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Der Vampir von Berlin

 

Harald Harst

 

Band: 347

 

Der Vampir von Berlin

 

Von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16

 

1. Kapitel

Die Organisation der Vampir-Hölzer.

Der warme, sonnige Vorfrühlingstag hätte eine angenehmere Einleitung als den Besuch des Fräulein Thea Roßbund verdient.

Mein Freund Harst empfing die allzu farbenprächtig herausgeputzte Künstlerin denn auch mit jener eisigen Höflichkeit, die er für alle zweifelhaften Klientinnen bereit hat.

Malerin wollte die junge Dame sein.

Das stimmte.

Ihr Gesicht bewies es.

Wie es sonst um ihre Kunst bestellt war, mochte dahingestellt bleiben.

Jedenfalls erfreute diese Thea sich des oft sehr zweischneidigen Vorzugs, das einzige Kind sehr reicher und auch sehr nachsichtiger Eltern zu sein.

Immerhin: Nach den einleitenden Sätzen und Selbstbeweihräucherungen spitzten wir beide die Ohren.

Thea weinte.

Und diese Tränen war echter als ihre Rosenwangen.

Ihr heimlich Verlobter war seit zwei Tagen spurlos verschwunden, und dieser Gerd Matsen, von Beruf Schwarz-Weißzeichner und Radierer, mußte nach Theas Schilderung der Inbegriff eines waschechten Gentleman gewesen sein.

Viele junge Damen von heute haben seltsame Vorstellungen von einem Gentleman.

Matsen war Thea auf einem jener Atelierfeste begegnet, die zum Glück unter Ausschluß der weiteren Öffentlichkeit stattfinden.

Er war Skandinavier von Geburt, bewohnte zwei armselige Dachkammern im Osten der Stadt, und erst Thea Roßbunds gutgefüllte Börse hatte ihm zu einem angemessenen Heim im feudalen Westen verholfen.

Kurz: Herr Matsen war großzügig genug gewesen, in den letzten drei Monaten von Theas Bankguthaben einige tausend Mark anzunehmen.

Weniger großzügig hatte sich Vater Roßbund, Inflationsgewinnler gemäßigter Art, dem Bewerber gegenüber gezeigt: Er hatte ihm die Tür gewiesen!

Doch das alles hätte uns kalt gelassen!

Besonders Harst…

Er lebte erst auf, als Theas Tränen nach reichlicher flossen und sie uns erzählte, sie sei vor einer Stunde nochmals in Gerd Matsens Altbauwohnung gewesen, zu der sie die Schlüssel besäße und in der ihr Verlobter nach wie vor gearbeitet habe…

„… Und dies fand ich in der Tasche seines weißen Leinenkittels, Herr Harst … dies‥!!“

Es war eine flache Packung jener roten Abreißzündhölzer, deren starke Papierhülle so oft zu Reklamen aller Art genutzt wird.

Auf dieser Packung war zu lesen:

Vampir

das beste Reibholz der Welt

Wir kannten die Vampir-Hölzer bereits.

Wir kannten sie jedoch nicht gut genug, und seit einiger Zeit waren wir voller Eifer hinter ihnen her.

„Weshalb setzte Sie dieser Fund so Schrecken?“ fragte Harst, indem er die kleine Zündholzpackung behutsam auf einen Bogen Papier legte.

Thea zögerte merklich mit der Antwort.

Dann erklärte sie überstürzt: „Gerd sagte einmal, als er wieder seinen melancholischen Tag hatte, daß ihm Gefahr drohe, wenn ein Straßenhändler ihm Vampir-Hölzer aushändigte. – Zu weiteren Angaben war er leider nicht zu bewegen. Aber in solchen trüben Stunden sprach er stets die volle Wahrheit. Was ihn bedrückte, weiß ich nicht, Herr Harst. Ich fühlte nur, er fürchtete sich, und dabei war er doch ein so stattlicher, trainierter junger Mensch…“

Harst nickte zerstreut.

„Er fürchtete sich also vor einer Person, die die Vampir-Hölzchen als Drohung benutzt, Fräulein Roßbund. – Gut, ich will Matsen suchen. Überlassen Sie mir die Schlüssel seines Dachateliers. Haben Sie auch die seiner neuen Wohnung im Besitz?“

„Ja. Hier sind sie, Herr Harst. Ich schenke Ihnen volles Vertrauen. Nur, – schonen Sie meinen Namen.“

Nachdem sie noch schnell mit der Puderquaste die Tränenspuren beseitigt hatte, fuhr sie mit ihrem Sportzweisitzer davon. –

Mein Freund hat seine ganz bestimmten Eigenarten.

Fehlerfreie Pferde gibt es nicht.

Er verharrte minutenlang regungslos, nahm dann eine Zigarette und sagte ernst:

„Er ist tot.“

„Matsen?!“ fragte ich sehr überflüssigerweise.

„Nein, mein Alter, der Rebellengeneral Gaunerowitsch,“ erklärte er mit ärgerlichem Kopfschütteln. „Ein Mensch, auf den Thea Roßbunds Beschreibung von Matsens Äußerem genau paßt, wurde gestern nacht am Spreekai der Roborat-Werke erstochen aufgefunden. Wenn Thea sich sofort an die Kriminalpolizei gewandt hätte, würde sie sich keinen Hoffnungen mehr hingeben, Matsen lebend wiederzusehen.“

Er griff nach einer Zeitung und las vor:

Neues Unterweltverbrechen. Nachts gegen zwölf Uhr hörten Schleppkahnschiffer am Kai der stillgelegten Roborat-Werke einen Hilferuf und benachrichtigten die Polizei. Man fand neben einem leeren Schuppen einen jüngeren Mann von ausgesprochenem Kaschemmentyp mit einer Stichwunde im Herzen tot auf. Von dem Täter fehlt jede Spur. Der Ermordete ist der Polizei unbekannt. Seine Taschen waren leer. Es dürfte sich um einen Ausländer handeln, der von Unterweltlern als lästige Konkurrenz beseitigt wurde. Ähnliche Fälle haben sich ja in letzter Zeit wiederholt ereignet. Bemerkenswert ist, daß der Tote eine gut gearbeitete rötliche Perücke trug und am linken Unterkiefer eine lange Operationsnarbe, von einer Mandeloperation herrührend, aufweist.“

Mein Freund legte die Zeitung wieder weg.

„Thea Roßbund erwähnte diese Operationsnarbe,“ sagte er nachdenklich. „Sie hob auch die Länge der Narbe hervor. Es ist Gerd Matsen.“

Dann griff er nach der Packung Vampir-Hölzer.

„Du siehst, es fehlen von den roten Zündhölzern, die in zwei Reihen übereinanderliegen, von der oberen Schicht drei der Streichhölzer. Jede Schicht zählt zwölf Hölzchen. Herausgerissen sind das zweite, fünfte und neunte.“

Er blickte auf und schaute mich vielsagend an.

„Ich weiß, du denkst an den Fall Gontard. Dieser entartete Sproß der alten angesehenen Familie wurde vor sechs Wochen erstochen aufgefunden, und sein Vater kam zu uns und…“

Harald winkte ab. „Ja, wir entdeckten in Gontards Zimmer unter der Schreibtischlampe Vampir-Hölzer. Auch aus jener Packung fehlten drei. Mir stieß es auf, daß wie hier das zweite, fünfte und neunte Hölzchen fehlten. Wir stellten fest, daß keine Fabrik existiert, die ihr Fabrikat ‚Vampir-Reibholz‛ nennt. Seitdem sind wir hinter den Vampir-Hölzchen her, bis heute ohne Erfolg. – Fahren wir zum Kai der Roborat-Werke, mein Alter. Wenn wir dort etwas bestimmtes finden, ist meine Theorie über diese ‚Unterweltverbrecher‛ bestätigt.“

„Und die Theorie lautet?“

„Sie lautet vorläufig: Verführung junger, genußhungriger, arbeitsscheueren Leute zu bestimmten Verbrechen.“

„Welcher Art?“ fragte ich gespannt.

„Das weiß ich nicht. – Wir werden uns unterwegs etwas verändern. Nimm also den kleinen Koffer mit.“

Ich war erstaunt.

„Glaubst du, daß wir beobachtet werden?!“

„Ich fürchte es… Es wird sich ja sehr bald herausstellen. Der Fabrikant der Vampir-Hölzchen muß ein sehr schlauer Bursche sein.“

„Also kann er Thea Roßbund bis hierher zu uns gefolgt sein?“

„Schon möglich… – Wir werden sehen…“ –

Aber wir bemerkten nichts von Verfolgern, und als wir, zwei ältere Arbeiter mit einem schäbigen Koffer, im gemieteten Boot am Spreekai anlangten, fühlten wir uns vollkommen sicher.

Die Roborat-Werke mit ihren recht ausgedehnten Fabrikanlagen zogen sich, von einem sehr hohen Eisenblechzaun umgeben, bis zur nächsten Parallelklasse der Spree hin.

Niemand beobachtete uns, obwohl der Fluß bei dem schönen Wet ter recht belebt war.

Es war jetzt elf Uhr vormittags.

Wir fanden den Holzschuppen dicht am Kai, wir sahen auch den dunklen, eingetrockneten Blutfleck auf dem Zement, und unweit davon hob Harst aus Staub und Schmutz drei rote flache Hölzchen auf, die nicht angebrannt waren, also unbenutzte Reibhölzchen.

Drei!!

„Nur drei! – Gerade drei!“ sagte er leise.

Aber seine Augen leuchteten.

„Mehr wollte ich nicht finden, mein Alter,“ fügte er etwas zerstreut hinzu.

Seine Blicke hafteten an dem Blutfleck, der von der Schuppenwand kaum anderthalb Meter entfernt war, und glitten dann die Wand empor, hielten inne und umspielten ein Astloch in einem der Bretter.

„Folge mir!“ sagte er kurz.

Harald schaute sich nochmals vorsichtig um.

Dann betraten wir den leeren Schuppen durch die nur eingeklinkte Tür.

Harst schritt auf jenes Brett zu, in dem sich das große Astloch etwa in Brusthöhe befand.

Er blieb davor stehen, betrachtete es genau und drehte sich um.

„Bring mir doch mal die Eisenstange dort und den Bindfaden, der daneben liegt.“

Ich holte beides.

Die Stange war verrostet, fingerdick und etwa zwei und einen halben Meter lang.

Der Bindfaden war vielfach zerschnitten, stark gewachst und bildete zum Teil wirre Kringel.

An dem einen Ende der Stange wieder war deutlich zu erkennen, daß der gewachste Bindfaden dort in engen Lagen sehr fest herumgeschlungen worden war.

Am wichtigsten aber war bei dieser Feststellung, auf die mein Freund mich aufmerksam machte, der recht eindeutige Umstand, daß an demselben Stangenende zwischen den zurückgebliebenen Spuren des Bindfadens ein daumendicker freier Strich in der Längsrichtung der Stange sich befand.

Harst brauchte mir gar nicht zu erklären, daß dort ein Messer festgebunden gewesen war, – ein Messer mit glattem Holzgriff.

Wir hatten somit zweifellos einen Teil der Mordwaffe in der Hand.

Nur das Messer, also die Spitze dieser heimtückischen Lanze, fehlte.

Daß der für Gerd Matsen tödliche Stoß durch das Astloch erfolgt war, ließ sich unschwer daraus erkennen, daß an den Rändern des Loches Rostteilchen hafteten.

„Matsen ist mithin hierher bestellt worden und sollte draußen vor dem Schuppen auf jemand warten,“ meinte Harst, indem er die Eisenstange immer noch nachdenklich betrachtete. „Ebenso kann man mit aller Bestimmtheit annehmen, daß Matsen die Gefahr ahnte, die ihm drohte, und daß er bewaffnet war und seine Waffe bereit hielt. Die Packung Vampir-Hölzer, in der drei Hölzchen fehlten, mag Vermutung und Drohung zugleich gewesen sein. Er hat das Thea Roßbund gegenüber angedeutet, und draußen fand ich drei rote Vampir-Hölzchen, und bei den jungen Gontard, dem Opfer von vor sechs Wochen entdeckten wir genau dieselbe Packung mit genau denselben scheinbar willkürlich herausgerissen drei Hölzern. Das kann kein Zufall sein. Diese Unterweltsmorde der letzten drei Monate, die sich so sehr häuften, daß die Polizei einen Spezialkommissar eingesetzt hat, sind Verbrechen, die auf ein und dieselbe Organisation zurückzuführen sein dürften, nennen wir sie vorläufig der Kürze halber ‚Vampir-Hölzer‛. Das klingt dem Tatbestand nach nicht nur recht bezeichnend, sondern auch etwas ungewöhnlich. Ich denke an ‚den Tanz der Zinnsoldaten‛ und ähnliche Titel harmloser Kompositionen.“

Er lächelte ein wenig.

Aber das Lächeln erstarb sofort wieder.

„Die Vampir-Hölzer sind leider nicht harmlos. Was sie treiben und weshalb sie bestimmte Leute aus dem Weg räumen, ist mir bisher unbekannt. Zur Diskussion stehen fünf Fälle, von denen wir beide mit der Aufhellung von zweien betraut wurden: Heinz Gontard und Gerd Matsen. – Im Fall Gontard konnten wir nichts ausrichten. Im Fall Matsen zeigt sich uns ein Weg, zum Ziel zu gelangen. Wir haben bereits Erfolge zu verzeichnen, und diese weiter auszubauen, dürfte nicht schwer sein. Schauen wir uns zunächst einmal diesen Schuppen genauer an. Schon die flüchtige Besichtigung zeigte mir, daß dieser Raum nachts von Obdachlosen als Asyl benutzt wird, seit wir dieses warme Wetter haben. Auch gestern Nacht hatten wir etwa vierzehn Grad Wärme… – Weißt du, woran ich hierbei denke, mein Alter?“

„Bedaure, – nein. Im Augenblick beschäftigen mich nur gewisse Zweifel an der Intelligenz der Vampir-Reibholz-Fabrikanten. Wie konnte der Mörder nur den Eisenstab und den Bindfaden hier so leichtfertig zurücklassen, nachdem er den Mord verübt und das an die Stange festgebundenen Messer losgeschnitten hatte?! – Das ist nicht Intelligenz, das ist Dummheit.“

Harst lachte, zuckte die Achseln und schritt einer Ecke zu, wo ein Berg alter Bastmatten und -läufern aufgehäuft war…

 

 

2. Kapitel

Der Spezialkommissar.

Meines Freundes Annahme, daß hier Obdachlose häufiger nächtigten, wurde schon durch die zahllosen Zigarettenreste bewiesen, die überall umherlagen. Ferner durch noch frische Brotrinde, Käsekruste und einige leere Konservenbüchsen.

Als er nun die Eisenstange dazu benutzte, die alten Matten und Läufer auseinanderzuwerfen, erlebten wir eine recht eigenartige Überraschung.

All diese wertlosen Bastgewebe waren über vier leere morsche Kisten gelegt worden und bildeten eine Art Zelt, in dem ein garstiger Stromer, den jeder Polizist sofort verhaftet hätte, mit der Schnapsflasche im Arm selig schlummerte.

Es war ein alter, graubärtiger Kerl mit blauroter Knollennase, und erst einige Stöße gegen seine durchlöcherten Stiefelsohlen brachten ihn halbwegs zur Besinnung.

Er war total betrunken.

Aus glasigen Augen stierte er uns beide blöde an und grunzte dann ungemütlich und gereizt:

„He, – – ihr seid wohl nicht recht gescheit! Vor Mitternacht ist hier nichts zu machen… Merkt euch das! Schert euch zum Deibel! Ich will schlafen.“

Dann zog er mit den Zähnen den Pfropfen aus der Flasche und nahm einen gehörigen Schluck.

„Bist du der Herbergsvater?“ fragte Harald, sich dem Ton des Alten völlig anpassend. „Was kostet die Bleibe bei dir? Wir haben Plente (Geld) genug.“

Der Strolch schielte ihn mißtrauisch an.

„Sind die Grünen hinter euch her?“ brummte er etwas zugänglicher.

„Nee. Aber wir stehn auf der Liste, weißt du,“ flüsterte Harst eindringlich zurück. „Vampir-Hölzer und so … vastehst de!! Hast doch wohl schon von den roten Dingern gehört‥?“

Die Trunkenheit und Verschlafenheit des Alten war urplötzlich wie weggewischt.

Er setzte sich kerzengerade aufrecht.

„Vampir?!“ murmelte er scheu…

Und dann wiederholte er geradezu ängstlich:

„Vampir?! Vampir-Hölzchen?! – Nee, – – dann macht man besser wo anders eure Faxen! Ick weeß nischt von Vampir… Gar nischt. Schiebt man ab, ihr beede… Überhaupt…“ – und wieder flackerte das Mißtrauen in seinen verkniffenen Augen auf – „überhaupt, – – ich traue euch nich –, nee, – und ihr auf der Liste, – – daß ich nich lache!!“

Harst gab sich den Anschein, als merkte er die Widersprüche nicht, die in diesen so schroff und doch so zögern hervorgestoßenen Sätzen des Alten lagen.

Er holte einen Zehnmarkschein aus der Hosentasche hervor.

Dann einen Zwanzigmarkschein.

Und wedelte damit verlockend hin und her.

„Na, – – wie ist es?! – Mensch, hilf uns, – ich lege noch zwanzig dazu!“

… Er brauchte nichts mehr dazuzulegen.

Der Strolch legte uns hinein.

Mit einem Mal, und das geschah blitzartig, hatte der zerlumpte Bursche in jeder Hand eine Pistole mit aufgesetztem Schalldämpfer.

„Pfoten hoch, ihr‥!!“

Seine Stimme klang jetzt fremd.

„Pfoten hoch!! – – So, – – und nun werdet ihr antworten, – – sonst knallt es! – Ihr seid keene Pennbrüder, erst recht keene Arbeeter‥! – Wer seid ihr?“

In dieser Stimme lag eine Energie, die geradezu verblüffte.

Wir standen gehorsam mit erhobenen Armen da, und Harst entgegnete nur mit halbem Lächeln:

„Von der Zeitung sind wir… Reporter nennt man uns… Hier draußen ist doch vorgestern einer erstochen worden…“

Auch der Alte feixte.

„So so, – – Reporter!! Schau an! Und was wißt ihr von den Vampir-Hölzchen?“

Mit dem Burschen war nicht zu spaßen.

Auch geistig nicht.

Harst mochte noch so geschickt seine Antworten als Ausflüchte frisieren: der Strolch war ihm gleichwertig, und schon nach zehn Minuten hatte mein Freund seine bisherigen Erfolge restlos preisgegeben.

Nur daß wir nicht Reporter waren und daß Thea Roßbund unsere Auftraggeberin, blieb als kläglicher Rest unserer Arbeit Haralds ureigenstes Eigentum.

Das war wenig genug.

Der Alte hatte unter beständigen Drohungen meines Freundes gesamte Gedankenarbeit regelrecht für sich erpreßt und war nun zum Schluß so gnädig, uns ungeschoren laufen zu lassen.

Die dreißig Mark ‚kassierte‛ er für die Störung seines Ernüchterungschlummers, und gleich darauf ruderten wir wieder davon, nachdem wir noch herrlichst hatten geloben müssen, ihn als ‚Herbergsvater‛ des Schuppens nicht zu verraten.

Während der Heimfahrt war Harst auffallend still.

Wir wechselten dreimal die Taxe, und als wir mit unserem Garderobenköfferchen unser Heim wieder betreten hatten, warf sich Harald vorn im sogenannten Büro schmunzelnd in einem Klubsessel und sagte tadellos gelaunt:

„Der Mann hat uns viel Arbeit erspart!“

Harst hat seine großen, sehr großen Eigenheiten.

„Erspart?!“ fragte ich verdutzt.

„Ja.“

„Das begreife ich nicht recht.“

„Das wirst du begreifen… – Wetten, daß in kurzem bei uns ein Herr erscheinen wird, der entweder unter wahrem Namen oder unter erdichtetem auftritt? Vielleicht wird letzteres eintreffen.“

„Nun, – – und dann?“

Harst deutete auf den zweiten Klubsessel.

„Nimm Platz, mein Alter…“

Er war wieder vollkommen ernst und sachlich.

„Bedien dich… Zigarre oder Zigarette? – So, hier ist Feuer… Du weißt, daß das Polizeipräsidium vor etwa vier Monaten einen Spezialkommissar zur Aufdeckung der Unterweltmorde eingesetzt hat…“

„Allerdings… Und ich weiß, daß niemand den Herrn kennt oder kennen soll. Er wurde von auswärts berufen.“

„Ganz recht…“

Mein Freund wehte den Zigarettenrauch mit der Hand als Seite.

„Nicht einmal sein Büro ist bekannt… Man nimmt an, daß dieser Spezialkommissar irgendwo in der Gegend des Schlesischen Bahnhofs, also im verrufensten Stadtteil, zum Schein ein Geschäft eröffnet hat…“

Ich unterbrach Harst.

„Gestatte, – – das nimmst du an!“

„Gewiß, ich. – Jedenfalls umgab der neue Mann seine Person mit einem undurchdringlichen Schleier. Umgab, – denn vorhin lernten wir ihn kennen… – Der Stromer war ‚er‛.“

Ich hob dazu nur sehr zweifelnd die Schultern.

„Beweise?!“ sagte ich kurz.

„Oh, die kommen von selber. ‚Er‛ kommt… Ich werde recht behalten. Daß der Mann vorhin kein Stromer war, leuchtet dir wohl ein.“

„Allerdings. Seine Art, dich wie eine Zitrone auszuquetschen, war eine Spitzenleistung.“

„Und seine Maske war noch besser. Übrigens, mein Alter, – ich hätte ihn sehr wohl beschwindeln können, aber ich merkte schon nach seinen ersten Worten, daß sein Kaschemmenton Schmierenkunst war… Weshalb sollte ich mich auch bemühen zu lügen, da ich ohnedies die Absicht hatte, Anschluß an den großen Unbekannten zu suchen?! Meine frühere Methode, die Polizei auszuschalten, habe ich aufgegeben, wenigstens für bestimmte Fälle.“

„Leider,“ warf ich absichtlich ein.

Er blickte mich scharf an.

„Leider?! – Du selbst hast mir dazu geraten… Sogenannte Amateurdetektive, erklärtest du, seien beim heutigen Stand der Polizeiwissenschaften ein Unding. Das trifft zu. Natürlich mit bestimmten Einschränkungen. – Weshalb dein Einwurf ‚leider‛?!“

Mein ironisches Lächeln fand bei Harst sofort doppelten Widerhall.

„Ach so, – verstehe… Du möchtest aus mir herauslocken, was mir die Gewißheit gab, der Spezialkommissar und der Stromer seien eins. – Nun gut. Es waren seine Pistolen, insbesondere die Schalldämpfer, ein deutsches, ganz neues Fabrikat, das nur für die Polizeitruppe erprobt werden soll…“

Er erhob sich plötzlich.

„Eine Autotaxe, mein Alter, – – sie hält… Ein Herr steigt aus… – Schnell, bring den Koffer weg… Hol mir meine Hausjoppe…“

Ich warf noch schnell einen Blick auf den übereleganten jungen Herrn, der unseren Vorgarten durchschritt.

Das sollte der Spezialkommissar sein?!

Das war ja ein eleganter Kurfürstendammflankeur…

Bis zum Monokel hinauf…

Was über dem Monokel lag, die Stirn, das Hirn, konnte unmöglich einem Mann gehören, der einmal gründlich in der Berliner Unterwelt aufräumen sollte.

Ein faderes Gesicht hatte ich noch nie gesehen.

 

 

3. Kapitel

Die Urteilszustellung.

Herr Emil Burke, von der Firma Burke & Comp., saß uns gegenüber und zog sorgfältig seine feinen Wildlederhandschuhe glatt.

Herr Emil Burke handelte mit Zigaretten en gros.

Sagte er.

Wenn er mit Patentenmedizinen gegen Bandwürmer und Gallensteine und Gehirnschwund gehandelt hätte, würde es glaubwürdiger geklungen haben.

Emil Burke wurde von seinem Kompagnon betrogen.

Sagte er.

Ich glaubte es ihm unbesehen.

Jeder Quartaner hätte diesen Emil mit Leichtigkeit eingewickelt.

So war Burke, so sah er aus.

Und das sollte der Spezialkommissar sein?!

Zum Lachen!

Auch Harst hatte wohl erkannt, daß Herr Emil ein absolut harmloses Kaninchen war.

„Ja, – und wie sollen wir beide Ihnen helfen, Herr Burke?“ fragte er gelangweilt.

Emil geriet in Feuer.

„Beobachten Sie Müller! Müller betrügt mich. Wie, das weiß ich nicht. Ich verstehe nichts vom kaufmännischen Beruf. Ich hatte von meinen Eltern eine Zündholzfabrik geerbt und…“ – er stockte und hüstelte… „Müller hat sie mir abgeschwindelt, das ist es‥!“

Sein Feuer erlosch bereits wieder.

Er zuckte die Achseln…

„Beobachten Sie ihn also, Kantstraße 221… – Wieviel Vorschuß, Herr Harst?“

So war Emil Burke.

Eine Halbnatur, ein Halbmensch, ein monokelbewaffneter Embryo.

Harst hatte das Kinn in die Linke gestützt und betrachtete ihn wie ein Wundertier.

„Sie sind fabelhaft!“ sagte er nur.

„Wollen Sie die Adresse meine Schneiders haben?“ meinte Emil äußerst geschmeichelt.

„Nein, fünfhundert Mark Vorschuß…“

„Oh – – bitte. Scheck oder bar?“

„Bar…“

„Sehr gern. – Wünschen Sie noch etwas zu wissen?“

„Nein, ich weiß alles, Herr Burke. – Sie sind Teilhaber eines Zigarettengeschäftes en gros, Kantstraße 221, Gartenhaus. Ihr Kompagnon und Sie wohnen dort im Vorderhaus möbliert. Gerhard Müller betrügt Sie angeblich. – Das genügt mir vollauf. Die Sache wird prompt erledigt. Hier haben Sie die Quittung über den Vorschuß.“

Nach freundschaftlichen Händedrücken verabschiedete sich Burke, und wir schauten ihm nach, wie er gemächlich unsere stille Arnoldstraße hinabschlenderte.

„Einfach fabelhaft,“ murmelte Harst mit leichtem Kopfschütteln.

Ich blickte ihn fragend von der Seite an.

„Eine Null,“ sagte ich.

„Ja, mit einer Eins davor, mein Alter. Der Mann steckt zehn andere in die Tasche. Er war es.“

Ich hielt den Atem an.

Das konnte doch nur ein schlechter Witz sein.

Harst fuhr schon fort:

„Er war es… Es ist der Kriminalkommissar Burke aus Tilsit. Bisher stand er zur Verfügung des Ostkommissars für politische Ermittlungen. Ich lese eben die Zeitungen sehr genau.“

„Unmöglich,“ zweifelte ich nur noch sehr schwach.

Harald überhörte das.

„Kantstraße 221 wohnt auch der Rentner Karl Roßbund…“

Das saß‥! –

Er hatte es ohne besondere Betonung gesprochen, und doch ergaben sich aus dieser Bemerkung ungeahnte Zusammenhänge.

„Glaubst du,“ fragte ich nach einer Pause gedankenvollen Schweigens, „daß Burke gerade in der Kantstraße die Geschäftsräume mietete, weil er Matsen bereits irgendwie verdächtigte?“

„Vielleicht. Ich weiß es nicht. Jedenfalls kann in diesem Punkt kein bloßer Zufall vorliegen. Derartige Zufälle gibt es nicht. Ich möchte jedoch eher annehmen, daß für Burke andere Gründe den Ausschlag gaben, jenes Haus in Berlin-Charlottenburg zu wählen. Das alles ist ja schließlich nebensächlich. Das Wesentliche bei den bisherigen Vorgängen hast du noch nicht recht erfaßt, mein Alter. So tragisch das ganze Motiv ist, es liegt doch ein gewisser Humor darin.“

„So?!“

„Gewiß. Die Sachlage ist nun doch die, daß Burke von uns in dem berüchtigten Asylschuppen Dinge erfahren hat, die er nicht beobachtet hatte, die ihm neu waren. – Natürlich hat er als ‚Stromer‛ nicht geschlafen, sondern uns belauscht. Er ist noch immer des Glaubens, daß wir ihn für einen ‚Kaufmann‛ Burke halten. Darin liegt der Witz der Sache: Wir kennen ihn, er hat sich als Spezialkommissar verraten, wir sollen für ‚Kaufmann‛ Burke dessen Kompagnon Georg Müller, also zweifellos Burkes Hauptmitarbeiter von der Kriminalpolizei, beobachten, er hofft so, uns bequemer im Auge behalten zu können, aber er ahnt nicht, daß dadurch wieder uns Gelegenheit gegeben ist, uns recht frei zu bewegen. Kurz: es ist das reinste Satyrspiel, an dem man seine Freude haben könnte, wenn es nicht um Menschenleben ginge. – Nach diesem Rückblick und nach dieser Vorschau haben wir uns unser Mittagessen ehrlich verdient, mein Alter. Nachmittags und abends wollen wir dann mit frischen Kräften anstelle des Wortes die Tat setzen. Mein Programm steht bereits fest. Es wird uns nicht langweilen.“ –

Das Haus Kantstraße 221 war einer jener angejahrten Mietspaläste, deren Fassade vor etlichen vierzig Jahren als elegant und modern gegolten haben mochte. Der schlichte deutsche Philosoph Kant, der Mann der reinen Vernunft, hätte sich mit Schaudern davon abgewandt, zumal in Höhe des dritten Stocks ein farbenfrohes langes Holzschild den Passanten das Vorhandensein des Fremdenheims ‚Krumm‛ anzeigte.

Nr. 221 hatte auch die üblichen ‚Gartenhäuser‛. Diese verlogene Bezeichnung für Hinterhäuser mit engen lichtlosen Höfen und übelriechenden Müllkästen und durchschnittlich drei Fliederbäumen – daher ‚Garten‛ – beherbergte außer zahllosen Mietern auch die Firma Burke & Comp.

Kurz vor vier Uhr nachmittags ließen sich bei dem Herrn Gerhard Müller, dem gerade anwesenden Kompagnon, zwei Leute melden, die sich als Inhaber von Zigarettenständen ausgaben.

Wenn Millers Büro keinerlei Mobiliar, sondern nur den Herrn Teilhaber selbst enthalten hätte, wäre das Zimmerchen ebenfalls gefüllt gewesen.

Müller war ein breitschultriger, fetter Riese mit Doppelkinn, Hängebacken, Hornbrille und dem arglosen Lächeln eines Kindes.

„Nehmen Sie Platz,“ keuchte er nach einer überhöflichen Verbeugung. „Was steht zu Diensten?“

Harst spielte den Wortführer.

Uns lag ja nur daran, ‚Müller‛ einmal zu Gesicht zu bekommen.

Mein erster Eindruck war: Das kann unmöglich ein Kriminalbeamter sein!

Aber die grauen, klaren, scharfen Augen hinter den Brillengläsern, denen der schläfrige Eindruck nicht recht gelingen wollte, mahnten zu vorsichtiger Beurteilung.

Müller saß hinter einem Doppelschreibtisch. Der zweite Platz dort war für Burke bestimmt.

Da Harst nun absichtlich für diese Visite die Zeit kurz vor Büroschluß gewählt hatte und unser Anliegen in endloser Rede vortrug, mußte Müller persönlich nachher einige Zigarettenproben herbeiholen.

Auch dabei verriet er sich.

Der Riese besaß die spielende Leichtigkeit der Bewegungen eines guttrainierten mageren Langstreckenläufers.

Kaum hatte er das Zimmer verlassen, als Harst noch flinker zu Burkes Schreibtisch huschte und dort eine zwischen Geschäftspapieren halb verborgene Brieftasche ergriff, sie aufklappte und den Inhalt einer flüchtigen aber gründlichen Durchsuchung unterzog.

Was wir nachher mit Müller geschäftlich vereinbarten, ist gleichgültig.

Um fünf Uhr schlenderten wir wieder die Kantstraße hinab, und mein Freund erklärte nach einer Weile so ganz nebenbei:

„Meine Vermutung hat sich bestätigt. In der Brieftasche lagen drei unaufgezogene Momentbilder Thea Roßbunds. Die Tasche gehörte Burke, und Viktor Burke ist verliebt und kannte Thea bereits vom Sehen, bevor er nach Berlin kam. Mithin ist Thea einmal im Tilsit gewesen, wo Burke sein damaliges, wahrscheinlich ebenso heimliches Hauptquartier hatte.“

„Tilsit?! Diese Schlußfolgerung erscheint mir recht weit hergeholt.“

Harst lachte nachsichtig.

„Wenn eins der Bilder auf dem Bahnsteig im Tilsit geknipst ist und das Bahnhofschild ‚Tilsit‛ mit darauf ist, würde nicht einmal ein Säugling zweifeln.“

„Danke…!“

„Bitte. – Die Roßbunds können dort ja Verwandte haben, mein Alter. Mir genügt das Erreichte. Viktor Emil Burke verehrt Thea, und er hat nicht einmal einen schlechten Geschmack, denn wenn dieses Mädel in die richtigen Hände gerät, die all den Puder und das sonst Unnötige entfernen, dürfte eine recht liebliche, unverfälschte Blume aus diesem Wandlungsprogramm hervorgehen.“

Wir bogen in eine der Querstraße nach dem Kurfürstendamm ein.

An der Ecke saß eine armselige Zündholzverkäuferin, ein altes Weiblein mit wachsbleichem, zerfurchtem Gesicht und langen Haarzotteln.

Ihr eintöniges, klägliches ‚Kauf Streichhölzer – kauf Streichhölzer‛, hatte einen seltsam flehenden, ergreifenden Unterton.

Sie trug gestopfte Zwirnhandschuhe, der Mantelärmel war ausgefranst und von Motten zerfressen.

In der vorgestreckten Hand hielt sie drei flache Packungen Abreißzündhölzer.

„Nur zehn Pfennig – – nur zehn Pfennig…“ bettelte sie flehend.

Mir fehlten Zündhölzer.

Außerdem folgte ich auch der Eingebung des Augenblicks.

Harst wäre achtlos vorübergegangen. Er warf der Alten nur eine Münze in den Schoß.

Ich kaufte drei Packungen und beeilte mich, meinen Freund wieder einzuholen.

Als ich neben ihm war, meinte er mich gutmütig anlächelnd:

„Vampir-Hölzchen wirst du nicht erwischt haben, mein Alter!! Trotz der Tatsache, daß Gerd Matsen gerade eine Straßenhändlerin…“

Er brach jäh ab.

Ich hatte die Hand geöffnet, die drei flachen Packungen fielen auseinander, und die eine zeigte ihren Aufdruck:

Vampir-Reibholz

 

 

4. Kapitel

Burke und Thea.

Harald drehte sich blitzschnell um.

Wir waren erst zehn Schritt die Querstraße hinabgegangen.

Die Händlerin hatte an der Ecke der Kantstraße gesessen. Wir konnten sie von hier nicht sehen.

Harst lief den Weg zurück.

Um die erstaunten Blicke der Vorübergehenden kümmerte er sich keinen Deut.

Der Platz der wachsbleichen Händlerin war leer.

„Also doch!“ stieß Harst leise hervor.

In der Nähe lehnte in der offenen Tür seiner Plätterei ein Mann im weißen Kittel und genoß den Nachmittagssonnenschein.

Harst steuerte auf ihn zu.

„Entschuldigen Sie… Soeben saß doch noch dort in der Ecke eine Zündholzverkäuferin…“

„Stimmt, Herr… Sie fuhr soeben mit einer Autotaxe davon. Ihr muß schlecht geworden sein…“

„Wahrscheinlich. – Sitz die Alte hier des öfteren‥?“

„Nein, Herr… Ich sah sie heute zum ersten Mal.“

„Danke vielmals… – Wohin fuhr die Taxe? Ich habe der armen Alten aus Versehen zu wenig Geld gegeben…“

Der Plättereibesitzer grinste.

„Die Taxe hatte es sehr eilig, sie ist längst über alle Berge… – Außerdem, Herr: Sie werden ja wissen, daß diese alten Weiblein weit mehr verdienen, als man ahnt. Machen Sie sich also keine Gedanken.“

„Saß sie denn schon lange an der Ecke?“

„Nein, kaum ein paar Minuten… – Überhaupt, Herr, irgend etwas stimmte bei der Sache nicht.“

„So?!“

Der Mann nickte kräfig.

„Ich bin ja nicht Detektiv, aber als geborener Berliner habe ich einen Blick für alles. – Sie verstehen, Herr…“

„Und was beobachteten Sie mit Ihrem Scharfblick?“ fragte Harst scheinbar heiter.

„Die Alte gab der Taxe ein Zeichen, und es war ein ganz neuer Wagen…“

„Zeichen?! – Sie rief die Taxe nicht an?“

„Nein, denn die hielt drüben erst genau so lange, wie die Alte dort an der Ecke gesessen hatte. Sie hob den linken Arm und zeigte dem Schofför drei abgespreizten Finger. Das war es.“

Harst schmunzelte.

„Wirklich, Sie beobachten sehr scharf… Nun, uns ist die Sache im übrigen gleichgültig. Besten Dank dann.“

Wir schritten davon, bogen wieder in die Querstraße ein. Harst steckte sich sehr umständlich eine Zigarette an, und dann sagte er merklich zerstreut:

„Gib doch mal die Reibhölzer her, mein Alter.“

Er untersuchte die drei Packungen.

Bei der einen fehlten in der oberen Schicht der roten Zündhölzer mit den gelben Köpfen das zweite, fünfte und neunte Hölzchen.

Als ich die sah, blieb ich stehen.

Mein Freund schaute mich bedeutungsvoll an.

„Todesurteil, mein Alter!“

Ich bekam ein etwas trockenes Gefühl in der Kehle.

Harst fügte schon genau so nachdenklich hinzu:

„Das ganze Leben setzt sich aus verpaßten Gelegenheiten zusammen, hat einmal irgend ein Weiser gesagt. Auch wir und Burke haben eine Gelegenheit verpaßt, den Vampir oder doch eine seiner Kreaturen zu fassen.“

„Burke?!“

„Ja, auch er, denn er ist hinter uns her, was ich von vornherein annahm. Er war im Geschäft, im Hinterhaus 221, als wir Müller kennenlernten, sonst hätte seine Brieftasche dort nicht gelegen…“

Kurze Pause…

„Dreh dich nicht um… Er kommt… Er wird uns sofort ansprechen und größte Überraschung heucheln.“

Hinter uns näherte sich ein fester, elastischer Schritt.

„Ah, – welch ein Zufall, meine Herren!“ –

Und Emil Burke stand neben uns.

Harst blickte den schlanken, übereleganten ‚Kaufmann‛ eigentümlich an.

Das verbindliche Lächeln Burkes erstarb langsam.

„Ist etwas geschehen?“ flüsterte er in ganz anderen Ton.

„Ja, Herr Spezialkommissar,“ erklärte Harst noch leiser.

In Burkes Gesicht zuckte kein Muskel.

Nur seine Augen wurden starr.

„Es ist etwas geschehen, Herr Burke, das man in der Gerichtssprache ‚Urteilszustellung‛ nennt.“

Burke hob etwas den Kopf.

„Oh – die Zündholzhändlerin!“

„Allerdings. Schraut kaufte drei Packungen, in der einen fehlten das zweite, fünfte und neunte Hölzchen, und Sie wissen ja, Herr Burke, was das bedeutet.“

„Ja, durch Sie weiß ich es, Herr Harst,“ flüsterte er junge Kommissar, dem man hier in Berlin eine so verantwortungsvolle Aufgabe übertragen hatte.

Er drehte sich um und musterte die Vorübergehenden und die Häuser.

„Dort ist eine kleine Konditorei,“ fügte er hinzu. „Treffen wir uns da nach einer halben Stunde. Geben Sie mir jetzt zum Schein Feuer für meine Zigarette. Vielleicht werden wir beobachtet.“

Harst schüttelte jedoch den Kopf.

„Das glaube ich nicht, Herr Burke. So weit ich die Dinge überschaue, handelt es sich bei dieser Verbrecherorganisation der Vampir-Hölzchen um sehr wenige wirklich eingeweihte Personen. Ich möchte sogar behaupten, die Organisation hat nur zwei Führer, die sonst niemandem trauen. Gehen wir getrost sofort zusammen in die Konditorei, – diese beiden Führer sind in der Taxe davongefahren. Das eine war die Zündholzverkäuferin, Nummer zwei war der Taxenschofför. Die beiden haben zweifellos zu große Angst, Schraut und ich könnten die Verfolgung aufgenommen haben.“

– Es war eine sehr bescheidene Konditorei, und die wenigen Gäste waren zumeist jüngere Liebespaare, die für Fremde keinerlei Interesse zeigten.

Wir setzten uns an ein Tischchen in der Fensterecke, von wo wir die Straße im Auge behalten konnten.

Kaffee und Kuchen waren gut, – noch besser war Burkes knapper Bericht.

Emil Burke von Vormittag hatte sich in Viktor Burke verwandelt. Viktor Burke steckte das Monokel in die Tasche, und seine gedämpfte Stimme verriet, wie sehr dieser kaum dreißigjährige Mann sich in der Gewalt hatte, und welche Mengen Energie in ihm aufgespeichert waren.

Nach der Ermordung Gerd Matsens, den er natürlich als Thea Roßbunds Verehrer von Ansehen sehr gut gekannt und auch als Toten wiedererkannt hatte, wollte er die Öffentlichkeit absichtlich falsch informieren.

Deshalb brachten die Zeitungen Berichte, niemand wüßte, wer der Erstochene sei.

„Nebenbei wollten Sie wohl auch Fräulein Roßbund schonen,“ warf Harst leise ein.

Burke verneinte.

„Fräulein Theas Verhältnis zu Matsen war mehr freundschaftlicher Art, Herr Harst. Ich weiß das ganz genau, denn ich habe beide beobachten lassen. Ich möchte sogar behaupten, das junge Mädchen, das mir in vielem ein Rätsel ist, hat Ihnen beiden gegenüber ihre Empfindungen für Matsen sehr stark übertrieben.“

Harst nickte zustimmend, worüber ich mich sehr wunderte.

„Eine Zwischenfrage, Herr Burke… Sie haben Fräulein Thea zuerst in Tilsit gesehen?“

„Ja,“ erwiderte der Kommissar ohne jede Verlegenheit. „Sie gefiel mir trotz ihrer zu mondänen Aufmachung auf den ersten Blick, obwohl ich damals vor acht Monaten allen Grund zu haben glaubte, ihr zu mißtrauen. Ich hielt sie für eine von einem Fremdstaat bezahlte Werkspionin.“

Harst sagte hastig:

„Also war sie häufiger in Tilsit…“

„Ja. Sie besucht dort jeden Monat eine Schulfreundin, an der sie sehr zu hängen scheint, ein Fräulein Gerda Barth, deren Vater bei Tilsit eine Stickstofffabrik besitzt. Mein anfänglicher Argwohn stellte sich sehr bald als irrig heraus. Persönlich habe ich mich Fräulein Thea in Tilsit nie genähert, sie wußte nichts von meiner Existenz, erst hier haben wir zuweilen miteinander gesprochen – als gemeinsame Hausbewohner.“

Harst zerkrümelte seine Zigarette und blickte starr vor sich hin.

Burke betrachtete ihn etwas mißtrauisch.

„Woran denken Sie eigentlich?!“ fragte er leicht gereizt.

„Ich wünschte, ich könnte die Hälfte von dem ausschalten, woran ich denken muß,“ entgegnete Harst fast bedrückt, jedenfalls eigentümlich traurig. „Sie sind noch so jung, Herr Burke… Ich habe meine größten Lebensenttäuschungen bereits hinter mir. – Aber Sie, – – wenn Sie Thea vorhin als Rätsel bezeichneten, so tun Sie am besten daran, dies zu begründen.“

Viktor Burke trank die Tasse leer. Seine Stirn hatte sich umwölkt. Offenbar zauderte er mit der Antwort.

Und als er noch gedämpfteren Tones als bisher sich zum Sprechen bequemte, beschattete er die Augen mit der Hand.

„Ich begreife das Mädchen nicht… Sie ist zu oft nachts mit ihrem Sportzweisitzer allein unterwegs, und dabei entwickelt sie eine Geschicklichkeit, meinen Leuten sich zu entziehen, daß ich diese nächtlichen Fahrten nicht als harmlos ansehen kann. Und dies geht nun seit etwa fünf Wochen so, eben seit ihre Freundin Gerda Barth bei ihren Eltern als Gast weil.“

Harst beugte sich halb über das Tischchen.

„Wie?! Gerda Barth ist jetzt hier in Berlin?!“

„Ja. Weshalb sind Sie so erstaunt?!“

In Burkes Augen zeigte sich eine gewisse Unruhe.

„Fräulein Barth ist ein ganz harmloses, natürliches Mädchen und gänzlich anderer Art als Thea. Was argwöhnen Sie eigentlich, Herr Harst?!

„Vieles – zu vieles… Und für nichts habe ich Beweise. Die Tatsachen sind ja sehr schnell aufgezählt: eine Verbrecherorganisation, geleitet von zwei Personen, – eine Anzahl Morde, die auf das Konto der beiden Unbekannten kommen, von denen ich den einen den Vampir von Berlin nennen möchte, – Vampir-Reibhölzer als Verständigungsmittel unter den Mitgliedern und als Warnung und letzte Drohung, – – schließlich die Urteilszustellung vorhin an Schraut und mich. – Das sind die Tatsachen ohne alles Beiwerk. Aber meine Vermutungen?! Nein, die behalte ich für mich, Herr Burke… Es ist besser so. Arbeiten wir getrennt, vielleicht treffen wir uns schließlich auf derselben Hauptfährte. Und heute abend, – werden Sie da wieder Herbergsvater in dem Schuppen spielen?“

Viktor Burke nickte. „Genau wie gestern, Herr Harst… Seit gestern früh hause ich in dem Schuppen. Auch ich folge oft meinem Eingebungen. Unter den Obdachlosen, die dort nächtigen, hoffe ich den Mörder zu finden…“

„Dort?!“ Harald schüttelte sehr energisch den Kopf. „Der Mörder schläft in einem Prunkbett, Herr Burke, wenn nicht alles trügt, und trotzdem hat Ihr Plan noch immer vieles für sich, den Schuppen im Auge zu behalten… – Um Mitternacht sehen wir uns wieder.“

 

 

5. Kapitel

Die Warenverteilung im Asyl.

Nachdem wir uns von Burke verabschiedet hatten, fuhren wir sofort zu einem alten treuen Bekannten, der im Zentrum der Stadt eine Auskunftei und ein Detektivinstitut hatte.

Mit Hilfe dieses Herrn erledigten wir alles das, was die Umstände erforderten.

Wir wollten vorläufig unser Heim in der Arnoldstraße nicht mehr betreten und verschwunden bleiben. Harald nahm das Todesurteil des Vampirs sehr ernst und erklärte, der Mann habe ja bereits bewiesen, daß er vor nichts zurückschrecke.

So kam dann die Nacht herbei.

Abends hatte sich der Himmel bewölkt, ein dünner Regen rieselte herab, und als wir um Mitternacht über den Zaun der Roborat-Werke kletterten und dann auf den Schuppen zuliefen, landete gerade ein Bretterkahn, dem drei zweifelhafte Burschen entstiegen.

Nun, – wir sahen so absolut ‚echt‛ aus, daß die drei weiter keine Notiz von uns nahmen.

In der offenen Schuppentür lehnte ein zerlumpter Kerl: Burke!

Viktor Burke hatte sich mit dem Wächter der stillgelegten Werke längst verständigt, hatte alte Wolldecken und Strohsäcke für die Nacht bereit, forderte von jedem Pennbruder fünf Pfennige Schlafgeld und spielte seine Rolle in Vollendung.

Eine Stunde später lagen wir beide unweit der Tür zwischen all diesen Enterbten des Schicksals, zwischen verkommener Jugend und verzichtvollem Alter, zwischen Bettlern, Gaunern, Nichtstuern und Entgleisten…

Schnarchtöne erfüllten den Raum…

Fuseldunst, Zigarettenrauch lagerten über diesen Abgehetzten, Heimatlosen…

Einige flüsterten miteinander, rissen Zoten, lachten leise…

Die meisten schliefen…

Ihre Träume mußten wild und wirr sein.

Zuweilen schrie einer gellend auf…

Zuweilen fluchte ein anderer…

Ein dritter weinte im Schlaf…

Die ungepflegten Körper dufteten den Hauch der Armut und des Lasters aus.

… Weltstadt, Millionenstadt, – – das Grauen packte mich, wenn einer dieser Heimatlosen das Wort ‚Mutter‛ raunte‥.

Und das geschah.

Und noch anderes…

Es wurde ein Uhr, und noch immer erschienen neue Gäste.

Burke, Asylvater, leuchtete ihnen auf ihre Plätze, kassierte Geld, verkaufte Zigaretten…

Ein wunderliches, unheimliches Treiben…

Einmal erschien der Wächter der ‚Roborat-Werke’, verschwand wieder.

Es war ein Kriminalbeamter. Niemand ahnte es. Der frühere Wächter war beurlaubt worden.

Harst und ich lagen dicht nebeneinander. Rechts neben mir saß aufrecht ein junger Bursche, qualmte Zigaretten und hielt leise Selbstgespräche. Er hatte die Ellenbogen auf die hochgezogenen Knie gestützt und den Kopf tief gesenkt.

Wenn Burke mit der Laterne vorüberkam, duckte er den Kopf noch mehr.

Meine Augen hatten sich längst an die Dunkelheit gewöhnt.

Der Schuppen hatte oben unter der Decke lange Fenster, und wenn auf dem Fluß ein Schlepper vorüberkam, glitten von dem Schifflein verirrte Strahlen über die Bretterwände.

Harst lag aufgestützt.

Der junge Kerl mit der Schiebermütze rieb ein Zündholz an. Seine Zigarette war erloschen. Das dünne Flämmchen flackerte, erstarb. Aber irgendwie enthielt dieser einfache Vorgang etwas Besonderes, etwas zu noch größerer Wachsamkeit Mahnendes.

Der Bursche hatte mit dem brennenden Hölzchen eine Schleife beschrieben.

Harst stieß mich an.

Das hieß: Achtung!

Auch Burke hatte sich bereits niedergelegt. Die Tür war offen geblieben.

Durch mein Hirn zuckten verworrene Gedanken, – ich spürte es, – es würde sich etwas ereignen.

Dann – – es mochte gegen ein Viertel zwei sein – glaubte ich über uns Geräusche auf dem Dach zu hören.

Ich starrte empor.

Da war droben ein kleines Klappfenster, ein matthelles Viereck.

Ich glaubte einen Kopf zu erkennen, das Fenster wurde geöffnet, eine Schnur, an der ein kleines Päckchen hing, sank abwärts, – das Päckchen pendelte, und der Bursche rechts neben mir wollte zugreifen.

Harst war flinker, – und doch hatten wir Pech…

Der junge Kerl mit der Schiebermütze schoß tiefgebückt zur Tür hinaus in die Regenfinsternis, – – vielleicht auf Nimmerwiedersehen.

So schnell, so lautlos hatte sich das alles abgespielt, daß nicht einmal Burke aufmerksam geworden war.

Und doch mußten außer dem Flüchtling und dem Mann auf dem Dach, dessen Verfolgung genau so aussichtslos gewesen wäre, noch mehrere der Obdachlosen irgendwie eingeweiht gewesen sein und nicht geschlafen haben.

Harst hatte – erst später begriff ich den kühnen Schachzug – den Platz und die Haltung des Flüchtlings eingenommen.

Lautlos schlich zuerst auf allen Vieren durch den freigebliebenen Mittelgang ein einzelner auf die Lagerstätte neben mir zu.

Ich vernahmen Zischeln, Flüstern…

Papiergeld raschelte…

Harst hatte das Päckchen geöffnet.

Was hier vorging, ahnte ich nicht.

Ein zweiter, ein dritter kamen, krochen wieder davon.

Im ganzen waren es elf, die auf diese Weise den Stellvertreter des Flüchtlings besuchten.

Dann trat Ruhe ein.

Ich wurde müde, kämpfte gegen den Schlaf an, schlief trotzdem ein.

Als ich erwachte, war es sieben Uhr morgens, und der Schuppen war leer bis auf uns drei, – Burke und wir…

Der Geheime schlief.

Harst saß aufrecht und rauchte.

Draußen schien die Sonne, Dampfer tuteten, – – Berlin lebte und wehte uns mit dem Odem seiner Millionenstadtgeräusche an.

Als ich genauer hinschaute, sah ich in Harsts Hand die lange Coltpistole, deren Mündung nach der nahen Tür zeigte.

Ich schüttelte den Rest der Schlaftrunkenheit schnell von mir ab und starrte den Freund fragend an.

Aber der machte nur eine ablehnende Kopfbewegung, griff dann in die Tasche und zeigte mir ein Bündel zerknitterter Geldscheine und zwei Vampir-Reibholzpackungen. Die eine warf er mir in den Schoß.

„Da – – ein Ausweis, mein Alter,“ flüsterte er, ohne draußen den Stapel Kisten, der etwa zehn Meter von der Schuppentür auf dem Hof lag, auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen.

Von dort her drohte also irgend eine Gefahr.

„Jeder der elf Burschen, die hier nachts von mir die Ware abholten,“ fuhr er fort, „überreichte mir außer den Geldscheinen eine der Vampir-Packungen als Ausweis. In jeder Packung fehlten die ersten drei Hölzchen der Oberschicht.“

„Und die Ware?“ fragte ich schnell, obwohl ich bereits ahnte, worum es sich handeln könnte.

Harst hob wie spielend die lange Colt und zielte auf den Haufen Kisten.

„Der Mann hat sich entfernt,“ meinte er leise auflachend. „Er traute mir doch wohl die bessere Treffsicherheit zu… Es war der Vampir… Kurz bevor du erwachtest, mein Alter, bemerkte ich dort in dem Kistenhaufen eine behandschuhte Hand mit einer Scheibenpistole, also mit ganz langen Lauf. Ich hätte ja nun meinerseits abdrücken können, und dann wäre die Geschichte zu Ende gewesen. Aber ein derartig abgeklärtes Verfahren hätte mich vor den Scharfrichter bringen können. Auch Burke wird mir in dem Punkt recht geben.“

Ich wurde bereits etwas ungeduldig.

Der Vampir war mir jetzt gleichgültiger als seine ‚Ware‛.

„Was enthielt nun das Päckchen, das an dem Bindfaden von Dach herabgelassen wurde?“ fragte ich so nachdrücklich, daß Harald mir nicht länger ausweichen konnte.

„Vampir-Reibhölzer!“ sagte er und schob die Pistole in die Tasche.

„Wie?! Nur das?!“

„Ja. In dem Päckchen lagen elf kleinere, durch Gummischnüre zu je drei Stück abgeteilte Packungen Vampir-Hölzer. Ich habe von der einen Dreier-Packung schnell die Schnur gelöst und die Zündhölzer befühlt. Es waren Zündhölzer. – Erstaunlich, wie?!“

„Allerdings! Mehr als das sogar‥!“

Ich fand keine rechten Worte für meine arge Enttäuschung.

„Beinahe unglaubwürdig klingt es! – Wie denkst du denn darüber, Harald?“

„Ich denke, daß wir jetzt Burke wecken müssen. Ich fürchte, ich habe die elf heute als Vertreter des Mannes mit der Schiebermütze gründlich betrogen. – Hallo – – Burke!!“

Der Mann drüben auf dem Strohsack war sofort munter.

Er lächelte uns blinzelnd an.

„Ich bin seit einer Stunde wach,“ meinte Viktor Burke vielsagend und kam, jeder Zoll ein vollkommener Stromer, zu uns herüber und lehnte sich an die Bretterwand.

Dann erklärte er mit höchster Sachlichkeit:

„Der Bursche mit der Schiebermütze, der so blitzschnell ausriß, heißt Herbert Malmy und war mit Gerd Matsen befreundet. – Sie sehen, Herr Harst, in dem einen Punkt weiß ich mehr wie Sie.“

Harald wiederholte sehr gedehnt:

„So, – – Herbert Malmy! Der Karikaturenzeichner! Der Wortführer der Kaffeehausintellektuellen! Wer kennt Malmy nicht?! Als er das Zündholz für seine Zigarette anrieb, erkannte ich ihn. Immerhin ist Ihre Bestätigung, daß er es war, sehr wertvoll, lieber Burke.“

„Schade, auch den Trumpf nehmen Sie mir aus der Hand,“ seufzte der Kommissar ohne jeden Neid. „Malmy war schon gestern Nacht hier. Meine Beamten hatten ihn längst photographiert, da er sich mit Gerda Barth häufig ein Stelldichein gab und ich Grund habe, diese Gerda trotz all ihrer scheinbaren Harmlosigkeit beobachten zu lassen. Irgend etwas bei diesem Mädel stimmt nicht.“

„Genau wie bei der nächtlichen Autofahrerin Thea Roßbund,“ ergänzte Harst.

Burke seufzte wieder. –

Dann sprachen wir über die seltsame Tatsache, daß Herbert Malmy elf Dreier-Päckchen Vampir-Hölzer hatte verteilen wollen und daß für jedes Päckchen zwanzig Mark bezahlt worden waren.

 

 

6. Kapitel

Ein besorgter Vater.

Man sagt mit Recht, daß diejenige Kriminalgeschichte die beste sei, deren Handlung glatt und übersichtlich dahinfließe.

Unser Problem ‚Vampir-Hölzer‛ weist diese Schlichtheit unbedingt auf.

Ich hätte als ‚Berichterstatter‛ unschwer einige Knalleffekte hineinkünsteln können.

Ich hätte die Darstellung auf Sensation hin frisieren können.

All das erübrigte sich.

Der Vampir-Fall, der nachher der Öffentlichkeit aus guten Gründen nur zum Teil zugänglich gemacht wurde, bedarf solcher Mätzchen nicht. –

Nachdem wir beide uns von Burke getrennt hatten, allerdings erst nach sehr eingehenden Vereinbarungen über unsere weiteren Schritte, begaben wir uns doch nach Hause.

Unsere nette, liebenswürdige Hausdame, die zugleich Köchin, Sekretärin und noch anderes spielte, und die wir einem früheren ‚Fall‛ verdankten, hatte zu ihrer persönlichen Sicherheit seit gestern abend einen Gast bei sich aufgenommen, der ein Angestellter unseres Freundes, des Auskunfteibesitzers, war.

In unserer Abwesenheit war nichts Bemerkenswertes geschehen.

„Ich bin die ganze Nacht über wach geblieben,“ erklärte uns der Privatdetektiv Guido Römer nachher beim gemeinsamen Frühstück.

„Sehr brav, lieber Römer. Und Sie haben wirklich gar nichts Auffälliges beobachten können?“

„Auffälliges, – nein!“

Er nickte unsere nette Perle Frau Anna Schmidt von der Seite an.

Harst verstand ihn.

„Beste Frau Schmidt, Sie können mir noch zwei Setzeier zubereiten… Nach dieser Nacht habe ich einen Bärenhunger…“

Die kluge, recht hellhörige Frau Schmidt entfernte sich mit leisem Lächeln.

Der Detektiv Römer flüsterte schnell:

„Ich wollte Frau Schmidt nicht ängstigen, Herr Harst. Es ist doch etwas passiert…“

Er zögerte…

„Vielleicht messe ich der Sache zu große Bedeutung bei. Es handelt sich um folgendes: ein Sportzweisitzer mit Klappverdeck ist etwa von Mitternacht an bis ein Uhr mindestens zehnmal langsam hier am Haus vorübergefahren… Sehr langsam, Herr Harst… Es machte den Eindruck, als ob der einzige Insasse des Autos spionieren wollte.“

„Zweifellos!“ nickte Harald. „Noch etwas?“

„Ja – die Hauptsache…“

Römer erhob sich und trat an das Vorderfenster.

„Ich stand hier im Dunkeln und hatte den Rolladen des Fensters nicht herabgelassen, Herr Harst. – Bitte, – – schauen Sie sich das an!“

„Ich habe die beiden winzigen Löcher in den Fensterscheiben bereits bemerkt,“ sagte Harst gleichgültig.

„Ja – man schoß auf mich,“ erklärte Römer kaltblütig.

„Aus dem Sportzweisitzer?“

„Nein.“

„Also aus einer Autotaxe.“

Römer war überrascht.

„Wie kommen Sie auf eine Autotaxe, Herr Harst?! – Es stimmt.“

„Nun also, – es mußte stimmen. Und ich wette, der eine Scheinwerfer der Taxe war schräg gestellt und beleuchtete unsere Fenster.“

„Auch das ist richtig, Herr Harst.“

„Hörten Sie die Schüsse?“

„Nein. Ich trat rasch zur Seite, als das Scheinwerferlicht mich traf und warf dabei den Aschenständer um…“

„Nun, die Schüsse kamen aus einer Scheibenpistole kleinsten Kalibers, lieber Römer. Sicherlich feuerte der Attentäter mit aufgesetztem Schalldämpfer.“

Der junge Detektiv schritt auf den Bücherschrank zu und deutete auf die Mittelleiste zwischen den verglasten Türen.

„Hier sind die Eindrücke der Kugeln, Herr Harst. Sie liegen dicht beieinander. Da es sich um Eichenholz handelt, erzeugen die Langbleigeschosse nur tiefe Eindrücke. Hier sind die Kugeln. Sie lagen auf dem Teppich‥.“

Harst betrachtete die deformierten Geschosse.

„Scheibenpistole, wie ich sagte,“ nickte er. „Autotaxen sind seit einiger Zeit in Unterweltkreisen sehr beliebt. Ein Privatauto fällt auf, um eine Autotaxe kümmert sich niemand.“

Guido Römer schüttelte etwas verständnislos den Kopf.

„Und der Sportzweisitzer, Herr Harst?“

„Der hat mit dem Attentat gar nicht zu schaffen. Schweigen Sie über diese Dinge. Legen Sie sich jetzt oben im Fremdenzimmer schlafen und holen Sie die versäumte Nachtruhe nach…“ –

Gegen elf Uhr vormittags betrat ein mittelgroßer, schlichter älterer Herr unseren Vorgarten und läutete an der Haustür.

So lernten wir den Rentner Karl Roßbund, Theas Vater, kennen, einen bescheidenen Mann, der uns ehrlich seine großen Sorgen seines einzigen Kindes wegen mitteilte.

Karl Roßbund gab genau so ehrlich zu, daß er der Inflation sein Vermögen im Gegensatz zu Millionen von Geschädigten verzehnfacht hatte, daß er einst einem kleinen Drogenladen besaß und heute fast Millionär war.

„… Und das Geld hat keinen Segen gebracht,“ sagte er seufzend. „Herr Harst, mein Mädel ist in schlechte Gesellschaft geraten, und…“

„Ich weiß…“ unterbrach Harald ihn freundlich. „Ihnen als Vater darf ich es nicht verschweigen, daß Fräulein Thea uns gestern aufsuchte… Sie wird es Ihnen wohl selbst eingestanden haben, nehme ich an.“

Herr Roßbund bejahte.

„Thea hat Sie beide gebeten, diesen verbummelten Zeichner Gerd Matsen zu suchen…“

„Den Sie hinauswarfen, als er als Bewerber bei Ihnen erschien…“

„Auch das ist richtig,“ Herr Roßbund machte aus seiner Empörung keinen Hehl.

„Stellen Sie sich vor, Herr Harst, der Mensch hat von Thea etwa achttausend Mark ergaunert‥!! Anders kann man es nicht bezeichnen: ergaunert! Erschlichen!! Keine Ahnung hatte ich, daß Thea sich mit dem Burschen… – Aber wozu ärgere ich mich!“

„Wiesen Sie selbst ihm die Tür, Herr Roßbund?“

„Nein. Thea hatte mir morgens mitgeteilt, er würde um sie anhalten kommen… Mein Schofför fertigte ihn ab, mit größter Grobheit, wie ich es befohlen hatte…“

„Das hätte ich auch getan,“ lächelte Harald etwas bissig. „Wir erfuhren sie, daß Matsen Ihr Kind so gründlich geschröpft hatte?“

„Durch einen Zufall… Thea hatte eine Abrechnung über ihr Bankkonto umherliegen lassen…“

„Leichtsinnig wie die meisten Mädchen! – Übrigens im Vertrauen, Herr Roßbund: Matsen ist tot!“

Der kleine Rentner verzog zweifelnd das faltige Gesicht.

„Der – – tot?! Ausgerückt ist er, Herr Harst. Wer weiß, was der Bursche so alles auf dem Kerbholz hatte – – noch nebenher! – Wissen Sie bestimmt, daß er tot ist, und woher?“

„Er ist tot!“

Harald reichte Roßbund die Hand.

„Näheres darf ich Ihnen nicht sagen… Sie müssen uns jetzt auch entschuldigen… Wir haben eine ganz dringende Besorgung zu erledigen. Unter uns: in Matsens neuer Wohnung.“

Der Rentner verabschiedete sich sofort. Wir versprachen ihm noch, festzustellen, weshalb sein Kind nachts im Auto so häufig unterwegs sei.

Als er gegangen war, meinte Harst sehr nachdenklich:

„Thea hat uns beschwindelt‥!“

„Inwiefern?“

„Sie sprach nur von dreitausend Mark…“

„Ja, – und ihr Vater behauptete, es seien achttausend.“

„Thea wird überhaupt in vielem mit der Wahrheit zurückgehalten haben, mein Alter. Um dies nachzuprüfen, fahren wir jetzt zu Matsens Wohnung.“

„Die Schlüssel haben wir ja,“ ergänzte Harst. –

Um halb ein Uhr mittags hielt eine Autotaxe draußen im neuesten Westen in einer Straße der sogenannten Künstlerkolonie ‚Palette‛.

 

 

7. Kapitel

Matsens Palette.

Daß der geheimnisvolle Vampir, der schon hinsichtlich der Benutzung der roten Zündhölzchen so viel Phantasie entwickelt hatte, von uns beiden oder doch jedenfalls von mir gründlich unterschätzt worden, bewies uns der Besuch in der feudalen Wohnung des angeblichen Zeichners: Matsen hauste in einem Neubau.

‚Palette‛ war lediglich für Junggesellen bestimmt, und all diese Häuser der Kolonie besaßen entsprechende ganz moderne Einrichtungen.

Niemand begegnete uns im Treppenflur.

Das Künstlervölkchen schlief bis in den Mittag hinein und machte nachher die Nacht zum Tage.

Ungehindert betraten wir die kleine Wohnung, die aus zwei Vorder- und einem Hinterzimmer bestand. Wir fanden alles tadellos sauber und aufgeräumt vor, und dies war trotz Matsens langer Abwesenheit nicht weiter erstaunlich, da all diese Junggesellenwirtschaften von der Hausverwaltung aus durch Aufwartefrauen in Ordnung gebracht wurden.

Matsen hatte seine Räume mit Hilfe des Geldes Thea Roßbunds fast verschwenderisch eingerichtet… Das sehr helle Hinterzimmer mit breitem, vorgebautem Schiebefenster und schrägem Oberlicht diente ihm als Atelier und Schlafraum. – Nein, hatte ihm gedient.

Er war tot!

Der Vampir hatte ihn auslöscht genau wie die anderen, die dem großen Verbrecher unbequem geworden sein mochten.

Was Harst hier in Wahrheit zu finden hoffte, wußte ich nicht.

Es ist nicht seine Art, vorzeitig über Dinge zu reden, die ein Fehlschlag werden könnten.

Er besichtigte die Räume zunächst ganz flüchtig.

Wenn man bei ihm überhaupt von ‚flüchtig‛ reden kann.

Auch das ‚schnelle Sehen‛ ist eine Kunst oder eine Gabe.

Es gibt Leute, die durch die Straßen schlendern wie Blinde.

Die Einzelvorgänge entgehen ihnen.

Es gibt Auserwählte, denen nichts entgeht. Mit einem einzigen schnellen Blick umfangen sie eine Vielfalt von kleinen alltäglichen Ereignissen, und mit demselben Blick fangen sie gleichzeitig das Ungewöhnliche, vom Alltäglichen Abweichende ein.

Und so, wie auf der Straße diesen Auserwählten das vom Alltagsbild sich unmerklich Abhebende als Frucht in den Schoß fällt, ist es auch anderswo, in geschlossenen Räumen.

Die Blinden bleiben blind.

Die Sehenden sehen alles.

Wir standen in dem kleinen Atelier des Toten.

Da war eine Staffelei, da war ein begonnenes Landschaftsbild, da hing an der Staffelei die große Palette mit den Farbtupfen.

Harst streckte langsam die Hand nach der Palette aus, aber diese Hand sank wieder zurück.

„Zu frisch,“ sagte er.

Nichts weiter.

Die Palette hing so, daß die Farbtupfen nach außen lagen, zum Fenster hin, und das Daumenloch in der Palette war über einem in die Seitenleiste der Staffelei geschraubten Haken gestülpt.

Harmlos und farbenfroh leuchtete das Malgerät im Sonnenschein.

„Zu frisch!!“ wiederholte Harst.

Ja – – zu frisch waren die Farbkleckse.

Das meinte er.

Und das sah auch ich.

Dann schaute ich ihn an, und um seinen meist so herben, etwas weltschmerzlichen Mund spielte ein nachsichtiges Lächeln.

Gerd Matsen war nun seit drei Tagen nicht mehr in diesen Räumen gewesen.

Er war tot…

Aber ein Fremder hatte aus den Farbtuben dort auf dem Nebentischchen die Farbkleckse der Palette erneuert.

Sie waren frisch, sie waren feucht, sie waren nicht eingetrocknet.

Harsts Lächeln erstarb, als er sich vorbeugte und die Palette mit den Haken aus nächster Nähe betrachtete.

„Raffiniert!“ flüsterte er.

Es ist leicht, etwas zu finden, wenn man auch nur einen Fingerzeig erhält.

Der Haken war neu, war ein Messinghaken.

Er war zu neu.

Genau wie die Farbkleckse zu frisch waren.

Unter dem Daumenloch der Palette – dort, wo das Holz den Haken berührte, schillerte es hell wie ein Silberstreifen.

Es war ein Stückchen Staniol.

Man hatte es unter das Holz geschoben.

Und doch, obwohl nur ein winziges Stückchen Staniol, hätte es uns den Tod gebracht, wenn wir, durch die frischen Farbkleckse verführt, die Palette vom Haken gezogen hätten.

Ganz dünne, schwarz emaillierte Kupferdrähte, nicht stärker als Pferdehaar, liefen von dem Staniol und dem Haken an dem einen Staffeldreifuß abwärts und verschwanden in einem aufgeklappten Malkasten mit dicken Farbtuben.

– Man tut besser, technische Einzelheiten so niederträchtig raffiniert ersonnener Höllenmaschinen nicht dem Leser als pikante Kost vorzusetzen.

Es mag genügen: Der große Malkasten war eine Höllenmaschine mit elektrischer Zündung, und später wurde durch die Fachleute des Präsidiums festgestellt, daß wahrscheinlich das halbe Haus mit in die Luft gegangen wäre.

Der Vampir hatte falsch spekuliert.

Harst prüfte die Zündvorrichtung, zerschnitt die gefährlichen Drähte und packte nachher den unheimlichen Malkasten in einen großen Bogen Paper ein.

Nachher…

Das war, als wir bereits in Matsens Wohnzimmer unter der Schreibunterlage des Schreibtisches – genau wie bei dem bei uns mit negativem Erfolg untersuchten Fall Gontard – das zweite ‚Todesurteil‛ des Vampirs entdeckt hatten.

Der Leser kennt es: eine Packung Vampir–Reibhölzer, bei der in der Oberschicht der roten Hölzchen das zweite, fünfte, neunte Hölzchen fehlten.

Harst saß jetzt in Matsens Schreibsessel und öffnete bedächtig sein Zigarettenetui.

Vor ihm lag das ‚Todesurteil‛.

Er blickte starr auf die roten Hölzchen und wieder einmal fühlte ich, daß er, der grimme Feind jeder Pose, vielleicht als Mensch der Schlichteste der Schlichten ist.

Unvermittelt wie stets kam dann eine Bemerkung über seine Lippen, die mir verriet, was seine Gedanken jetzt beschäftigte.

Jetzt…

Denn die Höllenmaschine war abgetan.

„Mein Alter, ich möchte wissen, weshalb gerade das Fehlen des zweiten, fünften und neunten Hölzchens die Bedeutung hat…“

Er nahm eine Zigarette, hielt mir das Etui hin und fügte hinzu:

„Zwei, fünf, neun, – – wie könnte man daraus etwas Wichtiges entnehmen, etwas Logisches, etwas, das Sinn hat?“

Wir hatten schon einmal diese Frage gestreift.

Mir selbst erschien sie nebensächlich.

Mir lag nur etwas an dem Fang des Vampirs.

Harst rauchte still und blickte durch die feinen Vorhänge auf das gegenüberliegende Haus.

Es war ein Neubau wie dies hier.

Dann lachte er plötzlich sehr gedämpft und kurz.

„Der Vampir wird warten, mein Alter…“

„Auf die Explosion?“

„Nein, – auf uns. Daß sein raffinierter Streich mißglückt ist, weiß er. Wir befinden uns bereits eine halbe Stunde hier. Nun wird er vielleicht wieder zu den Kleinkaliberpistolen greifen, der vielseitige Herr.“

Sein Ton war plötzlich keineswegs mehr vergnügt-ironisch.

Er sprang auf…

Er stieß mich von der Schreibtischecke, wo ich mich angelehnt hatte, zur Seite, und in demselben Augenblick verstärkte sich der Lichtschein der Sonne, der durch das Fenster hereinfiel, auf eigentümliche Art.

Es war, als ob von irgendwo ein Scheinwerfer die Fenster beleuchtete.

Wir standen dicht am Fensterpfeiler und wir hörten das scharfe, kurze, zweimalige Klirren und den zweimaligen Schlag gegen die Eingangstür des Zimmers…

Schläge, – nein, Kugelanprall…

„Ein Spiegel wurde zur Verstärkung des Lichtscheins benutzt,“ meinte Harst gleichmütig. „Die dünnen Vorhänge ließen uns von drüben erkennen, aber der Vampir ist ein Stümper… – Hallo, – – die Flurglocke schrillt… Der, der Einlaß begehrt, hat es eilig…“

 

 

8. Kapitel

Gerda Barth aus Tilsit.

Das bleiche blonde Mädchen mit den schreckvoll aufgerissenen Augen tastete sich mühsam zum Sessel.

Ihre gehetzten Blicke irrten scheu über unsere Gesichter hin.

„Ich … ich … wollte … Herrn Matsen … sprechen…“ stammelte sie von neuem.

Dasselbe hatte sie schon in der Flurtür gestottert.

Es klang jetzt nicht glaubwürdiger.

„Herr Matsen ist … verreist,“ erklärte Harst in demselben Tonfall wie an der Flurtür.

Das Mädchen, dessen Liebreiz hauptsächlich in den zarten Farben des schmalen Gesichts bestand, flüsterte fast flehend:

„Und – – wer sind Sie, meine Herren?“

Harald betrachtete sie mit sanftem Vorwurf…

„Fräulein Barth, nicht wahr?“

Sie senkte schnell den Kopf.

„Ja – Gerda Barth…“

„Weshalb fragen Sie, wer wir seien?!“

Ihre Hände spielten mit dem Ledertäschchen…

„Glauben Sie, daß ich Sie beide kenne?!“

„Ich weiß es,“ sagte mein Freund etwas hart.

Gerda Barth, die zweifellos irgendwie mit dem ‚Fall Vampir‛ etwas zu tun hatte, zuckte merklich zusammen.

Aber noch leistete sie Widerstand.

„Ich kenne Sie nicht!“ erklang es trotzig.

Sie hob den Kopf…

Ihr Blick war herausfordernd.

Harald trat dicht neben sie hin.

„Kind, die Künste helfen hier nichts,“ meinte er nachsichtig.

Eine rote Blutwelle stieg ihr vor Scham bis zur Stirn…

Und dann kamen Tränen… Dann kam der Verzicht auf Heuchelei und Ausflüchte.

Wimmernd, schluchzend lehnte sie im Sessel, die Hände vor das Gesicht gedrückt.

„Herr Harst, helfen Sie mir‥!!“

Es war ein Aufschrei grenzenloser Verzweiflung.

„Ich helfe Ihnen… Beruhigen Sie sich…“

Seine Finger drückten ihre Hände herab…

„Aber ehrlich müssen Sie sein‥!“

„Ja – ja, – soweit ich es darf‥!“

„Mit dieser Einschränkung geben Sie zu, daß Sie mehr über den Vampir wissen, als Sie gestehen dürfen…“

„Vampir?! Über … den Vampir?!“

Sie heuchelte nicht.

Sie wußte nichts, ihr Erstaunen war so vollkommen echt und ungekünsteltes, daß ich eigentlich enttäuscht war.

Auch Harst machte zu dem überraschten Ausruf des Mädchens ein ganz eigentümliches Gesicht.

Gewisse Schlußfolgerungen, in die ich Gerda Barth mit eingeschlossen hatte, mußten falsch sein.

Freilich herrschte in seinen Zügen noch ein nachdenklicher Ausdruck vor, der selbst den warmen Schimmer reiner Herzensgüte etwas verdrängte.

„Ich möchte Sie nicht unnötig quälen, Fräulein Barth,“ sagte er, sich leicht auf einen Stuhl lehnend. „Ich glaubte, Sie hätten hier in solcher Eile Einlaß begehrt, weil Sie uns vor dem Vampir warnen wollten. Was diesen Namen ‚Vampir‛ betrifft, bin ich Ihnen eine Erklärung schuldig. – Es besteht hier in Berlin zweifellos eine Organisation von Verbrechern, die ein oder mehrere geheimnisvolle Oberhäupter hat. Jedenfalls benutzt die Organisation Vampir-Zündhölzer in mannigfacher Art.“

Harst war bei diesen Angaben überaus zurückhaltend, und trotzdem verriet das junge Mädchen ein ungewöhnliches Interesse dafür.

„Ich kenne die Vampir-Hölzer,“ meinte sie ganz unaufgefordert und errötete dabei abermals. „Durch meinen Verlobten kenne ich sie… Er heißt Herbert Malmy und war längere Zeit in der Fabrik meines Vaters in der Nähe von Tilsit tätig. Dann siedelte er vor einiger Zeit hier nach Berlin über, und um ihn wiederzusehen, besuchte ich meine Freundin Thea Roßbund. Leider hat nun Herr Roßbund eine starke Abneigung gegen jüngere Leute, die etwa wie Herbert stets elegant gekleidet gehen und vielleicht etwas zu selbstherrlich sind. Herr Roßbund bat mich, Herbert nicht in sein Haus einzuführen, und so haben wir uns denn stets außerhalb getroffen. Heute vormittag um zehn wollten wir, Herbert und ich, einen Ausflug unternehmen, ich habe jedoch umsonst auf ihn gewartet. Da er mir nun letztens angedeutet hatte, er benutze zuweilen die Wohnung seines Freundes Gerd Matsen, fuhr ich in meiner Sorge hierher und…“

„Sorge?!“ fragte Harst schnell. „Was fürchteten Sie?“

„Ich fürchtete … dasselbe, was Thea ihres heimlich Verlobten wegen fürchtet… Sie war ja bei Ihnen, Herr Harst, und…“

„Also daß Herbert Malmy auch verschwunden sein könnte?!“

„Ja…“

„Ich glaube Sie beruhigen zu können,“ erklärte Harst voller Herzlichkeit. „Sollte Malmy sich bis morgen vormittag nicht bei Ihnen melden, werden wir ihn finden, verlassen Sie sich darauf, Fräulein Barth. Nur noch eine Frage möchte ich an Sie richten…“

„Oh, bitte‥!“ rief sie beglückt und erleichtert.

„Sie sagten vorhin, daß Sie die Vampir-Hölzer durch Malmy kennen. Wollen Sie mir das näher erläutern?“

Gerda Barth wurde wieder ängstlich.

„Ist das so wichtig, Herr Harst? Vielleicht schade ich Herbert durch meine Angaben…“

„Sie nützen ihm – bestimmt!“

„Dann freilich, – nun gut, als wir einmal in einer Bar saßen, versagte Herberts Feuerzeug, und er suchte nach Zündhölzern. Dabei brachte er eine der flachen Packungen Vampir-Hölzer zum Vorschein, und als ich lachend meinte, das seien ja Zündhölzchen, steckte er sie mit finsterem Gesicht wieder weg und erklärte die Hölzchen seien verdorben. Ich erschrak ordentlich über seinen schroffen Ton. Aber den Ausdruck ‚Vampir-Reibholz‛ hatte ich genau gelesen.“

„Die Sache ist ziemlich bedeutungslos,“ meinte Harald achselzuckend. „Ich würde Ihnen raten, Fräulein Barth, doch besser über die Vampir-Hölzchen nicht zu reden – – für alle Fälle… – Und im übrigen: Kopf hoch und tapfer sein! Herbert Malmy wird sich schon wieder einfinden. Mit Matsen ist das freilich anders bestellt. Sie sind ein Mädchen mit guten Nerven. Schonen Sie also Fräulein Thea.“

Gerda Barth war ein Provinzkind.

Sie hatte wirklich robuste Nerven.

„Schonen?!“ sagte sie ernst. „Herr Harst, ehrlich gestanden, heute früh meinte Thea, als sie mich in meinem Fremdenzimmer bei Roßbunds besuchen kam, mit mir unbegreiflicher Gleichgültigkeit, sie fürchte, daß Gerd Matsen tot ist.“

„Er ist tot, Fräulein Barth!“

Das junge Mädchen preßte wie in neuem Erschrecken die Lippen ganz fest aufeinander.

„Habe ich für Herbert dasselbe zu fürchten?“ stieß sie erbleichend hervor

„Nein.“ Harst ergriff ihre Hand. „Sie können jedoch zum Schutz Malmys etwas tun… Ich beargwöhne unter anderem einen der Hausangestellten des Rentners Roßbund. Ich werde Ihnen nachher etwas geben, das Sie heute mittag bei der Mahlzeit ganz offen auf den Eßtisch legen und dazu erklären, Sie hätten das Betreffende auf der Treppe zur Roßbundschen Villa gefunden. – Warten Sie einen Augenblick…“

Er setzte sich mit dem Rücken nach ihr hin an den Schreibtisch, holte unser ‚Todesurteil‛ hervor, also die Vampir-Packung, die von der Bettlerin stammte, und schrieb mit Tinte auf die Innenseite der Deckplatte der Zündholzpackung:

Falls Malmy stirbt, stirbt der Vampir mit!

Dann klebte er die Klappe mit einem Streifen gummierten Briefmarkenrandpapiers sorgfältig zu und bat Gerda Bahrt, die Zündhölzer so, wie sie seien, auf den Eßtisch zu legen, wenn einer der Dienstboten im Speisezimmer sei.

Als das junge Mädchen die Wohnung Matsens verlassen hatte, richtete ich an meinen Freund eine Frage, die er mit den Worten beantwortete:

„Es hat lange gedauert, bis du die richtige Fährte fandest, mein Alter…“

Eine Autotaxe brachte uns und die Höllenmaschine nach verschiedenen Umwegen und nach zwei Telephongesprächen von Fernsprechautomaten aus zum Polizeipräsidium.

Was hier im Dienstzimmer eines der höchsten Beamten verhandelt wurde, ergibt der Fortgang der Ereignisse.

 

 

9. Kapitel

Die Einkreisung des Vampirs.

Nachmittags gegen sechs Uhr, als wir längst wieder daheim waren, schrillte das Telephon in unserem Vorderzimmer, dem wir so großartig die Bezeichnung Büro zugelegt hatten.

Harst meldete sich.

Es war Viktor Burke – nicht zu vergessen ‚in Firma Emil Burke & Co., Zigaretten!‛ –, und er erstattete lediglich den ersten knappen Bericht. Er war bei der Besprechung im Präsidium mit dabeigewesen.

Ich muß hier einflechten, daß all die wunderschönen Geschichten von Privat- oder Amateurdetektiven, die ohne jede polizeiliche Hilfe Wunderdinge vollbringen, stets dann barer Unsinn sind, wenn der Verfasser auf den billigen Ausweg kommt, den ‚glücklichen Zufall‛ die schwierige, zeitraubende und zahlreiche Mitarbeiter erfordernde Ermittlungsarbeit oder schärfste Beobachtung mehrerer Personen erledigen zu lassen.

Seien wir ehrlich: Solche Zufälle, die etwa dem Gewinn des großen Loses entsprechen würden, gibt es nicht.

Selbst ein Detektivinstitut mit einer Schar von Angestellten käme hier nicht in Frage, auch wenn ein Klient Tausende und Abertausende für zuverlässige Erledigung bieten würde. Es darf eben nie übersehen werden, daß der Amateur oder Privatmann jeglicher amtlicher Eigenschaft entbehrt und schon dadurch überall auf ungeahnte Schwierigkeiten stößt.

Ohne Viktor Burkes Hilfe wäre es uns wahrscheinlich unmöglich geworden, den Hauptschlag gegen den Vampir zu führen. Burkes erste Meldung lautete – und in dieser Meldung lag gleichzeitig die Bestätigung der zielbewußten Vorarbeit meines Freundes:

Atelier durch Elektrizitätskassierer untersucht. Alles staubfrei.

Dem Uneingeweihten besagte dies nichts, selbst wenn er heimlich am Fernsprecher mitgehört hätte.

Burke nannte nicht einmal seinen Namen und hängte sofort wieder ab. Trotzdem konnte die Meldung nur von ihm herrühren.

Das war also gegen sechs Uhr. –

Eine Stunde später überstürzten sich diese kurzen Anrufe.

Bei der ersten Meldung handelte es sich um Gerd Matsens erste Wohnung und Mansardenatelier. Die beiden Räume lagen in einer Quergasse an der Spree unweit der Roborat-Werke in einem uralten verbauten Eckhaus.

Als wir uns diesen Taubenkäfig, Mansarde genannt, gestern flüchtig von der Straße aus ansahen, da hatte Harst sofort erklärt, das sei ein geradezu idealer Versammlungsort für dunkle Existenzen. Die flachen Dächer des Häuserblocks ringsum boten verborgenen Wege in Fülle, die seitlichen Mansardenfenster waren bequem zu erreichen, und sogar für den schlimmsten Fall einer polizeilichen Einkreisung konnte unschwer für sichere Ausschlüpfe gesorgt worden sein.

Wichtig war uns einzig und allein bei diesem ersten Anruf die Betonung, daß alles ‚staubfrei‛ sei.

Dies besagte ja nichts anderes, als daß ein Unbefugter dort oben aus Vorsicht die Reinemachefrau gespielt hatte.

Matsens Ermordung lag nun volle drei Tage zurück, und nach drei Tagen hätte in einer unbenutzten Wohnung unbedingt eine Staubschicht vorhanden gewesen sein müssen.

Diese Meldung erregter Harst weit mehr, als selbst ich anfänglich vermuten konnte.

Er schritt unablässig im Büro auf und ab und hielt leise Selbstgespräche und verrauchte ungezählte Zigaretten…

„Armes Mädel, – sie ahnt die Wahrheit!! Wie muß ihr zu Mute sein!!“

Und weiter:

„Ihren Nerven müssen sehr bald streiken. Nachts immer unterwegs, und den Tag über Komödie spielen, – – da muß man Mitleid mit ihr haben!“

Ich verhielt mich ganz still, saß in der Sofaecke und benutzte diese Äußerungen zur Ergänzung dessen, was ich noch nicht wußte.

„… Geldgier ist die scheußlichste Gemütskrankheit,“ lautete der nächste dieser Aussprüche.

Harst war vor mir stehen geblieben, schaute aber ins Leere.

„… Wenn die Eltern derart moralisch entgleisen, ist es ein Wunder, daß die Tochter innerlich gesund bleibt…“

Er nickte abermals, als pflichtete er einem unausgesprochenen Gedanken bei.

„… Natürlich kennt sie die volle Wahrheit, auch den waren Anlaß für ihre Besuche‥!“

Seufzend nahm er seinen Marsch durch das Zimmer wieder auf.

„… Und die anderen, – genau so bedauernswert! Herbert Malmy?! Lieber Himmel, – die Jugend von heute ist halb entwurzelt. Genußsucht, Trägheit, Amüsierstätten, – – trotzdem hat der Bursche mit der Schiebermütze einen guten Kern, behaupte ich. Schon deshalb soll er am Leben bleiben, obwohl der Vampir… – Hallo, der Apparat…“

Das Telephon schnurrte wieder.

Zweite Meldung, – Zeit: sechs Uhr fünfundvierzig:

Haben ihn gefunden. – Kaschemme am Schlesischen Bahnhof. Verkleidet. Spielt Karten, sehr nervös und argwöhnisch.

Harst legte den Hörer auf die Stütze zurück.

„Mein lieber Alter, mir fällt ein Stein vom Herzen. Hiervon hing alles ab. Burke wird schon dafür sorgen, daß Malmy nichts geschieht.“

Und eine Stunde drauf:

Ehepaar in Staatsoper gefahren. Tochter schon vorher unterwegs. Werden beobachten.

Harst meinte hierzu mit mitleidigem Ernst:

„Der Vampir wird auf den Fliegenden Holländer verzichten und in einem Taubenschlag wandern‥!“

Seine Unruhe wirkte ansteckend.

Seine Unrast war ein Fieber, das auch mich jetzt packte.

Der Abend oder die Nacht der Entscheidung war da. Auch ich zweifelte hieran nicht länger.

Ich übergehe einige unwichtige Meldungen.

Genau um neun erfolgte das erwartete:

Er über Dächer zum Taubenschlag. Schleunigst kommen.

Wir brachen sofort auf. Eine schon vorher bestellte Taxe mit einem vorzüglichen, verschwiegenen Fahrer sauste durch den dünnen Frühlingsregen des lauen, wolkigen Abends gen Osten und hielt vor der bewußten Querstraße.

Wir schritten zu Fuß weiter.

In einer Haustür lehnte Viktor Burke. Er sah ungewöhnlich blaß aus.

Wir stiegen in einem fremden Haus die Treppen empor und gelangten schließlich in einen Bodenverschlag, der an eine Brandmauer grenzte.

Burkes Laterne beleuchtete ein Loch in der Mauer, das ganz frisch hergestellt war. Die Ziegelsteine lagen auf den rohen Brettern neben dem Loch, das gerade groß genug war, selbst einen breitschultrigen Mann hindurchzulassen.

Hinter der Öffnung bemerkte man eine Holzverkleidung, in der helle Sägeschnitte ähnlich heimliche Arbeit verrieten.

„Keinen Laut!“ flüsterte der Kommissar. „Malmy ist drüben und wartet. Das Geräusch des Regens und des Windes übertönt vielleicht menschliche Stimmen… Wir wollen trotzdem sicher gehen.“

Er gab Harst die Laterne und hob mit äußerster Behutsamkeit die Bretter heraus, die sowohl durch Querleisten miteinander verbunden waren, als auch Haken zum bequemen Anfassen hatten.

Von Burkes Leuten war tadellos vorgesorgt worden.

Nachdem das Bretterviereck entfernt worden war, gewahrte ich eine Stoffbespannung: eine alte bunte Diwandecke!

Sie hing auf der anderen Seite gefaltet als Wandschmuck.

Ein scharfes Messer hatte in den Falten drei Schlitze in verschiedener Höhe hergestellt, so daß wir drei gleichzeitig beobachten konnten, was im ‚Taubenschlag‛ vor sich ging.

Vorläufig mußten wir uns noch gedulden.

Gewiß, wir warfen wohl einen spähenden Blick auf den einsamen jungen Burschen mit dem wirren Haar, der Schlappmütze, dem halb offenen Hemd und der zerknitterten Jacke, der dort in dem geradezu armseligen Mansardenraum mit hängendem Kopf beim trüben Schein einer billigen Lampe auf einem Stuhl hockte und vor sich hinstierte.

Es war Herbert Malmy, – Chemiker angeblich, aber auch noch vieles andere.

Eines war gewiß: er war der ‚Verteiler‛ oder einer der ‚Verteiler‛ des Vampirs.

Er saß da, stumpf, ergeben in sein Schicksal, einer der vielen Verführten.

Hinter ihm an einem genau so schäbigen Tisch stand einer jener alten riesigen Ohrensessel, wie sie zu Urgroßvaters Zeiten beliebt gewesen. Es war ein Ungetüm von Möbel, klobig, zerrissen, geflickt.

Betrachtete man sich dieses sogenannte Atelier des toten Matsen und dachte man dann an die Übereleganz der Junggesellenwohnung in der Künstlerkolonie ‚Palette‛, so drängte sich einem unwillkürlich der Gedanke auf, daß Gerd Matsen keinerlei Mitleid verdiente…

Er war einer Art Erpresser gewesen, die jeden halbwegs anständig Gesinnten abstößt.

– Zehn Uhr…

Irgendwo schlug eine Fabrikuhr…

Und da begab sich das Wunder.

Lautlos, spukhaft lautlos, war urplötzlich der alte Ohrensessel von einem Mann besetzt worden – wie hingezaubert…

Burke drückte vor Überraschung meinen Arm…

Harst öffnete seinen Sehschlitz noch weiter.

 

 

10. Kapitel

Des Vampirs letztes Opfer.

Herbert Malmy hatte nichts gehört.

Regen und Frühlingssturm lärmten um die Mansarde, und des Entgleisten wirre Gedanken gingen noch ziellosere Pfade, aufgescheucht durch das eine reine Gefühl seiner Seele, die Liebe zu einem Mädchen, das seine Braut und unbewußt seine Mitschuldige geworden war.

Was sich in ihm an Gewissensqualen regte, las man ihm von dem zerwühlten Gesicht ab.

Und doch war er hier nur Nebenfigur.

Meine Augen kamen nicht los von dem uralten Sessel und der zusammengekauerten Gestalt eines unheimlichen, greisenhaften Menschen, dessen bartloses Gesicht, fast kalkweiß, eigentümlich verschwommene Züge aufwies.

Ein steifer, unmoderner Filzhut, bis auf die Ohren gedrückt, verlieh diesem spukhaften Fremden vielleicht etwas ungewollt Lächerliches, und die kurze Pfeife, die er im linken Mundwinkel hielt, gab ihm einen Stich ins Spießbürgerliche.

Groteskunheimlich, – das ist hier wohl die richtige Bezeichnung.

Der Alte hüstelte, und Herbert Malmy fuhr herum, duckte sich wie sprungbereit zusammen und zischte seinen Peiniger wütend an:

„Hier bin ich! Aber ich gehorche nicht mehr‥! Hier in meiner Tasche steckt eine…“

Das trockene, höhnische Lachen des Vampirs verschlug ihm die Rede.

„Söhnchen,“ sagte das kleine Scheusal mahnend, „Sie werden froh sein, wenn ich nicht schieße!“

Mit kurzer Handdrehung richtete er das Mundstück der Pfeife auf Malmy und fügte dann noch mit heiserer, gut verstellter Stimme hinzu:

„Malmy, nehmen Sie Vernunft an… Ich drohe nicht gern. Das Zeug muß hier aus dem Haus und muß irgendwo vergraben werden… Wir haben jetzt zu viel Spürhunde hinter uns, und daß Sie sich in der verflossenen Nacht im Schuppen das Päckchen wegfischen ließen, hätte strengste Strafe verdient…“

„Ich weiß, daß Sie ein Mörder sind,“ sagte Malmy finster. „Weshalb mußte Matsen sterben, weshalb die anderen?“

Der Alte erwiderte kalt: „Wer mich erkennt, stirbt! – Also, wie ist es, werden Sie das Zeug verbergen, Malmy? Ich verspreche Ihnen, daß Sie fortan frei sein werden, ganz frei… Ich selbst bin zu alt und gebrechlich, um diese Arbeit zu übernehmen. Sie vergraben es im Grunewald-Forst…“ –

Er bezeichnete die Stelle ganz genau.

Herbert Malmys Gewissen sträubte sich, aber der unheimliche Alte wußte seine Bedenken zu zerstreuen, indem er nochmals betonte, daß der junge Mensch fortan tun und lassen könnte, was er wollte.

„Gut denn, – – und wo liegt das Zeug?“ fragte Malmy halb verzweifelt und doch auch hoffnungsfroh.

„Dort im eisernen Ofen unter der Asche… Drei Pakete… Und hier ist Ihre Schlußbezahlung, Malmy, tausend Mark…“ –

Er warf ihm ein Päckchen Banknoten hin.

Malmy stieß mit dem Fuß nach dem Geld.

„Behalten Sie es, – – ich will ehrlich werden, ehrlich sein! Fahren Sie zur Hölle mit Ihrem…“ –

Und abermals zerschnitt ihm das eiskalte Lachen den begonnenen Satz…

„Wie Sie wollen! Dann – werfen Sie mir das Geld wieder her, – – sofort‥! Sie Narr!!“

Der junge Mann bückte sich…

Im gleichen Augenblick glitt Viktor Burkes Hand durch den Schlitz der Wandbekleidung, – zwei Schüsse knallten fast gleichzeitig, und der Vampir schlug aus seinem Sessel schwer vornüber, während Malmy mit dem bloßen Schrecken davongekommen war.

Vom Dach her drangen Beamte ein, – zwei von ihnen führten ein zitterndes junges Mädchen, Thea Roßbund…

Die Tochter, die den Vater hatte warnen wollen, war zu spät gekommen, dieselbe Tochter, die das ‚Zeug‛ von Tilsit ahnungslos in ihrem Koffer nach Berlin geschafft hatte, dieselbe Tochter, die zuerst nur geringen Verdacht gegen den eigenen Vater geschöpft hatte, bis dieser Verdacht zur Gewißheit geworden war.

Starr und bleich schaute sie nun auf den toten Vampir, auf den großen Kokainhändler, der eine Organisation ins Leben gerufen hatte, wie sie einzigartiger kaum sein konnte.

Burke nahm sich Theas dann an, brachte sie heim, während Harst den verdächtigen Riesensessel untersuchte.

Das Rätsel des jähen Auftauchens des Vampirs war einfach genug: Roßbund hatte die Wohnung unterhalb der Mansarde gemietet und in der Decke und im Fußboden eine Falltür angebracht.

Auch Malmy wurde dann abgeführt. Er mußte vorläufig verhaftet werden. Später fand er milde Richter, schon deshalb, weil der Vampir auch ihn hatte beseitigen wollen. –

Um Mitternacht saßen Burke und wir beide in der behaglichen Ecke in unserem schlichten Büro und besprachen bei einer Tasse Mokka das Wenige, was es noch zu erörtern gab.

Burkes Hauptfrage lautete:

„Wie schöpften Sie zuerst gegen Roßbund Verdacht, lieber Harst?“

„Nur dadurch, daß Fräulein Thea uns erzählte, ihr Vater habe Matsen, als er als Bewerber vorsprach, fast hinauswerfen lassen. Nachher erfuhr ich von Ihnen, daß Roßbunds Freund Michael Barth bei Tilsit eine chemische Fabrik besäße und Thea ihre Freundin Gerda so häufig besucht habe. Natürlich wollte Roßbund jede persönliche Beziehung mit Matsen und auch mit Malmy vermeiden: er fürchtete, als Vampir erkannt zu werden.“

„Und wer war die Bettlerin, die Ihnen die Zündhölzer, das Todesurteil, überreichte?“

Harst zögerte. „Bitte, ersparen Sie mir eine Antwort, lieber Burke. Weshalb soll auch noch eine zweite ganz nahe Verwandte Theas verhaftet werden?!“

Ich wußte es: es war Frau Roßbund gewesen! Burke fragte nichts mehr.

Nach einigen anderen Bemerkungen kam er auf das Päckchen zu sprechen, das Harald im Kaischuppen dem jungen Malmy weggeschnappt hatte.

„Wir wissen nun ja, daß das Kokain in roten Umhüllungen und zwar mit den Umschlägen der Vampir-Hölzer verteilt wurde… Wie steht’s aber mit dem zweiten, fünften und neunten fehlenden Zündholz in dem ‚Todesurteil‛?“

Harst erwiderte ehrlich:

„Die Frage wird wohl ungelöst bleiben, denn nur Roßbund hätte uns sagen können, weshalb er gerade die drei Hölzchen auswählte. Ich habe keine Erklärung dafür gefunden. Die Hauptsache bleibt ja auch, daß der Schleichhandel mit Kokain nunmehr für Berlin unterbunden ist… Der Vampir wird keine leichtsinnigen jungen Leute mehr für seine nichtswürdigen Zwecke einfangen.

Nehmen Sie eine neue Zigarre, lieber Burke, und reden wir von angenehmeren Dingen.“

Burke starrte ernst vor sich hin.

„Angenehmere Dinge?! Bester Harst, – der Vampir hat auch mich ins Herz getroffen… Weshalb, ahnen Sie wohl… Thea als die Tochter eines Rauschgifthändlers würde mich nie heiraten, – – sie hat Charakter…“

Harst schwieg dazu…

Das Leben baut seine eigenen Tragödien auf und nimmt keine Rücksicht auf das, was es dabei zerstört.

Nur die Dichter suchen ihren erdachten Konflikten einen verschönenden, versöhnlichen Abschluß zu geben.

– Vielleicht wird ein gutes Geschick auch Karl Roßbunds Tochter ein stilles Sehnen erfüllen. Die Zeit heilt alles… Und die Liebe bleibt ein Quell, der aller Hindernisse spottet…