Harald Harst
Band: 342
Von
Max Schraut
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1932 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16
1. Kapitel
Herrn Bowens Koffer.
Mr. Emanuel Bowen trocknete sich den Schweiß vom Gesicht und vom speckigen Genick, als der Expreß in den Kölner Hauptbahnhof einlief. Seit er Amsterdam verlassen und auf allerlei Umwegen über Belgien weitergereist war, hatte sich die Todesangst nur verringert, wenn er sich inmitten des lebhaften Betriebes eines Hotelspeisesaales oder im Zuge im Speisewagen befunden hatte. Seine Nerven waren vollständig erschöpft, sein Hirn übertrieben angefüllt mit unsinnigsten Vorstellungen drohender unmittelbarer Gefahr, und sein krankhaftes Mißtrauen hatte ihm sogar die Benutzung des Schlafwagens verboten, hatte in jedem harmlosen Reisenden einen Todfeind geargwöhnt. Hier auf deutschem Boden fühlte er sich etwas sicherer, seit Tagen rauchte er wieder einmal mit Genuß eine seiner dicken Brasil, und als er sich nun zum Fenster seines Abteils erster Klasse halb hinauslehnte und auf dem Bahnsteig zumeist eilfertige, frohe Menschen in freundlicher Sommerkleidung erblickte, löste sich der bisherige Angstkrampf in seiner Seele und über das breite, fettige Gesicht flog ein dünnes Grinsen hin, während sich auch aus seinen hellen Fischaugen der gehetzte, scheue Ausdruck allmählich verlor.
Trotzdem – vorsichtig mußte er sein, diesmal stand zuviel auf dem Spiel, und wenn er erst Berlin glücklich erreicht haben würde, durfte er sich auch wieder ein paar vergnügte Nächte machen, bevor das nächste, weit ungefährlichere Geschäft fällig war.
Über den Bahnsteig marschierten einige stramme deutsche Polizisten, Emanuel Bowen betrachtete sie geradezu mit Wohlgefallen, denn vor dieser Art Gesetzeshüter, ob in Uniform oder Zivil, hatte er nie irgendeine auch noch so leichte Gänsehaut bekommen. Die ganze Polizei konnte ihm … und so. Deren Intelligenz mochte ja für einen dummen Gauner oder Totschläger ausreichen, aber er, Emanuel Bowen, Besitzer des Instituts ‚Maienträume‛, war anderen Schlages, war Klasse, war einwandfrei, genau wie seine elegante unauffällige Kleidung und seine Reiseausrüstung.
… Wie er so den deutschen Schupobeamten nachschaute, trat in sein schwammiges, ehrbares Gesicht ein unverkennbarer Ausdruck freudigster Überraschung, und die galt einzig und allein einer jungen Dame, die mit federnden Schritten und biegsamen, zwanglosen Bewegungen, ein Handköfferchen und einen Schirm in der Linken, den Zug entlangkam.
„Fräulein Borg‥!“ rief Bowen sie halblaut an. „Wie – Sie hier in Köln?!“
Er strahlte liebenswürdigst vor tiefster Ergebenheit, obwohl er alle Ursache gehabt hätte, diese ebenso zurückhaltende wie ablehnende Varieteetänzerin, die ihm eine erste Annäherung gründlich erschwert hatte, längst von der Liste seiner ‚Bevorzugten‛ zu streichen.
Die junge Dame war drei Schritt rechts von ihm stehen geblieben und schien genau so überrascht wie er. Sie nickte ihm flüchtig zu, Bowen lehnte sich noch weiter zum Fenster hinaus, und in diesem Augenblick tauchte in der Tür seines Abteils schnell wie ein Schatten eine hagere, grauhaarige Frau mit Halbschleier auf, nahm mit ebenso blitzschnellem Griff den kleineren der Koffer des Holländers aus dem Gepäcksnetz und legte einen anderen, völlig gleichen dafür hinein, der ebenfalls ein besonders hergestelltes Namensschild am Griff trug, ein festes Papptäfelchen mit verborgenem Schnapphaken, der sich genau, unauffällig, aber fest um die äußere Haltestange des Netzes schmiegte.
Der Gang des D-Wagens war leer, nur ein einzelner Herr stand etwas entfernt vor einem Abteil zweiter Klasse und schenkte der dürren, vornehmen Fremden offenbar keinerlei Beachtung, da sie lediglich nach einem freien Platz zu suchen schien.
Als die Hagere dann nebenan im Nichtraucherabteil verblieb, wandte der Herr vor der fernen Tür den Kopf und flüsterte einem jüngeren, direkt aus dem neuesten Modeblatt geschnittenen Gentleman hastig zu:
„Sie ist wieder da, Fred‥!“
Aber Fred Steen hatte gleichfalls soeben draußen die Tänzerin Isolde Borg erspäht, und da es nun einmal sein Pech war, sich zumeist hoffnungslos in zweifelhafte Damen zu verlieben, erwiderte er etwas temperamentvoll:
„Die Todestänzerin schaut wieder wie der lachende Frühling aus!“ Dann seufzte er schmerzlich, denn er wußte nur zu gut, daß auch diese seine neue Flamme ein höchst bedenkliches Strohfeuer bleiben mußte.
„Ich meine die Engländerin,“ korrigierte ich ihn etwas gereizt. „Es ist höchste Zeit, daß Harst Ihnen einmal wieder den Kopf etwas zurechtsetzt, Sie unleidlicher Schlingel! Bei so ernsten Dingen schalten Sie Ihre leicht entzündbaren Gefühle besser aus.“
„Zu Befehl!“ sagte er frech.
In dem Abteil Erster, Raucher, saß nur Fräulein Isolde Borg dem etwas feisten Herrn Bowen, der zurzeit noch immer englischer Untertan, aber holländischer Grundbesitzer war, in all ihrer kühlen Lieblichkeit gegenüber, wenn sie auch nur ganz bescheiden zweiter Klasse nach Berlin zu einem Theateragenten hatte reisen wollen. Natürlich war Emanuel Bowen sofort bereit gewesen, den Betrag für die Fahrkarte nachzuzahlen, und sie hatte dies mit hoheitsvollem Kopfneigen als selbstverständlich hingenommen und ablenkend hinzugefügt, hier in Köln sei es leider mit dem Engagement nichts geworden, die Agenturen sein allzu überlaufen, und sie als Zugnummer dürfte auf keinen Fall ein zweitklassiges Theater wählen…
– Der Zug setzte sich wieder in Bewegung, und Fred Steen und ich bummelten nun nach verschiedenen Richtungen durch die D-Wagen, um nach Harst Ausschau zu halten, der möglicherweise in Köln zugestiegen sein mochte.
Als ich umkehrte, streifte ich vor einem leeren Abteil jenseits des Speisewagens einen älteren Herrn mit Hornbrille und Rotweinnase. Dieser eifrige Zigarettenraucher schob mir blitzartig ein Zettelchen in die Hand und starrte dabei weiter durch das Fenster hinaus.
An einem verschwiegenen Örtchen las ich einen jener ziemlich unverständlichen Befehle, an die ich seit Tagen gewöhnt war und die mich doch immer wieder ärgerten.
Neben Bowen sitzt die Hagere im Nichtraucherabteil. Ihr Koffer hat bis Berlin zu verschwinden. Denkt an den versteckten Haken. Am besten ist, Fred hält die Attrappe bereit. Vernichten!
Wenn zwei bezahlte Angestellte eines Detektivinstituts von ihrem Chef rücksichtslos hin und her gehetzt und mit unmöglichen Aufgaben belastet werden, mag das ja hingehen. Aber Fred Steen und ich nahmen nun doch wohl gegenüber Harst eine andere Stellung ein, wir waren Freunde und Vertraute, und gerade ich empfand diese Art von ‚Zusammenarbeit‛ einfach entwürdigend. Wenn ich dennoch nicht rebellierte, sondern gehorchte, lag das hauptsächlich an unserem jetzigen ‚Fall‛, dem ich anfangs keinen rechten Titel zu geben wußte, obwohl sich bei der Fülle von Vorereignissen tausend Titel hätten finden lassen.
Ich traf Fred und teilte ihm flüsternd den neuen Befehl mit…
„Die aufgeblasene Vogelscheuche ging vorhin nach dem Speisewagen,“ erklärte er leichthin. „Wir werden die Sache schon befingern… Harst hat uns ja einige Anweisungen erteilt, wie man so was macht. In dem Abteil sitzt nur noch ein Pärchen, Hochzeitsreisende… Na, und die denken doch an anderes als an Kofferdiebe.“
Minuten später flatterte vor dem Fenster des verliebten Pärchens eine große aufgeblasene Papiertüte an einer langen Schnur, und als der junge Ehemann lachend in den primitiven Kinderballon mit dem Stockende ein Loch stieß, angelte Fred den Koffer aus dem Netz und setzte sofort die andere Kofferattrappe mit den starken Federn darüber, die keinen Boden hatte und die zum Rüstzeug aller Kofferdiebe gehört.
„Geglückt!“ sagte er schmunzelnd und warf sich wieder in seine Ecke.
„Und wenn die Hagere Lärm schlägt?!“ bemerkte ich.
„Lächerlich! Wo sie selbst den Koffer vorhin ausgetauscht hat! Die wird sich hüten!“
Fred behielt recht.
Nach einer halben Stunde schlich die Dürre mißtrauisch spähend durch die Gänge, und in Hannover verließ sie in größter Eile den Zug.
– Kaum hatte dieser die Stadt Hannover hinter sich, als vom Flugplatz eine Maschine mit einem einzelnen Fahrgast aufstieg, der nachher in Berlin eiligst eine Taxe nahm und im Gewimmel der Reichshauptstadt untertauchte.
2. Kapitel
Der Inhalt zweier vertauschter Koffer.
Fred schlief in seiner Ecke, ich hatte Wache, und ich war’s, der kurz vor Berlin beobachtete, wie ein schlanker Herr mit etwas bläulichen Wangen in Emanuel Bowens Abteil huschte, jedoch sofort wieder in den Gang taumelte, unsicher seine Reisemütze aufhob und torkelnd enteilte, als ob sein pomadisierter Schädel mit einem harten Gegenstand in unsanfte Berührung geraten wäre.
Isolde Borg hatte vorher das Abteil verlassen, und als ich nun an der offenen Tür vorüberschritt, stand Mr. Bowen noch immer aufrecht da, in der Hand einen Spazierstock, der verfänglich elastisch war, und in der Linken ein Dolchmesser, das er schleunigst zu verbergen trachtete.
Nichts wäre natürlicher gewesen, als daß der holländische Engländer oder der englische Holländer sich an den Zugführer gewandt und um Verhaftung des Attentatsversuchers gebeten hätte.
Ach nein, – Bowen dachte gar nicht daran. Das hätte nur Scherereien gegeben. Und die konnte Emanuel bei dieser Reise weniger denn je brauchen. Erstens seines Koffers, und zweitens Isolde Borgs wegen.
Gewiß, die verliebten Gedanken hatten jetzt nach diesem heimtückischen Angriff vorläufig weit ernsteren Erwägungen Platz gemacht, denn wieder einmal mußte der bisher so sicher dahinlebende arme Bowen hier feststellen, daß ihm da irgend jemand auf den Fersen blieb, den er nicht abzuschütteln vermochte.
Die Tänzerin fand bei der Rückkehr ins Abteil ihren Verehrer denn auch reichlich zerstreut, ja verändert vor, doch ihr wäre dies wohl nicht weiter aufgefallen, wenn nicht die Unruhe im Zug so kurz vor Ankunft dem geriebenen Emanuel Gelegenheit gegeben hätte, seine innere Zerfahrenheit zu bemänteln.
„Welches Hotel werden Sie benutzen?“ fragte er erst auf dem Bahnsteig in süßlichstem Ton, und die knappe Antwort, die ich gerade noch belauschen konnte, lautete zu meiner höchsten Befremdung:
„Bei einer Bekannten in der Arnoldstraße, Berlin W…“
Auch Bowen machte dazu ein höchst betroffenes Gesicht. „Arnoldstraße, sagten Sie? Welche Nummer?“ Er schielte seine Auserwählte dabei sehr mißtrauisch aus den Augenwinkeln an.
„Dreiundvierzig…“ erwiderte sie völlig harmlos. „Wir sehen uns dann also morgen mittag wieder, – leben Sie bis dahin wohl… Ich möchte meine alte Bekannte begrüßen.“
Nach ehrerbietigem Handkuß, der etwas an Film erinnerte, verschwand Bowen in der an der Sperre sich staunenden Menge, während Fräulein Borg auf eine behäbige Dame zusteuerte, die in der hocherhobenen Hand fünf Nelken hielt.
Als ich mir noch diese etwas angejahrte ‚Freundin‛ der Tänzerin argwöhnisch betrachtete, tauchte neben Fred und mir das gewisse bläuliche Gesicht, der Attentäter von vorhin auf, schob mir gewandt einen geknifften Zettel zwischen die Finger und … verduftete wieder.
Freds freche Wippnase reckte sich noch höher. „Wer war das, Herr Schraut?“ flüsterte er hastig.
Ich nickte nur. Ich dachte an ganz andere Dinge, die zur Zeit wichtiger erschienen. Daß Isolde Borg, die meiner Ansicht zum Bowen-Kreis gehörte, ohne daß Emanuel Bowen bei seinen weitverzweigten Beziehungen diese Unteragentin kennen mochte, ausgerechnet in unserer Straße Quartier nehmen wollte, gefiel mir gar nicht. Und noch weniger hatte mir Bowens Blick behagt, mit dem er auf den Namen Arnoldstraße prompt reagiert hatte, also auf die unausgesprochene Frage, ob die schöne Tänzerin denn wüßte, welch’ gefährlicher Mann Arnoldstraße Nr. 21 lebte.
Auch Fred verkrümelte sich nun. Er hatte Bowen zu überwachen, und ich schlenderte daher ganz gemächlich hinter Isolde Borg her, die ihren Arm vertraulich in den der reichlich korpulenten Freundin geschoben hatte. Erst im Auto, das hinter dem der beiden Damen durch das abendliche Berlin rollte, entfaltete ich den Zettel des bläulichen Messerhelden, der jetzt sicherlich eine dicke Beule auf dem gewichsten Schädel hatte.
Der neue Befehl lautete:
Der Spanier bekommt fünfhundert Mark. Er soll sofort wieder zurückreisen. Suche festzustellen, wo die hagere Engländerin Viktoria Quinton abgestiegen ist. Wahrscheinlich Hotel ‚Spreeblick‛ an der Weidendammer Brücke, wo auch Bowen zuweilen sich sehen läßt. Ich werde bis zwei Uhr morgens beschäftigt sein. Dann Kaffee (stark) und Imbiß bereithalten.
H.
Die Handbewegungen, mit denen ich diesen Wisch zerriß, spiegelten meine Gefühle deutlich wieder.
Es war einfach empörend!! Fred und ich wurden wie Marionetten hin und her geschoben und hatten einfach zu gehorchen! Wer zum Teufel war nun wieder dieser Spanier?! Wo hatte Harald den Burschen aufgetrieben?!
Die Autotaxe hielt, mein Groll verrauchte, und ich gab scharf acht, ob auch Fräulein Borgs Gepäck vor Nr. 43 abgeladen wurde, aber in dieser Beziehung war alles in bester Ordnung. Ich sah im Hochparterre zwei Fenster hell werden, und gleich darauf betrat ich unser eigenes Heim, dessen Wächter mich mit Händedruck und der Versicherung begrüßte, unsere Miniaturvilla sei inzwischen nicht gestohlen worden.
„Das sehe ich, Schmiedecke… Nur Ihre Witze sind mittlerweile nicht besser geworden.“
Schmiedecke, ein Original der alten Ganovenschule, warf sich in einen Sessel und griente. Sein urkomisches Kautschukgesicht verzog sich geradezu tragisch.
„Bitte – schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort, Herr Schraut! Ich sage nichts ohne Grund. Während der Abwesenheit der Herren wurde dreimal der Versuch gemacht, hier einzubrechen, und nur meine Skylla – dabei wies er auf seinen Fettkloß von Terrierhündin – „hat die Kerle verscheucht.“
Ich machte es mir bequem. Schmiedecke – der übrigens so etwa insgesamt dreißig Jahre Knast hinter sich hatte – nahm eine neue Zigarre aus meiner besten Kiste und strich seine grauen Sardellen über den kahlen Mittelkopf.
Dann klingelte es.
„Verschwinden Sie, Schmiedecke!“
Ich öffnete, und der angekündigte ‚Spanier‛ schlüpfte wie ein Aal in den Flur. „Bitte, Sennor,“ tuschelte er eiligst, „fragen Sie nichts. Ich darf nicht antworten. – Wo ist das Geld?“
Ich beschaute mir den merkwürdigen Gentleman genauer.
Er sah gar nicht so übel aus. Mir schien’s sogar, als ob um seine Lippen ein belustigtes Lächeln zuckte.
„Hier haben Sie Ihre fünfhundert Mark, Sie sollen aber sofort wieder zurückreisen…“
„Sehr wohl, Sennor Schraut…“
„Halt, – etwas möchte ich Sie doch fragen. War das Attentat auf Bower Bluff?“
„Nein. Bluff ist nicht der richtige Ausdruck,“ erklärte er plötzlich in fließendem Deutsch. „Natürlich wollte ich Bower nicht erstechen. Sein Verdacht sollte nur in andere Richtung gelenkt werden. Er glaubt, Miß Viktoria Quinton stelle ihm nach. Herrn Harst lag daran, ihn und seine Spürhunde auf eine falsche Fährte zu hetzen. Gewiß, ich habe schon so manchen Menschen um die Ecke gebracht, aber so dumm bin ich doch nicht, in einem D-Zug einen Totschlag zu riskieren, – dazu gehören bessere Vorbereitungen.“
Ich starrte den ‚Spanier‛ verblüfft an. „Sie sind ein Gemütsmensch!! Dort ist die Tür! – Raus!!“
Er verneigte sich und huschte davon. Seine Bewegungen hatten etwas von einer Schlange und zugleich auch etwas von einer Ratte.
Dann zog ich aus der Kofferattrappe den ‚gedeckten‛ Koffer Bowens hervor, den wir Miß Viktoria Quinton weggezaubert hatten. Es war recht schwer, das Patentschloß zu öffnen. Als ich den Inhalt des Koffers endlich vor mir hatte, war ich so ziemlich am Ende mit meiner geringen Weisheit, denn er bestand aus Oberhemden, Seidensocken und Ähnlichem, außerdem fand ich noch zwei neue Stücke Toilettenseife, eine Stange Rasierseife, und Mundspülung, Haarwasser und vier Flaschen Patentmedizin.
Inzwischen war Gustav Schmiedecke wieder im Wohnzimmer erschienen und schaute mir mit schiefem Kopf wie eine alte Eule meinem Tun zu.
„Hm!“ sagte er vernehmlich. „Ein geklautes Gepäck?! Etwa Bowens Koffer?“
Schmiedecke, seit zehn Jahren von makellosem Lebenswandel, hatte trotz seines Alters noch bei der Detektei ‚Argus‛ eine Anstellung gefunden, denn er gehörte zu denen, die so ziemlich das Gras wachsen hören.
Ich nickte nur.
„Ja, Bowens Koffer.“
Schweigend nahm der ‚Kautschuk-Gustav‛ ein Messer zur Hand, zerschnitt die Seifenstücke und…
… rief schon: „Donnerwetter!“
Kautschuk-Gustav griente und schraubte die Böden von den harmlosen Flaschen ab, die nur oben gefüllt waren. Unten bestand der Inhalt aus anderen Dingen.
„Schließen Sie den Kram in den Tresor ein, Herr Schraut,“ meinte der einstige Ganove seufzend. „Man soll keinen alten Mann in Versuchung führen… Der Kram da ist seine zwei Millionen wert…“
Ich tat es, aber mir war dabei so sonderbar schwül zumute.
Nachher stärkte ich mich etwas, verließ unser Heim und fuhr zum Hotel ‚Spreeblick‛, einem alten schmalen, verliederten Gebäude, das schon von außen den Eindruck machte, als ob dort nur die fragwürdigsten Gäste abstiegen.
Die Straße vor dem Hotel ging in den mit Steinplatten belegten Spreekai über, dessen eisernes Geländer und vereinzelte alte Bäume mir zu einem Einblick in ein erleuchtetes Zimmer des ersten Stocks verhalfen. Ich sah, wie die hagere Miß, die uns schon in Amsterdam so viel zu raten aufgegeben hatte, sich gerade vor dem Schrankspiegel ihren Hut aufsetzte. Dann wurde das Zimmer dunkel, und ich kletterte eilends herab, um ihre Ankunft auf der Straße abzuwarten. Die Haustür knarrte, Miß Quinton blickte sich scheu um, und dann pfiff sie auf eine eigentümliche Art. Eine Taxe kam herangerollt, sie stieg ein, fuhr davon, und als ich im Trab folgte, flog mir plötzlich ein Ding gegen die Brust, das mich warnte: Es war ein handgeschnitzter Bumerang, ein australisches Wurfholz, und die Engländerin hatte es vom Trittbrett aus mit so unfehlbarer Sicherheit geschleudert, daß mir der Atem wegblieb und ich lang hinschlug.
Die einzige Siegespalme, die ich mit heimbrachte, war das Wurfholz.
Harst, der in Hausjoppe und roten Morgenschuhen am Schreibtisch saß, begrüßte mich höchst unliebenswürdig, als ich ihm stumm den Bumerang hinhielt.
„Also ähnlich wie in Amsterdam,“ sagte er ungnädig. „Du hast wahrhaftig nichts zugelernt. Das dritte Mal wird das Weib dir das Ding an den Schädel schleudern und dann kannst du tagelang im Bett liegen…“
Vielleicht wäre es bei dieser Gelegenheit zwischen uns zu einer ernsteren Auseinandersetzung gekommen, – Freds Erscheinen rettete die Situation, denn wir beide merkten unserem jungen Freund und Famulus sofort an, daß er wichtige Geschehnisse zu melden hätte. Er stieß dann auch atemlos hervor:
„So was von Wutanfall habe ich noch nicht erlebt!! Die kleinen seidenen Damenhöschen und Hemdchen hat der Emanuel in kleine Stücke zerfetzt, und die Kleider hat er zertrampelt… Es war fürchterlich!“
Harst blies den Zigarettenrauch zur Decke empor. „Ich hätte gar nicht geglaubt, daß die dürre hochmütige Person so feine Unterwäsche trägt…“
Fred Steen stierte Harald kopfschüttelnd an. „Haben Sie eine Ruhe!! – Herr Harst, – das wird gleich anders werden … denn ich habe noch mehr beobachtet…“
3. Kapitel
Vorspiel Berlin – Amsterdam.
Es wäre eine Unhöflichkeit gegenüber meinen Lesern, wenn ich ihnen die Vorgeschichte des Falles ‚Todestänzerin‛ noch länger vorenthalten wollte.
An einem sehr heißen Julitag erschien bei uns spät abends während eines Gewitters ein Klient namens van Buik und wünschte Harald allein zu sprechen. Als mein Freund ihm erklärte, es sei bei uns üblich, daß wir alle drei mit eingeweiht würden, setzte der sehr elegante, vornehme Herr seine eisigste Miene auf und meinte, seine Angelegenheit sei zu diskret, um sechs Ohren anvertraut zu werden. Damit verabschiedete er sich und stelzte verärgert davon.
Gegen halb zwölf, als wir diesen unbekannten van Buik bereits halb vergessen hatten, rief Harald den Flughafen Tempelhof an und erhielt den Bescheid, das Passagierflugzeug Berlin–Amsterdam–London sei des schlechten Wetters wegen noch nicht abgegangen. Harst bestellte drei Plätze, und um halb ein Uhr morgens verließen wir Berlin.
Amsterdam war uns bekannter Boden. Wir stiegen getrennt unweit der Nikolauskirche bei deutschen Pensionsinhabern ab, – Harald allein für sich, Fred und ich in einem Zimmer nach einem breiten Kanal hinaus. – Weder Fred noch ich wußten, um was es ging. Auch der nächste Tag brachte uns keinen Aufschluß, und da Harst streng befohlen hatte, ihn nicht zu besuchen, kamen wir uns recht überflüssig vor.
Gewiß, wir hatten einen Anhaltspunkt, den Namen van Buik. Wer jedoch einmal im Amsterdamer Adreßbuch die van Buiks zählt, wird sich sofort sagen, daß man achtzig Personen unmöglich aufsuchen kann, um unseren van Buik herauszufinden, besonders wenn man noch argwöhnen muß, daß der Name ohnedies falsch gewesen.
Abends brachte jedoch ein Dienstmann einen Brief für mich – – mit dem ersten der ominösen Befehle.
Er lautete:
Ich bin einer weitverzweigten Gesellschaft auf die Spur gekommen, die offenbar oberfaule Dinge treibt. Beobachtet das Pensionat für höhere Töchter, das Haus ‚Maienträume‛ im Süden der Stadt, das einem Mr. Emanuel Bowen gehört, der viel im Gay-Theater verkehrt und dort der Tänzerin Isolde Borg den Hof macht. Fred soll das in einem Park liegende Haus ‚Maienträume‛ in Arbeit nehmen, du, mein Alter, wirst die Tänzerin überwachen. Seid vorsichtig, die Geschichte ist brenzlich.
H.
Die Witze, die der Fred über die höheren Töchter riß, vergingen ihm bald, denn als er um ein Uhr morgens heimkehrte, hatte ihm Herr Emanuel Bowen, der ihn auf einem Balkon überraschte, eine Kugel quer über die linken Rippen gejagt, und nur Freds flinke Beine hatten ihn vor weiteren Bleikügelchen und vor Emanuels Wachthunden bewahrt.
Ich selbst hatte der Vorstellung im Gay-Theater, der damals vornehmsten Varieteebühne, beigewohnt und meine Nerven durch den fabelhaft schmissigen Tanz Isolde Borgs, der sogenannten Todestänzerin, gründlich aufrütteln lassen. Als Fräulein Borgs Nummer vorüber, begab ich mich in das Restaurant, und hier beobachtete ich Emanuel Bowen, der der Tänzerin Rosen überreichte und mit ihr und drei tadellosen Herren im Frack sehr üppig soupierte, allerdings in einer Nische hinter diskreten Vorhängen. Um elf verabschiedete Bowen sich, und ich wollte ihm nunmehr auf den Fersen bleiben.
Bereits im Restaurant war mir die hagere, hochmütige, grauhaarige Dame mit dem Halbschleier aufgefallen. Zu meinem Erstaunen hegte sie genau dieselben Absichten wie ich, und nachdem ich dies gemerkt hatte, blieb ich mit meiner Taxe noch weiter zurück.
Sehr bald wurde mir auch klar, daß der feiste Biedermann Emanuel durchaus kein so harmloses Hühnchen war, wie sein Äußeres glauben machte. Als wir die Vorstadt hinter uns hatten und an einem Kanal vorbeifuhren, ließ Bowen urplötzlich seinen Sportwagen wenden und sauste in voller Fahrt auf die Taxe der Hageren zu, deren Lenker nur mit knapper Not ausweichen konnte. Bowen hielt an, rannte auf die Taxe zu und leuchtete der Insassin mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Die Hagere war flinker, ihr Schirm traf die Taschenlampe, dann stieß sie Bowen zurück, lief zu dessen Sportwagen, der nun in Richtung nach der Vorstadt verlassen dastand, sprang hinein und gab Vollgas…
Mein Schofför wendete noch schnell, und kaum war Bowens Auto mit der Frau am Steuer vorüber, als ich meinen Fahrer zu höchster Eile anfeuerte.
Die ersten Häuser kamen in Sicht, die Hagere war mit großem Vorsprung längst verschwunden und da urplötzlich sah ich an einer Straßenkreuzung Bowens leeren Wagen stehen, bemerkte das Weib in einem Boot auf dem anstoßenden Kanal, wollte hinterdrein, und bei dieser Gelegenheit bekam ich den ersten Bumerang zu spüren, verzichtete auf weitere Verfolgung und ließ mich schleunigst mit der übel schmerzenden Brust in die Nähe meiner Pension bringen.
Als ich die Haustür aufschließen wollte, rief mich ein alter Hausierer an. Es war Harst.
„Du hast alles verdorben!“ hauchte er schwer gereizt. „Bowen ist nun gewarnt… Ich war auf einem Rad in der Nähe. Die Hagere wohnt hier gleich um die Ecke bei Privatleuten im Erdgeschoß, Nummer elf, rechter Hand. Morgen will ich ihren Namen wissen. Mittags treffen wir uns im Restaurant des Gay-Theaters.“
Dann schlurfte er davon. Und nachher kam Fred, dem ich den Streifschuß verbinden mußte.
Der Name der Hageren war leicht zu erfahren. Sie wohnte erst einen Tag bei den bescheidenen Leuten, hieß Viktoria Quinton, kam aus London, war Malerin und hatte für vier Wochen vorausbezahlt.
Mittags im Restaurant des Gay-Theaters setzte sich ein alter, weißbärtiger Herr zu mir an den Tisch, sprach kein Wort, schob mir aber nachher heimlich einen Zettel hin, – genau wie ich es tat.
Harsts Tagesbefehl lautete:
Mietet euer Zimmer für sechs Wochen, sagt der Wirtin, daß ihr mehrtägige Ausflüge machen wollt und haltet euch jeden Augenblick zur Abreise bereit. Weder Bowen noch die Tänzerin sind zu behelligen. Nur die Engländerin könnt ihr beobachten. Entfernt euch nie zu weit.
Nachmittags sechs Uhr ein neuer Befehl:
Bowen fährt abends nach Antwerpen. Wir auch.
H.
– – Bis Köln ereignete sich nichts von Bedeutung, und was auf dem Kölner Bahnhof geschah, habe ich bereits geschildert.
Wie gesagt, all dies war Vorspiel. – Ich hatte mir die folgenden aufgezählten handelnden Personen scharf eingeprägt:
1.) Emanuel Bowen, ein Mann von tadellosem Ruf, der die Besitzerin des Hauses ‚Maienträume‛, eine würdige Dame, Erzieherin und Inhaberin eines bestrenommierten Töchterpensionats, vor drei Jahren geheiratet hatte.
2.) Isolde Borg, die Todestänzerin, einwandfreier Lebenswandel, wenn auch lebenslustig, – zwei Fragezeichen.
3.) Miß Viktoria Quinton, – – drei Fragezeichen.
4.) Der ‚Spanier‛, der so fließend deutsch sprach. Drei Fragezeichen.
5.) Die drei Gentlemen, die im Restaurant des Gay-Theaters mit Bowen und Isolde Borg gespeist hatten.
Diese fünf Personengruppen zueinander in eine klare Beziehung zu bringen, war mir bisher nicht gelungen.
Und jetzt, wo wir daheim in Berlin waren, wo Fred soeben derart verheißungsvolle Andeutungen gemacht hatte, würde wohl endlich so etwas Licht in die Sache kommen. Denn das, was ich da vorhin in den Tresor eingeschlossen hatte, verwirrte die Geschichte nur noch mehr. – Übrigens eine Randbemerkung: Habe ich wirklich alle Personen oben aufgezählt?
Man tat gut, sich so was genau zu überlegen.
– – „… Herr Harst, das wird anders werden! Ich habe noch mehr beobachtet!“
„Hoffentlich, lieber Fred. Setzen Sie sich zunächst einmal und regen Sie sich wieder ab. Nichts ist bei unserem Beruf schädlicher, als die Nerven zu verlieren, sei es auch vor Freude über einen Teilerfolg, der vielleicht bei Licht besehen als Erfolg doch mehr zusammenschrumpft.“
Fred Steens kühne Wippnase zog sich nach unten, ein Beweis, daß diese abkühlende Wortdusche geholfen hatte. Nachdem er eine Tasse Kaffee getrunken hatte, rauchte er sich sogar noch eine Zigarette an und fiel damit wieder in die Rolle des blasierten Lebejünglings zurück.
„Also, – dieses Ekel von Bowen ist nach langen Irrfahrten und nach dreimaligem Autowechsel – um mich von seiner Spur abzubringen – in einer Villa draußen im Gartenvorort Dahlem gelandet. Das riesige Gebäude steht leer, nur ein Gärtner wohnt noch dort. Ein Mann der Wachgesellschaft sagte mir, die Herrschaften seien nach Italien verzogen und die Villa stände zum Verkauf. Das Häuschen des Gärtners, zugleich die frühere Garage, liegt dicht neben der Seiteneinfahrt in den Park, und da Emanuel, den ich über alles liebe, so leichtfertig war, anzunehmen, er hätte jeden Verfolger abgeschüttelt, kletterte ich auf die Mauer und schaute durch eine Spalte in den Fenstervorhängen in das erleuchtete Stübchen hinein. Nachdem Bowen gemerkt hatte, daß sein Koffer vertauscht war, führte er sich wie ein Tollhäusler auf, rief dann den Gärtner herbei, einen älteren, ernst blickenden Mann, und auch der bekam einen Mordsschreck. Beide holten aus der Garage ein geschlossenes Kleinauto hervor, – ich konnte alles beobachten. – Plötzlich ertönte in der Garage ein heller Schrei, Bowen schlug das Garagentor zu, und nachdem die beiden wieder im Freien erschienen waren, schoben sie den Wagen in die Garage zurück.“
Fred lächelte stolz… Entschieden kam jetzt die Hauptsache.
„Aber – das Auto war nicht mehr leer. Gut, es war von mir ein gewisses Risiko, doch ich habe noch immer auf meine flinken Beine vertraut…“
Harald hüstelte ungeduldig…
„Also wen fanden Sie in der Garage, natürlich säuberlich gefesselt und geknebelt in dem Auto? – Wahrscheinlich Miß Quinton…“
„Fehlgeschossen! – Ich fand auf einem Lager von Wolldecken in einem Seitenraum das entzückendste Tanzgirl, das je über eine Bühne…“
„… also Isolde Borg. – Und dann‥?!“
Fred wurde kleinlaut.
„Es war da noch eine Person mit Nachschlüsseln bewaffnet lautlos nach mir in die Garage eingedrungen…“
„Wer?“ fragte Harst gespannt.
Fred massierte seine Nase.
„Das war nun Miß Quinton… Und die niederträchtige Person…“
„Schenken Sie sich alles Beiwerk…“
„… die Quinton hatte noch das bläuliche Gesicht, den Messerhelden aus dem D-Zug, bei sich, und die beiden zwangen mich mit vorgehaltenen Pistolen zur Umkehr, nachdem sie meine Waffe entladen hatten. – Immerhin, ich habe doch so einiges zu berichten gehabt, das müssen Sie zugeben, Herr Harst…“
Dieser Harst starrte wortlos vor sich hin, so daß der arme Fred immer unruhiger auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Endlich sagte Harald achselzuckend: „Von dem Burschen, dem Spanier, war nichts anderes zu erwarten, als daß er zwei Herren diente… Miß Quinton bezahlt ihn zweifellos… Ich wünschte, wir wüßten, wer diese Frau mit dem Halbschleier und dem stark gepuderten Gesicht in Wahrheit sein mag.“
Fred wurde wieder etwas selbstbewußter. „Das weiß ich nicht… Aber etwas anderes weiß ich: Fräulein Borg ist von den beiden losgebunden und dann selbst verschleppt worden. Diesmal verlor ich die Spur des Autos, es war nämlich eine sehr schnelle Limousine, und meine Autotaxe hätte ich am liebsten in die Luft gesprengt. Was helfen einem solche Benzinschnecken – nichts!“
Da schlug das Telephon an. Es spricht sehr laut, und wir hörten jedes Wort:
„Hier der Spanier… – Sie, Herr Harst? – Das freut mich: Was zahlen Sie für eine wichtige Nachricht?“
„Nichts… Ich weiß alles.“
„So?!“ tönte die Stimme am anderen Ende. „Wissen Sie denn, wo Isolde Borg ist?“
„Ich werde sie finden…“
„Überflüssig, – sie liegt in ihrem Bett bei Emma Märztaler Nr. 43 – Und wo ist Bowen, he?! – Nun, was zahlen Sie?!“
„Dreihundert Mark, obwohl Sie heimtückischer Doppelverdiener dreihundert von anderer Sorte verdient hätten. Sie können sich das Geld sofort holen, an meiner Gartenpforte, und ich werde Sie unbelästigt lassen.“
„Abgemacht! Bowen hat ein Flugzeug bereit gehabt und ist auf dem Rückweg nach Amsterdam… Schluß. In zehn Minuten bin ich bei Ihnen.“
Er kam auch, Harald händigte ihm das versprochene Geld aus, und Fred und ich beobachteten vom Fenster aus, wie schleunigst der Mann wieder verduftete, während Harst ihm mit der Faust nachdrohte
4. Kapitel
Die geheimnisvollen Diebstähle.
Für uns wurde es noch eine lange Nacht. –
Harald erstattete Bericht über seine Amsterdamer Tätigkeit. Ich muß als Chronist also wiederum einen Sprung rückwärts tun. Ich schildere die Ereignisse jedoch auf meine Art.
Prof. van Buik, Direktor der Staatsklinik in Amsterdam, schritt an einem der vorausgegangenen Abende ruhelos in seinem großen Laboratorium hin und her. Er war allein, seine Assistenten hatten sich längst verabschiedet, und van Buik plagte sich mit sorgenschweren Gedanken ab.
Da trat der Diener ein und meldete ihm einen deutschen Herrn, – Arnold hieße der Besucher, oder so ähnlich.
Buiks kluges, blasses und übernächtigtes Gesicht veränderte sich jäh.
„Aus Berlin?“ fragte er eifrig.
„Ja, – Herr Arnold aus Berlin…“
„Ich lasse bitten…“
Buik schaute gespannt auf die Tür. Der Fremde, der nun eintrat, hatte mit dem Erhofften wenig Ähnlichkeit. Doch leise sagte er dann: „Ich bin Harst, Herr Professor…“
Buik strahlte und schüttelte dem späten Gast freudig die Hand. „Setzen Sie sich… Ich habe es bereits bedauert, daß wir damals zu keiner Einigung in Berlin gelangten… – Hier sind Zigaretten, hier ist Likör… Bitte… – Wie haben Sie mich gefunden?“
Harst rieb ein Zündholz an.
„Von den van Buiks hier in der Stadt kamen nur zwei in Betracht, Ihr Bruder und Sie, Herr Professor… Ihr Name als Fachmann für moderne Strahlenforschung ist bekannt genug. Deshalb suchte ich zunächst in Amsterdam, und ich hatte Glück. Ihr genau wie Sie früh verwitweter Bruder ist Besitzer der Edelsteinschleiferei ‚Exakt‛, obwohl er sich bescheiden Kaufmann nennt. Nebenher handelt er auch mit Edelsteinen. Das alles war leicht zu erfahren.“
Buik nickte. „Für Sie leicht, werter Herr Harst.“
Er wurde wieder etwas nervös und betupfte sich die Stirn. „Aber das, was uns zugestoßen ist, wissen Sie nicht… Es ist … furchtbar! Wenn die Sache herauskommt, sind mein Bruder und ich erledigt‥!“
Er trank schnell einen Likör und schaute Harst forschend an. Dessen Lächeln irritierte ihn…
„Wissen Sie doch etwas?!“
„Ich glaube, Herr Professor… Ich lese ja so ziemlich alle Zeitschriften und Zeitungen… – Staatliche Institute haben Ihnen für großzügige Versuche gewisse wertvolle Dinge anvertraut, und ich fürchte, die sind Ihnen gestohlen worden.“
Buik senkte den Kopf.
„Ja… Es ist so…“
„Und Ihrem Bruder erging es ähnlich, Herr Professor. Ich habe gewisse Beziehungen… Ihr Bruder sollte einen Teil der englischen Kronjuwelen umschleifen, da der bisherige Schliff veraltet war. – Die Juwelen sollten vorgestern abgeliefert werden, aber Ihr Bruder bat noch um zwei Wochen Frist, die Arbeit sei noch nicht vollendet. – Wie gesagt, – ich habe Freunde in London, und Chiffredepeschen laufen sehr schnell. – Wieviel Steine sind gestohlen?“
„Acht,“, stöhnte van Buik. „Die allergrößten…“
„Und was taten Sie beide bisher in dieser Angelegenheit?“
„Wir haben den besten englischen Privatdetektiv herübergerufen, der freilich bat, Sie mit zu Rate zu ziehen.“
„Also den Deutschengländer Fred Altenau…“
„Ja… Ich erwarte ihn heute abend zum Bericht.“
„Ich kenne ihn flüchtig, Herr Professor. Wo bewahren Sie die gewissen geliehenen Dinge auf?“
„Dort in dem eingemauerten modernen kleinen Tresor. Ein gewaltsamer Einbruch hat nicht stattgefunden, genau so wenig bei meinem Bruder. Die Sache ist ein unlösbares Rätsel.“
Der Eintritt des Dieners, der den erwarteten Herrn meldete, unterbrach das Gespräch. –
Fred Altenau, dessen Wiege in Pommern gestanden hatte und der aus Not seinerzeit nach England gegangen war, begrüßte Harst mit ehrlicher Genugtuung. Er war ein schlanker sportlich aussehender Mann mit blondem Scheitel, und ebenso tadellos wie sein Anzug war auch sein weltmännisches Auftreten. –
Altenau gab unumwunden zu, er sei noch keinen einzigen Schritt in der Sache vorwärtsgekommen.
Die drei Herren schwiegen eine geraume Weile, bis Harst ein anderes, wenn auch verwandtes Thema anschnitt.
„Herr Professor, Ihr Bruder ist im letzten Jahr schon einmal auf geheimnisvolle Weise bestohlen worden. Er hatte daraufhin besondere Vorsichtsmaßregeln getroffen, und die Diebe unterließen weitere Versuche an sein Eigen zu gelangen. Die Gesellschaft, bei der Ihr Bruder versichert war, hatte sich, ohne Nennung des Namens Ihres Bruders, an mich gewandt – vor Monaten war das. Ich lehnte damals ab, da ich intensiv mit einer anderen Sache beschäftigt war. – Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß all diese Diebstähle nur von Personen ausgeführt sein können, die Ihnen oder Ihrem Bruder – ‚freundschaftlich‛ – sehr nahestehen…“
„Allerdings,“ mischte sich der sympathische Altenau ein. „Denn beide Tresore haben Kombinationsschlösser, und…“
Harst schien gar nicht hinzuhören. Er schaute wie hypnotisiert auf den Schreibtisch des Professors. Die Herren saßen in einer abgeteilten Ecke des Laboratoriums…
Altenau verstummte etwas verletzt. Um so überraschter war er, als Harst sich plötzlich erhob und sich über den Schreibtisch beugte, über dem ein Ölbild von Wert hing.
„Ich glaube eine Spur gefunden zu haben,“ erklärte er leise. „Ich will Ihnen nichts versprechen, Herr Professor, aber ich hoffe den Schaden wieder einrenken zu können. – Herr Altenau, verabschieden Sie sich bitte und erwarten Sie mich auf dem alten kleinen Friedhof neben der Nikolauskirche. Seien Sie vorsichtig, denn Sie werden bestimmt beobachtet. Ich weiß, ihr jüngeren Kollegen belächelt das Maskieren. Doch es hat seine Vorteile. Der Herr Professor wird mich durch einen Seitenausgang aus dem Haus lassen.“ –
Eine knappe Stunde später schwang sich eine flinke Gestalt über das rostige Friedhofsgitter und tauchte im Schatten der alten Trauerweiden unter.
Auf einem Grabstein saß Fred Altenau und rauchte eine Zigarre.
„Ich bin außerordentlich gespannt, Herr Harst, was Sie mir zu sagen haben,“ begann er sofort.
„Wenig – leider,“ dämpfte Harald diese übereifrigen Hoffnungen. „Es ist nicht meine Art, meine Karten vorzeitig aufzudecken. Ich habe Sie nur zu fragen, ob Sie sich meinen Arbeitsmethoden unterordnen wollen.“
„Sehr gern!“
Das war kurz und ehrlich.
„Gut denn… – Kennen Sie einen Herrn Emanuel Bowen?“
Altenau fuhr zusammen.
„Wier kommen Sie auf den Mann? Sie sind doch erst heute hier eingetroffen?!“
„Es genügt: Ich kenne ihn nun! – Weshalb sind Sie gegen den Herrn eingenommen? Denn das sind Sie. Ich höre es dem Ton Ihrer Stimme an. Bitte – ganz aufrichtig.“
Der Deutschengländer hüstelte. „Schön, – ganz aufrichtig. Bowen interessiert sich allzu sehr für eine Tänzerin, die … hm ja, eine alte Liebe von mir ist. Wir konnten uns nicht heiraten, da wir beide nichts besaßen, und jetzt, wo Isolde Borg hohe Gagen bezieht und auch ich eine sichere Existenz habe, scheint ihre Neigung erkaltet zu sein, was mich sehr schmerzt. – Sie tritt hier seit vier Wochen am Gay-Theater auf, und sie…“
„Danke, lieber Herr Altenau… – Ich werde Ihnen nun ganz bestimmte Instruktionen geben, die Sie genau befolgen müssen, ohne viel zu fragen!“
Einen Moment Zögern – dann drückte Altenau fest Haralds Hand.
„Abgemacht!“
„Wir müssen,“ sagte Harst scharf überlegend, „zunächst die Probe aufs Exempel machen, das heißt Bowen so einschüchtern, daß er sich eine Blöße gibt – falls er ein schlechtes Gewissen hat.“
„Wie, Sie halten diesen aufgeputzten Spießbürger für den Dieb der Juwelen, Herr Harst?! Unmöglich!!“
„Warten Sie ab… – Nein, der Dieb ist er nicht, aber er ist der Anführer einer Verbrecherbande, – – bitte, keine Zweifel, lieber Altenau… Auch mir schlichen vorhin drei Kerle nach, obwohl Prof. van Buik mich durch den Keller hinausließ.“
„Und mir ebenfalls drei, – aber ich war schlauer!“
„Sehen Sie, dieses Massenaufgebot von Verfolgern beweist, daß die Gauner über sehr viel Leute verfügen. – Nun hören Sie zu. Sie müssen…“
… In derselben Nacht gegen drei Uhr erwachte Emanuel Bowen in seinem Schlafzimmer durch einen Lichtschein, der über sein Gesicht glitt. Er schnellte hoch, aber Altenau war zu flink, rutschte schon an dem Seil vom Balkon in den Garten hinab und ließ droben einen sehr bleichen Mann zurück, der mit zitternden Händen das Pillenschächtelchen betrachtete, das vor seinem Bett gelegen hatte‥: Radiumhaltige Anregungspillen.
Bowens hagere Gattin schnarchte im Nebenzimmer, und der blasse Mann war froh, daß sie einen so festen Schlaf hatte. – –
Dies war Haralds knapper Bericht. Zu weiteren Angaben konnten wir ihn durch nichts bewegen. Immerhin wußten wir jetzt, weshalb wir, Fred und ich, in Amsterdam so merkwürdige Befehle und nachher so grobe Anschnauzer erhalten hatten.
5. Kapitel
Wer ist nun eigentlich Miß Quinton?
„Gustav,“ sagte Harst gleich darauf zu unserem Hauswart und Wächter, neben dem seine fette, scheinbar faule und dumme Skylla hockte, „Sie schlafen jetzt hier in diesem Zimmer und legen sich Ihre Schießeisen griffbereit. Wahrscheinlich wird wieder ein Einbruchsversuch unternommen werden.“
Kautschuk-Gustav griente drohend. „Die Kerle können mir jetzt schon leid tun, Herr Harst!!“
„Halt, – so war’s nicht gemeint! Nur Schreckschüsse, Gustav! Außerdem habe ich vom ‚Argus‛ noch zwei Agenten draußen postiert.“
„Was total überflüssig ist!“ grunzte Schmiedecke übelgelaunt. „Sie kennen meine Scylla nicht!! Die sieht eine Laus über den Teppich kriechen. – Also gut, Schreckschüsse… Glückliche Reise…“
Wir drei waren bereits abmarschfertig, benutzten den geheimen Hinterausgang, und bald schon versank das Häusermeer Berlins im Morgengrauen unter uns. Der große Vogel flog stolz gen Holland, dem Tulpenland. – –
An der Rückseite des Parkes vom Haus ‚Maienträume‛, zog sich ein breiter Kanal hin, an dessen Ufern vereinzelte Privatvillen, Bauernhäuschen und bescheidene Sommerlauben lagen. Die Kanalufer waren mit Weiden dicht bewachsen, und schmale Gehölze verliehen der flachen Wiesenlandschaft ein buntes Aussehen, genau wie das lustige Klappern einiger Mühlen die Anwohner ebenso wenig störte, wie es das Rufen und Schreien der Schleppschiffer tat, die mit ihren Kähnen zumeist unter Vorspann eines Motorbootes den zahllosen Türmen des nahen Amsterdam mit ihren verschiedenen Frachten behaglich näherkamen.
Nur der jetzt überaus nervöse Herr Bowen hatte an alledem etwas auszusetzen. So sicher er sich auch bisher auf dem einsamen, schönen Grundstück gefühlt haben mochte, neuerdings war abermals und zwar überreichlich Anlaß vorhanden, die ihn verzehrende geheime Angst zu steigern und gewissen Leuten den Tod zu wünschen…
Und was an ihm läge, nichts sollte versäumt werden, mit diesem heimtückischen Verfolgern gründlichst aufzuräumen.
Emanuel stand zur Zeit an einem der beiden großen Schiebefenster seiner Arbeitsräume im Erdgeschoß, und er konnte von hier aus sowohl den Kanal als auch die benachbarten Gebäude durch einen breiten Durchblick in den alten Parkbäumen genau überschauen.
Sein Herrenzimmer und seine Bibliothek waren stilvoll eingerichtet, und der mit Büchern und Schriften nebst einer Schreibmaschine bedeckte Diplomatentisch vor dem Fenster verriet, daß Bowen sich viel mit Fragen von Kindererziehung beschäftigte und daß seine Werke zu diesem Thema hier auf dem idyllischen Landsitz entstanden sein mochten.
Das lustige Lachen und Kichern der Mädchenschar drunten im Park ärgerte ihn jetzt.
Ihn ärgerte heute die Fliege an der Wand, – seine grauhaarige, spitznasige Gattin, die er lediglich aus sehr materiellen Interessen seinerzeit umworben hatte, war heute beim Frühstück wieder so eisig-verschlossen gewesen, daß er sie gar nicht zu fragen wagte, was sie gegen ihn vorzubringen hätte und weshald sie schon wieder nach der Stadt führe. –
Er traute ihr nicht mehr, er hatte das scheußliche Gefühl, sich nun gänzlich von ihr durchschaut zu sehen, und so wenig ihm auch an einem seelischen Verstehen zwischen ihnen beiden lag, letzten Endes war sie die Besitzerin von ‚Maienträume‛ und eines stattlichen Bankguthabens.
Wenn’s dies nur allein gewesen wäre, was ihm so peinvolle Stunden des Grübelns bereitete! Aber da waren die bewußten drei Personen, die er nach den neuesten Meldungen aus Berlin wiederum hier in nächster Nähe vermutete, obwohl sie nicht in Amsterdam gelandet waren, sondern in Leyden, und deren Spur seitdem nicht aufzufinden war.
Und dann war da diese heimtückische Isolde Borg, die man ihm in Berlin entführt hatte und die nun wieder allabendlich hier am Gay-Theater ihre extravaganten Tänze zeigte…
Natürlich war es diese hübsche Kanaille gewesen, die auf dem Kölner Hauptbahnhof sicher mitgeholfen hatte, die Kofferauswechslung zu vollziehen, indem sie ihn dazu verleitete, sich so weit zum Abteilfenster hinauszulehnen.
Und endlich war gar noch diese verdammte Malerin drüben jenseits des Kanals, die mit ihrer Staffelei gestern hier aufgetaucht und soeben von neuem erschienen war.
Er griff nach einem Fernglas und beäugte sie. Wenn der dichte Halbschleier nicht gewesen wäre, hätte er schwören mögen, es sei seine eigene Frau. Aber Wilhelminje würde wohl kaum zu solchen Spionagemitteln greifen…
Andererseits: Gestern war Minje in der Stadt gewesen, und auch da war die Malerin urplötzlich sichtbar geworden, und heute dasselbe ‚zufällige‛ Zusammentreffen!! – Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. – Minje war eine sehr kluge Person, und… – Nun, das würde sich feststellen lassen.
Er verschloß die Türen, verhängte die Schlüssellöcher, nahm an dem Schreibtisch und an der daraufstehenden Schreibmaschine gewisse Manipulationen vor und begann zu tippen, ohne einen Papierbogen eingespannt zu haben.
Die Fenstervorhänge hatte er nicht zugezogen. Wer sollte ihn so beobachten können?! Der Kanal lag hundert Meter entfernt, und die Kahnschiffer waren harmlose, stupide Burschen. – –
Fred Steen saß seit dem frühen Morgen in echt holländischem ‚Schipperkostüm‛ in einer Baumkrone dreißig Meter von dem emsigen Emanuel entfernt, und auch nicht das Allergeringste von dessen Tun und Treiben war ihm entgangen. Er hatte ein Fernglas und einem winzigen Telephonhörer bei sich und meldete alles dem schmierigen älteren Mann, der in einer Kammer des mit Ziegelsteinen beladenen und am diesseitigen Ufer vertäuten Kahnes saß und die empfangenen Meldungen sofort nach einem bescheiden, gestern früh vermieteten Sommerhäuschen weitergab, wo ein dritter Mann sie entgegennahm und wörtlich niederschrieb.
Auf dem Ziegelkahn befanden sich noch zwei Schiffer, holländische Kriminalbeamte, die jedoch mehr Statistin blieben. Der die empfangenen Meldungen Weiterververmittelnde in der armseligen Kajüte war ich, der Mieter des Häuschens weiter nach der Stadt zu ein Herr Unbekannt. Harst war es nicht, und auch der Kollege Altenau konnte es nicht sein, da er ‚Stadtdienst‛ in der Nähe des Gay-Theaters hatte.
Das bisherige Spiel ging also lustig weiter. Fred und ich waren ‚Komparserie‛, und unser Famulus schimpfte über dieser Art Behandlung noch ärger als ich.
Jetzt allerdings raunte er mit durch das primitive Telephon zu: „Feine Sache, die Schreibmaschine!! Wer weiß, wohin die Leitung läuft… Mir wär’s in übrigen ganz recht, wenn Emanuel der Malerin eins auswischen lassen würde, vielleicht kommen wir auf diese Weise dahinter, was die dürre Latte mit all diesen Dingen zu tun hat.“
Miß Viktoria Quinton bildete unseren beständigen Ärger. Harald hatte uns streng befohlen, sie sowohl als auch den ‚Spanier‛, falls dieser auftauchen sollte, unbehelligt zu lassen und die beiden nur zu beobachten.
Dann kam auch schon eine neue Meldung Freds: „Emanuel hat das Tippen eingestellt, und sein ganzes Interesse konzentriert sich wie gestern auf Miß Quinton. Er hat sich zum Fenster hinausgelehnt und das Fernglas an den Augen. Herr Schraut, warnen Sie den zweiten Meldeempfänger nachdrücklichst. Meine Vermutung dürfte stimmen, Emanuel führt etwas gegen die hagere im Schilde, schon sein niederträchtiges Grinsen verrät ihn… –
Ich komme sogleich an Bord… Den Hörer stecke ich wieder in das Baumloch.“
Ich gab das alles sofort weiter, und die dumpfe Stimme des Unbekannten sagte nur bestätigend: „Verstanden! Vorläufig also Schluß.“
Auch ich erhob mich. Ich hatte das ganz bestimmte Vorgefühl, daß die Dinge nunmehr ein bedrohliches Tempo annehmen würden und daß es meine Pflicht war, irgendwie einzugreifen, falls sich dies als nötig erweisen sollte.
Fred erschien an Bord – sehr außer Atem. „Herr Schraut, Miß Quinton hat ihren Platz gewechselt und sitzt jetzt näher an dem Wäldchen. Wir wollen…“
„… Wir werden!“ unterbrach ich ihn. „Das Motorboot liegt bereit… Hinein mit uns… Aber halbe Kraft, Fred… Damit wir nicht auffallen.“
Das zu dem Ziegelkahn gehörige Benzinboot war ein altehrwürdiger Kasten, der seine Mucken hatte. Trotzdem kamen wir in Fahrt und glitten gemächlich den Kanal entlang. Als wir die einsame Malerin etwa noch hundert Meter vor uns hatten, näherte sich von der Stadt her ein sehr elegantes Motorboot, dessen Klappverdeck überflüssigerweise hochgeschlagen war. Der einzelne Mann am Steuer hatte einen fuchsigen Bart und trug eine Art Jachtuniform, die ihm zu eng war. –
Das Boot schlich jetzt dahin, und als es auf einer Höhe mit der Malerin war, bemerkte ich genau, daß aus dem Klappverdeck etwas wie ein Büchsenlauf sich vorschob. Ich wollte eine Warnung hinüberbrüllen, – doch es war zu spät, daß offenbar mit einem Schalldämpfer versehene Gewehr spie bereits Schuß um Schuß. Die Malerin sank hinten über, riß die Staffelei um, rollte die Böschung hinab ins Wasser, das helle Boot wendete, jagte davon, und unser elender Benzinkahn knatterte eiligst der Stelle zu, wo der Körper der Ärmsten versunken war.
Wenige Meter weiter lag ein leerer, offener Frachtkahn halb auf dem Trockenen, und als Fred allzu eifrig mit dem Bootshaken nach der Leiche suchte und nur den moorigen Grund aufrührte und das braune Wasser noch mehr trübte, rief uns eine sehr bekannte Stimme aus einem der Löcher des morschen Holzkahnes zum ersten Mal seit langer Zeit anerkennend zu: „Ihr seid flink gewesen, sucht nur weiter. Ich habe Miß Quinton bereits herausgefischt, aber es ist notwendig, daß Emanuel den Eindruck erhält, die Tote sei versunken…“
Unter diesen Umständen tat ich nun meinerseits alles, den Eindruck zu erwecken, daß wir in wilder Hast die Toten und Angeschossene aus dem schlammigen Kanal bergen wollten.
Nach fünf Minuten rief Harst abermals: „Achtung jetzt! Nähert euch mit dem Boot, hierher, – – so, stellt euch nebeneinander, – – da habt ihr sie!“
Eine lose Planke des wracken Holzkahnes öffnete sich, und uns rollte buchstäblich eine triefende Frauengestalt in die Arme… – –
Emanuel Bowen brach der Angstschweiß aus… Das Weib lebte ja noch‥! Diese blöden Kahnschiffer hatten sie wahrscheinlich rechtzeitig noch herausgeholt. Mit stieren Augen verfolgte er die Bewegungen des Bootes, das jetzt auf die Parktreppe, die zum Kanal hinabführte, zuhielt und angelegte.
Seine Arme schlotterten… Endlich konnte er das Fernglas in die richtige Lage bringen. Ein heiseres Röcheln sprudelte über seine Lippen… Denn die Frau, die jetzt den Parkweg langsam daherkam, war … seine Frau, war unverletzt, lebte, nur ihre Kleider waren naß und schlammig, und das feuchte Haar hing ihr unordentlich um die Stirn.
Er taumelte zum Schrank, füllte ein großes Glas mit stärkstem Branntwein, goß ihn wie Wasser hinab und sank ächzend in einen Sessel. Sein Hirn war leer vor wahnwitziger Angst, – seine eigene Frau war gegen ihn, und trotzdem konnte sie nichts Bestimmtes wissen, das war bei seinen Vorsichtsmaßregeln ja unmöglich! Wie war man ihm überhaupt auf die Spur gekommen, – wie nur?! Wie konnte man auch nur vermuten, daß er, der biedere, angesehene Emanuel Bowen, als treibende Kraft hinter diesen Diebstählen steckte? Wie konnte man ihm gerade den einen Koffer vertauschen, der… –
Nein, das alles ging über sein Begriffsvermögen, diese seine Gegner mußten mit der Hölle im Bunde stehen! Aber – – hatten diese Feinde denn schlüssige Beweise gegen ihn?! Wer wollte es ihm auf den Kopf zusagen, daß es wirklich sein Koffer gewesen sei, der in Köln vertauscht wurde?! Etwa seine Frau?! Er besann sich sehr gut, daß eine hagere grauhaarige im Nebenabteil gesessen hatte… War es wirklich Minje gewesen?! – – Allmählich schöpfte er wieder Mut, und als nach etwa einer halben Stunde ein Stubenmädchen ihn zu seiner Frau bat, war er vollkommen Herr seiner Nerven und ebenso vollkommen betrunken, freilich handelt es sich um jene Art Trunkenheit, die den Körper infolge hochgradiger Erregung in keiner Weise beeinflußt, sondern nur die Nerven wohltuend entspannt.
Frau Minje Bowen hatte sich derweil umgekleidet und saß in ihrem Arbeitszimmer hinter dem Schreibtisch.
„Setz dich, Emanuel,“ meinte sie sehr kleinlaut. „Mir ist da vorhin etwas sehr Unangenehmes zugestoßen, als ich heimlich meiner Malleidenschaft nachging. Du weißt, ich habe wenig Zeit dazu, aber – ich leiste etwas, sogar Prof. van Buik hat ein paar Bilder von mir gekauft. Ich saß also am Kanalufer, und plötzlich schoß man aus einem Motorboot auf mich. Zum Glück hatte ich es mit miserablen Schützen zu tun und rollte mich sehr geistesgegenwärtig in den Kanal… Freundliche Schiffer holten mich wieder heraus, nachdem ich…“
Emanuel rief ebenso entrüstet wie entsetzt: „Wie, man schoß auf dich?! Man trachtete dir nach dem Leben?! Wo sind diese Schurken, die…“
Frau Bowen machte eine gleichgültige Handbewegung…
„Es muß ein Irrtum, eine Verwechslung gewesen sein…“
Aber sie blickte dabei starr vor sich hin.
„Verwechslung?!“ fragte ihr Gatte sehr gedehnt. „Mit wem?! Sage mir die Wahrheit, Minje‥! Hast du auch gestern dort am Kanalufer gemalt?“
„Ja…“ Noch immer hielt sie den Blick gesenkt, denn nur so wurde es ihr möglich, diese Komödie durchzuführen… Würde sie aufgeschaut und dieses gerötete und gedunsene Gesicht mit den kalten Augen vor sich gesehen haben, wäre ihr schon aus Haß und Empörung die Wahrheit entschlüpft.
Emanuel überlegte. Sein Hirn arbeitete ganz normal wie zu den besten Zeiten.
„Minje, – noch eins,“ sagte er dann ohne besondere Betonung „Warst du etwa vor … vor vier Tagen in Köln?“
„Nein, Emanuel…“ – Aber ihr Kopf blieb gesenkt, und ihre zarten Finger spielten nervös mit einem Brieföffner. „Ich bitte dich auch, mir jetzt Ruhe zu gönnen…“ fügte sie sehr matt hinzu. „Die Sache ist für mich abgetan… Es war eben eine Verwechslung.“
Bowen entfernte sich nach einigen teilnahmsvollen Worten.
Die arme Frau fühlte sich am Ende ihrer Kräfte. Sie hatte blindlings den Anweisungen der vertrauenerweckenden grauhaarigen Engländerin gehorcht, die ihr so zartfühlend beigebracht hatte, wer Emanuel Bowen sei: Ein Verbrecher! –
Als Frau Bowen eine halbe Stunde später den Lehrsaal des jüngsten Jahrgangs ihrer Zöglinge betrat, lag um ihren Mund wieder das unmerklich gütigen Lächeln, das ihrem strengen verschlossenen Gesicht jenen mütterlichen weichen Reiz verlieh, der ihr die Herzen all dieser zumeist mutterlosen Kinder vertrauensvoll entgegenfliegen ließ.
6. Kapitel
Bilder auf Stahlplatten.
Kaum hatten Fred und ich nach der Rettung der Hageren die Kajüte des Ziegelkahnes wieder betreten, als das Telephon auch schon anhaltend schnurrte.
„Befehl, – Punkt zwölf mittags Polizeipräsidium, Rückseite, wo Koks abgeladen wird. – Zivil. – Größte Vorsicht. – Stopp.“
„Hallo, auch Fred?“ fragte ich den Herrn mit der dumpfen Stimme.
„Wen? – Ach so, Herrn Steen… Ja, alle beide. Kahn bleibt liegen. Nur Besprechung.“
Fred hatte für den Unbekannten in dem kleinen Kanalhäuschen wieder ein paar Unliebenswürdigkeit bereit. Dann, als wir uns in Zivil warfen, meinte er tiefsinnig:
„Es war eine Niete, Herr Schraut.“
„Wer?“
„Die Frau Bowen. Das war nie die Viktoria Quinton, der ich einen Kropf und einen Buckel wünsche.“
„Aber hager war sie und auch grau, und…“
„Sie war es nicht!“ beharrte Fred bockbeinig.
Dann machten wir uns mit dem Benzinkahn, bedeckt mit Leinwand, auf den Weg.
Um dreiviertel zwölf fuhr eine Taxe durch Amsterdams sommerliche Straßen, über Brücken, unter denen die Grachten braunen und schmutzig in der Hitze dufteten, und die ellenlangen Verwünschungen des einen Insassen unseres Wägelchens galten ausschließlich einem zweiten Auto, das in vorsichtiger Entfernung stets hinter uns blieb und dessen Fahrgäste Fred in der Tat allen Grund zu jugendlich-leidenschaftlicher Erregung gaben. Es waren Miß Quinton und der Spanier. Das besagte genug.
Unser Schofför mußte die tollsten Umwege und Zickzackkurse einschlagen: Das Paar war nicht abzuschütteln, und der Doppelverdiener von Spanier lächelte sogar noch in der Nähe des Polizeipräsidiums so unverschämt, als könnten ihm alle Kriminalbeamten gut sein…
„Ein widerwärtiger Bursche!“ erklärte Fred wütend.
Dann aber hielten die Verfolger. Die zahlreichen Polizisten hier bereiteten den beiden doch wohl Unbehagen. Wir jagten noch um zwei Ecken, sprangen hinaus, zahlten und wurden auch schon von einem Arbeiter angesprochen, der uns umgehend ein offenes Kellerfenster zeigte, in das Kokskörbe entleert wurden.
Fred zauderte. Sein Modellanzug tat ihm leid.
Aber wir gelangten schließlich wohlbehalten unter fachmännischer Führung in ein Vorzimmer, und gleich darauf tat sich eine Tür auf und Harst winkte uns in den großen Nebenraum, wo wir außer dem Chef der Kriminalpolizei auch Fräulein Isolde Borg, Fred Altenau und zwei Kommissare vorfanden.
Ich hielt es für meine Pflicht, Harald zunächst einmal zu warnen. Er hatte uns sehr freundlich begrüßt, und das gab mir nach den diversen Rüffeln und Verstimmungen Mut.
„Harald, die Graue und der Spanier haben uns verfolgt. Die Idee mit dem Kellereinlaß war gut, wir verschwanden sehr schnell von draußen.“
Er schrak doch etwas zusammen.
„Seid ihr bestimmt nicht beobachtet worden, wie ihr in dem Kellerfenster verschwandet?“
„Nein…“
Er trat schnell an das eine Fenster und blickte hinab.
„Ah – da hält die Taxe noch… Die beiden zahlen… Jetzt besteigen sie einen Autobus…“ – Er zuckte die Achseln. „Nichts dagegen zu machen! Es sind eben flinke, schlaue Herrschaften…“
Dann wurden Fred und ich der etwas blassen Tänzerin und den Beamten vorgestellt, und wir nahmen Platz. Isolde Borg hatte eine sehr eisige, ablehnende Miene aufgesetzt und sagte zu uns sichtlich verärgert: „Ich betonte schon einmal, Herr Kriminaldirektor, daß ich absolut nichts aussagen kann… Weshalb diese geheimnisvolle Vorladung?!“
„Nichts aussagen will,“ verbesserte Harst kühl. „Sie könnten schon so manches bekunden, wenn Sie nur wollten, Fräulein Borg. Ich begreife Sie nicht. In Köln sind Sie meinen Anweisungen so genau gefolgt und haben uns viel genützt, jetzt werden Sie plötzlich…“
„Das ist meine Sache!“ – Oh, sie konnte sehr energisch werden, und es trat dann auch ein recht peinliches Schweigen ein.
Fred Altenau warf ihr geradezu beredt-flehende Blicke zu. Der Deutsch-Engländer litt sichtlich unter diesem völligen Meinungsumschwung seiner alten Liebe.
Harst begann von neuem. „Sie meinen, daß es Ihre Sache sei, wie Sie sich zu diesen Dingen stellen, Fräulein Borg. Das trifft nicht ganz zu. Hier liegt ein öffentliches Interesse vor, eine Verbrecherorganisation zu entlarven, als deren Haupt bereits Emanuel Bowen mit einiger Gewißheit festgestellt ist.“
„Ich weiß nichts davon,“ beharrte sie mit aller Schroffheit auf ihrem ablehnenden Standpunkt.
„Und die Vorgänge in Berlin-Dahlem in der Garage?!“ mahnte Harst mit Nachdruck.
Isolde Borg zuckte die Achseln. „Mein Erinnerungsvermögen setzt in vielen Punkten aus… Ich jedenfalls könnte Bowen nicht belasten, ich erkannte keinen meiner Angreifer.“
„Merkwürdig! Sie werden mir immer unverständlicher. Andererseits haben Sie soeben etwas verraten, das vieles erklärt.“
Sie fuhr temperamentvoll empor. „Nichts habe ich verraten, gar nichts! Wenn die Herren hier die Frage klären wollten, ob Bowen reif zur Verhaftung sei, so erkläre ich dazu: Ich kann nicht gegen ihn vorbringen, absolut nichts!“
„Dann müssen wir eben noch warten,“ meinte Harst mit einer abschließenden Geste. Diese Besprechung ist ergebnislos verlaufen – leider!“
„Ja, warten Sie ab!“ rief die Tänzerin allzu hastig und allzu freudig. „Auch ich halte das für am richtigsten, denn…“
Das Telephon auf dem Schreibtisch des Chefs hatte sich gemeldet.
Der Kriminaldirektor nannte Dienststelle und Namen.
„Gewiß, Herr Bowen, – ich persönlich… – Was hätten Sie so Eiliges?“
Er horchte, sein Gesicht drückte stärkstes Befremden aus…
Dann: „Natürlich bin ich für Sie zu sprechen… Also in einer halben Stunde…“ –
Er legte den Hörer weg und blickte Harst sinnend an „Unser Mann will seine Beschwerde persönlich vortragen… Er scheint den Spieß umdrehen zu wollen… – Herr Harst, ob die hagere Miß Quinton, die nie zu erwischen ist, nicht doch für Bowen arbeitet?! Mir macht es den Eindruck, als wüßte er, daß hier große Beratung stattfindet.“
Haralds undurchdringliche Züge wurden noch steinerner.
„Auch mir ist diese Quinton in vielem ein zu widerspruchsvolles Wesen. In Berlin befreite sie im Verein mit dem Spanier Fräulein Borg und…“
„Ich kenne die Person nicht,“ warf die Tänzerin ein. „Ich darf mich wohl verabschieden. Ich habe um ein Uhr Probe…“
Mit einem sehr kühlen Kopfneigen ging sie hinaus, und einer der Kommissare geleitete sie nach unten. Bis zum Eintreffen des etwas aufgeregten, aber dafür umso tadellos gekleideteren Emanuel gab es zwischen uns Zurückbleibenden ein recht müßiges Frage- und Antwortspiel, an dem Harst sich kaum beteiligte. Er blieb bei seiner Methode, möglichst wenig preiszugeben.
Als Bowen eintrat, befanden sich im Chefzimmer nur noch der Leiter der Kriminalabteilung und wir drei. Bowen stutzte leicht. Seine Fischaugen weiteten sich etwas, dann lächelte er ironisch.
„Ah – meine Widersacher auch zur Stelle!“ sagte er mit tadelloser Verbeugung. „Nun, dann können wir ja sofort reinen Tisch machen.“
Er nahm Platz. „Herr Direktor, wie ich Ihnen schon am Fernsprecher andeutete, ist vor etwa anderthalb Stunden…“
„Ich bin im Bilde… Die beiden Schiffer, die Ihre Gattin retteten, haben den Vorfall gemeldet. Die Leute konnten leider sehr wenig angeben… Besonders die Schüsse zum Beispiel haben sie bei dem Lärm ihres Bootsmotors gar nicht gehört. Sie sahen nur Ihre Frau in den Kanal rollen und versinken… – Mein Mitgefühl, Herr Bowen, zugleich aber auch mein Glückwunsch zu der wunderbaren Errettung Ihrer Gattin.“ –
Daß der hohe Polizeioffizier hier nur Harsts genauen Anweisungen folgte, war mir längst klar.
„Im übrigen, Herr Bowen, haben meine Beamten an der Unfallstelle sehr eigentümliche Feststellungen erzielt, die mich zwingen, auch Ihre Frau etwas schärfer anzufassen…“
Bowen wurde nervös. „Inwiefern eigentümliche Feststellungen?“ fragte er mit belegter Stimme.
Der Angesprochene deutete in eine Ecke. „Dort steht die Klappstaffelei Ihrer Gattin, dort die beiden angefangenen Bilder und der Malkasten…“
„Nun ja… Und‥?!“
Bowens feistes Gesicht hatte wieder den liebenswürdig-kriecherischen Ausdruck angenommen. In seinen kalten Fischaugen jedoch schimmerte es wie versteckter Hohn.
Harst rauchte unentwegt gleichgültig und blickte zumeist zur getäfelten Zimmerdecke empor.
Der Chef fragte höflich: „Malt Ihre Gattin stets auf Stahlplatten, Herr Bowen? – Die Schiffer sagten aus, daß das eine Bild an der Staffelei lehnte, das andere stand auf ihr… Ihre Frau war also durch die Stahlplatten wirksam geschützt, und dieses Schutzschilde zeigen acht Geschoßaufschläge…“
Bowen hatte die Augen aufgerissen. Seine Stirn bedeckte sich mit Schweißperlen…
Der Kriminalchef holte die seltsamen angefangenen Bilder und deutete auf die Rückseiten…
„Hier sehen Sie die Einschläge, Herr Bowen…“
Aber Emanuel war kein Stümper. Er wußte nun, worum es ging. Er hob wie verständnislos die Schultern und sagte kaltblütig: „Meine Frau behauptet, sie sei lediglich das Opfer einer Verwechslung geworden.“
Seine Augen trafen meinen Freund. „Vielleicht kann Herr Harst hierzu einiges bemerken… Ihm ist eine gewisse rätselhafte Person, die in der Figur etwa meiner Frau gleich, sehr unangenehm, – es handelt sich um eine Miß Viktoria Quinton, wie die für mich arbeitenden Angestellten der hiesigen bestrenommierten Detektei van Zeerten festgestellt haben. Van Zeerten ist ein Ehrenmann und war gern bereit, mir zu helfen, nachdem in Köln auf dem Bahnhof äußerst fragwürdige Dinge sich abgespielt hatten, die mich stutzig machten. Mein Koffer war im Abteil vertauscht worden und…“
Harst hielt Bowens Blicken sehr gelassen stand und sagte nun doppelsinnig: „Sie sind ein äußerst geschickter Mann, Herr Bowen…“
„Lassen Sie mich gefälligst aussprechen,“ verwies Emanuel ihn mit aller Schärfe. „Zeertens Leute wissen, daß Sie hinter mir her sind. Weshalb, ahne ich nicht. – Mein Koffer ist sicherlich schon in Antwerpen einmal vertauscht worden, und Sie stecken dahinter! – Herr Kriminaldirektor, ich lege schärfsten Protest ein gegen diese Nachstellungen, die…“
„Sie sind ein fabelhafter Herr!“ unterbrach Harald ihn mit übertriebener Verbeugung. „Ich muß nun wohl einräumen, daß ich auf falscher Fährte war… Bitte, darf ich Ihnen diese Depesche vorlesen. Die Dinge haben eine sehr traurige Wendung genommen.“
Vielleicht spürte nur ich die versteckte Ironie dieser Worte…
Er las vor…
Und sowohl der Chef der Kriminalabteilung wie Bowen, Fred und ich schnellten von unseren Stühlen hoch.
7. Kapitel
Bowens Schreibmaschine.
Harald Harst, Amsterdam, hauptpostlagernd
Holland
Gustav Schmiedecke diese Nacht nach Einbruch in Ihren Tresor entflohen. Bitte Nachricht, ob hohe Werte in dem Stahlschrank vorhanden. – Argus-Berlin
Harst knüllte die Depesche wütend zusammen und warf sie Bowen zu.
„Da – lesen Sie selbst! Dieser Schmiedecke ist ein vielfach vorbestrafter alter Bursche, der sich gebessert zu haben schien. Doch Undank ist der Welt Lohn!! Der Mensch hat mein Vertrauen gröblichst mißbraucht und…“
Bowen war in seinem Stuhl zusammengesunken.
„Die Sache interessiert mich wirklich nicht,“ erklärte er gereizt. „Hier haben Sie das Telegramm zurück. Ich habe genug von alledem, übergenug!
Wessen beschuldigen Sie mich, Herr Harst?! Ich will Klarheit haben.“ – Er hatte Harald ohne jede Entschuldigung das Wort abgeschnitten – spielte seine Rolle gut, er übertrieb nicht, er kehrte nur den in seiner Ehre schwer Gekränkten heraus, und doch konnte es keinem scharfen Beobachter entgehen, daß er nur mit äußerster Energieanspannung seine Nerven meisterte.
Harst, der uns soeben durch die Depesche eine so arge Überraschung bereitet hatte – selbst dann, wenn das Telegramm Bluff sein sollte – entgegnete kurz und bestimmt: „Ich bin nicht befugt, Ihnen irgendwelche Aufschlüsse zu geben… Wenn der Herr Kriminalrat es tut, hätte er es verantworten.“
„Bedaure, auch ich lehne jede Erklärung ab,“ äußerte der Chef der Kriminalpolizei genau so knapp.
Bowen stand langsam auf. „Dann,“ sagte er laut und drohend, „werde ich mich an eine andere Stelle wenden. Ihre halbe Entschuldigung, Herr Harst, genügt mir nicht, und…“
Das Anschlagen des Telephons ließ ihn verstummen.
Der Chef nahm den Hörer. „… Wiederholen Sie die Meldung,“ sagte er nach einer Weile mit versteinertem Gesicht. „Herr Harst, bitte…“ – Harald lauschte gespannt. Dann legte er den Hörer weg. „Wir dürfen Herrn Bowen die neue Schreckenskunde kaum verheimlichen, Herr Kriminaldirektor. Herr Bowen, Ihre … Ihre Gattin ist vor zehn Minuten im Park erschossen worden. Der Täter entkam, es war ein Landstreicher, behaupten die Schiffer, die ihn fliehen sahen…“
Emanuel Bowen stieß einen ächzenden Laut aus und bedeckte das feiste Gesicht mit den Händen. „Arme, arme Minje,“ flüsterte er… „Dies … dies … gibt … mir den Rest… Ich … bin so vollkommen verstört, daß…“
Er fiel abermals in den Stuhl zurück, – ein Häufchen Elend scheinbar…
Der Kriminaldirektor hatte Harald vorhin einen erstaunten Blick zugeworfen. Sie flüsterten jetzt miteinander.
„Herr Bowen,“ sagte der Chef leise, „es ist begreiflich, daß dies Ihnen den Rest gegeben hat… – Erholen Sie sich hier… Ich muß nach Ihrem Besitz hinausfahren… Ich lasse Ihnen eine Stärkung bringen. Entschuldigen Sie mich… Und die anderen Herren… – ja, – für Sie hätte ich keine Verwendung mehr.“
Sein Ton wurde sehr kühl. „Jedenfalls ersuche ich Sie, Herrn Bowen nicht mehr zu belästigen.“
Emanuel Bowen war allein in dem großen ernsten Dienstzimmer. Er rührte sich nicht… Er hatte noch immer die Hände vor das Gesicht gepreßt, aber was in Wahrheit in ihm vorging, konnte ich unschwer erraten. Die ersten mißlungenen Einbrüche in unser Heim, das wußte ich längst, waren nur zu dem Zweck von Bowen befohlen worden, um festzustellen, ob wir in Berlin seien.
Dieser Diebstahl jetzt war zweifellos ein Trick Harsts, vielleicht nur in der Absicht mit Kautschuk-Gustav vereinbart, damit Bowen seinerseits unseren Tresor in Ruhe ließe. –Trotzdem mußte es für Bowen einen harten Schlag bedeuten, daß seine Beute ihm weiter unerreichbar blieb.
Was den Mord an seiner Frau betraf, lagen die Dinge entschieden verwickelter. Ich fand auch keine Gelegenheit, mich mit Harald irgendwie auszusprechen, denn er verabschiedete sich eiligst im unteren Flur, ließ mich stehen und schritt davon, während Fred und ich durch das Hauptportal auf die Straße traten.
Der Polizeidirektor hatte uns nur zugeraunt: „Es bleibt alles, wie es war, – – Sie verstehen mich.“
Wir verstanden das schon, aber wir hatten im Augenblick gerade dadurch unsere besonderen Sorgen.
Es galt, wiederum die fraglos vorhandenen Spione zu täuschen und unseren schwimmenden Schlupfwinkel unbeobachtet zu erreichen.
Wer nun die ganz alten Stadtteile Amsterdams kennt, der weiß auch, daß es für den Ortskundigen eine Kleinigkeit ist, in diesem Gewirr von Gassen, Brücken, Kanälen und Durchgangshäusern im Moment spurlos zu verschwinden, falls – – man nicht Leute hinter sich hat, die noch besser Bescheid wissen.
Die Gegend da um die Nicholaskirche, wo wir ‚offiziell‛ wohnten, hatten wir derweil direkt studiert, und für ähnliche Fälle wie jetzt war ein richtiger ‚Schlachtplan‛ entworfen worden. Daß Bowens Kreaturen vor nichts mehr zurückschreckten, bewiesen uns die beiden Anschläge auf seine Frau, von denen der eine mißglückt und der erneute leider gelungen war.
Wir richteten uns danach. Eine Rauferei vor einer Matrosenkneipe ist ja ebenso schnell inszeniert, wie zwei wohlgezielte Messerstecher verabfolgt werden können, oder man konnte uns in einer halbdunklen Durchfahrt ein paar Steine auf die Köpfe fallen lassen, – es gab übergenug Methoden, und doch kam alles ganz anders.
Fred, der Augen wie ein Luchs hat, flüsterte mir plötzlich zu: „Die beiden Kanaillen sind schon wieder da!!“ –
Ich brauchte nichts weiter zu fragen… Also Miß Quinton und der Spanier! –
Im Trab ging es nun in eine winklige Gasse hinein, – vor uns plötzlich ein hochbeladener Handwagen mit vier Kerlen, die sicherlich Arges im Schilde führen.
Ebenso urplötzlich hinter uns ein Pfiff, wir hörten das Knattern eines Motorrades, das Rad sauste vorüber, auf dem Soziussitz hockte stolz und steif die verdammte Miß, und als wir genauer zurückschauten, lehnten da drei Burschen an der Hausmauer, denen irgendwie nicht recht wohl zumute war. Vor uns aber hatte der Handkarren etwas Platz gemacht, das Rad spuckte Knallgas, und die vier verdächtigen Kerle torkelten zur Seite.
Ich erfaßte sofort die Situation, wir schlüpften in einen Schnapsladen, der einen zweiten Ausgang hatte, und eine Stunde darauf saßen wir wieder in veränderter Aufmachung in der Kajüte unseres Ziegelkahnes, der bereits seine Fracht neben Bowens Parkgrenze zu löschen begonnen hatte, als sollte dort ein neues Häuschen errichtet werden.
Fred starrte mich über den Tisch fragend an. Wir hatten soeben wieder das Thema ‚Miß Quinton‛ erörtert, und ich konnte nur erneut die Achseln zucken und vorsichtig äußern:
„Vielleicht gehört die Frau zum Kollegen Altenau, lieber Fred.“
Dann kam einer der Kriminalbeamten nach unten, der bisher eifrig Ziegelsteine gekarrt hatte.
„Wie war’s mit dem Attentat auf Frau Bowen?“ wollte ich wissen.
Der Holländer wußte nicht viel. „Die Schüsse hörten wir, auch den Burschen sahen wir… Er hatte ein Motorrad bereit…“
Der Mann nahm die Sache allzu sehr auf die leichte Achsel. Er rollte sich frischen Pfeifentabak und stapfte mit seinen Holzschuhen wieder nach oben.
Fred sagte bissig: „Dessen Gemütsruhe möchte ich haben!! Freilich, diese holländische Landschaft macht stumpf, weil sie allzu eintönig ist. – Ich werde mal anläuten, Herr Schraut… Vielleicht weiß der Meldeempfänger in dem Häuschen besser Bescheid.“
Er tat es. Als der andere sich meldete, schrak Fred ordentlich zusammen. „Sie, Herr Harst?! – – Gut, ich verstehe… Also um elf Uhr abends… – Sie meinen, die Leitung führt ebenfalls im Kanal entlang wie unsere? – Wie steht’s mit Emanuel? Entschuldigen Sie, – es war doch nur eine bescheidene Anfrage…“ –
Er legte den Hörer schnell wieder weg. Harald schien grob geworden zu sein.
„Herr Schraut, – dicke Luft!!“ erklärte er mir dann. „Ganz dicke Luft‥! Um elf Uhr wird Emanuels Telephonkabel hier im Kanal gesucht werden… Ich habe Recht behalten. Emanuels Schreibmaschine ist ein besonders konstruierter Morseapparat. Der Kriminaldirektor hat das festgestellt. Aber ob dieses nächtliche Absuchen des Kanalgrundes so ganz ohne Zwischenfälle verlaufen wird, bezweifle ich doch sehr stark. Überhaupt, ich habe so ein komisch flaues Gefühl im Magen… Aus dieser ganzen vertrackten Geschichte findet sich nächstens kein Hellseher mehr heraus. Mir blieb rein der Atem weg, als die Miß Quinton und dieses Eigelbgesicht von Spanier uns beiden vorhin den Weg freimachten, und als ich gar diese Panzerschildgemälde mit den Geschoßaufschlägen sah, glich mein Hirn einem Brummkreisel!“
„Halten Sie den Mund, ich will schlafen!“ – Das war nicht höflich – aber ehrlich. Ich hatte mich auf eins der Betten geworfen und kehrte Fred den Rücken zu. Ich hörte ihn noch an Deck schleichen, dann schlief ich ein. – –
Dünne weißliche Nebelschwaden waren von den Wiesen emporgestiegen und hatten nach dem jähen Wettersturz mit dem enormen Temperaturrückgang alle Aussicht, noch dichter und zäher zu werden.
Es war halb elf Uhr. Fred war soeben von seinem Ausguckbaum im Park zurückgekehrt und hatte gemeldet, daß Emanuel in tiefstem Schwarz wieder ohne eingespannten Papierbogen lange Zeit getippt habe.
Ich gab die Meldung weiter, und die dumpfe Stimme bestätigte den Empfang. Wir standen nun wartend an Deck, und wenn alles klappte, mußte Harald mit dem Suchboot sehr bald erscheinen.
Der Nebel wurde tatsächlich immer dichter, und das dumpfe Blöken der Kühe auf den Weiden konnte man bei einiger Phantasie für ferne Nebelhörner von Schiffen halten. Selbst der Kanal war nur noch eine weißgraue, leicht wallende Fläche, und alle Geräusche, woher sie auch kamen, hatten etwas ungemein Unheimliches, Gespenstisches an sich. Soeben glaubte ich, vorsichtiger Ruderschläge gehört zu haben, – Fred bestritt dies, aber Sekunden darauf schwang sich eine schlanke Gestalt neben uns und eine Stimme flüsterte überstürzt: „Vorsicht! Harst ist abgefangen worden! Bowen hat seine ganze Bande mobil gemacht! Schnell kommen Sie, – hinab in mein Boot, ehe es zu spät ist.“
Es war Isolde Borg, die Todestänzerin…
Bevor ich noch antworten konnte, und ich hätte ihr Ansinnen abgelehnt, denn ich traue ihr nicht, war sie schon wieder verschwunden.
Wasser plätscherte, – dann waren wir beide auch schon umringt, der brutale Griff um meine Kehle lähmte mich, die Angreifer verstanden ihr Geschäft, und man trug zwei halb leblose Bündel über die wippende Laufplanke, denen sehr bald auch die beiden im Schlaf überraschten Beamten folgten… Ich verlor das Bewußtsein nicht gänzlich, trotzdem vermochte ich mir nicht darüber klar zu werden, ob wir zu Lande oder zu Wasser weggeschafft würden. –
Um dieselbe Zeit etwa ging der trauernde Witwer Emanuel ruhelos in seinem Arbeitszimmer hin und her und erwartete fiebernd den vereinbarten Anruf. Immer wieder schaute er geradezu sehnsüchtig auf die Schreibmaschine…
Dann hörte er das metallische leise ‚Klick‛, – der Buchstabe O war wie von selbst niedergedrückt worden, und Emanuel atmete tief auf…
Es war geglückt!!
Er grinste höhnisch…
Die Herrschaften hatten sich doch sehr in ihm verrechnet. Wenn es ums Ganze gingen, kannte er keine Rücksicht mehr‥! –
Und ebenfalls um dieselbe Zeit wurde Isolde Borg, die mit ihrem kleinen Ruderboot an einsamer Stelle hatte landen wollen, dicht am Ufer in dem dicken Nebel von einer Faust gepackt und aus dem Boot gerissen. Der Mann, der sie über die Wiesen schleifte wir eine Strohpuppe, hatte ein altes, faltiges, stoppelbärtiges Gesicht, und hinter ihm drein trottete, durch den Nebel unwahrscheinlich vergrößert, ein Geschöpf, das ebenso gut ein mittelgroßes Mastschwein, ein Kalb oder sonst etwas aus dem Tierreich sein konnte.
Als der Mann in die Nähe der Straße gelangte, wo die Scheinwerfer des Mietautos der Tänzerin wie matte helle Striche aufleuchteten, lockerte sich sein eiserner Griff, und mit einem unschönen Kichern flüsterte er dem völlig benommenen Mädchen zu: „Die Schufte waren Ihnen dicht auf den Fersen, Fräulein… Machen Sie jetzt, daß Sie nach Hause kommen! Für junge Damen ist dies kein Geschäft… Das will verstanden sein!“
„Herr Harst?!“ hauchte Isolde Borg der enteilenden Gestalt nach…
Aus dem Nebel erklang nur ein gutmütiges Lachen als Antwort.
8. Kapitel
Miß Quinton lehnt eine Verhaftung ab.
Emanuel Bowen wanderte von neuem in seinem Zimmer auf und ab. Es war jetzt kurz vor Mitternacht, und er hatte soeben einen Entschluß gefaßt, der auch die letzten ihm noch drohenden Gefahren beseitigen sollte. Mitunter trank er einen Schluck Kornbranntwein, er mußte seine Nerven im Zaun halten und auch geistig rege bleiben, denn die Arbeit dieser Nacht war erst halb getan.
Dann hörte er abermals das Klicken der Schreibmaschine, er eilte an den Schreibtisch, und der Buchstabe O bewegte sich dreimal, als würde er von einer Geisterhand angeschlagen. –
Bowen setzte sich, nahm Papier und Bleistift und notiert die Meldung. Je länger er schrieb, desto finsterer wurde sein schwammiges Gesicht. Als er den Bleistift weglegte, fluchte er leise. „Ungeschickte Burschen!! Nun habe ich auch noch das Mädchen in Rechnung zu ziehen, abgesehen von…“ – das weitere wurde wieder eine grimme Verwünschung.
Er überlegte nochmals, ob es unter diesen Umständen ratsam sei, die Apparatur abzumontieren. Aber – es ging nicht anders, morgen würde die Polizei so ziemlich aus dem Häuschen geraten, und da war es doch sicherer, alles Verdächtige zu entfernen. Zunächst wollte er den Kerlen noch einmal gründlich seine Meinung sagen. Er überlas die Meldung, um in die richtige Stimmung zu kommen, und dann begann er zu tippen… –
Wütend hieb er auf die Tasten ein, und so vollständig nahm ihn dieser Anpfiff in Anspruch, daß er für nichts anderes Auge oder Ohr hatte. So entging es ihm zum Beispiel, daß seine drei scharfen Rüden im Park zunächst grimmig geröhrt, dann aber jäh verstummt waren. Die Hunde waren in ihrer bewährten Wachsamkeit durch eine weit kleinere fette Hündin abgelenkt worden, und der Mann, der draußen vor Emanuels Fenster hockte und durch eine Spalte der Vorhänge hineinglotzte und sich an den Scheiben die Nase breitdrückte, erwischte gerade den rechten Augenblick, um von dem Zettel Emanuels mit einer kleinen Momentkamera eine Aufnahme zu machen. Auch die folgenden Verrichtungen des ehrenwerten Bowen beobachtete er noch, griente zufrieden, kletterte lautlos zu Boden und holte mit aller Vorsicht die kleine Hündin ab, die drüben außerhalb des Zaunes mit ihren Kavalieren durch die Gitterstäbe kokettiert hatte. –
Bowen war mit dem Anpfiff für seine Garde fertig und nahm die Schreibmaschine vom Tisch, hob von der Tischplatte die dünne Schreibunterlage ab und entfernte ein sauber eingefügtes Stück der Platte. Darunter kamen ein paar starke Magnete mit Leitungsdrähten zum Vorschein…
Gleich darauf schleppte Bowen einen Sack mit leicht klingendem Inhalt zum Kanal und versenkte ihn im schwammigen Grund, ebenso ein isoliertes Kabel, das bisher zum Haus geführt hatte und nur flach eingebettet gewesen war. – –
In einer Kneipe unweit der Nikolauskirche, die zumeist ehrbare Handwerker als Stammgäste zählte, saß abseits in einem separaten Zimmerchen, dessen Fenster nach einer Gracht hinausgingen, eine hagere, grauhaarige Dame mit Halbschleier, und neben ihr am selben Tisch der Kriminaldirektor sowie die Brüder van Buik, der Professor und der Edelsteinhändler. Die vier Personen schwiegen zumeist, und besonders Prof. van Buik schaute öfter als nötig auf seine Uhr.
Die Geduld der vier wurde auf eine sehr harte Probe gestellt. Erst nach zwei Uhr morgens hörte man auf der Gracht das Puffen eines kleinen Motorbootes, der Polizeichef blickte Miß Quinton fragend an, dann ertönte ein besonderer Pfiff, und durch das Fenster kletterte ein stoppelbärtiger alter Mann mit erstaunlicher Fixigkeit herein, grüßte respektvoll und betrachtete neugierig die Anwesenden, die für ihn vielleicht noch mehr Interesse bezeigten.
Der Alte erstattete Bericht… „Ich habe das Bild so sofort entwickelt und mit einem Vergrößerungsglas die Meldung abgelesen,“ erklärte er zum Schluß. „Sie lautete etwa:
Wir haben Harst, Altenau, Schraut, Steen und die vier Geheimen gefesselt und geknebelt im Keller. Das Mädchen ist uns entwischt. Im Boot Altenaus lagen Taue, Suchanker und lange Bootshaken. Boot ist versenkt. Hier in der Nähe keine verdächtigen Anzeichen.
Nachdem der alte Mann mit dem faltigen Gesicht noch von Bowens Tätigkeit am und im Schreibtisch und von dem Gang zum Kanal berichtet hatte, sagte Miß Quinton mit gedämpfter Stimme zu dem Polizeichefs:
„Die Gefangenen schweben nicht in Lebensgefahr. Wir wollen also nichts übereilen… Bowen wird nun alles daransetzen, auch Isolde Borg, die ja übrigens Ingeborg Altenau heißt und eine entfernte Verwandte Fred Altenaus ist, in seine Gewalt zu bekommen. Hierbei möchte ich ihn abfassen und ihn durch das gleichzeitige Auftauchen eines – sagen wir – Gespenstes zu einem Geständnis zwingen…“
Prof. van Buik trommelte nervös mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte. „Verzeihung, – er ist doch schon überführt, und diese Umständlichkeiten sind doch nicht mehr nötig.“
Miß Quinton schüttelte leicht den Kopf. „Überführt, – daß ja! Aber… – Nun, mag der Mann dort erst einmal seine Beute vorweisen, die er von Berlin aus der Arnoldstraße mitgebracht hat…“
Kautschuk-Gustav, der auch in seinen schlimmsten Jahren in Amsterdam längere Zeit ‚gearbeitet‛ hatte, holte aus seinen unergründlichen Taschen eine Menge Päckchen hervor.
„So – hier sind die Bleituben mit den großen Radiummengen, und hier sind die acht Edelsteine… Miß Quinton behauptet, die Diamanten gehören nicht zu den englischen Kronjuwelen…“
Der Juwelier van Buik packte die Steine hastig aus…
„Nein, – das sind sie nicht!“ rief er entsetzt. „Das sind jene acht Steine, die mir vor Monaten diskret angeboten wurden und schon am nächsten Tag verschwanden. Zum Glück hatte ich jede Schadensersatzpflicht abgelehnt…“
„Und wer bot sie Ihnen an?“ fragte Miß Quinton leise.
„Eine tief verschleierte Dame… Ihren Namen nannte sie nicht. Ich habe sie nachher entschädigt, natürlich nicht voll, das konnte ich nicht.“
Miß Quinton nickte unmerklich. „Die Dame war Ingeborg Altenau, sehr einfach. Dadurch erklärt sich auch ihr Benehmen heute in Ihrem Zimmer, Herr Kriminaldirektor. Sie sucht eben den Dieb der alten Familienjuwelen, deshalb tanzt sie hier im Gay-Theater. Eine Baronesse Altenau schämte sich, Schmuck veräußern zu müssen, Herr van Buik. Begreifen Sie?“
„Halb und halb…“
„Die Kronjuwelen fehlen also immer noch,“ erklärte Miß Quinton schlicht. „Das Radium ist da… Wenn wir also Emanuel Bowen nicht derart seelisch zermürben, daß er vollkommen zusammenbricht, nennt er uns das Versteck niemals. Deshalb auch meine Vorschläge für dieses ganze trügerische Spiel.“
Der Polizeichefs und der Juwelier griffen gleichzeitig nach Miß Quintons Hand.
„Herr Gott, – jetzt verstehe ich Sie!“ rief der eine.
„Jetzt geht mir ein Licht auf!“ stimmte der andere bei.
Der Prof. van Buik schwieg beglückt und steckte die Bleituben mit den geliehenen Radiummengen in die Tasche.
Zehn Minuten später fuhr das kleine Motorboot mit Kautschuk-Gustav, der Hündin Skylla und Miß Quinton langsam davon. –
Und um dieselbe frühe Morgenstunde lag ich, der ich hier all diese Dinge zum Teil nicht miterlebte, allein in einem engen feuchten Keller auf einem Strohsack, – ein hilfloses Bündel, brutal gefesselt… Draußen vor der Tür im Kellergang schritten zwei Wächter auf und ab, und die Kerle ließen mich und meine Leidensgefährten nicht einen Augenblick darüber im Zweifel, daß sie mich ersäufen würden, falls ich um Hilfe riefe.
9. Kapitel
Der Wasserfilter.
Emanuel Bowen hatte den Rest der Nacht fest und traumlos geschlafen. Als er morgens neun Uhr erwachte, hätte er beim Ankleiden und Rasieren am liebsten einen flotten Marsch gepfiffen, aber das schickte sich nicht recht für einen trauernden Witwer, der heute Vormittag seine arme tote Minje im Leichenkeller des Präsidiums sich ansehen sollte, nachdem die Obduktion vorüber war.
Beim Frühstück zeigte er eine so grauenvolle Miene, und aß so wenig, daß die älteste Lehrerin des Pensionats, die ihn sonst nicht ausstehen konnte, ihm herzlich zusprach.
Dann wurde Emanuel ans Telephon gerufen.
Der Polizeichef teilte ihm mit, daß die Obduktion verschoben sei und daß er seine Frau erst morgen sich ansehen und alle Vorbereitungen für die Bestattung treffen könne.
Emanuel seufzte kläglich. „Wie Sie befehlen, Herr Kriminaldirektor…“
Den Rest des Vormittags beschäftigte er sich bei verschlossenen Türen mit gewissen technischen Dingen.
Das, was er da zusammengebastelt hatte, trug er nachher, verborgen in einem Ersatztank seines Autos, in die Garage. Er rechnete damit, daß der Tanz, den er erwartete, so um die Mittagszeit losgehen würde.
Das traf auch zu. Gegen halb ein Uhr lenkte ein Auto in den Park ein, in dem der Kriminaldirektor sowie drei andere Beamte saßen. Der Polizeichef ließ sich bei Emanuel melden und erklärte ihm ganz offen, daß er ihn eigentlich verhaften müßte. Seit der vorigen Nacht seien da mehrere seiner Leute, die drei deutschen Privatdetektive und auch Fred Altenau verschwunden, und schon um eine Verdunkelung des Tatbestandes zu verhüten, wäre eine Verhaftung dringend geboten…“
„Auf welche Anschuldigungen hin?“ fragte Bowen sehr höflich, aber doch sichtlich empört.
Der Polizeichef, genau instruiert, spielte den Verlegenen.
„Herr Bowen, wir wollen ganz offen miteinander sprechen… Ich persönlich teile Harsts Verdacht nicht. Aber er bleibt dabei, Sie hätten die Brüder van Buik bestohlen.“
„Ich?! Der Mann ist nicht ganz zurechnungsfähig! Ich soll… – – Das ist lächerlich. Ich habe weder das Haus Prof. van Buiks noch das des Juweliers je betreten, ich kenne die Herren zwar, aber geschäftliche Dinge erledigte meine arme Frau, und ich weiß nicht einmal, was gestohlen sein soll. – – Was denn?!“
„Darüber muß ich leider schweigen… – Ich betone ja auch, ich teile Harsts Verdacht nicht, nur … er ist auch schließlich kein Mensch, der ohne Beweise jemanden verdächtigt.“
„In diesem Fall bestimmt!“ erklärte Bowen bescheiden und doch voller Nachdruck. „Ich werde es nie begreifen, weshalb man dieses ganze niederträchtige Intrigenspiel gegen mich inszenierte, das mit dem Vertauschen der Koffer begann…“
Der Polizeichef zuckte hilflos die Achseln. „Harst hat uns gar nichts anvertraut, und jetzt ist er eben verschwunden… Ich befinde mich da in einer sehr peinlichen Lage, Herr Bowen…“
Emanuel schien angestrengt nachzudenken. „Fragen Sie die beiden Brüder van Buik, ob ich je bei ihnen war,“ sagte er etwas vorwurfsvoll. „Die Herren werden mit Nein antworten müssen.“
„Das … haben Sie schon getan,“ erwiderte der Polizeichef noch kleinlauter. „Ich möchte deshalb auch besser abwarten, Herr Bowen…“ Er streckte ihm die Hand hin. „Nichts für ungut, – ich weiß wirklich nicht… Sie genießen überall den besten Ruf, Sie beschäftigen sich mit Fragen der Kindererziehung und… – ja, Harst wird sich da wohl auf gänzlich falscher Fährte befunden haben… – Entschuldigen Sie, – man soll eben auf fremde Einflüsterungen nicht achten, diese Privatdetektive mit ihrer Sucht, unbedingt einen Erfolg zu erringen, schießen ob weit über das Ziel hinaus…“
Als Emanuel das Polizeiauto davonfahren hörte, lächelte er ironisch… Und die Leute wollten es mit ihm aufnehmen, der schon in London eine ganze Organisation geleitet hatte, bis ihm dort der Boden zu heiß wurde und er sogar Frau und Kinder bei Nacht und Nebel verließ, – – und dann hier im Haus ‚Maienträume‛ ein neues Asyl fand!
Lächerlich!! – Würdigen Schrittes betrat er dann den Speisesaal, wo die Zöglinge gerade Mittag aßen, wechselte mit den Älteren ein paar ernste Worte und hielt sich etwas länger bei zwei blonden Backfischen auf, die ihn von jeher schwärmerisch verehrt hatten, weil er sie wiederholt persönlich unterrichtet hatte… –
Es wäre für Emanuels Zukunft entschied besser gewesen, wenn er, anstatt im Speisesaal seine Trauer zur Schau zu tragen, sich um die abseits liegende Garage gekümmert hätte.
Gustav Schmiedecke hatte von zehn Uhr vormittags im Park im Gebüsch gelegen, und als Nachbarinnen bei dieser verschwiegenen Wache hatte er zwei Damen: Miß Viktoria Quinton und die Hündin Skylla, – es gab auch allerlei für die drei zu sehen, und die hagere Engländerin schickte Kautschuk-Gustav nachher in die Garage… –
Erst gegen Abend fuhr Bowen zur Stadt, stellte seinen Wagen im Hof des Gay-Theaters unter, dessen Direktor ihm befreundet war, und aß im Restaurant in einer der Nischen allein und ungesehen die leckersten Dinge.
Er war ausgehungert wie ein Wolf, denn die heutige Trauer-Fastenkur daheim war eine sehr schmerzhafte Prozedur gewesen. Er trank auch reichlich Sekt, denn für sein Vorhaben gehörten Mut und schnelle Entschlußfähigkeit…
„Reservieren Sie mir die Nische,“ befahl er dann dem Kellner. „Ich will mir nur aus dem Auto meine Zigarettentasche holen.“
Schon vorher hatte er sich überzeugt, daß im Saal nur harmlose bekannte Gesichter saßen.
Er schlüpfte hinaus, er wußte hier sehr gut Bescheid, und das alte, sehr verbaute Bühnenhaus bot ihm keinerlei Geheimnisse. Er war im Nu droben auf der Treppe, die zu der Einzelgarderobe Isolde Borgs emporführte, – die Nummer der Tänzerin war bereits vorüber, und Isolde würde jetzt kommen sich umzukleiden.
Auf einem Treppenabsatz, auf den noch die Tür eines Ganges mündete, stand ein Wasserfilter, der kaum mehr benutzt wurde. Bowen machte sich an dem Filter zu schaffen, spannte einen dünnen Draht schräg nach oben zum Treppengeländer, ging dabei sehr vorsichtig zu Werke und verschwand danach im Halbdunkel der Treppe genau so schnell und lautlos, wie er gekommen war…
Dann saß er wieder in seiner Nische, fest entschlossen, die Katastrophe hier abzuwarten. Als der Kellner erschien, tat er so, als sei er bereits minutenlang zurück und ohne Bedienung, bestellte noch eine halbe Flasche und entnahm seiner Zigarrentasche eine seiner schweren Brasil.
Durch die Vorhänge konnte er den größten Teil des Saales überblicken, und mit schmunzelndem Behagen dachte er an den superklugen Herrn Harst, der nun um Mitternacht im Kanal ein Dauerbad nehmen würde.
Abermals schaute er über die Tischreihen, – die Zigarre rollte zu Boden, er war leichenblaß geworden, ungläubig und entsetzt stierte er auf die hagere Dame mit dem Halbschleier, die soeben an einem Ecktisch Platz nahm.
Miß Quinton!!
Sie war’s!!
Bowen zitterte… Angstschweiß trat ihm auf die Stirn…
Wie konnte die Quinton hierher gelangen, wo sie doch nach der Meldung seiner Leute dort im Haus am Kanal im Keller sicher eingesperrt war?! –
Bowen hat später, als er ein restloses Geständnis abgelegt, sich damit getröstet, noch rechtzeitig erkannt zu haben, wer Miß Quinton in Wirklichkeit war.
Er hatte in dieser Beziehung eines vor Fred und mir voraus.
10. Kapitel
… Und die Toten stehen auf…
In anderer Hinsicht hatte er allerdings sehr grobe Nachlässigkeit begangen. Wenn er zum Beispiel die eiserne Tür, die auf den Treppenabsatz des Wasserfilters mündete, untersucht haben würde, hätte er sie unverschlossen und außerdem zwei kleine Löcher entdeckt.
Diese Tür tat sich, nachdem Emanuel seine Vorbereitungen beendet hatte und verschwunden war, ganz geräuschlos auf, und ein alter Mann mit zerknittertem Gesicht schlüpfte hervor, hinter ihm eine fette, unechte Terrierhündin, – eine Taschenlampe suchte den gefährlichen Draht, eine Schere zerschnitt ihn, und dieselbe Schere schnitt das Drahtende, das in den Filter lief, ganz kurz ab.
Derselbe Mann gab dann mit seiner Lampe durch ein Fenster nach dem Hof zu ein Zeichen, und Miß Quinton, die in einem dunklen Winkel gewartet hatte, sprach schnell etwas in ein tragbares Telephon hinein.
Dieser Befehl lief mit Windeseile zu einem bescheidenen Bauerngehöft am Kanal, und dieses Haus war dicht umstellt. Als die Kriminalbeamten eindrangen, fanden sie keinen ernsthaften Widerstand, und die ganze Bande, fünfzehn höchst anrüchige Gentlemen aus aller Herren Länder, schworen bei allen Heiligen, daß sie keine Ahnung hätten, wer der Chef sei.
Als ich dann Fred und Altenau begrüßte und wir uns nach Harald umsahen, war von einem Harst nichts zu entdecken. Nur einer der Leidensgefährten, der als bärtiger Seemann verkleidet war – ein Beamter –, erklärte uns vergnügt, er habe den Befehl erhalten, sich für Harst auszugeben, und die Kerle hätten ihm das auch geglaubt.
Ein Polizeiauto brachte uns zur Stadt, und der mit anwesende Polizeichefs erklärte, wir würden dem letzten Akt der Tragödie noch beiwohnen.
Es war dann auch eine recht bunte Gesellschaft, die sich zum erneuten Entsetzen Emanuels unweit Miß Quintons an einem Tisch niederließ. –
Inzwischen hatte sich auf der Treppe zu Ingeborg Altenaus Garderobe abermals eine Kleinigkeit ereignet die, dank der weitsichtigen Vorbeugungsmaßnahmen der eifrigen und vielseitigen Miß Viktoria, der hübschen Tänzerin nur einen gelinden Schreck eintrug.
Völlig ahnungslos hatte Ingeborg ihre Garderobe verlassen und stieg mit dem Handköfferchen, das ihre bescheidenen Schmuckstücke barg, die Stufen hinab.
Sie näherte sich immer mehr dem verderblichen Wasserfilter, der eine so starke Sprengladung enthielt, daß, wenn sie durch Berührung des unsichtbaren Drahtes die Zündvorrichtung ausgelöst hätte, mit ihr zugleich ein großer Teil des Bühnenbaus vernichtet worden wäre.
Baronesse Ingeborg hatte sich hier in Amsterdam, um die alten Familienkleinodien zurückzugewinnen, auf ein Unternehmen eingelassen, dem sie nur halb gewachsen war. Sie hatte die Gefahren unterschätzt, und als sich nun vor ihr aus dem Schatten des Treppenwinkels ein alter, jetzt recht sauber gekleideter Mann erhob, fuhr sie mit leisem Schrei zurück und ihre Hand schnellte hoch. Bevor sie jedoch abdrücken konnte, sagte eine gemütliche, rauhe Stimme: „Aber … aber, Baronesse, – Sie werden doch den Stromer nicht niederknallen, der Ihnen gestern nacht das Leben rettete‥! Erkennen Sie meine Stimme?! – Nun also, – machen Sie um den verdammten Filter einen großen Bogen, denn die Art Wasser, die er zur Zeit enthält, ist schlimmer als Benzin!“
Inge verstand sofort. Sie erbleichte, aber sie hatte sich gut in der Gewalt.
„Ein Anschlag?“ flüsterte sie scheu.
„Ein mißglückter Anschlag, Baronesse… Kommen Sie nur… Man erwartet uns unten im Restaurant, und dort können Sie Herrn Fred, der so oft den Spanier mimte, sagen, weshalb Sie ihn jetzt so kühl behandeln. Er leidet schwer darunter. Schämten Sie sich, aus Not den Familienschmuck veräußert zu haben? – Lieber Himmel, das ist doch keine Schande‥! Auch wenn’s ohne Wissen Ihrer Mutter geschah, – einen Vater haben Sie ja nicht mehr. Und daß Sie dann so tapfer Tänzerin wurden und hier dem ehrbaren Emanuel nachspürten, – – allerhand Achtung und Hut ab vor Ihnen! – Vorsicht‥!! Das Sie ja nicht an das teuflische Ding anstoßen… – So, geben Sie mir nur Ihre Hand, Sie sind etwas unsicher auf den Beinen…“
„Was wird im Restaurant geschehen?!“ hauchte Inge beklommen. „Ist Fred auch da?“
„Alle sind da‥! Und seien Sie recht lieb zu Fred, er ist ein patenter Junge und Ihnen immer treu geblieben… Sie werden staunen, was da geschieht, und Emanuel wird das heulende Elend bekommen! – Der Kerl heißt gar nicht Bowen, sondern John Morris, und hat in London noch eine Frau und sechs oder acht hungernde Kinder, der Lump! Seine hiesige Frau ist also gar nicht seine Frau, und diese Frau Wilhelminje hätte sich niemals zu alledem bereit erklärt, wenn Herr Harst ihr nicht die Wahrheit über den Charakter Emanuels bewiesen hätte. – Nun aber vorwärts… – Skylla, macht Platz und bei Fuß!! So … warte, Emanuel, du wirst dein blaues Wunder erleben!“ –
– – Emanuel hatte bereits allen Grund, sich wie eine Ratte in der Falle zu fühlen… Er erlebte nicht nur ein blaues Wunder, sondern vor seinen Augen sprühten vor Angst die buntesten Funkenregen auf.
Dort an dem großen Tisch, neben dem der Hageren saßen nun gerade die, die er in sicheren Gewahrsam glaubte, und in seinem wirren Hirn lebte nur noch eine winzige Hoffnung: Keiner seiner Leute kannte ihn persönlich, und…
Emanuel hielt sich an der Tischkante fest. Seine Augen quollen vor… Soeben hatten dort zwei neue Gäste den Saal betreten‥: Isolde Borg und ein alter Mann, der ein Gesicht wie ein verschrumpelter Gummiball hatte.
Jetzt gar er seine Sache endgültig verloren. Er ahnte die Zusammenhänge, und gerade die Gewißheit, daß nur die äußerste Kaltblütigkeit ihn noch retten könnte, verlieh ihm die Fähigkeit, seine in wildestem Aufruhr befindlichen Nerven zu meistern. Er zog einen haarscharfen Dolch aus der Tasche, – die Nebentischchen waren leer, – er zerschnitt die Stoffwände zwischen den Nischen, zwängte sich hindurch und wollte durch die schmale Tür in den Servierraum hineinschlüpfen, in dem ein paar schützende Efeukästen aufgestellt waren. Er packte den Drücker, stieß die Tür auf, und ein geradezu tierischer Schrei des Entsetzens kam über seine farblosen Lippen.
Vor ihm stand Minje, die Tote…
Sie trug ihr dunkles Hauskleid, sie war etwas blaß. Aber – – sie war’s!
Bowen war zurückgeprallt…
Ein neuer Schrei machte seiner verstörten Seele Luft…
„Was … was willst du! Du bist tot‥!! Und Tote…“
Dann packt ihn ein Schwindel, alles um ihn her drehte sich, und mit einem schweren kläglichen Ächzen brach er zusammen. In einem Nebenraum kam er wieder zu sich, und der Kriminalchef hatte mit dem vollkommen erledigten Mann ein leichtes Spiel.
Bowen gestand alles ein, und auch das Versteck der Kronjuwelen verriet er ohne Zögern. Er wollte auf diese Weise vielleicht versuchen, seine Richter milder zu stimmen.
Zur selben Zeit saßen in einem anderen Zimmer alle die Personen an langer Tafel, die an dem Fall ‚Todestänzerin‛ mehr oder weniger als Gegner Emanuels beteiligt gewesen. Auch die Brüder van Buik waren anwesend. –
Harst, der seine Verkleidung als Viktoria Quinton schnell abgelegt hatte, erklärte soeben auf eine sehr wichtige Frage Prof. van Buiks:
„Es ist richtig, dieser Hauptpunkt wäre noch aufzuklären: Wie schöpfte ich den ersten Verdacht gegen Bowen? – In Ihrem Laboratorium, Herr Professor, standen und hingen in der Schreibtischecke einige Photographien mit Unterschriften. Die eine, Großformat, zeigte Ihr Töchterchen und das Ihres Bruders Arm in Arm mit einem Mann, und darunter stand: ‚E. Bowen, Haus Marienträume, mit seinen Lieblingsschülerinnen‛. – Beide Backfische schauten auf dem Bild geradezu schwärmerisch zu Bowen auf, und da ich nun wußte, daß John Morris alias Bowen ein entgleister Arzt war, der schon in London vielfach zu verbrecherischen Zwecken mit hypnotischer Beeinflussung gearbeitet hatte, breitete sich blitzartig Schlußfolgerung an Schlußfolgerung. Halbwüchsige Mädchen im schwärmerischen Backfischalter sind außerordentlich leicht zu beeinflussen, – ich bin übrigens überzeugt, die beiden Mädchen werden sich an die Diebstähle gar nicht mehr erinnern. Aber nur sie konnten bei Ihnen und Ihrem Bruder am hellen Tag das verschwinden lassen, was ihnen Bowen befohlen hatte… – Werden die Mädchen nun unter der gütigen Aufsicht Frau Wilhelminjes in den Pensionat belassen und wird ihnen jede polizeiliche Vernehmung erspart, so dürften ihre Seelen keinerlei Schaden nehmen.“
Er verneigte sich vor der blassen, grauhaarigen Frau, die so tapfer selbst den großen Bluff des Überfalls im Park auf sich genommen hatte, und dann nickte er auch Baronesse Ingeborg und Kautschuk-Gustav anerkennend zu. –
Gustav Schmiedecke hatte den Räuber und Mörder im Park genau so vortrefflich dargestellt, wie er sich auch nachher bei den verschiedenen Anlässen bestens bewährt hatte. –
Am nächsten Vormittag näherte sich ein Ruderboot der Wassertreppe des Hauses ‚Maienträume‛. Zwei Menschen saßen darin, denen wir lächelnd entgegenschauten.
Ingeborg und Fred war nun wirklich ein Brautpaar geworden, und Haus ‚Maienträume‛ erlebte vielleicht zum ersten Mal, daß der wahre Liebesfrühling unter den alten Bäumen Arm in Arm dahinwandelte…