Harald Harst
Band: 344
Von
Max Schraut
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16
1. Kapitel
Tausend Mark für ein Äffchen.
Wir sind daran gewöhnt, in unserem bescheidenen Heim in der Arnoldstraße 21 Berlin W die merkwürdigsten Klienten empfangen zu müssen, die mit den sonderbarsten Anliegen sich an Harsts Findigkeit wenden möchten. Zumeist fertigt mein Freund Besucher, die mit haarsträubenden Nichtigkeiten seine Zeit in Anspruch nehmen wollen, schon nach den einleitenden Sätzen sehr höflich ab. Anderseits verfährt er jedoch mit diesen zarten Winken, die Angelegenheit eigne sich für ihn wirklich nicht, sehr vorsichtig. Lange Erfahrung hat ihn gelehrt, daß sehr oft hinter den unscheinbarsten Vorfällen, die auch nur eine Spur Absonderlichkeiten verraten, weitverzweigte Zusammenhänge sich verbergen, die eine Arbeit, wie wir sie gern leisten, schon verlohnen.
Meine Notizen über den Fall Trassy beweisen die Wahrheit auf das Treffendsten.
Es war an einem regnerischen, schwülen Frühherbsttag, als unser junger Famulus Fred Steen, seit Monaten bei uns der dritte im Bunde, vormittags eine Dame anmeldete, deren Namen und Titel er vor Respekt und Hochachtung mehrfach wiederholte.
„Die Frau Herzogin von Attancire… Herzogin … von Attancire… Herzogin!“
„Zerbrechen Sie sich die Zunge nicht,“ warnte Harst und lächelte nachsichtig. „Ich lasse bitten… – Im übrigen sorgen Sie für den Kronleuchter, Fred.“
Fred war erstaunt. Er schaltete die Krone ein, und dann erschien eine schlanke, große Dame mit verschlossenem, eisig-schönen Gesicht, – Alter etwa dreißig bis fünfzig. Jedenfalls war es eines jener Frauengesichter, die infolge diskreter Retouche nur schwer abzuschätzen sind, was den Geburtsschein betrifft. –
Mir war die stolze unnahbaren Aristokratin vom ersten Augenblick an wenig sympathisch.
Sie hatte blaßblaue Augen mit sehr langen Wimpern, und ihre beherrschten Blicke musterten uns beide und die Büroeinrichtung unseres Sprechzimmers mit allzu stark hervorgekehrter Gleichgültigkeit.
Sie nahm uns gegenüber an der anderen Schreibtischseite Platz und begann klar und überlegt ihre Wünsche vorzubringen.
„Herr Harst, mir ist heute früh – ich wohne im ‚Astor-Hotel‛ – mein zahmer Affe entlaufen. Es handelt sich um ein Kapuzineräffchen, das bisher nie derartige Freiheitsgelüste gezeigt hat. Das Tierchen turnte auf meinem Hotelbalkon umher, während ich beim Frühstück saß. Plötzlich war es verschwunden. Ich alarmierte das Hotelpersonal, aber im Garten war Beppo nicht zu finden. Ich hatte dem, der mir Beppo zurückbrächte, tausend Mark versprochen.“
Ihr bleiches, steinernes Antlitz rötete sich etwas, als Harst einwarf: „Ihre Zimmer liegen also nach dem Park zu, Frau Herzogin, und einer der alten Bäume muß mit seinem Astwerk bis dicht an Ihren Balkon reichen.“
„Das trifft zu,“ entgegnete sie kurz.
Ich wunderte mich, daß Harald die Frau nicht sofort abfertigte. – Doch ich sollte noch mehr staunen.
Er lehnte sich etwas über den Tisch und klappte sein Tintenfaß zu. Es war dies lediglich ein Scheinmanöver. Seine Augen hatten unter den halbgeschlossenen Lidern die Herzogin nochmals scharf gemustert. –
Das leise Surren schien unsere Klientin nicht zu beachten, und doch hatte dieses Surren schon so manchen aufhorchen lassen. –
„Staubsauger im Flur,“ war Harsts gewohnte Erklärung für dieses Geräusch.
„Sie haben sich zunächst persönlich auf die Jagd gemacht, Frau Herzogin,“ sagte er leichthin. „Ihre Schuhe verraten dies. Die Baumflechte alter Buchen setzt ich leicht zwischen Oberleder und Sohlen fest…“
Die alte Dame krauste die Stirn. „Ja, ich bin sportlich recht trainiert.“
Harst nickte. „Mithin hat Ihr Beppo, wie dies die Art verwöhnter Äffchen ist, ein Schmuckstück mitgehen heißen… Tausend Mark Belohnung sind etwas viel.“
„Nicht für mich,“ meinte die Herzogin kühl. „Ja, es war ein Ring mit Brillanten, Herr Harst.“
Das kam sehr zögernd heraus.
„Haben Sie auch die Feuerwehr mit Steigleitern bemüht?“
„Allerdings…“
Harst spielte zerstreut mit einem Brieföffner. Die Standuhr begann elf zu schlagen.
„Wann entwischte Beppo?“ fragte Harald ohne aufzublicken.
„Gegen halb acht…“
„Sie sind Frühaufsteherin, Frau Herzogin?“
In ihrem Gesicht zeigte sich ein mißtrauisches Aufhorchen.
„Ja – zuweilen…“
„Und wann bemerkten Sie Beppos Verschwinden? Kreischte das Tierchen vielleicht plötzlich wütend auf?“
„Ja…“ – Sie richtete sich etwas im Sessel auf. „Wie konnten Sie das vermuten, Herr Harst? Ich meine den Schrei Beppos…“
„Oh, – der Affe wird wohl vor Schreck in die Baumkronen geflüchtet sein. Sie folgten ihm sofort von Balkongitter aus… Sahen Sie ihn noch in dem Baum?“
„Nein, – leider nicht…“
Eine Herzogin, die um halb acht in einem Hotelpark in den Baumästen umhererklettert, bleibt eine Seltenheit.
Die etwas fragwürdige Dame fügte sofort hinzu:
„Möchten Sie den Fall übernehmen, Herr Harst? Ich zahle zweitausend Mark – sofort.“
Harald lächelte sie erheitert an. „Ich habe noch nie einen Affen gesucht, der lediglich einen Ring stahl… Immerhin, die Zeiten sind schlecht, und… – Nun gut, wir werden Sie um ein Uhr aufsuchen.“
„Ich danke Ihnen, – wir wären also so weit einig. Ich stelle nur die Bedingung, daß ich alles erfahre, was Sie ermitteln.“
„Gewiß, – wenn ich alles erfahre, was Beppo angeht,“ erwiderte Harst nachdrücklich.
„Ich sagte Ihnen alles,“ erklärte die blasse Frau sehr von oben herab und erhob sich.
„Einen Augenblick…“
Harald nahm eine Zeitung von Bücherständer. „In diesem Blatt von vorgestern steht hier eine Notiz, daß Einbrecher Sie behelligen wollten, Frau Herzogin… Nächtliche Hoteldiebe…“
Sie streifte die Handschuhe über. „Das kann jedem einmal zustoßen, Herr Harst.“
„Also dann gegen ein Uhr…“ –
Und wir waren allein. Draußen rollte eine Limousine davon. Die Herzogin hatte den Wagen offenbar für die Dauer ihres hiesigen Aufenthaltes gemietet.
Fred schleppte die Trittleiter herein, stellte sie unter den Kronleuchter und entnahm der Armhalterkugel der Krone eine kleine Filmkamera.
„Das Entwickeln hat Zeit,“ meinte Harst mit einem energischen Wink. „Setzen Sie sich, Fred. Hören Sie zu…“ Er berichtete den Verlauf der Aussprache mit der Herzogin und entnahm dann dem Bücherschrank das englische Nachschlagewerk ‚Wer ist wer?‛ und las vor:
„Georg Emmery Houston Attancire, letzter Herzog der Linie Attancire-Wales, verstorben 1924 durch Unfall, fünfzig Jahre alt, in zweiter, ebenfalls kinderloser Ehe vermählt mit Lady Honoria Gorls, Witwe Lord Edward Gorls … und so weiter,“ – –
er klappte das Buch wieder zu, besann sich jedoch plötzlich eines besseren und blätterte nochmals darin, bis er erneut vorzulesen begann:
„Lord Edward Gorls, letzter Lord der Linie Gorls, Gorls-Castle, verstorben 1923 durch Unfall, kinderlos vermählt mit Honoria, geb. Harper, – – und so weiter…“
Fred ließ ein sehr vernehmliches „Hm!!“ hören. „Zweimal Tod durch Unfall! Die geborene Harper hat Pech…“
Harald nickte sinnend. Er hielt das Buch noch immer in der Hand.
Fred reckte seine Wippnase höher und fügte stolz hinzu: „Na, und was steht unter ‚Harper‛, – sicherlich nichts Gutes.“
Zum dritten Mal öffnete Harald das ‚Wer ist wer?‛
„Miß Honoria Harper, bekannte Filmschauspielerin und Sportlerin, ursprünglich Varieteekünstlerin, verheiratet in erster Ehe (1921) mit Lord Edward Gorls, in zweiter Ehe mit Georg Herzog von Attancire, nebenbei Reiseschriftsteller, schrieb nach eigenen Erlebnissen zwei vielgelesene Werke…“
„Hm!!“ hüstelte Fred kopfschüttelnd. „Sehr vielseitige Dame… Hat Karriere gemacht, – vom Varietee zur Herzogin, allerhand Achtung!“
„Ja, – – die Unfälle…“ murmelte Harst geistesabwesend. „Und jetzt der Affe Beppo und der Ring. Sie wird natürlich schleunigst einen neuen Ring kaufen und ihn etwas zerkratzen… Und dann die Schlinge. Es war eine Schlinge… Beppo schrie…“
Fred und ich starrten Harald verständnislos an.
„Ihr wundert euch?!“ meinte er achselzuckend. „Ich glaube, es war selten eine so gefährliche Person im Zimmer hier wie eben … selten!! behaupte ich. Sie wußte, daß die Affengeschichte von heute früh in die Zeitungen kommen würde, und daß Beppo mich interessieren dürfte. Deshalb wollte sie jedem Verdacht von vornherein die Spitze abbrechen und erschien hier in Person mit ihrem harmlosen Schwindel. Der kleine Beppo hatten nie einen Ring mitgenommen, sondern etwas ganz anderes…“
Er hob den Telephonhörer ab, nachdem er das Fernsprechverzeichnis eingesehen hatte.
„… Hier Harst… Ja, Harald Harst… Sie selbst, Herr Generaldirektor? Wie geht es Ihnen? Wir haben uns lange nicht gesehen… – So, Ärger gehabt?! Durch die Herzogin von Attancire? – Nicht möglich, – schon drei Einbruchsversuche? Und heute die Affenjagd, – ja, davon weiß ich, – sehr liebenswürdig, daß Sie mir die Klientin schickten… – Nun aber ganz im Vertrauen eine Frage: Wer wohnt über den Zimmern der Herzogin?“
Harald teilte mir die jeweiligen Antworten nach Auflegen mit.
„Ich werde sofort Bescheid geben, ich muß erst nachsehen… – Sind Sie noch da?… Es wohnte dort ein älterer Amerikaner, Kaufmann Stuart Wilkins… Er ist vor einer Stunde nach Hamburg abgereist…“
„So ‥. so‥!! – Noch etwas? Was treibt die Herzogin jetzt?“
„Diese hohen Herrschaften haben seltsame Launen. Sie läßt in ihrem Salon, zu dem der große Balkon gehört, die Möbel umstellen…“
„Das hatte ich so ungefähr vorausgeahnt…“ lachte Harst belustigt. „Das ist so recht Frauenmanier… Der Schreibtisch stand wohl unweit der Balkontür‥?“
„Erstaunlich, wie gut Sie raten können! – Nun hat sie den Schreibtisch ins Schlafzimmer und die Frisiertoilette in den Salon bringen lassen, – – englischer Spleen!!“
„Vielleicht… – Wir besuchen Sie baldigst… In zwanzig Minuten Wiedersehen…“
2. Kapitel
Der Brief an die Strafgefangene.
Der Generaldirektor erwartete uns im Vorraum und führte uns in sein Büro. Der elegante menschenkundige Herr hoffte jedoch umsonst auf gewisse Erklärungen. Harst hüllte sich in Schweigen und bat nur, daß wir die Zimmer des abgereisten Mr. Wilkins uns unauffällig ansehen könnten. Nach Wilkins Äußerem erkundigte er sich nicht mit einem Wort.
Die beiden Zimmer waren noch nicht aufgeräumt, und Harald durchsuchte sie sehr genau, während der Generaldirektor und ich im Salon sitzen blieben. Auch den Balkon nahm er in Augenschein, winkte uns dann und zog im Schlafzimmer die Schubladen des Waschtisches auf.
In einer Ecke der leeren Schublade, die nur flüchtig zugeschoben gewesen, lauerte verschüchtert ein kleiner Kapuzineraffe mit klugen hellgrauen Augen.
Harst streichelte ihn und schob ihn dann unter seinen Mantel.
„… Der Affe ist hier vom oberen Balkon mit einer Schlinge eingefangen worden, und daß er außer dem Brilliantring noch etwas bei sich trug, beweist diese nasse Papierkugel, die ihm hier in der Schieblade aus der Backentasche gerutscht ist.“
Harst steckte das unappetitliche Etwas, das auf dem Boden der Schieblade lag, behutsam in seine Brieftasche.
„Die Herzogin darf keinesfalls unnötig geängstigt werden. Dieser Mr. Wilkins wird sich schon finden lassen. Bitte, holen Sie eine Reisetasche, damit wir das Tierchen dort vorläufig unterbringen können.“
Wir gingen in den Salon zurück, plötzlich klopfte es sehr kräftig, und als ich den Riegel der Tür zurückschob und öffnete, stand ein tadellos angezogener älterer Herr vor mir, der mich durch seine Brille kurzsichtig anblinzelte.
„Verzeihen Sie,“ sagte er höflich, „sind Sie der Bewohner dieser Räume? Mein Name ist Garm, Dr. Garm, Privatsekretäre der Herzogin von Attancire, der heute früh, wie Sie vielleicht erfahren haben dürften, ein Affe entlaufen ist. Ich vermute nun, daß Beppo vielleicht hier bei Ihnen sich versteckt haben kann, und Sie würden mich sehr zu Dank verpflichten, wenn Sie mir gestatten wollten…“ – dann verstummte er, da Harst eifrig nähergetreten war.
„Herr Garm, hier ist Beppo… – Mein Name ist Harst… Das Tierchen hockte unter dem Bett und war sehr verängstigt…“
So wenig mich Dr. Garms Erscheinen hier im Oberstock sonst wohl argwöhnisch gemacht hätte, – das Äußere dieses geschniegelten und redegewandten Engländers mußte auf jeden Menschenkenner nicht nur verwirrend, sondern auch abstoßend wirken. Das faltige Gesicht Garms besaß bei aller Regelmäßigkeit einige Eigentümlichkeiten, die als Ganzes genommen den schmalen Zügen mit den eingefallenen Schläfen etwas Mumienhaftes verliehen. Garm hatte nur sehr dünne, kaum sichtbare Augenbrauen, eine sehr schmale, zu schmale Nase und zu dünne farblose Lippen und ein eckiges, brutales Kinn. Am störendsten war jedoch das leichte, eingefrorene, verbindliche Lächeln, das sich nie änderte. Der Mensch sprach außerdem in einem übertrieben liebenswürdigen Ton, und auch seine Körperhaltung hatte etwas Unaufrichtig-Domestikenhaftes.
Garm zwinkerte wieder kurzsichtig.
„Ah, – sehr erfreut, Herr Harst… Sie sind also auf denselben Gedanken gekommen, der mir leider erst zu spät einfiel… Da ist ja der kleine Ausreißer… Ich werde ihn Ihnen nachher abnehmen… Haben Sie den Ring gefunden?“
„Leider nein…“
Dr. Garm schritt ohne weiteres in das Schlafzimmer hinein und kroch sofort unter das Bett. Wir sahen, daß er eine Taschenlampe einschaltete, dann klirrten die Sprungfedern, und er kam wieder hervor, richtete sich auf und hielt uns mit dem ewig gleichen Lächeln einen Brilliantring hin.
„Ich kenne Beppos Verstecke für kleine Beutestücke… – Hiermit wäre die Angelegenheit ja erledigt… Sie gestatten, Herr Harst, daß ich Ihnen sofort den Scheck aushändige. Die Frau Herzogin hat sich mit starker Migräne niedergelegt und hätte Sie doch nicht empfangen können. – Bitte, – einen Scheck über zweitausend Mark… Im Namen der Herzogin danke ich Ihnen verbindlichst. – Beppo, komm’ her, mein kleiner Bursche… Deine Ungezogenheiten werden allmählich ein etwas teurer Spaß.“
Harst betrachtete Herrn Garm mit aller Gleichgültigkeit. Als das Äffchen sich jedoch ängstlich kreischend wieder an Harsts Brust klammerte, sagte er mit harmlos klingendem Spott: „Beppo scheint Sie zu fürchten. Ich liebe Tiere. Ich werde mir erlauben, mich um Beppos Wohlergehen weiter zu kümmern.“
Der letzte Satz lang etwa schärfer, und ich fühlte sofort, daß er eine verborgene ernste Warnung enthielt, auf die Herr Dr. Garm auch mit noch stärkerem Augenblinzeln reagierte.
„Hm – also Tierfreund,“ äußerte er überlegend. „Die Frau Herzogin hatte ohnedies die Absicht, Beppo dem hiesigen Zoologischen Garten zu schenken. Ich glaube wohl, daß ich befugt bin, falls Sie auf das Äffchen Wert legen sollten, es Ihnen zu überlassen, Herr Harst.“
Er hatte es plötzlich sehr eilig, und der Hoteldirektor schaute ihm kopfschüttelnd nach.
Als wir mit Beppo in einer Taxe heimfuhren, meinte Harald, indem er dem kleinen zärtlichen Kapuziner das Fell kraute:
„Wir haben dir das Leben gerettet, und Herrn Garms tückische Pläne sind durchkreuzt worden. – Wie gefällt dir der Sekretär, mein Alter?“
„Ich liebe ihn, wie man Giftschlangen liebt.“
Harald nickte nur. –
Zu Hause empfing uns Fred Steen mit einer tadellos scharfen Vergrößerung der Hände der seltsamen Herzogin. Mochte diese auch noch so diskret-vornehm sich kleiden, ihren früheren Beruf konnte sie doch nicht verleugnen, denn ihre schlanken langen Finger waren dicht mit den kostbarsten Ringen besteckt.
Harald lachte plötzlich so belustigt, daß Beppo vor Schreck auf den Ofen flüchtete. „Bitte, mein Alter, – kennst du den Ring?“ Er zeigte auf die photographische Vergrößerung. „Die Herzogin hat sich die Sache sehr leicht gemacht und Garm einfach einen Ihrer Ringe mitgegeben, als der rührige Sekretär unsere Anwesenheit im Hotel ausspioniert und uns wahrscheinlich auch belauscht hatte. Hoffentlich hat er von der nassen Papierkugel nichts gehört, denn schon allein das von der Herzogin befohlene Umräumen der Möbel beweist, daß unser Äffchen nicht einen Ring, sondern einen Brief vom Schreibtisch gestohlen hat, auf den es wieder der Überwohner, der Mr. Stuart Wilkins, abgesehen hatte.“
Unser Fred, der in allem sehr geschickte Finger hat, erhielt nun die Papierkugel zur sorgsamsten Bearbeitung, und so wenig Aussicht vorhanden war, dieses halb zerkaute, feuchte Gemengsel irgendwie noch auseinanderzufalten und die Stücke zusammenzuflicken, Fred brachte es doch zustande. Erst als er hiermit fertig, dachten wir an das längst bereitstehenden Mittagessen, und während der Mahlzeit wanderte das Stück Papier mit den aufgeklebten, verlaufenen Brieffragmenten von Hand zu Hand, und der Fall ‚Beppo‛ geriet dadurch in ein neues Stadium.
Folgendes war noch zu entziffern:
z.Z. Berlin Astor–Hotel, 8. 8. 192.
Ellen… rogate,
Strafan… Gorn… Pom…
… Sie … Anlaß… der Wieder… des Unglückstages … ohne… paar … tröst … orte … liebe Ellen. Vertr … weiter … auf… Nächstenliebe … harren … voll … Gedu … Zuv … baldig … Stunde … Entlass … die für … Zuk … Weg zu … gesich … Exist … wird. Verzw … Sie … mein Kind … werde…
Das war alles.
Harald hatte das Fehlende wie folgt ergänzt:
Ellen… rogate
Strafanstalt Gornberg, Pommern
Ich möchte Sie aus Anlaß der Wiederkehr des Unglückstages nicht ohne ein paar tröstende Worte lassen, liebe Ellen. Vertrauen Sie weiter auf meine Nächstenliebe und harren Sie voller Geduld und Zuversicht der baldigen Stunden Ihrer Entlassung, die Ihnen für die Zukunft den Weg zu einer gesicherten Existenz bahnen wird. Verzweifeln Sie nicht, mein Kind, ich werde…
Hiermit schloß der unvollendete Brief an die unbekannte Ellen, den Beppo vom Schreibtisch gemaust haben mußte, als seine Herrin sich für kurze Zeit in das Schlafzimmer begeben
hatte. – Der Zweck des Aufenthaltes der Herzogin hier in Berlin war nunmehr ebenfalls geklärt: Sie wollte den Tag der Entlassung der Gefangenen abwarten. – Ebenso konnte man annehmen, daß der zweifelhafte Mr. Wilkins seinerseits darauf erpicht gewesen war, zu erfahren, was die Herzogin bezüglich dieser Ellen vorhätte, – wenigstens war dies Freds und meine Ansicht. Harald äußerte sich zu diesem Punkt nicht. Er schien jedoch anderes zu vermuten.
Während Fred und ich nach dem Essen in der Küche – wir hielten uns keine Bedienung – das Geschirr säuberten, erörterten wir den Fall ‚Beppo‛ recht gründlich und gelangten weiter zu der Überzeugung, daß die Herzogin an dieser Ellen …rogate – der volle Name fehlte uns noch – wohl kaum aus Nächstenliebe so warmes Interesse haben dürfte. Die Frau hatte auf mich jedenfalls nicht den Eindruck gemacht, daß sie überhaupt zarterer Gefühle fähig wäre, – nein, mein Urteil lautete: Die geht über Leichen, und ihr Sekretär Dr. Garm mochte ein noch härter gesottener Schurke sein.
Nachher fanden wir vorn im Büro einen Zettel Harsts:
Schweigt unbedingt über alles, was auch kommen mag. Ich verreise und nehme Beppo mit. Ihr hört von mir.
H.
Fred war empört. „Herr Schraut, merken Sie was?! Das alte Spiel beginnt wieder. Harst verduftet, und wir bleiben die Handlanger. Aber diesmal werden wir zeigen, daß auch wir selbstständig vorgehen können. Ich rufe Kriminalkommissar Bechert an, und der muß für uns herausbringen, wie der volle Name dieser Ellen lautet.“
Bevor ich noch hindernd dazwischentreten konnte, hatte er schon den Hörer von der Gabel gehoben, ließ ihn aber beinahe vor Schreck fallen, als sofort aus dem Mikrophon ein tiefer Baß ertönte:
„Telephonieren ist verboten!!“
Fred starrte mich fragend an.
„Wer ist das?“ flüsterte er.
„Das ist Gustav, Herr Fred‥!“ kam prompt die Antwort aus dem Hörer. „Gustav Schmiedecke samt Scylla, als Wächter für voreilige Knäblein bestellt. – Schluß!!“
Ich mußte lachen. Fred machte ein Gesicht, als ob er plötzlich Essig im Mund hätte.
Gustav Schmiedecke, einstmals Kautschuk-Gustav genannt, war ein alter, nunmehr sehr ehrbarer Ganove und ging für Harald durchs Feuer. Gustavs Gerissenheit wurde nutzbringend ergänzt durch die Intelligenz seiner fetten Terrierhündin Scylla, die schon wiederholt samt ihrem Herrn uns gute Dienste geleistet hatte.
Fred hatte den Hörer auf die Gabel zurückgelegt.
„Wo steckt der Kerl, Herr Schraut? Harst muß doch an dem Apparat gewisse Veränderungen vorgenommen haben, die…“
… Jetzt schraken wir beide zusammen.
„Die ihr nicht nachzuprüfen habt!“ meldete sich das Mikrophon, obwohl doch der Hörer auf der Gabel lag, und diesmal war es Harald Stimme.
„Also – – Handlanger!!“ grinste Fred wütend.
Das Mikrophon erwiderte todernst: „Seid froh, daß ihr euch um Ellen Harrogate nicht zu kümmern habt! Das wird ein netter Tanz werden!“
Fred zuckte die Achseln und warf sich auf das Sofa, um den Ärger über diese allerneueste Methode Harst zu verschlafen. Ich tat dasselbe in einem Sessel.
3. Kapitel
Der Mann, der den Brief kaufen wollte.
In dem Kontor der stillgelegten Meierei, die sich nach der Parallelstraße an unser Grundstück anschloß, standen zwei Männer und schoben ein paar leere Kisten zu einem Tisch zusammen…
Gustav Schmiedecke meinte zufrieden: „Ich und Skylla halten es hier schon aus, Herr Harst… Die Hauptsache ist, daß Sie mit dem Fernsprechamt und der Polizei einig sind.“
„Das bin ich. Freund Bechert vom Präsidium konnte sich meinen halben Beweisen gegenüber nicht ablehnend verhalten, und hat genau so schnell und prompt gearbeitet wie ich. – Die Namen haben Sie sich gemerkt, Gustav: Herzogin Honoria von Attancire, Dr. Garm, Ellen Harrogate und Lord Reginald Trassy.“
Gustav nickte. „Ich habe die kleinen Herrschaften hier auf dem Schildchen meiner Kognakflasche notiert. – – Also – – viel Glück, Herr Harst‥! – Der Lord wird ein sehr langes Gesicht machen, fürchte ich…“
Harst ergriff Koffer und Handtasche und entfernte sich. –
*
Reginald Trassy wohnte in einem Pensionat der Tiergartenstraße und verließ dieses gegen fünf Uhr nachmittags. Er war ein schlanker Mann von über Mittelgröße mit einem hageren, bartlosen, frischen Gesicht, über dem eine gewisse Schwermut lagerte, seine leicht angegrauten Schläfen ließen ihn älter erscheinen, als er es in Wirklichkeit war. Er hatte die dreißig noch nicht vollendet, aber seit Jahren führte er ein so aufreibendes Dasein, daß diese Jahre dreifach zählten.
Er schlenderte durch den Tiergarten und suchte möglichst abgelegene Wege auf. Die dauernden Fehlschläge seiner geheimen Bemühungen hatten ihn fast mutlos gemacht. Aber die Trassys waren von jeher ein zähes Geschlecht, und auch Reginald besaß jene geistige Elastizität, die nach jedem Mißerfolg sehr bald die Hoffnung und den Tatwillen aufs neue aufleben läßt.
Er hatte sich kaum auf eine einsame Bank gesetzt, als ein alter, ärmlich gekleideter Mann, der eine billige, löcherigen Handtasche trug, neben ihm Platz nahm. Trassy blickte den Greis flüchtig an, da er überaus mißtrauisch war, hätte dem Alten aber wohl kaum Beachtung geschenkt, wenn nicht in der Handtasche sich dauernd etwas hin und her bewegt und zuweilen auch ein mißvergnügtes Fauchen sein Ohr erreicht hätte.
Trassy wandte sich jäh um und fixierte seinen Nachbar sehr scharf. „Was haben Sie da?“ fragte er.
Er kannte dieses Fauchen, und seine Hand verschwand in der inneren linken Brusttasche seines leichten Sportmantels.
„Ein Äffchen, Herr,“ murmelte der Greis verlegen. „Ich will ihn etwas umherlaufen lassen, wenn Sie gestatten…“
Trassy rückte schnell bis ans äußerste Ende der Bank.
„Meinetwegen!“
Er paßte genau auf… Er kannte die Heimtücke seiner Gegner.
Der Alte öffnete die Tasche, und vor Freude quiekend schoß ein Kapuzineräffchen hervor und turnte an der langen Leine eiligst auf den nächsten Baumast.
Trassy behielt die Hand in der Manteltasche und fragte erstaunt: „Woher haben Sie das Tierchen?“
„Es ist mir heute zugelaufen, Herr…“
„Wann?“
„Vormittags…“
„Wo‥?“
„Nun, ich wohne im Hinterhaus unweit des Gartens des ‚Astor-Hotels‛, und…“
„Danke. – Sie sind Deutscher?“
„Ja, Privatgelehrter, mein Herr. Und Sie sind Ihrer Aussprache nach Engländer oder Amerikaner.“
„Mag sein…“ –
Trassy überlegte. Sein abenteuerliches Dasein hatte ihn dazu gezwungen, schnell denken und handeln zu lernen. Er begriff nicht, wie Beppo, den er schon an dem kostbaren Halsband wiedererkannte, aus der Schieblade hatte entwischen können.
Nochmals musterte er den Greis voller Argwohn, aber er fand an ihm nichts Verdächtiges. Außerdem würden seine Feinde auch niemals einen Deutschen einweihen.
Er kam zu der Überzeugung, daß es sich bei diesem Zusammentreffen hier wirklich nur um einen jene seltsamen Zufälle handele, die häufig genug vorkommen und die man nicht falsch bewerten darf.
Er beobachtete Beppo, der lustig an dem Baum auf und ab kletterte. –
Und der Greis sagte mit stillem Lächeln: „Mit dem kleinen Affen hatte es noch eine besondere Bewandtnis, mein Herr… Das Tier hatte eine Papierkugel im Maul, und mit viele Mühe gelang es mir, einzelne dieser zerkauten Briefstücke zu entziffern, – der Brief war für eine ‚Ellen‛ bestimmt…“
Trassy fühlte, daß er bleich wurde. „Und der Vatersnamen dieser Ellen und der Aufenthaltsort?“ fragte er heiser.
Der alte Mann zuckte die Achseln. „Es waren nur ‚Ellen‛ und dazu noch ein paar nichtssagende Worte zu lesen, mein Herr.“
Trassy gab die Hoffnung nicht auf. „Besitzen Sie die Brieffragmente noch?“
„Ich warf sie in den Mülleimer,“ erklärte der Greis und schaute seinen Nachbarn prüfend an. „Merkwürdig, daß Sie für solche Nichtigkeiten so viel Interesse zeigen. – Ich bin arm, sehr arm,“ sagte er dann verlegen. „Wenn Sie mir – ich schäme mich fast – für die Briefteile etwas zahlen würden, so…“
Reginald Trassy war hellhörig und gewitzt. Er glaubte jetzt an keinen Zufall mehr, der ihm gerade diesen ärmlichen Menschen in den Weg geführt hätte. Sein Argwohn war mit einem Schlage lebendig geworden, und der Gedanke, daß seine Feinde nun wieder trotz aller Vorsichtsmaßregeln ihm als den geheimnisvollen Widersacher aufgespürt haben könnten, bedeutete für ihn geradezu das Scheitern seiner Pläne. Er mußte sich unbedingt Gewißheit verschaffen, er mußte dann eben neue Wege finden, die ihn ans Ziel brächten. Dieser Greis hier neben ihm konnte weit gefährlicher sein, als er selbst es vorläufig ahnte. Wie immer kam er sehr rasch zu einem bestimmten Entschluß.
„Was die Bezahlung betrifft, – ich werde es mir überlegen,“ erklärte er gleichgültig. „Der Brief hätte nur Kuriositätenwert für mich – – als Engländer. Warten Sie hier. Ich will mir dort aus dem Zigarrenhäuschen nur Zigaretten holen. Immerhin, – hier sind zwanzig Mark Anzahlung.“ Er wollte verhindern, daß der Alte sich etwa entfernte. So ganz sicher war er seiner Sache doch nicht. Vielleicht war der Mann doch harmlos.
Er schritt elastisch davon, und Harst blickte ihm aufmerksam nach. Gleichzeitig mit Trassy trafen vor dem Zigarrenhäuschen drei sauber gekleidete jüngere Burschen mit gesunden sommersprossigen Gesichtern ein, die in Gang und Haltung etwas Militärisches an sich hatten.
Trassy kaufte zwei Päckchen Zigaretten und kehrte zur Bank zurück. Hinter ihm drein schlenderten die beiden kräftigsten der schlichten Leute, während der dritte irgend wohin verschwunden war. Trassy nahm wieder Platz und sagte gemessen: „Ich werde Sie zu Ihrer Wohnung begleiten… Wie heißen Sie?“
Sein bärtiger, bejahrter Nachbar überlegte. Sollte er dem Lord seinen Namen nennen und ihm auf den Kopf zusagen, daß die Hoteldetektive der Einbruchsversuche wegen die Gäste überwacht hatten und daß einer dem abreisenden ‚Mr. Wilkins‛ gefolgt war. War es klug, schon jetzt mit einer rückhaltlosen Ehrlichkeit zu operieren, wo doch die Dinge noch so vollständig ungeklärt lagen?!
Bisher hatte er die gegnerischen Parteien sozusagen in der Hand. Durfte er diesen Vorteil preisgeben, den er lediglich seinem exakt arbeitenden Hirn verdankte?! –
Nein, dazu war es noch zu früh. Er wollte die Weiterentwicklung abwarten.
„Ich heiße Gustav Schmiedecke,“ erwiderte er mit seiner etwas brüchigen Stimme. „Ganz wie Sie wollen, mein Herr, – begleiten Sie mich…“
Er holte den sehr unzufriedenen Beppo an der Leine von Baum herab, steckte ihn in die Hosentasche und schritt neben Trassy her. Der Lord war jetzt abermals unsicherer geworden, Sein Argwohn schwand, und es ging ihm gegen sein Gefühl, diesem Greis ernstlich zu erschrecken, der so offen seinen Namen genannt hatte. Andererseits hatte er ja seit Jahren so viele kleine und größere Gesetzesübertretungen und Freiheiten sich herausgenommen und war gezwungen gewesen, bei der Wahl seiner Mittel seine Charaktereinstellung zurückzusetzen, daß es auf eine strafbare Handlung mehr oder weniger nicht ankommen dürfte, besonders in diesem Fall nicht.
„Ich habe ein Auto bereit,“ meinte er vollständig harmlos. „Wir können also fahren… Wo wohnen Sie?“
„Kastorstraße 11, Hinterhaus vier Treppen…“
Das stimmte. Dort hatte Kautschuk-Gustav sein bescheidenes Heim.
An einem der Hauptwege des Tiergartens stand eine große dunkle Limousine. Neben dem tadellos gekleideten Fahrer saß ein Diener. Es war der dritte Mann von der Zigarettenbude, wie Harst erkannte, – jetzt freilich mit Livreemütze und Livreemantel.
Der Diener sprang ab und riß die Tür auf. – Lord Tracy deutete auf den Rücksitz.
„Steigen Sie ein, Herr Schmiedecke.“
Harst war sich sehr wohl bewußt, welch großes Risiko er hier auf sich nahm. Andererseits vertraute er seiner Erfahrung und Menschenkenntnis. Die Herzogin und ihr unheimlicher Sekretär hatten ihm gründlich mißfallen, während er Trassy für eine Persönlichkeit ganz anderen Schlages hielt. Gewiß, Gesichter können trügen, und im Grunde wußte er ja überhaupt noch nicht, worum es hier ging.
Zunächst um diese Ellen Harrogate, um eine Strafgefangene. Aber es war sehr wenig, das war nur ein dünnes Häkchen, an dem man sich in dieses merkwürdige Problem von Kriminalfall hineintasten konnte – vielleicht…
Er stieg ein, Trassy folgte, und der Wagen glitt davon.
Das Türfenster an Trassys Seite stand offen, und der Lord schaute scheinbar gelangweilt hinaus. Die Zugluft umwehte ihn, und er war überzeugt, daß ihm selbst nichts zustoßen konnte.
Als er nach einigen Minuten den Kopf drehte, lag der alte Mann mit geschlossenen Augen schlaff in der Polsterecke.
Trassy rief dem Diener etwas zu, und dieser fingerte unter seinem Sitz an einem Kasten herum, der außen einen Messinghahn hatte. Die Limousine fuhr im schnellsten Tempo durch einsamen Straßen, und Trassy durchsuchte, nachdem er auch das zweite Fenster geöffnet hatte, die Taschen des Bewußtlosen. Es war nur ein harmloses Gas gewesen, das keinerlei gesundheitsschädliche Nachwirkungen besaß, – plötzlich stutzte der Lord. Er hielt in seiner Hand ein zusammengelegtes Blatt mit aufgeklebten Papierfetzen, und die Rückseite des Zettels zeigte die volle Ergänzung des Brieftextes, den Trassy nicht schnell genug lesen konnte.
Also Ellen Harrogate!! – Endlich!!
Trassy war blaß vor Erregung geworden.
Nochmals überflog er die Zeilen. Ganz unten stand:
Bechert hatte in der Strafanstalt Gornberg angerufen. Die Auskunft erhielt er sofort.
Trassy lächelte hart. Der Alte war also ein Lügner, und zweifellos steckte Honoria dahinter… Aber sie würde sich täuschen‥!!
Er beugte sich zum Fenster hinaus und gewarte die beiden Motorradler, – es waren die strammen, sommersprossigen Burschen. Im übrigen war die Straße leer.
Das Auto erreichte die Villenkolonie Grunewald und den Grunewald Forst, lenkte in einen Seitenweg ein, stoppte, und der bewußtlose Mann wurde in ein Gebüsch getragen, ebenso die Handtasche mit dem unwillig fauchenden Äffchen.
Wenn Reginald Trassy ein wenig beschlagener in solchen Dingen gewesen wäre, hätte er stutzig werden müssen, weil Beppo nicht mit betäubt worden war. –
Eine Stunde drauf verließ Trassy mit seinem Gepäck das Pensionat in der Tiergartenstraße und fuhr unter denselben Vorsichtsmaßregeln davon.
Vorher aber hatte der Greis, der sich sofort nach dem Verschwinden der Limousine eilends in das nächste Restaurant begeben hatte, da er auch nicht eine Minute bewußtlos gewesen, unser Heim in der Arnoldstraße angerufen, kurz Berichte erstattet und ebenso knappe Anweisungen erteilt.
Aus dem Fall ‚Beppo‛ wurde nun erst für mich ein Fall Trassy.
4. Kapitel
Die Mumie.
Die kleine, alte Strafanstalt Gornberg in Pommern war in der Hauptsache für solche Häftlinge bestimmt, deren Vergehen nicht gerade ehrenrühriger Natur waren. Eine kluge Strafjustiz wollte diese Art von Verurteilten nicht mit Gewohnheitsverbrecherin zusammenbringen.
Die Anstalt lag in einem waldigen Tal unweit der Oder, und die Häftlinge hatten sich über nichts zu beklagen. Auch die Bewohner des nahen Örtchens Gornberg empfanden die Nähe der Anstalt keinesfalls störend, zumal ein Bergrücken und ein ausgedehnter See sie von den ernsten Mauern des Gefängnisses trennte und dem Zustrom von Sommergästen keinen Abbruch tat. Gornberg nannte sich Moorbad und hatte sogar ein kleines Kurhaus am See und eine Kurkapelle aus Ortseingesessenen. –
Da unser Befehl lautete, uns in Gornberg einzumieten und zwar etwas außerhalb der Stadt und jeder für sich allein, bekamen wir einander erst am folgenden Nachmittag wieder zu Gesicht. Vorher hatte ich einen Spaziergang durch die Stadt unternommen und war dabei vor dem Kurhaus Herrn Dr. Garm begegnet, der sich allerdings genau so sehr verändert hatte wie ich.
Nun war’s fünf Uhr, und ich stieg jenseits des Sees den Bergrücken hinan, dessen Mitte die uralte Ruine des Schlosses Gornberg zierte. Allerdings, – Ruine konnte man diesen zackigen Hügel von Brombeeren und Efeu nicht mehr nennen, denn vom verwitterten Mauerwerk war nichts mehr zu entdecken, die Rankengewächse hatten seit Jahrhunderten hier ungestört wuchern können, und nur in dem ebenso verwilderten Park war als Sehenswürdigkeit das Mausoleum derer von Gornberg, aus mächtigen Findlingssteinen errichtet, leidlich erhalten geblieben. Über der morschen, eisenbeschlagenen Eichentür hatte die Stadt ein Schild angebracht, das die Besucher bat, die Tür wieder zu schließen und der Weihe des Ortes eingedenk zu sein. –
In diesem massigen, plumpen Erbbegräbnis erschienen also nach fünf Uhr drei Männer und ein fetter Terrier, sie waren die einzigen Ausflügler zur Zeit, und rauchend und leise flüsternd saßen sie im Halbdunkeln der kleinen Kapelle, die über der weit geräumigeren Gruft lag, und erörterten untereinander die Güte ihrer Quartiere und die Aussicht, ob Harst sich hier einfinden würde.
Gustav und Fred, das merkte ich, fühlten sich in der Kapelle über den vermoderten Särgen etwas unbehaglich, und selbst die Hündin Scylla kam nicht recht zur Ruhe und schnüffelte und winselte und wollte durchaus nochmals die Steintreppe hinab in das Dunkel der mit weißgelben Skelettresten und zerfallenen Särgen bedeckten Gruft. Sogar Fred Steens jungenhafte Keckheit versagte hier, und er faßte seine Empfindungen in die berechtigten Worte zusammen: „Harst versteht es geradezu raffiniert, uns an Plätze zu bestellen, die selbst das abgehärtetste Gemüt schaudern machen.“
Es war sehr kühl in dieser Steingrotte, – ich fröstelte.
Die Zeit verstrich, – Harst erschien nicht. Wo er eigentlich steckte, wußten wir nicht. Wir kannten nur den Fall Trassy, soweit dieses unklare Problem vorläufig überhaupt sich überblicken ließ.
Wer diese Ellen Harrogate sein mochte, – keiner ahnte es. Nur eins war gewiß: Reginald Trassy hatte dieses Mädchen gesucht, und zweifellos war sie unter falschem Namen dereinst verurteilt worden. Ob Trassy jedoch gerade auf ihre Person den Hauptwert legte, blieb dahingestellt.
Gustav, der nie ohne Scylla und ohne Kognakflasche sich auf Ausflüge einließ, trank allzu häufig, und selbst Fred und ich suchten Trost im Alkohol. Es war bereits sechs Uhr, und wir gaben jede Hoffnung auf, unserem Herrn und Meister hier zu begegnen.
Dann vernahmen wir Stimmen…
Fred war wie ein Blitz an der Tür, schaute hinaus, prallte zurück und winkte uns hastig zu.
Ich schaltete die Taschenlampe ein, und wir eilten die Stufen hinab. Nur dort unten hinter den Sargresten konnten wir uns verbergen. Man hatte da ein paar Sargbretter vor eine Ecke gestellt, und ich hatte dieses Versteck sofort als sehr nützlich vornotiert, falls etwas Besonderes geschehen sollte.
Dies war nun eingetreten, und zwar gleich in Gestalt von drei Personen, unter denen die Herzogin und dieser Dr. Garm alte, werte Bekannte darstellten, während der dritte Mann, besser ein Männlein im speckigen Bratenrock uns fremd war. Aber ein unleidlicher Bursche war er gleichfalls, und daß die Herzogin ihn ‚Herr Sanitätsrat‛ anredete, konnte den üblen Eindruck nicht verwischen, den dieses kleine bucklige, kahlköpfige Scheusal wohl bei jedem hervorrief.
Honoria Attancire betrachtete beim Schein der Karbidlaterne, die Garm in der Hand trug, vollkommen gleichgültig die verfallenen Särge, die Gebeine und die beiden mumifizierten männlichen Toten in den offenen Särgen, obwohl diese Mumien erschrecken und unheimlich in ihren vermoderten Gewändern mit ihren braungelben, verschrumpelten, staubbedeckten Gesichtern wie in stummer Anklage gegen diese Störung ihrer Ruhe zu protestieren schienen.
„Alles in Ordnung?“ fragte die Herzogin sichtlich übelgelaunt.
Der Sanitätsrat katzbuckelte. „Es war nicht ganz leicht, aber mein Attest über den Gesundheitszustand der Gefangenen hat seine Wirkung getan.“
„Sie wird also früher entlassen, Herr Sanitätsrat? – Wann?“
„Heute abend acht Uhr…“
„Heute schon?!“ Die Herzogin war überrascht. „Acht Uhr ist auch noch etwas früh, es ist dann noch hell.“
„Oh, – es wird Regen geben,“ erklärte der Anstaltsarzt mit seiner tiefen, heiseren Stimme, die unbedingt auf Spirituosen hindeutete. „Außerdem werde ich die Person selbst bis zum Bahnhof des Städtchens begleiten, da ich mir fürsorglich Urlaub genommen habe.“
„Sehr klug,“ nickte Honoria kühl. „Es freut mich auch, jetzt Ihre persönliche Bekanntschaft gemacht zu haben… – Unser Briefwechsel ist doch wie alles andere geheim geblieben?“
„Gewiß, Frau Herzogin… Ich muß hier auch schon in meinem Interesse sehr vorsichtig sein…“
„Das ja – – vielleicht,“ sagte die blasse Frau mit einem verächtlichen Schürzen der Lippen. „Obwohl Sie bei alledem ein Vermögen verdient haben… – Werden Sie sehr bald für immer nach Südamerika gehen, wie ich dies wünschte?“
„Baldigst, baldigst…“ stotterte das kleine, bestechliche Scheusal und verneigte sich übertrieben.
Honoria und Garm wechselten einen schnellen Blick.
Hätte der alte Arzt diesen Blick bemerkt, würde er wohl kaum mit so freudigen Dankesworten das Päckchen Banknoten entgegengenommen haben, das die Herzogin ihm übergab. „Also acht Uhr, – und Sie begleiten das Mädchen allein, Herr Sanitätsrat… – Dann wären wir hier fertig, – ein unangenehmer Ort…“ –
Sie behandelte den Buckligen wie einen Schuhputzer, und der alte Kerl erstarb trotzdem vor ihr in tiefster Ergebenheit. Es war widerlich mit anzusehen.
Die drei entfernten sich.
Wir ließen eine Weile verstreichen, bevor wir uns hervorwagten.
Droben auf der Schwelle des Mausoleum fanden wir einen Zettel von Harsts Hand – flüchtige Bleistiftzeilen:
Habe keine Zeit. Um halb acht in Wäldchen am Bahnviadukt. Schaut euch nach Lord Trassy um. –
Wenn Gustav nochmals derart nach Sprit duftet, daß das Mausoleum wie eine Schnapsbrennerei riecht, wird er für immer entlassen.
H.
Gustav war stark deprimiert. „Rieche ich wirklich so, Herr Fred?!“
„Sie stinken!!“
Wir begaben uns auf den Rückweg. Von Westen drohte schwärzestes Regengewölk.
„Trassy ist auch Harst entwischt,“ meinte Fred grüblerisch. „Eine verrückte Geschichte, – – wer soll daraus klug werden?!“
Als Fred dieser Ansicht, die ich durchaus teilte, höchst ungnädig äußerte, erhob sich in der Gruft des Erbbegräbnisses vorsichtig eine der beiden Mumien, stellte die Taschenlampe auf den nächsten Sarg, entledigte sich seiner unappetitlichen Lumpen und legte mit aller Behutsamkeit die echte Mumie, die unter welken Kranzresten und Brettstücken und schweren Tuchresten einer anderen Ecke versteckt gewesen, in den Sarg zurück.
Dieser Mann mußte jedenfalls über vorzügliche Nerven verfügen, denn die Rolle als Mumie, die er soeben gespielt hatte, würde wohl so leicht niemand auf sich genommen haben. Aber der Mann mit dem kühnen, durchgeistigten Gesicht hatte in seinem Leben bereits ganz andere Dinge fertiggebracht.
Etwa fünfzehn Minuten später erschien am Ufer des Kanals, der den Gorn-See mit der Oder verband, zwischen dem Weidengestrüpp ein gut gekleideter Herr mit Wettermantel und Sportkappe und betrat das Deck des hier festgemachten kleinen Flußdampfers, wand sich zwischen den Tonnen, Kisten und Körber hindurch, erwiderte flüchtig den strammen Gruß eines sommersprossigen Matrosen und öffnete eine der Türen des Heckaufbaus, nickte dem am Tisch der überraschend elegant eingerichteten Kajüte sitzenden älteren Kapitän kurz zu und sagte vertraulich: „Behalten Sie Platz, Torndyk… All unsere Vorsichtsmaßregeln haben nichts geholfen. Dieser unvermeidliche Harst ist doch wieder zur Stelle.“
Er warf Mütze und Mantel auf einen Stuhl und setzte sich.
„Verdammt!“ fluchte Torndyk erschrocken. „Der Mensch muß geradezu mit dem Satan im Bunde stehen, Mylord.“
„Trotzdem wird er Ellen nicht bekommen,“ meinte Trassy finster. „Nur sie kann uns auf die richtige Fährte bringen, und so, wie ich sie kenne, wird sie Honoria nie getraut haben… Ich weiß, was ich von Ellen zu halten habe, – das ist noch echter altenglischer Schneid und britische Klugheit… – Sorgen Sie für alles Nötige. Heute abend acht Uhr wird sie entlassen… Wer zuerst zugreift, der siegt… Rücksichten gibt es nicht.“
Torndyk stapfte breitbeinig hinaus und trat seine Vorbereitungen. Aus dem verrosteten Schornstein des Dampfers ‚Haffschwalbe‛ stieg dicker Qualm empor, obwohl die ‚Haffschwalbe‛ die stärksten und modernste Motoren besaß. Der Rauch war Bluff, und der andere Mann, der drüben im Wald stand und ein Fernglas vor den Augen hatte, lächelte nachsichtig.
Der Kriminalfall ‚Trassy‛ war eben keine Durchschnittsgeschichte, denn wo drei Parteien einander mit fast gleichen Mitteln bekämpfen, muß man stets auf unliebsame Zwischenfälle rechnen und danach seine Dispositionen entwerfen. Dies alles wußte Harst sehr gut, und er richtete sich hiernach. Sein Lächeln erstarb, und gedankenvoll kletterte er wieder den Bergrücken empor bis zu einer Stelle, wo er rechter Hand im Tal die Anstalt Gornberg, linker Hand den See, den Kanal und das Städtchen und geradeaus das blanke Band der Oder erblickte. Doch auf dem Fluß weit nach Norden zu lag eine graue, unauffällige Motorjacht, und das Fernglas zeigte Harst ein flinkes Boot, das soeben auf die Jacht zuhielt. In dem Boot saß die steife Gestalt des Dr. Garm, und Harsts rege Phantasie reihte jetzt eilends Schlußfolgerung an Schlußfolgerung, ohne jedoch dem Kern des Rätsels irgendwie näherzukommen.
Hatte Honoria Attancire wirklich ein paar heimtückische Morde auf dem Gewissen?!
… Zuweilen zweifelte er daran. Selbst sein geschulter Verstand vermochte hier Schuld und Unschuld, Recht und Unrecht nicht voneinander zu trennen, zumal auch Reginald Trassys Kampfmethoden keineswegs einwandfrei waren und letzten Endes etwa zwanzig Millionen Pfund Sterling auf dem Spiel standen.
5. Kapitel
Wie Ellen entkam…
Gegen halb acht regnete es in Strömen. In dem kalten, nüchternen Dienstzimmer des Strafanstaltdirektors saßen drei Herren, die sich gedämpft und etwas zögernd unterhielten. Sie wogen ihrer Worte vorsichtig ab, und nur der bucklige, kümmerliche Sanitätsrat in seinem speckigen unmodernen Gehrock sprach flüssiger und eindringlicher. Dann verabschiedete sich der eine Herr, den der Direktor höflich bis zum Ausgang geleitete, wo ersterer nochmals flüsternd betonte:
„Die englische Regierung hat mit ihren Ersuchen an unser Ministerium eben vollen Erfolg gehabt, – wir tragen keinerlei Verantwortung, wir haben zu gehorchen. Ihr Doktor wird wegen Bestechlichkeit später gründlich verknackt werden, reudige Schafe finden sich überall, dafür ist Ihre Anstalt im übrigen auch ein Musterinstitut seiner Art, lieber Herr Direktor. – Gute Nacht…“ –
Und der vornehme hohe Beamte bestieg sein Dienstauto und fuhr in Sturm und Regen davon.
Gleich darauf führte die Oberaufseherin der Frauenabteilung ein elegant gekleidetes, blasses junges Mädchen von pikanter Schönheit in das Büro und meldete dienstlich:
„Strafgefangene Ellen Harrogate zur Entlassung bereit.“
„Ich danke Ihnen, Frau Mack,“ sagte der Direktor freundlich. „Herr Sanitätsrat Brüßler will Fräulein Harrogate mit zur Bahn nehmen.“
Ellen Harrogate, die ihr Köfferchen neben sich gesetzt hatte, blickte den Sanitätsrat aus ernsten braunen Augen überrascht an. –
Der Direktor hüstelte…
„Unser bisheriger Arzt ist beurlaubt,“ glaubte er erklären zu müssen. –
Dann hüstelte er von neuem. Er fühlte sich heute in seiner Haut seit langer Zeit nicht recht wohl. Diese ganze Geheimniskrämerei war seiner biederen Natur zuwider.
Ellen Harrogate starrte den ihr fremden, wenig sympathischen Arzt noch immer prüfend an, bis dieser irgendein Wort vor sich hin murmelte, daß nur von Ellens geschärftem Gehör aufgefangen wurde:
Attancire‥!
Ein flüchtiges Lächeln glitt über ihre angenehmen, energischen Züge. Dieses Lächeln war schwer zu deuten.
Der Direktor überreichte ihr den Umschlag mit ihren Entlassungspapieren und eine größere Geldsumme, die für sie anonym eingegangen war, drückte ihr zum Abschied herzlich die Hand und verneigte sich etwas steif vor dem Sanitätsarzt, der nun einen fleckigen langen Gummimantel überzog und eine löcherige alte Handtasche hinter seinem Stuhl hervorholte.
Vor dem Portal der Anstalt war eine Autotaxe vorgefahren, – das Moorbad Gornberg verfügte im ganzen über drei dieser Vehikel, Ellen und der Arzt stiegen ein, und das Auto ratterte klappernd den gepflasterten Weg entlang, bis es in die Chaussee einbog, die zum Bahnhof führte.
Es goß noch immer in Strömen. Die Scheinwerfer der Taxe beleuchteten große Wasserlachen und das nasse Gras des dicht neben der Chaussee hinlaufenden Bahndammes. –
Ellen Harrogate lehnte steif in ihrer Ecke und überlegte… Sie mußte schleunigst zu einem Entschluß kommen, denn nur in voller Freiheit konnte sie ihr bereits genau zurechtgelegtes Vorhaben zugunsten des Mannes vollenden, den sie ungewollt getötet hatte.
Sie war sich aber auch darüber im klaren, daß dieser unbekannte Arzt neben mir, der bisher lediglich von dem schrecklichen Wetter in gedrechselten Phrasen gesprochen hatte, sie niemals ungehindert entkommen lassen würde, und ihr Verdacht gegen diesen Menschen wurde noch dadurch gesteigert, daß sich in dessen Handtasche dauernd irgendetwas bewegte und des öfteren auch ein böses Fauchen hörbar wurde.
Plötzlich änderte der bucklige Sanitätsrat jedoch sein Benehmen. „Fräulein Harrogate,“ sagte er mit sehr weicher, gütiger Stimme, „ich errate Ihre Gedanken. Sie möchten frei sein, Sie halten mich für…“
Wohl selten ist es Harst zugestoßen, daß sein ganzes Programm durch die übereilte Tat einer jungen Frau so völlig umgeworfen wurde.
Ellen hatte ihr Köfferchen auf dem Schoß und konnte mit der linken Hand bequem und unauffällig den Türdrücker erreichen. Die Taxe bog soeben in eine Kurve ein und fuhr ganz langsam. –
Sie hatte urplötzlich die Tür aufgestoßen, hatte ebenso jäh mit ihrer rechten Hand zugeschlagen und sprang hinaus … hetzte den Bahndamm empor, auf dem gerade ein Güterzug entlangrollte, sah einen offenen Güterwagen, lief nebenher, schwang sich mit Todesverachtung auf das Trittbrett und kroch völlig durchgerüttelt in den leeren Wagen hinein.
Harst, der den Schlag glücklich pariert hatte, ließ den Schofför sofort wenden und rief ihm noch einige Verhaltensmaßregeln zu.
„Wird jemacht,“ bestätigte Kautschuk-Gustav die erhaltenen Befehle. –
Inzwischen hatten sich an dem Bahnhofsviadukt ebenfalls sehr eigentümliche Dinge abgespielt. Fred und ich waren im strömenden Regen rechtzeitig zur Stelle gewesen, liefen hier aber einigen strammen Burschen in die Hände, die mit uns sehr kurzen Prozeß machten. Die vier Kerle besaßen Bullenkräfte, und die Mahnung des einen, sie würden uns die Schädel einschlagen, war unbedingt überzeugend. Wir verhielten und still, wurden gefesselt und mußten mit bis dicht an den Viadukt, wo ein paar Laternen den Tunnel matt erleuchteten.
Wir konnten alles genau verfolgen, und es gab auch so allerhand zu sehen…
Zunächst bemerkte ich außer den vier strammen Kerlen, die alle lange Ölmäntel und Ölkappen trugen, noch einen fünften, der sich mehr abseits hielt.
Ob es Lord Trassy war, wußte ich nicht recht. Ich hatte ihn noch nie zu Gesicht bekommen, und bei dieser ganzen ungeklärten Sachlage, wo Freund und Feind kaum zu unterscheiden waren, konnte es auch der eklige, ewig lächelte Dr. Garm sein.
Dann näherte sich aus der Richtung der Anstalt ein Auto, dessen rechter Scheinwerfer ein wenig flackerte.
Das Signal kannte ich… Das hatte mit in Haralds allerletztem Befehl gestanden als Zeichen für uns.
Und dann – das ging alles im Augenblick – prallte die Taxe etwa fünfzig Meter vor der Überführung halb sich aufbäumend zurück, und ebenso jäh sprangen ein paar im Straßengraben verborgene Leute zu, rissen eine Frau aus dem Wagen, schleppten sie den Bahndamm empor und verschwand drüben im Wald.
Gustavs wütende Flüche und das grimme Heulen seiner Scylla mischten sich dabei in den dumpfen Knall einiger Schüsse.
Gustav verstummte plötzlich.
Die fünf Kerle neben uns rannten in langen Sätzen davon, und so flink sie auch sein mochten, sie kamen dennoch zu spät. Der eine kehrte zu uns zurück und nahm uns die Handfesseln ab…
„Ich bin Lord Tracy,“ sagte er sichtlich niedergeschlagen. „Sie entschuldigen, meine Herren… Aber jetzt begreife ich von alledem gar nichts mehr… Ich weiß, wer Sie sind, – – wo befindet sich Herr Harst?“
Ich antwortete nur sehr zögernd, denn niemand gibt gern zu, daß er von seinem besten Freund halb und halb genasführt worden ist.
„Harst muß sich in der Taxe befinden, Mylord… –
Ist der Schofför etwa erschossen worden?“
„Nein… Edlere Teile haben nicht gelitten, nur von der Nase fehlt ein Stückchen, und das, was Sie als Harst bezeichnen, ist – es klingt lächerlich – eine Strohpuppe, eine Vogelscheuche, der die drei Brusttreffer gar nichts schaden.“
Lord Trassys bitterer Humor täuschte mich nicht darüber hinweg, daß die Entführung Ellen Harrogates ihn vollkommen aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht hatte.
Die wahren Zusammenhänge konnte ich damals noch nicht ahnen, und erst als wir auf die Autotaxe zuschritten und Gustav mit dick umwickelter Nase uns entgegenkam und nach einer Menge von Kraftausdrücken über das Tau schimpfte, das die Kerle ganz tief über die Chaussee gespannt hatten, lichtete sich das Dunkel ein wenig.
„Herr Harst hatte einer Landstreicherin fünfzig Mark gegeben… Wo sollte sonst auch das zweite Frauenzimmer herkommen?!“ knurrte er äußerst übel gelaunt und befühlte seine Nase. „Er sagte mir gleich, daß wahrscheinlich geschossen werden würde, und ich hatte mich daher zusammengeduckt. Er wollte wohl feststellen, wie weit die Banditen gehen würden, und er behielt recht. Trotzdem klappte die Sache nicht, der Austausch der Weiber war unmöglich, weil die Richtige vorher entwischte, – – Schweinerei!!“
Lord Trassy stand mit undurchdringlicher Miene dabei.
„Ich bitte Sie, fortan meine Gäste zu sein,“ meinte er höflich. „Meine maskierte Jacht liegt und an der Einmündung des Kanals in die Oder. Bitte holen Sie schleunigst die Koffer aus Ihren Quartieren und nehmen Sie meine Einladung an. Herr Harst wäre sicherlich damit einverstanden, denn er wird nun wohl überzeugt sein, daß die Herzogin auf Menschenleben sehr wenig gibt.“
Als wir dann an Bord der kleinen Jacht kamen, war es halb elf geworden. Der Regen hatte aufgehört, und Beppo turnte selig auf den Masten des Schiffleins umher, zwischen denen eine Antenne gespannt war. Harst hatte das Äffchen im Auto zurückgelassen.
Die Handtasche konnte er bei seiner eiligen Verfolgung der flüchtigen Ellen nicht brauchen, er mußte die Hände frei haben, und nur so glückte ihm das, was er mir später gutgelaunt erzählte.
6. Kapitel
Blindfahrer im Güterzug.
Das Mädchen, das als Ellen Harrogate wegen fahrlässiger Tötung unter Versagung mildernder Umstände seiner Zeit zu drei Jahren Gefängnis verurteilt worden war, fand in einer Ecke des leeren Güterwagens genügend Holzwolle, Stroh und alte Wolldecken, um sich darunter zu verbergen und auch ein weiches Lager herzustellen. Ihren Koffer hatte sie gern preisgegeben, den der enthielt doch nur Kleidungsstücke. Alles, was für sie von Wert, trug sie bei sich am Körper. Sie machte sich kein Gewissen daraus, das Geld der Herzogin gegen diese selbst zu verbrauchen, denn obwohl ihr noch die schlüssigen Beweise fehlten, glaubte sie doch felsenfest an die Hinterhältigkeit und an die Schuld dieser skrupellosen Frau, die als treibende Kraft hinter all diesen geheimnisvollen Geschehnissen stehen mußte.
Das Mädchen, durch die Gefängnisluft und durch die in der Strafanstalt erworbenen Erfahrungen noch zäher, regsamer und geistig rühriger als früher, war eines jener seltenen Geschöpfe, die die Strafzeit innerlich nur noch mehr gefestigt hatte. Kühl und klar überdachte sie die letzten Ereignisse, die ihr nur hinsichtlich der Person des neuen Anstaltsarztes einiges zu raten aufgaben.
Inzwischen hatte der Güterzug ein paar kleinere Stationen passiert, und Ellens Angst, daß einer der Bremser droben in den Bremserhäuschen sie bemerkt haben könnte, verlor sich allmählich.
Dann schrak sie heftig zusammen… Eine Gestalt hatte sich durch die offene Tür hereingeschwungen, und der schlanke Mann mit der verwegenen Schiebermütze, dem beschmutzte Gesicht und dem zerrissenen Mantel, der so unbekümmert eine Blendlaterne angezündet hatte, schritt nun mit katzengleichen Bewegungen auf die Ecke zu, in der Ellen Harrogate wild klopfenden Herzens die weitere Entwicklung der Dinge abwartete. Sie kannte den Blindfahrer nicht, aber irgend etwas in seiner Haltung und seinen übervorsichtigen schleichenden Schritten erschien ihr übertrieben. Der Mann, der auf dem Rücken einen merkwürdigen Rucksack trug, erspähte sie sehr bald und musterte sie mit freundlichem Grinsen. Ohne weiteres setzte er sich neben sie und stellte die Laterne auf den Boden, so daß der Lichtschein ihr Gesicht beleuchtete.
„Auch nach Stettin?“ fragte er mit einer heiseren, trotzdem nicht unangenehmen Stimme. „Du brauchst vor mir keine Angst zu haben,“ fügte er sofort hinzu. „Ich bin ein armer entgleister Teufel, habe mal bessere Tage gesehen. Ich saß bisher hinten im dritten Wagen und sah dich einsteigen… Kommst du aus Gornberg? Es war eine tolle Sache, wie du aus dem Auto entwischtest… – Nein, du brauchst dich nicht zu fürchten, Kollegin… Wirklich nicht… Wirklich nicht… Wir Entgleisten halten stets fest zusammen. Ich war mal Jurist, – das siehst du mir heute auch nicht mehr an… Pech gehabt, – war auch schon in Gornberg, – – verdammtes Motorrad!!“
Er sprach etwas zusammenhanglos, und doch hatte er stets ein stillvergnügtes Lächeln um die Lippen.
Ellens Angst verflog. „Wie meinen Sie das mit dem Motorrad?“ fragte sie mitfühlend. „Haben Sie jemand…“ – sie zögerte – „jemand verletzt?“
„Leider.“ Er wurde sehr ernst. „Der alte Mann lief mir direkt vor die Maschine, aber du kennst ja die Richter… Sie urteilen nach den Aussagen von Zeugen, die weiß Gott was gesehen haben wollen… Dem Angeklagten glaubt man nichts. Ich hatte auch Feinde…“ deutete er flüchtig irgend eine Intrige an.
Dann nahm er seinen Ranzen vom Rücken, der aus einer pappartigen Masse bestand, in ein Öltuch eingewickelt und innen hohl war.
„Willst du was essen, trinken oder rauchen? Bitte, lang nur ohne Umstände zu. Ein Schluck Kognak schadet nie…“
Er füllte den Becher, reichte ihr auch Feuer für die Zigarette und benahm sich so vollkommen als Kavalier, daß Ellen sehr bald Vertrauen zu ihm faßte.
Der Mann war eben ein geschulter Menschenkenner und verstand es, auch die mißtrauischste Natur für sich einzunehmen. Ellen ahnte nicht, daß der seltsame Ranzen vor kurzem noch ein Buckel gewesen war. –
„Sie sind auch etwas Besseres, Fräulein, das merke ich,“ sagte er nun wie entschuldigend, weil er sie vorher geduzt hatte. „Mein Name ist Garald, Herrmann Garald … ein Entgleister, Beruf Vagabund und Forscher. Mich interessiert alles, was irgendwie ungewöhnlich ist, und Ihre Flucht war ungewöhnlich.“
Er fragte nichts weiter, sondern rauchte mit Behagen seine Zigarette. Gerade weil er so wenig aufdringlich war, kam Ellen ein besonderer Gedanke. Sie brauchte für das, was sie vorhatte, unbedingt einen verschwiegenen Helfer, und dieser Mann neben ihr gefiel ihr. Auch sie besaß Menschenkenntnis. Daß sie es mit einem der geschicktesten Privatdetektive zu tun haben könnte, lag außerhalb ihres vielseitigen Ideenkreises. Ihr genügte, daß der Mann der Aussprache nach ein Deutscher und kein Engländer war, einem Engländer hätte sie nie mehr getraut.
Er redete jetzt wie ein Gebildeter – und das war er zweifellos – über den modernen Strafvollzug und lobte die Anstalt Gornberg und den herzensguten Direktor.
„… nur der Anstaltsarzt mißfiel mir,“ fügte er ehrlich hinzu. „Ihnen auch, mein Fräulein?“
„Ja… – Ich heiße übrigens Ellen Harrogate, und ich mußte drei Jahre…“
Er drehte blitzschnell den Kopf und schien sehr überrascht zu sein.
„Wie, – Ellen Harrogate, – – nicht möglich! Dann sind Sie es, die einen ähnliches Pech hatte wie ich. Der Mann, der damals verunglückte, verbrannte in seinem zertrümmerten Wagen. Ich kenne Ihren Fall. In einer Strafanstalt bleibt nichts geheim. Ich bin erst vor drei Monaten entlassen worden.“
Ellen war nun zu einem endgültigen Entschluß gelangt.
„Herr Garald,“ meinte sie ernst. „Sie werden es mir nicht glauben, aber – – ich bin unschuldig. Kennen Sie alle Einzelheiten meines Mißgeschicks?“
„Nein…“
„Würden Sie mir helfen, den Beweis zu erbringen, daß ich das Opfer eines sehr raffinierten Schurkenstreiches geworden bin? Ich werde Sie gut bezahlen, und…“
Er wehrte höflich ab. „Sprechen Sie nicht von Geld… Wir sind Leidensgenossen, Sie dürfen vollkommen auf mich rechnen. Erzählen Sie mir alles ganz ausführlich, als früherer Jurist vermag ich mir sehr wohl, mir ein Urteil über scheinbar unklare Geschehnisse zu bilden.“
Ellen rückte etwas näher an ihn heran und bat noch um eine Zigarette.
„Ich war damals Sekretärin der jetzigen Herzogin von Attancire, die zu jener Zeit noch Lady Gorls hieß. Meine Herrin weilte mit ihrem Gatten damals zur Kur in Swinemünde. Sie liebte die deutschen Ostseebäder, behauptete sie, und der Lord, der blindlings alles tat, was sie wünschte, langweilte sich dort sträflich und war zumeist mit einem Auto unterwegs. – Eines Tages schickte mich die Lady nach Berlin, wo sie verschiedene Kleider bestellt hatte. Die Gorls hatten zwei Autos für die Dauer ihres Aufenthaltes gemietet, und da auch ich gern am Steuer saß, fuhr ich mit der schweren Limousine nach Berlin, holte die Kartons ab und kehrte abends heim. Unweit der Eisenbahnbrücke vor Stettin in einem Wald nahm ich eine Kurve in zu raschem Tempo, und zu meinem Entsetzen schob sich plötzlich ein anderes Auto quer über den Weg. Es kam zu einem heftigen Zusammenstoß, der leichtere Wagen flog in den Graben, der Benzintank explodiert, und der einzige Insasse verbrannte. – Es war Lord Edward Gorls.“
Ellen atmete hastiger, und die nächsten Sätze klangen wie eine furchtbare Anklage.
„Ich behaupte nun, daß das Auto des Lords mir absichtlich in den Weg dirigiert worden ist, denn die Kurve war immerhin zu übersehen, und ich hatte keinen Wagen bemerkt. Der einzige Zeuge des Unfalls war seltsamerweise ein Motorradler, ein Dr. Houston Garm, ein Bekannter des Lords, den dieser mit nach Swinemünde genommen hatte. – Ich wurde verurteilt, ich konnte nicht leugnen, daß ich zu schnell gefahren war. Dr. Gorm suchte mich als Zeuge bei der Verhandlung zu decken und war in seinen Angaben sehr vorsichtig, – hinterher erst wurde mir klar, daß der Mann unbedingt ein falsches Spiel getrieben hatte. Wahrscheinlich…“ – sie zauderte und blickte zur Seite… „wahrscheinlich dürfte … dürfte … der Lord … schon…“
„… schon tot gewesen sein, als der Zusammenstoß erfolgte,“ ergänzte ihr Nachbar mit kühler Sachlichkeit. „Das nehme ich jedenfalls an, Fräulein, und es wird wohl auch stimmen, jedoch nur halb…“
„Halb?!“
„Ja… Ich mache mir über die Vorgänge so meine eigenen Gedanken. Dr. Garm hat Ihnen den leichteren Wagen in den Weg geschoben, und die Lady, die heutige Herzogin, wollte sich eben Ihres Gatten entledigen. Ich betone: Entledigen! Eine halbverkohlte Leiche ist kaum wiederzuerkennen und soweit ich unterrichtet bin, hatte Lady Gorls damals auch bestritten, der Tote sei ihr Gatte. Sie tat dies wohl, weil der Lordtitel und der Hauptteil des Vermögens an einen europäischen Neffen des Lords, einem gewissen Reginald Trassy, gefallen wäre, der damals auf Sumatra weilte und nicht zu erreichen war, später von einem anderen Oheim ebenfalls den Lordtitel erbte. Trotz der Zweifel, die Lady Honoria, geborene Harper, über die Identität des Toten äußerte, erklärte das englische Gericht Edward Gorls doch für tot, und der Rechtsanwalt der Lady einigte sich mit Trassys Bevollmächtigtem dahin, daß Trassy nur ein Viertel des Vermögens erhielt, weil der Fall so unklar lag. – Honoria Gorls machte dabei also ein sehr gutes Geschäft, und Lord Trassy, der selbst sehr reich ist, änderte an den Dingen nichts, sondern schien keinerlei Verdacht geschöpft zu haben. Schien!“
Ellen Harrogate vermochte nicht eine Silbe hervorzubringen. Sie hätte nie geahnt, daß dieser Garald so gut in die Verhältnisse eingeweiht sei.
„Sie wundern sich…“ meinte er leichthin. „Lassen wir die Masken fallen, – ich bin der deutsche Privatdetektiv Harald Harst, und Sie, mein Fräulein, sind – verzeihen Sie ein offenes Wort – ein uneheliches Kind jenes Lord Gorls, von dem Reginald den zweiten Lordtitel erbte. Sie heißen Ellen Harrow, nach Ihrer Mutter…“
Das Mädchen begann plötzlich zu weinen. Ihre Nerven streikten… Aber ihres Nachbars gütigem Zuspruch gelang sehr bald, sie völlig zu beruhigen.
7. Kapitel
Ein treuloser Verbündeter.
Die graue, mittelgroße Motorjacht ‚Attancire‛, ein im Hafen von Swinemünde sehr gut bekanntes Schiff, passierte morgens sieben Uhr die Lotsenstation und wurde ohne Kontrolle vorübergelassen, da man wußte, daß die Herzogin häufiger Ausflüge nach Rügen unternahm.
In dem überaus eleganten Hecksalon saßen zwei etwas übernächtigte Gestalten und erfrischten sich an starkem Mokka. –
Frau Honoria war nervös und hatte finstere Falten über der Nase, Dr. Garm wieder konnte nur mit aller Mühe sein eingefrorenes Lächeln beibehalten, – es glich mehr einem verzerrten Grinsen.
Als der Leuchtturm und die lange Ostmole im Morgennebel hinter dem Schiff verschwanden, erhob die Herzogin müde den bisher gesenkt gehaltenen Kopf und sagte gedämpft:
„Also die Angst wäre unnötig gewesen, Houston. Die andere bleibt. Man hat uns hier nichts in den Weg gelegt, daß offenen Meer zu erreichen… Aber Funktelegramme sind nur allzu flink, und schon in der nächsten Minute können wir die Meute auf den Fersen haben. Dieser Reginald ist ein unglaublich tückischer Mensch… Und Harst…“
Dr. Garm deutete durch das Fenster.
„Zunächst ist der Nebel unser bester Verbündeter, Honoria. Außerdem kann uns niemand nachweisen, daß wir die Autotaxe dort bei Gornberg überfallen haben. Du siehst denn doch etwas zu schwarz, liebe Honoria…“
Ähnliches hatte er ihr schon wiederholt gesagt und doch keinen Erfolg erzielt. Seinen Worten fehlte die Überzeugungstreue. Ein so aalglatter Schuft, Lügner und Mörder er auch sein mochte, – er fühlte selbst am besten, daß irgend eine Katastrophe drohte. Selbst seine langjährige Verbündete hatte er vorhin grob belogen, weil er es einfach nicht wagte, ihr die unbegreifliche Tatsache, daß statt Ellen Harrogate eine Wildfremde in der Kammer des Vorschiffs lag, einzugestehen.
Er ahnte dunkel die Zusammenhänge, und als die bleiche Herzogin mit einem Seufzer bemerkte, hoffentlich seien der Sanitätsrat, und der Schofför auch wirklich tot, beschränkte er sich auf die kühle Entgegnung, er sei seines Schusses noch immer sicher gewesen.
Honoria Attancire erhob sich und schritt in Salon auf und ab. „Wenn wir Trassy nur früher durchschaut hätten!“ meinte sie kopfschüttelnd. „Der Mensch ist ein geborener Heuchler, nie ließ er irgend welche Feindseligkeit…“
Garm lachte brutal. „Warte ab! Wir fangen ihn. Oder – – er löst sich in Nichts auf… Die Ostsee ist verschwiegen.“
Trotzdem weilten seine Gedanken noch immer in Gornberg. Honoria redete hier von Trassy‥! Lieber Gott, Harst war doch weit gefährlicher‥! Das bewies schon das fremde Frauenzimmer im Vorschiff. Und – Sanitätsrats?! Garm hatte den Mann in der Autotaxe nur flüchtig gesehen… Aber das war überhaupt kein lebender Mensch gewesen… Zu spät hatte er dies erkannt.
Ihn fröstelte…
Er füllte schnell ein Glas und goß den Kognak hinab.
Honoria blieb vor ihm stehen.
„Houston, das ganze Unheil begann mit Beppo… Und mit Harst.“ Sie kaute nervös die Unterlippe. Ihr Hirn fieberte, ihr Denken war sprunghaft, sie konnte sich nicht mehr geistig sammeln. „Reginald wollte durchaus herausbringen, wer diese Ellen Harrogate sein könnte, die da verurteilt worden war. Es war mein Fehler, ihr anzuraten, den Namen der Geburtsstadt ihrer Mutter zu wählen… – Ellen Harrow! Ich glaube, er liebt sie… – Was soll nun mit ihr geschehen, Houston…“
Sie wurde noch bleicher, als sie seinen kalten, hellblauen Männeraugen begegnete.
„Geschehen?!“
Der Ton seiner Stimme sagte alles.
Und dabei dachte er wieder nur an das Unbegreifliche, daß dort vorn in der Kammer eine verkommene Landstreicherin saß, deren quälender Husten und abgezehrtes Gesicht auf schwere Krankheit schließen ließen.
Honoria stellte sich an das Fenster. Hier auf See war der Nebel noch zäher und dicker. Kein Windhauch brachte diese Schleier in Bewegung, die Jacht fuhr mit halber Kraft, und die Herzogin fühlte sich ein wenig sicherer.
Sie setzte sich wieder und schloß die Augen. Erschöpfung ergriff auch ihren Körper, und ihr Denken glitt allmählich in die unwirklichen Gefilde der Halbträume hinüber.
Maßloser Ehrgeiz, Verschwendungssucht und kälteste Berechnung waren die Leitsterne ihres Daseins gewesen. Gerade ihre kalte Schönheit hatte die Männer toll gemacht, aber Honoria Harper war nur durch das Standesamt zu erringen. Sie hatte aus Schlauheit stets für einen makellosen Ruf gesorgt, hatte sich schon dadurch einen Namen gemacht, daß sie nie Geschenke annahm. Der alternde Lord Gorls war für sie die zweite Stufe des Aufstiegs zu den strahlenden Höhen der Menschheit, er war ein verliebter Narr gewesen, den sie verachtete und schließlich haßte. Er mußte verschwinden, diese ewige Komödie, an seiner Seite die liebende Gattin zu spielen, ertrug sie nicht länger…
… Über diesen Erinnerungen schlief sie in ihrem Sessel ganz fest ein.
Dr. Garm belauerte sie aus zugekniffenen Augen und schlich dann hinaus.
Droben an Deck brauchte er sich keinen Zwang mehr aufzuerlegen. Sein Bruder war Kapitän der Jacht, und die ganze Besatzung waren erlesene Zuchthäusler, obwohl äußerlich biedere, gutgekleidete Matrosen. Garm konnte sich auf sie verlassen, er wußte von jedem allzu viel – sie wußten wenig, und niemand würde ihnen Glauben schenken.
Vorhin hatte er reichlich Rum verteilt, und die Bande schlief nun mit Ausnahme der beiden Deckwachen ihren Rausch aus.
Garm wollte nicht länger zögern. Die Frau mußte von Bord… Wenn Honoria die Wahrheit entdeckte, war sie fähig, aus Angst die größten Torheiten zu begehen.
Die ‚Attancire‛ hatte zwei Rettungsboote und als drittes ein winziges Beiboot. Garm ging sehr behutsam zu Werk, als er dieses zu Wasser brachte. Der Nebel war so dicht, daß niemand ihn beobachten konnte.
Dann schlich er zum Vorschiff, nachdem er noch etwas im Beiboot verstaut hatte. Es war eigentlich eine kleine Seemine, aber sie hatte auch einen Zeitzünder, und Garm wußte, daß sie nach genau dreißig Minuten explodieren würde. Er war Arzt und Chemiker, und er verstand etwas von derlei Dingen.
Die ärmliche junge Landstreicherin lag vorn in der winzigen Kammer im Halbschlaf. Sie hatte dem ihr reichlich gespendeten Alkohol gierig zugesprochen, und der böse Husten hatte aufgehört. Das magere, kranke Mädchen, eine der ganz tief Gesunkenen, folgte Garm ohne Widerstand, nachdem er ihr noch ein paar Banknoten in die Hand gedrückt hatte.
„Die Küste ist nahe,“ flüsterte er. „Rudern Sie immer nach Süden…“
Sie war viel zu stumpf, ohne selbst an diesen ihren Erlebnissen etwas Besonderes zu finden.
Das winzige Boot tauchte in den Nebel ein, und Garm wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Er atmete auf… Er würde nachher sagen, das Mädchen wäre entflohen.
Leise kehrte er in den Salon zurück, fand die Herzogin noch fest schlafend vor und streckte sich auf dem Diwan aus.
8. Kapitel
Trassy lüftet den Schleier noch mehr.
Still wie ein Schatten war die ‚Attancire‛ von Stettin aus ein gedecktes, modernes Motorboot gefolgt, hatte sich in Swinemünde an der Lotsenstation vorübergeschlichen und blieb im Kielwasser der Jacht als unermüdlicher Wächter.
Harst und Ellen Harrow hatten in Stettin Glück gehabt und im Hafen sofort ein passendes Motorboot mieten können, dessen Besatzung, Vater und Sohn, froh war, einen so großen Betrag als Anzahlung zu erhalten.
Ellen stand neben Harst vorn im Boot und starrte in den grauen Nebel hinein.
Sie wußte, worum es ging.
„Wir müssen das Mädchen retten,“ hatte Harst ihr erklärt. „Wahrscheinlich wird Garm die Herzogin belogen haben, und diese glaubt, sie wären die Gefangene.“
Das Boot fuhr ohne Lichter. Als jetzt ein Windstoß die Nebeldecke für Sekunden zerriß, war das Heck der Jacht zu erkennen.
„Ein Beiboot!“ hauchte Ellen… „Dort … eine einzelne Person darin…“
Die Nebelschwaden schlossen sich wieder.
Harst rief dem Steuermann einen Befehl zu…
Das Motorboot änderte den Kurs, und gleich darauf lag die armselige Landstreicherin warm eingehüllt in der kleinen Kajüte.
„Lassen Sie das Beiboot treiben,“ befahl Harst, nachdem er es kurz untersucht hatte. „Der Schurke wird auf den Knall der Explosion warten…“
Seitwärts von dem Motorboot strich wie ein Schatten die Jacht Lord Trassys durch den Nebel.
Auch wir hatten das winzige Fahrzeug vorhin bemerkt, und ich kann die Vorgänge hier nur so schildern, wie ich sie damals mir erklärte, weil wir nichts von dem ahnten, was in dem Gepäckwagen sich abgespielt hatte. Reginald Trassy blieb dabei, daß Ellen Harrogate doch noch von den Leuten der Herzogin abgefangen worden sei und sich auf der ‚Attancire‛ befände. Das Motorboot Harsts hatten wir nicht gesehen, und wir hätten ihm kaum eine Bedeutung beigemessen, da wir mit Haralds unmittelbarer Nähe nicht rechnen konnten.
Als nun wiederum der Nebel etwas zerstob, schoß unsere ‚Haffschwalbe‛ eilends auf das Beiboot zu, denn Trassy, dessen Erregung sich immer mehr gesteigert hatte, behauptete atemlos, Ellen sei von Bord der ‚Attancire‛ entflohen…
Wir waren dann noch etwa zweihundert Meter entfernt, als vor uns mit ungeheuerem Getöse eine Wassersäule emporschoß und die Nebelschwaden durch den Luftstoß der Explosion in weitem Umkreis weggefegt wurden. Auch wir bekamen diese Erschütterung zu spüren, die kleine Jacht schwankte heftig, und bevor noch die Riesenfontäne wieder in sich zusammensank, waren wir so nahe heran, daß ein feine Regen von Wasserperlen uns überschüttete.
Die Mine hatte das winzige Boot mit emporgerissen und zu Atomen zerfetzt, und jede Hoffnung, irgendwie noch feststellen zu können, wer nun eigentlich die Insassin gewesen, die hier mit den Tod gefunden hatte, war für alle Zeit vernichtet.
Die auseinandergetriebenen Nebelwände schlossen sich wieder über der Stätte des Unheils, und der Zeitverlust, den uns dieser tragische Zwischenfall gekostet hatte, war so groß, daß wir nachher auch die ‚Attancire‛ nicht mehr aufspüren konnten.
Trotzdem ließ Reginald Trassy den Kapitän direkten Kurs auf Saßnitz auf Rügen nehmen, da er genau wußte, daß die Herzogin dort für den Sommer zu gelegentlichem Aufenthalt eine abseits gelegene Villa gemietet hatte und zwar unter anderem Namen. Seine ständige Beobachtung der blassen, hochmütigen Honoria hatte außerdem noch das Ergebnis gehabt, daß ihm bekannt geworden war, wie seine Feindin dieses romantische Haus droben auf den Klippen immer nur nachts in aller Heimlichkeit von dem benachbarten Binz aus aufsuchte.
Als die ‚Haffschwalbe‛, die der junge Lord vor längerer Zeit gechartert und nur zum Teil mit Engländern bemannt hatte, nun in voller Fahrt den Kreidefelsen der Ostküste Rügens zustrebte, saß Reginald Trassy in dumpfem Brüten regungslos in der Kajüte und war selbst durch meine beweiskräftigsten Schlußfolgerungen nicht davon abzubringen, daß Ellen seiner Person ihn für ewig verloren sei. Auch Gustav mit seiner verbundenen Nase und Fred Steen, der für innigere Empfindungen noch mehr Verständnis besaß, war nicht imstande, Reginalds Verzweiflung zu mildern.
Wie sehr er dieses Mädchen, das lange Zeit seine Jugendgespielin gewesen, liebte und betrauerte, konnte man ihm von dem verstörten, fahlen Gesicht und aus den trostlosen Augen ablesen. Er hatte uns gegenüber von dieser Neigung für Ellen Harrow, die eine vorzügliche Erziehung genossen hatte, kein Hehl gemacht, wir waren an Bord der ‚Haffschwalbe‛ sehr bald wirkliche Kameraden geworden, und uns war nun auch endlich von ihm selbst bestätigt worden, wen er insgeheim seit Jahren suchte: Seinen Onkel Lord Edward Gorls, Honorias ersten Gatten.
Weshalb, das kann der Leser sich selbst unschwer zusammenreimen.
Andere Fragen mögen vorläufig weniger geklärt erscheinen. Die Darstellungsweise unserer Abenteuer, die ich in letzter Zeit gewählt habe, mag, so hoffe ich, ein übersichtlicheres Bild über die Pläne und Gegenpläne der Parteien und auch deutlichere Zeichnungen der Beteiligten liefern. Ich will auch die Gestalt meines Freundes Harald nicht so sehr in den Vordergrund drängen. Seine Verdienste schälen sich schon von selbst plastisch aus dem Durcheinander der Ereignisse heraus.
Was uns bei Reginald Trassy nicht gelang, das brachte nun plötzlich der in der Kajüte munter umherturnende kleine Beppo zuwege.
Beppo hatte ein sehr feines Gefühl für menschliche Seelenschwingungen, genau wie man dies bei klugen Hunden beobachtet.
Plötzlich sprang das Äffchen dem gebrochenen Mann auf den Schoß, kletterte höher, umschlang seinen Hals und preßte das Köpfchen an Trassys Wange und stieß ganz sonderbare Töne aus.
Trassy lächelte schmerzlich…
„Ellen hat den kleinen Kerl sehr gern gehabt, – ich weiß dies von ihrer Mutter,“ sagte er leise. „Aber auch Frau Harrow verriet mir nicht, unter welchem Namen Ellen verurteilt worden war, und sowohl die Herzogin wie dieser ekelhafte Dr. Garm und das gesamte Personal waren genau so verschwiegen. So seltsam es klingen mag, Herr Schraut, ich konnte, da ich ja sehr vorsichtig sein mußte, weder die Strafanstalt ermitteln, in der Ellen ihre Haft verbüßte, noch ihren angenommenen Namen, bis eben zweierlei neue Umstände fast gleichzeitig eintraten. – Ich hatte mich an die englische Regierung gewandt, die mir die Unterstützung der deutschen Behörden zu verschaffen versprach, und – zweitens – Herr Harst fand den zerkauten Brief, den Beppo gestohlen hatte. So kamen die Dinge erst richtig in Fluß.“
Trassy streichelte das Äffchen, und ich beeilte mich eine Frage zu stellen, die mich im Geiste schon längst beschäftigt hatte.
„Weshalb schwieg Ellens Mutter Ihnen gegenüber, Mylord? Wünschte sie eine Ehe zwischen Ellen und Ihnen nicht?“
Trassy zögerte mit der Antwort. „Nein, sie war und ist gegen diese Liebe, Herr Schraut. Der Grund?!… – Ein Vorurteil: Ellen ist ein uneheliches Kind, und Frau Harrow hat es meinem Onkel nie verziehen, daß… – Nun, ich brauche dies wohl nicht weiter auszuführen. Sie hat meinen Onkel geradezu gehaßt und übertrug diesen Haß auch auf mich. Sie war ein Mädchen aus guter Familie, diese Familie verstieß sie, und sie war auf meines Onkels sehr reich bemessene Unterstützung angewiesen und mußte sogar dulden, daß Ellen jeden Sommer nach Gorls-Castle eingeladen wurde…“
Ich war über diese Eröffnungen zunächst so verblüfft, daß ich erst nach längerer Pause fragte: „Weshalb hat Ihr Onkel dieses Fräulein Harrow denn nicht geheiratet?!“
Trassy blickte mich seltsam starr an. „Weil der Stiefbruder Frau Harrows ins Zuchthaus kam, und weil sie dadurch noch menschenscheuer und verbitterter geworden war. Dieser Stiefbruder hatte soeben in Cambridge sein Doktorexamen gemacht und … hatte sich nebenher als Einbrecher betätigt. Sein Name ist Dr. Houston Garm, jetzt Privatsekretäre und Helfershelfer der Herzogin von Attancire.“
Gustav, Fred und ich stierten Trassy ungläubig an…
*
Dr. Garm hatte, bequem auf dem Diwan liegend, mit der Uhr in der Hand und mit einer Zigarre im Mund auf die Explosion gewartet.
Der Knall der hochgehenden Mine erreichte sein Ohr genau um die vorausgesehene Zeit, und Garm schob mit einem kalten Grinsen die Uhr wieder in die Westentasche, legte sich noch behaglicher zurecht und blinzelte etwas höhnisch zu der schlafenden Herzogin hinüber.
Er war ein ebenso intelligenter wie vollkommen gewissenloser Mensch. Da er stets damit gerechnet hatte, daß eines Tages trotz aller schlauen Vorsichtsmaßregeln die schweren Verbrechen aufgedeckt werden könnten, hatte er auch in dieser Hinsicht vorgesorgt. Menschen und Menschenleben galten ihm nichts, sogar Honoria war für ihn nur eine Schachfigur, und wenn es nötig werden sollte, würde er sich schon aus der Schlinge ziehen. –
Was aus Honoria wurde, war ihm gleichgültig.
Daß die Lage sich jetzt äußerst gefahrdrohend zugespitzt hatte, wußte er. Dieser Spürhund Harst war dafür bekannt, daß er sich nie von einer Fährte abbringen ließ. Den ganzen Umständen nach hatte Harst zur Zeit die meisten Trümpfe in der Hand, und Houston Garm sah nur noch eine Möglichkeit, das drohende Verhängnis abzuwenden: Harst und Ellen Harrow mußten ausgetilgt werden! –
Er hatte genug von Harsts Arbeitsmethoden gehört, er durfte damit rechnen, daß der Detektiv wie zumeist niemanden völlig eingeweiht hätte, und wenn also diese beiden Personen vom Schauplatz abtraten, durfte noch nichts verloren sein.
Wie gesagt: Dr. Garms verbrecherische Intelligenz erhob sich weit über dem Durchschnitt, und durch schärfstes Nachdenken gelangte er zu einer Vermutung, die ihm nun genau so lautlos wieder an Deck trieb, wo er hinter der Heckreling mit einem Fernrohr niederkauerte. Als ein Windstoß in die Nebelschleier wieder einmal eine Gasse bahnte, gewahrte er hinter der Jacht ein kleines Motorboot. Vorn standen zwei Gestalten darin.
Der Nebel schloß sich wieder zusammen, und Garm kehrte freudig lächelnd in den Salon zurück. Er dachte an die hübsche Villa in Saßnitz…
Gleich darauf war er fest eingeschlafen. Garm besaß neben anderen hervorragenden Eigenschaften auch die Fähigkeit, den Schlaf herbeizuzwingen, indem er alle lästigen Gedanken ausschaltete. –
Als die ‚Attancire‛ nach Stunden am Steg in Binz festmachte, bedeckte der zähen Nebel noch immer Meer und Land.
Hierauf hatte Garm gehofft. Die Befehle, die er seinem Bruder erteilte, bevor er mit der Herzogin die Jacht verließ und im Mietauto nach Saßnitz fuhr, waren kurz und eindeutig.
9. Kapitel
Die Villa auf den Klippen.
Die Villa ‚Seeblick‛ lag auf einer größeren Terrasse des Steilufers nach Stubenkammer hin. In dem kleinen Garten, der zur Zeit des Nebels wegen seine Schönheiten nur ahnen ließ, standen gegen elf Uhr vormittags drei Männer, während ein vierter sich an einem Kellerfenster hinter einem Gebüsch allerhand zu schaffen machte. Es war Gustav, und er war von früher her Spezialist in solchen Dingen.
„Ich verstehe vom Einbrechen gar nichts,“ flüsterte Lord Trassy etwas gereizt. „Außerdem halte ich es für zwecklos.“
Der freche Fred flüsterte zurück: „Stellen Sie Ihr Licht doch nicht unter den Scheffel, Mylord. Ich wette, Sie waren schon in der Villa.“
Trassy hüstelte. „Nun ja, – ich war sogar zweimal im Hause, mit Nachschlüsseln, die ich mir für die Patentschlösser besorgt hatte… Ich habe die Schlüssel leider auf der ‚Haffschwalbe‛ vergessen.“
„Das sieht Ihnen ähnlich, Mylord,“ meinte Fred unverschämt. „Anfänger bleibt Anfänger… Jetzt muß sich Gustav dort abquälen… Aha, er pfeift leise… Also vorwärts!“
Dies geschah etwa um dieselbe Zeit, als die Autotaxe mit Garm und Honoria von Binz abfuhr.
Wir hatten sehr bald festgestellt, daß die Villa völlig leer war, und es handelte sich nun darum, für uns sechs, die beiden Tiere mit eingerechnet, ein passendes Versteck zu finden. Ein Bodenverschlag, der nur Gerümpel enthielt, erschien uns am geeignetsten, zumal dort einst ein besonderer Raum für Tauben abgeteilt worden war. Das verglaste frühere Ausschlupfloch für die Tauben hätte uns bei klarem Wetter einen bequemen Ausblick über den Zugangsweg zu der behaglich, aber nicht eben elegant eingerichteten Villa geboten. Gustav entfernte die Glasscheibe, um wenigstens jedes Geräusch von draußen auffangen zu können, und wir anderen machten es uns bequem, soweit dies hier möglich war. Ob die Herzogin und Garm überhaupt erscheinen und ob es uns glücken würde, die beiden zu belauschen und so etwas Wichtiges zu erfahren, blieb zweifelhaft. Es war ein Versuch, nichts weiter. Sollte er mißlingen, so war auf andere Art dafür gesorgt, daß die Jacht ‚Attancire‛ uns nicht entwischte. Trassy hatte hier in Saßnitz ein paar Chiffredepeschen aufgegeben, und diese würden wohl ihre Schuldigkeit tun.
Schon nach einer Stunde meldete der Horchposten Gustav, daß zwei Leute den Garten betreten hätten. Dann hörten wir auch die Haustür zuschlagen und vernahmen gedämpfte Stimmen. Fred war bis zur Haupttreppe geschlichen und flüsterte uns seine Beobachtungen in größeren Pausen zu.
Die Villa hatte nur ein Stockwerk und dazu sehr hohe Mansardenräume, ferner einen Turm und aus den Kreidefelsen ausgehauene Kellerräume, – irgend ein wildgewordener Architekt schien den Grundriß entworfen zu haben, denn es gab hier mehr Treppen, Treppchen und Flure als vernünftige Zimmer.
Fred zischelte uns zu, daß die Ankömmlinge tatsächlich die Erwarteten seien, die Herzogin litte offensichtlich unter einer ebenso kampflustigen wie üblen Stimmung, und Garm hätte schon in der Diele ein paar saftige Liebenswürdigkeit zu hören bekommen.
Türen klappen andauernd, – dann ging ein mißtönendes Kreischen durch das Haus, – die Kellertür war geöffnet worden. Sie war aus Eisen, und Gustav hatte vorhin mit den Sicherheitsschlössern viel Mühe gehabt.
„Was will der Kerl im Keller?!“ flüsterte Fred mißtrauisch. „Die Weinvorräte liegen doch in der Speisekammer, und die Keller sind leer!“
Auch ich schlich jetzt bis zur Haupttreppe und horchte. Die allzu dick vergitterten Kellerfenster, die Eisentür und manches andere hatten mir gleich zu denken gegeben.
„Fred, Sie bleiben hier!!“
Ich streifte die Schuhe ab…
Es war ein Wagnis, aber ich sagte mir mit Recht, daß Garm nicht ohne triftigen Grund die kalten Gewölbe aufsuchen würde.
Die Treppenstufen knarrten nicht und waren dick beläufert. Im Haus herrschte ein bedrückendes Zwielicht, nur unten in der Diele war die Krone eingeschaltet, und mein Ortssinn führte mich glücklich über eine Seitentreppe zum jetzt offenen Kellereingang.
Ich lauschte…
Es standen hier vor den Küchenräumen verschiedene eingebaute Wandschränke, und als die angelehnte Flügeltür des einen Schrankes jetzt aufschwang und ein Kopf erschien, konnte ich nur mit Mühe einen Ausruf der Überraschung unterdrücken.
Harst, eine Mütze tief ins Gesicht gezogen, schlüpfte hervor und tuschelte mir zu:
„So ungefähr hatte ich mir dieses Wiedersehen vorgestellt, mein Alter…“ Er rieb sich mit argem Gesichterschneiden die unterste Rückengegend. „Es war kein Spaß, hinten auf der Autotaxe zu hocken, die das edle Paar hierher brachte‥!!“
„Wo ist Ellen Harrow?“ fragte ich ängstlich, denn Haralds Kehrseite war mir augenblicklich ziemlich gleichgültig.
„Wahrscheinlich geschnappt,“ erwiderte er und huschte die Kellertreppe hinab…
Ich war entsetzt, und ich begriff nicht, wie Ellens Geschick ihn so gleichgültig lassen konnte.
Als wir den Hauptgang des Kellers erreichten, vernahmen wir ganz merkwürdige, in ziemlich regelmäßigen Zwischenräumen sich wiederholende Quietschtöne.
Harst drückte sich behutsam an den Wänden entlang, und dort, wo der Keller nach dem Steilufer zu vorhin nur die glatt behauene Wand gezeigt hatte, klaffte nun eine große Türspalte, hinter der eine Laterne brannte, die den Schatten eines sich dauernd verbeugenden Mannes teilweise sehen ließ.
Wir wagten uns noch weiter vor.
Dr. Garm stand dort in einem Stollen neben einer Winde, deren dünne Stahltrosse irgend wohin in das Dunkel des Stollens lief.
Er arbeitete langsam und ohne Anstrengung, sein Gesicht zeigte jedoch keine Spur mehr von jenem eingefrorenen, liebenswürdigen Lächeln, – nein, es war grau und finster, und die Erklärung für seine Niedergeschlagenheit sollten wir sehr bald erhalten.
Irgendwo im Stollen schrillte eine Glocke.
Garm bremste die Winde, trat an eine Wandeinbuchtung heran und entnahm ihr einen Telephonhörer.
„Hallo, – – fertig?“ fragte er.
Die Antwort konnten wir nicht hören.
Dann rief er aufs neue:
„Du kennst meine Absichten… Wir müssen der Katastrophe ausweichen, die mir unausbleiblich erscheint…“
Er legte den Hörer wieder weg und schritt tiefer in den Stollen hinein.
Wir sahen nur, wie er sich bückte und eine Art Luke aufklappte. Dann legte er sich lang hin und zog ein in Decken gehülltes Bündel empor.
„Ellen!“ flüsterte Harst. „Es ist ein Aufzug, und Garms Bruder sitzt unten an der Küste im Boot. Schlaue Teufel – nur nicht schlau genug.“
Dr. Husten Garm trug seine Last nach oben in eine Art Salon, wo die Herzogin matt auf einem Sofa ruhte.
„Was soll das alles noch, Houston?!“ meinte sie völlig mutlos und doch in gereiztem Ton.
Garm legte seine Bürde in einen Sessel und eilte in den Keller zurück, um dort wieder alles in Ordnung zu bringen. Als er zu Honoria zurückkehrte, hatte diese Ellens Gesicht freigemacht und stand vor dem Sessel.
„Wo ist Harst?“ fragte sie das Mädchen, das ihren starren Blick mit einem verächtlichen Lächeln erwiderte.
Garm sagte schroff: „Überlassen Sie mir diese junge Dame! Sie wird sprechen! Zu langem Hin und Her haben wir keine Zeit. – Miß Ellen, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß es Mittel gibt, die Wahrheit zu erzwingen! – Wo ist Harst?“
Die Herzogin lehnte am Tisch und hatte nach einem Glas Portwein gegriffen. Sie trank, ihrer Hand zitterte.
„Ich weiß es nicht,“ antwortete das Mädchen fast unheimlich ruhig.
„Sie lügen!! Er war mit auf dem Motorboot! Ich sah Sie beide… Jetzt war er nicht mehr an Bord.“
„Er ließ sich in Binz ans Ufer bringen,“ erklärte Ellen gleichgültig. „Ich kenne seine Absichten nicht. Er spricht zu wenig, er behält alles für sich…“
Dr. Garm schaute sie prüfend an.
„Das mag stimmen…“ Er wußte nicht recht, was er noch fragen sollte, da die Gegenwart Honorias ihm Zwang auferlegte. Außerdem fürchtete er auch, Ellen könnte gerade das verraten, was auf keinen Fall hier erörtert werden durfte. Es betraf die ‚Flucht‛ der Gefangenen von Bord der ‚Attancire‛.
Er wandte sich der Herzogin zu. „Lassen Sie uns bitte allein,“ sagte er befehlend. „Für Sie sind solche Szenen nichts‥! – Gehen Sie!“
Honoria, geborene Harper, zögerte noch. Ihr Stolz lehnte sich dagegen auf, dieses anmaßende Auftreten Garms in Gegenwart des Mädchens ruhig hinzunehmen. Andererseits war sie jedoch innerlich bereits so zermürbt, daß sie nicht mehr die Kraft fand, sich gegen den Mann aufzulehnen, der letzten Endes ein verbrieftes Recht hatte, von ihr Gehorsam zu verlangen. Mit einem Achselzucken, das alles mögliche bedeuten konnte, schritt sie der Tür zu, die in das rechter Hand gelegene Speisezimmer führte. Von dieser Tür hing ein Friesvorhang, sie schlug ihn zurück und trat ein. Es fiel ihr in ihrem jetzigen Zustand gar nicht auf, daß die Tür selbst nur angelehnt war. Sie drückte sie ebenso zerstreut hinter sich ins Schloß und wollte sich in der Sofaecke niederlassen. Die wahnwitzige Angst, die nun seit vielen Stunden ihre harte Seele folterte, war einer bleiernen, schlaffen Gleichgültigkeit gewichen, und als nun unversehens eine schwere Decke über ihren Kopf glitt und eine starke Hand ihr den Mund zuhielt, empfand sie kaum mehr Schrecken und Furcht, sondern nur eine gewisse Neugier, wie die Dinge sich weiter entwickeln und wie Garm sich wohl aus der Affäre ziehen würde, und gerade der letzte Gedanke rief lediglich Schadenfreude bei ihr wach. Sie wußte, daß das Spiel endgültig verloren war, und sie kannte auch die hier unsichtbaren Angreifer, sie wehrte sich nicht, sie wurde in die Sofaecke gepreßt, und es erschien ihr fast lächerlich, daß eine heisere Stimme sie mit dem Tod bedrohte, falls sie sich rührte. –
Als ob der Tod für sie noch irgend welche Schrecken barg! Wie falsch diese Gegner sie einschätzen! Sie hatte seit Jahren ein Dasein gelebt, das langsam ihre Nerven zerstört hatte, weil sie die Gespenster ihrer Frevel niemals bannen konnte. Sie war auf alles jederzeit vorbereitet gewesen, – gewiß sie hatte gegen die drohenden Enthüllungen gekämpft, aber sie war auch zu klug, um nicht die Überfülle der Gefahren zu erkennen.
Sie saß ganz still, und als nun die Decke fortgezogen wurde, gewahrte sie vier Männer, von denen der eine über sie gebeugt dastand und seine muskulöse Hand um ihren Hals gespannt hatte.
Dieser alte Kerl mit dem faltigen Gesicht wie zerknitterter Kautschuk blickte sie böse an, doch ihre Augen hingen nur an Lord Trassys Gestalt, der horchend neben Harst und mir an der wieder geöffneten Tür lehnte.
Nebenan vernahm man Dr. Garms gehässige Stimme, dann ein Auflachen Ellen Harrows…
Die junge Frau sprach sehr laut und deutlich.
„Harst weiß alles, – ich betone: Alles! Glauben Sie nicht, daß Sie ihm noch entschlüpfen können! Wir haben Sie geblufft, Dr. Garm, die Jacht ‚Attancire‛ ist von Polizei besetzt, und…“
„Leiser!!“ zischte Garm in jäher Wut. „Oder bei Gott, – – Sie sollen mich kennen lernen, und…“
Seine Stimme schnappte über…
Ellen schrie auf…
Der Vorhang flog zur Seite…
„Zurück, Doktor!“ befahl Harst eisig. „Eine Kugel ist noch immer schneller als ein Messer‥! Lassen Sie das Ding fallen, – – und Arme hoch! – Fesselte ihn… Der Henker in England soll nicht um sein Honorar kommen… Der Bursche ist eine Kugel nicht wert…“
10. Kapitel
Die Rosen im Garten…
Villa ‚Seeblick‛ hatte eine wundervolle Lage und Fernsicht. Das sah man jetzt erst, als der Wind überraschend schnell die Nebelschwaden vertrieb und der sonnenhelle Himmel sichtbar wurde.
Im Salon der Villa freilich achtete niemand auf die schräg durch die Fenster hereinfallenden Sonnenstrahlen. Außer den bisher unmittelbar beteiligten Personen hatten sich jetzt noch ein höherer Polizeibeamter aus Berlin und ein ebenso hoher Herr aus London eingefunden. Die Herzogin saß totenbleich neben dem gefesselten Garm, wir übrigen hatten unsere Plätze so gewählt, daß wir dem verbrecherischen Paar in die verstörten Gesichter sehen konnten. Nur Ellen und Trassy standen seitwärts an der Flurtür, und Beppo hockte sehr vergnügt auf Ellens Schulter.
„Beginnen Sie bitte, Herr Harst,“ sagte der Herr aus London streng. „Machen Sie es aber kurz. Mich beunruhigt das Schicksal Lord Edward Gorls, von dessen Verbleib die beiden da nichts zu wissen behaupten.“ Er deutete auf die Herzogin und Garm. Dr. Garm lächelte verzerrt wie ein ertappter Unschuldsengel.
Harst schaute durch das Fenster auf das Meer hinaus. Dort lagen fünf Fahrzeuge nebeneinander: die ‚Attancire‛, die kleinere ‚Haffschwalbe‛, ein gedecktes Motorboot und zwei mit Polizei besetzte Lotsendampfer.
„Es gäbe noch vieles zu erklären,“ sagte Harst sehr bedächtig. „Es wird auch noch viele Überraschungen geben… – Die Vorgeschichte ist bekannt. Als Lord Trassy aus Sumatra von seiner monatelangen Expedition zurückkehrte, stiegen ihm sofort Zweifel auf, daß sein Oheim tot sei, gleichzeitig suchte er Miß Ellen, aber sein Hauptaugenmerk richtete er auf die gründliche Klärung des Autounfalls.“
Sein Blick wandte sich Honoria zu.
„Frau Dr. Garm,“ sprach er mit erhobener Stimme, „wer war der halb verbrannte Tote?“
Honoria, geborene Harper, flog halb empor, sank mit einem Ächzen wieder zurück und preßte die Hände vor das Gesicht.
Harst fuhr unbarmherzig fort: „Als ersten heirateten Sie den vorbestraften, aber reichen Dr. Garm, einen vornehmen Verbrecher und Bandenführer. Die Ehe wurde geheim gehalten… – Als zweiten heirateten Sie Lord Edward Gorls. Da Sie Aussicht hatten, auch noch Herzogin zu werden, sollte Lord Gorls verschwinden. An jenem Tag, als Sie Miß Ellen nach Berlin schickten, lagerten unweit der Stelle, die Dr. Garm für den ‚Unfall‛ ausersehen hatte, zwei Vagabunden, eine Frau und ein Mann. – Der Zufall spielt zuweilen eine wahre Rächerrolle. Der Vagabund wurde von Garm fortgelockt, erschlagen und verbrannte in dem Auto Lord Gorls, die Vagabundin, ein armes krankes Geschöpf, liebte ihren Gefährten und suchte nach ihm, blieb dort oben in Pommern und besaß die Zähigkeit all jener Unglücklichen, die wenigstens einmal im Leben selbstlose Liebe kennen gelernt haben. Sie suchte jahrelang, genau wie Lord Trassy und endlich stieß sie wieder auf den feinen Herren, der damals ihren Geliebten unter einem Vorwand mit sich genommen hatte – – auf Housten Garm. Sie sah ihn in Gornberg, bevor ich sie für die Rolle engagierte, die sie nachher als ‚Ellen‛ spielte. – Sie hat mir alles erzählt.“
Honoria starrte Garm wild und haßerfüllt an.
„Ah – du hast mich belogen!!“ keuchte sie. „Du hast niemals Ellen an Bord gehabt, sondern…“
Harst unterbrach sie schroff. „Sie beide haben sich gegenseitig nichts vorzuwerfen… Die arme Landstreicherin lebt, Dr. Garm, und nur das leere Beiboot flog in die Luft. – Es bliebe zu erörtern, wo sich Lord Gorls befindet. Darüber später… Wichtiger sind zwei andere Fragen: Wie starb der Herzog von Attancire, und wie steht es mit einem gewissen Geldversteck, das Sie und Ihre Braut für kritische Zeiten angelegt haben? Es ist festgestellt worden, daß der Herzog bei der Jagd verunglückte. Sein Gewehr schien sich entladen zu haben. Bei dieser Treibjagd, Dr. Garm, waren Sie sein unmittelbarer Nachbar, und ich glaube kaum, daß die englischen Geschworenen jetzt noch einen ‚unglücklichen Zufall‛ annehmen werden…“
Garms bleiches Gesicht war mit Schweißperlen bedeckt.
„… Und nun das Geldversteck… Nachfragen bei den Londoner Banken haben ergeben, daß von dem Vermögen Gorls und des Herzogs etwa zehn Millionen fehlen… Wo ist dieses Geld, Frau Garm?“
Abermals traf den blassen Nachbar dieser Frau, die weder Lady noch Herzogin war, derselbe stiere, haßerfüllte Blick.
„Ich … will die Wahrheit sagen,“ stieß sie heiser hervor. „Wir haben die zehn Millionen hier in dieser Villa im Keller verborgen. Ich werde Ihnen das Versteck zeigen, Herr Harst…“
Garm lachte plötzlich. Es war ein so niederträchtig höhnisches Lachen, daß Honoria ihn mißtrauisch anschaute.
„Oh, – hast du etwa das Geld anderswohin geschafft, du … du … entsetzlicher Mensch?! Wohin?! Rede!!“
Garm schüttelte sich vor Heiterkeit. „Gut, man wird mich aufknüpfen, – – dich auch! Aber das Geld wird niemand finden!“
„Glauben Sie?!“
Harst deutete auf Reginald Trassy.
„Lieber Trassy, vielleicht berichten Sie jetzt einiges über Ihre Erlebnisse als Mumie in der Gruft des Mausoleum auf dem Gornberg…“
Trassy sagte kurz und widerwillig: „Diese Erinnerungen sind so schrecklich, um sie allzu stark aufzufrischen… Ich hatte Garm mehrmals das Erbbegräbnis betreten sehen, ich hoffte ihn und seine Frau dort belauschen zu können… Als ich die Mumie aus dem Sarg hob, fand ich darunter einige Bretter und unter diesen lag ein zweiter mumifizierter Toter…“
„Ihr Onkel Gorls,“ ergänzte Harst, „der von Garm erschossen wurde… – Ich hatte nie damit gerechnet, daß Garm ihn gefangen halten würde… Hiervon weiß Ihre Frau nichts, Dr. Garm, auch davon nicht, daß in dem Sarg das Geld verborgen war…“
Lord Trassy winkte hastig ab. „Lassen wir doch all die widerwärtigen Dinge ruhen, Herr Harst! Es genügt: das Geld liegt unter der zweiten Mumie, und,“ – –
Er blickte die sehr blasse Ellen besorgt an – „… und … wir gehen jetzt in den Garten… Hier ersticke ich… Kommen Sie, Ellen, ich will Ihnen draußen die schönen Herbstrosen zeigen…“
Er legte den Arm um ihre Schultern, und die Tür klappte hinter dem jungen Paar zu, dem jetzt erst eine glückliche Zukunft winkte, nachdem es die Schatten einer trüben Vergangenheit überwunden hatte.
Harald betrachtete die völlig in sich zusammengesunkene Gestalt der Honoria Garm mit ernstem Bedauern.
„Sie sehen, wohin ein schrankenloser Ehrgeiz und eine so hemmungslose Gier nach Luxus führen… Sie sind immer tiefer in Verbrechen hineinverstrickt worden, Garm war Ihr böser Geist, er betrog Sie, belog Sie, er hoffte mit den zehn Millionen verschwinden zu können und hätte Sie Ihrem Schicksal überlassen. Man kann nicht gerade vom ‚Zufall‛ sprechen, als Trassy in dem Sarg den zweiten Toten und das Geld entdeckte, nein, es war ein zwangsläufiges Geschehen, – genau so zwangsläufig wie meine Rolle als ‚Sanitätsrat‛, Ellens Flucht und unser Zusammentreffen im Güterzug. Eins entwickelte sich aus dem andern, ein Glied der Kette griff in das zweite, und der kleine Anlaß, der zur Lawine wurde, war ein von Beppo gestohlener Brief, ein in ein Schlafgemach gestellter Schreibtisch und ein photographierter Ring, den Dr. Garm angeblich unter einem Bett hervorholte… Das waren sehr böse Fehler, Dr. Garm. Sie werden aus diesen Fehlern nichts hinzulernen können, denn Ihnen dürfte kaum wieder Gelegenheit geboten werden, sich auf Ihrem Spezialgebiet zu betätigen. –Wenn die Herren jetzt mit der Abfassung des Protokolls beginnen wollen, – – Schraut und ich gehen derweil in den Garten hinaus…“
… Wir kamen jedoch nur bis zur Haustür…
Wir wollten nicht stören…
Zwischen den Rosensträuchern standen Lord Trassy und Ellen, und augenblicklich hatte Reginald etwas Besseres zu tun, als Rosen zu bewundern…
Nur Beppo, der auf dem Zaun herumturnte, hatte uns bemerkt, kam eilends herbeigeschossen und kletterte an Harald empor, wobei er allerlei zärtliche Töne ausstieß. Aber so zärtlich wie das junge Paar da drüben war er doch nicht. – –
Wir haben nun übrigens eine neue, stille Köchin, die gleichzeitig Haushälterin und Empfangsdame ist und der unser Freund Trassy ein Sparbuch mit einer fünfstelligen Zahl geschenkt hat. Sie ist die Sauberkeit selbst und hängt in fast schwärmerischer Dankbarkeit an Harald.
Ihr Name ist Minna Lutz.
Daß sie einmal eine Landstreicherin war, sieht ihr niemand mehr an.