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Der Diamantenfluß

Olaf K. Abelsen

Abenteuer

Abseits vom

Alltagswege

 

Der Diamantenfluß

 

Einzig berechtigte

Bearbeitung a. d.

Schwedischen von

M. Schraut

 

– Band 34 –

 

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.

Berlin SO 16

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1931 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.

Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Spiel um Freiheit.

Das Boot schrammte am Kutterbord entlang, ein Bootshaken wurde rücksichtslos in das sauber lackierte Dach des Heckaufbaues getrieben, und der junge Marineoffizier schwang sich gewandt herüber.

Boot und Kutter und Kreuzer mit der dreistreifigen Flagge schwammen in rosigen Wogentälern, tanzten auf rosigen Wogenkämmen.

Der Ozean mit seinen abendmüden Wellen war eine Orgie von Rosa und Rot.

Dicht vor mir stand nun der fast überschlanke Leutnant, schaute sehr flüchtig den braunen Amed Schami an und versenkte seinen herausfordernden anmaßenden Blick in meine kühl abwartenden Augen.

Unter meiner leichten, weißen Tropenjacke hämmerte das Herz ein paar eiligere Schläge, nahm wieder den gewohnten Takt auf und spielte mir keinen üblen Streich.

Ich wußte, ich würde Nerven und Hirn sehr fest auf Kandarre reiten müssen in den kommenden Minuten. Es war von uns eine unverzeihliche Torheit gewesen, die Signale des Kreuzers einfach zu übersehen.

„Wer sind Sie?”, fragte der Jüngling schroff, und seine rechte Hand spielte vielsagend am Pistolengurt.

Eine schmale Wolkenbank, die einem locker zusammengedrückten Schleier feinsten Gewebes geglichen hatte, war langsam über die sinkende Sonne geglitten, flammte nun grellrot auf wie ein zerfetztes Transparent, das nur sehr unregelmäßig der roten Lichtquelle Durchlaß gewährt, und milderte die kupferrote Schärfe der bewußt hochmütigen Züge dieses patenten Bürschleins, das hier über das Schicksal eines jahrelang schuldlos Gehetzten entscheiden wollte.

„Engländer”, antwortete ich nachlässig und blinzelte den Baby-Leutnant gemütlich-nachsichtig an.

Sein frecher Kindermund zog die Winkel geringschätzig herab.

Ich hatte vergessen, daß Albions einst so stolzes Banner die Meere nicht ausschließlich beherrschte. Die Zeiten, wo Britanniens Flotten auch die Gewässer des östlichen Erdviertels in Bann hielten, waren verrauscht in den Strömen von Blut eines wahnwitzigen Völkermordens.

„Ihr Name?”, — und Seine Hoheit der Leutnant wurde noch eine Schattierung anmaßender in Kopfhaltung und Tonfärbung.

Mein Name?

… Ich hatte ihn nun vier Jahre über Länder und Ozeane mit mir geschleppt, diesen bemakelten Namen … Ich hatte ihn in brühend heißen Urwäldern, Sandsteppen, in eisigen Schneeregionen, im Wogengebrüll entfesselter Orkane fast vergessen.

Seltsam genug: In diesen Jahren war es mir nur zuweilen geschehen, daß dieser oder jener mich ausgeforscht nach Herkunft und Ziel. Und wenn es mir begegnet war, daß ein müßiger Neugieriger fern von den Wegen des Alltags, wo doch der Name leerer Schall und nur der Mann die Persönlichkeit bleibt, diese Frage an mich richtete, war ich darüber hinweggeglitten mit eisigem Schweigen oder einem ablehnenden Achselzucken. Stets aber hatte diese quälende Neugier jener Fremden, die das oberste Gesetz der anderen Welt, meiner Welt, nicht kannten, blitzartig vor meinem inneren Auge jene Szenen erstehen lassen, die in meine Seele eingebrannt waren als unauslöschliche Bilder.

… Ein Saal, sehr würdige Richter, sehr ernste Geschworene, — und vor dem Richtertisch eine Frau, die kaltblütig die Schwurhand hob und mich zum Mörder stempelte …

… Eine Stimme dröhnt irgendwoher aus dem Dunkel der Vergangenheit, — hart, kalt, Verkünderin des Wahrspruches der irrenden Gerechtigkeit: „… Mildernde Umstände … Tat im Affekte, …: acht Jahre Zuchthaus … Ehrverlust … Ehrverlust …!!”

Damals habe ich, totenbleich, schneidend aufgelacht.

Ehrverlust!

Der Richtertisch wackelte mit den Köpfen, und der Herr medizinische Sachverständige für Unzurechnungsfähigkeit glotzte mich durch seine Brillengläser erwartungsvoll an, als rechnete er mit einem Tobsuchtsanfall … dergleichen.

Und das vorletzte Bild: Verwanzte, muffige Zuchthauszelle, in der Nr. 311, saß ich, — Einzelhaft, und … Briefumschläge faltete und klebte … Ich habe es bis auf dreihundert pro Tag gebracht. Vielleicht hatte man von dem Ingenieur Olaf Karl Abelsen mehr erwartet.

… Nach zwei Monaten verabschiedete ich mich von Wanzen, Zelle, Briefumschlägen und wagte den Gang in die Freiheit … Kein Spaziergang, mehr ein Kampf mit dem Tode, mein Kampf um mein eigenes Ich, vorbereitet bis ins einzelne …

Zeit genug zum Nachdenken hatte ich gehabt, und die Schlösser jener Zellentüren hätten wohl einem x-beliebigen Sträfling, nicht dem schuldlos verurteilten einstigen Ingenieur widerstehen können.

Ich entkam …

Aber hinter mir her schlich beständig und heimtückisch ein gedruckter, hartnäckiger Papierwisch.

Dreimal hatte ich bisher meinen eigenen Steckbrief zu Gesicht bekommen.

Und hatte gelächelt …

Ich hatte ja das Lächeln wiedergefunden auf den engen Seitenpfaden der Welt, die doch so unendlich breit, herrlich und … pfadlos sind. —

Jetzt nun?! — Hier im indischen Ozean steht mir auf den Planken meines flinken Kutters ein halber Knabe mit eigentümlich widerspruchsvollen Zügen gegenüber, Leutnant eines Kolonialkreuzers, — ein Kind noch im innersten Kern, nach außen hin arroganter Repräsentant einer siegreichen, siegessatten Großmacht.

„Ihr Name?”

Der mädchenhaft schlanke Bursche rüttelt mich wach durch den übermäßig schneidigen Befehlston.

Meine Augen waren zurückgeglitten in das tote Einst, kehrten heim in die Farbenorgie der Gegenwart, und mein erwachender Blick schaute die zauberhafte Wolke an, hinter der eine glühende Kugel lautlos in die Wogen tauchte.

Die Zigarre im Mundwinkel wippte, ich blies den Rauch in die Höhe, nahm sie umständlich zwischen die Finger der Linken und sagte freundlich:

„Belson …”

Weiter nichts: Belson!

Mir fiel das gerade so ein: Belson! — Es war wenigstens nicht ganz gelogen … Es war ein leicht umgeformtes Stück einer großen Nichtigkeit.

Und dann fügte ich hinzu, — Angriff ist besser als Verteidigung:

„Brauchen Sie Trinkwasser oder Schmieröl?”

Die dunklen, etwas schief stehenden Augen des uniformierten Jünglings verloren für Sekunden den eingedrillten, angeblich respekteinflößenden Ausdruck. Immerhin: Er verstand seine Verwirrung zu bemänteln, und der Ärger über die kurze Preisgabe seiner dienstlichen Würde glitzerte in seinen Pupillen als Flackerfeuer drohend auf.

„Weshalb beachteten Sie unsere Signale nicht?”, fuhr er mich an, und seine weißen Zähne blinkten unter der hochgezogenen Oberlippe. „Ihre Papiere will ich sehen …! Sie befinden sich hier dreihundert Seemeilen von der Vorderindischen Küste entfernt, und kein vernünftiger Mensch wagt sich mit solch einem kleinen Motorkutter so weit in den Ozean hinaus … Ich rief Ihnen bereits zu, daß ich den ausdrücklichen Befehl habe, einwandfrei festzustellen…”

Ob mein Schmunzeln ihn so irritierte?! Ob er plötzlich unter der weißen Seglermütze den Silberschimmer meiner Schläfen bemerkte und sich schämte, bei seiner Jugend diesen Ton anzuschlagen?!

Doch nein, — er schaute ja an mir vorüber … Er schaute ins Weite, dorthin, wo jetzt im bereits verblassende Abendrot der pfadlosen Wasserwüste ein dunkles Etwas sich über den Horizont geschoben hatte und mit braunen, riesigen Segeln daherkam wie ein allererster, plumper, ungefüger Riesenkahn jener seetüchtigen alten Phönizier, denen man die Erfindung der Schiffssegel und die Gewinnung des roten Farbstoffes aus der Purpurschnecke nachsagt.

Ich hatte mich umgedreht …

Er schwieg …

Ich schwieg …

Wir staunten das Ungetüm an, das da allmählich nähertorkelte …

„Ein Floß …”, sagte er zerstreut.

„Ein Riesenfloß aus Bambusstangen”, ergänzte ich.

Er wandte mir wieder sein frisches Knabengesicht zu.

„Also bitte, Mr. Belson, Ihre Papiere …”

Eine Woge klatschte halb über Bord, so eine freche, respektlose Woge, die zuweilen auch bei halber Flaute unversehends dahergerollt kommt und keine Rücksicht nimmt auf ein mit sechs Leuten bemanntes Boot eines kleinen Auslandkreuzers.

Das Boot wurde emporgehoben, fiel zurück, trieb ab, und mit einladender Handbewegung deutete ich auf die Tür der Heckkajüte.

„Bitte …!”

Amed Schami, reinblütiger Inder, seines Zeichens Dampferkapitän, seit drei Tagen mein Gefährte auf der winzigen „Astarte”, hatte bisher stumm und steif und ohne Teilnahme dabei gestanden.

Meine Augen streiften sein dunkles, verschlossenes, wie aus tiefbraunem Gestein gemeißeltes Gesicht, und meine einladende Geste für den pflichteifrigen Jüngling endete mit einer eigenartigen Kurve, die das ferne Floß mit einschloß.

Der Leutnant zögerte noch.

Seine Hand lockerte den Lederdeckel des Pistolenhalfters, und wieder trat in seinen Blick ein verräterisches Gleißen, — diesmal nicht aus Ärger über eine Blöße, wie er sie seiner Würde vorhin gegeben hatte. Das knabenhafte Gesicht verlor jeden kindlichen Zug, der kräftige Unterkiefer schob sich vor, und übereilt und unbesonnen spielte er seinen einzigen Trumpf aus.

„Ihre Freunde drüben haben Ihnen mit ihren Funksprüchen einen üblen Dienst erwiesen, Mr. Abelsen … Wir fingen die Depeschen auf, die Sie zur Rückkehr bestimmen sollten … Ich erkläre Sie hiermit für …”

Also doch!! Es ging ums Ganze, es ging um die Freiheit …!

Armer Kerl, armer schmucker Jüngling, — ich und du …?! Eine allzu ungleiche Partie, und selbst wenn dort ein Boot schaukelt und drüben dein geschützgespickter Kreuzer den Ausgang der Menschenjagd erwartet!

Allzu ungleich …

… Eine sehr schöne neue Dienstpistole poltert auf die Deckplanken, ein aalglatter, kräftiger, junger Kerl zappelt hilflos in eisernen Fingern, wird nach achtern getragen, hört unseren Motor knatternd anspringen, unsere Astarte schießt davon, hinter uns her bellen die Flüche der Bootsbesatzung, — — und vor uns, träge dahinschleichend mit fast schlaffen Segeln, taumelt das Riesenfloß aus blanken, gelben Bambusstangen …

Bevor noch die erste Kugelspritze des Kreuzers ihre pfeifende Saat über die Wogen streut, sind wir halbwegs bis zu dem ungefügen, menschenleeren, rätselhaften, gigantischen Machwerk vorgedrungen, dessen Zweck und Ziel jedem, der die östlichen Ozeane kennt, vollkommen unverständlich bleiben muß. Noch nie hatte ich davon gehört, daß man Bambushölzer auf diese Weise fernen Bestimmungsorten zuführte. — Kam das Floß von der Insel Ceylon, wo die gelben Stangen ganze Wälder, zwanzig und mehr Meter hoch, bilden …?!

… Der junge Mann in meinen ehernen Fängen ist graugelb vor ohnmächtiger Wut …

„Das … das ist Freibeuterei …!” Seine Stimme stolpert im höchsten Diskant. „Sie … werden … gehenkt werden …! Sie sind …”

Dann ist er auch mit dieser Weisheit zu Ende:

Ein Stöhnen zittert über die Lippen, — die grenzenlose Scham über seine Niederlage treibt ihm das Naß in die hervorquellenden Augen, und völlig gebrochen sinkt er neben mich auf die vertiefte Bank, während Freund Schami den Kutter unbewegten Gesichtes dem Riesenflosse entgegenlenkt und die spielerischen Geschoßeinschläge sich vorsichtig bemühen, das kostbare Leben unseres bedauernswerten Schutzschildes nicht zu gefährden …

Zehn Minuten darauf versinkt unsere schmucke Astarte in den Wogen, und als letztes sehe ich ihre beiden Mastspitzen mit den blanken Antennendrähten in das blaugrüne Nichts der unbekannten Tiefe hinabtauchen.

 

2. Kapitel.

Unter Piraten?

Die hin und her pendelnde Petroleumlaterne stinkt und qualmt, und in dem engen Gelaß sitzt uns ein kleiner, vertrockneter alter Chinese gegenüber, dessen quittengelbes, faltiges Gesicht augenblicklich ein einziges Hohngrinsen ist.

„Sie suchen …”, sagt er leise, und seine dünnen Lippen bewegen sich kaum.

Viel ist von dieser Mundpartie des Herrn Chan Kai nicht zu sehen. Der mottenzernagte, ungepflegte, um den Mund gelbweiß verfärbte, im übrigen grausilberne Schnurrbart bedeckt schamvoll die klaffenden Zahnlücken und schwärzlichen Zahnstummel.

Ja, sie suchen.

Natürlich suchen sie …

Daß wir die Astarte absichtlich rasch versenkt haben, konnten sie nicht beobachten, noch weniger, daß da urplötzlich auf der dem Kreuzer abgewandten Längsseite des Flosses eine erstaunlich geschickt angebrachte Tür aufgeflogen war, aus der Chan Kai uns liebenswürdigst zugewinkt hatte.

Das Leutnant-Baby hockte neben mir auf der Bambusbank, unfähig sich zu rühren, unfähig auch nur zu husten. Chan Kai hatte ihm einen Knebel recht zweifelhafter Sauberkeit zwischen die weißen Milchzähnchen geschoben, und Amed Schamis Künste als Fesselungsfachmann sind bereits älteren Datums.

Der schmierige Alte grinste unentwegt weiter, als wir nun hoch droben laute Stimmen vernahmen.

„Ordrupp redet”, flüstert Chan Kai und schiebt mit seinen Affenfingern eine neue Pille in den Kopf seiner dicken Opiumpfeife. „Ordrupp redet gut …”, glaubte er ergänzen zu müssen. „Der größte Lügner aller Zeiten ist Sven Ordrupp. Er würde sogar den leibhaftigen Satan nasführen, und ich glaube kaum, daß der Kommandant des Kreuzers so klug wie der Teufel ist. Der laute, schöne Knall und die grelle, hohe Benzinstichflamme, die den Untergang des Kutters begleiteten, dürften Ordrupp das Lügen erleichtern, zumal mit Ausnahme meiner unwürdigen Person sich hier auf dem Flosse nur durchaus einwandfreie, mit allen nötigen falschen Papieren ausgerüstete Leute von vorbildlicher Verschwiegenheit befinden.”

Die winzigen, farblosen Augen des Herrn Chan Kai beehren mich mit einem jetzt sehr nachdenklichen ernsten Blick. Das Grinsen ist aus diesem Mumiengesicht weggewischt, und der dürre greise Sohn des Himmels, der nach Opiumqualm und Schweiß gleich übel duftet, beehrt mich mit einer direkten Anrede.

„Mr. Abelsen, dem da müssen wir nachher einen Ziegelstein ans Bein binden und ihn dann schwimmen lassen”, — und sein Pfeifenrohr zeigte auf unseren bleichen Gefangenen, der atemlos lauscht und zwecklos hofft.

Chan Kai’s offenherzige Eindeutigkeit und der eisige, sachliche Ton seiner gedämpften Stimme lassen keinerlei Zweifel zu, daß unser Baby-Leutnant hier am Bord unerwünscht ist.

Mehr jedoch als dieses knapp gefaßte Todesurteil setzt mich die Anrede in Erstaunen, die dieser Urteilsverkündung vorausging.

„Woher wissen Sie meinen Namen, Chan Kai?”, gestattete ich mir zu fragen.

Des Leutnants Schicksal wird ja kaum von einem Ziegelstein abhängen und steht erst später zur endgültigen Diskussion.

Chan Kai, der übrigens das Englische verblüffend fließend beherrscht und sich sehr gewählt auszudrücken beliebt, überhört meine Frage und beginnt abermals ganz infam zu grinsen.

Die Stimmen droben auf dem Floß werden noch lauter, — ich kann mir kaum vorstellen, daß der Kommandant eines Kreuzers derart brüllen könnte, — die eine Stimme klingt wie die eines Ausrufers bei einem Sechstagerennen.

„Ordrupp!!”, feixt Chan Kai beseligt und doch achtungsvoll. „Ordrupp ist in Laune … Vielleicht hegte der Kommandant des schwimmenden Plätteisens die von vornherein undurchführbare Absicht, unser Floß mit Granaten zu zerkleinern … zu Brennholz … Aber Käpten Ordrupps Papiere tragen amerikanische Visa, und gegen die Macht des Dollars rennt keiner an, ohne sich die Fingerchen zu verstauchen …” Herr Chan Kai schielt in höhnischem Triumpf das junge, patente Bürschchen an und fügt äußerst niederträchtig hinzu: „Der Kreuzer wird abziehen wie ein Kater, dem man die Krallen abgezwickt hat … Schon mancher Kreuzer lief mit Volldampf davon, nur um Ordrupps Höllengelächter zu entgehen, das keinem Trommelfell nach Musik klingt, und sei es ein dreckiger Buschmann mit mehr Läusen im Wollhaar, als Ihr Kommandant Orden auf der Brust gepappt trägt, Mr. …, — wie war doch Ihr Name?”

Und wieder der schielende Blick in das schweißnasse, verfärbte Jünglingsgesicht.

„Ach so, — richtig”, beliebte Herr Chan Kai sich zu erinnern, „— richtig, Leutnant Baron Raoul de Couvrette, allerjüngster Offizier des Kreuzers „Garonne”, unterwegs zur Teufelsinsel … — Hübsche Gegend dort, viele Sträflinge, viele Lebenslängliche, viel Fieber, viel Todesfälle … Käpten Ordrupp kennt die Insel, glaube ich …”

Raoul de Couvrette’s schmaler Aristokratenkopf fliegt herum, gleichzeitig steigt ihm eine heiße Blutwelle bis in die Stirn, die Augen weiten sich, und der glühende Strahl aus den dunklen Pupillen kreuzt sich wie Degenklinge mit Henkerschwert mit Chan Kai’s frechem triumphierenden Blinzeln.

Nicht des alten Chinesen grimmer Hohn über die Machtlosigkeit des geschützgespickten Plätteisens und seiner zweihundert an blinden Kadavergehorsam gewöhnten Matrosen hat des Baby-Leutnants verachtungsvolle bisherige Schwerhörigkeit gegenüber diesen keifenden Unverschämtheiten in lodernden Zorn und jähes, mißtrauisches Aufmerken verwandelt.

Ich ahne es: Ordrupp ist dem Baron de Couvrette kein Unbekannter, wenn auch erst Chan Kai’s Äußerungen über die Teufelsinsel blitzartig des jungen Leutnants träges Gedächtnis aufgelockert haben.

… So sitzen sich diese beiden denn gegenüber, Vertreter zweier Welten, zwischen denen ein Abgrund unüberbrückbarer Gegensätze klafft.

Hier der überkultivierte Zögling irgend einer Marineoffiziersschule, gleichzeitig Sproß irgend eines alten, stolzen Geschlechts, und dort der schmierige, vertrocknete, stinkende, hochbetagte und doch erstaunlich sehnige Sohn des fernen Ostens …

Hier der Repräsentant einer Weltmacht, die durch geschickte Politik sogar das meerbeherrschende Britannien hinter sich drängte, — dort der betagte Vertreter eines unermeßlichen Reiches, in dem Ehrgeiz, Eitelkeit und Habgier von so und so vielen Generälen dauernd Unfrieden stifteten und neue Schlachtopfer vor die Maschinengewehre und Geschützstände trieben.

Chan Kai siegte in diesem lautlosen Gefecht der blitzenden Blicke. Siegte deshalb, weil droben an Deck des Riesenflosses, das ich auf hundert Meter Länge, vierzehn Meter Breite und acht Meter Bordhöhe vielleicht sogar zu vorsichtig geschätzt hatte, urplötzlich ein wahrer Katarakt von Lachsalven bis zu uns herniederprasselte und weil aus diesem infernalischen Chor gröhlender Kehlen eine einzelne sich heraushob mit explosionsartigen Entladungen einer Lunge, die nur einem Riesen von Kerl angehören konnte — einem Riesen, der zu diesem gigantischen Bambusgefüge passen mochte, auch zu dessen breiten, vielfachen Eisenbändern, die aus überschlanken gelben blanken Riesenstengeln eine fest gezimmerte Einheit hergestellt hatten … Eiserne Muskeln traute ich diesem Sven Ordrupp zu, der dort droben hinter dem Kreuzer sein übermütig tolles Karnevalsgelächter herschickte, und zu diesen Muskeln einen Körper von plumper, kraftgesättigter, protzig-strotzender Massigkeit und unbekümmerter Gesundheit, dazu vielleicht mit den verwegenen, brutalen, wilden Zügen eines jener alten Flibustierführer, die mit ihren Schiffen, Geschützen und ihrem blutberauschten Anhang der Schrecken der seefahrenden Nationen von einst gewesen.

Chan Kai siegte.

Raoul de Couvrette senkte mutlos das junge Haupt.

Siegte der mumienhafte Sohn des Himmels nur durch das Satansgelächter, das den Abzug des Kreuzers begleitete? — Wohl kaum … In den letzten Momenten dieses lautlosen Blitzens von gedankenüberhitzten Pupillen hatte sich bereits unter Chan Kai’s grauen Schnurrbartenden ein unklares, unverständliches, nachsichtiges Schmunzeln eingefunden, als ob der lodernde Zorn und die hochmütige Verachtung unseres überschlanken Bürschleins ihn außerordentlich belustigten und als ob gleichzeitig die Überreife seiner Lebensweisheit Verständnis hätte für des jungen Gefangenen schlecht verhehlte Neugier, die den Namen Sven Ordrupp mit Dingen der Vergangenheit in Einklang zu bringen suchte.

Chan Kai sog an seiner dreckigen Opiumpfeife, zog den Rauch mit geschlossenen Augen wollüstig in die verpestete Lunge ein, öffnete die Lider und sagte vollkommen uninteressiert: „Ordrupp hat sie davongejagt … Ich werde nun den Ziegelstein holen. Sie können dem Leutnant den Knebel abnehmen, Mr. Abelsen. Es schwimmt sich schlecht mit einem Lappen hinter geputzten Zähnen, den ich zum Pfeifenreinigen benutzte.”

Er stand gemächlich auf, legte die bereits ausgerauchte Pfeife auf ein Wandbrett und schritt zur linken Schmalseite des mit Bastmatten belegten Versteckes hinüber.

Vier lange, bunte Jahre des Wanderns in der Verborgenheit pfadloser Einsamkeiten haben mir so und so oft den Zwang zu blitzschnellem Entschluß aufgedrungen. Vielleicht haben am rechtzeitigen Krümmen des Zeigefingers mein Leben oder meine gesunden Knochen weit häufiger abgehangen, als mir es in dieser Minute bewußt wurde, da der alte Chinese eine uns bisher verborgene Bambustür zu öffnen trachtete und nicht gleich mit dem unsichtbaren Schloß, in das er nur etwas wie einen dünnen Eisenhaken eingeführt hatte, fertig werden konnte.

Schami, bisher gänzlich stummer Zuhörer, hatte mich heimlich mit dem Fuße angestoßen. Raouls starre Miene verriet die ernstesten Befürchtungen hinsichtlich des Ziegelsteines. Meine Hand war zum Ledergurt geglitten, meine Muskeln zogen sich wie von selbst zusammen …

Ließ ich Chan Kai hinaus und nach oben zu Sven Ordrupp, dem lachenden Teufel, war vielleicht die letzte Gelegenheit verpaßt, ein junges Menschenleben zu retten.

Der alte Mann kratzte mit seinem Sperrhaken, uns den Rücken zudrehend, noch immer in dem Schloß herum. Die pendelnde Laterne beleuchtete sein faltiges Genick, die speckige, schwarzseidene Kappe und den ölbefleckten, löcherigen Kittel. Ein einziger Sprung hätte genügt, mir Chan Kai’s Person in die Finger zu spielen. Aber etwas hielt mich zurück: Sein seltsames Schmunzeln vorhin, aus dem ich ganz anderes herausgelesen hatte als ein blutdürstiges, schonungsloses Todesurteil.

Ich blieb sitzen …

Schami, der mein Verhalten nicht begriff, beugte sich rasch vor und …

Da drehte sich der Alte um, zeigte uns seine unschöne, schlotterige, dreckige Front.

Grinste ganz wenig, reckte den linken Arm in Brusthöhe und schob seine Pistole wieder in den Kittel. Sein unheimliches Lächeln erstarb, und gleichmütig, und doch mit einem Unterton, der seine Zufriedenheit verriet, sagte er halblaut, mir unmerklich zunickend: „Es wäre äußerst bedauerlich gewesen, wenn ich drei Schüsse hätte abgeben müssen … Ich schieße nie daneben, Mr. Abelsen … Sie wohl auch nicht. Aber ich hatte diesmal die günstigere Position.”

Dann öffnete er die Tür, die genau wie die andere aus vier Lagen Bambusstangen bestand, mit überraschender Fixigkeit, schlüpfte hinaus, die Tür fiel zu, und … wir drei schauten uns an und wußten, daß der Tod dicht neben uns gewesen, falls ich …

Dieses „falls” war ausgeblieben. Raoul de Couvrette, dem ich rasch den Knebel abnahm, spie erst einmal diskret aus, holte dann hörbar Luft, und Freund Amed Schami flüsterte mit noch hörbarerem Aufatmen:

„Solch ein heimtückischer Schuft!!”

„Schuft?!”, warf ich zweifelnd ein. „Du vergißt, Schami, daß die Floßleute uns freiwillig retteten und daß wir jetzt in einer finsteren Vorschiffkammer der „Garonne” in Eisen lägen, wenn wir …”

Unser Jüngling fiel keuchend, überhastig und etwas prahlerisch ein: „Ordrupp ist ein Pirat, Mr. Abelsen … Aber keiner kann es ihm beweisen … Ordrupp soll an der Teufelsinsel fünf Landsleute, fünf Dänen, ehemalige Legionäre, Lebenslängliche noch dazu, befreit haben … Fragen Sie in einem Hafennest hier am Indischen Ozean nach Sven Ordrupp, und selbst der redseligste, verlogenste persische Handelsherr wird sich ausschweigen wie ein jäh zu Eis erstarrter Aasgeier …”

Schami nickte bestätigend. Er mußte es wissen.

Ich wußte nichts.

„Ganz abgesehen von Ihrer allzu bilderreichen Sprache”, wandte ich mich an unser Baby, „— denn Aasgeier dürften in Polargebieten nicht vorkommen, und die indischen Parsen mögen als allzu erfolgreiche Kaufleute doch nicht gleich den Titel jener nackthalsigen Leichenfresser verdienen, — also ganz abgesehen davon, mein junger Herr de Couvrette, gestatte ich mir darauf hinzuweisen, daß ein Bambusfloß sich kaum für Freibeuterstückchen eignet, es sei denn, daß …”

… Ein hohles Surren über uns und das mehrfache Knattern von Vergaserexplosionen verschlug mir die Rede.

Wir horchten …

Meine geübten Ohren unterschieden das Geräusch dreier starker Motoren und das Pfeifen jagender Propeller.

Amed Schami, der am Tage vielleicht fünfzig Worte zu sprechen beliebt, verteilt auf fünf knappe Sätze, lehnte sich wieder zurück und meinte halblaut:

„Die Segel auf dem Floß waren Bluff.”

Raoul de Couvrette reckte die immer noch gefesselten Hände zur qualmenden Petroleumfunzel hoch und beteuerte mit knabenhafter Begeisterung:

„Es sind Piraten! Endlich hat nun jemand herausgefunden, wie dieses Untier von Ordrupp seine Beutezüge verschleiert. Ein Bambusfloß mit Motoren, vielleicht gar mit Geschützen und …”

Knarrend und quietschend war die zweite Tür wieder aufgegangen. Eine grelle Laterne stach uns in die Augen, und über der Laterne geisterte Chan Kai’s ausgemergeltes, gelbes, verschrumpeltes Gesicht wie ein körperloses, gespenstisches Haupt.

„Ordrupp bittet Sie an Deck zu kommen”, sagte der Alte mit vollendeter Höflichkeit. „Zunächst Sie allein, Mr. Abelsen … Unter „allein” verstehe ich auch den Verzicht auf jegliche, hier im übrigen sehr zwecklose Schußwaffen …”

Er machte eine kurze Pause und fügte sehr fein abgetönt weit weniger freundlich hinzu: „Der Gefangene bleibt gefesselt. Ein Ziegelstein wird kaum genügen, meint Ordrupp, und zwei Ziegelsteine können wir schwer entbehren. Sobald sich Haifische zeigen, will Ordrupp Mr. de Couvrette Gelegenheit geben, seine Tapferkeit zu beweisen.”

„Ihre Scherze entbehren jeglicher Eigenart, Chan Kai”, erwiderte ich und warf den Ledergurt auf die Bank und erhob mich. „Nach einer Stunde werden Sie vielleicht erklären, daß Sie die Haifischflossen als Nachtisch brauchen, und daß der Leutnant daher mit Ihnen um sein Leben boxen müßte, — — und so weiter … Gehen wir.”

Chan Kai hatte den kleinen Kopf ganz schief gelegt wie ein lauschender Papagei.

„Nach einer Stunde”, entgegnete er vollkommen gefühllos, „werden Sie drei vielleicht mit dazu beitragen, daß die Haifischflossen im indischen Ozean fetter und schmackhafter werden. — Ich warne Sie, Mr. Abelsen … So viel wir von Ihnen gehört haben, sind Sie bisher immer vom Glück begünstigt gewesen, immer … Auch damals, als einer von uns mit unter den Geschworenen saß, die Sie ins Zuchthaus schickten. Ohne dieses Fehlurteil wäre Ihr Leben im Triebsand des Alltags langsam und ohne jede Köstlichkeit stecken geblieben und zwecklos versunken. Auch ich kniete einst an einem sonnigen Morgen, als die Fluten des Jangse wie Silber schimmerten, neben dem Henker … Es ist Buddhas Wille gewesen, daß ein Gegenangriff der Blauen und eine der ersten Granaten mir den Kopf zwischen den Schultern ließen. Meine Heimat spie mich aus, ich liebe sie trotzdem, aber ich liebe Sven Ordrupp noch weit mehr. — Seien Sie vorsichtig in Wort und Geste … Und bitte, … nehmen Sie die Pistole aus Ihrem Rocke, die Sie dem Knaben da auf Ihrem Kutter aus der Hand schlugen. Dieses Floß hat tausend Augen und Ohren und tausend Geheimnisse …«

… Also flog auch diese Pistole auf die mit Sitzpolstern belegte Bank, und ein etwas kleinlauter Abelsen stieg hinter dem katzenhaft gewandten alten Chan Kai durch schmale Gänge und über schmale Bambusleitern in diesem gewaltigen Gehäuse von Bambus an die Oberwelt.

 

3. Kapitel.

Die erfrorene Seele.

Der Vollmond war bereits aus dem Ozean als milderer Ersatz des Tagesgestirns aufgetaucht und verstärkte die ungewisse Dämmerung der hellen Tropennacht zu einem unwirklich erscheinenden Lichte, das aus unendlichen Fernen sich über das leicht bewegte Meer ergoß und das mir nun zum ersten Male das phantastische Fahrzeug in seinen oberen Teilen zeigte.

Das Floß hatte eine fast mannshohe, dicke Reling von fest versteiften Bambushölzern, und was die Brustwehr bisher verborgen hatte, gewahrte ich nun mit ungläubigem Staunen: Das vertiefte Achterdeck, die dort erbaute große Kajüte, die freilich einem luftigen Sommerhäuschen aus Bambus weit mehr glich als der Achterkajüte eines veralteten Seglers, — hinter dieser Kajüte blinkte der weiß gestrichene, meterlange Hebelarm eines Steuers, an dem eine regungslose Gestalt mit qualmender Pfeife lehnte, — zwei Fenster mit weißen Vorhängen waren linker Hand der Kajütentür erleuchtet, und über diese Vorhänge glitt ruhelos der verzerrte Schatten eines auf und ab schreitenden Mannes, der zuweilen mit heftigen Gesten seine mir unhörbaren Worte, gerichtet an Unsichtbare, kraftvoll unterstrich.

Das war so der erste Eindruck, der erste Ausschnitt des Bildes.

Ich wandte den Kopf …

Wir standen hier etwa in der Mitte des Decks, mehr nach vorn zu waren auf der Reling zwei Motoren mit Propellern montiert, ein dritter Motor knatterte sanft und taktmäßig vorn am Bug.

Huschende Schatten bedienten und beobachteten die Motoren, — ich zählte sechs Leute …

Von den hohen Masten waren die braunen Bluff-Segel verschwunden, dafür glitzerten zwischen den Mastspitzen die Drähte einer Antenne, deren Ableitung zur Achterkajüte lief.

Herr Chan Kai ließ mir Zeit, mich umzusehen. Er bemühte sich, den Lukendeckel wieder sauber einzufügen, der mit anerkennenswerter Geschicklichkeit so fein in die Deckhölzer eingearbeitet war, daß bei der ungleichen Länge seiner Stäbe schon ein sehr scharfes Polizeiauge dazu gehört hätte, die Umrisse der Grenzen dieser Luke herauszufinden. — Der Kommandant der „Garonne” war kein Polizist gewesen.

Herr Chan Kai war fertig, trat zu mir und deutete auf den Schatten, der über die Fenstervorhänge glitt, die im Luftzug hin und her wehten. Die Fensterflügel standen offen. Trotzdem übertönte der Lärm der drei Motoren die Stimme des erregten Ordrupp, der da allzu nachdrücklich, so schien es mir, seine Ansicht gegenüber der eines seiner Gefährten verteidigte.

„Ich darf Sie wohl anmelden, Mr. Abelsen”, raunte der Alte mir ins Ohr, und seine geheimnisvolle, nervöse Geschäftigkeit berührte mich wenig angenehm.

„Nur zu …!”

… Ich starrte auf das eine Fenster …

Ein Windstoß hatte den Vorhang nach innen flattern lassen, und kurz und flüchtig erspähte ich in dem unbekannten Raume dort einen gewöhnlichen Liegestuhl, in dem, halb bedeckt von einer hellen Seidendecke, ein Mann mit einem dicken, unförmigen Schädel, brandroten, wirren Haaren und einem ebenso fuchsigen Vollbart und wahrhaft gigantischen Schultern und Armen ruhte.

Zu rasch rauschte das weiße Linnen zurück, das Bild verschwand, aber es hinterließ trotzdem in mir ein jäh erwachtes Gefühl von Abscheu und leiser Sorge … Vielleicht hatte ich Sven Ordrupps Haifischscherz doch zu leicht genommen. Nun denn, — so wahr ich hier auf rundlichen, ungewöhnlichen Deckplanken eines ungewöhnlichen Fahrzeuges stand: Der Leutnant Raoul de Couvrette würde am Leben bleiben! Oder aber …

Doch das würde sich nun ja sehr bald herausstellen, denn Chan Kai trippelte bereits der Tür zu, trat ein, — plötzlich erlosch das Licht hinter den beiden Fenstern, und der alte Chinese watschelte auf seinen daumendicken Filzsohlen bereits wieder herbei, schob die Hände in die Jackenärmel, verneigte sich wie ein Stehaufmännchen und lispelte noch eilfertiger:

„… Sie haben doch natürlich nichts gesehen, Mr. Abelsen, natürlich nicht … Sie schauten ja gerade nach der anderen Seite … — Kommen Sie also bitte… Und — — seien Sie klug und bezähmen Sie all die überflüssigen Gewohnheiten, die auf Ihren einsamen Pfaden etwas Selbstverständliches geworden sein mögen. Der kluge Mann redet wenig, fragt nichts und ist dankbar bis zu einer gewissen Grenze …” Mit diesem eigenartigen, eindringlichen Nachsatz schritt er mir voraus und stieß im Flur des Kajüthauses dann die erste Tür linker Hand weit auf.

In demselben Augenblick flammte drinnen das Licht wieder an, und Chan Kai meldete mit frostiger, scharfer Stimme, die mir ganz fremd vorkam:

„Mr. Abelsen, Käpten …”

Hinter mir fiel die Bambustür zu, und ich stand zum ersten Male einer der seltsamsten Persönlichkeiten gegenüber, die mir je weitab vom Alltag begegnet sind.

Mein erstes Empfinden war das einer gewissen Enttäuschung.

Meine Blicke irrten durch den Raum … Der Liegestuhl war verschwunden.

Billigste, abgenutzte Schiffsmöbel, trotzdem mit Geschick gestellt und eine geringe Behaglichkeit aushauchend, erweckten den Eindruck reizloser Alltäglichkeit.

Auch der Mann, der dort vor einem Schiffspult saß und sich nun leicht und geschmeidig erhob, hatte auf den ersten Blick nichts Besonderes an sich.

Die vier in die Bambusdecke dieser Kajüte eingefügten elektrischen Lampen mit matten Glocken ließen seine bartlosen, frischen Züge weich und ungewöhnlich jung erscheinen. Er war von meiner Größe, nur schlanker, und der blaue Bordanzug mit Goldknöpfen, die tadellose Wäsche, die weißen Schuhe mit Gummisohlen und das straff gescheitelte blonde Haar über einer hohen, kantigen Stirn boten selbst für das noch so mißtrauisch schürfende Auge nicht das geringste Ungewöhnliche.

Es sei denn, daß man sich von dem Kapitän eines Riesenflosses eine etwas weniger salonmäßige Vorstellung macht.

All diese ersten Eindrücke verflogen jäh, als Sven Ordrupp über die dicken Kokosmatten sehr langsam auf mich zukam, vor mir stehen blieb und mich kalt und abschätzend von oben bis unten musterte.

Dabei trafen sich unsere Blicke, ich schaute in ein paar helle, harte, glanzlose Augen, deren fast starres Erloschensein ein plötzliches Gefühl des Widerwillens erzeugte.

Schon allein dieses unbedingt unverschämte Taxieren meiner Person, so, als ob ich lediglich ein toter, käuflicher Gegenstand wäre, hätten mich unter anderen Umständen all die Mahnungen des alten Chinesen vergessen lassen.

Aber — dort unten irgendwo saßen Freund Schami und die blühende Jugend des anderen Zufallsgefährten …

Ich schwieg …

Möglich, daß meine Miene trotzdem einiges verriet. Möglich, daß ich bewußt unmerklich lächelte.

Dieses Lächeln verschwand.

Sven Ordrupp hatte mit einer Stimme, die wohl jeden frösteln machen mußte, nur gesagt:

„Also … Abelsen …!”

Nichts weiter …

Es lag keine Nichtachtung in seinem Ton, keine Unfreundlichkeit.

Er sprach es hin, als ob er vor einer billigen Ramschstatue stände und irgend einem ebenso uninteressierten Begleiter erklärte: „Da — Dutzendware!”

Es lag eigentlich überhaupt kein irgendwie gearteter Ton in dieser Stimme. Sie war vielmehr genau so erloschen wie diese eisigen, starren Augen.

Diese Stimme war tot, erfroren.

Und daher ohne Gefühl, erkältend, — — ein Eishauch, als wehte aus einem Gletscherschlund der Odem des ewigen Eises empor.

Und der Klang dieser Stimme weckte trotzdem meine Phantasie … Der Mann da vor mir mußte Ungeheuerliches gelitten und ertragen und … überwunden haben.

Erinnerungen mußten ihn umwehen mit grauenvoller Hartnäckigkeit und mit grauenvollen Bildern …

Erinnerungen können trösten, aufrichten, erfreuen …

Oder — werden als häßlich abgewiesen. Man tötet sie gewaltsam, man verbietet ihnen den frechen, aufrüttelnden Schritt in die bessere Gegenwart.

Oder — man wird sie nie los, sie kleben an einem wie ein ewig brennendes Nessusgewand …

Wie hier …

Und deshalb erwiderte ich ihm, ein Lebenskundiger dem vom Leben Zerstörten:

„Sven Ordrupp, ich bedauere Ihr Geschick … Es muß über alle Maßen hart und erbarmungslos sein.”

Die Wirkung?!

Was hatte ich denn groß gesagt, — hatte ich etwa geredet wie einer jener Scharlatane des Daseins, die am Schreibtisch menschliches Leid in feinste Fetzen zerpflücken, sich dazu durch Sekt anregen und damit Geld verdienen als bedeutende Dichter?!

Ich hatte aus einem reinen Gefühl des Mitleids als Mensch zum Menschen gesprochen, und Sven Ordrupp war zurückgefahren wie unter einem blindwütigen Hieb und war in seinen Stuhl gestolpert und hatte mir den Rücken zugekehrt und die Fäuste gegen die Ohren gepreßt.

„Gehen Sie …!”, sagte er dumpf …

Nur das …:

„Gehen Sie …!”

Aber ich, der soeben nur einen einzigen Blick hinter den Vorhang einer erfrorenen Seele geworfen hatte, ich blieb …

Leider …

Ich kannte den Mann noch nicht, — was wußte ich von ihm? — Nichts als das eine: Daß er Mitleid verdiente, daß finstere Qualen eines allzu wachen Gedächtnisses ihn innerlich ausgehöhlt hatten, wie die emsigen, gierigen Ameisen den Baum zu Pulver zernagen, in den sie erst einmal hineingeschlüpft sind …

„Sven Ordrupp, ich möchte Ihnen so gerne helfen, mit der Erinnerung fertig zu werden und …”

Alarm im Irrenhaus!!

Das war es …

Feuer im Irrenhaus — unbeschreibliche Szenen — arme Verrückte, heulend, bellend, kreischend, jubelnd …

Alarm!

Das war es …

Wie ein Blitz war Ordrupp emporgeflogen.

Leichenhaft das Gesicht, … verzerrt zur Unkenntlichkeit …

„Spion!!”, brüllte er … „Spion …!!”

Und diese Stimme, — das war dieselbe, die das wilde, tolle, gellende Lachen dem Kreuzer nachgeschickt hatte.

Wie ein Blitz fuhr seine Hand in die Tasche …

Abwarten?!

Mich niederknallen lassen?!

Ich?!

… Er hatte die Pistole erst halb erhoben.

Da war ich über ihm, schlug zu, schlug ihm mitten vor die eiskalte, schweißfeuchte, nasse Stirn.

Packte zu, fing ihn auf, trug den schlaffen Körper an Deck, prallte gegen den greisen Chan Kai, der wie ein Ball zur Seite flog …

Ich lief um mein Leben …

Ich sah, daß die Kerle von der Reling sprangen, ihre Motoren im Stich ließen, in die Gürtel griffen …

Pfeifend, zischend sauste ein Messer dicht vor meinem Mund vorüber …

Dort mußte die Luke sein …

Dort … schnellte der Bambusdeckel hoch, und Freund Schamis braunes, kühles Gesicht wies mir den Weg. Aus Schamis Hand schossen drei Blitze.

Drei Schreie hinter mir … Sven Ordrupp kollerte die Leiter hinab, — — der Lukendeckel klappte zu, und am Fuße der Leiter winkte Raouls patente, elegante Tropenuniform. —

Als wir unser Bambusgemach glücklich erreicht hatten, als unser Baby dem noch immer Bewußtlosen in das Gesicht leuchtete, riefen Schami und Raoul in einem Atem: „Das ist nicht Ordrupp!!” — Wer war dieser Mann, wenn es wirklich nicht Ordrupp war?!

 

4. Kapitel.

Das Floß Madagaskar.

Schami kniete auf einer der Bambusbänke unserer luftigen Festung und wuchtete die oberen Stangen der kastenartigen Bank mit zähem Zerren und kräftigen Rucken los. Leutnant Baby half ihm, und, weiß der Himmel, unser Baby schonte seine feinen Händchen nicht und entwickelte sich zum brauchbaren Mitglied unserer Schicksalsgemeinschaft.

Der gefesselte Ordrupp — wie sollten wir ihn vorläufig anders nennen? — lag auf der zweiten Bank an der Steuerbordseite. Er war bereits wieder bei voller Besinnung, und seine kalten Augen beobachteten unser Tun und Treiben mit einem klaren Ausdruck überheblichen Hohnes.

„Hallo, — — wir können es brauchen!”, meldete sich der keuchende Schami, als die zweite Stange losgewuchtet war, und schaute zufrieden in den Bankkasten hinein.

Ich beugte mich über den schmalen Tisch, der die beiden Wandbänke trennte, und ich sah mit einem jähen Gefühl begreiflicher Freude den langgestreckten Behälter bis oben mit Konservenbüchsen gefüllt.

Trotzdem war mir anderes wichtiger.

Die verborgene Tür, die in das Innere des Flosses führte, schlug nach innen, und es galt nun, sie schleunigst mit den so gewonnenen Stangen abzustützen, damit ohne unsere Erlaubnis niemand der Besatzung hier eindringen könnte.

Leutnant Baby stemmte die dicken Stäbe sehr geschickt in ein paar Ritzen und gab ihnen am unteren Ende an den festgenagelten Tischfüßen festen Halt.

Schami, ganz versessen auf die Musterung des uns so nötigen Proviants, meldete übereifrig:

„Fleisch, Früchte, Reis, Hartspiritus, ein Spirituskocher, zwei Remingtonbüchsen, Patronen, ein Beil, zwei Buschmesser…”

„Nicht eßbar!”, warf Baby fröhlich ein, dessen frische, unbelastete Jugend dieses Abenteuer als ein romantisches Geschenk betrachten mochte.

Schami schwieg ärgerlich — vielleicht ärgerlich, denn von seinem steinernen Gesicht Gefühlsregungen abzulesen ist nicht ganz leicht.

Schweigend riß er eine dritte Stange los, schlug die Nägel mit der breiten Seite des Beiles heraus und nagelte die Türstützen fest.

„Sie genügen”, sagte er ablenkend, — obwohl mir längst klar war, daß lediglich Ordrupps Person als Geisel uns gegen Schüsse vielleicht zu schützen vermochte.

Leutnant Baby betrachtete seine zerschrammten, blutenden, Hände und zuckte knabenhaft stolz die Achseln.

„Das macht gar nichts!”, sagte er leichthin und trocknete das Blut mit seinem bunten, seidenen Taschentuche ab. Dann schaute er die Außenbordtür an, durch die wir vor drei Stunden das geheimnisvolle Floß betreten hatten. Auch sie schlug nach innen, sie hatte jedoch innen zwei sehr feste Riegel, und ein Abstützen war unnötig.

Schami, von uns drei Eingesperrten der längste und schmächtigste, trat wortlos neben den gefesselten Ordrupp, hob ihn spielend leicht empor und nickte mir bedeutungsvoll zu. Ich verstand, nahm die Sitzkissen, legte sie in doppelter Schicht über die halb zerstörte andere Bank, und Schami ließ den finster und verbissen uns anblitzenden Ordrupp ohne viel Rücksicht auf die Bank fallen. Seine Absicht war unschwer zu erraten, auch der zweite Bankkasten sollte durchsucht werden. Die Sitzstäbe waren hier jedoch nicht festgenagelt, wie sich nun herausstellte. Sie waren durch untere Querhölzer verbunden, und wir konnten nach kurzer Prüfung des reichen Inhalts dieses zweiten Behälters mit Sicherheit annehmen, daß dieser versteckte Raum, der 4 mal 5 Meter groß war, bereits vor uns längere Zeit oder doch häufiger für einige Tage bewohnt gewesen war.

Leere Konservenbüchsen, ein großes Teebrett aus Blech mit Brandspuren, ein benutzter Spirituskocher und andere Kleinigkeiten besagten einwandfrei, daß meine Vermutung stimmte.

Die Hauptsache aber war: In diesem Bankkasten standen auch vier große Blechkannen mit Trinkwasser, die genau so konstruiert waren wie die Trinkwassertanks auf Überseedampfern, die also das Wasser frisch erhielten.

Ich ließ Leutnant Baby und Freund Schami bei der endgültigen Zählung der Vorräte allein und wandte mich, wozu ich bisher keine Zeit gehabt, einer recht gründlichen Besichtigung des Gelasses zu, aus dem wir vielleicht nur durch einen glücklichen Zufall wieder entwischen konnten. Ich hatte ja längst die felsenfeste Überzeugung gewonnen, daß der alte Chan Kai nicht zu viel gemurmelt hatte, als er von den tausend Geheimnissen dieses seltsamen Fahrzeugs gesprochen hatte. — Tausend war natürlich übertrieben. Aber welcher Chinese lügt nicht unbewußt das Zehnfache hinzu?! Ich kannte diese Asiaten, ich schätzte sie als die vielleicht einzig dankbaren Menschen, die eine Wohltat nie vergessen. Ich überschätzte sie nicht, aber ich hatte mich längst von dem Vorurteil befreit, daß alle Söhne des Reiches des Himmels minderwertige Kreaturen seien.

Meine Untersuchung unseres Gemaches hatte zur Folge, daß gerade ich als Ingenieur einfach verblüfft war, wie genial dieses Ungetüm aus schwimmfähigen Bambushölzern zusammengezimmert war. Die breiten Eisenbänder, die die Außenhaut in dunklen Streifen überzogen, waren hier im Innern durch Reihen von Stützpfählen ersetzt worden. Lange Schiffsnägel sorgten für noch festeren Zusammenhalt des Ganzen, und ich konnte mir wohl vorstellen, daß selbst der tollste Orkan diesem Floß nichts anhaben könnte, dessen wahre Bestimmung mir unerklärlich blieb.

Das, worauf es mir ankam, war bald erwiesen: Außer den beiden uns bisher bekannten Türen gab es keine weitere.

Vorläufig waren wir in Sicherheit.

Leutnant Baby, so recht knabenhaft nach Betätigung lechzend, fragte in kameradschaftlich-freiem Tone, ob er nicht ein Nachtessen zusammenbrauen solle.

„Ich habe Hunger …”, fügte er ehrlich hinzu.

Die Antwort kam aus Ordrupps verkniffenem Munde:

„Lassen Sie mich jetzt frei … Ich will Ihnen die Frechheit Ihres Vorgehens nicht weiter nachtragen …”

Er hatte sich aufgerichtet, ließ die Beine herabhängen und saß nun direkt unter der pendelnden Laterne, deren Scheiben Freund Schami vorhin sauber geputzt hatte, so daß das Licht bis in den entferntesten Winkel fiel.

Sven Ordrupp (falls er Anspruch auf diesen Namen hatte) war bereits wieder derselbe eisig-anmaßende, stolz-selbstbewußte, vollkommen gefühllose Mensch, als der er mir in seiner Kajüte gegenübergetreten war. Er hatte klugerweise gewartet, bis er die Folgen meines Fausthiebes vollständig überwunden hatte, und er spielte sich jetzt mit einer geradezu erstaunlichen Arroganz als unser Gebieter, nicht als Gefangener auf.

Sein Gesicht war unbewegt wie eine Maske, nur die Augen brannten in drohendem Feuer, seine Stimme glich wieder dem Eishauch aus einer Gletscherspalte, und Leutnant Baby stierte ihn daher wie ein unbekanntes Wunder an und kaute verwirrt die Unterlippe.

Ordrupp nahm keine Notiz von ihm.

Dieser seltsame Mann, der mir immer mehr ein Rätsel wurde, besaß zweifellos die seltene Gabe, all die, denen er gegenübertrat, durch die eigentümliche Macht seiner Persönlichkeit in Bann zu schlagen.

So wie er dort herrisch aufgerichtet saß, den prächtigen Kopf ohne jede Theatralik leicht zurückgeworfen, die vorgewölbte Brust unter tiefen Atemzügen hebend und senkend, alles an ihm brutaler Machtwille und skrupellose, kalte Herrschsucht und grenzenlose Verachtung der gesamten übrigen Menschheit, — so stellte ich mir wirklich jene Korsaren- und Flibustierkapitäne vor, die einst mit ihren siegreichen, sieggewohnten Schiffen ganze Weltreiche bekriegt hatten.

Aber …

Und hier begann der Wetzstein, der von Sven Ordrupps bewußter und doch ungekünstelter Eigenart die äußere Patina abschliff.

Über solche Leute wie er, deren eisige Augen tief verborgen in versteckten Hintergründen trotz allem den melancholischen Schimmer des Leides bergen wie den Nachglanz einer im Gewittergewölk scheinbar erstickten Sonne anderer Tage besserer Zeiten, froherer Regungen, — aber solche Leute wie dieser geheimnisvolle Kapitän eines den indischen Ozean durchpflügenden Riesenflosses mögen vielleicht willenlähmenden Einfluß gewinnen auf die spielerischen Lebenskämpfer, die dort irgendwo in den Steinhaufen der Zivilisation, Städte genannt, sich aufblähen als die Lenker der Geschicke ihrer zahllosen angeblich freien Sklaven. Solche spielerischen kleinen, kleinlichen, von Machtdünkel gekitzelten Männlein waren mir in Überfülle begegnet, angefangen etwa von dem läppisch-wichtigtuerischen Kommissar, der den verbrecherischen Abelsen einst verhaftete, bis hinab zu dem verniggerten Zuchthaussubjekt, das meine Personalien bei der Einlieferung aufnahm und die Nüstern aufpustete wie ein aus dem Schlamm auftauchendes Flußpferd.

Das Abseits fegt all diese Scharlatane des Daseins aus unserer Erinnerung in den Winkel als nutzlose Spreu. Das Abseits hat andere Maße für Menschen und Dinge.

Ich hätte meinen dicken, behäbigen Zuchthausaufseher, der stets die Nase voller Schnupftabak und das Hirn voller Sehnsucht nach seiner Edelkaninchenzucht hatte und dennoch wie ein lächerlicher Napoleon kommandierte und schikanierte, ein einziges Mal splitternackt auf den Strand eines unbewohnten Südsee-Eilands setzen mögen: Napoleon wäre verhungert, hätte nicht eine einzige Kokosnuß aufgebrochen und sich gesättigt.

Übrigens nannten wir im Flügel 4 ihn alle nur Napoleon. Sicherlich hat er inzwischen ein Silberkaninchen gezüchtet, dessen Fell statt zwei Kronen drei Kronen einbrachte. Nicht einmal seine Karnickelliebe war selbstlos. Im übrigen war er mit einer Schlange von Frau behaftet, im Vergleich zu der Chan Kai noch eine Schönheit war und nach Rosen duftete. — Der Mann war zu bedauern.

Nein, Sven Ordrupps Flibustiernatur imponierte mir gar nicht. Er war mir zunächst Studienobjekt gewesen, das Mitleid verdiente, jetzt war er mir lediglich Gefangener, wertvoller Schutz gegen seine Banditen und vielleicht noch ein Mann, der sich erziehen ließ.

Seine Worte hatten mir allein gegolten. Ich allein antwortete. Schami hatte eine Kiste Zigarren geöffnet und suchte sich das beste Exemplar heraus. Amed Schami ist ein Blender. Aber nach der anderen Seite hin. Wer ihn unterschätzt, schätzt vorbei.

Leutnant Baby wollte Wurstigkeit markieren und knipste sein goldenes Zigarettenetui mit Wappen und Krone in kleinen Diamanten auf. Er war lediglich Imitator und richtete sich nach Schami.

Ich lehnte am Tisch, und in die schwere Stille nach Ordrupps anmaßenden Sätzen rauschte der nächtliche Ozean mit seinen klatschenden Wogenkämmen hinein und das ferne Knattern und Sausen der Motoren, die irgendwo versteckt gewesen, als die hohen Herren des Plätteisens sich auf dem Floß eine Weile allzu mausig gemacht hatten. Eine Weile … Ich konnte mir vorstellen, wie die uniformierte Autorität dieser Herren unter Ordrupps eiskalten Blicken allmählich zu süßlichem Eiskreme geworden.

Ich schaute Ordrupp in die hellen Augen und sagte sehr gleichmütig:

„Wer sind Sie? Sven Ordrupp sind Sie nicht. Schami und Raoul, meine Gefährten, haben Bilder dieses Sven gesehen, der ein Sträfling auf der Todesinsel war, der entfloh und Freibeuter wurde, der fünf Landsleute befreite und dem man nie die Versenkung eines einzigen Schiffes nachweisen konnte, weil er Besatzung und Passagiere erbarmungslos mit ersäuft haben soll … soll … — Wer sind Sie also?”

Der Mann mit dem verwegenen Gesicht, das zweifellos Weiber toll machen konnte, schürzte verächtlich die Lippen.

„Ist das Ihr Dank, Abelsen?!”

Nur das …

Aber noch eisiger, noch mehr ein Frösteln hervorrufend als blutrünstigste Drohungen.

Dieser Mensch war entweder doch eine Bestie oder ein armer Verrückter.

Dank?!

Es tut nie gut, jemandes Dankbarkeit anzurufen. Schon das ist eine Blöße, die man sich gibt. Dankbarkeit ist eine jener ganz seltenen Eigenschaften, die man besser als nicht vorhanden ansieht …

Ordrupp faßte mein unmerkliches Achselzucken richtig auf.

„Ich verlange keinen Dank …”, sagte er mit beißendem Hohn. „Dazu kenne ich dieses sogenannte Edelviehzeug von Mensch zu genau … Immerhin: Ohne mich säßen Sie jetzt in Eisen, Abelsen. Das wissen Sie.”

„Ein Irrtum”, korrigierte ich kühl. „Ich läge irgendwo im nassen Grabe oder stückenweise im Bauche von Haien … — Sie haben die Funksprüche meiner indischen Freunde aufgefangen genau wie der Kreuzer. Chan Kai winkte uns, ich bat nicht um Schutz. Aber Ihnen lag etwas daran, uns oder mich auf Ihrem Floß aufzunehmen. Aus Barmherzigkeit, aus Güte sicherlich nicht. Also weshalb?!”

Hammerschläge waren diese Worte auf eine erfrorene Seele, und diese Seele dröhnte unter den Hieben, und über Ordrupps Lippen kam ein stolperndes, unnatürliches Lachen, das wild und überlaut unser Versteck mit dröhnenden Schallwellen füllte.

Leutnant Baby fiel die Zigarette aus dem Munde.

Schami saß auf der anderen Tischkante und lud die Remingtonbüchsen und klappte den Verschluß zu.

„Sind Sie ein Advokat oder ein Philosoph, daß Sie aus schwarz weiß machen?!” —, war der Nachklang dieses Satanslachens.

„Weshalb retteten Sie uns?”, fragte ich noch gleichgültiger.

Sven Ordrupps seltsame Augen, die mir weh taten, flackerten jäh wie vorhin, als ich seinen Kugeln mit den Faustknochen zuvorkam.

„Geben Sie mich frei, — oder beim Teufel: Sie werden an einem Tau im Kielwasser der Madagaskar schwimmen, und die Haie werden Sie gründlich zerpflücken …” Seine Oberlippe war ein steiler Bogen, prachtvolle weiße Raubtierzähne schimmerten darunter, und die vorgewölbte Brust arbeitete in hastigen Atemstößen.

… Madagaskar . . ?!

Merkwürdig!

Meine Gedanken glitten ab, verloren sich rückwärts in jüngste Vergangenheit, als Freund Schami mir sein Jugenderlebnis berichtet hatte — seine große, eitle, glitzernde Hoffnung.

Deshalb waren wir mit dem Kutter heimlich in See gegangen — deshalb: Etwas zu suchen, das in Amed Schamis Hirn niemals verwelkt war trotz der fünfunddreißig Jahre zwischen Einst und Jetzt.

Seltsam: Madagaskar hieß dieses Riesenfloß!

Und auch Leutnant Baby, der eilfertig-verlegen seine Zigarette wieder aufgehoben hatte und nun wie ein Schlot mit gemachter Nachlässigkeit qualmte, stellte diese zwecklose Tabakvernichtung ein und schaute Sven Ordrupp mit klaren Kinderaugen forschend an.

Ich spiele nie Theater … Es sei denn, daß es gilt, ein paar arrogante Hohlköpfe zwangsläufig hineinzulegen, Hohlköpfe von jener Sorte, die keine erfrorene, sondern überhaupt keine Seele haben.

Hier?!

Ordrupp hatte mich auf einen Gedanken gebracht, der mit dem Tau, den Haien und den Remingtonbüchsen zusammenhing.

„Ordrupp”, sagte ich leichthin, „ich frage Sie ein letztes Mal: Weshalb retteten Sie mich? Was liegt Ihnen an Abelsen?!”

Die glitzernde, ungezähmte Wut in seinen Blicken verkroch sich allgemach in scheue Winkel, und über sein Gesicht glitt ein neuer Zug: Niederträchtige Verschlagenheit!

„Raten Sie doch!”, höhnte er herrisch.

Ich drehte den Kopf nach Schami hin.

„Gib das Tau dort aus der Ecke … — Raoul, öffnen Sie die Seitenpforte …”

Raoul Baron de Couvrette hatte längst vergessen, daß er noch vor kurzem jüngster Offizier auf der „Garonne” gewesen war. Dieser junge Mensch zeigte eine Anpassungsfähigkeit, die mir zusagte. Von Gegnerschaft zwischen uns war keine Rede mehr. Er freute sich mit dem sehnsüchtigen Ungestüm der Unreifen über diese Extratour, die er da unfreiwillig unternommen hatte. — Er war ein großes Kind gewesen, aber wenige Stunden hatten ihm des Daseins andere, seltsamere Seite gezeigt, und er bemühte sich ehrlich, sich in dieses Neue, in dieses Abseits vom Herkömmlichen hineinzufinden. Seine geschmeidige, kräftige, nicht verweichlichte Jugend begriff instinktiv die Gefahren, die uns umlauerten, und schon allein die Art, wie er nun mit entsicherter Pistole die Außenpforte langsam öffnete und erst behutsam hinausspähte, machte ihn mir lieb und wert. Ich wußte genau: Das Floß Madagaskar würde ihm die letzten Flaumfedern des unflüggen Vögleins abstreifen.

Schami, der in all seiner Hagerkeit und trotz der Schmalhüften und engen Schultern als alter seebefahrener Maat langes Gewäsch so gründlich verabscheute, nahm das Tau, band es unter Ordrupps Armen fest und trug den Käpten des Rätselflosses zur offenen Pforte.

Ich öffnete schnell eine Fleischbüchse, das Messer knirschte im Blech, und die großen Kinderaugen Leutnant Babys huschten fragend von einem zum anderen.

Als er den Zweck der Zurüstungen begriff, wurde er bleich, biß sich jedoch wütend in die Unterlippe und spielte den verhärteten Bösewicht.

 

5. Kapitel.

Die Stimme der Frau.

So oder so … — Wir mußten mit Sven Ordrupp reinen Tisch machen.

Das, was er uns bisher auf der rauhen Tafel seiner Brutalität vorzusetzen gewagt hatte, mußte verschwinden.

Ordrupp mußte erkennen lernen, daß hier eiserner Wille gegen tolle Verstocktheit rang.

Draußen glitzerten auf den Wogen die Sternenbilder, draußen wehte ein lauer Wind, und das ausgestirnte Firmament und der Mond, der in die Wellentäler zuckende Silberstreifen streute, machten die Dunkelheit zur träumerischen Dämmerung.

Das gigantische Floß schlingerte nur ganz wenig, und an den vorüberziehenden Wogen erkannte ich, daß die drei Propeller ihm etwa acht Knoten Geschwindigkeit geben mochten.

Ich stand in der Pforte, hielt mich mit der Linken fest und spähte hinab in die gurgelnden Wasser. Ich hörte die Bambusstämme unter dem Anprall der Spritzer knarren und ächzen, — es klang wie das Rumoren im Gebälk eines Hauses, das bei einem Erdbeben zusammenstürzen will.

Ich sah in den gläsernen Schlünden der aufgezäumten Ozeanrosse, die weiße Sättel trugen, große Leuchtquallen schimmern, deren flacher Glockenkörper sich dehnte und zusammenzog in unermüdlichem Eifer. Und sah die fahlen, huschenden Striche, gelenkigen Torpedos gleich, genau so verderblich wie diese: Hyänen des Meeres, stille Begleiter der Schiffe, von deren Abfall aller Art sie ihre Ledermagen füllen können.

Haie …

Haifische.

Ordrupp, von Schamis Faust nähergeschoben, sah sie auch.

Aus meiner Hand flog ein Fleischbrocken in die See …

Ein zweiter …

Die fahl leuchtenden Spindeln schossen empor — geisterhaft, blitzschnell, vereinigten sich zum dicken, strahlenbesetzten Knäuel …

„Ordrupp, weshalb also?”, fragte ich zum letzten Mal.

Ein Lächeln, wie es nur über die Züge eines Verlorenen fliegt, zuckte um seinen harten Mund.

„Das gefällt mir, Abelsen”, meinte er schlicht. „Sie sind ein ganzer Kerl!”

„Schami!!”

Und Freund Käpten Amed Schami, der bisher sein Leben auf einem Frachtdampfer in Alltag und Langerweile eingepökelt gehabt hatte, schleuderte Sven Ordrupp mit kräftigem Stoß in die Tiefe, ließ das Tau durch die Hände gleiten und sorgte dafür, daß Ordrupp schräg unter uns im Wasser schleifte.

Als Ordrupps umschnürter Leib in die Wogen klatschte, erscholl über uns ein heller, klingender Schrei.

Vielleicht Chan Kai …

Ich hatte die Repetierbüchse bereit, Leutnant Baby hatte die zweite ergriffen, — dieser Knabe war verblüffend eifrig und noch weniger begriffsstutzig.

„Eine harte Kur …”, sagte er verständnisvoll.

Wieder über uns vom Bollwerk der „Madagaskar” der eigentümlich melodische Schrei …

Chan Kai?! Niemals …!

Also war auch ein Weib an Bord! —

Wunderte mich das?! Einem Mann wie Ordrupp mußten die Frauen zufliegen wie die Schmetterlinge dem Nektar der Blütenkelche oder … dem Aasgestank der tropischen Riesenblume, deren Duft nur Verwesung ist.

… Ordrupp fegte durch die nächtlichen Wogen wie ein lebloser, langer Sack … Er hatte den stolzen Kopf zurückgebogen, er wandte ihn hin und her, spähte nach den fahlen, großen Spindeln aus, die nun herbeiflogen durch Gischt und Schaum und flüssiges, graugrünes Glas gleich Unholden der Tiefe.

Er zog die Beine an …

Er stieß sie kraftvoll aus, bevor noch der vorderste Hai sich auf den Rücken drehen und zuschnappen konnte.

Leutnant Babys zitternde Stimme keuchte voller Grauen:

„Das… ist… zu viel!! Abelsen, das …”

„… Er wollte mich erschießen, und er wird uns denen da zum Fraße vorwerfen, mein Kind.”

Babys Zähne klapperten.

Dann war ein anderer Hai heran …

Über uns schrillte der klare Ruf:

„Schonen Sie ihn … So soll er nicht sterben, — schonen Sie ihn …!!”

Ich hatte nur Augen für die Haie …

All meine Sinne waren dort unten.

Ordrupp war Mann …

Er züchtete keine Edelkaninchen, er schaukelte nicht im weichen Auto zum feudalen Büro, um dort am feudalen Schreibtisch Menschen zu regieren und zu drangsalieren mit der sadistischen Freude der hohen Herren über die eigene Machtfülle. Ordrupp schnellte zur Seite, entging dem Angriff, — — und das Spiel ging weiter.

Ein freventliches Spiel, das wir uns anmaßten?!

Niemals! Nur ein letzter Versuch, diesen Mann innerlich zu zermürben, ihm zu zeigen, was es bedeutet, die Haie im Wasser neben sich zu haben und wehrlos zu sein.

Er hätte uns getötet.

In ihm loderte eine Besessenheit, vor der Chan Kai mich gewarnt hatte. Nur die Todesfurcht konnte diesen Besessenen heilen, dem schon die Frage nach der Ursache seines Leides die Pistole besinnungslos in die Faust drängte.

Es war keine Gefahr für Ordrupp.

Ich bin meines Schusses auf die kurze Entfernung sicher.

Aber das wußte er nicht, und seine eherne Ruhe, mit der er die empfindlichen Schnauzen der Haie durch Stöße mit den Schuhen bedachte, rieb sich auf in dem Kampf gegen die Übermacht.

Plötzlich knallten droben von der Reling ganze Salven, verdarben mir den Endeffekt.

Weiße Bäuche trieben auf den Wogen, tote Haie entschwanden im Schwalch des Flosses, die Geschoßeinschläge fanden kein Ziel mehr, das Schnellfeuer verstummte.

Freund Schami hißte Ordrupp rasch empor. Wasser und Blut liefen wie gefärbte Bäche aus Ordrupps Ärmeln auf die braunen Bastmatten, die die Feuchtigkeit gierig aufsogen. Meerwasser tropfte aus dem nassen, in die Stirn gespülten Blondhaar, und die durchweichten Kleider schmiegten sich um einen Körper von vollkommenem Ebenmaß.

Wie ein harter, berechtigter Vorwurf traf mich Ordrupps nachsichtiges, etwas geistesabwesendes Lächeln, mit dem er über meine bange Frage quittierte, ob er irgendwie verwundet sei. Das harte Spiel, das ich mit ihm gewagt, hätte jetzt anders enden müssen, sollte nicht ein Gefühl der Beschämung in mir aufsteigen. Unter diesem niederdrückenden Empfinden, vielleicht doch zu weit gegangen zu sein, zerfetzte mein Messer ohne Bedenken seine Fesseln, und der wie immer über der Situation stehende Schami streifte eilends Ordrupps Jacke herunter, während unser blasser, noch immer krampfhaft den Büchsenlauf umkrallender Leutnant Baby mit übergroßen Kinderaugen, in denen noch das helle Entsetzen über die Angriffe der fahlen Spindeln auf den kaltblütigen Käpten der „Madagaskar” schillerte, ganz umsonst versuchte, seine jugendlich glatten Züge in mißbilligende Falten zu legen.

„Eine Schramme …”, sagte Ordrupp fast freundlich, als Schamis Messer das Hemd über dem Nacken aufschnitt und einen ungefährlichen Streifschuß bloßlegte.

Wenn Ordrupp die ihm wiedergegebene volle Bewegungsfreiheit zu einem jähen, wutflammenden Angriff auf mich, seinen Peiniger, benutzt hätte, würde ich erleichtert aufgeatmet haben, denn solche Handlungsweise wäre das den Umständen nach einzig Natürliche gewesen.

Aber gerade sein unbeschreibliches, halbes Lächeln, hinter dem auch nicht die Spur von Rachgier lauerte, sondern vielmehr das volle Verständnis für das ihm Angetane und eine unerklärliche grüblerische Zufriedenheit mit dem Geschehenen, brachten mich immer mehr außer Fassung und trieben mich wie mit lautlosen Peitschenhieben dazu an, die erfrorene, eisumpanzerte Seele dieses seltsamen Menschen zu erforschen.

„Die Blutung steht bereits”, hörte ich Schami sagen, und die dunkle Stimme meines indischen Freundes kam wie aus weiten Fernen.

Leutnant Baby kramte jetzt in dem einen Bankkasten, und seine bereits weniger salonfähigen Hände förderten glücklich einen Blechkasten mit Mullbinden und Medikamenten zu Tage. Ich hatte seinen Blick beobachtet, der das lächelnde Gesicht Sven Ordrupps soeben gestreift hatte, und ich konnte es ihm nachfühlen, daß seine Unreife nur irgendwie nach Betätigung lechzte, weil Ordrupps unbegreifliches Benehmen und das Nachdenkliche, Grüblerische in seinen Zügen ihn vollends verwirrten und an allem irre werden ließen, das er bisher als normales Verhalten eines gereiften Mannes in seiner Unerfahrenheit betrachtet haben mußte.

Schami suchte aus dem Zinkkasten ein Jodfläschchen hervor, in dessen Pfropfen ein Pinsel eingefügt war, bestrich die Hautschramme mit Jod und sagte in seltener Geschwätzigkeit:

„Käpten Ordrupp, Sie können meine trockenen Hosen anziehen … Ich trage noch Unterbeinkleider, und Abelsens Jacke dürfte Ihnen gerade passen, ich bin zu schmal in den Schultern.”

Ordrupp schritt auf die polsterbelegte Bank zu und setzte sich bedächtig, stützte die Arme auf den Tisch und starrte auf die rauhen Bretter der Tischplatte.

Wir hielten den Atem an …

Vielleicht kam jetzt der erwartete, explosionsartige Ausbruch der tollen Mordinstinkte dieser kalten, rätselhaften Bestie.

Nichts kam.

Ordrupp stützte nur leicht die Stirn in die Linke und sprach vollkommen gelassen, nur mit dem Unterton eines Menschen, der einer Entscheidung entgegenbangt: „Abelsen, — — nicht wahr, es rief doch jemand von der Reling etwas herab, — — ich verstand es nicht ganz, — — jemand … wohl eine Frauenstimme …”

Wir drei, wie in Bann geschlagen, wechselten hilflose Blicke.

Aber ebenso jäh, wie stets nach Minuten des Zurückgleitens in die Irrwege der Daseinsvorgänge jener Welt, die anderen Maßstab an Menschen und Dinge anlegt, schüttelte ich diese kalten Klammern des Nichtverstehens wieder ab und schwang mich geistig zurück auf die Abseitspfade mit ihren Abseitsgestalten und Abseitswertungen.

„Ja, eine Frau …”, erklärte ich so laut und bestimmt, daß Ordrupp etwas den Kopf hob und unsere gänzlich verschieden angefeuerten Blicke sich begegneten.

Er strich dann das nasse Haar spielerisch-gleichgültig zurück.

„Was rief sie, Abelsen?”

Ich log bewußt.

„Sie rief etwa: „Schont ihn! Er darf nicht sterben! Schont ihn!” — Wohl Ihre Frau oder Geliebte, Ordrupp?!”

Seine Mundwinkel dehnten sich, und da ich seinen Augen auswich, erkannte ich nur noch in seinen Mienen den qualvollen Ausdruck halber Ungewißheit.

Zum Glück sprang Leutnant Babys temperamentvolle Zunge mir bei. „Ja, so war es”, erklärte er, jetzt wieder nur Gentleman und edler Ritter. „Wir aber sollten uns schämen, mit einem Wehrlosen derart umgesprungen zu sein, Kapitän Ordrupp.”

Armes Baby! — Die abkühlende Dusche, die ihm rücksichtslos die weiße Kreideschicht unangebrachter Parteinahme für den Gegner wegspülte, folgte unmittelbar und in demselben, eisigen, hochfahrenden Tone, der mir an dem Herrn des Riesenflosses nichts Neues mehr war.

„Sie sind noch sehr jung”, sagte Ordrupp und lehnte sich kerzengerade aufgerichtet zurück. „Sie verstehen noch nichts von Gewaltkuren an Gewaltmenschen, mein junger Herr … Sie werden hier Ihre Zahnbürste, Ihre Zahnpasta und Ihre Fingernagelpolitur sehr vermissen … Auf der „Madagaskar” polieren wir das Unebene mit Kugeln, Messern und Ziegelsteinen und Haifischzähnen. Abelsen hat den rauhen Ton erfaßt, der hier herrscht. Auch Sie werden noch ein Mann werden. Und Mann sein, das heißt, bei der Stange bleiben, nicht ausbrechen wie ein Füllen, dessen Bocksprünge im Geschirr des Schicksals doch zwecklos sind. Nehmen Sie sich diese Worte zu Herzen, Raoul de Couvrette … Zumal zwischen uns fernerhin Frieden herrschen soll … Ich kann wohl … einen verläßlichen Freund gebrauchen, glaube ich … Wie wäre es damit Abelsen?! Eisen und Wachs gibt nie einen Guß, aber Eisen und Eisen läßt sich zusammenschmelzen …” Er hatte den Kopf etwas gedreht und hob mir die Rechte entgegen. „Sind Sie einverstanden? — Nur fragen dürfen Sie nichts, und Ihre Bewegungsfreiheit wird beschränkt bleiben.”

Seine Hand schob sich noch näher.

Ich übersah sie.

„Ordrupp, entweder alles oder nichts”, meinte ich schroff. „Halbheiten sind ein schlechtes Fundament für einen Zukunftsbau, Und Ihre Bedingung „Nichts fragen” klingt verdammt nach der üblen Routine eines Familienromanschreibers.”

Er nickte kurz, seine Hand wurde zurückgezogen, und der Glanz seiner Blicke gefror wie zu Eisnadeln, die mir in die Seele stachen.

„Ich habe von Ihnen nichts anderes erwartet”, erklärte er mit einer Stimme, die nichts als Genugtuung über sein richtiges Schätzungsvermögen verriet. „Sie sind also frei … alle drei … Aber Sie bleiben Gefangene, und jeder Ungehorsam kostet eine unbedingt tödliche Kugel. Die Stunden, in denen Sie sich oben an Deck bewegen können, wird Chan Kai Ihnen mitteilen. Es widerstrebt mir, gesunde Männer vom Sonnenlicht abzuschließen. — Genügt Ihnen das, Abelsen?”

„Vorläufig ja …!”

Er hatte sich erhoben. Selbst in den nassen Kleidern war er eine bestechende Persönlichkeit.

Seine Züge waren wieder ohne Ausdruck, die hellen Augen wie matte Eisstücke, die Stimme wieder bar jeder Seelenregung.

„Vorläufig also.. !!” Er schien innerlich unheimlich zu lachen. „Flucht vielleicht …?! — Abelsen, die lange Reise, die vor uns liegt, berührt keine Insel- oder Festlandsküste … Die Lust, etliche hundert Meilen zu schwimmen, wird Ihnen vergehen!”

Sein Fuß stieß die Bambusstützen weg, daß sie wie Streichhölzer bei Seite flogen. Seine Hand griff in die Tasche und holte den Sperrhaken des Schlosses hervor. Er drehte uns den Rücken zu. Noch war er in unserer Gewalt …

„Ordrupp!!”

Er wandte lässig das nasse Haupt.

„Ordrupp”, fragte ich langsam, „wer war der Mann im Liegestuhl Ihrer Kajüte, der Mann, der wie ein Teufel und wie ein Verfehmter aussah?”

Sein geschmeidiger, muskelstrotzender Körper drehte sich wie unter der Wucht eines furchtbaren Stoßes. Wieder wich ihm jede Farbe aus den Wangen, wieder ward er, unmerklich sich duckend, beißwütige Bestie. Ein röchelndes Keuchen gurgelte über die halb geöffneten Lippen, und aus diesem Röcheln formte sich ein geiferndes Stammeln:

„Hätte ich … das … vorher gewußt, wäre es mir … auch auf … sechs Ziegelsteine nicht angekommen …!”

Man sah es ihm an, welche ungeheuere Selbstbeherrschung es ihn kostete, sich nicht völlig zu vergessen und zuzuspringen und meine Kehle zu umkrallen. Seine bis zur Hüfte erhobenen Hände schlossen und öffneten sich wie im Krampf, und erst als das Blut ihm in roter Welle bis zur Stirn flutete, wandte er sich ruckartig um, riß die Tür auf und schmetterte sie hinter sich zu.

Leutnant Baby lallte mit schwerer Zunge:

„Wir … hätten ihn … erschießen sollen! Der Mensch … ist verrückt … ist …”

„Bei der Stange bleiben, Raoul!!”, mahnte ich etwas benommen.

Dieser Ordrupp war kein angenehmer Gastgeber und Kapitän.

Amed Schami bequemte sich zu einer knappen, treffenden Äußerung, wobei er ein Zündholz anrieb und seine Zigarre zwischen die Lippen schob:

„Über Langeweile werden wir uns hier kaum zu beklagen haben auf diesem Floß „Madagaskar”. — Ja, Mada…gaskar …!”

Seine dunklen Sammetaugen trafen meinen Blick, und gegenseitig lasen wir uns die brennende, unausgesprochen Frage aus dem emsig arbeitenden Hirn: War es ein Zufall, daß dieses gigantische Bambusgefüge unterwegs nach fernem Lande war und gerade den Namen trug, der in Schamis nie verblaßten Jugenderinnerungen als das Märchenland des Märchenflusses und wie ein schillerndes, sprühendes Zauberbild in allen Farben loderte?!

„Guburru …” formten Schamis Lippen den Namen des Märchenflusses in fast lautlosen Silben aus tiefer Versunkenheit heraus.

„Guburru” formten meine Lippen halb unbewußt dasselbe Wort …

Immer noch schauten Freund Schami und ich uns in die nachdenklichen Augen.

Und da erklang es von der inneren Bambustür her wie ein kläglicher Seufzer — genau derselbe Name:

„Guburru …!”

Unsere Blicke flogen zur Seite.

In der halb geöffneten Tür stand der alte Chan Kai, schmierig, zusammengeduckt, die Hände in die Jackenärmel geschoben.

Sein zerknittertes Gesicht zeigte einen schwer zu enträtselnden Ausdruck von … ja, vielleicht von hoffnungsloser Verzweiflung und ungläubigem, fast entsetztem Staunen. Die kleinen Schlitzaugen waren unnatürlich aufgerissen, und die Lider flatterten, als ob er in grellstes Licht stierte. Der Unterkiefer, tief herabgesunken, enthüllte trotz des verfärbten Schnurrbartvorhanges Zahnstummel, Zahnlücken und eine nervös hin und hergleitende Zungenspitze.

„Alter Schleicher!”, grobste Leutnant Baby den versteinerten Chan in einem neuen Rückfall zu sehr unangebrachtem Kommandoton wütend an.

Der Chinese lächelte plötzlich.

Es war jenes halbe, noch von Angst gesättigte Grinsen, das sich vielleicht um unseren Mund schleicht, wenn wir aus wilden Träumen jäh erwachen und aufatmend erkennen, daß der tolle Spuk nur Ausgeburt des schlafenden, ungehemmten Hirns gewesen.

„Es … kann wohl nicht sein …”, flüsterte Chan mit einem hilflosen Kopfschütteln … „Ich werde mich verhört haben … Es wäre ja eine neue Quelle schreckvoller Möglichkeiten … Und der heimlichen Quellen des Leides gibt es hier gerade genug …”

Er hatte die Tür mit der linken Hand zugedrückt und war zögernd näher gekommen. Je stärker das Laternenlicht seine Züge beleuchtete, desto erstarrter und puppenhafter erschienen die Einzelheiten dieses verwitterten Gesichts. In Chan’s ganzer Haltung lag deutlich eine schwere, über seine seelische Widerstandskraft hinausgehende, alle Gedanken auf einen Punkt zusammenpressende Mutlosigkeit, und der Blick, mit dem er mich nun flehend und fragend anschaute, offenbarte genau dieselbe innere Haltlosigkeit, die nur eine Sehnsucht kennt: Rat und Hilfe!

Unser Baby, urplötzlich begreifend, daß hier abermals neue Gefahren aus dem Verborgenen herauswuchsen, hüstelte verlegen und trommelte leise klingend mit den Fingernägeln gegen die harte Glasur eines der Stäbe des Bambustisches.

Amed Schami, die Arme über der Brust gekreuzt, saß kerzengerade da wie eine altägyptische Götterfigur. Seine Miene deutete nicht einmal Überraschung, geschweige denn Neugier an. Er schien über Chan Kai’s schwarzes Käppchen hinwegzublicken in unendliche Fernen.

Des Chinesen, verglaste, stiere Schlitzaugen hingen noch immer an meinem Gesicht. Nur der Ausdruck der Augen war schärfer, eindeutiger und zielbewußter geworden.

Chan Kai verneigte sich ruckartig, und wie nach Überwindung hindernder Bedenken stieß er eigentümlich tonlos hervor, obwohl seine Stimme merklich vibrierte:

„Mr. Abelsen, das Entsetzliche ist geschehen, Sven Ordrupp hat die Besatzung wieder für sich gewonnen und ist Herr des Floßes. Ich rate Ihnen dreien zu eiligster Flucht, denn Sie werden hier kaum irgend etwas ausrichten können, es sind dreißig Mann an Bord, und jeder von ihnen gilt für drei … Ich werde Sie schnell zu einem der Boote führen, die sämtlich gut verproviantiert und seetüchtig sind. Zögern Sie nicht, vielleicht hat Sven Ordrupp bereits Befehl erteilt, Sie drei schleunigst zu beseitigen … Auf Menschenleben ist es ihm nie angekommen … Ich bitte Sie, fliehen Sie … Ich muß Ihnen als ehrlicher Mensch hierzu raten, obwohl …”

Er stockte …

Hinter ihm war die Tür aufgeflogen, und in ihrem hellen Rahmen mit den fast weißen Schnittflächen der Bambusstäbe stand eine Frau, deren langes, blauschwarzes Haar ihr völlig aufgelöst tief ins Gesicht fiel und weit über Schultern, Brust und Nacken wie ein Trauerschleier herabfiel.

Der Anzug der Frau war für Besuche in unserem Junggesellengemach wenig geeignet. Offenbar war sie geradeswegs aus dem Bett gekommen, und der hellilaseidene Pyjama, der mit seinem hauchdünnen, koketten Stoff mehr enthüllte als verhüllte, umschloß einen schlanken, fraulich entwickelten Körper von verwirrender Schönheit der Formen. Leider war von dem Gesicht des Weibes so gut wie nichts zu erkennen, und selbst jetzt, als hinter den wallenden dunklen Haaren eine selbst in der Erregung eigentümlich melodische Stimme hervordrang und Chan Kai einen kurzen, hastigen Befehl offenbar in malaiischer Sprache zurief, machte sie keinen Versuch, diese natürliche Maske zu lüften, winkte uns sehr energisch, wandte sich jäh um und entschwand im Dunkel der Gänge und Treppen des Riesenfloßes wie eine Traumerscheinung.

Als Chan Kai mit einer verzweifelten Gebärde hinter ihr her huschte und die Tür ins Schloß warf, vernahm ich kurz nach dem harten, knisternden Zuschlagen der Bambustür dicht neben mir einen heiseren, ächzenden Schrei, der nur halb den Weg über ein Paar verzerrte, farblose Lippen fand.

Raoul de Couvrette glich einem Sterbenden.

Er lehnte an dem Tische, sein Oberkörper schwankte hin und her, und seine frischen, noch ungekünstelt ehrlichen Züge waren totenblaß und spiegelten jede Seelenerregung klar und eindrucksvoll wieder. Seine Blicke hingen wie gebannt an der Tür, die soeben zwei Menschen nach allzu kurzen, unerklärlichen Zwischenfällen wieder von uns abgesperrt hatte, und während langsam dicke Schweißperlen aus seinen Poren drangen, sich vereinigten und ihm über die Wangen hinabliefen, entblößte er wie unter einem unwiderstehlichen Zwang die prächtigen Zähne, zog die Lippen grauenvoll schief auseinander und murmelte einen Namen, — nein, es war kein Murmeln, es war, als ob er diesen Namen in Schreck, Verachtung und Haß von sich spie …

So war es.

Und der Name?!

Ich hatte ihn nur halb verstanden …

Eine andere Stimme sprach diesen Namen leise und deutlich aus: Amed Schami, der seine Haltung nicht verändert hatte, der noch immer, Fleisch gewordene Gleichgültigkeit und Ruhe, mit verschränkten Armen da saß …

„Adrienne …”, sagte er …

Es war wie ein verstärktes Echo aus Leutnant Babys verzerrtem Munde.

Nur daß Freund Schami kühl und sachlich wiederholte:

„Adrienne de Couvrette, Tochter des Generals de Couvrette, des Gouverneurs der Teufelsinsel, den Sven Ordrupp ermordet haben soll …”

Ich fühlte eine eisige Hand nach meinem Herzen greifen …

Raoul nickte schwerfällig und stieß in qualvoller Selbstzerfleischung der eigenen Ehre noch heiserer, noch dumpfer und gurgelnder hervor:

„Adrienne, meine ältere einzige Schwester, die Geliebte Sven Ordrupps …! — Woher ist Ihnen das bekannt, Amed Schami? Ich hoffte, diese Schmach würde niemals an die Öffentlichkeit dringen …«”

Der Gedanke, daß dieses beschämende Geheimnis nun doch mehrere Mitwisser hatte, warf den beklagenswerten Jüngling wie einen gefällten Baum auf die eine Sitzbank. Sein Kopf fiel nach vorn auf die ausgebreiteten Arme, seine Stirn schlug mit hohlem Krachen gegen einen der Bambusstäbe der Tischplatte, und sein zuckender Oberkörper verriet die Tränenflut, die unseres jungen Gefährten mitleiderregende Stunde tiefster Beschämung in kindlicher Hilflosigkeit und Verzweiflung erleichternd und tröstend begleitete.

 

6. Kapitel.

Der vierte im Bunde.

Ich lernte Freund Amed von einer neuen Seite kennen.

Wenn ich bisher angenommen hatte, seine unnachahmliche Selbstbeherrschung wäre der hervorstechendste Zug seines gefestigten Charakters: Ich hatte mich geirrt.

Der Inder mit den mandelförmigen, melancholisch-ernsten, oft unergründlichen Augen ließ die verschränkten Arme zwanglos in den Schoß fallen, beugte sich etwas vor und hob dann eine Hand und legte sie auf Leutnant Babys zuckende Schulter.

„Freund Raoul”, sagte er weich und unendlich gütig, „— nichts von dem ist bewiesen, was Sie von Ihrer Schwester behaupten. Hören Sie mich an, — dann erst entscheiden Sie … — Ich war Kapitän eines Frachtdampfers, ich bin vielleicht der einzige Kapitän, der bei einer Begegnung mit Sven Ordrupp lebend davonkam. Es mag ein Jahr her sein, als das in den indischen, malaiischen und chinesischen Gewässern gleich berüchtigte Schiff, ein früheres englisches Hochseetorpedoboot, gestohlen aus dem Hafen von Singapore, nachts bei starkem Gewitter neben meinem Dampfer auftauchte. Ich erkannte im Scheinwerferlicht die ebenso berüchtigte Flagge des großen Freibeuters, ich war verloren, so glaubte ich, — dann erschien ein drittes Schiff, Granaten heulten durch die Regenfluten, Granaten krepierten auf dem sagenhaften Piratenfahrzeug, eiligst dampfte ich davon, nachdem ich den Unhold Sven Ordrupp auf fünfzig Meter Entfernung auf seiner Kommandobrücke deutlich gesehen hatte …”

Raoul hatte sich langsam aufgerichtet …

Sein Blick, noch tränenfeucht, fraß sich in Ameds Seele fest.

„Ja … ich sah ihn, Freund Raoul, und ich sah noch mehr, bevor die Finsternis die kämpfenden Schiffe verschlang. Ich sah Sven Ordrupp auf der Kommandobrücke zusammenbrechen, und sah ein Weib die Treppe der Brücke emporfliegen und erkannte aus ihren Gesten und ihrem gellenden Gelächter, daß sie sich freute, Sven Ordrupp gefällt zu sehen. — Ich lüge nicht, Freund Raoul … Die Handbewegungen der Frau waren so eindrucksvoll, so eindeutig, daß jeder Irrtum angeschlossen ist: Sie triumphierte, daß der Mann endlich sterbend zusammenbrach, der ihren Vater getötet hatte, und nie werde ich diese ihre Stimme vergessen, die über Sturm und Unwetter und Geschoßhagel sich emporschwang zu dem schrillen, gellenden, haßerfüllten Jubelschrei: „Adrienne sieht dich elend krepieren, — du … Schurke!!” — Nein, Freund Raoul, derartiges vergißt man nicht, und für derartiges hat man auch rasch eine einleuchtende Erklärung bereit. Es war ja bekannt, daß Sven Ordrupp zunächst allein von der Teufelsinsel entkam, daß er Leute um sich sammelte, das kleine flinke englische Kriegsschiff entführte und fünf seiner Landsleute befreite und dabei Ihren Vater erschoß, Ihre Schwester mit sich nahm und fortan durch die asiatischen Meere streifte, ohne daß jemals ein Mensch ihn gesehen hätte, wenigstens keiner, der noch imstande gewesen wäre, etwas über ihn auszusagen. Dampfer, Segler sind verschollen, man spricht von etwa dreißig Schiffen, die Sven Ordrupp gekapert, geplündert und dann mit Mann und Maus versenkt haben soll … Man spricht sehr viel, Freund Raoul, ich aber habe stets gewisse Zweifel gehegt, die vielleicht berechtigt sein mögen … Es handelt sich da um Vermutungen meinerseits, die ich nicht beweisen könnte … Jedenfalls: Ihre Schwester wurde niemals freiwillig Ordrupps Geliebte. Eine Frau, die einem Manne mit Leib und Seele ergeben ist, benimmt sich vor dem zusammengesunkenen Körper ihres Liebsten denn doch etwas anders. Mir scheint, es dürfte überhaupt fraglich sein, ob sie jemals Sven Ordrupps Opfer wurde, — Sie verstehen mich … Was ich über Ihre Schwester damals vor drei Jahren gelesen habe, und die Zeitungen Indiens nahmen sich der sensationellen Ereignisse mit derselben fast schamlosen Gewissenhaftigkeit an, wie es auch die europäische Presse ihrer lüsternen Leser wegen tut, lieferte mir ein Bild von Adrienne, das dem einer modernen Amazone entsprach. Amazone, so sagt man ja wohl, und man meint heute damit jenen Typ sportgestählter, überselbständiger Weiblichkeit, deren frauliche Instinkte völlig in den Hintergrund gedrängt worden sind durch die übermäßige Betonung körperlicher und geistiger Annäherung an das Ideal eines kraftstrotzenden männlichen Draufgängers und Lebenskundigen. — Freund Raoul, so also betrachte ich die Dinge, und ich wiederholte nochmals das Wesentlichste: Sven Ordrupp, von Geburt Däne, Verwalter einer großen Plantage auf Madagaskar, Ihrer französischen Inselkolonie, Freund Raoul, wurde durch ein Fehlurteil, dessen dunkle Motive noch der Aufklärung harren, wegen Mordes zu lebenslänglicher Deportation verurteilt und entfloh sehr bald von der Teufelsinsel …”

Amed Schami hatte die letzten Sätze etwas gedehnt, als ob er mit seinen Gedanken nicht bei der Sache wäre, und mir einen langen Blick zugeworfen, den ich nur allzu richtig beurteilte.

Guburru!!

Sven Ordrupp war also von Madagaskar aus unter die Verfehmten geraten, und Chan Kai hatte den Namen Guburru genau so gut gekannt wie wir beide und hatte vorhin an diesen Namen Bemerkungen geknüpft, die nur eine Deutung zuließen: Daß Freund Schamis funkelndes Jugendgeheimnis doch noch anderen zugänglich geworden war, und daß dieses Riesenfloß dorthin unterwegs sei, wohin wir selbst in aller Stille hatten segeln wollen.

Amed schloß seine Mitteilungen mit den knappen Sätzen:

„Als Sven Ordrupp aus dem Hafen von Singapore das große, schnelle Torpedoboot gestohlen hatte, übrigens ein Gewaltstreich, bei dem er alles Blutvergießen vermied, fuhr er unter seiner Piratenflagge, einem blutroten Tuch mit zwei weißen, gekreuzten Schwertern und einem Totenkopf darüber, zur Teufelsinsel, traf die Jacht Ihres Vaters, Freund Raoul, die gerade auch die fünf „Lebenslänglichen” nach den Sumpfgebieten der Insel schaffen wollte, es kam zum Kampf, Ihr Vater fiel, Ordrupp befreite seine Landsleute, die übrigens unter ihm auf der Madagaskar-Plantage gearbeitet hatten, und — — seitdem sah nur ich sein Schiff, sein Banner und Ihre Schwester vor einem Jahre in jener denkwürdigen Gewitternacht. Nur ich …! Bis heute, wo das Schicksal uns hier auf das Floß führte. Gewiß, Photographien Sven Ordrupps und Ihrer Schwester brachten alle Zeitungen, auf Ordrupps Kopf wurde eine sehr hohe Belohnung ausgesetzt, — keiner verdiente sie sich, Ordrupp war wie ein Gespenst, wie der fliegende Holländer … Man schrieb ihm jene dreißig verschollenen Schiffe aufs Konto, — ob es stimmte, ob er sie versenkte, ich … bezweifele es.”

Raoul de Couvrette starrte eine Weile ins Leere, nachdem Amed mit einer ruhigen, abschließenden Handbewegung seine Angaben beendet hatte.

In dem schweißfeuchten Jünglingsgesicht arbeitete es krampfhaft, bis sich aus dem irrlichternden Mienenspiel seiner wechselnden Empfindungen ein klarer, fast froher Ausdruck der Befriedigung und Erleichterung gleichsam herausschälte.

Er ergriff Schamis Hand. „Ich danke Ihnen”, sagte er schlicht. „Ich habe meinerseits nur hinzuzufügen, daß meine Mutter aus Gram über meines Vaters Tod bald darauf verschied, daß ich damals noch die Marineschule besuchte und vor anderthalb Jahren einen einzigen kurzen Brief Adriennes erhielt, in dem sie mich bat, sie als tot zu betrachten und nicht weiter nach ihr zu forschen, da sie restlos glücklich sei. — Hiernach mußte ich wohl annehmen, daß Ordrupp sie für sich gewonnen hatte und daß sie die Geliebte des vielgenannten Piraten sei. Als ich Offizier geworden, bemühte ich mich sofort um ein Auslandskommando und kam so auf den Kreuzer „Garonne”, der die bestimmte Ordre hatte, den Piraten Ordrupp auf jeden Fall unschädlich zu machen. Die Frau, die soeben hier Chan Kai aus unserer Kammer holte, war Adrienne. Sie muß mich erkannt haben, sie muß auch wohl schon vorher von Ordrupp meinen Namen gehört haben, sie verbarg absichtlich ihr Gesicht unter ihrem gelösten Haar, aber ihre Stimme ist dieselbe geblieben wie einst …”

Seine Augen glitten zu mir empor, und zögernd nur kam der fragende Nachsatz über seine Lippen:

„Mr. Abelsen, wer nun ist der Mann, der hier unten unser Gefangener war? Sie nannten ihn den Mann mit der erfrorenen Seele. Ordrupp ist es nicht. Wer ist es?!”

Mein Achselzucken war keine unehrliche Bewegung.

„Ich weiß es vielleicht, Raoul … Ich weiß so viel, daß …” — und ich senkte vorsichtig die Stimme — „daß der andere Mann, der in der Kajüte im Liegestuhl lag und eine Seidendecke über seine Beine gebreitet hatte, nach Chan Kai’s Bemerkungen hier der wahre Sven Ordrupp gewesen sein muß. Möglich, daß auch der „Erfrorene”, der uns durch sein Spiel mit den Haien beschämte, Ordrupp und Sven mit Vornamen heißt. Auf einigen Dänischen Inseln gibt es zahllose Familien Ordrupp und zahllose Sven’s. — — Recht so, Freund Schami … Wir hatten wirklich das Notwendigste vergessen.”

Amed hatte sich erhoben und rasch die Türstützen wieder festgeklemmt. Wenn uns diese auch keine Gewähr dafür boten, daß man uns nicht zu Leibe rücken könnte: Schon der Gedanke, nicht sofort Ordrupps Banditen zum Opfer fallen zu können, da die Tür immerhin aus mehreren Lagen dickster Bambushölzer bestand, besaß eine gewisse suggestive beruhigende Wirkung.

Auch die aufgewühlten Gemüter von uns drei Schicksalsgenossen — wie weit Amed sich innerlich erregt hatte, war schwer zu sagen — fanden sich zurück zu dem ernsten Gebot der Stunde um unsere eigene Sicherheit. Amed hatte hierzu das Signal gegeben, und das nächste war nun, die Laterne so weit abzublenden, daß der Raum in halber Dämmerung lag. Dann stellten wir den Tisch aufrecht gegen die Tür, hängten noch die Bastmatten des Bodenbelags darüber und hockten auf den Sitzpolstern der Bänke im Schutze des Kugelfanges und sorgten für unsere knurrenden Mägen. Schami als Strenggläubiger, wenn auch nicht fanatischer Hindu lehnte Konservenfleisch ab und begnügte sich mit Zwieback, Leutnant Baby entwickelte einen herzerfrischenden Appetit und blieb doch ungewöhnlich schweigsam.

Diese erste stille Mahlzeit auf dem leicht schlingernden Floß entbehrte jeglicher sonst hervorstechenden Momente, es sei denn, daß Raoul de Couvrette am Schluß sich übereifrig bereit erklärte, die erste Wache zu übernehmen.

Schlafen mußten wir. Wir konnten nicht wissen, was alles uns noch bevorstand.

Schami und ich legten uns nieder, Raoul saß mit der einen Remingtonbüchse über den Knien etwas abseits, und sehr bald verrieten auch meines Freundes Amed leise Atemzüge, daß er fest eingeschlummert war.

Meine Gedanken kamen nicht zur Ruhe.

Ich überlegte mir die Ereignisse hier an Bord der „Madagaskar” nochmals in aller Gründlichkeit, und eine gewisse unsichere Vermutung, die erst nach Chan Kai’s seltsamen Redewendungen in mir aufgestiegen, wurde so fast zu unumstößlicher Überzeugung. Ich entsann mich des Schattenbildes auf dem Vorhang des Kajütfensters, ich hatte des anderen Ordrupp, des Erfrorenen, heftige, schroffe Handbewegung gesehen und dann sogar das rotbärtige, dickköpfige, unheimlich starre Scheusal im Liegestuhl sekundenlang beobachtet und in seinem abstoßenden Gesicht einen Ausdruck wahnsinnigen Hasses.

Ja, es war Haß gewesen, und dieser Haß hatte unserem Ordrupp gegolten.

Weshalb Haß?! Und noch dazu Haß in so tückischer, hinterlistiger Art?!

Weshalb?!

Brüder waren es, die beiden …

Und der Ordrupp von der Teufelsinsel war ein Bösewicht, der andere … vielleicht sein Bezwinger, sein Kerkermeister durch höheren Zwang.

So war es wohl.

… Jäh zerriß das Band der schönen Gedanken.

Ich blinzelte durch die geschlossenen Lider zu Freund Raoul hinüber.

Der hatte sich lautlos erhoben, warf noch einen Blick nach uns hin, nahm Büchse und Beil und wandte sich der Außenbordtür zu.

Ich hatte damit gerechnet. Dieser Jüngling, dessen Ahnen Frankreichs Waffen seit Jahrhunderten über alle Schlachtfelder getragen hatten, würde nie und nimmer die Ungewißheit dulden, was nun dort oben an Deck, wo die befreite, rotmähnige Bestie wieder befehligte, mit seiner einzigen Schwester geschähe. Während der Mahlzeit hatte er darüber nachgegrübelt, wie er sich mit ihr insgeheim in Verbindung setzen könnte, und jetzt weit nach Mitternacht gedachte er sich auf ein Wagnis einzulassen, das von vornherein zum Scheitern bestimmt war.

Ich erhob mich noch leiser, trat hinter ihn, als er gerade die Holzriegel zurückschieben wollte, und er fuhr bei der Berührung meiner Hand so erschrocken herum, daß es mit seinen Nerven wahrlich nicht zum Besten bestellt sein konnte.

„Raoul, lassen Sie das …! Den Gang übernehme ich.”

Seine Augen leuchteten im Halbdunkel zornig auf. Er vergaß abermals die veränderten Umstände und fiel in seine alten, anerzogenen Gewohnheiten zurück.

„Ich bin kein Kind, ich tue, was ich will …”, zischelte er in dem anmaßenden Tone, den er bei unserer ersten Begegnung anzuschlagen beliebt hatte.

„Sie sind ein großes Kind, lieber Raoul, und Sie werden hier nur das tun, was ich will — ich, — so ist es während der Mahlzeit bestimmt worden. Von einem Baron de Couvrette hätte ich mehr Disziplin erwartet.”

„Oh, Sie packen mich bei der Ehre, Mister Abelsen, und — — es geht hier doch um meine Ehre”, flüsterte er, sich halb entschuldigend und halb seinen Fehler einsehend.

„Es geht um Ihrer Schwester Ehre und um drei Menschenleben mindestens …”, ergänzte ich ernst. „Löschen Sie die Laterne völlig aus, setzen Sie sich wieder und halten Sie Zündhölzer bereit. Da, Schami ist wach und schaut uns zu. Fragen Sie Schami, wie man jugendliches Ungestüm und erregbare Nerven einlullt. Die Inder sollen ja über ihre besonderen Künste verfügen, so manches Gehirnzentrum auszuschalten …”

Leutnant Baby in seiner weißen Tropenuniform, die sicherlich oben an Deck einige störende Flecken, ich will nicht gerade sagen durch Blut, erhalten hätte, gehorchte umgehend, unsere seltsame Floßkammer versank in Finsternis, und ich drückte die Türriegel zurück, öffnete ganz wenig, stemmte die Schulter als Gegendruck gegen einen immerhin möglichen Überfall von außen gegen die Türkante und schob den Kopf vor …

Zog ihn blitzschnell wieder zurück …

Quer über meine Nase war ein glühender Hauch gestrichen, es tropft warm herab, und das niederträchtige Wurfmesser sauste klatschend gegen unsere mattenbelegte Barrikade und wurde im Herabfallen von Freund Amed mit gemessener Jongleurgeschicklichkeit trotz der Dunkelheit aufgefangen.

Was ich draußen im friedlichen Dämmerlicht der sternfunkelnden Tropennacht flüchtig gesehen hatte, bewies mir eindrucksvoll genug, wie begründet die von uns getroffenen Vorsichtsmaßregeln gewesen waren.

Man hatte droben von der Reling eine Art Schaukel bis zur Außenbordtür hinabgelassen, oben befestigt und drei Leute der Besatzung darauf postiert. Das Wurfmesser war nun durchaus nicht die einzige eindringliche Mahnung, wie bitterernst es um uns stand. Die Kerle draußen waren flink und verdammt scharf auf dem Posten, einer von ihnen hatte trotz meiner Aufmerksamkeit noch rechtzeitig einen Bambusknüttel in die enge Türritze geschoben, und obwohl es mir gelang, den hohlen Bambusstab flach zusammenzudrücken, ließ sich die Tür doch nicht mehr schließen, und es blieb eine fingerbreite Spalte bestehen, die der lautlos neben mir erscheinende Amed nun dazu benutzen wollte, die drei lästigen Aufpasser draußen mit der Pistole wegzublasen.

Für meinen Geschmack war Freund Schami mit Pistolen und sonstigen unangenehmen Instrumenten allzu eilfertig bei der Hand, was zu seinem sonstigen asiatischen Phlegma wenig paßte. Auch in diesem besonderen Falle konnte ich Schamis Vorliebe für Beinschüsse — edlere Körperteile schonte er aus angeborener Sanftmut — durchaus nicht billigen, und als ich nun abwinkend zugriff und ihm die französische Repetierpistole, Raouls Eigentum, behutsam abnahm, gab er sich ohne Widerspruch damit zufrieden und blieb nur abwartend stehen, um aus nächster Nähe zu beobachten, wie ich die drei Gentlemen draußen, übrigens offenbar Malaien, ohne Fleischwunden von ihrer Luftschaukel hinabbefördern wollte.

Auch Leutnant Baby zeigte größtes Interesse und flüsterte mir aufmunternd zu: „Die Pistole schießt vorzüglich, und die Haifische werden ja hoffentlich nicht sämtlich abgeknallt worden sein.”

Eine vorzüglich schießende Pistole in der Hand eines Schlottergreises oder eines eingefleischten Waffenfeindes ist nicht mehr wert wie ein Stein oder ein Tintenfaß. Tintenfässer als Wurfgeschosse erfreuten sich allzeit größter Beliebtheit bei stillen Denkern und sonstigen Schreibsesselreitern.

Ob ich das treffen würde, was ich treffen wollte, war auch noch höchst ungewiß, und ob der Erfolg so ausfallen würde, wie ich es mir vornahm, blieb genau so abzuwarten.

Freund Amed schien die Sachlage richtig erfaßt zu haben, drückte eins der Türpolster gegen die Türritze, so daß mir Hand und Kopf geschützt waren, und dann bellte auch bereits das stählerne Mäulchen mit mäßigem Geräusch dreimal hell auf wie ein auf den Schwanz getretenes Hündchen, — ich schielte vorsichtig ins Freie, das eine Tau der Schaukel war glatt zerfasert und zerrissen, das Schaukelbrett kippte jäh nach unten, zwei der braunen Akrobaten sausten ins Meer, der dritte erwischte noch den anderen, noch unversehrten Strick, hielt sich krampfhaft daran fest und war, wie ich es erwartet, bequeme Beute einer rücksichtslosen Faust, die ihn nun rasch in die weit geöffnete Tür hineinzog, wo Schami ihn in Empfang nahm.

Ich war etwas außer Atem, riß jetzt Raoul die Remingtonbüchse aus den Fingern und feuerte blitzschnell vier Schuß in die gurgelnde See hinab, um ein paar jener fahl leuchtenden gefräßigen Spindeln den Abgestürzten vom Leibe zu halten, die übrigens bereits mit der ganzen erstaunlichen Affengeschicklichkeit ihres Volkes, das selbst die Zehen so gut zum Klettern verwendet, an der rauhen Außenseite des „Madagaskar”, wo ja Bambusstamm über Bambusstamm sich reihte, ein Stück emporgestiegen waren und nun eilends meinen Blicken vollends entschwanden.

Ich schloß die Tür, schob die Riegel vor und drehte mich um.

Raoul hatte flink die Laterne wieder angesteckt, und deren rötlicher Schimmer traf die halbnackte Gestalt eines tief sonngebräunten jüngeren Mannes, unter dessen knapp anliegendem Malaienturban aus grüner Seide an den Schläfen zwei kokette Kringel blonden Haares hervorlugten.

Und selbst wenn diese blonden Haare nicht sichtbar gewesen wären: Dieses gemütliche Feixen in einem kugelrunden Apfelgesicht nebst impertinenter Wippnase brachte nur unter so kritischen Umständen ein einziger Menschenschlag fertig, den ich, einst Student der Charlottenburger Hochschule, herzlich lieb gewonnen hatte.

Der Berliner soll sich durch seine große Schn … — na sagen wir höflicher, durch sein großes Mundwerk verraten. Ich habe festgestellt, das dies nicht zutrifft … Es gibt ein bestimmtes echt Berliner Lächeln, — es mag seltener geworden sein in neuerer Zeit: Dieser blonde „Malaie” war mit Spreewasser getauft, denn diese Unverfrorenheit, hier so urgemütlich-pfiffig zu grinsen, brachte eben nur ein mit allen Salben gesalbter und doch harmloser Spreeathener fertig.

Der Mann war bis zum Gürtel nackt, trug im Ledergurt, der gleichzeitig die fleckigen Leinenhosen festhielt, etwa fünf — ja, es waren fünf — hübsche lange gerade Wurfmesser und Tabakbeutel und Pfeife und an den reichlich groß bemessenen Füßen die üblichen Malaiensandalen, bei denen die Zehen frei liegen.

Genau so gründlich, wie ich ihn musterte, schaute er mich von Kopf bis Fuß und von Fuß bis Kopf an und sagte darauf mit einer Art mißratener Salonverbeugung:

„Erwin Dunst …”

Und als ob er fürchtete, daß der Name Dunst mir nicht genügend imponieren könnte, fügte er unmittelbar mit erhobener Stimme auf deutsch hinzu:

„Erwin … Dunst, Reisender der Firma Abfall und Kopost, nicht etwa Kompost, modernste Badewannen und W. C.’s mit patentierter Spülung … — Ich komme Ihnen hoffentlich nicht ungelegen, Herr Abelsen, ich bin bei Abgabe meiner Offerten nie zudringlich, nur eindringlich, und ich bemühe mich stets, meine Kundschaft weitestgehend zufrieden zu stellen, auch den da oben zum Beispiel …” — er zeigte mit dem Daumen aufwärts, und auch diese Eigenart, den Daumen zu benutzen, verriet den Berliner — „… den da oben, der mir allerdings aufgetragen hatte, Ihnen gründlich eins zu versetzen, was mir jedoch nicht in meinen Kram hineinpaßte … Ihre Nase ist, wie ich sehe, sehr billig weggekommen, eben genau so, wie ich den Wurf berechnet hatte … Neuerdings habe ich nämlich meine ursprünglichen Fähigkeiten als Jongleur wieder emsiger gepflegt, und ich darf ohne Übertreibung behaupten, daß außer mir hier an Bord nur noch der rote Ordrupp mit einem Wurfmesser eine Banane der Länge nach zu halbieren vermag — bitte, auf zehn Meter, Herr Abelsen … — eine Leistung!”

„Unbedingt!”, bestätigte ich völlig ernst. „Ich freue mich aufrichtig, daß Sie Ihre trefflichen Künste nicht in ihrer vollen Entfaltung an meiner Nase versucht haben, Herr Dunst …”

„Bitte — man ist Kavalier …”, und diesmal fiel die Verbeugung bereits erheblich graziöser aus.

 

7. Kapitel.

Das Floß der Leidenschaften.

Es ist späterhin niemandem von uns dreien je eingefallen, Kamerad Dunst anders als Wehzeh anzureden, und er hat sich schließlich trotz anfänglicher Proteste in sein „anrüchiges” Schicksal ergeben, das ihm übrigens der kecke Raoul aufgehalst hatte. Raoul erfand den Spitznamen, und Wehzeh revanchierte sich durch allzuhäufigen Gebrauch der Anrede „Baby”, wogegen halt auch nix zu machen war.

Jedenfalls war mit der Person Wehzeh’s in unseren kleinen Kreis ein Element hineingeraten, das außerordentlich zur Belebung der Stimmung beitrug. Dunsts trockener Humor half über so manches hinweg, was uns der Verzweiflung nahe gebracht hätte.

Wir hockten nun zu vieren hinter der Tischbarrikade, und der sprachkundige Pseudo-Malaie erzählte uns seine merkwürdigen Schicksale in einem Tempo, als ob er Blitzdichter von Beruf gewesen wäre. Daß Leutnant Baby zunächst sehr besorgt nach Adriennes Ergehen gefragt hatte, war begreiflich. Dunst hatte auch volles Verständnis hierfür, beruhigte Raoul durch ein paar gutmütig-inhaltsschwere Sätze und kam dann meiner Aufforderung nach und erklärte, wie er hier auf das Floß geraten sei.

„… Meine Herren, ich reiße nie faule Witze. Ich bin tatsächlich Geschäftsreisender, Jongleur, Steward und vieles andere gewesen. Aber auf meine kaufmännische Laufbahn bin ich besonders stolz. Ich will nicht viel prahlen: Ich habe 1924 in der pommerschen Großstadt Wollin, wo doch die Bevölkerung aus angeborenem Mißtrauen gegen alles Moderne den Spülanlagen zunächst wenig Sympathie entgegenbrachte, in acht Tagen nicht weniger als zwanzig Tornado-Becken verkauft — eine Leistung!! Aber ein Jahr später sank das Interesse für sanitäre Dunkelkämmerchen auf den Nullpunkt, unsere Fabrik blieb mit ihren Tornados regelrecht sitzen und setzte mich an die frische Luft. So wurde ich wieder mal zur Abwechslung Steward auf einem Bananendampfer, geriet sehr bald auf einen Frachter, musterte in Bombay ab und wurde, nachdem alles Geld restlos verjubelt war, aufs neue Steward auf dem französischen Frachter „Jeanne d’Arc …”

Dunst sog an seiner Pfeife — eine Zigarre hatte er dankend abgelehnt — und ließ eine Kunstpause eintreten, die Freund Schami zu der Zwischenbemerkung veranlaßte:

„Jeanne d’Arc, 8000 Tonnen, Kapitän Charles Olivier, verschollen seit April 1926 …”

Wehzeh’s blaßblaue Augen schauten Amed anerkennend an. „Stimmt genau … Aber „verschollen” ist ein Schönheitsfehler … Die „Jeanne d’Arc” explodierte und sackte in drei Minuten etwa hundert Meilen vor Colombo weg, obwohl sie lediglich landwirtschaftliche Maschinen für Neuseeland geladen hatte und ich mein Lebtag nicht gehört habe, daß Dampfpflüge ohne Dampf explodieren. An der Tatsache ist nichts zu ändern: Nachts zwei Uhr am 5. April, als ich gerade der Hitze wegen mich auf dem Vorschiff zum Schlafen eingerichtet hatte, gab es einen fürchterlichen Knall, ich flog über Bord, der große Kahn sackte weg, und wenn nicht ein anderes Schiff an der Unfallstelle erschienen wäre und mich aufgelesen hätte, würde ich niemals die hohe Ehre und das große Vergnügen …”

„… Geschenkt, — — weiter!”, fiel der ungeduldige Raoul hastig ein, denn die Redensart von hoher Ehre und großem Vergnügen kannten wir bereits.

Wehzeh zog ärgerlich die Stirn kraus.

„Junger Mann, — ich bin vierzig, Sie sind schätzungsweise einundzwanzig … Haben Sie Respekt vor den neunzehn Jahren Unterschied … Ich könnte Ihr Vater sein — könnte, möchte es aber nicht, entschuldigen Sie schon, denn Ihr Vater ist längst seinen Ahnen versammelt, ich habe keine Ahnen, dafür lebe ich noch, und wie …!!” Und er reckte seine nackten Arme hoch, straffte die Muskeln, — ein Mittelgewichtsboxer wäre vor Neid grüngelb geworden.

Erwin Dunst schwieg wieder, lauschte dem fernen Surren der Motoren droben und knetete etwas verlegen seine Wippnase.

„Hm — ich komme nun zu einem Abschnitt meines Daseins”, ließ er von neuem seine Zunge in fließendem Englisch sich rühren, „über den ich eingedenk eines verpfändeten Wortes nur flüchtig hinweggehen kann. Das Schiff, das mich rettete, hatte einen Kapitän, vor dem selbst ein Scharfrichter eine Gänsehaut bekommen hätte … Trotzdem behandelte der Mann mich nicht schlecht, aber” — Erwin Dunst hüstelte nachdenklich, als ob er jedes Wort erst abwägen wollte, „aber … ich ging ihm aus dem Wege … — Wir kreuzten mit dem Schiff durch den Indischen Ozean, erlebten so allerlei …”

„Das heißt, das Schiff war ein Freibeuter, ein Pirat”, erklärte ich geradezu,„»und der Kapitän war Sven Ordrupp …”

Wehzeh konnte mit fabelhafter Dickfelligkeit eingestreute Fragen überhören …

„… erlebten so allerlei, bis eines Nachts nach drei Monaten etwa … hm ja … sagen wir: ein Unglück sich ereignete … Jedenfalls kamen wir alle, die wir mit heiler Haut den reichlich ausgespuckten Granaten entgangen waren, auf ein anderes Schiff.”

Jetzt fiel Freund Amed wieder ein …

„Und das war damals, als Sven Ordrupp auf der Kommandobrücke getroffen zusammenbrach …! Damals, als Adrienne de Couvrette auf die Brücke stürmte und …”

Dunst sagte sehr gelassen: „Wollen Sie erzählen oder soll ich erzählen?! — Nun gut, Fräulein Adrienne war an Bord, und wenn ich schon dem Käpten eifrig aus dem Wege ging: Ihrer Schwester, Leutnant Baby, wagte ich schon gar nicht in die Augen zu schauen, obwohl ich doch ein völlig reines Gewissen hatte und vor den Damen sonst nie davongelaufen bin, im Gegenteil. — Das neue Schiff brachte uns nach einer Lagune, die von dichtesten Bambuswäldern umgeben war, und dort baute der neue Käpten, der dort eine kleine Pflanzung besaß, dieses Riesenfloß … Von dort sind wir vor zehn Tagen in See gegangen. — Das wäre alles, meine Herren … Und Sie können mich meinetwegen vierteilen: Mehr weiß ich nicht, mehr will ich nicht wissen, denn ein einmal gegebenes Versprechen halte ich unbedingt, mögen sich jetzt auch gegen meinen Willen die Verhältnisse hier an Bord noch so sehr verändert haben.” Wehzeh’s Stimme drückte eine zähe Entschlossenheit aus, gegen die nicht anzukommen war, das sah ich sofort ein.

Er beendete seinen geheimnisvollen Bericht mit der nochmaligen Betonung der für Freund Raoul so beruhigenden Versicherung, daß für Fräulein Adrienne keinerlei Gefahr bestände, ebensowenig für Chan Kai …„»Was Sie drei schließlich betrifft: Gehorchen Sie blindlings, und Ihnen wird nichts geschehen! Das ist der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann …”

Amed Schami starrte ins Leere, als ich ihn nun fragend anblickte. Baby wieder suchte meinen Blick … Seine Jugend war offenherziger.

„Herr Abelsen, was tun wir mit diesem Dunst?”

Ja — was sollten wir mit ihm?! — Wir kannten ihn nicht … Mochte er mir nun auch noch so großes Vertrauen als Mensch einflößen, er hatte mit keinem Wort sich zu uns bekannt, sondern hielt eine vorsichtige Neutralität ein, die man so oder so deuten konnte.

Seine behutsamen Angaben allerdings ließen sich ja unschwer ergänzen. Ich war jetzt meiner Sache sicher, daß die Dinge folgendermaßen lagen: Sven Ordrupp, der rote Ordrupp, war Pirat gewesen, der andere Ordrupp, der Erfrorene, hatte das blutige Handwerk des Freibeuters gewaltsam beendet und den unseligen Bruder als Gefangenen und Verwundeten ebenso wie Adrienne mit nach der Lagune und nach der Pflanzung genommen, hatte beide auch auf dieses gigantische Floß gebracht, das nun, nachdem der rote Ordrupp das Kommando wieder an sich gerissen hatte, zweifellos der Nordküste von Madagaskar zustrebte, wo des Guburru lehmige Wellen den klaren Ozean meilenweit vor seiner Mündung trüben, und wo droben in den Urwäldern der großen Insel derselbe Guburru schäumend und tänzelnd über Geröll hüpft und am Ufer die kostbare Tonerde wegspült, in deren Tiefen das eingebettet liegt, was mein Freund Amed nie vergessen hatte: Der schillernde Glanz edler Steine, die, im Flußbett aneinander sich abschleifend, aus dem schmalen Ursprungsbache des Guburru ein sinnverwirrendes Märchen von unermeßlichen Schätzen sprühend, funkelnd und gleißend erstehen lassen.

Ja, so weit überschaue ich nun wohl die Zusammenhänge … Aber es gab da viele Lücken, die in diesem Bilde noch auszufüllen waren, und vorläufig sah ich hierzu keine Möglichkeit.

Erwin Dunst stopfte seine verräucherte Pfeife, deren Kopf er wohl mit eigener Hand aus einem Wurzelknollen geschnitzt haben mochte — es war eine abschreckend häßliche Gnomenfigur — mit abwartender Umständlichkeit und blinzelte uns drei nur gelegentlich nacheinander in seiner harmlos-verschmitzten Art wie belustigt über unsere Ratlosigkeit an.

Die über uns lastende Stille, nur unterbrochen durch das andauernde Knarren und Knirschen der sich aneinander reibenden Bambushölzer und durch die Stimme des endlosen Meeres und das Fauchen der Motoren, wurde durch ein Pochen an der inneren Tür beendet und durch Chan Kai’s dünne Stimme, die dringend Einlaß begehrte.

„Mr. Abelsen, Käpten Sven befiehlt Sie nach oben … Es besteht keine Gefahr für Sie oder Ihre Gefährten, Käpten Sven läßt Ihnen das ausdrücklich bestellen, und auch ich verbürge mich für Ihre Sicherheit …”

Eigentlich war es zum Lachen, dieser Nachsatz.

Klang großartig: Chan Kai als Bürge für unser Leben! — Großartig lächerlich …! Was galt der alte Opiumschlucker hier an Bord?! Spielte er Steward, Mädchen für alles, mit Püffen bedachten Harlekin?!

Ich traute dem Frieden nicht ganz. Und ein flüchtiger Blick auf Wehzeh’s Vollmondgesicht steigerte noch mein Mißbehagen. Hatte der rote Sven ihm nicht aufgetragen, mir gründlich eins auszuwischen?! Und jetzt — jetzt kam Chan Kai als Friedenstaube?!

Wehzeh neigte sich weit vor und raunte mir zu:

„Ich verschwinde besser … Die droben halten mich sicherlich für tot — ertrunken — aufgefressen. Lassen Sie den Alten nur ein, Chan Kai ist mächtiger, als Sie ahnen …”

Und zögernd fügte er hinzu:

„Damit Sie unterrichtet sind: Die Innentür hat Stahlplatteneinlage, dieses Versteck wurde eigens für …” — er hüstelte, schüttelte ärgerlich den Kopf und schlüpfte in den einen Sitzkasten hinein, dessen Deckel noch unversehrt war, ließ den Deckel herabfallen, und …

„Kommen Sie, Mr. Abelsen”, kreischte draußen der greise, sehnige Kai. „Käpten Sven wartet nicht gern.”

Ich entfernte die Stützen, die Tür ging auf, Chan hielt seine Laterne ganz tief auf seinen Kittel gesenkt, so daß ich lediglich sein fleckiges Käppchen prüfend mustern konnte.

„Gehen Sie voraus …”, murmelte der Chinese eindringlich.

Er warf die Tür wieder zu und fingerte an einem der Bambusstäbe herum, der einen schwarzen höckerigen Auswuchs hatte. Ich hörte ein metallisches scharfes Klicken — so etwa, als ob die Verschlußschienen einer Tresortür vorspringen, und ich wußte jetzt, daß diesmal weder Schami noch Raoul mir zu Hilfe eilen könnten.

Sie waren eingesperrt.

Etwas bedrückt stieg ich die Leitern hinan, durchschritt die engen, verborgenen Gänge und schüttelte dieses Unbehagen erst wieder mit trotziger Kopfbewegung von mir, als wir droben an Deck standen.

Das Bild war das gleiche geblieben, nur im Osten zeigte sich bereits der erste fahle Schimmer der Morgendämmerung.

Vor mir lag das Kajüthaus, — dieselben Fenster waren erleuchtet, dieselben weißen Leinenvorhänge wehten hin und her, und auch jetzt lief ein ruheloser Schatten darüber hin: Der einer Frau im langen, engen Gewand.

Und — ein Zufall? — wieder kam ein Windstoß der Morgenbrise und jagte die Vorhänge knallend wie schlaffe Segel aufwirbelnd in die Kajüte hinein und zeigte mir für Sekunden den abschreckenden, ungeheuerlichen Schädel des roten Sven mit der brandroten wilden Haarmähne …

Die Vorhänge fielen faul zurück …

Wir standen bereits vor der Tür, und Chan wisperte mir zu:

„Klopfen Sie … Und geben Sie sich ganz so, wie Sie sind …!”

Das war ein seltsamer Rat.

Überhaupt …

Alles war jetzt doch so anders wie vorhin, wie ich dem erfrorenen Ordrupp gegenübergetreten war. Ich wußte bereits zu viel von diesen Menschen …

Menschenschicksale waren hier auf dem immerhin eng begrenzten Raume des Bambusflosses geheimnisvoll und auf Erlösung harrend zusammengedrängt.

Haß, Liebe, Bestialität, Verruchtheit, Heimtücke machten dieses Floß zu einem Riesensarg alles Guten, Edlen, Schönen.

Finstere Gewalten gingen hier um.

Und ich — ich sollte mich dem roten Sven gegenüber so geben, wie ich war?! Wußte Chan, was dieser Rat bedeutete?! — Ich hatte eine neunschüssige Pistole unter der Jacke, dazu ein altgedientes Messer…

Mich so geben wie ich war?!

… Nun gut, — Diplomaten bereiten die großen Völkerkatastrophen, Kriege genannt, mit heimlichem, heimtückischem Geschwätz vor.

Das Blut vergießen und verlieren nachher andere.

Ich würde mich beherrschen …

Wahrscheinlich dürfte der rote Sven denn doch nicht die zahllosen, grellbunten Lebenserfahrungen gesammelt haben wie ich.

Ich klopfte …

Und bevor noch mein Fingerknöchel das Bambusholz berührt hatte, war von drinnen die melodische Stimme der Adrienne de Couvrette erklungen — nur ein Wort:

„Guburru!”

… Gleich einer Vision sah ich den über Geröll hüpfenden Diamantenfluß, den ewigen Jugendtraum des so überaus nüchtern denkenden Amed Schami.

„Herein …!”

Eine herrische, grobe, rauhe Kehle brüllte es.

Ich trat ein.

 

8. Kapitel.

Der Teewagen der Henkersmahlzeit.

Die Kajüte und ihre abgenutzten Möbel kannte ich bereits. So kurze Zeit ich auch vorhin in diesem Raume geweilt haben mochte, ich hatte einen ausgeprägten Ortssinn, der sich sogar auf die Stellung der Stücke einer Zimmereinrichtung überträgt. Mir fiel daher sofort auf, daß die rückwärtige Tür der Kajüte jetzt mit einem seidenen Vorhang versehen worden war, den man vielfach gefaltet an eine Bambusstange genagelt hatte, die über zwei langen eisernen Nägeln als Haltern lag.

Der blitzschnell die Umgebung abtastende Blick streifte weiter die dreiarmige Broncekrone mit Glühlampen, glitt über Sven Ordrupps, des roten, schwammige, gedunsene Züge, über seine weiße Bordjacke mit goldenen Knöpfen und dem zerdrückten weißen Kragen nebst kurzer schwarzer Schleife sowie seinen Liegestuhl und die Seidendecke hinweg und wurde gefangen von den brennenden dunklen Augen der Adrienne de Couvrette, die vor dem Schreibpult in dem altmodischen Schreibsessel nachlässig-graziös und doch unmerklich zusammengeduckt wie eine lauernde, fast unwahrscheinlich schöne Katze mit zwanglos übereinandergeschlagenen Beinen lehnte.

Der Ausdruck des bleichen, sehr schmalen, sehr kalt-vornehmen Gesichts, dessen Blässe noch durch den hochgeschlossenen schwarzen, schmucklosen Mantel aus schwarzer matter Seide unterstrichen wurde, erinnerte an die leblose Starre altitalienischer Gemmen, deren künstlerisch hochbefähigte Schnitzer den Typ jener herzlosen, buhlerischen und in ihrer Verderbtheit doppelt reizvollen Giftmischerinnen bevorzugten, unter denen Lucrezia Borgia eine der berüchtigten gewesen sein soll.

Zweifellos trieb diese Adrienne mit ihrer Schönheit, die leichtempfängliche Männer zum Wahnsinn bringen mußte, ein freventliches Spiel. Ihre Augen waren trotz hochmütiger Kälte wie durchglüht von einem ungestillten Hunger.

Hunger?!

Wonach? — Liebe?!

Ich konnte mir schwer vorstellen, daß dieses reife Weib den harmlosen Lebenshunger ihres jüngeren Bruders besäße, der als halbes Kind weit menschlicher, sympathischer und zugänglicher erschien.

Der rote Sven wurde ungeduldig.

Seine klobigen Fäuste, die sich auf der bunten indischen Decke wie Fleischklumpen ausnahmen, fingerten hin und her, und als sein bösartiges Grunzen mich zwang, ihn voll anzusehen, gewahrte ich in den unnatürlich schwammigen Zügen dieses Riesenschädels ein drohendes und doch ängstliches Zucken.

Ich betrachtete mir den Mann genauer, und wieder kroch mir das Entsetzen zum Herzen und wandelte sich in Widerwillen und Mitleid.

Ich erkannte nun erst, daß die ungeheuere Massigkeit dieses Leibes und Kopfes keine natürliche war, sondern jene krankhafte Entartung der Gewebe, die die Medizin als Elephantiasis bezeichnet.

Der rote Sven war — mild ausgedrückt — ein übelerregendes Scheusal.

Und er wußte das.

So sehr ich auch mein Mienenspiel und meine Augen in der Gewalt hatte: Dieses grauenvoll vergrößerte Menschenantlitz, in dem die Augen nur noch glitzernde Punkte und die Nase und die Lippen genau wie die Hände nur Fleischwülste waren, während die Haut der Hängebacken und des Kinns farblos, bleich und wie eine hauchfeine Gummischicht erschien, unter der eine wässerige Flüssigkeit die Straffheit dieser Schicht unnatürlich dehnte, — dieses Gesicht war das eines Unholdes.

Er wußte das …

Ein teuflisches Grinsen, unmöglich bildhaft zu schildern, lief über diese verquollene Masse hin, und der teuflische Hohn, der zuerst darin vorherrschend gewesen, verebbte erst langsam zu einem die Seele erschauern machenden flüchtigen Ausdruck tiefsten Leides.

Ganz flüchtig nur …

Und dann polterte der Koloß brutal, tückisch und haßerfüllt hervor:

„Zum Teufel, setzen Sie sich doch, Abelsen … Dort steht Ihr Stuhl … Die Mätzchen mit feinen Verbeugungen können Sie sich sparen. Auch Adrienne legt keinen Wert darauf …”

„Beim Satan — nein!”, bestätigte die melodische Stimme der Frau, und ein gurrendes Lachen folgte, das sofort den roten Sven abermals in schwer bezähmte Erregung versetzte.

Ein unheimliches Gefühl beschlich mich. Mir war zu Mute wie einem Schiffbrüchigen, der unversehens auf ein Inselchen unter Tollhäusler gerät. Ungeahnte Einblicke in tragische Menschengeschicke öffneten sich mir, und die rasch gewonnene Überzeugung, daß dieses bedauernswerte gedunsene, entartete Geschöpf dort im Liegestuhl dieses Mädchen mit verzehrender Hingabe liebte und vor Eifersuchtsqualen bei den geringsten Anlässen verging, während das bleiche Weib zweifellos diesen Ärmsten absichtlich folterte, stellte mich urplötzlich vor eine gänzlich veränderte Sachlage, in der nur die besseren Nerven den Sieg davontragen konnten.

Und die besaß ich.

Was fernerhin geschah, und es geschah übergenug, fand mich gegen alles gewappnet.

Ich nahm mir vor, Adrienne nicht weiter zu beachten, denn diesen seelisch zermürbten Unglücklichen dort irgendwie zu reizen, hätte eine jähe Katastrophe heraufbeschworen.

Ich setzte mich, — ich hatte bereits bemerkt, daß des roten Sven bis zu den Stiefelspitzen herabreichende Seidendecke im Schoße zwei Pistolen verbarg, deren Konturen sich im grellen Lampenlicht eindeutig abzeichneten.

Chan Kai hatte mir doch wohl nur Mut zusprechen wollen, als er diese Aussprache mit Käpten Sven für ungefährlich erklärte. Ich war ganz anderer Meinung. Ich ahnte, daß hier an Bord der „Madagaskar” überall Zündstoff aufgehäuft war, den schon ein heißer Blick hochgehen lassen konnte.

Zunächst allerdings gab es eine Überraschung, die mich wieder etwas aus dem seelischen Gleichgewicht brachte.

Der Koloß Sven ergriff eine auf einem Hocker neben ihm stehende Tischglocke und läutete, stellte die Klingel wieder weg und sagte zu mir in unverändert höhnischem Tone:

„Oh, — wir besitzen Lebensart, Herr Abelsen, auch als Freibeuter …”

Er schaute nach der Tür, die in den Flur des Kajüthauses führte, und die Tür ging auch sehr prompt auf, und ein blendend weiß gekleideter Steward, dessen allzu kurzes Jäckchen allerdings einen sehr prall ausgefüllten Hosenboden sehen ließ, schob einen veritablen, reich bestellten Teewagen herein und kümmerte sich in seinem gemessenen Diensteifer auch nicht einen Deut um des roten Sven erstauntes Grunzen und um Adriennes ungläubigen Ausruf: „Sie leben, Erwin?!”

Erwin Dunst, der wie durch Hexerei — er sollte ja eigentlich von den Haien längst verdaut sein — hier wieder aufgetaucht war, rollte den Teetisch über die dicken Bastmatten und den Teppich bis dicht vor Svens Liegestuhl, hatte die Wippnase samt dem sonnverbrannten Schädel impertinent-selbstverständlich hoch erhoben und erklärte nun, die noch brauneren Pfoten stramm an die Hosennaht legend:

„Noch Befehle, Käpten …?!”

Der rotbärtige Kranke sagte grob und geringschätzig:

„Besser, du lägest unten irgendwo im Ozean. Bist auch einer von den Unzuverlässigen … Verschwinde!”

Der blonde Wehzeh machte kehrt, übersah mich vollkommen und marschierte eigentümlich gezierten Schrittes hinaus.

Sven lachte rauh. „Schade, daß Sie den Kerl nicht abgeknallt haben, Abelsen … Der Bursche ist ein imfamer Schleicher und ein jämmerlicher Feigling, — wenn wir ein Schiff kopfheister hinabgehen ließen, störten ihn die Todesschreie der Besatzung, — — Sie sind, schätze ich, aus härterem Holze geschnitzt …”

Der lauernde Blick der winzigen, in Fleischpolstern verschwindenden Augen wandte sich jäh der schlanken Adrienne zu, die sich erhoben und den schweren Schreibsessel wie eine leere Eierschale ohne jede Anstrengung neben den Teewagen gestellt hatte.

„Ihre Scherze, Sven, sind und bleiben abgeschmackt”, meinte sie gleichgültig. „Ich denke, Sie wollten mit Abelsen über die gewisse Sache reden und hier nicht wieder Ihr übles Theater spielen”, — sie setzte sich, winkte mir mit der gefälligen Geste der großen Dame zu und wartete, bis ich meinen Stuhl näher gerückt hatte. „Wünschen Sie Tee mit oder ohne Rum?”, fragte sie gemacht liebenswürdig, als wollte sie um jeden Preis den Eindruck bestehen lassen, daß wir uns hier in einem modernen Salon moderner, schöngeistiger Nichtstuer befänden. Freilich, ihre tadellos gepflegten Hände, dicht besteckt mit Brillantringen, und die sichere, leichte Art, wie sie nun die hauchdünnen chinesischen Teetassen aus der Kanne füllte und den Teller mit den frisch gerösteten Brotschnitten, die Zuckerbüchse und die Zigarettenschale zurechtschob, konnten diese trügerische Vorstellung fast zur Wirklichkeit gestalten.

Aber als nun des roten Sven plumpe Hand wie eine fahle Riesenkralle nach der Rumflasche griff und dabei die Fingerspitzen des Weibes, das mir immer mehr ein verwirrendes Rätsel wurde, vielleicht absichtlich streifte, nur um aus dieser flüchtigen Bewegung für den verborgenen Krater seiner Leidenschaft ein winziges Ventil zu finden, zerrann die klägliche Täuschung nur allzu rasch, und was davon zurückblieb, war ein lächerliches, trauriges Zerrbild einer verfeinerten Behaglichkeit, das geradezu abstoßend wirkte.

Der rote Sven, der jetzt das Mädchen mit den hungrigen Augen dicht neben sich hatte, wurde durch diese Nähe zum unbeholfenen, verlegenen, schließlich über sich selbst schwer gereizten Kinde.

Adrienne lehnte sich zurück, knabberte an einem Röstschnittchen und blickte uns immer wieder abwechselnd an. Das Lauernde, Sprunghaft-Bereite in ihrer Haltung hatte sie beibehalten, und die leichten Falten auf ihrer weißen Stirn erschienen mir als Zeichen des Unmuts über die für ihre innere Gespanntheit viel zu langsame Entwicklung der Dinge, deren Verlauf sie wohl nach ihrem Willen zu lenken gedachte.

Ich war auf der Hut, ich fühlte, daß sich hier Szenen vorbereiteten, von deren Inhalt ich nichts ahnte. Nur eines hatte mich von vornherein stutzig gemacht: Jener Vorhang dort, der die den Fenstern gegenüberliegende Tür nun völlig verbarg.

Der rote Sven verschüttete den Rum, wurde noch unsicherer, sein fahles Riesengesicht lief blaurot an, und die erste Explosion erfolgte.

„Wohin wollten Sie mit Ihrem Motorkutter, Abelsen?”

Die Frage klang herausfordernd grob, — — und der allerletzte Rest des faden Theaters, das dieser Teewagen darstellte, zerstob in alle Winde …

Die Frage überraschte mich.

Sie war wie ein Überfall aus dem Hinterhalt.

Blitzartig erwog ich die Antwort.

Ahnte dieser aufgedunsene Kadaver da etwas von unseren Absichten? Hatte Chan Kai verraten, daß er das Wort Guburru aufgeschnappt hatte?

„… Wir hatten vorläufig kein bestimmtes Ziel, Käpten Ordrupp”, entgegnete ich durchaus harmlos und zerrührte den Zucker in meiner Tasse.

Adriennes klingendes Lachen ließ mich aufblicken.

„Sven, er lügt in der Vollendung … Sie können von ihm lernen …”, endete das aufreizende, gedämpfte Gelächter.

Der wulstige, schwammige Koloß schüttete den Inhalt der Tasse, zur Hälfte Rum, über die ungeheuren Negerlippen, stellte die Tasse klirrend nieder und schob den Eimerschädel heimtückisch vor.

Ich sah alles …

Seine Hand war unter die Seidendecke geglitten, die Decke hob sich etwas, und ich wußte, daß ein Pistolenlauf mich unsichtbar bedrohte.

Ein schneller kurzer Blick zu Adrienne …

Sie hatte sich noch mehr zusammengeduckt, ihre roten Lippen waren halb geöffnet, und die Oberlippe ließ die weißen Zähne sehen, — wie bei Raoul, ihrem Bruder, dachte ich mit einem jäh wieder entgleitenden Gedanken.

Seltsam genug, daß die Todesgefahr so verschieden auf Menschen wirkt. Feiglinge werden im entscheidenden Augenblick durch eine unbegreifliche innere Verwandlung zu tollkühnen Draufgängern, Männer werden angesichts eines fremden Fingers, der sich nur leicht zu krümmen braucht, um das tödliche Blei zu entsenden, zu lebensgierigen, hoffnungsfreudigen Narren, die nicht einsehen wollen, daß auch ihr Daseinsfaden einmal brutal zerschnitten werden könnte.

Das alberne Spiel verfeinerter Lebensart im behaglich-vornehmen Salon war mit einem Schlage wie bei einer jäh herumschwingenden Drehbühne zu einer Szene blutgesättigter sensationssprühender Wirklichkeit geworden.

Noch seltsamer … Wie doch Vergleiche da im Hirn aufglühten wie flackernde Lämpchen … Drei Menschen hier um einen Teewagen … Und ich selbst saß — einst — im Münchener Schauspielhaus und ließ die fein geschliffenen Sätze der drei Darsteller aus Schnitzlers „Abschiedssouper” als wahrhaftiges Geschehen an mir vorüberrauschen.

Abschiedssouper?! Henkersmahlzeit?!

Auch hier drei Menschen …

Ein schlingerndes Floß, sausende Propeller, ratternde Motore, unter uns Bambus, um uns Bambus, ringsum die Unendlichkeit des Weltmeeres und über uns der heraufziehende Tag … Der neue Tag, — — mein letzter?!

Wirklich Henkersmahlzeit?!

Wirklich — ich nur Marionette in den Fingerchen dieser Adrienne, die da irgend ein teuflisches Hazard ums Leben ersonnen hatte?!

Noch nicht …! Nein, noch lange nicht …!

Meine Nerven streikten nicht … Ich durchschaute ungefähr die Falle, und ich mied den trügerischen Köder, trank gelassen einen Schluck, griff nach einer Zigarette und suchte nach Zündhölzern, faßte in die Tasche und brachte das Feuerzeug zum Vorschein.

„Käpten Ordrupp …” — Das Flämmchen blitzte knisternd auf unter dem sich drehenden Stahlrädchen, „Fräulein Adrienne beliebt zu scherzen … Wir lügen schließlich alle in der Vollendung, die wir uns selbst in eine andere Welt gestellt haben … Letzten Endes ist auch die Lüge nur ein Beweis der Überlegenheit. Ich jedoch habe hier auf Ihrer „Madagaskar” nicht den geringsten Grund, mit der Wahrheit über unsere Absichten zurückzuhalten. Weshalb auch?!”

Der rote Sven schmatzte verachtungsvoll mit den Wulstlippen. Immerhin, er zog den angriffslustigen Schädel wieder zurück und knurrte dumpf:

„Sie … wollen sich mit … mit ihm hier auf offener See treffen … Adrienne ist dieser Gedanke gekommen. Weshalb hätte er Sie sonst an Bord genommen und Ihnen sogar meinen … meinen Kerker eingeräumt, der… Schuft!! Er war ja längst darauf versessen, Sie kennen zu lernen … — Raus mit der Wahrheit …! Stimmt es?!”

Wieder tastete ich rasch des blassen Weibes Züge ab.

Ich las darin nur den klaren Ausdruck einer aufs höchste gesteigerten Spannung. Adrienne würde sofort zum Gegenhieb ausholen, und dann …

Der Hieb kam bereits.

In der blitzenden schmalen Hand flatterte plötzlich ein langer dünner Papierstreifen, der mit Strichen und Punkten bedeckt war: Ein Telegrammstreifen, Morseschrift …

Adrienne schwenkte den Streifen hin und her, lächelte belustigt und wisperte spielerisch-harmlos:

„Bitte, — hier der Beweis … Sie funkten Sven, Sven funkte Ihnen … Dies hier ist Ihre letzte Antwort, Ihre Schiffsposition und ein Gruß an Sven und „Abelsen” als Abschluß. — Bitte … Sie werden sich wohl noch daran erinnern …«

Eine dicke schwammige Klaue griff nach dem Streifen …

Der rote Sven keuchte unheimlich rauh:

„Her damit! Weshalb lieferten Sie mir diesen Beweis nicht früher, Adrienne?!”

„Oh — ich liebe Überraschungen …”

„Und Fälschungen …”, warf ich achselzuckend ein.

Adrienne kicherte.

Svens, Gesicht ward erdig-fahl. Er hatte den Streifen auf die Decke gelegt, er konnte Morseschrift glatt herunterlesen, ich sah das Zittern und Schwabbern des gedunsenen Körpers, ich fühlte die ungeheuere Wut, den satanischen Haß dieses Eimerschädels, und ich schob das Feuerzeug in die Tasche zurück, brachte etwas anderes zum Vorschein, war mit einem blitzschnellen Satz halb um den Teewagen herum, riß Adrienne mit der Linken hoch, preßte sie an mich, daß sie gellend aufschrie …

„Hände hoch, roter Sven!! Hände hoch! So wird hier nicht zwischen Männern gespielt …! Eine Fälscherin mischt die Karten!”

Sven Ordrupp hatte sich etwas aufgerichtet …

Ein breites Grinsen flog über sein entstelltes Gesicht …

Dann stand er schwerfällig auf, schwankte ein wenig, und kalt und klar sagte er mit unendlicher Geringschätzung:

„Schießen Sie doch, Sie … Lügner!!”

Sein Arm flog empor, er machte eine halbe Drehung nach der verhüllten Tür hin, drückte ab.

Ein dünner Knall, kaum ein Knall, ertönte …

Zu dünn für einen Schuß …

Laut genug für ein Zündhütchen …

Und … noch einer … noch einer …

Mit einem wilden Fluch schleuderte Sven die nutzlose Pistole von sich und hatte im Nu ein Wurfmesser in der Hand …

Wollte werfen …

Ich dachte an Erwin Dunsts vielsagende Bemerkung über die Banane …

Ich wußte: Dort hinter dem dünnen Vorhang saß der gefesselte, geknebelte andere Sven …

Und — — ich feuerte …

Hatte auf des sinnlosen Kolosses Knie gezielt.

Feuerte nochmals …

Mußte getroffen haben, — aber jede Wirkung blieb aus, nur ein dämonisches Gelächter erfüllte die Kajüte und …

Urplötzlich wurde der Vorhang bei Seite geschoben. Chan Kai stand dort, sonst niemand.

Chan Kai in seinem schmierigen Kittel, die Hände in die Ärmel geschoben, ein unergründliches Lächeln auf dem zerknitterten schmutzig-gelben Gesicht.

Svens wurfbereiter, nach hinten gereckter Arm mit dem gefährlichen Messer sank träge, wie gelähmt, herab.

„Käpten Sven”, sagte der alte Chan mit dünner, scharfer Stimme, „ich bitte Sie, die Dinge erst gründlich zu prüfen. Fräulein Adrienne hat das Spiel denn doch zu weit getrieben … Der Telegrammstreifen ist gefälscht, der Funker Jörnsen hat sich bestechen lassen, und da auf diese Weise unser Unternehmen ernstlich gefährdet wurde, habe ich Jörnsen …”

Draußen irgendwo ein Schuß, ein Schrei, ein Aufklatschen im Wasser …

Chan Kai schaute Adrienne traurig an.

„Der Tote kommt auf Ihre Rechnung … Ich werde fernerhin besser aufpassen … Was die drei Herren unten im Versteck betrifft, bitte ich, daß ihnen hier oben eine Kabine zugewiesen wird … Ich … bitte …”

Aber diese Bitte war zugleich Drohung, und der rote Sven nickte plump, ließ sich wieder in seinen Stuhl fallen und beobachtete still, wie Adrienne, die ich freigegeben hatte, schwebenden Schrittes zur Flurtür ging und erst den Kopf wandte, als sie schon halb im Flur stand.

Ihre Stimme vibrierte wie eine überspannte Diskantseite, ihre Wangen erschienen eingefallen und noch farbloser …

„Chan Kai, wir rechnen ab … später!”, sagte sie mit eisiger Ruhe.

„Ich hoffe”, entgegnete der greise Chinese mit tiefer, gemessener Verbeugung.

Die Tür krachte ins Schloß.

— Es war wie ein wüster Traum gewesen, das alles …

Noch hing der fade riechende Pulverdunst meiner wirkungslosen Schüsse in der Luft. Noch immer stand Chan Kai am selben Fleck. Eine ungeheuere, klumpige Pranke griff nach der Rumflasche, und der rote Sven goß den halben Inhalt hinab, hustete dröhnend und sprudelte mich geifernd an:

„Gehen Sie …! Chan Kai wird Ihnen eine Kabine anweisen …”

Chan glitt zur Flurtür, ließ mich an Deck und deutete gen Osten …

„Die Sonne geht gerade auf, Mr. Abelsen … Vielleicht ist dies ein gutes Vorzeichen … Wenn Sie mir bitte folgen wollen … — So, hier diese Kabine liegt sehr bequem …”

Er hatte eine versteckte Tür in der übermannshohen Reling, die mindestens drei Meter breit war, geöffnet und fügte genau so dienstbeflissen hinzu: „Sie finden hier alle Bequemlichkeiten … In dieser Kabine steckte Käpten Sven, als die hohen Herren des Kreuzers uns beehrten und nichts entdeckten … Machen Sie es sich bequem, Mr. Abelsen … Ich hole derweil Amed Schami und den Leutnant Baby … Der arme junge Baron de Couvrette wird es mit seiner Schwester nicht leicht haben … Aber die Fahrt bis zur Guburru-Mündung ist weit, und ich opfere meinen erhabenen Ahnen jeden Morgen drei Räucherstäbchen, auf daß alles sich so entwirre, wie es in meinem bescheidenen Hirn geschrieben steht …”

„Halt, — eine Frage, Chan Kai …”

Er drehte sich um und schüttelte ablehnend den Kopf.

„Die Frage darf ich Ihnen nicht beantworten, Mr. Abelsen …”

Ich war verblüfft. „Wußten Sie denn, was ich fragen wollte, Chan Kai?”

„Ja. — Sie wollten fragen, weshalb Ihre Kugeln nichts ausrichteten. — Nehmen Sie an, Käpten Sven ist infolge seiner Krankheit unverwundbar, vielleicht kommen Sie damit der Wahrheit am nächsten.”

Mit diesen rätselhaften Worten entfernte er sich.

 

9. Kapitel.

Chan Kai, der Allwissende.

Wir drei hatten bis in den Nachmittag hinein geschlafen. Dann war Freund Wehzeh erschienen, hatte die Badewanne mit einem Schlauche gefüllt und den Mittagstisch gedeckt.

… Wobei er andauernd redete …

Über seine Irrfahrten …

Also über Dinge, die uns jetzt verdammt gleichgültig waren, wo wir doch hunderterlei zu fragen hatten. — Nicht eine Frage hörte er …

Er redete …

Und draußen an Deck schritten ein paar Kerle mit Repetierbüchsen auf und ab, deren strohblonde Haare und sehnige Gestalten auf des roten Sven befreite Landsleute — Teufelsinsel einst — hindeuteten. Die übrige Besatzung setzte sich in der Hauptsache aus Malaien zusammen, soweit ich dies bisher beurteilen konnte, ich hatte ja nur die Tagwache zu Gesicht bekommen, insgesamt vierzehn Leute, alle bewaffnet, alle sauber gekleidet, man könnte fast sagen von gepflegtem Äußeren, jedenfalls niemals der Typ jener farbigen Gurgelabschneider, wie ich sie in den Häfen der asiatischen Ostküste buntscheckig und für Geld zu jeder Schufterei willfährig kennen gelernt habe.

Bad und reichhaltiges Essen haben uns nun wieder stramm auf die Beine gebracht, Wehzeh hat uns erklärt, wir dürften uns an Deck frei bewegen, auch die Reling betreten, zu der mehrere Treppenleitern emporführten, nur das Heckhaus sei uns verboten, — und da hat Freund Raoul ein sehr langes Gesicht gemacht, denn er scheint seine Schwester über alles zu lieben und sehnt sich nach einer vertraulichen Aussprache mit ihr. Die Rücksicht auf ihn gebot mir auch, bei der Schilderung der Teestunde zu dreien Adriennes so überaus verdächtigen und hetzerischen Anteil an der ungemütlichen Entwicklung der Vorgänge zu vertuschen und lediglich die geheimnisvolle Figur Chan Kai’s als die des wahren Herrn des Floßes in den Vordergrund zu rücken. Daß der hellhörige Schami mir dabei das Unausgesprochene von der Stirne ablas und bei gewissen Stellen meines vorsichtigen Berichts unmerklich zweifelnd lächelte, brauche ich kaum zu erwähnen. Schamis überfeines Fingerspitzengefühl machte jede sanfte Schwindelei illusorisch. Leutnant Babys kritiklose Jugend nahm alles in Bausch und Bogen als wahr hin — zum Glück. Wüßte er etwas von dem gefälschten Morsestreifen und von Adriennes offener Kampfansage gegenüber Chan Kai, würde er wohl kaum wie jetzt gerade über das Deck laufen und sein soeben aus dem Bambushause erscheinendes etwas unheimliches Schwesterlein jubelnd in die Arme schließen.

… Ich habe mir einen Tisch vor die Tür unserer Mittschiffskabine stellen lassen, und Wehzeh hat mir prompt eine Schreibunterlage besorgt, und als Chronist eigenen Erlebens spiele ich gleichzeitig den Beobachter des Gegenwärtigen und zaubere auch Vergangenes auf das geduldige Papier.

Es ist fünf Uhr … Ein wunderbarer klarer Tag mit frischer Brise, die die beiden mächtigen Segel prall füllt und die „Madagaskar” noch eiliger gen Südwesten führt. Die Motoren schnurren ohne Unterlaß, die Propeller summen wie wütende, riesige Bremsen, die lustigen Kinder des Ozeans umplätschern die breite Nase des Flosses, und still und stolz schweben über uns ein paar Albatrosse, während am Heck das laute Völkchen der Möven auf Küchenreste kreischend wartet.

Schon vorhin hatte man drüben vor dem großen Deckhaus ein Sonnensegel gespannt, als ich gerade erst dem Bade entstiegen war und mich krebsrot frottiert hatte. Dann wurde von vier Leuten Käpten Svens Liegestuhl, der entsprechend der Schwere des gedunsenen Leibes doppelte Größe und dreifache Haltbarkeit besitzt, samt dem bedauernswerten rothaarigen Koloß ins Freie getragen, ein Tischchen neben den Stuhl gestellt und Kaffee serviert. Chan Kai bediente den Käpten mit lautloser Geschäftigkeit, und beide haben uns flüchtig von fern begrüßt, Chan mit aller Ehrerbietung, der rote Sven mit gehässigen, verlegenen Blicken und einer Handbewegung, die man so oder so deuten konnte.

Auch die bunte Seidendecke liegt wieder über Svens Beinen, und unter der Decke die beiden Pistolen.

Dann erschien Adrienne …

Da habe ich die Feder weggelegt und sogar die Zigarre vergessen.

Weiß und schlicht, trotzdem raffiniert vornehm in Rock und loser Bluse …

Eine weiße Taube mit — leider mit der allzu reichen, koketten schwarzen Frisur und den elfenbeinernen Zügen, den brennend roten Lippen und den hungrigen, in den Tiefen unheilvoll glühenden Augen.

Keine Friedenstaube, alles andere als das.

Aber Freund Raoul flog aus seinem Bordstuhl hoch und lief ihr entgegen, umfing sie, hielt ihre Hände, küßte sie, zog sie abseits, flüsterte … flüsterte …

Sie hat dazu gelächelt …

Amed, dicht neben mir in ein Buch vertieft, sagte halblaut: „Ich möchte ihre Gedanken lesen können … Dieses Lächeln müßte Raoul wohl auffallen…”

Käpten Svens grausige Züge waren blaurot angelaufen. Er hatte die Geschwister mit seinen blanken Stecknadelknöpfen finster und flüchtig gemustert, seine Unruhe wuchs, je länger Raoul die kühle Zurückhaltung Adriennes zu besiegen versuchte, die ungeheueren Flossen des Ärmsten fingerten nervös über die Seidendecke, und dann schlüpfte die eine Pfote nervös unter die Seidendecke, während sein verquollener Mund sich zu einem heiseren Krächzen öffnete, das noch den Lärm der kreisenden Möven übertönte.

Wie hingehext stand Chan Kai plötzlich in demütiger Haltung neben ihm und verdeckte ihm den Anblick des gleich schlanken, rassigen Paares.

Der rote Sven grinste scheu zu dem steinernen Greisengesicht seines Wächters empor, und seine schwammigen Wangen entfärbten sich. Unhörbar schien der Chinese etwas zu murmeln, verneigte sich, winkte nach der offenen Tür des Deckhauses hin, und Steward Wehzeh schleppte zwei Bordstühle herbei, und die Geschwister nahmen Platz.

Ich sah, daß die ganze Tagwache, vierzehn Augenpaare, mit einem Interesse, das nicht lediglich Neugier war, diese Vorgänge atemlos verfolgt hatten, und ich stellte nun erst fest, daß unter diesen vierzehn Leuten, von denen nur vier Europäer waren, Dänen, wie Sven Ordrupp, zwei Parteien bestanden, die sich voneinander absonderten, sich auswichen und füreinander Luft waren. Die Farbigen, zum Teil doch Singhalesen aus Ceylon, wie ihre Größe, Schmalheit und Haartracht und hellere Haut verrieten, verteilten sich auf beide Parteien. Die Malaien hielten es mit den blonden, braungebrannten Nordländern, die Söhne Ceylons waren zweifellos des anderen Ordrupps getreue Gefolgschaft, und — auch das stieß mir nun auf — daß die Singhalesen leere Gürtel hatten und unbewaffnet waren.

Allmählich nahmen die Vorgänge an Deck wieder ein mit unbekannten Drohungen und schreckvollen Möglichkeiten weniger überhitztes Aussehen an. Der rote Sven rauchte und las, die Geschwister tranken gleichfalls Kaffee und führten ein sichtlich immer frostigeres Gespräch, über Raouls Knabenantlitz lagerte eine düstere Wolke des Nichtbegreifenkönnens, und sein immer häufiger zu uns hinüberschweifender Blick deutete darauf hin, daß er sich in der Gesellschaft Adriennes höchst unbehaglich fühlte und der Schmerz und die Enttäuschung und sicherlich auch argwöhnische Gedanken ihn quälten.

Selbst der blindeste Tor hätte trotzdem fühlen müssen, daß über diesem Riesenfloß unsichtbar, unspürbar der verpestete Glutodem drohender chaotischer Ereignisse hing. Das Sonnenlicht schien fahl und kraftlos zu werden wie bei einer Sonnenfinsternis, wo doch die unheimliche, unwirkliche Beleuchtung sogar das Getier der Luft und die frei weidenden Herden in wilde Aufregung versetzt. So war es hier, nur daß hier die Menschen mitternächtlichen spukhaften Bestien glichen, die allzeit bereit waren, übereinander herzufallen.

Freund Schami, vielleicht ein noch kühlerer Beobachter als ich, sagte unvermittelt:

„Ein Käfig hungriger Raubtiere …!”

Er sprach nur das aus, was ich in andere Worte gekleidet hatte.

Dann kam Steward Wehzeh mit einem Riesentablett angetänzelt und meinte so obenhin, als ob ihn diese mordschwangere Atmosphäre gänzlich unberührt ließe: „Unser Mokka ist erstklassig … Alles ist hier erstklassig …: Die Dame, die Herren, ich, das Matrosenvolk und der holde Frieden …!”

Sein pfiffiges Gesicht hatte dennoch einen Stich ins Nachdenklich-Ernste.

Ich legte meine Schreiberei weg, er deckte den Tisch, strich das feine englische Damasttuch glatt und flüsterte, ohne die Lippen zu bewegen:

„Ich bin nicht neutral, ich stehe auf Seiten des anderen Ordrupp. Aber vorläufig können wir nichts tun und müssen abwarten …”

Ganz laut und mit dem bekannten, schiefen Bückling dann: „Befehlen die Herren Zwieback oder Rostschnittchen mit Kaviar?”

„Kaviar!”, entschied ich, und Wehzeh enteilte mit dem äußerst geschmeidigen Hüftenwiegen eines Eintänzers einer Steppdiele dritten Ranges, während die vier in der Nähe herumlungernden Exsträflinge über ihn sehr üble Witze rissen und erst jäh verstummten und zur Seite schauten, als der stämmige Berliner, der seine strotzenden Muskelwülste mit so spielerischer, betont übertriebener Pseudo-Grazie zeigte, sich plötzlich umwandte und wie von ungefähr nach dem Ledergürtel griff, wo er seine fünf schönen langen Wurfmesser in sauberen Lederscheiden als einzige Waffen trug, — ihm genügten sie, wer eine Banane der Länge nach halbiert, trifft auch bestimmt einen menschlichen Kürbis, meine Nase wußte davon ein bescheidenes Liedchen zu singen.

Gleich darauf erschienen die Kaviarschnittchen, und Herr Dunst machte mich so diskret auf ein besonders dick mit gepökeltem Fischrogen belegtes Röstschnittchen aufmerksam, daß wirklich nicht viel Intelligenz dazu gehörte, unter dem Kaviar noch einen anderen, schriftlichen Belag zu vermuten.

Die vier Ex-Teufelsinsulaner störten mich jetzt. Die strammen Kerle hatten verdammt helle, scharfe Augen, und ich sann daher auf ein Mittel, Wehzeh’s geheime Botschaft ganz unbemerkt in meine Tasche befördern zu können, zumal ich das rasche Ende des bestechlichen Funkers Jörnsen nicht vergessen hatte, der in der Nacht auf Chan Kai’s Befehl so prompt über Bord gefallen war. Ich wollte nicht schuld daran sein, daß es dem vierten Kameraden, denn ich rechnete Dunst schon längst mit zu uns, etwa ähnlich erginge. Chan Kai als Richter schien mir denn doch allzu chinesische Methoden anzuwenden, mochte er auch sonst sehr ideelle Ziele hier verfolgen, woran ich kaum mehr zweifelte.

Amed, der mit stoischer Ruhe drei Stückchen Kristallzucker mit der Zange in seine gefüllte Tasse fallen ließ, sagte in dem gedämpften Flüsterton, der hier an Bord nun einmal notwendig war: „Es ist ein sehr gewagtes Spiel, Olaf … Ich würde doch lieber die große Schopfmöwe dort oben auf dem Mast mit dem fetten Happen füttern, denn Chan Kai’s Spionagesystem …”

Seine Warnung brauchte er nicht zu beenden, in der Tür des Heckhauses war die dürftige Gestalt des geheimnisvollen Greises erschienen, und alles hing nun davon ab, ob die lüstern zu uns hinabspähende Möwe den Brocken auffangen würde. Ich warf das flache Röstschnittchen mit schneller Handbewegung schräg nach oben, der Vogel stieß sofort kreischend herab, erwischte das gefährliche Objekt, beschrieb eine scharfe Kurve und wollte sich wieder auf die Spitze des zweiten Mastes emporschwingen.

Ein Blick nach Chan Kai, — ich sah den gespannten Ausdruck seiner verkniffenen Züge, ich sah auch die straffe Haltung des immer noch sehnigen Körpers und die beginnende Bewegung des rechten Armes — die Hand steckte noch im Ärmel, — ich war schneller, niemand hatte uns hier verboten, nach Möwen zu schießen, Hirn und Muskeln arbeiteten wie ein präzises Räderwerk, meine Pistole knallte zuerst, und der große Vogel, dem das Pfeifen der Kugel den Ruhesitz auf der Mastspitze verleidete, strich davon, Chans Kugel ging fehl, und die Schopfmöwe fiel weit hinter dem Flosse in ein Wellental ein, um den Brocken dort in aller Ruhe schwimmend zu verspeisen.

Die beiden Schüsse hatten ungeahnte Folgen.

Ganz vorn in der Reling lagen die Räume für die Besatzung, die Türen standen offen, halbnackte Gestalten, schlaftrunken, ins grelle Sonnenlicht blinzelnd, stürmten an Deck, die vier Exsträflinge und die Malaien der Tagwache hielten die Waffen bereit, der Koloß von Sven, der rote Sven, hatte sich aus seinem Liegestuhl erhoben und in jeder klobigen Faust eine drohend vorgestreckte Pistole, Adrienne kniff die Augen klein und lächelte grausam, als erwarte sie nun ein sinnloses Gemetzel, Leutnant Baby hockte sprungfertig, etwas blaß, aber mit fast finsterer Entschlossenheit auf seinem Bordstuhl …

Nichts geschah …

Alles schien auf Chan Kai’s Signal zu harren.

Chan Kai war, außer Amed und mir, der einzige an Deck, der die Bedeutung der blitzschnellen Schüsse kannte, der einzige, der mit einem dünnen Grinsen regungslos mich anblickte und längst wieder die Hände in die weiten Jackenärmel vergraben hatte.

„Wir haben beide daneben geschossen, Mr. Abelsen”, rief er mir zu, und sein vielsagendes Grinsen verstärkte sich noch. „Es war eine sehr schöne Möwe, und ihr Federkleid hätte vielleicht für Mr. Dunst eine weiche Halskrause abgegeben. Trotzdem dürfte es ratsam sein, Vögel nicht gerade mit Kaviarschnittchen anzulocken …”

Er verbeugte sich tief, wandte sich um und huschte auf seinen dicken Filzsohlen der Deckhaustür zu, in der Freund Wehzeh bereits eine Weile mit ungewöhnlich hartem, auf irgend einen felsenfesten Entschluß hindeutenden Gesichtsausdruck gestanden hatte.

Als der alte Chinese sich näherte, machte Kamerad Dunst ihm höflich Platz. Chan Kai blieb vor ihm stehen, schaute ihn kurz an, — möglich, daß er ihm etwas zuraunte, dann verschwand er in der Dämmerung des langen Flurs, und hiermit löste sich auch die unerträgliche Spannung an Deck, die halbnackten Matrosen schlichen in ihre Schlafräume zurück, Sven Ordrupp setzte sich wieder, und in Adriennes Züge zeigte sich derselbe Ausdruck von Enttäuschung wie während der etwas nervenkitzelnden Teestunde, als Sven Ordrupps Wurfmesser nicht gegen den dünnen Vorhang geflogen war, weil Chan Kai rechtzeitig eingegriffen hatte.

Amed Schami nahm einen Schluck aus seiner Tasse und murmelte gleichmütig: „Deine Geistesgegenwart, Olaf, mag dem Deutschen vorläufig das Leben gerettet haben. Wir werden noch vorsichtiger sein müssen. Ich wünschte, ich könnte mir über die Rolle Klarheit verschaffen, die der alte Chinese hier spielt.”

„Darüber bin ich mir bereits im klaren”, entgegnete ich ebenso leise. „Er hat beide Parteien unter seiner Fuchtel, mein lieber Amed, und er gefällt sich in der Rolle der Vorsehung, wahrscheinlich aus angeborener Güte heraus, aus … Menschenliebe, so absurd das klingen mag …”

Ich griff nach einem Brötchen, und ich behielt die Geschwister und Sven Ordrupp im Auge, denn der Mitternachtsspuk dieser abenteuerlichen und doch seelisch so verwickelten Tragödie war ja unbedingt wieder einmal ein Weib: Adrienne! Ich sah, daß unser Leutnant-Baby erneut sehr eindringlich auf sie einredete, daß er über ihre Gleichgültigkeit und aufreizend ungezwungene Haltung — sie hatte die Hände im Nacken verschlungen, die Beine übereinandergeschlagen und wippte mit der Fußspitze taktmäßig auf und ab — immer empörter wurde und seine Wangen sich immer stärker röteten. Dann erhob er sich jäh, kam rasch auf uns zu und warf sich mit verkniffenen Lippen in seinen Stuhl, senkte den Kopf und starrte wortlos, finster und schwer atmend wie nach gröbster körperlicher Anstrengung vor sich hin.

Adrienne hatte derweil ihren Bordstuhl herumgeschwenkt und sprach irgend etwas zu Käpten Sven, der mit verlegener Hast seinem plumpen Körper eine für die Nähe einer Dame angemessene Haltung zu geben suchte. Wieder regte sich da das Mitleid bei mir … Dieser entartete Leib, aufgedunsen zu der Plumpheit eines Elefanten, hatte genau wie ich ein Herz in der Brust, und dieses Herz fieberte sehnsüchtig gerade der einen Frau entgegen, die nichts anderes im Sinne haben konnte, als den Tod ihres Vaters an beiden Ordrupps zu rächen, und deren ganzes Trachten unfehlbar darauf ausging, daß ein Sven den anderen Sven tötete …

Und das war die Menschheitstragödie dieses durch die grünblauen Fluten dahineilenden Flosses: Liebe — — und Rache! — Alles andere hatte nur eine ganz nebensächliche Bedeutung. Amed Schamis schillernder Diamantenbach trat gegenüber diesen kaltherzigen, grausamen Plänen Adriennes de Couvrettes völlig in den Hintergrund. Hier ging es um Menschenschicksale, nicht um sprühenden Tand, und mochte er Millionen und Abermillionen wert sein.

Abseits der Alltagswege war ich Zeuge oder Mitspieler so mancher seelischen Katastrophe geworden. Noch nie aber stand ich so hilflos, vorläufig hilflos dem gegenüber, was kommen mußte. Und wenn in mir noch der geringste Zweifel darüber sich gemeldet hätte, ob meine Vermutungen nicht doch vielleicht irrig wären, — Raouls erste Worte nach minutenlangem verzagtem Grübeln gaben mir volle Gewißheit.

Er hatte sich etwas aufgerichtet, sein trauriger Blick mied unsere Gesichter, als schämte er sich dieses Geständnisses. „Adrienne ist mir völlig fremd geworden … Sie, die unseren Vater geradezu vergötterte, betonte immer wieder, dieser Ordrupp trüge keine Schuld an Vaters Tod … Sie hat dazu gelächelt …, — ich bin vollständig an ihr irre geworden … ich … habe … meine Schwester verloren …”

Sein Kopf sank wieder nach vorn. Seine Jugend kämpfte gegen die Tränen über diese grenzenlose Enttäuschung an.

Auch er ward so mit hineingezogen in dieses tragische Geschehen, das Chan Kai mit seinen mir noch unverständlichen Methoden zu glücklichem Ende zu zwingen suchte. Meine Pflicht war es, den alten Chinesen schleunigst zu einer offenen Aussprache zu bewegen und mit ihm gemeinsam alles zu beraten, was diesen verpesteten Hauch von Haß, Liebe, Niedertracht und Leid endgültig zerstreuen könnte.

… Vom Vorschiff her erklangen plötzlich die halb verwehten, melancholischen, eintönig-traurigen Melodien irgend eines Singhalesen-Liedes. Zwei braune Burschen mit Zupfgeigen, zwei mit Bambusflöten hockten oben auf der Reling und spielten und sangen mit wehem Rhytmus die Sehnsucht ihrer Seelen in die unendliche Weite des Ozeans. Zuweilen schwollen die Klänge an und übertönten den Lärm der Motoren und der unermüdlichen Wogen, zuweilen erstarb die Musik, man ahnte die getragene Melodie nur noch …

Adrienne, bleich und kalt, weiß und schlank, war aufgestanden und eilte hastig in die offene Tür des Deckhauses. Ihre Schultern zuckten, ihre Hand fuhr über die Augen. Sie wollte ihre Tränen verbergen, — — und weil ich wußte, daß sie weinte, belebte mich die Hoffnung von neuem, dieses Mädchen von diesem schmalen, dornigen und unwürdigen Pfade zurückzureißen, den sie bisher in ihrer blinden Rachgier mit erschreckender Zähigkeit verfolgt hatte.

 

10. Kapitel.

Ein Morgen, und viele Tage …

Das Floß „Madagaskar”, das alle vielbefahrenen Routen ängstlich mied und jeder irgendwo am Horizont aufwirbelnden Rauchwolke sofort auswich, war mehr als nur Gehäuse einer verworrenen Schicksalsgemeinschaft. Es war wie ein Riesentier, in dem unheimlich lautlos anderes Getier lebte und nagte und sich nährte von dem krankhaften Moderduft, der aus den überhitzten Hirnen der Leidensgefährten aufstieg.

Diese Umwelt war mit nichts vergleichbar, das mir bisher je begegnete. Es war etwas Lähmendes, Zermürbendes daran, wie die Menschen hier, scheinbar Tollhäuslern gleichend, sich benahmen und unentwegt festhielten an den allgemeinen Entartungserscheinungen.

Tage waren dahingegangen, wundervolle Tropentage und Sternennächte, — und nichts hatte sich geändert, es sei denn, daß man die zwangsläufig sich verstärkende Verbitterung und Heimtücke der einzelnen Parteien als Veränderung betrachten wollte.

Ich hatte mir in der langen, halb durchwachten ersten Nacht in unserer Mittschiffskabine, wo ich von Raouls Kastenbett her im Dunkeln die schweren Seufzer eines enttäuschten Jünglings und Bruders vernommen wie als Antwort auf Adriennes heimliche Tränen, mein Programm sorgfältig zurechtgelegt und mir eingebildet, es auch durchführen zu können.

Am Morgen hatte ich Chan Kai hinten am Heck gestellt und dem alten Chinesen mit wachsendem Grimm vorgehalten — denn er tat schwerhörig und ließ sich auf keine Erörterungen ein —, daß seine Rolle als Vorsehung, die ich nun durchschaut hätte, gänzlich verfehlt und unzweckmäßig sei …

Der alte Chan hatte mit kühler Höflichkeit nicht zugehört und in den Pausen meines immerhin noch beherrschten Vortrages vom Wetter, von den Haien und von sonstigen aufstachelnd gleichgültigen Dingen geredet.

Ich bin es nicht gewöhnt, so in die leere Luft sprechen zu müssen, und sein kalter Panzer der Ablehnung jeglicher Einmischung meinerseits trieb mir schließlich das Blut zu Kopfe.

„Sie sind ein Narr!”, fauchte ich ihn an. „Oder Ihnen zerfrißt die Gier nach Herrschendürfen und die Freude an Intrigen die Seele!”

Er hatte den mageren Kopf ein wenig gehoben und, die kleinen Augen streiften mich abschätzend.

„Wie alt sind Sie, Mr. Abelsen?!”

Das klang nicht anders, als ob ein ergrauter Mann einen frechen unerzogenen Burschen jener Sorte, wie sie der noch immer über der Erde lagernde Blutgeruch eines vierjährigen Weltmordrausches hervorgebracht hat, hoheitsvoll-würdig und mit stillem Bedauern zurückweist.

Ich mochte mich einen Augenblick vergessen haben — zugegeben. Chan Kai war kein Narr. Aber er war auch nicht der, der hier Frieden stiften und die allgemeine Verpestung ausräuchern konnte.

Ich kam nicht mehr dazu, etwas hinzuzufügen oder etwas zu antworten, denn er hatte sich liebenswürdig-nichtssagend lächelnd verneigt und war durch die Hintertür des großen Deckhauses verschwunden, ehe mir noch recht klar wurde, wie beschämend diese Aussprache für mich geendet hatte.

Drei von den Norwegern mit ihren Repetierbüchsen standen keine zehn Schritt entfernt, und als ich nach dem Türdrücker faßte, um Chan zurückzurufen, brüllte mir der eine die unmißverständliche Warnung zu, mein Leben nicht aufs Spiel zu setzen.

Ich war machtlos.

Meine Hand sank herab, ich trat zurück, und drei sehr gut geölte Büchsen in drei Paar braunen Pranken senkten sich gleichfalls.

Das Schicksal des Funkers Jörnsen und der Zwischenfall mit der Möwe und dem Kaviarschnittchen warnten mich. Mein Inneres brannte lichterloh, nach außen hin begnügte ich mich mit einem Achselzucken.

Der schlanke Malaie am Steuer grinste dünn, und unter anderen Umständen hätte ich den Kerl windelweich geprügelt.

Das war morgens nach dem Bade und vor dem Frühstück, das auf Deck vor unserer Kabine unter einem neu gespannten Sonnensegel serviert wurde — durch Kamerad Wehzeh, dessen scharfe Bügelfalten in den weißleinenen Hosen genau so aufreizend stilwidrig für dieses Propellerfloß wirkten wie Herrn Erwin Dunsts ergebenste Morgengrüße und herzlichste Wünsche für unser Befinden. Worauf Wehzeh unmittelbar genau wie Chan Kai über das Wetter, die Haifische, den frischen Wind und sonstige Allgemeinplätze allerhand Zeug zusammenschwafelte, und dies nur, um von vornherein jedes andere Gesprächsthema zu hintertreiben.

Mochte er nun auch — der trockene Witz des Berliners ließ ihn auch hier nicht im Stich — alle Ursache haben, vorsichtig zu sein und sogar meine geflüsterten Vorschläge zu überhören, mir riß denn doch endlich der bereits durch Chan heute etwas angenagte Geduldsfaden, und ich quittierte über den neuesten Kalauer, den er angeblich durch den Lautsprecher von irgendwo aus der Luft aufgefangen haben wollte, mit einem grimmen Bombayer Hafenfluch …

„Dunst, Sie sind ein Feigling!!”, zischte ich hinterher, und Freund Babys Jugend sekundierte mir ebenso aufgebracht: „Sie Memme, hier kann uns doch keiner belauschen!”, — nur der unverändert gleichmütige Schami schwieg und widmete sich seinem Tee.

Wehzeh, in dessen blaßblauen Augen irgend etwas Fremdes flackerte, hatte selbst für Injurien taube Ohren, machte seinen bekannten schiefen Bückling und erklärte, er würde den Wasserschlauch, mit dem das Seewasser in unsere Wanne gepumpt wurde, nachher sofort entfernen.

Wobei er mich anblickte und das Wort Schlauch unmerklich betonte.

Dann überließ er uns unserer recht geteilten Stimmung, schritt tänzelnd davon, und Freund Schami, der mit dem Rücken nach der Tür unseres luftigen Heimes saß, wandte den Kopf und meinte halblaut:

„Wollen Sie sich nicht zu uns setzen, Chan Kai? Es muß doch hinter der halb offenen Tür beträchtlich ziehen, was für Ihr Rheuma nachteilig sein könnte.”

Raoul und ich, die wir an den Schmalseiten des Tisches saßen, hatten nicht wie Amed die Möglichkeit gehabt, mit dem Gehör die geringen Geräusche aufzufangen, die der alte Schleicher trotz aller Behutsamkeit hervorgerufen haben mußte. Wir empfanden bei Schamis halb nach rückwärts gerichteten Worten daher neben begreiflicher Überraschung wohl beide auch dieselbe ansteigende Feindseligkeit, nebenher noch das gewisse Unbehagen, das gegenüber einer so gründlichen, unverfrorenen Spioniererei sich notwendig einstellen mußte. Raoul, weniger beherrscht und mitgerissen von dem grimmen Lächeln, das um meinen Mund jäh erschien, schnellte von seinem Stuhl empor und starrte dann sprachlos auf die Kehrseite Chan Kai’s, der den roten dicken Schlauch nach vorn gebückt an Deck zog und dabei in seiner unnachahmlichen Gelassenheit erklärte:

„Ich leide nicht an Rheuma, Amed Schami. Ich wünschte, jeder wäre so gesund wie ich. Nachher habe ich keine Zeit mehr, den Schlauch aufzurollen, der für unvorsichtige Leute vielleicht ein Sprachrohr darstellen könnte, um sich heimlich untereinander zu verständigen.”

Er schaute uns nicht an, als er, immer rückwärts schreitend, den Schlauch zu dem aus Bambus gefertigten Wickelständer schleifte.

Raoul de Couvrette stieß einen seltsamen Ton aus. Des alten Chinesen bodenlose Unverschämtheit und offenbare Mißachtung uns gegenüber trieb ihm das Blut aus den gebräunten Wangen. Um die feine Nase erschienen die bekannten weißen Flecken der auflodernden Wut und mit einem brutalen Griff packte er den Alten bei der Schulter und wirbelte ihn herum.

„Wie … wie sind Sie in unsere Kabine gelangt, Sie jämmerliches Gewächs Sie …?! Reden Sie!!” — Leutnant Baby war bereits angesteckt von dem unnennbar häßlichen, unheimlichen Krankheitsstoff, der dieses Riesengefüge von Bambusstämmen und die Menschen auf diesem ungewöhnlichen Fahrzeug durch und durch infiziert hatte. Er war nicht mehr der wohlerzogene junge Offizier einer siegreichen Nation, sondern ein alles äußeren Kulturlacks entblößter toller Draufgänger, der lediglich noch den Ursprungsinstinkten der Menschen gehorchte und seine jungen Kräfte unbedenklich und unbedacht in den Dienst einer aufflackernden Augenblicksstimmung stellte.

Ich sah voraus, was geschehen würde, — ein Mann wie Chan Kai ließ sich von einem Knaben nicht derart behandeln, und als der unergründlich grinsende Alte den Schlauch fallen ließ, riß ich den jungen Tollkopf zurück und pflanzte mich vor ihn auf, so daß Chan’s bereits nach hinten schnellender Arm ebenso blitzartig halb im Ärmel verschwand und mit ihm das blinkende Wurfmesser.

Die Art, wie dieser mumienhafte Chinese seinen Körper und sein Mienenspiel in der Gewalt hatte, mußte noch das schreckliche Empfinden steigern, daß wir uns hier einer Macht gegenübersahen, gegen die es kein Aufbegehren gäbe.

Chan Kai sagte, Hände in den Ärmeln, mit höflicher Verneigung in eisiger Ruhe:

„Ich bitte Sie, Mr. Raoul, fernerhin sich zu bemühen, dieselben gesellschaftlichen Formen einzuhalten wie ich … Ich hätte Ihnen Ihre Frage auch ohne Ihren rohen Angriff beantwortet, denn es liegt kein Grund vor, Dinge zu verschweigen, die für einen denkenden Kopf selbstverständlich sind. Dieses Floß hat hundert Geheimnisse, erklärte ich bereits bei unserer ersten Begegnung, und hundert geheime Türen … Hier herrscht nur ein einziger Wille: Ich!”

Man stelle sich zu diesen Worten den alten Chan in dem schmierigen Leinenkittel und in den mit Ölflecken übersäten Hosen, den plumpen Filzschuhen, der ausgemergelten Gestalt und dem faltigen dünnen Hühnerhalse und dem so maskenhaft ausdruckslosen Gesicht mit dem eingefrorenen Grinsen vor …! Und zu alledem dieses seine Sätze beschließende, anmaßende und doch absolut unbetont ausgesprochene„»Ich!”, das vielleicht gerade deshalb eine neue, bewußte Drohung erhielt …

Man vergegenwärtige sich dazu die Umgebung: In der Nähe unsere bewaffneten Wächter, auf der Reling bewaffnete Malaien, weiter vorn die waffenlosen, schmalhüftigen Singhalesen, die Getreuen des anderen Sven, von dem wir nicht wußten, wo er gefangen gehalten wurde …, ob er überhaupt noch lebte.

Und ringsum der unendliche Ozean, der nichts verriet, der jeden Toten in seine grünen Grüfte aufnahm, der mit seinen Wogenkämmen gegen die Bordwände klatschte und höhnend zu rufen schien: „Ich bin die ewige Unruhe, ich bin aber auch das große Schweigen und die öde Leere!!” …

Und weiter dazu jetzt noch das gewohnte Bild am Heck: Die Tür des Bambushauses fliegt auf, und man trägt den Elefanten Sven in seinem Liegestuhl mit der Seidendecke neben den dort bereits gedeckten Frühstückstisch, und hinter dieser stillen, trotzdem die Phantasie anfeuernden Prozession tritt auch Adrienne in zartestem Weiß ins Freie, bleibt stehen, winkt ihrem Bruder nachlässig zu, der zitternd und totenbleich, denn der Tod stand vor ihm, ihren Gruß mit einem harten Auflachen und einer schroffen, unfreundlichen Handbewegung erwidert und sich dann schwer in seinen Stuhl fallen läßt und wie verstört in seine Tasse stiert …

— Das war der erste Morgen, das war so eine kleine Probe dessen, was unseren Nerven hier zugemutet wurde.

Und dann noch mit beobachten müssen, wie dieser Unglückliche, dieses gedunsene Untier dort drüben das Mädchen mit dem kalten Gemmenkopf in erschütternd-unbeholfenen, demütigen und sklavischem Liebeswerben umgirrt …

Der Bissen blieb mir im Halse stecken.

Zum Glück saß Raoul mit dem Rücken nach dem Paare hin, um das der alte Chan diensteifrig, untertänig und gewandt herumschwänzelte, ohne doch je sein „Gesicht zu verlieren”, wie die Chinesen dies so treffend ausdrücken.

Raoul hat dann erst eine Stunde nachher seine Schwester durch kühlen Handschlag begrüßt, mit ihr ein paar wohl nichtssagende Worte gewechselt und ist schleunigst zu uns zurückgekehrt, ohne den roten Sven auch nur eines Blicks zu würdigen, während der aufgeschwemmte Koloß die Stecknadelaugen in Eifersucht und Feindseligkeit die gertenschlanke Jünglingsgestalt Babys umspielen ließ.

Es war ein Morgen … eine Probe …

Und es kam der Rest des Tages, es kam die Nacht, es kam ein neuer Morgen, — — und an diesem zweiten Tage spät abends, als am Horizont das Rot des Sonnenunterganges verglomm, faßte ich Chan Kai ein zweites Mal ab, diesmal vorn am Bug unweit des Motors, wo der Lärm der Benzinexplosionen und das Sausen der Luftschraube die menschliche Stimme zu kraftvollem Brüllen zwang, wollte man sich irgend einem anderen verständlich machen. Aber gerade diese Notwendigkeit, die Lungen bis zum Äußersten vollzupumpen und alles rücksichtsvolle Säuseln als zwecklos abzutun, gab mir auch den Mut, den alten Chan auf meine Art zu behandeln. Niemand war in der Nähe, die beiden Leute, die den großen Motor überwachten, hockten mit ihren Tabakpfeifen auf einem Bambusbänkchen und waren Singhalesen.

Ich kam ganz plötzlich die Leiter hinan, stand ganz plötzlich neben dem Gebieter der „Madagaskar”, und als ich meine Hand auf seine Schulter legt, genoß ich die kleine Genugtuung, daß er tatsächlich leise zusammenschrak.

„Chan”, schrie ich ihm ins Ohr, und ich hatte die andere Hand in der Jackentasche, wo sie nicht allein sich zu langweilen brauchte, da eine entsicherte Pistole immerhin ein nettes Spielzeug darstellt, „Chan, die Geschicke dieser Menschen hier dürfen mir nicht gleichgültig sein, und wenn Sie mir jetzt nicht Gehör schenken, zwinge ich Sie zu einem Gewaltstreich! Sie kennen mich nicht …!!”

Er blickte zu mir empor, er war gut einen Kopf kleiner als ich, und — — er lächelte und nickte … Die weiße Laterne in der Mitte der Frontseite des Flosses warf gerade genug Lichtschein nach rückwärts, um seine Züge abtasten zu können.

Er lächelte … nickte …

„Ich kenne Sie!”

Seine Stimme war wie ein pfeifender Degenhieb, und die Aussprache war klar und scharf akzentuiert, als ob ihn diese überlaute Antwort auch nicht die geringste Mühe kostete.

Vor uns, dicht vor uns flog ein Teil der Bambusbalken empor, aus der bis dahin unsichtbaren Luke schoß das kalte, grelle Licht einer Karbidlaterne über uns hin, und ein Büchsenlauf und ein struppiger blonder Schädel erschienen hinter der Laterne.

Ich biß die Zähne in die Unterlippe … Nur das. Ich hatte es bereits verlernt, hier verlernt, meine ungebrochene, unverbrauchte Kraft in kurzem Anfall nutzlosen Grimmes sich erschöpfen zu lassen. Ich starrte den Kerl mit der drohenden Büchse in das harte, männliche, etwas lauernde Gesicht, und da ich darin schließlich nur etwas wie gutmütigen Spott gewahrte, der meine schmähliche Niederlage verdoppelte, wandte ich mich um und schritt planlos, ziellos, aufgerührt bis ins Innerste, über die Relingbalken weiter und nahm mir das eine endgültig vor: Chan Kai nunmehr mit anderen Waffen zu bekämpfen!

Er wollte den Kampf. — Gut also, mochte er zusehen, daß er nicht eines Tages sein dünkelhaftes Regime an mich abtreten mußte.

… Als ich unsere langgestreckte Kabine betrat, an die sich der Baderaum unmittelbar, nur durch eine Türöffnung getrennt, anschloß, fand ich Raoul bereits fest im Schlafe, während Freund Schami am Tische saß und bei halb verhüllter Lampe eifrig, übereifrig in seinem Buche blätterte, in dem er bisher wohl kaum zehn Seiten in Wahrheit gelesen haben mochte. Es war ein englischer Roman, und von der Sorte stand auf dem Wandbrett noch ein ganzes Dutzend.

Freund Amed blickte nicht auf. Als ich mich neben ihn niederließ, als ich allzu hastig nach der Zigarrenkiste griff, schaute er mich nur flüchtig aus den Augenwinkeln an.

„Wozu das alles, Olaf?!”, — er brauchte nichts mehr zu sagen. Er mußte von fern Zeuge gewesen sein, wie Chan Kai mich abermals abgeschüttelt hatte.

Und er wiederholte etwas eindringlicher: „Wozu, Olaf?! Vielleicht sind Chan’s Methoden doch etwas wert.”

Die Zigarre in meiner Hand zerbrach und wurde zerrieben und in die Aschenschale, eine halbe Kokosnuß, geschleudert. „Wie, — — du fragst wozu?! Du fragst noch?! Fühlst du nicht, daß dieses verdammte Floß uns den Schädel und die Seele leer macht und daß …”

Sein kühler Blick, sein ablehnendes Achselzucken und ein gewisser Zug um den Mund brachten mich zur Vernunft. Die zweite Zigarre zündete ich mit ruhigen Händen an, lehnte mich zurück und schaute sinnend zu Freund Raoul hinüber, dessen Profil in den schneeweißen Bettlaken und -Kissen so sehr an das seiner Schwester Adrienne erinnerte.

Adrienne war Mittelpunkt dieser Tragödie, Adrienne sollte jetzt ihren Haß und ihre Rachepläne sich aus dem Sinn schlagen müssen … Adrienne war mein Ziel für den folgenden Tag. — —

Folgender Tag?! — Folgende Tage?!

Verrauscht, verklungen … eine trostlos eintönige Melodie.

Adrienne hat mir den Rücken gezeigt, und wortlos ist sie davongeschritten …

Die Wächter sorgten dafür, daß ich ihr nicht folgte, und des Elefanten Sven gurgelnder Baß hat mir Drohungen zugebrüllt, die ich nicht hören wollte.

Das war vor zehn Tagen.

Jetzt nähern wir uns unserem Ziele. Die Seevögel sind häufiger geworden, die Flüsse der großen Insel senden Baumstämme, treibende Äste ins Meer, heute begegneten wir einigen dieser noch grünen Boten nahen Landes, und — — nichts ist auf diesem Floß anders geworden …

Nur das Raoul und Adrienne sich nicht einmal mehr die Hand morgens reichen. Sie begnügen mit einem Kopfnicken — — wie Fremde. Aber des Mädchens Wangen sind noch schmaler und farbloser geworden, und der Blick ihrer Augen verrät ebenfalls durchwachte Nächte voller harter, innerer Kämpfe. Sie reizt den bemitleidenswerten Kranken, der um ihre Liebe bettelt, nicht mehr durch das raffinierte Spiel der Linien ihres Körpers und durch scheinbare zufällige Berührungen, sie sitzt da wie eine versteinerte düstere Göttin, und wenn die Singhalesen vorn ihre Musikinstrumente hervorholen, flieht sie eilends in ihre Kabine im großen Deckhaus, als ob sie die eintönigen Klänge über alles fürchte und ihre Tränen ohne Zeugen weinen wolle.

— Sollte Chan Kai’s greise Weisheit letzten Endes doch triumphieren?!

 

11. Kapitel.

Ein Urteil gegen sechs …

Der dreizehnte Morgen … — Chan Kai hat, als wir noch des Bades harrten und Freund Wehzeh neue Radiokalauer als allererste Frühkost servierte, den jetzt zahlreichen Haien gründlich bewiesen, daß die „Madagaskar” auf dieses Gefolge von blitzschnellen langen Spindeln keinerlei Wert lege.

Ich war halb angekleidet an Deck gestürzt, als die ersten Schüsse knallten, ich glaubte bestimmt, der andere Sven und seine Singhalesen lieferten der Gegenpartei ein entscheidendes Gefecht.

Irrtum. — Am Heck standen vier Malaien, tadellose Schützen, und die dummen Bestien, durch die Fleischbrocken zweier der ihrigen, die man mit dem Angelhaken und einem Tau gefangen und hochgehißt hatte, immer wieder in die Nähe gelockt, mußten vor den Kupfermantelkugeln jämmerlich kapitulieren und zeigten die weißen Bäuche und trieben ab …

„Chan Kai, — so mordgierig?!”, wandte ich mich an den geduldig zuschauenden Alten, der sogar selbst zuweilen zur Büchse gegriffen hatte.

Chan war, wenn man die gewissen verbotenen Fragen nicht berührte, stets von ausgesuchter Höflichkeit.

„Mr. Abelsen, das Gewölk da vor uns gefällt mir nicht”, wisperte er in seiner milden Art. „Es kann Sturm geben, und ob das Floß etwa Windstärke 14 gewachsen ist, möchte ich bezweifeln. In jedem Falle tut es gut, die Haie abzuschießen … Man kann nie wissen, was geschieht. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie etwa nachmittags Ihrerseits nochmals die Bestien erledigen wollten, die inzwischen neu aufgetaucht sein könnten …”

Ich schaute mir das Gewölk an, dem Chan Kai den Größenwahn zutraut, einen Orkan entfesseln zu können. Das Gewölk ist so harmlos wie all die weißen Wölkchen, die da zerstreut im Äther segeln. Ich schaue mir danach Herrn Chan’s Gesicht genauer an … Will er mich zum besten halten?! Sturm?! Woher Sturm?! Und — — ich soll nachmittags Haischießer spielen, und jetzt ist es sechs Uhr früh?! Das müßte ja ein ulkiger Orkan sein, der sich so lange Zeit ließe, seinen Blasebalg auszudehnen und vollzupumpen und dann so ganz allmählich loszulegen!!

Chan’s unergründliche Miene verrät nichts.

Was hat der alte Bursche vor?!

Wenn ich danach frage, wird er unschuldige Augen machen und grinsen.

Aber — ich werde die Augen gut offen halten.

Hier stimmt irgend etwas nicht, hier braut sich etwas zusammen, kein Orkan, aber ein Gewitter — — unter uns! Hier an Bord!

Und dann schlägt es jäh wie ein Blitz in mein Hirn ein …

Der Gedanke läßt mich für Sekunden die Lider schließen, als stände ich dicht vor einem Höllenfeuer …

Wenn Chan Kai etwa …, — der Verdacht widerstrebt mir, alles in mir sträubt sich dagegen, denn meine Menschenkenntnis erlitte durch die Gewißheit den schlimmsten Stoß.

Ich muß mich rasch umdrehen … Mein Mienenspiel könnte mich verraten.

Erst am Frühstückstisch wagte ich es, diesen Verdacht von neuem zu prüfen … — Raoul und Freund Wehzeh, der wirklich ein famoser Kerl ist und sicherlich sehr an mir hängt, reden über Chan Kai’s Haifischmorden wie über einen üblen Witz. Unser Leutnant Baby ist in diesen knappen zwei Wochen durch eine harte Schule gegangen, er hat es gelernt, das Unabänderliche mit Mannestum zu tragen und der Zukunft nie vorauszugreifen. Er hat seine Liebe zu seiner Schwester eingeriegelt in einen Winkel seines Herzens, und er bringt es fertig, sogar den unglücklichen Kranken, der nie seinen Liegestuhl verläßt, ganz höflich zu grüßen. Vielleicht war ihm Amed Schami ein leuchtendes Vorbild, mit dem er ungezählte Stunden vor dem Schachbrett sitzt. Jetzt klingen seine und Wehzeh’s muntere Stimmen über den Frühstückstisch, während ich mir allmählich das eine klar mache, daß ein Schurkenstreich, wie ich ihn vermute, doch nicht mit dem Abschießen der Haie in Einklang zu bringen wäre.

Trotzdem bleibt in mir eine nervöse Unruhe zurück, die sich noch steigert, als ich gegen acht Uhr vormittags Zeuge werde, wie die Motoren auf Chan’s Geheiß stoppen und gründlich gesäubert, sogar zum Teil auseinander genommen werden. Wir treiben jetzt nur mit den riesigen braunen Segeln dahin, und wir haben auch den Kurs geändert, Chan Kai ist von auffallender Geschäftigkeit, und … Adrienne ließ sich bisher nicht blicken. Das gibt mir am meisten zu denken. Sollten denn all diese auffallenden Programmwidrigkeiten, die zu dem bisherigen, streng geregelten Verlauf von fast vierzehn nutzlosen Tagen so gar nicht passen, sich durch bloßen Zufall derart häufen?! Niemals!!

Auch Leutnant Baby beugt sich über den Tisch und flüstert mir zu, indem er sich bemüht, Gleichgültigkeit zu heucheln: „Abelsen, wo mag Adrienne stecken?!”

Chan, der heute seine gewandte Dienstbeflissenheit nur dem Piraten Sven gewidmet hat, kommt herbeigeschlurft und schaut flüchtig auf die Figuren des Schachbretts, die Amed soeben in der Stellung des gestern abgebrochenen Spiels aufgebaut hat, und die Raouls Partie bereits als hoffnungslos erscheinen lassen.

„Mr. Raoul”, sagt der Alte so obenhin, „ich würde den Turm opfern und diese Züge tun …”, — seine Fertigkeit als Schachspieler ist gewiß nicht geringer als seine Kunst, Menschen zu beherrschen. „Ihre Schwester läßt Sie übrigens grüßen und Ihnen ausrichten, sie litte nur an etwas Kopfweh, und Sie möchten sich ihrerhalb keine Sorge machen.”

Dann geht er, nachdem er nochmals wiederholt hat: „Also den Turm opfern, Mr. Raoul. Besser, etwas rechtzeitig wagen, als ein Spiel verlieren …”

Raoul schaut mich nachdenklich an. „Abelsen, seine Redereien über den Turm haben eine besondere Bedeutung. Zweifeln Sie?!”

„Nein.” Und ich eröffne pflichtgemäß den beiden Gefährten meine schweren Bedenken über die allernächste Zukunft, und meine Beweisführung ist so klar und überzeugend, daß selbst Schami aus seiner Starre erwacht und die Bemerkung einwirft: „Wir haben ja die Waffen … Wir haben jeder eine Pistole und genügend Patronen und die beiden Remingtonbüchsen.”

Das stimmt wohl. Ich fürchte nur, daß Schußwaffen hier wenig helfen werden. Chan Kai’s Weisheit wird alles so einrichten, daß keiner von uns den Finger um den Abzug krümmen kann, sobald das Gewitter losbricht. Es wird losbrechen, ich fühle es in allen Nerven, ich sehe ja auch die augenscheinlichen Anzeichen, sehe, wie die Malaien in ihren Lendengurten heute jeder zwei Pistolen tragen und wie die Ex-Piraten von der Teufelsinsel, diese blonden strammen Kerle mit den Riesenfäusten, uns schärfer denn je belauern und nicht einmal mehr den Versuch machen, ihre Wächterrolle durch geheuchelte Gleichgültigkeit irgendwie zu verhüllen. Ich sehe den Koloß Sven Ordrupp, den roten Sven, immer nervöser an seiner Seidendecke herumfingern und wie absichtslos immer wieder unter die Decke greifen, wo ihm im Schoße die beiden neunschüssigen Spucker ruhen.

Was geht hier vor?!

Ich zermartere mir mein Hirn … Ich bin wie mit Blindheit geschlagen, ich will trotzdem Gewißheit haben, ich grübele und überlege und Raouls und Schamis Versunkenheit in ihre Schachpartie ist genau so Lug und Trug wie meine äußere Gelassenheit, sie fiebern wie ich, und — wirklich, verliert Amed nun die Partie, schiebt das Schachbrett bei Seite und erhebt sich.

Es ist das Signal zu unserem Morgenspaziergang — fünfzigmal rund um das Deck herum, wie immer, — — nein, nicht wie immer. Wir bleiben am Heck stehen, starren hinab in die träge gurgelnde Flut, in das unmerkliche Kielwasser des Flosses, das heute so langsam dahinschleicht unter dem Druck der Segel. Der Malaie an der dicken, langen, plumpen Ruderpinne ist ein ganz junger Kerl, der von der Schläfe bis zum Kinn eine fingerbreite Narbe hat. Sein Gesicht erscheint wie in zwei ungleiche Teile gespalten, und er vermag nur zu sprechen, wenn er den Mund ganz schief zieht. Dann glaubt man, er grinse diabolisch, und seine Visage weckt Mordgedanken. Trotzdem glüht in seinen dunklen Augen eine träumerische Sehnsucht, und er ist mir von der ganzen Malaienbande mit der angenehmste. Seine braune schlanke Hand — Malaien haben oft reine Kinderhände — deutet in die grüne Tiefe. „Doch noch ein Hai, Mister Abelsen, aber ein ganz schlauer alter Bursche”, sagt er in seinem holperigen Pidgin-Mischmasch.

Der einsame Hai, der dort wie ein Schatten hin und her gleitet und nie die schützenden zwei Meter Wasser über sich irgendwie verringert und auftaucht, lenkt meine Gedanken wieder zurück zu Chan Kai’s Bitte, nachmittags die vielleicht neu erschienene treue Gefolgschaft der Meereshyänen abzuknallen. — Weshalb diese Bitte?! Weshalb?!

Wir drei spüren wohl denselben dunklen Zusammenhängen nach, der Hai gab den Anstoß dazu, und wie auf Befehl wandern unsere Blicke dorthin, wo Chan’s Orkanwolke im Westen aufziehen sollte. Nur weiße Wolkenflocken hängen wie zerfaserte Wattebäusche über dem Horizont, und der Wind bläst gleichmäßig wie bisher, es ist der friedliche Monsum, die Freude aller Segler …

Orkan?!

Dann wollen wir den Rundgang wieder aufnehmen, kommen an der Backbordseite des Heckhauses mit seinen blanken Fenstern vorüber, und hinter den Vorhängen des einen nach innen geöffneten Flügels schießt ein halbnackter Frauenarm hervor, — ich will den schmalen Zettel ergreifen, will …

Arm, Hand, Zettel verschwinden ebenso plötzlich, und aus der uns unsichtbaren Kabine tönt die mürbe, milde, alte Stimme Chan Kai’s etwas vorwurfsvoll hervor.

Raoul steht still, seine Züge entfärben sich.

„Adrienne!”, schreit er schrill und Antwort heischend. „Adrienne, du bist nicht krank, was ist…”

Er hat zugepackt, der Vorhang zerreißt schnarrend, und wir drei blicken zum ersten Male hinein in Adriennes Luxuskabine. Die Bezeichnung trifft schon zu. Was der Prunk der alten und neuen Welt und der verfeinerte Geschmack eines Kulturmenschen irgend nur herrichten könnte, das Märchenbild eines behaglichen, gedämpft-üppigen Gemaches hervorzuzaubern, ist hier Wirklichkeit geworden. Aber — das Gemach ist leer, und nur das Geräusch einer zufallenden Tür besagt uns, daß Chan Kai das Mädchen der brüderlichen Sorge und uns entzogen hat.

Der rauhe drohende Anruf eines der Wächter scheucht uns weiter, Leutnant Baby findet sich auch hiermit ab, er ist nicht mehr der anmaßende Jüngling von einst, er hat sein großes Daseinserlebnis hier gefunden und daraus gelernt.

Wir kreisen um das Deck wie Gefangene im Zuchthaushof, wir sind frei und sind nicht frei, wir bilden einen kleinen Fremdkörper in diesem Schicksals- und Bambusgefüge, und des roten Sven Stecknadelaugen stechen nach uns in seltsamer Unrast und Ratlosigkeit, wenn wir an ihm vorüber schreiten.

Dann ruft er uns leise an, nachdem er den armen Eimerschädel spähend hierhin und dorthin gedreht hat. Wir haben selten ein paar Worte mit ihm gewechselt, die ja stets von seiner Seite mit Gehässigkeit durchtränkt waren. Heute ist auch das so ganz anders.

„Abelsen, — — was geht hier vor?!” Über die ungeheuren Wulstlippen stolpern die Worte in wilder Hast — aus Angst vor Chan Kai. Und als ich nur die Schultern hebe und meine Ahnungslosigkeit andeute, läuft dieses gräßliche, verquollene, mitleiderregende Gesicht blau an, und in unbändiger Wut kollert er hervor:

„Töten Sie ihn!! Der Teufel hole den ganzen Diamantenfluß! Diese dreckige Mißgeburt von opiumverseuchtem Chinesen hat uns alle nur deshalb am Gängelband, weil er allein den Fluß kennt, weil er uns alle verrückt gemacht hat mit seinen Lügen von gleißenden Steinen, die dort haufenweise lagern sollen …”

Wir stehen drei Schritt von Svens Liegestuhl. Acht Schritt von der Vordertür … Sie tut sich auf, ganz still, sie war nur angelehnt, und auf der Schwelle erscheint Chan, die Hände in den Ärmeln, aber die Ärmel haben jeder eine merkwürdig spitze Falte, und ich wette meinen Kopf, daß zwei Pistolenmündungen uns beschatten.

Schatten eines jähen Todes.

Chan Kai sagt scharf und laut: „Man hat das Leben der Menschen in den Geschichten alter Völker stets mit einem Flusse verglichen … Selbst wenn der Guburru nur wertlose blanke Kiesel enthielte, wäre mein Geheimnis für das Leben vieler ein hoffnungsvoller glitzernder Zukunftstraum. Mein Tod würde alles vernichten, Sven Ordrupp, und der Funke des Glückes würde in einem häßlichen Sumpf ersticken. Meine erhabenen Ahnen haben mir durch ihre Güte einen Teil ihrer Weisheit verliehen, und meine Absichten sind rein und klar wie eine Bergquelle, wie das Herz eines unverdorbenen Kindes. Wer daran zweifelt, ist nicht wert, daß ihn jemals noch die Sonne der inneren Glückseligkeit beschiene.”

Amed Schami fand sich zuerst mit diesen jähen Aufklärungen über Chan Kai’s unbegreiflichen Einfluß ab.

„Ich kenne Sie länger, als Sie es ahnen, Chan”, meinte er in seiner unvergleichlichen Gelassenheit. „Ich hätte hierzu noch sehr viel zu sagen, aber ich habe bisher geschwiegen und schweige weiter … Nur eins: Gestalten Sie den Heilungsprozeß nicht allzu … abenteuerlich. Sie verstehen mich wohl … — Es ist gut, gehen wir weiter …”

Zum ersten Male bemerkte ich, daß sich sogar in des greisen Chinesen verschrumpeltem Gesicht so etwas wie Überraschung und Unruhe zeigte.

Nachher saß Chan ganz allein auf der Reling gegenüber unserer Kabine und rauchte drei Opiumpfeifen mit den abgehackten Bewegungen eines Automaten oder eines in ferne Welten versunkenen Menschen. —

Leutnant Baby fieberte vor Neugier. Der Guburru hatte für ihn urplötzlich ein Sphinxgesicht bekommen. Aber aus Schami eine Äußerung über Dinge herauszulocken, die er vorläufig für sich behalten wollte, bedeutete genau dasselbe als einen Stein zum Reden zu zwingen. Was nur wieder dazu beitrug, daß die uns umlagernde Gewitterschwüle sich noch verstärkte und daß wir uns nicht weiter wunderten über Freund Wehzeh’s etwas blasses Gesicht und zuweilen stark flatternde Hände, als er uns das Mittagessen auftrug.

Natürlich vergaß er trotzdem die neuesten Kalauer nicht, die er, davon war ich nun doch überzeugt, mit der Antenne der „Madagaskar” einfing, die jedoch heute ohne jeden Schwung vorgetragen wurden. Erst als er uns den Nachtisch, einen Käse von bestialischem Duft und würzigstem Geschmack, servierte und nach ängstlicher Umschau nichts Gefahrdrohendes feststellen konnte, zischelte er hastig, ohne die Lippen zu bewegen:

„Es wird sofort ein Dampfer auftauchen … Dann gnade uns Gott! Ich vertrete ja den toten Jörnsen …”

Worauf er sofort einen englischen Witz anschloß, der sich mit der seidenen Unterwäsche des Modeprinzen von Wales, des eifrigen Imitators seines Großvaters King Edward, befaßte, und den ich inzwischen zum Glück vergessen habe, denn er war ohne Esprit und ohne Schlagkraft.

Ein Dampfer?! Wir rieten nachher auf alles mögliche …

Wir hatten statt Blut Südwein in den Adern, und Raoul schwor verschiedentlich, er würde bis zum letzten Atemzuge kämpfen, was Amed Schami sanft belächelte. „Baby, Sie werden überhaupt nicht kämpfen … Die Gefechte dürften wie bisher lediglich seelischer Art sein. Chan Kai dürfte …”

Dürfte, — — was?! — Die Antwort gaben uns die vier Ex-Teufelsinsulaner, die breitbeinig und stramm auf unseren Kaffeetisch ausschwärmten und mit knappen Worten um Auslieferung unserer Waffen ersuchten.

Chan’s Programm klappte stets.

Als die vier sich zurückzogen und wir nur mehr unsere Messer zur Verfügung hatten, sahen wir weit voraus die schwarze Rauchfahne eines Dampfers. Ich kletterte schnell eine der Leitern hinan. Meine Augen erspähten die scharfen niederen Linien und die dicken Schlote eines Hochseetorpedobootes, das am Heck eine rote Flagge zeigte, — die des ehemaligen Freibeuters Sven Ordrupp.

Alle bisherigen Mutmaßungen, Folgerungen und Kombinationen fielen wie ein Aschenberg verbrannten lockeren Papiers in sich zusammen.

Ich sah ein, daß ich mich in all den dunklen Geschehnissen von einst und jetzt nicht zurechtfand, und als Chan Kai lautlos neben mir erschien und mich höflich bat, an Deck zu bleiben, was auch für Schami und Raoul gelte, gehorchte ich genau so widerspruchslos wie vorhin bei der Ablieferung der Waffen. Ich kletterte die Leiter hinab, sagte meinen Schicksalsgenossen Bescheid, und mit seltsam versteinerten Gesichtern, hinter denen ein feuriger Krater böser Ahnungen Hitze und Unruhe spie, hockten wir vor unseren Kaffeetassen und rührten darin fahrig mit den silbernen Löffeln,— ich glaube, Baby hat damals aus Nervosität die ganze Zuckerdose geleert und schließlich die Zuckerzange als Zigarette in den Mund geschoben.

Da die übermannshohe Reling, die man besser Bollwerk mit Schlafräumen nennt, uns jede Fernsicht versperrte, konnten wir uns nur auf unsere Ohren verlassen. Wir hörten, daß ein Motorboot das Floß verließ, wir hörten von der Stelle der nahen dicken Rauchfahne her ein paar dumpfe Detonationen, und dann wurde — Chan hatte von der Reling gewinkt — Svens Liegestuhl nach oben getragen, mit einem Male war auch der andere, der erfrorene Sven gefesselt zur Stelle, auch wir mußten dorthin, wo die beiden Svens, Chan Kai, die Besatzung und wir drei — alles erstarrte, förmlich verglaste Augenpaare, das einstige Piratenschiff mit wehender Flagge sinken sahen, während auf der hohen Kommandobrücke sechs Männer festgebunden waren, gutgekleidete Europäer, deren wahnwitziges Angstgebrüll nur gedämpft zu uns herüberschallte, — — das Schiff sank sehr schnell, in zehn Sekunden war alles vorüber, aber entsetzlicher als der jäh im Wogengischt erlöschende Angstgeheul der Männer drüben war des roten Sven grausames, wildes Lachen, als sich der Ozean über Schiff und Menschen geschlossen hatte und auch die Springfontänen der explodierenden Kessel in sich zusammengesackt waren.

Auf des roten Ordrupp tolles Gelächter folgte Totenstille.

Ich sah den erstorbenen Sven an. Sein Gesicht hatte keine Spur von Farbe, und seine Augen ruhten mit einem Ausdruck grenzenlosen Abscheus und doch in seltsamer Befangenheit und Verwirrung auf Chan Kai’s dürftiger Gestalt.

Dann wurde er von drei Malaien abgeführt, und eine halbe Stunde darauf zeigte die „Madagaskar” wieder ihr gewohntes Bild, die Motoren liefen, sogar Adrienne saß wieder neben Käpten Elefant und stierte bleich ins Leere, und uns hatte man die Waffen zurückgegeben.

Nur …

Nur die Besatzung des Flosses war um zahlreiche braune Gesichter und um zwei sehr elegante Chinesen in tadellosen Schiffsuniformen vermehrt worden.

 

12. Kapitel.

Zwei in einem Boot.

Unsere Hoffnung, daß nunmehr die Gewitterstimmung endgültig sich verflüchtet hätte, war verfrüht gewesen. Verschiedene geringfügige Anzeichen sprachen unbedingt dafür, daß mit der Versenkung des einstigen Piratenfahrzeugs und mit der brutalen Exekution an den sechs unbekannten Männern des allmächtigen Chan Kai’s undurchsichtige Pläne noch längst nicht vollendet seien.

Während wir drei noch in sehr zwiespältiger Stimmung, die etwa der beklemmenden inneren Unrast nach den ersten Blitzschlägen eines schweren tropischen Gewitters entsprechen mochte, flüsternd die Zusammenhänge zwischen dem jähen Wiederauftauchen des angeblich längst ausgetilgten Freibeuterschiffes und den Hauptpersonen hier auf der „Madagaskar” herzustellen suchten, merkte ich, daß die Motoren nur mit halber Kraft liefen und daß besonders am Heck eine Geschäftigkeit herrschte, deren Ursache uns verborgen blieb, da man wohl absichtlich das Segel des zweiten Mastes über das Bambushaus hatte fallen lassen, wodurch uns der Ausblick dorthin versperrt wurde. Vielsagend genug war es auch, daß unsere Wächter sich in nächster Nähe aufgepflanzt hatten und daß sogar Adrienne, als sie Miene machte, nach dem Grunde des eilfertigen Hin und Her’s am Steuer sich umzutun, von einem der chinesischen Gentlemen sehr höflich, aber auch sehr bestimmt zurückgehalten wurde. Ihr empörter Protest gegenüber Käpten Sven, der mit eigentümlich verbissener Miene bisher teilnahmslos in seinem Liegestuhl gelehnt hatte, begegnete nur einer beschwichtigenden, unklaren Bewegung der ungeheuren, flossenähnlichen Hand.

Raoul, der noch völlig unter dem Eindruck des grausigen Todes der sechs Fremden stand, war Adrienne gegenüber zu ehrlich, um irgendwie sehr zartfühlend oder rücksichtsvoll sich zu zeigen.

„Was sollte der Zettel?”, fragte er fast zu unfreundlich. „Was stand auf dem Wisch, den du Abelsen zustecken wolltest?”

Sie fühlte die völlige Entfremdung, die zwischen ihnen eingetreten war, und unter flüchtigem Erröten erwiderte sie genau so schroff:„Was ich da in einer Augenblicksstimmung geschrieben hatte, hat jetzt größten Teils keine Bedeutung mehr. Du wirst meine Handlungsweise nie begreifen, Raoul, du warst ja auch nicht mit dabei, als unser Vater getötet wurde …”

„Von Svens Hand?”, forschte Raoul begierig.

„Das nicht …” Sie wurde merklich unsicher. „Es war ein Kampf von Schiff gegen Schiff, das weißt du … Aber das ist alles nebensächlich. Ich wollte Ihnen, Mr. Abelsen” — und jetzt traf mich ihr seltsam verschüchterter Blick, der zu ihren Worten in so scharfem Widerspruch stand — „nur folgendes mitteilen. Sven Ordrupp, der kranke Ordrupp, ist ein Vetter des anderen Ordrupp. Beide sind zusammen wie Brüder aufgewachsen, und der jüngere Ordrupp, der nun dort unten in Ihrem ersten Versteck, dem mit der Außenbordtür, gefangen gehalten wird, wollte aus alter Zuneigung zu seinem Vetter dessen unseligem Treiben ein Ende machen und …”

Amed hatte sehr laut gehüstelt, hatte den Kopf gedreht, und, wie nicht anders zu erwarten: Aus unserer Kabinentür trat der alte Chan ins Freie, blickte Adrienne eigentümlich bittend an und sagte überaus höflich: „Die Aufklärungen, Miß de Couvrette, die hier nötig erscheinen, werden zu passender Gelegenheit gegeben werden, nicht jetzt … Ich hoffe, Sie werden mich nicht zwingen, hier irgendwie gegen Sie …”

Adrienne erhob sich kalt. „Ich gehe schon, Chan Kai … Die endgültige Abrechnung folgt … Wir sind nicht unverwundbar wie Ihr gefügiges Werkzeug, wie der Mann im Liegestuhl da …”

Sie trat sehr rasch neben mich, beugte sich tief herab und flüsterte mir überstürzt ins Ohr: „Befreien Sie Sven … Die Geheimtür in Ihrer Kabine finden Sie hinter einem der festgeschraubten Betten …”

Dann richtete sie sich wieder auf, warf Chan einen spöttischen Blick zu und meinte herausfordernd: „So, nun weiß Abelsen auch das letzte, nämlich daß Sie auf der Guburru-Plantage ein elender Händler waren und daß die beiden herausgeputzten gelben Gecken dort Ihre Söhne sind, — eine sehr feine Familie, glaube ich!”

Sie wandte sich um und schritt gemessen und doch graziös davon, während der Herr und Gebieter der „Madagaskar” mit einer tiefen Verbeugung ihr leise nachrief:

„Meine erhabenen Ahnen haben auch meinen Söhnen die Gabe der Weisheit verliehen, Miß de Couvrette. Auch dies werden Sie später einsehen lernen.”

Von uns nahm er weiter keine Notiz, sondern stieg behende die nächste Leiter zur Reling empor und verlor sich mit seiner dürftigen Gestalt hinter dem vom Winde immer wieder aufgeblähten Falten des großen braunen Segels, das quer über dem Dach des Deckhauses ruhte.

Amed Schami streichelte sinnend sein frisch rasiertes Kinn, und in seinen ernsten Augen las ich etwas wie stille Zufriedenheit mit dieser neuen Wendung der Dinge.

„Was raunte Adrienne Ihnen zu?”, hauchte Raoul mit aller Vorsicht über den Tisch.

„Die Lage der Geheimtür in unserer Kabine”, erwiderte ich noch leiser.

Schami lächelte etwas sonderbar. „Ja, und auch diese Mitteilung hätte Chan verhindern können, mein lieber Raoul … Vergessen Sie das nicht. Chan duldete, daß Ihre Schwester einiges preisgab und erschien erst lautlos wie immer, als Adriennes Eröffnungen an dem kritischen Punkt angelangt waren. Ich ziehe daraus bestimmte Schlüsse…” — er schaute mich lange an —,„Schlüsse, die meine Vermutungen wohl bestätigen werden.”

Eine weitere Aussprache zwischen uns verbot sich von selbst, da unser Wächter plötzlich sehr bedenklich aufrückte und uns auch bis zum späten Abend nicht mehr vom Leibe ging.

Elf Uhr … In unserer Kabine brannte wie stets, da strenger Befehl, eine kleine Petroleumlaterne, um deren Lichtschein sich all das müde, surrende Getier angesammelt hatte, das bisher in unser langgestrecktes Heim eingedrungen war. Der schwache Schimmer der verräucherten Laterne wurde dadurch noch mehr gedämpft, und ich, dessen Bett an der Schmalseite stand, hatte bereits festgestellt, daß die Tür, nach der ich bereits so und so oft gesucht hatte, derart raffiniert in meiner unmittelbarsten Nähe sich befand, wie ich dies niemals geahnt hätte.

Elf Uhr …

Ich erhob mich, klappte das Bett zurück, kroch durch die Öffnung, ließ die Tür wieder zurückfallen und tastete mich im Dunkeln den wohlbekannten Gang hinab, stieg Leitern hinunter, deren Knarren von dem Stöhnen der Floßhölzer übertönt wurde, gelangte vor die bewußte dicke Tür mit der Stahlplatteneinlage und befühlte das versteckte Schloß. Der kleine Höcker des einen Bambusstückes verhüllte einen winzigen Knopf, ich drückte, vernahm das metallische Klicken der zurückgleitenden Schließstangen und zog die Tür etwas auf.

Die „Madagaskar” war kein Schiff, in dessen Innenräume man sich von der Außenwelt abgeschlossen fühlte. Durch die Zwischenräume der Bambusstämme stieß jaulend und pfeifend der Wind, und das ganze gewaltige Gefüge von hohlen Riesenstengeln schien in sich dauernd in unmerklicher Bewegung. Schlingerte das Floß einmal besonders stark, so wuchsen die kreischenden Geräusche der sich aneinanderreihenden Hölzer zu einem die Ohren peinigenden Lärm an, und so war es denn auch weiter kein Wunder, daß die in unserer Außenbordkabine leidenschaftlich und im Gefühl des Alleinseins überlaut sprechenden Menschen das geringe Knarren der Tür überhörten. Ich stand im Schatten, das Licht der pendelnden Laterne fiel auf Adriennes bleiche Züge und auf des jüngeren, gefesselten Sven eisiges Gesicht. Im Hintergrunde sah ich noch eine Gestalt, und als ich in ihr den angeblich getöteten Funker Jörnsen erkannte, stieg zum ersten Male in mir die ungewisse Frage auf, inwieweit Chan Kai’s betagte Weisheit nicht auch in anderen Dingen uns schlau getäuscht hatte.

Adrienne, halb gebückt am Tisch lehnend und auf Sven mit vibrierender Stimme einredend, war nicht mehr das Mädchen jener Nacht, das so kaltherzig versucht hatte, des roten Sven unfehlbares Messer gegen den dünnen Seidenvorhang als blitzende Linie geschleudert zu sehen.

„… Ordrupp, ich konnte ja die Wahrheit nicht ahnen …! Sie selbst kennen sie noch nicht, und auch mir blieb vieles verborgen … Ich kam Sie nur zu bitten, verzeihen Sie mir … Ich war krank, unzurechnungsfähig, ich habe ein freventliches Spiel gewagt… — — So sprechen Sie doch!! Kann ich denn mehr als mich so demütigen, daß ich Sie anflehe, all das Häßliche zu vergessen …?! Was verlangen Sie noch?! Sie sollen frei sein, Sie …”

„Nichts verlange ich!”, — und der jüngere Sven hatte ein so unerbittliches, kaltes Lächeln um die harten Lippen, daß Adrienne den Oberkörper jäh zurückbog. „Aus Ihrer Hand nehme ich die Freiheit niemals entgegen …! Ich habe Sie stets als meinen Gast behandelt, — daß ich es Ihnen sogar anheim stellte, diese Fahrt mit der „Madagaskar” nicht mitzumachen und heimzukehren, scheinen Sie völlig vergessen zu haben. Sie blieben, und Sie trugen im Herzen nur Mordgedanken — nur …! Ich … verachte Sie, kein Weib handelt so, es sei denn, sie besäße einen eisigen Stein in der Brust. Gehen Sie, Adrienne, — Sie sind mir kein Rätsel mehr, hier gibt es nur ein lebendes Rätsel, Chan Kai. Gehen Sie, — ich habe die Stunden und Tage am Ufer meiner Lagune ausgetilgt aus meinem Gedächtnis, denn Ihr Fuß wandelte über den reinen Sand, und Ihr Fuß war unrein, — — gehen Sie …!”

Der erstorbene Sven senkte trotzdem den Kopf unter des blassen Mädchens fast stierem Blick.

Adrienne schwieg eine Weile, dann drängte sie sich an Sven vorüber, öffnete die Außenbordtür, stand eine Weile in der schmalen Luke, wandte plötzlich den Kopf zurück und rief seltsam farblos:

„Leben Sie wohl — — für immer, Sven! Mein Dasein habe ich selbst zerbrochen, — — ich werfe es von mir, ich habe den Ozean lieben gelernt, der Ozean wird mir, die durch das Auftauchen Ihres Bruders zu spät zur Besinnung kam, eine barmherzigere Zukunft schenken, — — leben Sie wohl …!”

Eine rauschende, schaumgekrönte Welle schoß gerade an der Backbordwand entlang.

Adrienne tat den Sprung in die Tiefe, — die Tür wollte hinter ihr infolge des Schlingerns des Flosses zuschlagen, — ich riß die Tür wieder auf, dort im Wellental versank ein weißer Fleck, ich stieß mich kräftig ab, und bevor noch das Mädchen allzutief hinabgeglitten war in die glitzernde nächtliche Unendlichkeit des Weltenmeeres, hatte ich ihren Arm gepackt, arbeitete mich nach oben, obwohl meine Bürde sich verzweifelt sträubte, und tauchte mit ihr weit hinter dem Floß wieder auf, spie das salzige Naß aus der Kehle und wollte rufen, brüllen …

Adrienne war wie eine Tolle über mir, umschlang mich, — wieder glitten wir hinab — — tiefer … immer tiefer, bis der Druck des Wassers mir den Schädel zu sprengen drohte, — — und da umkrallte ich ihre Kehle, riß sie von mir los, arbeitete mich nochmals mit schwindenden Kräften an die Oberfläche, atmete … atmete und fühlte einen Stoß im Rücken, schaute wie durch Schleier ein dunkles Etwas, griff danach mit der freien Hand, spürte, das es der Rand eines Bootes war, und mit einem Schlage war ich wieder Herr meiner selbst, schleuderte die bewußtlose Adrienne in das Boot, zog mich empor und fiel quer über sie mit jäh versagenden Sinnen.

Ein Hustenanfall, der mir das Seewasser aus Lunge und Magen trieb, rüttelte mich wach, und mein erster Gedanke war: Adrienne!

Bleich, still, verkrümmt lag sie am Boden des mittelgroßen Bootes zwischen den Ruderbänken, die Augen weit aufgerissen, die Pupillen nach oben gedreht, und die wahnwitzige Angst, hier umsonst um ein fremdes Leben gekämpft zu haben, kehrte mir nochmals den Magen um, ich erbrach mich von neuem, ich fühlte den rasenden Schwindel einer nahenden Ohnmacht, und ich wandte das einzige Mittel an, ihrer Herr zu werden: Ich hieb mit voller Kraft auf die Ruderbank, damit der Schmerz die Nervenzentren des Hirns wieder belebe. Blut sprang mir unter den Fingernägeln hervor, mein Arm fiel wie gelähmt zurück, aber die stechende Flamme des Schmerzes, die in mein Hirn schoß, verbrannte die letzten trüben Schleier des Schwindelgefühls, und mich hochbäumend riß ich Adrienne mit empor, hielt ihren Kopf ganz tief, drückte ihren Leib, und zwischen den weißen Zähnen sprudelten die Wasser hervor, die der Lunge das Atmen gelähmt hatten.

Eine halbe Stunde später lehnte Adrienne an der Ruderbank und sagte mit einem todestraurigen Lächeln, während ihre müden Augen zur Mondsichel emporschauten: „Sie haben mich gerettet, Abelsen … Aber danken kann ich Ihnen dafür nicht … Schon deshalb nicht, weil ich Sie selbst mit ins Unheil hineingerissen habe … Wir sind noch achthundert Meilen von Madagaskar entfernt, und was uns in dieser Nußschale droht, wissen Sie selbst am besten …: Ein qualvolles Ende, ein tagelanges Hoffen, ein langsames Verdursten unter der unbarmherzigen Sonne … Und — daran bin ich schuld, ich allein … Abelsen, dieses Opfer war ich ja gar nicht wert … Und das ist es, was mir sogar den Mut nimmt, Ihnen zu danken …”

Ich saß vor ihr auf der anderen Ruderbank.

Das Boot war neu, aber — — es war leer. Außer uns beiden hatte es keinen Inhalt, keine Ruder, keinen Bootshaken, keine Luftkästen, keine Proviantschränkchen im Bug und Heck— — nichts.

Meine Blicke hatten schon vorhin die „Madagaskar” gesucht. Die milchige Dämmerung der Tropennacht zeigte mir keinen Lichtschein, keine Laterne — — nur Sterne, und ringsum das Meer, das unbarmherzige ruhelose Meer, auf dessen Wogen wir ziellos dahintrieben.

War das ein Grund zum Verzagen?! Schon andere Nöte hatte mir das Abseits aufgehalst wie Mühlsteine, und ich hatte auch die von mir geschüttelt.

„Adrienne, so schnell ergebe ich mich nicht”, meinte ich aufmunternd. „Man wird uns vermissen, Chan wird nach uns suchen lassen, und …”

„Chan!!” Der jähe Haß verzerrte ihr Gesicht. „Chan — — uns suchen!! Abelsen, Sie sind ein großer Optimist …! Chan Kai hat durch seine Söhne das funkelnde Bett des Quellbaches des Guburru bereits plündern lassen. Chan hat mir heute abend selbst die Ausbeute des Diamantenflusses gezeigt, nicht ein Edelstein wäre dort mehr zu finden, in drei Ledersäcken kamen die Diamanten an Bord des Flosses und Chan ist ihr Besitzer, Chan hat alle bestohlen, alle … auch Sie und Ihren Freund Schami! Dieser widerwärtige alte Chinese, der es so trefflich verstand, allen Sand in die Augen zu streuen und hinterrücks seine gemeinen Streiche …”

„Still!!” Und so heftig, so ungewollt schrill und erregt kam das schweigengebietende Wort über meine Lippen, daß Adrienne zusammenfuhr und empört ausstieß: „Also auch Sie ließen sich täuschen!! Auch Sie wollen Chan verteidigen?”

Ich hatte an anderes zu denken. Mir konnte es nicht entgehen, daß unser Boot immer mit der Spitze nach Westen zu über die Wogen taumelte, und daß es sich niemals um sich selbst drehte, wie dies bei einem steuerlosen und antrieblosen Fahrzeug unbedingt hätte geschehen müssen.

Ich kletterte eilends nach vorn, und als ich mich hier weit hinausbeugte, so daß die Wellenkämme mein heißes Gesicht freundlich-abkühlend besprengten, erblickte ich unter mir vorn am Steven eine kleine brennende Laterne mit roter Scheibe, eine jener wasserdichten Schiffslaternen, denen die rollenden Wogenkämme mit ihrer Salzflut nichts anhaben können. — Nicht nur die Laterne trug dazu bei, meine immer mehr sich befestigende Überzeugung, daß die letzten Ereignisse auch nur ein Teil eines sorgsam ausgearbeiteten Programms gewesen, fast zur Gewißheit umzuformen, denn meine in das Wasser hinabtauchende Hand fand nun auch eine dünne Stahltrosse unter Wasser am Steven in einer Eisenöse verknotet, und diese Trosse war ziemlich straff gespannt und konnte nur horizontal durch die Flut in die Ferne gen Westen laufen und hing nicht etwa senkrecht nach unten in die Tiefe.

Ich war zunächst doch so benommen von diesen Entdeckungen, daß ich mich sehr langsam wieder aufrichtete und dann, getrieben von einem neuen Gedanken, zum Heck eilte und hier genau so in das Wasser griff und … ein paar Blattriemen neben Dollen, die sauber an einer geteerten Leine befestigt waren, herausfischte.

Hinter mir ertönte ein leiser Schrei.

„Abelsen, — — Ruder?! Das ist merkwürdig!”

Ich drehte mich um und stieg mit den Riemen und den Dollen über die Sitzbänke und fiel etwas schwer auf das harte, lackierte Holz.

„Adrienne, nichts ist hier merkwürdig — oder alles, wie man es nimmt”, sagte ich innerlich frohlockend und strich mir das nasse Haar aus der Stirn.

Es lag keineswegs in meiner Absicht, hier nun des alten, weisen Mannes seltsame Methoden (Freund Schami hatte sie „abenteuerlich” genannt) vorzeitig preiszugeben und dadurch seine klug überlegten Heilmittel in ihrer Wirkung irgendwie abzuschwächen. Ich dachte an die geheimnisvollen Arbeiten am Heck des Flosses, ich dachte weiter an Chan Kai’s häufiges Auftauchen in unserer Kabinentür, an sein anscheinend verspätetes Eingreifen und an seine Nachsicht gegenüber Adriennes eigenmächtiger leiser Mitteilung an mich über die Lage der Geheimtür.

Ich mußte verstohlen lächeln über des alten Opiumrauchers geriebene Taktik, die mich rechtzeitig hinab in des jüngeren Sven „Kerker” geführt hatte. Ich hatte ja die Stunde um elf Uhr zu diesem Besuch bei Sven benutzen müssen, denn genau um halb zwölf pflegte einer unserer Wächter regelmäßig bei uns zu erscheinen und festzustellen, ob wir auch brav in den Betten lägen.

Und natürlich hatte Chan auch mit Adrienne dasselbe durchsichtige schlaue Spiel versucht, und — es war ihm gelungen!

Eine einzige Frage an das Mädchen würde mir nun Gewißheit geben.

„Adrienne”, sagte ich leichthin, „das Thema Chan Kai wollen wir vorläufig ausschalten, wir würden uns doch nicht einig werden …”

Sie schaute zu mir auf, und in ihren blassen Zügen gewahrte ich einen Ausdruck der Verwirrung, der mich noch vorsichtiger machte. Zweifellos waren nun auch ihr sehr ernste Bedenken aufgestiegen, ob Chan wirklich den Haß verdiente, mit dem sie ihn bisher verfolgt hatte.

„Abelsen, — wir treiben nicht, wir fahren!”, rief sie, mich jäh überrumpelnd. „Ich kenne das Meer, und ich bin so oft allein an den Küsten der Teufelsinsel entlanggesegelt, daß mich niemand für blind halten sollte. — Was bedeutet das, Abelsen?”

„Ich weiß nicht, was das bedeutet, Adrienne” … Mein Achselzucken und meine gut gespielte Ratlosigkeit zerstreuten ihren Verdacht, daß ich sie etwa täuschen wollte. „Sie könnten mir jedoch vielleicht einen wertvollen Fingerzeig geben, wenn Sie mir eine Frage beantworten wollten”, fügte ich scheinbar sehr zerstreut hinzu. „Wie kam es, daß Sie erst heute sich zu Sven hinabbegaben? Die geheimen Gänge und Leitern, die vom Deckhaus in die Außenbordkabine unten führten, waren Ihnen doch längst bekannt gewesen, sogar Erwin Dunst wußte davon.”

Auf ihre Antwort war ich äußerst gespannt. Selbst wenn diese so ausfallen sollte, daß aus ihr Chan Kai’s planmäßige Beeinflussung der Entschlüsse Adriennes nicht nachweisbar gewesen wäre, würde auch dies mich nicht von der einmal gewonnenen Überzeugung abgebracht haben.

Das bleiche Mädchen erwiderte nach einigem zögernden Nachdenken:„»Abelsen, ich kannte den Weg zu Sven bisher nicht. Ich wußte nicht einmal, wo er gefangen gehalten wurde, denn Sie dürfen nicht vergessen, daß das Floß weit mehr geheime Räume besitzt, als irgend jemand vermuten könnte. Im Grunde ist die „Madagaskar” ein Kunstwerk, und Sven kann stolz darauf sein, dieses Werk geschaffen zu haben. Zwei große Motorkutter, zwei Rettungsboote liegen dicht über dem Wasserspiegel in praktischen, nach außen zu öffnenden Kammern und wenn irgend etwas für Svens Genie spricht, so ist es eben dieses wundervolle, gigantische Floß, das er auf Chan Kai’s Rat erbaute, da doch ein Schiff seinem Vetter, dem roten Sven, dem Piraten, niemals ein genügend sicheres Versteck geboten hätte.

… Nein, Abelsen, erst heute gegen zehn Uhr abends hat Chan Kai mir, als er mir die ungeheuere Menge Diamanten zeigte und dazu in seiner gewundenen Art gradezu orakelhafte Worte sprach, mir die Falltür wie zufällig gezeigt, die hier nach unten führt.”

Ich wußte genug.

Chan Kai war ein Meister des Intrigenspiels und ein feiner Seelenkenner und Seelenarzt. Raouls Erscheinen auf der „Madagaskar” hatte des Greises weitzielende Pläne wirksam unterstützt.

Oder — sollte ich noch weiter in meinen Vermutungen gehen und gar annehmen, daß das Riesenfloß den Kurs des Kreuzers „Garonne” hatte schneiden wollen und daß es von vornherein in Chan’s Absicht gelegen hätte, den jungen Leutnant auf die „Madagaskar” zu bringen?!

Auch das traute ich dem Alten zu.

Wer so umsichtig ist, die Haifische abschießen zu lassen, damit ich ungehindert durch die Bestien Adrienne retten könnte, — wer Adriennes Selbstmordversuch so genau voraussah, der konnte auch den jüngsten Leutnant von der „Garonne” verschwinden lassen und seiner Schwester in die Arme führen, damit deren seelischer Genesungsprozeß beschleunigt würde.

Ich saß ganz still da.

Adriennes schriller Ruf: „Da — das Floß — — es brennt!”, ließ mich blitzschnell emporfliegen …

 

13. Kapitel.

Die Brücke zur Liebe zurück.

Ein Wogenkamm hob unser Boot gerade auf seinen gleißenden, gurgelnden Aussichtsturm — wie das Boot einer Luftschaukel, das soeben seinen höchsten Punkt erreicht hat.

Das Floß brannte …

Wie ein mit Benzin oder Petroleum übergossener Holzstoß war es aufgeflammt in wenigen Sekunden.

„Es … brennt …”, stammelte Adrienne in hilflosem Entsetzen.

Und …: „Es ist angezündet worden”, sagte ich laut und kalt, und mein Herz gefror zu Eis.

Wir glitten mit dem Boot in das Wellental hinab, und das Floß und die rote Lohe wurden unseren Blicken entzogen.

Bevor die nächste Woge uns wieder hob, hatte ich schon die Dollen eingesetzt, die Ruder in der Hand und tat die ersten prüfenden Schläge.

Adrienne, die vor mir saß, das Gesicht dem Winde und dem Ziele zugekehrt, meldete mit angstvoller Hast jeden Wogenkamm und rief mir auch sonst noch zu, was sie beobachten konnte.

Allmählich kamen meine Muskeln in Schwung und spielten rein automatisch. Der Körper wurde zu einer einzigen taktmäßig arbeitenden Maschine, die an Kraft das Letzte hergab. Aber das Hirn war nicht an diesem wilden verbissenen Kampf gegen Meer und Wind beteiligt, meine Gedanken eilten weit voraus und suchten nach einer Erklärung für diese wahnwitzige Brandstiftung, die doch nur das Werk eines Unzurechnungsfähigen oder eines von niedersten Instinkten Besessenen sein konnte.

„… Schneller!!”, drängte Adrienne, und ihr Schrei war wie das seltsame Kreischen eines todwunden Fregattvogels, den die Schrotspritze eines albernen Weltreisenden zwecklos aus der sonnenwarmen Reinheit des Äthers herunterholt.

Ich drehte den Kopf … Wir schwebten oben auf einer Woge, und ich wunderte mich, daß der Wogenkamm uns nicht eine Strecke weit zurückriß.

Ein scharfer Blick ins Wasser, — das Boot jagte in das Wellental hinab, ich ließ die Ruder schleifen, denn ich hatte erkannt, was dem Mädchen entgangen war: Wir schlichen nicht wie eine müde Schildkröte dahin, wir wurden vorwärtsgezogen durch die straff gespannte Trosse, die jetzt zweifellos auf der „Madagaskar” über eine Trommel lief und aufgewickelt wurde.

Unser Boot schoß dahin, ich brauchte keinen Finger zu rühren, eine unsichtbare Gewalt lotste uns dem flammenden Gefüge aus Bambus entgegen, und vor unserem Bug rauschte das Wasser mit jenem feinen Brodeln und Zischen, das der untrüglichste Beweis schnellster Fahrt ist.

Ich hatte die Ruder eingezogen und mich neben Adrienne gesetzt. Ihr erstaunter, mißbilligender Augenaufschlag begegnete meinem ratlosen ehrlichen Achselzucken. — Ich wußte nicht, was das alles zu bedeuten hatte, ich war außer Stande, mich in diesen ungeheuerlichen, widerspruchsvollen Dingen zurechtzufinden.

Die Trosse, die uns vorwärtszog, mußte ursprünglich mindestens zweitausend Meter lang gewesen sein. Wahrscheinlich war es die Stahlleine eines Tiefseelotes, und Sven Ordrupp der Jüngere mochte sie zu anderem Zweck mitgeführt haben. Daß sie nun einst dazu dienen würde, ein Boot mit zwei Menschen in wilder Hast einem brennenden Haufen schwimmenden Bambusholzes näherzubringen, hatte der erfrorene Sven sicherlich nicht geahnt. Von dieser Trosse waren nur mehr fünfhundert Meter aufzurollen, und die drohende Gefahr, daß wir in die bereits bis hierher ausstrahlende Gluthitze des Riesenflosses geraten könnten, erforderte schleunigstes Eingreifen.

Als ich mich erhob und über die Ruderbänke stieg, nahte gerade eine neue Qualmwolke, sie war gesättigt mit den Brandgerüchen von Benzin und Petroleum.

Ich zog das Messer, lehnte mich über Bord, fand die Trosse und begann sie ohne Rücksicht auf die Klinge unter Wasser mit äußerster Kraft zu zerschneiden. Es war kein Schneiden, es war ein mühsames, langwieriges Sägen, und wenn nicht gerade eine Welle mich halb umspülte, fühlte ich die rasch sich steigernde Hitze, roch ich den Brandgeruch immer intensiver und sah voller Schrecken mit blinzelnden Augen, daß ich doch zu spät daran gedacht hatte, uns von dieser hartnäckigen, stahlharten Zugkraft zu befreien.

Ich arbeitete verzweifelt weiter, — ich schätzte scheuen Blickes die Entfernung, und der Herzschlag stockte mir …

Vielleicht zweihundert Meter noch …

Der Glutodem des Flosses war nicht mehr zu ertragen.

Was ich in die Lungen einsog, war Siedehitze und beizender weißlicher Qualm, — was da neben mir kauerte und verzweifelt, sinnlos, verstört schluchzte, war Adrienne, die neue Adrienne …

Die Todesangst zerfraß ihr Hirn, sie hatte das Gesicht in die nassen Falten meiner wehenden Jacke gedrückt, sie schrie zuweilen gellend auf, ihre Arme behinderten mich, und die Gefahr wuchs … wuchs, — — nur noch hundert Meter …

Und das Messer war stumpf wie ein nutzloses Stück verrosteten Stahles.

„Ins Wasser!”, brüllte ich Adrienne zu … „Springen Sie vom Heck ins Wasser …”

Und da, als die ausgedörrte, trockene, halb verbrannte Kehle mir den Dienst versagte, spürte ich einen Ruck, — meine linke Hand, die die Trosse umklammert hatte, wurde fortgerissen, öffnete sich, — — die Trosse war gesprungen, wir waren frei.

Nochmals tauchte ich den Kopf in die heranbrausende Woge, warf mir die Jacke über den Schädel, saß auf der Ruderbank und flüchtete seitwärts mit langen Schlägen, in die ich das letzte der mir verbliebenen Kräfte hineinlegte wie ein Rennpferd dicht vor dem Ziel.

Adrienne hing hinten am Heck, ich sah nur ihre Hände, die sich am Bootsrande festhielten, — — und Minuten folgten, in denen mein durchnäßtes Zeug trocken wie Zunder wurde und mein Hirn zusammenzuschrumpfen schien und meine Hände wund wurden wie rohes Fleisch.

Ein kühlerer Luftstoß …

Ich hatte gesiegt …

Und fiel vornüber, lag still, fühlte eine erquickende Dusche: Adrienne hatte ihren Rock herabgerissen und benutzte ihn zum Schöpfen, begoß mich immer wieder, kniete neben mir und rief irgend etwas … —

Meine Ohren waren wie erstorben.

Dann packte sie mich, setzte mich aufrecht, und ich sah ihr Gesicht dicht vor mir, und der Ausdruck ihrer rot beleuchteten Züge wirkte gleich einer belebenden jähen Injektion.

„Abelsen …, — der rote Sven verbrennt … dort … dort …”

Unser Boot trieb jetzt neben dem Vorderteil des Flosses, das lediglich bisher am Heck in Flammen stand. Die Propeller liefen, jedoch ganz schwach, gerade nur so viel Antrieb gaben sie her, daß die „Madagaskar” in der bisherigen Richtung weiterglitt und nicht etwa um sich selbst sich drehen konnte. Da der Wind von Westen kam, jagte er Hitze und Qualm hinter den dahinschleichenden Scheiterhaufen, und das Vorderteil war frei von Glut und Rauch und weißlichen Dämpfen.

Und dort vorn saß auf der Reling, scharf beleuchtet, eine einsame Gestalt: Der rote Sven!

Ganz allein …

Nichts regte sich mehr auf dem Floß, nur die tollen, unberechenbaren Bambusraketen irrten wie wildgewordene Leuchtschlangen nach allen Seiten und prasselten auch über den einsamen roten Sven herab.

Ich packte die Ruder, ich trieb das Boot noch näher …

Meine Blicke hatten das erleuchtete Meer abgesucht …

Nichts …

Kein Boot …

Adrienne sagte mit unheimlicher Ruhe: „Glauben Sie noch immer an Chan Kai’s große Weisheit?! Seiner Weisheit höchstes Prinzip war die Habgier: Die drei Ledersäcke, gefüllt mit den Diamanten des Guburru!” Es war kein Haß mehr in ihrer Stimme, nur ein tiefes Grauen vor der Verworfenheit dessen, der immerhin eins erreicht hatte: Dieses Mädchen war neu erstanden, die letzten Stunden hatten sie endgültig verwandelt.

Und Sven Ordrupp mit seinen halb gelähmten Beinen, der unverwundbare Elefant Ordrupp, saß dort ganz allein und kehrte uns den Rücken zu und beobachtete, wie die feurige Bahn nun das hintere Segel aufflammen ließ, wie der Mast zu brennen begann. Ganz allein war er an Bord… — Wirklich allein?! Mit Entsetzen dachte ich daran, daß vielleicht das Verdeck voller Toter und Verwundeter läge …

Auch das schüttelte ich von mir ab, ließ die Riemen schleifen, brüllte Ordrupp mit überschnappender Stimme zu:

„Springen Sie …! Wir fischen Sie schon heraus …!”

Da drehte er den riesigen Eimerschädel mit der wirren Haarfülle jäh herum, starrte uns an, und über das gedunsene, formlose, wulstige Gesicht glitt ein fast überirdisches Lächeln, als er nun Adrienne mit der Hand zuwinkte.

„Springen Sie …!! Rasch …!!”

Mein zweiter Anruf wurde übertönt von Adriennes heiserer Stimme: „Er — — springen?! Abelsen, er ist nicht halb gelähmt, ihm fehlen beide Beine, er trägt nur künstliche Beine, — seines Vetters Sven Granaten raubten ihm damals vor einem Jahr die gesunden Glieder und ließen dann auch die grauenvolle Krankheit nach der Amputation zum Ausbruch kommen …”

In solchen Augenblicken überlegt man nicht, hat man keine Gedanken für Haß, Verachtung, Widerwillen, Rache.

Retten — Sven retten …

Das war das einzige, was mein jagendes Herz mir ins Hirn hämmerte.

Ich ruderte wie ein Toller, die Riemen bogen sich, das Boot flog vorwärts …

Ich wandte den Kopf … Das vordere Segel flackerte empor in einer einzigen Lohe, und in diesem noch grelleren Licht erschien urplötzlich neben dem roten Sven eine schlanke Männergestalt, bückte sich, hob den Krüppel mit nervigen Armen empor und trat an das Geländer der breiten Brustwehr.

Es war der jüngere Sven … — —

Chan Kai’s große Weisheit hatte ein abenteuerliches, gefährliches Mittel ersonnen, auch diesen Haß zwischen den beiden Svens, die einander einst wie Brüder geliebt hatten, zu überbrücken …

Die Brücke war die brennende „Madagaskar”.

 

14. Kapitel.

Chan Kai’s Botschaft.

Sven stand da mit dem beinlosen, unförmigen Geschöpf in den Armen, und seine Lippen bewegten sich, sein Herz fand Worte, die den Weg zum Herzen sich erzwangen.

Was er sprach, habe ich nie erfahren.

Vielleicht weiß es Adrienne, — sie müßte es eigentlich wissen. Vor ihr hat der jüngere Sven keine Geheimnisse mehr.

Unter dem Prasseln und Knallen und Fauchen des ungeheueren Brandes vollzog sich des roten Sven innere Wandlung.

Was der Verlust seiner Beine, was die daraus entstandene Krankheit und die sinnlose Eifersucht in seiner Seele von Häßlichem angesammelt hatte, zerfiel in Asche.

Ich war mit dem Boot heran.

Sven, der Jüngere, seilte behutsam den schweren Leib des Kranken fest und ließ ihn ebenso vorsichtig in das Boot hinab, wo ich ihn in Empfang nahm, wo Adrienne die klobigen Hände streichelte und der rote Sven wie ein Kind weinte.

Dann glitt auch der erfrorene Sven zu uns hinab, nein, nicht mehr der erfrorene, ein Mann mit strahlendem Gesicht, mit frohen Augen, mit einem warmen kurzen Begrüßungswort für das Mädchen, das ihn geliebt hatte, das ihn töten wollte, das ihn jetzt in anderer Art liebte: Als ein neues, geläutertes Wesen.

Der Koloß Sven saß am Boden des Bootes, und er lächelte unter Tränen in kindlichem Nichtbegreifen, er stammelte verworrene Sätze, die vielleicht unklare Anklagen gegen Chan Kai enthielten und die der andere Sven schnell richtig stellte:

„Ich habe dir nicht geglaubt und auch Chan nicht, erst recht nicht deinen Malaien … Ich habe dir viel abzubitten, nur ich, aber die Tatsachen schienen gegen dich zu zeugen … — Laß es jetzt gut sein, Sven … Der Kutter wird sehr bald erscheinen, Chan Kai’s große Weisheit hat alles bis ins letzte vorbereitet, leider auch — — seine Heimkehr. Wir werden Chan und seine Söhne vielleicht nie wiedersehen, seinen Andeutungen nach wartet seiner in seiner Heimat ein hohes Amt, nachdem jetzt die politische Partei, zu der er sich bekennt, wieder die Oberhand gewonnen hat und China bereit ist, die fremden Schmarotzer, die von seinem Unfrieden sich nährten, endgültig auszuschalten … — Abelsen, überlassen Sie mir nun das Rudern. Ich glaube, Sie haben in den letzten Stunden genug geleistet. Als Adrienne sich in das Meer stürzte und als ich, ein hilflos Gefesselter, nur Ihnen zutraute, Adrienne retten zu können, hatte Chan Kai mir, dem in diesen Teil seines Spieles nicht Eingeweihten, eine harte Lehre erteilt … Ich habe wieder glauben gelernt, denn Chan hat mir ja die schriftlichen Beweise überlassen … Sie werden das alles später klar überschauen können …”

Später?!

Der eine Motorkutter war sehr bald neben uns, ein großer gedeckter Kutter, von dessen Planken Leutnant Baby sehr übermütig und sehr jungenhaft uns mit einer roten Piratenflagge entgegenwinkte, die einst wohl zu des roten Sven seltsamen Requisiten gehört hatte.

Neben Baby stand Freund Amed mit einer steinernen Miene, die wieder einmal gar nichts besagte, und hinter den beiden versuchte sich eine kecke Wippnase in schiefen Bücklingen: Kamerad Wehzeh, auch einer der halben Vertrauten des großen Weisen Chan Kai.

Vorn im Kutter drängten sich die Singhalesen, und sofort nun begann aus drei dicken Schläuchen eine an den Motor angeschlossene Spritze in die qualmende, zuckende Lohe des Flosses gewaltige Wassermengen zu speien … —

Wir saßen in der Heckkajüte beieinander, wir Statisten und Schauspieler der großen Menschentragödie, die ich hier mit gutem Recht „Diamantenfluß” genannt habe.

Adrienne, zwischen den beiden Svens auf der Polsterbank und je eine Hand der Vettern haltend und verträumt lächelnd, — Raoul ihr gegenüber, ich neben Raoul, und Freund Schami links von mir, während der eilfertige geschmeidige Erwin Dunst allerlei leckere Dinge servierte, — das war so die Tafelrunde abseits vom Alltag, die nun die allerletzten Aufschlüsse erhielt über ferne Vergangenheit, über die letzten Jahre, in denen ein Konsortium niederträchtiger Schurken Schiffe in die Tiefe schickte und das Gerücht aussprengte, der Exsträfling Sven Ordrupp sei blutgieriger Freibeuter geworden.

Abseitsgeschichten …

Und Sven, der Jüngere, wandte sich an Freund Schami.

„Bitte, erzählen Sie als erster … vom Diamantenfluß …”

Schami erzählte, was eigentlich an den Anfang dieser meiner Erzählung gehört hätte. Aber im Grunde war ja Schamis Jugenderlebnis, das ich längst kannte, so unbedeutend gegenüber dem neuen vielseitigen Seelenproblem, das auf der „Madagaskar” befriedigend gelöst wurde.

Freund Wehzeh füllte mir schnell nochmals das Whiskyglas, schob mir die Zigarren hin, und Amed Schami berichtete mit ungeheuerer Nüchternheit und Sachlichkeit:

„Mein Vater war Händler und besaß einen Küstensegler, mit dem er sich auch, Frau und Kind an Bord, bis zur Nordostküste Madagaskars wagte und den halbwilden Stämmen am Guburru seine Waren verkaufte. Von diesen braunen friedfertigen Menschen, die einander nur zuweilen so etwas ermordeten und beraubten, erfuhr er, daß der Guburru in seinem Quellbache bunte Glasstücke berge. Mein Vater vermutete, daß es sich um edle Steine handele, und er ruderte mit uns den Fluß aufwärts und nahm noch einen Chinesen mit, der ebenfalls ein Händler war. Wir fanden im Quellbach des Guburru mehr Steine, als wir heimlich mitnehmen konnten, denn die benachbarten Bergvölker hielten den Bach für heilig, und nichts sollte daran gerührt werden. Auf der Rückfahrt wurden wir überfallen, mein Vater und meine Mutter ertranken, und auch den Chinesen hielt ich für tot. Ein mitleidiger Missionar nahm sich meiner an, und erst später kehrte ich nach Indien zurück, wurde Dampferkapitän, lernte Abelsen kennen und vertraute ihm mein Geheimnis an. Ich brauche nicht weiter zu erwähnen, daß jener Chinese Kai war, der vor der Rache der Bergvölker eilends Madagaskar verlassen hatte.”

Sven der Jüngere öffnete die Ledermappe, die vor ihm auf dem Tische lag, und räusperte sich und zog ein paar Bogen Papier hervor, die er geradezu ehrfürchtig ausbreitete.

„Meine Freunde, dies hier ist Chan Kai’s Niederschrift und auch sein letzter Gruß für uns, die wir ihm so unendlich viel verdanken. Ich glaube, wenn ich Chan’s Aufzeichnungen vorgelesen habe, erübrigt sich jedes weitere Wort …

:„Ich, Chan Kai, unwürdiger Nachkomme erhabener Ahnen und Sohn des berühmten Liang Kwangsu, dereinst Statthalter der Provinz Schantung, wurde nach dem Sturze und dem durch ein Henkersschwert vollzogenen Einzuge meines Vaters in die Gefilde der Nacht mit meiner Familie durch die Hilfe der Erhabenen glücklich gerettet. Zu jener Zeit, als Amed Schami noch ein Knabe und dessen Vater mein Wohltäter war, ereilte uns das Mißgeschick bei der Rückfahrt vom Guburru-Bach, ich kehrte heimlich und eilends zu den Meinen nach der indischen Hafenstadt Bombay zurück, und ich hatte mir gelobt, der Diamanten wegen nie wieder die Küste Madagaskars zu betreten, denn der kluge Mann meidet ein Land, wo er bereits einmal vom Unglück verfolgt wurde. Die Welt ist groß und bietet allen Ehrlichen ein Auskommen, wohl auch den Betrügern, aber deren letzte Schritte führen zumeist doch in die Abgründe der Finsternis. — Viele Jahre verstrichen, da wollte es der Zufall, der stets ein Wink der Erhabenen bleibt, daß ein Europäer, dessen Gesicht viele Gesichter hatte, mir auftrug, für seine Plantage auf Madagaskar allerlei notwendige Dinge einzukaufen. Ein großer Verdienst winkte, und ich sagte zu, obwohl sich in meinem Innern eine warnende Stimme erhob, auf die ich damals nicht hörte und die ich deshalb falsch verstand. Es war keine Warnung, es war mehr der Befehl zu einer ernsten Mission, aber das begriff ich erst später. — Auf der Plantage, die unweit des Quellbaches des Guburru lag, traf ich Sven Ordrupp den Älteren als Verwalter und einige seiner Landsleute als Aufseher. Die Neugierde trieb mich eines Nachts durch den Urwald bis zum Diamantenfluß, den die Bergvölker inzwischen jedoch in ein anderes Bett geleitet hatten, so daß die Edelsteine für jedes fremde Auge unauffindbar in einem sumpfigen Felsentale, dem früheren Flußbett, verborgen lagen. Als ich dies festgestellt hatte, ereignete sich auf der Plantage, die sechs gewissenlosen Ausländern gehörte, in den nächsten Tagen folgendes. Sven Ordrupp der Ältere und seine Landsleute wurden wegen Mordes verhaftet und nach kurzer Gerichtsverhandlung lebenslänglich nach der Teufelsinsel verschickt. Da ich weder Ordrupp noch den anderen die ihnen zur Last gelegten Verbrechen zutraute, und da Ordrupp mir gegenüber seltsame Andeutungen gemacht hatte, daß die sechs Europäer aus Habgier dunkle Geschäfte trieben, da schließlich der Mann, der von mir die Waren bezogen hatte, mich niederträchtig betrog, faßte ich den Entschluß, zumal ich bereits über ein beträchtliches Vermögen verfügte, Sven Ordrupp von der Teufelsinsel zu befreien, damit er mir erkläre, wie ich den Besitzern der Plantage ihren frechen, an mir begangenen Betrug vergelten könnte. Infolge meiner weitreichenden Verbindungen gelang mir mein Vorhaben, freilich hatte Ordrupp seine Flucht bereits genügend vorbereitet und wäre auch ohne mein Eingreifen entkommen. Ordrupp, ein tollkühner, trotzdem besonnener und aufrichtiger Mann, raubte aus dem Hafen von Singapore ein schnelles Schiff, die von uns angeworbenen Malaien waren uns blindlings ergeben, und wir befreiten dann auch seine fünf gleichfalls schuldlosen Landsleute, die genau wie er den Plantagenbesitzern unbequem geworden waren. — Ordrupp hegte den Verdacht, daß diese eine äußerst verbrecherische Methode ersonnen hätten, Schiffsversicherungsgesellschaften um die Versicherungssummen für hochwertige Ladungen und Fahrzeuge zu betrügen. Da er jedoch keine schlüssigen Beweise besaß, spielte er mit seinem angeblichen Piratenschiff die geheime Rolle eines Wächters in den asiatischen Gewässern und versuchte einwandfreie Beweise gegen die Verbrecher zu sammeln. — Wie bekannt, verschwanden innerhalb vier Jahren dreißig Frachtdampfer. Wir wußten längst, wie jene schlechten Männer arbeiteten, wie sie Schiffe aufkauften, beluden, die wertvolle Ladung dann auf hoher See auf einen anderen Dampfer übernahmen und dafür steingefüllte Kisten und dergleichen in dem Untergang geweihten Fahrzeug verfrachteten, das stets kurz darauf durch eine Höllenmaschine in die Tiefe geschickt wurde. Aber es gelang uns nie, einen dieser Dampfer zu günstiger Zeit anzuhalten und die Höllenmaschine vor der Explosion zu finden. Wir kamen stets zu spät. Auf diese Weise ist auch Erwin Dunst seiner Zeit auf unser Schiff gekommen, wir retteten ihn als einzigen. — Adrienne beließen wir bei dem Glauben, wir seien Freibeuter, obwohl wir mehr als Meerespolizei uns versuchten. Inzwischen hatte Ordrupps jüngerer Vetter Sven, dem es unerträglich dünkte, Ordrupp, wie die Gerüchte besagten, ein so blutiges Handwerk ausüben zu lassen, einen schnellen Dampfer ausgerüstet und griff uns eines Nachts überraschend an, um seinen Vetter zu zwingen, von seinem anscheinend gesetzwidrigen Treiben abzulassen. Ordrupp erhielt dabei schwere Oberschenkelschüsse, ihm mußten die Beine amputiert werden, er genas auf Svens Ceylon-Plantage an der Lagune, doch Sven schenkte uns keinen Glauben, daß wir lediglich die sechs Übeltäter hätten überführen wollen. Vielleicht erschienen die Zusammenhänge auch allzu romanhaft, obwohl ich in meinem langen Leben noch auf weit seltsamere Dinge gestoßen bin. — Ich blieb nicht müßig, ich fühlte nun erst, daß meine erhabenen Ahnen mich zum Werkzeug der Vergeltung und der Versöhnung auserwählt hatten, als ich den Auftrag für die Plantagenbesitzer annahm. Ich redete Sven dem Jüngeren zu, die Diamanten zu holen, gab gleichzeitig aber auch meinen Söhnen insgeheim allerlei Befehle, die von ihnen pünktlich ausgeführt wurden. — Mein Herz hing an den Menschen, die durch eine böse Verkettung von Umständen einander mit Haß und Feindseligkeit begegneten. Ich sah, daß Adrienne, befangen in dem Irrtum, die Rächerin ihres Vaters spielen zu müssen, die aufkeimende Liebe zu Sven unterdrückte und sich nur mit Mordgedanken trug, ich erlebte täglich zwischen den beiden Svens erschütternde Szenen, und mein Herz gebot mir, hier Wandel zu schaffen. So bewog ich denn Sven, das Floß zu bauen, deutete an, daß auf Madagaskar ungeheure Reichtümer lagerten, und hatte derweil auch vernommen, daß Mr. Abelsen sich in Ransawar, dem Inselfürstentum, aufhielte und daß der Kreuzer Garonne auf den Freibeuter Ordrupp, den Exsträfling, Jagd machen solle. An der Person Abelsens lag mir genau so viel wie an der des Bruders Adriennes. Ich brauchte ersteren als tatkräftigen Helfer, letzteren zur seelischen Beeinflussung des irregeleiteten Mädchens. Die Entwicklung der Ereignisse war mir günstig, die Erhabenen halfen mir, und alles ging nach Wunsch. — Ich schreibe dies, meine Freunde, bereits auf dem zweiten Motorkutter, während das von mir angezündete Heck der Madagaskar in Flammen steht und ich meine Mission als beendet betrachten kann. Die Mappe mit den schriftlichen Geständnissen der sechs Verbrecher, die, sagen wir, freiwillig den Tod in den Wellen dem Ende durch Henkershand vorzogen, übergebe ich Erwin Dunst zugleich mit zwei Säcken der Edelsteine. Den einen Sack betrachte ich als mein Eigentum. Sven, der Jüngere, kann nunmehr den Makel von dem Namen des anderen Ordrupp tilgen, und der kranke Ordrupp wird in einem nordischen Klima rasch genesen. General Couvrettes Kinder werden hernach einsehen, daß der ältere Ordrupp kein Mörder ist, ihr Vater fiel im Kampf, und er starb den Soldatentod. — Euch allen, meine Freunde, wünsche ich nunmehr für eure Zukunft Frieden und Glück, und ich werde nicht verabsäumen, auch fernerhin jeden Morgen meinen erhabenen Ahnen drei Räucherstäbchen zu weihen, damit die Weisheit meiner Vorfahren eure Herzen erleuchte und ihr Einfluß euch gnädig sei.

Chan Kai

Nachschrift.

„Ich bitte nicht zu vergessen, daß die sechs Verbrecher freiwillig auf dem sinkenden Schiffe blieben und sich so fest am Geländer der Kommandobrücke angeseilt hatten, daß ihre Todesangst in den letzten Sekunden sie unfähig machte, die Stricke zu lösen. Es ist vielleicht nebensächlich, aber ich bin in allem ein sehr vorsorglicher Mann, auch in Kleinigkeiten.”

 

15. Kapitel1

Das neue Lied …

Amed Schami rudert der einsamen Küste zu, hinter deren Lagunengürtel sich die Bergwälder Madagaskars emportürmen und übergehen in kahles Gestein, aus dessen Spalten die Bäche zu Tal gleiten …

Ich sitze mit meinen bereits wieder heilenden, vorgestern noch zerschundenen Händen zurückgewandt am Steuer und sehe vom verräucherten aber noch gut erhaltenen Flosse her die weißen Tücher der Freunde eifrig winken.

Sven und Adrienne stehen umschlungen auf der breiten Brustwehr neben des roten Ordrupp Liegestuhl, und Raoul und Freund Wehzeh haben dicht dabei sogar zu Handtüchern gegriffen, die sie wie Friedensflaggen schwenken.

Langsam gleitet das Floß gen Osten, wir schaukeln auf den Wogen gen Westen, die Entfernung wird immer größer, die Gestalten zerfließen, das Floß wird winziger, und schließlich ist es nur noch ein Punkt am endlosen Horizont, der in der nahenden Abenddämmerung bald völlig untertaucht.

Trotzdem starrte ich wie gebannt dorthin, wo das Floß der Leidenschaften, nunmehr durch Chan Kai’s Weisheit ein Floß des Glückes, unter der Kimmung verschwand.

Vor meinem Geiste ziehen eilends nochmals die bunten, bewegten Bilder dieses Abseitserlebnisses vorüber, und eine seltsame Ergriffenheit bemächtigt sich meiner. Ich war wieder einmal Weggenosse von Menschen, die fern vom Alltag mit ihren Fehlern, Schwächen und großen Seelenzügen mir die Welt in einem ungewöhnlichen Spiegel zeigten.

Schamis scharfer Zuruf weckt mich aus tiefer Versunkenheit.

„Achtung — — Brandung!!”

Unser Boot tanzt nicht mehr, wird hin und her geschleudert, und als wir schließlich in eine Bucht einlaufen, sind wir bis auf die Haut durchnäßt, und unser Boot gleicht einer gefüllten Badewanne.

Schami schleppt eilends unsere Habe aufs Trockene, und ich kippe das Boot um, ziehe es ins Gestrüpp.

Durch die Bäume schimmert drüben der helle freundliche Sandstrand der Lagune. Kleine Inseln beleben das Binnenwasser, auf Sandbänken liegen faule Krokodile, und der Lärm der Seevögel und der flinken Affen bricht allzu jäh ab …

Schami äugt mißtrauisch umher.

„Olaf, — drei Schüsse…”

„Ja … drei …”

Ich sehe etwas, das mich zwingt, die Stimme zu dämpfen …

Da setzt der Lärm des Getiers dieses unbewohnten Küstenstriches mit verdoppelter Kraft ein.

So empfing uns Madagaskar, die große Insel, deren Ostküste den Diamantenfluß mit lehmigen Wogen in den weiten verschwiegenen Ozean schickt.

— Das Lied der Diamanten war ein Lied von Menschenleid und Menschenglück.

Das Lied hat noch eine weitere, urwalddurchbrauste Strophe.

Schami flüstert mir zu, indem er rasch seine Büchse trocknet und das Schloß ölt:

„Olaf, dort ankert ein Motorkutter …”

Ich … nicke nur.

 

 

Nächster Band:

Die Zauberquelle der Ikarisi.

 

 

Anmerkung:

1 lt. Vorlage Kapitel 18 - in Kapitel 15 geändert