihr Leid, und ich … verschwand. – Das mag genügen. – Doktor Lohr ist schuldlos, er sollte getötet werden, er hatte Glück, Garp sollte als Raubmörder hingestellt werden, er entfloh. Heute nacht hat der Herr Jemand auch Stotter-Fred und Krokodil stumm gemacht, nachdem die beiden ihm Lohrs Aufzeichnungen geholt und die Kleidungsstücke beschmutzt hatten, damit Lohr nun in Verdacht geriete, bei alledem eine zweideutige Rolle zu spielen. Die Sachen soll Fred nachher sofort verbrennen, aber gründlich, da die Polizei euch zweifellos erneut vernehmen wird. Lohr ist nicht der Mann aus dem Paradies-Hotel und aus dem Blauen Schwan. Daß dürfte euch nun einwandfrei klar sein. – Hier habt ihr noch ein paar erneute Anzeigen. Ich muß mich verabschieden. Ihr hört schon zur rechten Zeit von mir. Ich verlasse das Haus durch den geheimen Ausgang zur Parallelstraße. Die Dinge liegen sehr ernst, nehmt euch also in acht. Bisher habe ich – und das ist die Wahrheit – nicht die geringste Ahnung, wer der Herr Jemand sein könnte, der mit Lohr einige Ähnlichkeit haben muß. – Lebt wohl.“

Er drückte uns fest die Hand und entfernte sich durch den Keller. Minuten später schlüpfte er in den Stall seines Grundstücks und bereitete sich im Bodenraum ein ärmliches Lager, stellte ein Telefon neben sich und legte einen zweiten Hörer dicht an sein Ohr. Dann schlief er vor Abspannung ein. Er mußte schlafen, er wußte genau, daß an seinen Körper sehr bald noch ärgere Anforderungen gestellt werden würden. –

Ich las die Anzeigen, die Harst ausgeschnitten und uns zurückgelassen hatte.

1.) „Zaunlattenfabrik sucht die vor einem Jahr entlassenen drei Arbeiter. – A. B. C. 100.“

2.) „Zaunlatte und Teilhaber 2. Mai elf abends Autofahrt, Beginn Ecke Gartenstraße. – Auguststraße. – A. B. C. 100.“

Fred, Gustav und mir waren diese Anzeigen inhaltlich durchaus verständlich. Der Herr Jemand hatte wieder Helfershelfer gebraucht, hatte die drei nicht aufstöbern können und daher annonciert. Die zweite Anzeige besagte, daß er die drei dann in seinem Auto abgeholt und im Auto mit ihnen verhandelt hatte.

– Wer war der Mann?!

Wer war die Verschleierte und der alte Musikus mit der verbogenen Brille?

Alles Hin- und Herraten half da nichts. Wir waren auch müde und ohne den richtigen Eifer, der ganze Fall bot so gar keine Handhabe, dieser Todfeind Garps verfügte über eine Intelligenz, der wir nicht gewachsen waren.

Gustav schlief im Sessel ein, Fred auch, ich döste vor mich hin, und dann fielen mir die Kleidungsstücke ein, die verbrannt werden sollten.

Ich ging in die Küche, entzündete ein Höllenfeuer und schob den Hut hinein, dann die Morgenschuhe, nur den Mantel untersuchte ich gründlich, – es war so eine Art Augenblickseingebung.

Die eine Tasche war abgetrennt. Ich befühlte das Futter, – und dann hielt ich eine brüchige Papierkugel in den Fingern, die ich nachher am Schreibtisch vorsichtig entfaltete.

Ein Brief, sehr feines Papier, ein zarter Parfümduft, eine energische große steile Damenhandschrift.

Der Brief trug das Datum des vorjährigen März.

Lieber Richard!

(Also war Lohr der Empfänger)

„Unsere vielleicht etwas eigenartige Freundschaft gibt mir immerhin das Recht, dich vor einem übereilten Entschluß, den ich voraussehe, dringend zu warnen. Wir haben in vielem die gleichen Interessen, du als Kriminaltheoretiker, ich als deine – sagen wir – Konkurrentin. Du scheinst dich zur Zeit auf ein Abenteuer eingelassen zu haben, dessen Entwicklung ich mit wachsendem Befremden beobachte. Wahrscheinlich gehen meine Ermittlungen in anderer Richtung, ich halte mich für verpflichtet, dich als Freund nachdrücklichst zu warnen. Das Mädchen verdient zweifellos die Kälte, mit der ihr Bruder ihr gegenübertritt, und dein „Experiment“, lieber Richard, kann die unangenehmsten Folgen haben. Jenes Mädchen ist ein Blender besonderer Art, und du wärest niemals auf den Gedanken verfallen, deinen Weg der rein theoretischen Forschungen zu verlassen, wenn nicht ein persönliches Interesse mitspräche, das du, im Grunde ein blinder Idealist trotz deiner kosmopolitischen Spötterallüren, in grauem Katzenjammer – verzeihe schon – enden sehen wirst, denn niemand kann zween Herren dienen, und …“

Hier fehlte ein Streifen des Briefes, er war abgerissen worden, und dazu hatte Doktor Lohr noch quer über den Brief geschrieben – mit Blaustift, dick und in verärgerter Stimmung und mit drei Ausrufungszeichen:

Eifersucht!!! Pfui Teufel!!

Hinter mir schnarchten Gustav, Fred und Fräulein Scylla wie alte Sägemaschinen.

Und ich hielt hier endlich den ersten Hinweis auf die Verschleierte in Händen. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß sie mir über diese Ellen Garp recht genaue Auskunft hätte geben können, aber ich sagte mir gleichzeitig, daß diese Frau wahrscheinlich längst Harst alles Nötige mitgeteilt habe, mit dem sie nun zusammen an der Auffindung des Herrn Jemand arbeitete. Die Frau zu suchen war also zwecklos – – vielleicht zwecklos, man mußte eben abwarten und prüfen, ob ein Eingreifen unsererseits (hierzu rechnete ich Fred, Gustav und mich) nötig werden würde.

Bereits um Elf vormittags meldete sich die hohe Behörde bei uns. Aber bei der umständlichen Vernehmung kam nicht viel heraus. Ich blieb bei der Wahrheit, jedoch selbst „Wahrheit“ ist ein relativer Begriff, ich gab zu, Doktor Lohr hätte uns in der Nacht zu sich gebeten, da ihm Aufzeichnungen gestohlen waren. – Über die wichtigsten Punkte ging das Verhör großzügig hinweg, und als die beiden ernsten Herren uns verließen, waren sie um nichts klüger, wir dagegen wußten, daß bei der Polizei „jemand“ angerufen und Lohr verdächtigt hatte, die beiden Einbrecher erschossen und verbrannt zu haben. – Herr Jemand war leider nicht auf seine Kosten gekommen. Die Scheinbeweise für Lohrs Schießwut und Tätigkeit als Einäscherer lagen als Asche im Müllkasten bei uns. – –

Im nördlichen Teile der Provinz Brandenburg gibt es ein Gebiet, das aus Seen, Sümpfen, uralten Wäldern und unfruchtbarer Heide besteht. Diese ganzen endlosen Ländereien hatten vor Monaten den Besitzer gewechselt, und der neue Rittergutsbesitzer dieser romantischen Wüsteneien tat alles, das Rittergut Steubenhorst nur für seine Jagdpassion herzurichten, das heißt, er bebaute die Felder nur, damit die Hasen, Rehe und Hirsche reichlich Äsung fänden, er stellte zuverlässige, verschwiegene Wildhüter ein und fand seine bisherigen Gutsarbeiter großzügig mit hohen Summen ab und entvölkerte so das Dörfchen Steubenhorst derart, daß sogar die Autobuslinie dorthin im Frühjahr eingestellt worden war.

Für einen Mann, der sein halbes Leben im tropischen Dschungel zugebracht hatte und der als vielfacher Millionär jeder Schrulle nachgehen konnte, war Steubenhorst ein idealer Wohnsitz.

Das alte Schloß, vollkommen von Efeu umrankt und von einem Riesenpark umgeben, enthielt nun die riesigen exotischen Sammlungen des Herrn Theodor Gallandy, der in den Sälen und Zimmern ein Stück Indien hervorgezaubert hatte. Zahllose Möbelwagen hatten diese Schätze des Orients herbeigeschafft, und ein Dutzend indischer Diener nebst Weibern und Kindern huschten lautlos durch das Schloß und verehrten ihren weißen Sahib wie einen Gott.

Gallandy, ein graubärtiger, straffer Sechziger mit durchdringenden schwarzen Augen, war ein ebenso leidenschaftlicher Reiter wie Jäger. Als er in das Schloß einzog, hatte er alle europäischen Arbeiter weggeschickt. Drei etwas seltsame Möbelwagen hatten dann noch tagelang auf dem Hofe gestanden und waren nachher zum Teil verbrannt worden.

Der neue Herr von Steubenhorst hütete sich, allzu viel Aufsehen zu erregen, er war ein guter Menschenkenner und wußte die Macht des Geldes richtig zu gebrauchen.

In der Umgebung redete man kurze Zeit von dem früheren Plantagenbesitzer, dann kümmerte sich niemand mehr um ihn.

Während der letzten Tage war Gallandy unpäßlich gewesen, und wenn ihn wieder einmal die Malaria packte, durfte nur sein Diener Ahmed zu ihm.

An demselben Tage, als uns Allan Garp entführt worden war, saß um die Nachmittagsstunde der Herr von Steubenhorst auf der großen Schloßterrasse und blinzelte etwas müde in die durch die Parkbäume verdeckte Sonne.

Sein hartes, scharfes, braunes Gesicht zeigte einen finsteren, nachdenklichen Zug.

Jessy, Ahmeds älteste Tochter, brachte ihm Tee und Gebäck. Er lächelte das Mädchen freundlich an und staunte wie schon so oft ihre vollendete Grazie und ihre nur leicht getönten feinen Züge an, die ihn immer wieder daran erinnerten, daß die Nordweststämme Indiens ursprünglich Arier gewesen.

„Etwas Neues, Jessy?“, fragte er mehr aus alter Gewohnheit.

„Mr. Chester Morwyn ist überraschend eingetroffen“, sagte das Mädchen in fließendem Deutsch, aber äußerst kühl.

„Ah – Morwyn?! Wo kommt der denn her?! Seine letzte Karte erhielt ich aus Portugal … – Gut, er soll sich herbemühen, Kind …“

Als die hellhäutige Inderin still davongehuscht war, setzte Gallandy sich straffer hin und streichelte seinen Bart.

Was mochte Morwyn hierher führen?!

… Gallandy verspürte eine leichte Unruhe. Sein ehemaliger, so äußerst tüchtiger Plantagendirektor kam ihm nicht sehr gelegen. Diese häßlichen Geschichten, die Allan da in Berlin begangen, empfand Gallandy als persönliche Schmach. Hoffentlich war Morwyn taktvoll genug, diese Dinge nicht zu berühren.

 

7. Kapitel.

Bechert und Chester Morwyn.

Chester Morwyn war ein hochgewachsener, vornehmer Engländer von tadellosem Benehmen und unauffälliger Eleganz.

Die Begrüßung zwischen den beiden Männern, die sich so lange nicht wiedergesehen hatten, war herzlich, jedoch ohne Überschwang. Als Gallandy über die Malaria klagte, lächelte Morwyn tröstend. Sein Lächeln hatte etwas ungemein Bestechendes an sich.

„Ich bitte Sie, was tut das bißchen Malaria bei Ihrer kernigen Gesundheit, Mr. Gallandy!“

„Das sagen Sie! Aber liegen Sie mal drei Tage mit Fieber zu Bett!“

Jessy brachte Wein, Zigarren, Zigaretten und entfernte sich wieder.

„Wie steht’s mit Ihren Geschäften in Portugal, Morwyn?“, lenkte der Schloßherr auf ein anderes Thema über. „Wird die Regierung Ihnen die Kolonialkonzessionen gewähren?“

Der andere schnippte die Zigarettenasche ab. „Das hängt von der Höhe der Bestechungsgelder ab“, meinte er ironisch. „Ich lasse die Leute etwas zappeln … Wer sofort zahlt, zahlt stets zuviel.“

Gallandy schmunzelte. „Also noch immer so schlau wie einst!! – Morwyn, was führt Sie nach Berlin? Auch wieder Ihre Unrast, stets neue Projekte zu verwirklichen?“

Der elegante Mann mit den leicht angegrauten Schläfen lächelte wieder. „Allerdings … Besprechungen mit einem Konzern. Abends fliege ich wieder gen Portugal zurück, ich wollte Ihnen doch wenigstens einen kurzen Besuch abstatten, Mr. Gallandy, zumal ich …“ – er wurde ernst und streckte dem Alten die Hand hin – „annehmen durfte, Sie würden den Trost eines wahren Freundes sehr nötig haben. Zu meinem größten Bedauern las ich von …“

Gallandy wehrte schroff ab. „Morwyn, bitte, – davon kein Wort!! Ich habe unter all das längst einen dicken Strich gezogen, und …“ – er hustete plötzlich sehr kräftig und wurde unruhig, klapperte mit einem Löffel auf das silberne Teebrett und schaute Morwyn forschend an.

Der Wind kam von Westen, und dieser Wind hatte soeben sonderbare, unheimliche Töne aus weiter Ferne herübergetragen.

Morwyn horchte. „Was war das?!“

„Meine Hunde“, sagte Gallandy schnell. „Die Köter wildern …“ –

Hinter dem Vorhang der Flügeltür der Terrasse stand die schlanke, hübsche Jessy, und dicht neben ihr ein ärmlicher gebeugter alter Europäer, in dessen Perücke noch ein paar kleine Strohhalme hingen als Zeichen seiner bescheidenen Lagerstatt auf einem Stallboden.

Als Morwyn Miene machte, sich nach einer halben Stunde zu verabschieden, führte die hellhäutige Orientalin den alten Mann schnell zu einer Seitenpforte, und als Morwyns Mietauto das kleine Dorf verließ, knatterte hinter dem Wagen ein Motorrad her, dessen Besitzer einen prall gefüllten Rucksack trug.

Der Radler hielt sich stets in vorsichtigem Abstand und ließ dem Auto einen großen Vorsprung. Drei Kilometer hinter Steubenhorst nach Berlin zu tippelten drei Landstreicher die Chaussee entlang, und dieses Trio fiel nur deshalb ein wenig auf, weil der eine der Pennbrüder einen Hund an der Leine hatte, einen schwarzen, fetten Pudel, der höchst unlustig die Fußtour mitmachte.

Als das Auto an den dreien vorüberglitt und eine mächtige Staubwolke aufwirbelte, sagte Kautschuk-Gustav zu Fred und mir:

„Es war die Nummer!! Der Deubel werde daraus schlau!“

Der Deubel kam nun auf einem Motorrad angesaust und glich durchaus einem ländlichen Händler und nicht mehr dem Vertrauten Jessys, dem Gebeugten. Er stoppte kurz.

„Hallo, – ihr wißt Bescheid…!“ Dann lachte er über den „Pudel“. „Gustav, Ihre Scylla hat sich mächtig verändert!“

„Ja, durch einen alten Krimmermantel!“, knurrt“ Gustav. „Sie hetzen uns hin und her wie die Hasen, und …“

Der Radler schoß bereits davon.

Das Auto, das scheinbar bisher auf kürzestem Wege nach Berlin hatte zurückkehren wollen, lenkte jetzt in einen Feldweg ein und fuhr langsamer.

Chester Morwyn hatte sich vorgebeugt und sprach mit dem Schofför.

„Herr Kommissar …“, – er beherrschte das Deutsche völlig fließend – „das, was Sie von mir verlangen, geht mir allzu sehr wider mein Gefühl. Ich habe bei Gallandy gar nichts ausrichten können, und ich halte Ihren Verdacht für vollkommen hinfällig. Gallandy will von Garp nichts mehr wissen, und es ist ganz ausgeschlossen, daß er seinen Neffen bei sich verbirgt.“

Kriminalkommissar Bechert, übrigens ein alter lieber Bekannter von uns, mäßigte die Geschwindigkeit noch mehr und lenkte den Wagen in ein Gebüsch.

„Darüber müssen wir uns gründlicher aussprechen, Herr Morwyn“, begann er von neuem, nachdem er sich eine Zigarre angezündet hatte. „Ich betone, daß die anonyme telefonische Denunziation sehr bestimmt lautete. Unsere schleunigen Ermittlungen ergaben, daß eine Limousine, die die Nummer des Wagens Gallandys trug, heute früh in fünf Dörfern gesehen worden ist.“

Der hochgewachsene Morwyn war ausgestiegen und schaute den Beamten überlegen an. „Ich kenne Gallandy besser als Sie, Herr Kommissar. Gallandy kann sich nur schwer verstellen. Er hat bestimmt ein reines Gewissen. Und Autonummern und Benzwagen?! Lieber Gott, Nummerschilder lassen sich fälschen, und Benzlimousinen gibt es übergenug.“

Der Schofför Bechert nickte widerwillig. „Alles ganz schön, Herr Morwyn … Nur … – wer hatte ein Interesse daran, die Polizei derart zu foppen?! Wer machte mich auf Ihre Person aufmerksam als auf einen nützlichen Helfer?! Bedenken Sie, wir hatten keine Ahnung, daß Sie im Paradies-Hotel abgestiegen waren, und im Grunde wußten wir überhaupt nichts von Ihrer Existenz.“

„Sollte da nicht ein gewisser Herr die Finger mit in dieser unappetitlichen Brühe haben, Herr Kommissar?! Ich las in den Zeitungen, Harst sei seit Tagen nicht aufzufinden. Ich kenne den Mann nur vom Hörensagen … Er soll jedoch oft allzu rührig sein und der Polizei die Arbeit nur erschweren.“

Bechert horchte auf, blieb jedoch äußerlich gleichgültig.

„Harst?! Schon möglich…! Der Mensch ist zu vielseitig, milde ausgedrückt. Nur, – was sollte er beabsichtigen?! Die Sache liegt doch nun so, daß Lohr mit aller Bestimmtheit für Allan Garp eintritt, das wissen Sie. Wir tappen da blind im Kreise umher. Wer feuerte auf Lohr, wer stahl das Geld?! – Gewiß, wir trauen Doktor Lohr nicht … Nein, aber diese Fährte, die nach Schloß Steubenhorst führt, hat doch zu viel sichere Merkmale … Allerdings, Ihre Angaben über den alten Gallandy verleihen der Sache ein anderes Aussehen. – Wozu raten Sie, Herr Morwyn?“

Der Engländer überlegte. „Ich … würde Lohr verhaften … Ich würde zweitens Harsts Wohnung genau beobachten oder noch besser sie genauestens durchsuchen. Ich werde den Eindruck nicht los, daß dieser allzu eigenmächtige Privatdetektiv Allan Garp schützt.“

„So?!“ Bechert schüttelte den Kopf. „Ein scheußlicher Wirrwarr!! – Ach was“, fügte er ärgerlich hinzu. „Kehren wir nach Berlin zurück … Sie müssen ja ohnedies das Nachtflugzeug nach Amsterdam benutzen, ich darf Sie nicht länger in Anspruch nehmen. – Gestatten Sie, – ich muß nur mal etwas abseits gehen …“ – er lächelte vielsagend und tauchte in den Büschen unter.

Chester Morwyn blickte ihm mit zugekniffenen Augen nach. Ihm war seit heute mittag nicht recht behaglich zumute, er besaß ein außerordentliches Feingefühl für drohende Gefahr, und doch vermochte er sich nicht darüber klar zu werden, was hier eigentlich gespielt wurde. Daß dieser Harst hinter alledem als treibende Kraft steckte, ahnte er wohl. Ob Harst alles wußte, hielt er für unwahrscheinlich und sogar für ausgeschlossen.

Seine starken, geschwungenen Brauen zogen sich unmutig zusammen, über der Nasenwurzel erschienen tiefe Falten, und der Gedanke an Doktor Lohrs Manuskript steigerte noch seine Unsicherheit.

Als der „Schofför“ Bechert wieder erschien, war Chester Morwyn nichts anzumerken, und gleich darauf wendete das Auto und nahm im schnellsten Tempo die Richtung nach Berlin.

Kaum hatte der Wagen ein Wäldchen an der Chaussee durchquert, als der ländliche Händler sich aus seinem Versteck erhob und sein Rad bestieg. Er fuhr den Landweg entlang, stoppte an den Büschen und fand schnell die Stelle, wo der Kommissar vorhin den eiligst bekritzelten Zettel niedergelegt hatte.

Er entzifferte folgendes:

„Lieber H., Morwyn war eine Niete. Der Mann ist zu schlau. Er fährt nachts 10.15 nach Amsterdam ab Flughafen. – B.“

Harst verbrannte mit einem sehr ironischen Augenzwinkern den Zettel und nahm die Verfolgung des Autos wieder auf. Sein starkes Motorrad fraß die Kilometer, und sein kühler Kopf verbiß sich mit immer wachsender Hartnäckigkeit in die sorgfältig abgewogene Überzeugung, doch auf der richtigen Fährte zu sein, obwohl selbst ihm der eine Punkt vollständig dunkel blieb, wie der mehrfache Mörder das Millionenvermögen Gallandys sich anzueignen hoffte.

 

8. Kapitel.

Der fremde Stromer.

… Niemand wird es mir verargen, daß ich die Vorgänge des Falles „Allan Garp“ so schildere, wie sie dem Leser am schmackhaftesten sein dürften.

Greifen wir also nach dem soeben geschilderten Intermezzo einige Stunden zurück. – Es war gegen elf Uhr vormittags, als der Mann auf seinem bescheidenen Stallbodenlager des Harst’schen Grundstückes durch eine Stimme erwachte, die etwas gedämpft an sein Ohr schlug. Der Hörer, den er neben seinen Kopf gelegt hatte, meldete sich, und der Mann hatte einen sehr leichten Schlaf, war im Nu munter und sprach in die Muschel hinein: „Hier Heuboden!“

Ein sanftes Lachen folgte vom andern Ende der Leitung, und das sagte eine melodische, ernste Frauenstimme:

„Ich habe ihn! Er ist hier!“

Harst war nun doch überrascht. „Eine Frechheit von dem Menschen, liebe Frau Berndt! – Etwa im Paradies?“

„Natürlich. Heute früh eingetroffen. Sie hatten also in der Fremdenliste vom März des Vorjahres doch den Richtigen herausgefunden.“

„Aber erst, nachdem Sie mir den Namen des Plantagendirektors beiläufig genannt hatten …“

„Ja, – nur beiläufig. Der findige Kopf waren Sie, und Ihre Anweisungen, mich mit dem Portier durch einen papiernen Händedruck von dreihundert Mark anzufreunden, haben nun die besten Früchte getragen. Der Portier rief mich sofort an und beteuerte, es sei derselbe Herr von damals, eben Morwyn, Kaufmann …“

„Morwyn, der so töricht war, an dem kritischen Abend vor einem Jahr allzu vermummt das Paradies zu verlassen“, sagte Harst etwas geringschätzig. „Selbst die schlauesten Verbrecher begehen grobe Fehler. Nur durch den Portier bin ich auf ihn aufmerksam geworden. – Geben Sie nun schleunigst Gallandy Nachricht … Wir müssen Morwyn und den alten Herrn zusammenbringen. Gallandy soll sehr vorsichtig sein. Am besten, Sie sagen ihm nichts davon, daß der Fall für uns bis auf den Endzweck vollkommen klar liegt. – Ich habe Eile … Schluß.“

Harst legte den Hörer weg, und eine Dame schlüpfte aus der Torpforte der stillgelegten Meierei, die an das Harst’sche Grundstück anstieß und in der Parallelstraße lag.

Gleich darauf schlug im Polizeipräsidium in Kommissar Becherts Dienstzimmer das Telefon an. „Hier Harst … Ja, Sie staunen, alter Freund … Aber zu langen Redensarten habe ich keine Zeit. Hören Sie genau zu und notieren Sie: Der Mann, der Allan Garp ins Gefängnis brachte und den Doktor Lohr überfiel, das Geld raubte und seine Helfershelfer niederknallte und verbrannte, ist heute im Paradies-Hotel abgestiegen und heißt Chester Morwyn …“

Bechert fiel rasch ein: „Machen Sie Witze, Harst?!“

„Nein. Schreiben Sie weiter … – Sie müssen diesem Morwyn gegenüber Komödie spielen, von einer anonymen telefonischen Meldung sprechen und Morwyn bitten, Ihnen zu helfen, da Garp wahrscheinlich bei seinem Onkel Gallandy, dem Rittergutsbesitzer auf Steubenhorst, sich verberge …“

Der Kommissar, der zuerst zu träumen glaubte, begriff allmählich.

„… Abgemacht … Geht in Ordnung, lieber Harst. Wir danken Ihnen vorläufig …“

Harst hatte sich sehr kurz gefaßt und dabei all die Klippen umschifft, die ihn genötigt hätten, zu viel preiszugeben.

Uns rief er an, nachdem die Kriminalbeamten nach der umständlichen und ergebnislosen Unterredung sich kaum entfernt hatten.

Seine Befehle an uns überraschten uns vollkommen. Daß Garps Onkel Theodor Gallandy nach Deutschland zurückgekehrt war, stellte vielleicht die zweitwichtigste Neuigkeit dar. Noch eindrucksvoller war freilich die Mitteilung, daß der alte Musikus aus dem „Blauen Schwan“ die Entführer Allan Garps bis in die Nähe der Südgrenze der Ländereien Gallandys verfolgt, dort aber aus den Augen verloren habe.

„Es ist nicht ausgeschlossen, daß ein gewisser Morwyn dort irgendwo aus noch unklaren Gründen den armen gehetzten Garp gefangen halten will, um ihn zu jeder Zeit zur Hand zu haben, wenn er seine Endpläne vorbereitet … – Ihr wißt nun, was eure Aufgabe ist. Nehmt Kautschuk-Gustav mit, denn ich traue ihm eine große Portion Findigkeit zu …“

Gustav war stolz und trank zwei Gläser Kognak und steckte nachher zwei Flaschen Kognak zu sich.

Ich weiß nicht, ob sein Hirn durch den Kognak oder trotz des Kognaks so prompt arbeitete. –

Am späten Nachmittag (das erwähnte ich schon) tippelten drei Stromer und ein Hund die Chaussee gen Steubenhorst entlang. Der Motorradler amüsierte sich über den Pudel, und Gustav sprach etwas von gehetzten Hasen, obwohl doch nur der nette junge Allan das Opfer schändlichster Intrigen war.

Fred Steen, der ein Mundwerk wie ein Mühlrad besitzt, wurde immer schweigsamer, je mehr wir uns der ersten Station unseres Marsches und damit zugleich dem ersten Teil unserer Aufgabe näherten. – Vor dem Dörfchen Steubenhorst lag da abseits von der Chaussee in einem wundervoll gelegenen Garten eine einzelne größere Villa mit der Front nach dem Steubensee zu, – nicht gerade Villa, mehr ein idyllischer Sommersitz irgend eines reichen Berliners. Der dichte Mischwald zog sich bis dicht an die Südostecke des Gartens hin, und als wir hier in einem Gebüsch nun vorläufig unser Lager aufschlugen, tauchte zu unserer peinlichen Überraschung ein „Kollege“ auf, ein baumlanger Kerl mit einem fuchsigen Bart und Haarwuchs, und begrüßte uns mit der rauhen aber herzlichen Art, die zwischen Stromern nun einmal Sitte ist. Unsere unfreundliche Haltung störte ihn nicht im mindesten, er setzte sich unaufgefordert zu uns und wenn je ein Mensch uns ungelegen kam, dann war es dieser unverschämte, großspurige Schwätzer, der mit dem feinen Instinkt der Enterbten sehr bald heraushatte, daß Kautschuk-Gustavs Scylla mit dem Krimmerpelz ein mißglückter Terrier in Wahrheit sein mußte.

Wir wußten nicht recht, was wir aus diesem anmaßenden, zweifellos arg entgleisten Burschen mit der teils rüden, teils sehr gewählten Ausdrucksweise machen sollten. Wenn wir nicht gewußt hätten, daß Chester Morwyn auf dem Rückwege nach Berlin sich befände, hätten wir allen Grund gehabt, diesen seltsamen „Kollegen“ schon seiner scharfen Züge wegen für Morwyn zu halten, da unzweifelhaft eine gewisse Ähnlichkeit, die ja auch durch das Bild bestätigt worden, das die Verschleierte dem Wirt vom Blauen Schwan und uns vorgewiesen hatte, war mit der Anlaß gewesen, daß wir Richard Lohr – besonders ich – anfänglich so hartnäckig mißtraut hatten.

Der Mann, der nun zwischen uns im Gebüsch sich rekelte und seine erbettelten Brotschnitten, Wurst und Käse verzehrte, wurde mir noch unheimlicher, als er, gleichsam unsere geheimsten Gedanken erratend, nach der Sommervilla hinüberdeutete und kurz fragte: „Wie wär’s damit?! Die Besitzerin ist nicht daheim, die beiden Wachthunde sind faul und rühren sich nicht, und von Dienstboten sind nur ein alter Gärtner, die Köchin und ein Stubenmädchen vorhanden …“

Gustav, doch ein Fachmann von einst, erwiderte grob: „Solche Zicken, – – nich in die Hand!! Da such dir nur andere …“

Der Kerl grinste höhnisch. „Memmen!! Wo doch die Gnädige im Schlafzimmer einen Wandtresor hat!! Das Geschäft wär ein Kinderspiel, wenn ihr nur ein bißchen Schmiere stehen wolltet.“

In meinem Hirn spielten sich blitzschnell die merkwürdigsten Denkvorgänge ab. Ich hatte nicht umsonst mit Harst über ein Jahrzehnt zusammengelebt. Es mußte mir hier verschiedenes auffallen, und ich sah es auch Freds und Gustavs Gesichtern an, daß sie gründlich stutzig geworden waren. Harsts Befehl, Teil eins, hatte gelautet, in die Villa einzusteigen und den Wandtresor auf bestimmte Schriftstücke zu durchsuchen. Den Namen des Sommervillenbesitzers hatte er nicht genannt.

„Wie heißt die Dame?“, fragte ich möglichst gleichgültig.

Die kalten und doch stechenden Augen des Fremden hafteten prüfend auf meinem Gesicht. Es dämmerte bereits, und der Mann schöpfte keinen Argwohn.

„Sie heißt Alice Berndt, eine junge reiche Witwe“, erwiderte er, an seiner Pfeife saugend, in der er trockene Buchenblätter rauchte.

„Ihr Beruf?“

„Beruf?!“ Er lachte … Und trotz der beißenden Ironie, die um seine Mundwinkel zuckte, hatte dieses Lachen etwas bestrickend Liebenswürdiges und Humorvolles an sich. „Beruf?! Als Alice Berndt ist sie nicht bekannt, aber ihr Pseudonym Alexander Berner glänzt auf Hunderttausenden von Kriminalromanen. Weiß Gott, – die Frau besitzt Fantasie. Und – – verdient klotziges Geld!“

In meinem aufgerührten Hirn schwamm jetzt ein gewisser Brief aus einem gewissen verbrannten Mantel an der Oberfläche. – Alice Berndt also war die „Konkurrentin“ Doktor Lohrs!!

Mir fiel’s – es ist eine abgedroschene Redensart! – wie Schuppen von den Augen! Diese junge Witwe war die „Verschleierte“, ihre Freundschaft mit Lohr hatte insgeheim, wenigstens bei ihr, die schmale Grenze zur Liebe längst überschritten, auch sie war zweifellos dem Fall Allan Garp aus Fachinteresse gründlichst nachgegangen und hatte wie ich anfänglich, gegen Lohr Verdacht geschöpft.

Ein Glück, daß die Dunkelheit nun schnell zunahm …

Der Fremde behielt mich im Auge, und die Erregung, die mich unwillkürlich ergriffen hatte, mußte sich auf meinen Zügen widerspiegeln. In solchen Fällen gähnt man am besten recht herzhaft … Der Mann ließ sich täuschen.

Eine innere Stimme sagte mir, daß der Fremde, irgendwie mit Chester Morwyn, dem vielfachen Mörder, im Bunde stehe. Ich überlegte nochmals: Konnte es nicht doch Morwyn selbst sein?! Konnte er nicht Bechert unterwegs stumm gemacht und ebenso Harst beseitigt haben und umgekehrt sein?! – Möglich war alles, Morwyn kannte ja keine Gewissensbedenken, Morwyn hatte so ungeheure Schändlichkeiten begangen, daß man bei ihm mit jeder neuen Untat rechnen mußte. – Und dann noch die andere Frage, von der vielleicht unser Leben abhing: Hatte er uns erkannt, wußte er, wer wir waren?! – Ich zwang mich zur Ruhe. Nur jetzt nicht die Nerven verlieren! War es Morwyn?! War er’s wirklich?! Ich kam zu dem Ergebnis, daß zumindest die Wahrscheinlichkeit dafür sprach. Und dann?! Dann kannte er uns, dann hatten auch wir ein ähnliches Schicksal zu erwarten wie Zaunlatte, Stotter-Fred und Krokodil! War’s nicht äußerst verfänglich, daß auch er den Tresor Alice Berndts beehren wollte? – Was gab es da zu finden?! Geld, Schmuck?! – Wir sollten Papiere suchen, alles Schriftliche mitnehmen. Und er?!

„… So schweigsam, he?!“ Der spöttische Ton ließ mich zusammenschrecken. Ich mußte mich mehr in der Gewalt haben. Ich mußte …

Der Mann sprach schon weiter. „Na, – wie ist’s?! Die Berndt ist reich … Macht ihr mit? Ja oder nein?“

„Ja!“, sagte ich sehr bestimmt. „Wir sind so abgebrannt, daß uns mit hundert Mark gedient ist – – für’s Schmierestehen!“

„Soll ein Wort sein!“, erklärte der Fremde prompt. „Hier habt ihr das Geld … Teilt es …“ Er warf uns ein paar schmierige Scheine hin. „Weckt mich um Mitternacht … Bin hundemüde … Fast zu müde … Aber das Ding drehe ich!!“ Er wälzte sich zur Seite, schob sein Bündel unter den Kopf und war auch schon im nächsten Augenblick eingeschlafen. –

Harst und ich, in letzter Zeit auch Fred Steen haben so manche komische Situation ausgekostet. Aber diese hier?! Wir drei Pennbrüder wagten uns untereinander nicht zu verständigen. Der tiefe Schlaf des unheimlichen Burschen konnte vorgetäuscht sein. Und wir wußten ja, wie flink er mit der Pistole bei der Hand war … – Fred und Gustav saßen wie Ölgötzen da. Ich ärgerte mich über sie, – sie ahnten nicht den vollen Umfang der Gefahr. Dann streckte sich auch Gustav lang hin, Fred desgleichen, und ihr Schnarchkonzert bewies mir, wie fest sie sich auf meine Wachsamkeit verließen. – Es war nun völlig dunkel, der Mond ging auf, Grillen zirpten im Grase, Waldeulen und Fledermäuse schwebten hin und her, und ich steckte langsam meine entsicherte Pistole in die Außentasche und bremste die Unrast meiner Gedanken, die durchaus dem Endzweck des Falles Garp auf die Spur kommen wollten. Gut, – es ging um Gallandys Millionen! Aber wie wollte Morwyn, selbst wenn der einstige Pflanzer plötzlich mit Nachhilfe sterben sollte, das Riesenvermögen erbeuten?! – Über diesen toten Punkt kam ich auch jetzt nicht hinweg …

Allmählich wurde ich selbst müde … Ich nickte im Sitzen ein, schreckte hoch …

Fernher vernahm ich da zwölf blecherne Schläge einer Kirchturmuhr und gleichzeitig, vom Winde herübergeweht, seltsame Tierlaute … Ich horchte auf. Im Nu war ich vollkommen munter. Diese Tierstimmen kannte ich …

Mit einem Male erhob sich der Fremde. Ein Streifen Mondlicht beschien seine Züge.

„Wie spät?!“, fragte er gähnend.

„Ich wollte dich gerade wecken: Mitternacht!“

„Dann los! Es ist Zeit … Er stieß Fred und Gustav in die Rippen. „Faules Pack, – macht euch fertig!“

Scylla knurrte …

Der Fremde lachte still …

Es war eine unheimliche Situation. Meine rechte Hand lag auf dem Knie. Im Ärmel steckte die treue Waffe.

Eins war gewiß: Sollte es hart auf hart gehen, würde ich zuerst abdrücken.

 

9. Kapitel.

…Ich habe nur dich geliebt …

Eine Stunde vorher war lautlos eine Frauengestalt, die ihr Auto weit vor der Villa verlassen hatte, in das Haus geschlüpft. Ebenso lautlos begab sie sich in ihr Schlafzimmer im Erdgeschoß und streifte im Dunkeln bei halb offenen Fenstern einen dunklen seidenen Schlafanzug über. Sie tat es wie eine Traumwandlerin, ihre Gedanken waren anderswo, und ihr Herz war schwer von Selbstvorwürfen, die sie sich nicht ersparen konnte. Sie hatte an Richard Lohr gezweifelt, und das vergaß sie sich nicht.

Leise schlug das Telefon auf dem Nachttisch an.

„Hallo, hier einsame Villa …“

„Hier der Bewußte … Morwyn ist tatsächlich abgereist.“

„Unmöglich!“

„Doch …! – Wir haben ihn unterschätzt … Genau wie er Sie beobachten lassen wollte, also Sie als Gegnerin erkannt und gefunden hatte, hat er wohl auch gemerkt, daß seine Fahrt nach St. eine Falle darstellte. Was mich weit mehr beunruhigt, ist Doktor Lohrs Verschwinden. Ich war nur kurze Zeit in seinem Hause, der Diener wollte mir einreden, sein Herr schliefe und dürfe nicht gestört werden, als ich ihm dann sehr energisch Vorhaltungen machte und ihn warnte, gab er zu, daß Lohr noch vor Tagesanbruch mit seinem Auto davongefahren sei und sich seine – also des Dieners – Perücke geliehen habe. Offenbar ist Lohr abermals von der Theorie zur Praxis übergegangen, was nicht gerade günstig für uns sich gestalten kann, da …“

Der schwere Seufzer, der durch die Leitung kam, ließ Harst verstummen.

„Bitte – weiter!“, flehte Alice Berndt. „Sie ängstigen mich durch Ihre Andeutungen … Was befürchten Sie?“

Harst, der von einer Tankstelle wenige Kilometer vor Steubenhorst sprach, erklärte der Wahrheit gemäß: „Meine Besorgnis um Lohr ist mehr Gefühlssache. Nachdem er schon einmal als praktischer Detektiv so böse abgeschnitten hat, kann man nie wissen, was geschieht …“

Die Frau, die auf dem Bettrand saß, und den Hörer an das feine, kleine Ohr preßte, war von alledem zu benommen, um sofort einen klaren Gedanken fassen zu können.

„Aber … aber Morwyn ist doch abgereist, – wo soll da eine Gefahr auftauchen, außerdem ist dann doch dieses nächtliche Vorhaben ganz überflüssig geworden …“ – sie konnte sich nicht genügend sammeln, denn Harsts neuerliche unklare Bemerkungen über Lohr hatten ihr alles Blut aus dem feinen, stillen und abgeklärten Antlitz getrieben.

Die Leitung blieb eine Weile stumm. Harst überlegte sich die Antwort. „Mit Morwyn ist das eine eigene Sache“, ließ er sich von neuem vernehmen. „Die Gefahr bleibt bestehen, denn Morwyn muß ja noch immer unbekannte Helfer haben … Es bleibt bei unseren Vereinbarungen. Tun Sie genau, was ich Ihnen sagte. Es hängt sehr viel davon ab. Ich bin da auf zwei neue Fährten gestoßen, die sehr vielverheißend erscheinen.“ Er drückte sich äußerst vorsichtig aus, denn diese Fährten konnten auch trügerisch sein. Es waren lediglich Schlußfolgerungen, denen im Grunde die Anfangs- und Endglieder fehlten. „Machen Sie sich jedenfalls keine übertriebenen Sorgen … Vor Mitternacht wird sich nichts ereignen … Die Hunde sind doch eingesperrt? – Gut, – – ich werde hoffentlich rechtzeitig zur Stelle sein. Leider hatte ich eine Panne diese Motorräder sind wie launenhafte, verwöhnte Damen … – Man ruft mich … Der Schaden scheint doch ernsthafter zu sein. – Schluß – – Wiedersehen und Kopf hoch!! Tapfer sein, liebe Frau Alice!! Wir renken die Sache schon ein.“

Abermals seufzte die Frau halb verzagt, als sie den Hörer weglegte. – Ihre erste Ehe mit einem Manne, der erst nach der Hochzeit sein wahres Gesicht gezeigt hatte, war nur kurz und desto freudloser gewesen. Alice Berndt wurde dann aus Not Schriftstellerin, vielleicht hatten gerade ihre unglückliche Ehe und der Tiefstand der moralischen Qualitäten ihres Mannes und dessen dunkler Lebenswandel bei ihr die Neigung für die Schriftstellerei geweckt. Sie hatte Erfolg, sie ging sehr bald ausschließlich zum Kriminalroman über, und sie scheute sich nicht, um ihre Stoffe und Charaktere lebenswahr zu gestalten, in entsprechender Aufmachung die berüchtigtsten Kneipen und Tanzlokale aufzusuchen. Seltsamerweise hatten gerade diese abenteuerlichen Nächte ihrem Dasein ganz unerwartet einen andersgearteten Inhalt beschert, und nie würde sie jene Stunde vor drei Jahren vergessen, als ein zweifellos verkleideter Fremder sich in einer Kaschemme an ihren Tisch gesetzt und nach behutsamen Fragen, die sie ihrer Rolle getreu beantwortete, ihr das Angebot gemacht hatte, das mit einer einmaligen Abfindung von fünftausend Mark verbunden war. Nachdem sie erst das liebreizende Objekt dieses seltsamen Geschäfts gesehen hatte, gab es für sie kein Zögern mehr. Sie willigte ein … Der Fremde, der zweifellos fühlte daß er ein Weib von Herz und Gemüt vor sich hatte, ahnte nicht im geringsten, mit wem er es zu tun hatte, Alice hatte ihm einen falschen Namen und eine falsche Adresse angegeben. Nachdem der geheimnisvolle Handel von ihr längst vergessen war, fand sie wohl in den Zeitungen die gewissen Anfragen, aber sie antwortete nie. Diese Inserate wurden immer dringender und verhießen zuletzt neuen hohen Verdienst. Sie schwieg. Sie fühlte sich geborgen, und sie wußte noch heute nicht, wer der Verkleidete gewesen. Sie war glücklich im Besitz dessen, was sie während ihrer Ehe heiß ersehnt hatte, und als sie nun ganz leise das Nebengemach betrat, wo die treue Köchin und Hüterin schlief und ein mattes Lämpchen neben dem eleganten Kinderbett brannte, beugte sie sich mit zärtlichem Lächeln über das blonde rosige Mädchenköpfchen und hob das schlaftrunkene Bündelchen behutsam heraus. Die Kleine erwachte nicht, und Alice Berndt schlich genau so lautlos mit ihrer süßen Bürde in ihr Arbeitszimmer, wo sie, nur von den Mondstrahlen zuweilen getroffen, in dem großen Bücherschrank das unterste Mittelfach mit Kissen füllte und die kleine Irmi samt ihren Betten hineinschob und die Tür nur anlehnte.

Dann setzte sie sich in einen Sessel in die dunkelste Ecke neben dem Schrank und breitete eine Decke über ihre Knie. In ihrem Schoße lag eine winzige Selbstladepistole. Der eine Flügel der Tür nach ihrem Schlafgemach stand weit offen, und sie konnte genau die Stelle erkennen, wo an der Wand der kostbare Leistikow, ein sehr bekanntes Gemälde, hing und die Schnitte in der Tapete, die Tresortür, verdeckte …

Die Standuhr begann mit hallenden Gongschlägen Mitternacht zu schlagen.

Der Mond war höher gestiegen und schien in die beiden Zimmer hinein.

Urplötzlich tauchte da ein Schatten im Schlafgemach auf, stand still, – es war ein rothaariger, rotbärtiger Stromer, der die Schuhe über der Schulter trug, den schäbigen Filz tief über den Kopf gezogen hatte.

Er horchte … Sein Oberkörper war vorgebeugt, und seine Haltung verriet äußerstes Mißtrauen. Dann drehte er sich um, nahm das Bild von der Wand, probierte einen nach einem Wachsabdruck gefertigten Schlüssel, und der Riegel des Patentschlosses des eingemauerten Tresors schnappte zurück, und die schwere Panzertür öffnete sich. – Der Einbrecher zog eine Taschenlampe hervor, leuchtete in den Tresor hinein und griff nach einem versiegelten Umschlag, auf dem nur „Irmi“ in dicker Rundschrift zu lesen war.

Aber der Eindringling, nun völlig mit seinen unliebsamen Gedanken beschäftigt, hätte klüger getan, den nur angelehnten Fenstern seine Aufmerksamkeit zu schenken …

Im Gesichtskreis Alices tauchte eine zweite, ähnlich hochgewachsene Stromergestalt auf. Dieser Mann hob langsam den rechten Arm, und das Mondlicht ließ einen dunklen Pistolenlauf matt aufblinken.

Frau Berndt erkannte die Gefahr. Sie als Kriminalschriftstellerin war sehr wohl fähig, diese Zusammenhänge zu überschauen. Bevor der Meuchelmörder noch abdrücken konnte, feuerte sie selbst, und der Arm mit der drohenden Waffe sank schlaff herab, die Pistole des Zweiten polterte auf den Teppich, und blitzartig sprang der Mann zum Fenster hinaus, umkreiste die Villa halb und entging so uns dreien, die wir gegen seinen Willen bis in die nächsten Büsche vorgedrungen waren. Irgendwo hörte man drüben im Walde einen Automotor anspringen, das Geräusch entfernte sich …

Ich war diesmal noch schneller als der flinke Fred. Als ich in das Schlafgemach hineinturnte, stand Frau Alice einem Menschen gegenüber, der mit demütig gesenktem Kopf – ohne Hut und Perücke – alle die erregten Fragen über sich ergehen ließ und in nichts mehr dem so überlegen-ironischen Theoretiker Richard Lohr glich.

„… Du mußt einen Wachsabdruck von dem Schlüssel genommen haben …? … Du hast mir also nicht geglaubt, daß Irmgard nicht mein Kind ist? Du wolltest prüfen, was an meinen Angaben wahr sei? – – Antworte doch!“

Doktor Lohr erwiderte leise: „Ich habe nur etwas zu meiner Entschuldigung anzuführen, Alice … Ich habe dich geliebt, und ich glaubte, du hättest nach dem Tode deines Mannes einen … Verehrer gehabt, der …“

„… Irmgards Vater war?! – Oh, du großer Tor!“

„Doch nicht so groß, als es scheint … Ich erhielt einen anonymen Brief … Eilbrief, – – heute in aller Frühe … Man riet mir, aus deinem Tresor den Umschlag „Irmi“ herauszunehmen, und da ich den Schlüssel, den Nachschlüssel, bereits …“

Neben uns erschien durch das Fenster eine neue Gestalt, die von dem Pseudopudel „Scylla“ mit eifrigstem Schwanzwedeln begrüßt wurde.

Der ländliche, mit Staub bedeckte Händler musterte unsere Gruppe mit scharfen Blicken und lächelte dann unmerklich, hob vom Boden die Pistole des Attentäters auf und betrachtete den Schalldämpfer.

„Herrn Chester Morwyns Waffe!“, sagte Harst achselzuckend. „Weshalb zielten Sie nur auf den Arm, Frau Alice?! Nun bereitet uns der Mann nur weitere Schwierigkeiten. – Doktor Lohr, legen Sie den Umschlag „Irmi“ in den Tresor zurück und schließen Sie wieder ab und händigen Sie mir den Nachschlüssel aus. Ich glaube, Frau Alice und Sie sind nun miteinander quitt, und Sie beide werden sich vieles ohne Zeugen zu sagen haben. Immerhin sollen Fred und Gustav im Garten für alle Fälle als Wächter zurückbleiben. Die Sache ist noch nicht spruchreif … – Also – entfernen wir uns.“

Lohr und Alice waren allein. Nebenan weinte das durch die Schüsse aufgeweckte kleine Mädelchen leise vor sich hin. Frau Berndt winkte Lohr, nahm Irmi auf den Schoß und wiegte sie wieder in Schlaf.

Lohr stand dabei und wagte erst zu sprechen, als das Kind sich beruhigt hatte.

„Alice, ich habe Ellen Garp nie geliebt … Ich habe für sie nicht einmal Sympathie empfunden. Sie war mir nichts als ein „Kriminalfall“, dessen kriminelle Einzelheiten ich erst ermitteln wollte. Ich merkte, daß Allan sie verachtete und mit eisigen Blicken strafte, obwohl er in Gegenwart anderer sich zu beherrschen suchte. Unsere Freundschaft hat leider durch meine Schuld einen argen Stoß erlitten, und die Eifersucht auf den Vater des Kindes dort …“ – er streichelte dem Mädchen das Haar – „hat …“

„Du großer Tor!!“, flüsterte die Frau zärtlich. „Ich kenne den Vater nicht, ich hoffe, daß Harst ihn kennt und daß …“

Sie schwieg jäh. Richard Lohr umfaßte sie und das ahnungslose kleine Geschöpfchen, und willig bot sie ihm die Lippen zum Kusse dar, während ein paar Tränen ihre Augen verdunkelten.

 

10. Kapitel.

Der Fuchs stirbt …

„Gustav, Ihre Scylla brauche ich“, sagte Harst draußen im Garten und im Schutz einer Hecke. „Ziehen Sie Ihrer fetten Freundin aber erst einmal den Wintermantel aus. Diese warme Mainacht macht einen Krimmerpelz überflüssig.“

Kautschuk-Gustav stellte seine Scylla auf eine Bank und zog sein Messer. „Herr Harst“, meinte er gedämpft, „der Kerl, der uns Schmiere stehen ließ, war wirklich Chester Morwyn?“

„Ja. – Die Erklärung dafür ist sehr einfach, obwohl ich diese Zusammenhänge zunächst nur vermutete. Chester Morwyn hat stets verschwiegen, daß er einen Zwillingsbruder hatte, der … zumeist in Gefängnissen Freiquartier sich verschaffte. Diesen Charles Morwyn fand ich verschiedentlich in Zeitungen erwähnt, aber der Name Morwyn ist zu häufig, als daß ich mit Sicherheit annehmen durfte, es handele sich um Chesters Bruder. Nun steht fest, daß beide gemeinsam den Gallandy-Millionen nachjagten. Das Flugzeug, mit dem Morwyn gen Amsterdam aufgestiegen war, landete auf polizeilichen Befehl nach großer Schleife in Staaken, und Bechert rief mich an, wir hatten die Tankstation dort hinten als Anrufort vereinbart. Der Morwyn aus dem Flugzeug war Charles Morwyn und sitzt nun in Haft. Die Zwillingsbrüder hatten sich mit Bechert drüben in den Büschen den Scherz erlaubt, die Rollen zu wechseln, das heißt, Bechert fuhr mit Charles Morwyn gen Berlin, und Chester gesellte sich euch zu. Natürlich wußte er, wer ihr wart. Er wollte gleich mehrere Fliegen mit einem Schlage erledigen, zunächst Doktor Lohr, dann euch drei. Aber ich sah seinen Angriff auf den Tresor voraus, und Frau Alice verdarb ihm den Spaß. Ich kenne nun die ganzen Zusammenhänge, nur eins weiß ich nicht: Wo Allan Garp steckt! – Chester Morwyns Versuch, den Umschlag „Irmi“ zu stehlen, erbrachte den allerletzten Beweis. Der Mann ist teuflisch schlau, und sein Bruder war ihm sehr wertvoll. Die Pläne klappten jedoch nicht, und Schraut und ich werden nun Garp suchen, der zweifellos hier in der Nähe verborgen gehalten wird. Daß Frau Alice mit Gallandy Hand in Hand arbeitete, daß Gallandy der alte Musikus war, daß Alice Gallandy dazu bewog, sein Vorurteil gegen seinen Neffen aufzugeben, – – das brauche ich nicht nochmals zu betonen. – – Jetzt Aufbruch, mein Alter … Scylla nehmen wir an die Leine … Und ihr beide, Gustav und Fred, paßt hier scharf auf, denn das Paar Alice-Richard dürfte fürs erste mit anderen Dingen beschäftigt sein, und ich traue Chester Morwyn die Frechheit sehr wohl zu, nochmals zurückzukehren. – Wiedersehen …“

Harsts Motorrad hatte einen Soziussitz, und so ungern ich mir die Eingeweide durchschütteln lasse, diesmal überließ ich meinen werten Kadaver doch ohne Zaudern der höllischen Stuckermaschine, und das Rad sauste gen Steubenhorst, passierte das schlafende Dörfchen und wollte in den Weg zum Gut einbiegen.

Hinter einem Baum tauchte die schlanke Gestalt der hübschen hellhäutigen Jessie auf, die ich hier zum ersten Male sah.

Harst stoppte. Das Mädchen huschte herbei und flüsterte atemlos:

„Er kam hier vorüber, Herr Harst … Er nahm den Seitenweg nach dem Walde drüben … Und …“

Sie verstummte, lauschte angestrengt, – genau wie wir …

Fernher kamen abermals dieselben Tierstimmen, die mich schon einmal erstaunt hatten aufhorchen lassen.

„Die Tiger!“, hauchte die Inderin verwirrt.

Harst sagte gedämpft: „Vielleicht ist es dir neu, mein Alter, daß Gallandy sich vier halbgezähmte Tiger mit herübergebracht hat … Drüben in dem verwilderten, zum Teil sumpfigen Forst hat er den Bestien in aller Heimlichkeit ein großes Gehege und Käfige angelegt, die bisher den Umwohnern verborgen blieben. Gallandy liebt die Raubtiere, er besaß sie schon in Indien, und nach Jessies Schilderung hat er ihnen ein Heim geschaffen, das alle modernen Anlagen der Zoologischen Gärten in den Schatten stellt.“

„Die Tiger!“, rief die Inderin abermals, und aus ihrer Stimme klangen eine so verzehrende Angst und Ungeduld mahnend hervor, daß Harst sich ihr mit fragendem Blick wieder zuwandte. „Die Tiger sind frei, sind nicht in ihren Käfigen, und nur mein Vater und Herr Gallandy und ich versorgen die Tiere … Wer hat sie herausgelassen?! Sie sollen nachts nicht umherstreifen und jaulen, damit die Leute hier nicht argwöhnisch werden.“

Harsts Gesichts veränderte sich jäh. „Sollte Morwyn den Gefangenen etwa …“, – er führte den Satz nicht zu Ende, er schwang sich wieder in den Sattel, packte Jessy, befahl mir aufzusteigen, und sauste mit der Inderin im Arm weiter, die ihm mit hastigem Tuscheln den richtigen Weg angab. Es wurde eine tolle, fast wahnwitzige Fahrt, – wir bogen in den Wald ein, ein schmaler Pfad lief durch das Dickicht, Zweige schlugen uns in die erhitzten Gesichter, Moorlachen spritzten auf, Knüppelbrücken dröhnten, dann stoppten wir vor der Pforte eines hohen, starken Maschendrahtzaunes, Jessie schloß auf, wir ließen das Rad zurück, der Morgen begann bereits heraufzudämmern, eine pfadlose Wildnis empfing uns, ich setzte Gustavs fetten Liebling auf die Erde, und Harst hielt dem klugen Hunde einen schwarzen Stoffetzen aus einem Beinkleid unter die Nase. Die kleine eifrige Scylla rannte aufgeregt schnüffelnd hin und her, plötzlich gab sie Laut, zog schärfer an der Leine und trabte vorwärts, die Nase auf dem Boden, rannte auf einen mit Dornen dicht umwucherten Windbruch zu und schob sich in das enge Geäst hinein. Wir sahen, daß in diesem grünen Versteck ein Mensch gelegen hatte, – Scylla machte wieder kehrt, hatte es noch eiliger, und Minuten später standen wir vor einem starken, fünf Meter hohen Eisengitter, das eine Verlängerung von Stacheldrähten hatte. Die Drähte waren zerschnitten, in den Drahtspitzen hingen Stoffetzen, der Boden war zertrampelt, und zweifellos war hier ein Mensch über das Gitter gehoben worden.

„Binde Scylla fest“, befahl Harst in höchster Aufregung. „Dieser Morwyn ist schlimmer als ein Tiger!“

Jessy war mit kraftvoller Gelenkigkeit bereits über das Gitter geklettert, wir folgten, zum Glück wurde es immer heller, wir konnten der Fährte folgen, die Inderin war stets ein Stück voraus, und die Blässe ihrer Züge bewies, daß hier wohl nicht lediglich die Sorge um irgend ein Menschenleben sie bewegte.

„Sollte eins der Tiere auftauchen, klettern Sie auf einen Baum“, rief sie uns zu, als nicht allzu fern das Jaulen einer der Bestien abermals ertönte.

Wir blieben noch weiter zurück … Daß die Inderin die halbzahmen Raubtiere nicht fürchtete, die sie mit hatte großziehen helfen, wußten wir.

Dann erreichten wir eine kleine Lichtung, die durch eingegrabene Palmenkübel ein Stück tropischen Urwaldes vortäuschte, und hier stand aufrecht an einem Baum Allan Garp, mit Stricken an den Stamm geschnürt, den Kopf zur Seite gedreht und den Blick starr auf einen fast ausgewachsenen Tiger gerichtet, der mit pendelndem Schweife unschlüssig seine Beute betrachtete.

Jessie, jetzt dicht neben uns, flüsterte aufatmend:

„Es ist der Tiger Brutus, den Herr Allan vor drei Jahren selbst in Indien im Dschungel eingefangen hat. Brutus war Herrn Allans Eigentum … – Da, – wie er seinen früheren Herrn genau so erstaunt mustert wie dieser ihn …!“

Garp mußte das Tier erkannt haben … Er sprach zu ihm.

„Zurück, Brutus!“, rief Jessie befehlend und eilte vorwärts …

Die gestreifte gelbe Bestie zauderte … Geifer troff ihr aus dem Maule, und die großen Katzenaugen hingen verlangend an dem frischen blutigen Stück Fleisch, das Chester Morwyn in die Stricke geschoben hatte, um durch den Blutgeruch die Tiere anzulocken.

Die Inderin wollte die Stricke Allans lösen, – sie war etwas hastig, und jetzt erst zeigte sich, mit welch höllischem Raffinement Morwyn diesen Mord vorbereitet hatte: Bei einem allzu starken Zerren der einen Strickschlinge ertönte ein leises Puffen, und die präparierten Stricke, die ja ohne diese Vorsichtsmaßregel verraten hätten, daß Allan Garp gefesselt den Bestien überliefert wurden, verbrannten wie Zunder, so daß Harst mit drohendem Abscheu mir zuflüsterte: „Eine teuflische Erfindungsgabe besitzt dieser Morwyn!“

Der Tiger war plötzlich verschwunden … Garp stand vor uns und lächelte gequält. „Ich habe böse Stunden hinter mir … Aber …“ – er verstummte, wir alle horchten, ein Büchsenschuß war nicht allzu weit gefallen, und gleich darauf erschien die hohe, hagere Gestalt Theodor Gallandys auf der Lichtung … Bei unserem Anblick stutzte er und senkte die im gebeugten Arm liegende Büchse. Seine klaren, harten Augen überflogen unsere kleine Gruppe, und plötzlich lächelte er ein wenig und sagte leichthin: „Was hat es denn hier gegeben?! Ich hörte die Tiger übermäßig laut jaulen, und soeben lief mir da ein Fuchs in den Weg, der in einem Moorloch versank, wo er am besten aufgehoben ist …“ Sein Lächeln wurde unerbittlich und fast grausam. „Frau Alice hatte mich angerufen und mir gewisse Andeutungen gemacht … Allan, mein Junge, ich habe dir bitter unrecht getan … Herr Harst wird uns nun wohl das Letzte erklären …“

„Gern, Herr Gallandy … In aller Kürze: Ellen Garp, Ihre Nichte, hatte sich von Chester Morwyn zu einer heimlichen Ehe beschwatzen lassen. Das Kind kam hier in Berlin zur Welt, und Morwyn nahm es Ellen weg und übergab es Frau Berndt. Als Ellen ihm unbequem wurde, richtete er es so ein, daß Allan seine Schwester tötete und ins Gefängnis kam. Nachher suchte er auch ihn zu beseitigen, und der Nächste wären Sie gewesen, Herr Gallandy, denn Ellens Tochter Irmgard blieb Ihre gesetzliche Erbin. Die Papiere über die geheime Eheschließung und über die eheliche Geburt Irmgards hatte er Frau Alice übergeben. – Das wäre alles. Hoffentlich ist der Fall Allan Garp nun endgültig beendet.“

„Das ist er!“, erklärte Gallandy festen Tones. „Allan, mein Junge, – ich denke, wir kehren wieder nach Indien zurück. Meine Plantagen habe ich nur verpachtet, nicht verkauft … – Na, Jessie, was sagst du zu diesem Plan?! Einverstanden?!“

Allan Garp blickte dem hellhäutigen Mädel in die strahlenden Augen. „Was Jessie sagt, Onkel?!“ Ein liebes Lächeln flog über sein erschöpftes Gesicht. „Jessie weiß, welchen Dank ich ihr schulde … Ihr und Ihnen, meine Herren!“ Er drückte uns fest die Hand …

Gallandy winkte uns beiden … „Kommen Sie, wir wollen die Tiger in ihre Käfige zurücktreiben … Ich alter Narr hatte mich von Allans Schwester allzu sehr umgarnen lassen … Allan war der klügere. Morwyn muß mich um ungeheure Summen betrogen haben. Kein Wunder, daß Allan von seiner Schwester, die Morwyn allzeit deckte, keine besonders günstige Meinung hatte …“ – –

Am Abend dieses Tages saßen wir alle auf der Terrasse der Sommervilla Alice Berndts und bewunderten das Farbenspiel des Sonnenuntergangs, das den Steuben-See in bunteste Tinten tauchte.

Die Polizei hatte umsonst nach Chester Morwyn gesucht, und Gallandy hatte soeben, die kleine Irmi auf dem Schoße, die bereits fest schlief, leise geäußert: „Den finden sie nicht!! Es ist auch besser so!“

Dann brachte Frau Alice mit mütterlicher Sorgfalt das verwaiste Mädelchen zu Bett, und Doktor Lohr begleitete sie.

Kautschuk-Gustav, der eine dicke, feine Importe rauchte, meinte so ganz nebenbei, als auch Jessie und Allan zum Seeufer hinabgingen:

„Herr Gallandy, war es ein sehr großer Fuchs, den Sie heute früh geschossen haben?“

Der alte Pflanzer hüstelte ärgerlich …

„Wenn Sie ihn sich ansehen wollen, holen Sie ihn aus dem Moortümpel heraus, – – was Ihnen kaum gelingen dürfte …“

Harst schaute ernst in die flammende Abendröte.

„Schweigen wir von dem Fuchs …! Seien wir froh, daß die kleine Irmi so liebe, reizende Eltern finden und nie erfahren wird, wie ihr Vater endete … – Reden wir von anderen Dingen …“

„Prosit, Herr Harst!!“ – und Gallandy trank Harald mit langem Schlucke zu. Ihre Augen ruhten ineinander … Sie verstanden sich.

Der Fuchs war eben tot, – und er hatte es reichlich verdient …

 

Nächster Band:

Wen sucht Lord Trassy?