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Die Beweishose

 

Die Beweishose

 

Sittenroman von
Heinz Elvers

 

Verlag. moderner Lektüre.
— — — — — G.m.b.H. — — — — —

Berlin SO16, Michaelkirchstraße 23a
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre
G. m. b. H., Berlin 26. — 1924.

 

 

Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

 

1. Kapitel

Der Zechpreller.

Gefangenenaufseher Scheppermann öffnete die Zelle Nr. 5.

Das Amtsgerichtsgefängnis in Buxhügel hatte nur zwölf Zellen. Nur drei davon waren gewöhnlich belegt. Buxhügels Ein- und Umwohner waren zu bieder, um je hinter Schloß und Riegel zu müssen. Was von dem Amtsgericht zu Haft oder Gefängnis ‚verknackt‛ wurde, war zumeist zugelaufenes Gesindel.

Scheppermann trat ein und sagte: „Morjen, Herr Müller. Wie steht’s?“

An dem kleinen Tischchen saß ein schlanker Mensch, sehr patent gekleidet, mit einem ganz sympathischen, schmalen Gesicht, den der Bürstenschnurrbart etwas Militärisch-Straffes verlieh. Auch der blonde Scheitel war tadellos festgelegt und durchgezogen. Ebenso verriet das Organ, daß der Blonde einmal an Befehlen gewöhnt gewesen sein mußte.

„Morgen, Herr Scheppermann. Gut geschlafen?“

„Danke, es jing. Nur die Bande drüben hat wieder bis elf Klavier gespielt. Sind Sie auch dadurch gestört worden?“

Der alte Aufseher mit dem gutmütigen Gesicht setzte sich auf den Bettrand.

Der Gefangene drehte den Stuhl höflich so, daß er Scheppermann ansehen konnte. –

„Hm,“ meinte er. „Gestört worden? Das wohl kaum. Eigentlich mehr ‚im Gegenteil‛! Ich höre gern Musik. Und dann – es gab ja noch ein Nachspiel.“

Er lächelte ein feines Genießerlächeln.

„Na nu? Nachspiel?“ fragte der Alte, aufmerksam geworden.

„Ja. Ein reizendes Finale! Aber nicht Musik. –

Doch – das ist nichts für so alte Herren wie Sie, lieber Scheppermann.“

„Wieso nicht? Ich verstehe Sie nicht ganz, Herr Müller?“

Müller langte in die Tasche und holte zwei Zigarren heraus, hielt Scheppermann eine hin und lächelte wieder, jetzt so ein wenig spitzbübisch. Das Lächeln nahm für ihn ein.

Der Aufseher machte große Augen. „Wieder Zigarren? –

Wo kriegen Sie die Dinger nur immer her?“ fragte er kopfschüttelnd.

„Sie fliegen mir zu durch das Fenster. Heute will ich’s Ihnen verraten. Denn heute nachmittag sechs Uhr bin ich ja wieder frei.“

„Leider, leider!“ nickte Scheppermann. „Ich werde Sie sehr vermissen – sehr, Herr Müller! In diesen vierzehn Tagen habe ich Sie geradezu lieben gelernt. Wirklich. Noch nie habe ich das Reglement verletzt. Bei Ihnen kam’s so von selbst, diese Vertraulichkeit, die für mich so lehrreichen Plauderstündchen und das andere, – eben, daß Sie für mich mehr Gast als – als Zögling dieser Anstalt waren, und daß ich bei Ihnen beide Augen zudrückte.“

„Wofür ich Ihnen aufrichtig dankbar bin,“ sagte Müller warm, rieb ein Streichholz an und gab Scheppermann Feuer.

„Donner noch eins!“ rief der nach den ersten Probezügen. „So wat Feines haben Sie mir noch nicht spendiert. Da scheint auch nicht die Spur Buchenlaub und Kartoffelblätter drin zu sein. – Hm – diese Zigarren waren wohl das Nachspiel, Herr Müller?“

„Aber bester Scheppermann! Ich erklärte doch vorhin: Das Nachspiel ist nichts für Sie! – Also können es nicht die Zigarren sein!“

„Na – los doch, Herr Müller. Was war’s denn?“

Müller beugte sich vor und holte unter der Bettdecke einen Operngucker hervor, ein recht ehrwürdiges, aber gerade deshalb sehr scharfes Glas.

„Weshalb mag ich mir wohl vor sechs Tagen dies Instrument von Ihnen geliehen haben?“ fragte er wieder mit so eigenem Lächeln. „Vielleicht um drüben jenseits der Straße die Bauart der beiden Villen zu studieren, die ich so bequem beäugen kann, wenn ich Tisch und Schemel unter das Fenster und mich obendrauf stelle?! – Nein, Scheppermann, ich habe mich nie für Baustile interessiert. Niemals. Ich sammelte bis zum fünfzehnten Jahr Käfer, Schmetterlinge, Briefmarken und Zigarrenbänder; dann Locken von meinen zahlreichen Schülerinnen; dann vom zwanzigstem Lebensjahr ab Photographien mit Widmungen von jungen, leichtsinnig-fidelen Damen; dann vom achtundzwanzigsten ab Lebenserfahrungen, bei welcher Beschäftigung ich leider durch meine Verhaftung wegen Zechprellerei, Führung eines falschen Namens und unregelmäßiger Aneignung eines Adelstitels eine vierzehntägige Pause eintreten lassen mußte. – Also: Baustile sind mir total schnuppe. Weniger schnuppe sind mir Menschen, die sich spät abends bei offenen Fenstern und brennender Lampe bis aufs äußerste entkleiden, eben bis sie im Adamkostüm dastehen, – oder auch im Evakostüm!“

„Na na!“ zweifelte der alte Aufseher. „Evakostüm? Dazu sind unsere Buxhügeler Weiber wohl doch alle viel zu anständig, um so was zu tun, – so was bei Licht und ohne vorgezogene Gardinen! – Nee, Sie scherzen man, Herr Müller. Und – ich bin froh, daß Sie’s tun! Ich bin von Ihnen ja so einen ganz anderen Ton gewöhnt. Heute haben Sie noch nicht einen einzigen Witz gemacht, während Sie doch sonst –“

„Ja – sonst kalauerte ich in einem fort!“ fiel Müller ihm in die Rede. „Heute aber lastet auf mir der Abschiedsschmerz und drückt mir die bewußte Ader zu, aus der meine ironisch-derben, weltschmerzlich-tiefgründigen Witzeleien flossen. – Bester Scheppermann, ich will Ihnen beichten. – Mein Abschiedsschmerz ist ehrlich und ein doppelter. Erstens: Das Scheiden von Ihnen gießt mir Wehmut ins Herz! Wo werde ich sobald wieder einen Gefängnisaufseher finden wie Sie! Ich fürchte, ich werde umsonst auf meinem ferneren Lebensweg in den Herbergen, in die ich notgedrungen einkehren muß, nach einer Seele von Mensch wie Sie es sind, suchen! – Sie verstehen mich: Dieser Herberger sind eben ähnliche öffentliche Wohltätigkeitsanstalten wie diese hier, in denen einem müden Wanderer freies Logis und freie Verpflegung geboten wird.“

„Um Gottes willen, – Sie tun ja gerade so, als ob Sie –“

„Unterbrechen Sie mich nicht, Scheppermann. Ich weiß, daß ich unfehlbar noch häufiger ‚sitzen‛ werde. Sie brauchen deswegen nicht so entsetzt sein. Wenn wir, das heißt, wir Herren Gesetzesübertreter, nicht mehr mitmachen und streiken würden, wären Sie ja ohne Stellung. Und außer Ihnen noch zahlreiche andere tüchtige und untüchtige Beamte! – Also erstens: Das Scheiden von Ihnen fällt mir schwer. – Zweitens: Ich habe mich während dieser vierzehn Tage verliebt!“

Scheppermann schmunzelte. „Wohl in meine Auguste, was?“

„Gewiß – die habe ich verehren gelernt. So gute Kartoffelpuffer wie Ihre Frau bäckt niemand mehr! – Also verliebt, bester Scheppermann! Ich kann aber leider nicht sagen in wen! Denn ich kenne von meiner Geliebten nur die Gestalt ausschließlich Kopf, – eben die Gestalt im Evakostüm! Den Kopf konnte ich nicht sehen, da er mir in diesen letzten fünf Tagen oder besser Nächten stets durch eine vor dem Fenster bis Halshöhe hinabgelassene Stabjalousie entzogen wurde. Trotzdem kam die Liebe auf zarten Schwingen hier in meine Zelle geschwebt und ist noch drin! – Stellen Sie sich vor, Freund Scheppermann! Genau vor sieben Tagen wurde ich zum ersten Mal Zeuge, wie meine schlanke Angebetete sich entkleidete. – Damals hatte ich mir von Ihnen noch nicht Ihr Doppelfernrohr ausgebeten. Aber ich tat’s dann schleunigst. Und als nun am folgenden Abend wieder um halb zwölf etwa meine kopflose Schöne langsam ein Stück ihrer Hüllen nach dem andern abstreifte, als ich durch Ihren Operngucker das holde Weib nun wie auf zehn Meter vor mir hatte, als Rock, Bluse, Unterrock auf das im Hintergrund stehende Bett flogen, als die schlanke Unbekannte nur in rosa Mieder und rosa Seidenhöschen, in durchsichtigen Florstrümpfen und Halblackschuhen vor mir stand, als weiter auch Mieder und Höschen, Taghemd und Stümpfchen und Schuhchen –“

„Hören Sie auf, – hören Sie auf!“ rief Scheppermann. „Einem wird ja ganz heiß! Das ist nichts für sechzigjährige Ohren!“

„So?! – Na – sechzigjährige Ohren sollten eigentlich durch derartig zarte Klänge nicht mehr berührt oder gerührt werden!“ lachte Müller heiter.

Und der Alte stimmte mit ein in diese zwanglose Fröhlichkeit. –

„Gestatten Sie!“ meinte er dann, „Sie denken wohl, mit sechzig Jahren hätte man sozusagen schon wieder den Keuschheitseid geleistet, wie?! Herr Müller, – da irren Sie sich! Man kann grau sein wie ein Esel und doch noch frisch wie ein zweijähriger Karnickelbock! Oh ja – das kann man!“

„Gratuliere, Scheppermännchen! – Ich werde das von mir mit sechzig nicht mehr behaupten können! Nee – dazu habe ich von zwanzig ab zu viel Photographien gesammelt, auf deren Rückseite zumeist stand: ‚Ihrem über alles geliebten Mäxchen zur Erinnerung an süße Stunden!‛“

Scheppermann hatte aufgehorcht.

„Hm – ich denke, Sie heißen mit Vornamen Franz, Herr Müller, und nicht Max!“

„Max?! Max?! Wer redet was von Max?! Ich sagte ‚Klexcken‛, nicht ‚Mäxchen‛! Klexchen war mein damaliger Kosename, unter dem ich in sämtlichen Tanz-, Trink-, Musik- und Radaulokale Berlins berühmt war.“

„Sie – Sie schwindeln ja, Herr Müller! Sie haben doch angegeben, Sie seien in Wien seit Ihrem achtzehnten Jahr Kellner gewesen und befänden sich erst seit kurzem in Deutschland.“

„Nein – sind Sie kleinlich, Scheppermann! Ich habe mich doch nur versprochen. Ich meinte Wien – natürlich Wien! – Aber nun lassen Sie mich endlich mit der Beichte zu Ende kommen. – Also: Nachdem auch die letzten köstlichen, spitzenbesetzt Hüllen gefallen waren, erblickte ich einen wahrhaftig junonischen Leib vor mir –“

„Was für ‛n Leib? Ist das ‛n neuer Ausdruck für jüdisch? Das klang nämlich so hebräisch, dies Fremdwort.“

Müller hob abwehrend beide Hände. „Jüdisch, – hebräisch?! Die ist so hellblond, daß in ihren Adern unmöglich orientalisches, das Haar schwarz färbendes feuriges Blut fließen kann! – Weshalb schlackern Sie denn so ungläubig mit den Ohren, he?“

„Na – Sie können doch gar nicht wissen, ob sie blond ist! Sie haben doch den Kopf nie –“

„Aber – aber Scheppermännchen!“ unterbrach Müller ihn vorwurfsvoll. „Ich hielt Sie für eingeweiht in die Geheimnisse der weiblichen Körpereigenart! Muß man denn den Kopf –“

Da prustete Gustav Scheppermann los. „Stimmt – stimmt! Nee – den Kopf braucht man überhaupt nicht zu sehen, um zu wissen –.“

„Ja – – weil nämlich das prachtvolle blonde Haar aufgelöst tief über den Rücken herabhing! Langes Haar ist ja eben eine anatomische Besonderheit des Weibes, obwohl es auch Ausnahmen gibt, die ganz kurzes haben. – Kehren wir nun zu dem junonischen Leib zurück. Juno war nämlich eine altrömische Göttin, die verteufelt hübsch gewesen sein soll. Daher ju–no–nisch! –Na – und da ich diesen tadellos gewachsenen Körper von jungfräulicher Fülle und Rundungen mit Hilfe Ihres Riesenguckers fünf Abende bewundern durfte, habe ich mich eben in diese kopflose Juno verliebt! – Dies, Scheppermann, ist auch das Finale, das ich vorhin erwähnte.“

Der alte Zellenwärter hatte eine Miene aufgesetzt wie etwa jener Professor, der ausrechnen wollte, wann die Erde so dicht bevölkert sein würde, daß die Menschen deren Oberfläche dicht gedrängt wie die Pökelheringe bedeckten. –

Bitte: Das hat tatsächlich ein amerikanischer Gelehrter errechnet! Der gute Herr hatte fraglos gerade nichts besseres zu tun.

Also Gustav Scheppermann grübelte, grübelte noch eifriger und fragte dann: „Welche Villa und welches Fenster war’s denn, Herr Müller? Etwa die gelbgestrichene? Oder die weiße? – Und – welches Stockwerk?“

„Das glaub’ ich! Das möchten Sie gern wissen! Nee, mein lieber Scheppermann, das bleibt Staatsgeheimnis. Aber wenn Sie mal von mir eine Verlobungsanzeige bekommen, dann – dann – ist meine Braut ganz bestimmt die bewußte Juno! Wen anders heirate ich nicht!“

„Na – nun haben Sie doch wieder Ihre alte gute Laune,“ sagte Scheppermann froh und sog an seiner Zigarre.

„Übrigens, Herr Müller, – noch eine Frage,“ fuhr er fort. „Sind Ihnen die Zigarren wirklich durch’s Fenster zugeworfen worden? – Ich kann nämlich nicht recht begreifen, wie das möglich sein soll! Ihre Zelle liegt doch im ersten Stock, und das kleine Fenster befindet sich so hoch über dem Erdboden, daß –“

„– ja, daß schon ein ganz raffinierter Kniff dazugehört, Zigarren hier in dieses trauliche Gemach hineinzubefördern, zumal doch noch der Gefängnishof sich vor meinem ‚Balkon‛ sechs Meter breit hinzieht und von einer hohen, glatten Mauer eingeschlossen wird.“

Der Alte nickte. „Ja, ja – ich begreif’s nicht!“

„Ich begriff es zuerst auch nicht. Zumal doch diese regelmäßigen Zigarren-, Zigaretten-, Schokoladen-, Keks-, Obst- und so weiter –spenden beweisen, daß irgend jemand hier in Buxhügel an mir ein geradezu kostspieliges Interesse nimmt, – an mir, dem Zechpreller, dem verdächtigen Individuum, dem angeblichen Grafen, dem Freund des ehrenwerten Ehepaares Scheppermann! – Ja, so muß es sein! Jeden Abend nach Eintritt der Dunkelheit fielen ein oder zwei Päckchen durch das Fenster, vom ersten Abend meiner Strafverbüßung an! Und wenn ich hier nun mindestens drei Pfund zugenommen habe, so ist dies sowohl den Kartoffelpuffern Ihrer lieben Frau als auch den geheimnisvollen anderen Gaben zuzuschreiben.“

Scheppermann grübelte schon wieder. Dann – leuchtete sein biederes Antlitz auf.

„Herr Müller!“ rief er leise. „Wissen Sie – in ganz Buxhügel ist nur ein Mensch zu finden, der den Kopf so voller verdrehter Einfälle und Extratouren hat, daß man’s ihm zutrauen könnte, Ihnen all die guten Eß- und rauchbaren Dinge zugeschmissen zu haben. Nur einer – nee, eine ‚Sie‛ ist’s, ein Fräulein! Und zwar die Tochter vom Kommerzienrat Uhlich, die ‚Buxhügeler Range‛, wie sie hier nur genannt wird. Ich sag’ Ihnen, was das neunzehnjährige Ding hier nicht schon alles berissen hat! – Geradezu dolle Zicken! – Seh’n Sie: als Sie damals vor anderthalb Monaten im Hotel ‚Drei Kronen‛ verhaftet wurden, als Sie dann über Ihre Person zunächst jede Auskunft verweigerten und nur zugaben, nicht Graf Maximilian Viktor von Moßberg zu heißen, als Sie schließlich erklärten, Sie seien der Kellner Franz Müller, trotzdem aber über Ihren Geburtsort usw. sich ausschwiegen, – als weiter der Herr Amtsgerichtsrat Dünnschliß überall erzählte, Sie seien alles in allem ein patenter und ein reizender Kerl, ein Weltmann und fraglos kein gewöhnlicher Kellner, als man in Ihnen einen ganz besonders ‚schweren Jungen‛ vermutete, Photograph Kleister Sie typen[1] mußte und Ihre Bilder an die größten Polizeipräsidien verschickt wurden, – als Siegfried Kleister heimlich seinen Kundinnen diese Bilder zeigte, auf denen Sie doch mit’s Monokel ins Auge abporträtiert sind, da – da soll die Gerti Uhlich, die Buxhügeler Range, im Manufakturwarengeschäft von Gebrüder Rubiner gesagt haben: ‚Der schöne Halunke schaut aus wie ‛n Romanheld!‛ Und damit waren Sie gemeint, Herr Müller. – Und da hat sich in der Stadt eine Spaltung vollzogen, wie man’s so nennt, indem daß nämlich viele der Gerti, die übrigen demnächst sich verloben muß, recht gaben, andere wieder meinten, der ‚Halunke habe nur was vom ganz abgefeimten Halunken an sich‛ –! Worauf die Gerti wieder eine von ihren Extratouren beriß und in unserem ‚General Anzeiger‛ ein Gedicht einsetzte, worin sie der Gegenpartei ordentlich eins auswischte und wofür ihre Mutter ihr dann eben schnell den zukünftigen Bräutigam verschrieb, damit sie endlich auf andere Gedanken käme. – Ich hab’ von alledem bisher geschwiegen. Wenn – Halunke ist doch eine Beleidigung, und auch ein schöner Halunke bleibt immer ein Halunke. – Aber jetzt sollen Sie alles wissen. Viel mehr: Sie wissen’s schon! Nur eins noch nicht: Die weiße Villa Ihrem Fenster gegenüber ist die Uhlichsche. Und wenn nur nicht die Gerti dunkles Haar hätte, dann würde ich fast denken, daß sie die – die Juno ist! Aber – die Zigarren-usw. Spenderin, das kann sie schon sein! – So, und jetzt vergelten Sie gleiches mit gleichem und erklären Sie mir, wie die Päckchen Ihnen denn zugereicht worden sind!“

Müller hatte mit größter Aufmerksamkeit zugehört. In Gedanken versunken starrte er vor sich hin. Erst nach einer geraumen Weile erwiderte er:

„Sie wurden mir mit Hilfe einer Strippe offenbar vom Dach aus zugestellt, lieber Scheppermann.“

Der erstarrte förmlich. „Unmöglich!“ meinte er endlich ganz aufgeregt. „Das – das kann nicht stimmen! Vom Dach aus –! Niemals glaube ich das! Sie binden mir da einen Bären auf!“

„Wo werde ich. – Es stimmt wirklich!“

Scheppermann schüttelte den Kopf. „Wer – wer in aller Welt kommt denn aufs Dach des Amtsgerichts ohne mein Wissen, wo ich hier doch auch Pförtner bin! Ich muß doch gleich mal sehen, ob denn die Dachluke noch verschlossen ist! – Auf Wiedersehen, Herr Müller.“

Müller war allein. Scheppermann hatte die eiserne Verbindungstür nach den Bureauräumen dröhnend ins Schloß fallen lassen. Mithin brauchte Müller eine Überraschung nicht zu fürchten.

So nahm er denn aus dem Strohsack seines Bettes den großen Briefumschlag heraus, der der gestrigen Absendung beigefügt gewesen war und in dem außer fünfhundert Mark in fünf Hundertmarkscheinen ein Zettel gelegen hatte.

Diesem Zettel betrachtete Müller jetzt sehr lange und studierte die Anschrift, die offenbar verstellt war.

Die Aufschrift des Zettels lautete:

Gute Freunde wollen Ihnen helfen! Bleiben Sie in Buxhügel und treten Sie im Kurhotel als Kellner ein. Man wird Sie dort fraglos einstellen, denn Sie sind für Buxhügel eine Attraktion!

Müller dachte: ‚Ob etwa Gerti Uhlich die Absenderin ist? – Nun – ich werde Sie ja wohl kennen lernen. – Doch wichtiger ist mir meine Juno! Auch sie werde ich zu finden wissen.‛

Und er schaute ernst vor sich hin, so ernst, wie Scheppermann ihn nie gesehen hatte; er seufzte auch wiederholt; seine Gedanken mußten Vergangenheitspfade wandern, die dunkel und schicksalschwer waren.

Dann strich Müller sich mit energischer Geste über die Stirn, murmelte:

„Ein dummer Streich! – Jetzt muß ich diese Suppe auch auslöffeln!“

 

 

2. Kapitel

Die Range.

Herr Friedrich Uhlich war der Krösus von Buxhügel, zugleich auch der bestgezähmte Ehemann der Stadt, obwohl es dort unter den vierhundertfünfundachtzig verheirateten Männer noch ein paar Dutzend ‚Hausherren‛ gab, die diese Bezeichnung wahrlich nicht verdienten – eher Haussklaven oder dergleichen.

Ja – Friedrich Uhlich war sogar ein so vollständiger Pantoffelheld, daß er diesen ‚Geruch eines nassen Waschlappens‛ ohne Widerrede ertrug und die Witzeleien seiner Bekannten mit erstaunenswerter Geduld hinnahm. Er machte nicht einmal den Versuch, sich wenigstens vor anderen als Mann aufzuspielen. Es schien ihm zu genügen, daß er stets nach neuester Mode gekleidet ging, daß er für seine zweiundfünfzig Jahre wie ein vierziger aussah und daß seine Gebieterin Helene, geborene von Holbein-Knittritz, ihm nicht auch das Rauchen verbot.

Vielen in dem als Moorbad leidlich berühmten Städtchen waren sowohl Friedrich Uhlich als auch die ‚fromme Helene‛, die ganze Ehe und ebenso deren Liebespfand Gerti ein reines Rätselbuch. Der Rest der Bevölkerung, der all das übersah, was es bei Uhlichs Merkwürdiges zu beobachten gab, war eben zu stumpfsinnig, sich um derlei Dinge zu kümmern.

Uhlichs Villa hieß ‚Waldfrieden‛. Spötter nannten sie ‚Bald Frieden‛ und hofften in des liebenswürdigen und zugänglichen Kommerzienrats Interesse auf einen sanften Tod der Gnädigen, damit der gepeinigter Ehemann bald Frieden und Ruhe hätte.

Helenens Ahnen sollten in den Kreuzzügen hunderte von Ungläubigen abgeschlachtet haben. Diese christliche Betätigungswut hatte sich – natürlich in gemilderter Form – auf die geborene Hohlbein-Knittritz weitervererbt, die der damalige Fabrikbesitzer Uhlich nur geheiratet hatte, weil er für sein elegantes Junggesellenheim eine vornehme Repräsentantin zu haben wünschte. Nie hätte er vermutet, daß die arme, zahme, züchtige, magere und in Feinheit völlig erstarrte Helene als seine Frau sich in kurzem in ein Wesen verwandeln würde, das weder Widerspruch noch auch den allergeringsten Seitensprung duldete, das ferner bei aller Frömmigkeit einen stetig sich steigernden Heißhunger nach Liebe verspürte und gleichzeitig von einem geradezu krankhaften Eifersuchtskoller besessen war. Diese Eifersucht wurde umso reger, je mehr Herr Friedrich in den stürmischen Beweisen seiner Gattenliebe nachließ und schließlich sogar derart passiven Widerstand allen Annäherungsversuchen gegenüber leistete, daß Frau Helene notwendig immer argwöhnischer werden mußte und häßliche Szenen wegen lächerlicher Eifersüchteleien bald an der Tagesordnung waren. –

Uhlich schwieg hierbei zumeist und – lachte sich ins Fäustchen, lachte über die spottenden Buxhügeler Spießer und – sündigte in voller Sicherheit. Er war eben schlauer als die fromme Helene, trotz all ihren Überwachungsmaßregeln und hatte dabei sein Liebesnest ganz in der Nähe! Na – Helene hätte das ahnen sollen! Aber – darauf kam niemand. Das hätte nicht mal ein Detektiv aufgedeckt! –

Und dann Gerti Uhlich! Das war ein Kapitel für sich. Nein – schon mehr ein dreibändige Roman mit dem Titel: ‚Das verwöhnte Kind, oder der Schrecken von Buxhügel – oder die Fehlgeburt‛.

Letztere Bezeichnung rührte von dem geistreichsten Manne Bordstuhles her, dem Schweinekastrator Wimmerburg. Dieser Mann mit dem historisch berühmten Vornamen Achilles war ein durch Alkohol und Weiber um die Ecke gegangener Student der Tierheilkunde, der als Hauptberuf jetzt das Verwandeln von männlichen Schweinen in Schweine-Eunuchen mit unfehlbarer Sicherheit besorgte, im Nebenberuf aber Rechtskonsulent und Gelegenheitsdichter war. Er spielte in dem Kurort eine führende Rolle, da er Vorsitzender des Athleten-Vereins ‚Bizeps‛ war, vor dessen kraftstrotzenden Mitgliedern das ganze Bügertum eine Mordsangst hatte. –

Wenn Achilles Wimmerburg Gerti Uhlich als ‚Fehlgeburt‛ dichterisch hingestellt hatte, so konnte sich dies natürlich nur auf ihre inneren Eigenschaften beziehen. Äußerlich war Gerti sogar ein Meisterwerk der Natur, fast zu hübsch für ihre Launenhaftigkeit, Unberechenbarkeit und ihren Eigensinn.

Mochte die fromme Helene auch sonst ein weiblicher Wüterich sein: ihrem einzigen Kind gegenüber war sie wie Wachs, fand alles an ihr nur originell und harmlos.

Friedrich Uhlich hatte es seit einem Jahr aufgegeben, seine Tochter noch irgendwie erziehen zu wollen. Und dieser Verzicht hatte einen sehr triftigen Grund.

Dieser Grund war eine etwas merkwürdige Erkrankung Gertis, die sich nach einer Reise zu Verwandten in Königsberg bemerkbar gemacht hatte. Gerti war damals allein ohne Aufsicht gereist. Und drei Monate nach ihrer Heimkehr war sie immer bleicher geworden, hatte stets tiefe Schatten unter den Augen und eine fast krankhafte Furcht vor dem Hausarzt, dem Sanitätsrat Krüger. Dafür schloß sie sich sehr eng an die alte Köchin Henriette an, die in ihrer Jugend der Liebe mit dreifachem Erfolg gehuldigt hatte. Diese Kinder waren nun längst erwachsen und hatten das Odium der Unehelichkeit auch längst verschmerzt. Henriette wußte daher mit vielem Bescheid, was nicht gerade zur Köchinnenkunst gehört.

Zwei Mal hatte Uhlich sie überrascht, wie sie Tränke aus allerlei Wurzeln und Blättern braute. Und ebenso hatte er durch Zufall festgestellt, daß diese Zaubermittel für Gerti bestimmt waren, die sehr, sehr oft an Übelkeit litt, die keine fetten Speisen mehr sehen mochte und mit Vorliebe Essigwasser trank. –

Als Gerti dann plötzlich sich für acht Tage ins Bett legte, sich nur von Henriette pflegen ließ und diese während Gertis Betttruhe auffallenderweise verschiedentlich von der in etwas fragwürdigem Ruf stehenden Hebamme Frau Abrot besucht wurde, als Gerti nachher wieder alles aß und sich schnell erholte, da – da hatte Herr Uhlich sich eben das Richtige zusammengereimt:

Gerti hatte auf der Reise ein Erlebnis gehabt, – ein Erlebnis mit einem langsam sich vergrößernden Nacherlebnis! Na – und da war eben die verschwiegene Henriette Retterin in der Not geworden. Und – die ganze Sache hatte Gerti einige hundert Mark von ihrem Sparbuch gekostet, denn auch dahinter war der Kommerzienrat gekommen. –

Wenn Frau Helene nun immer wieder Gertis Harmlosigkeit betonte, dann – dachte er sich sein Teil und sagte nur:

„Hoffentlich kommt nicht mal der große Kladderadatsch!“ –

Und – der kam wirklich! –

An demselben Vormittag, den wir schon zum Teil in Zelle Nr. 5 verlebt haben, hatte die überschlanke Kommerzienrätin wieder einmal die Anzüge ihres Gatten nacheinander einer sehr genauen Musterung unterzogen, um festzustellen, ob sich darauf vielleicht irgendwo ein belastendes Frauenhaar oder in den Taschen etwas befände, das Grund zu irgendeinem Verdacht geben könnte.

Mit einer wahren Engelsgeduld erledigte die fromme Helene diese mühselige Arbeit, kehrte die Taschen um, befühlte überall das Futter, krempelte Ärmel und Beinkleider nach innen und unterließ nichts, was irgend zu einem Erfolg führen konnte.

Nun hing da nur noch ein einziger Anzug ganz hinten in dem Riesenschrank, – Uhlichs sogenannte Gartenarbeitskluft, die ihm schon etwas eng war.

Schon wollte die geborene ‚von‛ diesen Anzug als unverdächtig unbeachtet lassen, als eine innere Stimme ihr gleichsam zuraunte:

‚Tue nichts halb!‛

Also holte sie auch die Arbeitslust hervor. Und – ihre spitze Nase wurde noch spitzer, ihre Augen weiteten sich, ihr Gesicht wurde käsig vor Entsetzen:

An dem einen Hosenknopf, einem der hinteren, für die Hosenträger bestimmten, hing ein Stückchen – Spitze!

Ja – es war eine feine, hübsche Spitze, wie man sie für den Besatz besonderer Damenbeinkleider verwendet! Oder auch für Damenhemden!

Der geborenen ‚Von‛ wankte plötzlich der Boden unter den Füßen.

Wie – wie kam dieses Stückchen Spitze, das sich hinter den Knopf festgehakt hatte, in so enge Gemeinschaft mit Friedrichs Hosen?! Wie nur?! Gerade mit den Hosen! Da gab’s doch nur eine einzige einleuchtende Erklärung: daß dieser scheinheilige Betrüger mit der Besitzerin dieses Spitzendeckchens –! – Himmel – das war ja gar nicht auszudenken!

Sie mußte sich setzen. Und nun stierte sie auf das Korpus delicti mit Blicken, als schaue sie in eine verruchte Lasterhöhle hinein.

Dann – suchte sie mit zitternden Fingern weiter. Nun krempelte sie die Beine um, – das heißt, die Beine der Friedrichchen Hosen!

Und da – da –!

Gerade dort, wo der Hosenboden innen sich am stärksten wölbte, – gerade dort steckte im Stoff eine – jener kurzen, dünnen Lockennadeln, wie sie zu Millionen in Gebrauch und dann eben ganz unverfänglich sind! Aber diese Lockennadel hier in einem Herrenbeinkleid –! In einem Herrnbeinkleid mit spitzengeschmückten Knöpfen! Das – das war ein vollgültiger Beweis! Das war ein Ehescheidungsgrund! Das war schon ein stählernes Urteil in einem Scheidungsprozeß!

Die fromme Helene warf die Hosen jetzt mit Abscheu von sich.

Aber – sie hob sie doch wieder auf! –

‚Alle guten Dinge sind drei!‛ blitzte es ihr durch den Kopf. ‚Warum soll dasselbe nicht mit schlechten der Fall sein!‛

Sie machte sich über die Taschen her. In der linken fand sich ein Papierschnitzel, worauf in einer ihr unbekannten Handschrift entsprechen der Dreieckform des Fetzens zu lesen war:

Ihnen helfen! Bleiben

im Kurhotel

Buxhügel

– Die fromme Helene tat nun dasselbe, was etwa zu derselben Stunde Gustav Scheppermann tat: sie grübelte nach! –

Aber die sechs Wörter besagten wenig. Zu wenig für ihre geheimen Wünsche! Und diese Wünsche waren jetzt nicht mehr lediglich auf neues Belastungsmaterial gerichtet. Das vorhandene genügte ja. –

Aber – wenn zum Beispiel dieses Papierstückchen vollständig gewesen wäre, wenn der ganze Zettel, zu dem es gehörte, ihr in unzweideutiger Weise gezeigt hätte, daß ihr Friedrich, dieser nie aus seinen bürgerlichen Anschauungen herausgewachsene frühere Seifenhändler und spätere Besitzer der Seifen- und Waschpulverfabrik ‚Purissima‛ in unerlaubten Beziehungen zu einer Person weiblichen Geschlechts stand, dann – dann hätte sie eben zu allem anderen noch ein weiteres Mittel besessen, ihren lächerlich vorurteilsvollen Gatten zu zwingen, dieses von ihr so sehr unterstützte Heiratsprojekt, das ihre Mutter, geborene Freiin von Güldenfels, für Gerti als ‚einzig richtige Partie‛ aufgestellt hatte, in kurzem zu ‚realisieren‛.

Mittags schon traf ja Bogumil Heinrich Oskar von Güldenfels-Preßla hier ein, gegen den Friedrichs schon jetzt, ohne ihn je gesehen zu haben, eine starke Abneigung bekundete, die wohl nur auf seine allgemeine Adelsfeindseligkeit zurückzuführen war.

Nun – all das würde ihm nichts helfen! Sie würde es doch durchsetzen, daß ihr Neffe dritten Grades – diese Verwandtschaft war eine von denen ‚um verschiedene Ecken herum‛, Gerti heiratete, zumal Bogumil Waise war, nur Schulden und nichts Rechtes gelernt hatte. Er nannte sich Landwirt, nachdem man ihm in Ungnade den Abschied erteilt hatte, dieweil seine Begabung selbst für einen Infanterieleutnant nicht ausgereicht hatte.

Sie selbst besann sich nur noch dunkel auf diesen Bogumil als auf einen unglaublich geckenhaften, hageren und blasierten Jüngling. Mama behauptete ja aber in ihren letzten Briefen, er habe sich sehr zum Vorteil verändert und sei mit dem Projekt durchaus einverstanden, wenn ‚man‛ ihm eben nur seine Gläubiger, diese ekle Sippe, vom Hals schaffe. ‚Man‛ war natürlich der zukünftige Schwiegerpapa.

Und Gerti? Wie stellte die sich zu dem Projekt?! –

Ach – gestern abend hatte es dieserhalb zwischen Mutter und Tochter eine Aussprache gegeben, an die Frau Helene nur mit Grauen sich erinnerte, da nunmehr eben ihr Glaube an Gertis Harmlosigkeit stark ins Wanken geraten war.

Da hatte Gerti nämlich erklärt:

„Mama, diesen minderbegabten Bogumil heirate ich nie! Ich heirate überhaupt nicht. Ich bin kein Schäfchen mehr. Mein Mann muß – ein Mann sein! Und was ein Mann ist, weiß ich! Ich würde nur dem mich hingeben, der bereits in meinem Herzen – hm – als Idealfigur besteht. Und bekomme ich den nicht, wozu sehr, sehr wenig Aussicht vorhanden ist, dann verzichte ich darauf, Spielzeug für die Lüste eines ungeliebten Gatten zu sein. Denn Ehe ohne Liebe ist eine Herrschaft brutaler Instinkte ohne jede Seelengemeinschaft. Dafür bin ich zu schade! Dafür habe ich in meiner Erinnerung –“

Kurze Pause.

„Jedenfalls – dies Minuswürstchen von Bogumil kriegt mich nie!“

Da hatte die fromme Helene entsetzt ausgerufen:

„Kind – Minuswürstchen! Was ist denn das wieder für ein –“

„Oh – das ist eine Erfindung des Herrn Eberkürzers Achilles Wimmerburg! Minus heißt weniger, minder. Und was ein Würstchen ist, ist bekannt. Minuswürstchen ist eben ein minderwertiges Würstchen!“

Man denke nicht, daß es solche junge Dame nicht gibt, die in solchem Ton mit ihren Müttern reden und die solche Bonmots bereit haben. Es gibt solche. Sie sind stets ‚einzige‛ Kinder. Und stets sind die Eltern selbst daran schuld, wenn derartige Produkte einer verrückten Erziehung nachher ihren Erzeugern in einer für fremde ganz unverständlichen Weise auf der Nase herumtanzen. –

*

Frau Helene hatte aus den letzten Sätzen Gertis ein Wort geradezu als Ohrfeige empfunden: Eberkürzer! – Sie, die vom Lande war, wußte recht gut, was das bedeutete. Aber – daß Gerti so etwas aussprach, das – das übertraf doch alles, was diese sich bis dahin an seltsamen Scherzen geleistet hatte.

„Kind!“ stöhnte sie daher auf, „Kind – wer hat dir gegenüber denn diesen – unflätigen Ausdruck in den Mund zu nehmen gewagt?! Eberkürzer! Ich bitte dich, Kind, – das – das –“

„Ja – das stammt auch von Achilles Wimmerburg. Ich weiß zwar nicht, was er damit meint, – es klingt aber so ulkig! Findest du nicht?“ –

Gerti heuchelte nicht. Sie war sich über die Bedeutung von ‚Eberkürzer‛ tatsächlich im unklaren. – Das war gestern abend gewesen. Nach diesem Disput hatte Gerti sich an den Flügel gesetzt und bei offenem Fenstern noch anderthalb Stunden Klavier gehämmert: Walzer, Operettenlider, Chansons, – alles Sachen, die die Mama verabscheute, die der Papa aber desto mehr liebte. Der hatte aber nichts davon gehört, daß er im Gemüsegarten arbeitete, wie allabendlich, – seiner Gesundheit wegen, wobei ihm der taube und stumme Gärtner half, der nun schon fünf Jahre ganz hinten im Park in dem kleinen, netten Gärtnerhäuschen wohnte und der so menschenscheu war, daß der Kommerzienrat, damit der bedauernswerte nicht noch scheuer wurde, streng verboten hatte, den Gemüsegarten zu betreten. –

Die Kommerzienrätin hing nun die Anzüge in den Schrank zurück. Nur die Arbeitskluft legte sie über ihres Mannes Bett.

Dann begab sie sich hinüber auf die Gartenterrasse, wo Gerti jetzt endlich am Kaffeetisch erschienen war. Der Kommerzienrat war längst nach der etwa zehn Minuten entfernten Fabrik gegangen.

Gerti begrüßte die Mama sehr kühl. Sie sah in ihrem hellen, halsfreien Morgenkleid wirklich zum anbeißen aus. Ihr Gesicht vereinte in glücklichster Art die Vorzüge des Bürgertums und des hohen Adels. Es war keineswegs hübsch. Aber außerordentlich pikant. Besonders die dunklen, flimmernden Augen und der etwas sinnliche, volle und blühend roten Mund fielen sofort auf. Dazu kam noch die schmale, ganz leicht gebogene Nase, deren durchsichtig dünne Flügel dauernd zu vibrieren schienen.

Die fromme Helene setzte sich.

„Kind,“ begann sie nach einer Weile, „um elf fahren wir zum Bahnhof und holen Bogumil ab.“

„Ach – der Papa macht sich extra dazu frei – wie nett!“ meinte Gerti harmlos.

„Der Papa?! Nein – wir – wir beide fahren!“

„Bedaure, Mama. Ich muß zu Achilles Wimmerburg. Die Tennisplätze sollen für das Turnier in Ordnung gebracht werden, und ich bin vom Klub beauftragt, die Arbeit zu überwachen, die doch zu Wimmerburgs Stadtratsdezernat gehören.“

„Schrecklich!“ meinte die Kommerzienrätin. „Der Tennisklub hätte auch jemand anders dazu abordnen können. Jedenfalls paßt es mir gar nicht, daß du Wimmerburgs Haus betrittst. – Im übrigen wirst du ihm telephonieren, daß du heute vormittag keine Zeit hast.“

Sie wollte energisch werden, obwohl sie mit derartigen Versuchen schon wiederholt böse hineingefallen war.

Gerti hatte eine besondere Art, die Stirn kraus zu ziehen. Selbst das Näschen lag dann in Falten. – Sie tat’s auch jetzt. Und Frau Helene sah den Sturm schon kommen. Aber – die Anzeichen dafür schwanden wieder. Die Stirn glättete sich.

„Gut – ich telephoniere sofort, Mama,“ sagte sie, schob die Kaffeetasse beiseite und erhob sich. „Nachher geh ich in den Park. Anna meinte, Martin müsse krank sein. Er hat wieder so viel geweint. Ich will mal nachschaun, wie es ihm geht. Zu mir ist er ja ganz zutraulich. Papa braucht ja nicht zu erfahren, daß ich den Gemüsegarten betreten habe.“

Fünf Minuten später stand Gerti dicht an die Hauswand des Gartenhäuschens gedrückt mit rotem Kopf neben einem halboffenen Fenster und lauschte – lauschte! –

Ja – war das nicht des Papas Stimme?

War das nicht so, als ob zwei sich küßten! Und – wie küßten! War das nicht eine von Leidenschaft ganz verträumt klingende Frauenstimme, die da soeben geflüstert hatte:

„Du – du – meine Tränen sind ja nur Tränen der Sehnsucht! Jeden Nacht möchte ich dich hier haben, möchte dir voll sinnlicher Leidenschaft das Glück schenken, das du da drüben entbehrst!“ –

Nein – es konnte nicht der Papa sein! Der war ja in der Fabrik!

Ah – nun da drinnen ein jauchzender Laut. Und wieder das seltsam aufreizende Organ:

„Du – du – mein Herzblut könnte ich für dich hingeben!“

Noch mehr hörte Gerti. Und – vor ihr entstand ein Bild, – nein, eine Reihe von Bildern – Nachtszenen mit der Musik rollender Eisenbahnräder als Begleitung. – Plötzlich ahnte Gerti, was das Gärtnerhäuschen da verbarg. Und sie dachte unwillkürlich, während Siedehitze ihr über den Leib lief:

‚Eine Nacht will ich dein sein, mit allen meinen frischen Sinnen –‛

Dann lief sie davon, floh vor den Geistern heißen Liebesschenkens, die aus dem Fenster des Häuschens herausflatterten.

 

 

3. Kapitel

Der Freier.

Neben der weißen Villa ‚Bald Frieden‛ lag das Pensionat ‚Quisisana‛ zu deutsch ‚Hier genest man‛. Es war gelb gestrichen und gehörte der verwitweten Frau Rechtsanwalt Gerstel, die das Haus aber nur gepachtet hatte und seit drei Jahren jetzt einen geradezu verzweifelten Kampf um ihre Existenz führte.

Der Kurbesuch Buxhügels war nämlich mit einem Mal sehr zurückgegangen, woran lediglich der neue Bürgermeister die Schuld trug, der zu jenen genialen Köpfen gehörte, die stets neue, großartige Ideen haben und alles anfangen, aber nichts zu Ende bringen.

Diese dauernden Versuche aus Buxhügel ein Weltbad zu machen, hatten den Stadtsäckel schnell geleert und eine Erhöhung der Kurtaxe, der Bäder- und auch der Pensionspreise zur Folge gehabt. Natürlich war auch die Steuerlasten gewachsen, die die Buxhügeler wieder auf die Badegäste abwälzten und diese noch mehr schröpften als sonst –

Frau Rechtsanwalt Dr. jur. Margarete Gerstel hatte eine zwanzigjährige Tochter namens Hanna, die ihr nach Kräften im Haushalt half und eines von jenen Mädchen war, denen die Vorsehung neben einem lieben, zarten Gesicht auch als noch besseres Geschenk eine unverwüstlich gute Laune und nie ermüdende Arbeitsfreudigkeit mit in die Wiege gelegt hatte. Ohne Hanna wäre das Pensionat ‚Quisisana“ längst bankerott gewesen, und Frau Grete, die so leicht Verzagende unter der Sorgenlast zusammengebrochen.

Daß Uhlichs und Gerstels nur auf Grüßfuß, und auch das nur sehr schwach, miteinander standen, ist bei der Herkunft der Kommerzienrätin selbstverständlich. Leute, die ihr Brot ehrlich verdienten, galten für die fromme Helene nicht für voll, obwohl doch gerade sie hätte sehr nachsichtig sein müssen, denn ihr vor Jahren bereits freiwillig aus diesem Jammerdasein geschiedene Vater hatte ja das Knittritzsche Stammgut derart mit Hypotheken bepflastert gehabt, daß die baufälligen Gebäude dies nicht mehr aushielten und sich dann von dem Hauptgläubiger, Herrn Salomon Schmuhl, stützen ließen, das heißt: das Gut kam unter den Hammer, Familie Knittritz in sehr mißliche Verhältnisse, der weinfrohe Herr Rittergutsbesitzer a.D. ins Grab, die repräsentative Helene unter die Haube und ins Bürgertum und die geborene Freiin Hildegard-Eugenie von Güldenfels zu einer dauernden, recht hochbemessenen Unterstützung von Seiten ihres Schwiegersohnes, des ‚Seifenfritzen‛.

Frau Helene hätte mithin Arbeit und Verdienen eigentlich besser bewerten müssen. Hätte –! Aber sie war fraglos kurz von Gedanken, dachte nicht mehr daran, daß ihr Gatte doch schließlich auch nur seinem Fleiß seine Millionen und sie demselben Fleiß dies behagliche, nein, glänzende Dasein verdankte.

Auch Gerti kannte Gerstels kaum – wollte sie nicht kennen! Sie war ja in vielen ganz die Mutter. Zum Glück nicht in allem! – Der Kommerzienrat dagegen grüßte stets außerordentlich liebenswürdig, obwohl Frau Dr. Gerstel und Tochter sehr formell den Gruß erwiderten.

Auch das hatte seine Gründe. Denn Gerstels waren zwei herzensgute Damen, wenn auch die Frau Rechtsanwalt noch etwas aus jener Zeit stammte, wo Prüderie und Sichzieren bei den Mädchen zum feinen Ton gehörte.

Die blonde Hanna war dafür aber auch ganz ein Kind unserer aufgeklärteren Zeit. Sogar so modern, daß sie Geld zu verdienen suchte, wo sie nur irgend konnte, natürlich aber – in Ehren! Selbstverständlich! –

Die ständigen Kämpfe zwecks Aufbringung des vierteljährlichen Pachtzinses für das Haus hatten sie geradezu erfinderisch gemacht. Insofern glich sie dem Herrn Bürgermeister Theodor Schwung. Nur daß sie stets ausführte, was sie begann, mochte es biegen oder brechen.

Mutter und Tochter saßen in der Küche und putzten Kohlrüben. Es war ein viertel elf vormittags. Da die Saison in Buxhügel erst am 1. Juni begann, hatten Gerstels noch keinerlei Bedienung, sondern besorgten alles allein. Sie hatten erst drei Gäste, zwei Herren mit Gicht und eine Dame mit Ischias.

„Heute kommt er frei,“ meinte die blonde Hanna und schnitt einer dicken Rübe den Krautkopf ab.

„So? – Und nun?!“ sagte die kleine, überzarte Witwe mit einem Achselzucken. „Du denkst doch hoffentlich nicht daran, diese Geschichte fortzusetzen! Es wird ja stets zwecklos bleiben. Wie willst du etwas erreichen, Hannachen, – du? – Er wird Buxhügel verlassen, und dann hast du das Geld für die Anfragen in Wien und für die Korrespondenz mit dem Detektivinstitut ‚Weltauge‛ umsonst geopfert.“

Anna köpfte eine neue Rübe.

„Er wird die Stadt nicht verlassen, Mama!“ erklärte sie mit einem Siegerlächeln. „Er muß mit Wimmerburg irgendwie unter einer Decke stecken. Denn der hat gestern mit Herrn Zacharias, dem Besitzer des Kurhotels, gesprochen und für ihn dort eine Stelle als Kellner, sogar als Oberkellner, besorgt. Zacharias griff natürlich gleich zu. Er hofft auf erhöhte Besuche, wenn er den ‚Geheimnisvollen‛ im Haus hat. Ich habe es durch die Müller, die Waschfrau, und die hat es wieder von Frau Zacharias selbst. – Ach Mama, – wenn es mir doch nur gelingen würde, ihn zu entlarven! Denk’ dir: wenn’s ein Millionendieb wäre, und wenn auf seine Wiederergreifung –“

„Millionendieb?!“ fiel ihr die Mutter ins Wort. „Hannachen – Millionendieb und Zechpreller!“

„Na – oder ein Mörder oder so was ähnliches!“ verteidigte die schlanke, üppige Blondine ihre Hoffnung. „Also – wenn auf seinen Kopf eine Belohnung von fünftausend Mark zum Beispiel ausgesetzt wäre, wenn auch ich –“

Da läutete es an der Haustür. Hanna eilte hinaus und kam mit einem Brief wieder.

„Für mich, Mamachen. – Ah von ‚Weltauge‛! Hör’ zu:

Berlin, den 27. Mai 19..

Geehrtes Fräulein !

Auf Ihr letzte Schreiben von 21. d. M – folgendes. –

Es dürfte sich bei dem jetzt dort seine Gefängnisstrafe verbüßenden, angeblichen Franz Müller fraglos um einen internationalen, vom Ausland aus gesuchten Hochstapler handeln. Immerhin erscheint uns der Fall wichtig genug, um einen unserer besten Detektive dorthin zu senden, der sich mit Ihnen alsbald persönlich in Verbindung setzen wird. Selbstverständlich würden Sie von einer vielleicht zu erzielenden Belohnung zwei Drittel nach Ihrem Vorschlag erhalten. –

Hochachtungsvoll

p.p. Felix von Förstbeck

Hanna sprang auf, schwenkte den Brief. „Hurra, Mamachen, – ein leibhaftiger Detektiv kommt! Nun siege ich bestimmt!“

Und wieder klingelte es draußen.

Diesmal war’s das Stubenmädchen von nebenan, von Kommerzienrats, mit einem Brief der geborenen ‚Von‛.

Darin stand, daß Frau Helene für einen Verwandten für vierzehn Tage ein Vorderzimmer bestelle, ohne Pension, und zwar würde der betreffende Herr, Bogumil von Güldenfels-Preßla, heute mittag bereits einziehen.

„Das ist fraglos der Tierbändiger für Gerti,“ meinte Hanna. „Ganz Buxhügel ist ja schon voll davon, daß die fromme Helene ihren Ableger schleunigst unter ehemännliche Kuratel stellen will. – Armer Bogumil! Du bist sicher bis über die Ohren in Wechseln und Rechnungen, an deinen Frackschösen hängen sicher ein paar Dutzend Blutsauger alias Gläubiger, und daher wirst du blindlings in dein Verderben rennen! Na – ich würde die Gerti, wäre ich ein Mann, um keinen Preis zur Gefährtin endloser Tage und Nächte wählen und –“

„Hanna!“ rief die Frau Rechtsanwalt. „Hanna – wozu nur immer diese Zweideutigkeiten!“

„Aber, Mamachen, ich bitte dich, was ist denn Zweideutiges an einer Ehe?! Oder – gehören zu einer Ehe keine Nächte!“

Sie lachte harmlos-vergnügt.

„Mamachen – man muß nicht zu zimperlich sein, aber auch nicht frivol. Das bin ich nicht. Ich nenne nur alles mit dem rechten Namen! – Übrigens: der Kommerzienrat ist doch weit mehr zu entschuldigen als wir bisher dachten. Gestern abend hatte ich Glück. Ich habe die beiden belauscht. Sie saßen im Gemüsegarten hinter der Hecke.

Mama – das war das reine Detektivmeisterstück, wie ich mich an sie heranschlich! Ja – stell’ dir vor: Sie ist eine alte Liebe von ihm, seine Jugendliebe, die erst einen anderen heiraten mußte, dann Witwe wurde und nun – , – na eben: ‚Der Zug des Herzens ist des Schicksals Stimme!‛ – Die beiden lieben sich noch immer! Das macht vieles verständlich!“

„Ja – dann –!“ nickte die kleine, sorgenbelastete Frau. „Dann werde ich ihm jetzt auch freundlicher danken, obgleich mir stets ein Rätsel bleiben wird, wie ein Weib trotz noch so tiefer Zuneigung etwas derartiges wagen kann wie diese – diese Marianne.“

„Hm, – Mamachen, für mich ist das kein so großes Rätsel. Es gehört nur – ein sehr heißes Herz dazu.

Und so eins hab’ ich!“

„Aber Hanna!“

„Ist das denn ein Unglück, Mamachen?! Nein, ein Glück ist’s! Denk’ nur, wie viele Ehen gehen nur deshalb in die Brüche, weil die junge Frau zwar ihre schöne Keuschheit, ihre noch schönere Aussteuer und ihren vielleicht schönen, frisch gebadeten Leib mit in die Ehe bringt –“

„Hanna – Hanna!“

„– bringt, nur nicht die Hauptsache: Nämlich das natürliche Verlangen nach ehelicher Liebe, das in uns modernen Weibern leider eine lächerliche Überkultur mit all ihren zum Teil verderblichen Folgeerscheinungen langsam erstickt hat, – wenigstens gut bei der Hälfte! Im alten Griechenland und dem alten Rom klagte niemand über ‚Geschlechtslosigkeit‛ der Frauen! Erst unsere fortgeschrittene Kultur ist auch in dieser Beziehung eine Lehrerin zur Unnatur geworden.“

„Kind – du redest wie ein Buch!“ tadelte Frau Gerstel. „Mit zwanzig Jahren wußte ich kaum, daß die Kinder –“

Wieder lachte Hanna vergnügt auf. „Das kenne ich schon auswendig, Mamachen: daß die Kinder nicht dem Storch ihr Leben verdanken! – Mamachen – wie sollte ich wohl dir so zur Hand gehen können, wie sollte ich wohl mit all unseren unverheirateten Pensionären so zwanglos und sicher verkehren, unter denen doch im Vorjahr manch ein übler Schürzenjäger war, wenn ich nicht das Leben, die Menschen so gut kennen würde – und auch die Liebe – diese vom Hörensagen! Ich, Mamachen, werde nie aus Dummheit einen sogenannten Fehltritt begehen. Nie! Wenn ich mal liebe, dann – liebe ich eben!“

„Himmel – was heißt denn das wieder? Hannachen?“

„Oh – das heißt man: Temperament!“ –

*

Der Bahnhofsvorsteher dienerte tief, als die beiden Uhlichschen Damen den Bahnsteig betraten.

Gerti hatte einen in Seidenpapier dicht eingehüllten Gegenstand von Kohlkopfgröße in der Hand. –

„Es sind Blumen aus unserem Garten,“ hatte sie der Mama erklärt. Und die Mama war selig. Gerti schien nun ja anderen Sinnes geworden zu sein.

Der Zug lief ein. Aus einem Abteil 2ter flog ein Koffer heraus, dem das Fliegen nichts mehr schadete. Es war kein eleganter Koffer.

Ihm folgte ein Herr.

Und – was für ein Herr! –

Die Buxhügeler waren ja als Bewohner eines Kurortes, in dem sehr, sehr viele Männer Heilung für böse Leiden suchten, in dem sie geduldig stundenlang in braunschwarzem Moor saßen und dabei all ihre Sünden abbüßen, an moderne Toiletten gewöhnt. Aber dieser Herr da – ja, da riß der Bahnvorsteher den Mund so weit auf vor Staunen, daß ihm der Priem alias Kautabak – denn er hatte bei der Marine gedient – aus der Backe rutschte und nur durch schleunigstes Zuklappen der gleichmäßig braunen Zähne wieder eingefangen werden konnte.

Der Herr trug einen hellen, karierten Jackenanzug, dessen Jacke entschieden ausgewaschen aussah. Aber das war ja gerade der Schick. Und die Hosen waren kurz und umgekrempelt und ließen handbreit die grünseidenen Strümpfe sehen, zu deren Couleur die ockergelben Halbschuhe mit schwarzen Schleifen geradezu sinnverwirrend wirkten. Der weiße Stehkragen fand erst unter den Ohren etwa ein Ende, und die hell-lila Krawatte glich einem Tau, so schickeng war sie gezogen, – natürlich Selbstbinder. Das ebenfalls karierte Oberhemd und die kobaltblaue Weste mit weißen Knöpfen, ebenso der winzige Strohhut – Fassong ‚dummer August‛ – das Riesenmonokel, der blonde Bürstenschnurrbart und das offenbar gepuderte, zartrosa Gesicht erhöhten diese Gesamtwirkung um ein beträchtliches.

Und das war nun Bogumil von Güldensee-Preßla!

Frau Helene fiel beinahe in Ohnmacht, als dieses karierte Untier von Mann auf sie zugetänzelt kam, dann die Arme weit ausbreitete und flötete:

„Meine teuerste Tante!“

Na – sie nahm sich zusammen, heuchelte die Erfreute, ließ die Umarmung über sich ergehen, wobei ihr beinahe vor Patschuligestank schlecht wurde, der der Männerbrust Bogumilchens entströmte, stellte Gerti diesen entsetzlichen Fatzke mit säuerlichem Lächeln vor und –

Dann kam’s!

Gerti riß das Papier von dem Kohlkopf.

Und – siehe da, der Kohlkopf war ein Bastkörbchen, gefüllt mit Disteln. Obenauf lag aber noch ein – Wiener Würstchen auf einem Papier, das hie und dort dicke Mostrichkleckse aufwies und daher – sehr wenig appetitlich ausschaute.

„Bitte, Vetter, – ich heiße Sie willkommen,“ sagte Gerti und reichte dem wandelnden Patschulifaß das Körbchen.

Und – die Zuschauer ringsum auf dem Bahnsteig brüllten – brüllten förmlich, bogen sich vor Lachen, wieherten, meckerten –!

Das war wieder mal ganz die Buxhügler Range wie sie leibte und lebte!

Die fromme Helene betete: „Erde tu’ dich auf und verschlucke mich! Ich bin ja blamiert durch diese Szene bis auf meine adligen Kreuzritterknochen!“

Aber die Erde dachte gar nicht daran, sich durch diese Knochen den Magen zu verderben.

Und so mußte Frau geborene ‚von‛ denn den Martergang bis zum Auto in Gesellschaft des das Körbchen tragenden Patentgecken antreten, der die sinnige Gabe Gertis mit tadelloser Verbeugung, blödem Grinsen und den Worten „Meinen tiefgefühltesten Dank!“ entgegengenommen hatte.

Im Auto saß der schöne Mann den Damen gegenüber und redete in einem fort. Er litt offenbar an der ‚Schlabbersucht‛, wie Gerti derartige Phrasendrescherei nannte.

Dann war man in Villa ‚Bald Frieden‛ angelangt.

Herr Uhlich erwartete den Zukünftigen seiner Tochter in der Vorhalle. Er gab nicht nur viel auf ein elegantes Äußeres, er gab sich auch modern. Aber – als er Bogumil erblickte, kriegte er doch einen Schreck und dachte:

‚Das – das ist ja ein wandelndes öffentliches Ärgernis!‛

Na – bei ihm aber ging der Schreck sofort in Schadenfreude über. Das verlegene Gesicht seiner teuren Helene bewies ihm, wie entsetzt diese war über diesen Neffen ‚um verschiedene Ecken!‛

Und das Entsetzen gönnte er ihr.

Mehr noch tat er: Er begrüßte diese Karikatur von Freier mit herzgewinnender Liebenswürdigkeit, er bot ihm sofort das ‚du‛ an, erklärte, auch Gerti müsse den lieben Bogu duzen und ließ dann bei Tisch Sekt auffahren, so viel Sekt, daß Bogu sich mordsmäßig bes… besäuselte und Gerti unanständig lustig wurde.

Nur die fromme Helene war und wurde weder unanständig noch lustig. Sie blieb säuerlicher Eisblock. Und als sie Gerti schließlich auf ihr Zimmer geschickt und den feschen Bogu hinüber nach ‚Hier genest man‛ spediert hatte, wobei Bogu beinahe die Treppe hinabgefallen wäre, da – da kam der Nachttisch für den armen, millionenschweren ‚Seifenfritzen‛. Da begann die geborene ‚von‛ mit jener Stimme, die etwa dem hellen lieblichen Tönen einer rostigen Türangel glich:

„Friedrich – manches Taktlose habe ich von dir in unserer Ehe wortlos hingenommen! So besonders deine Sparsamkeit, mit der du meine Mutter mit lediglich sechshundert Mark monatlich zu einer kümmerlichen Existenz verurteilst. Auch dies muß mal gesagt sein! – Aber heute – heute dieses geradezu – plebejische Benehmen, Bogumil betrunken zu machen, das – setzt allem die Krone auf, – vielmehr, das – das – das –“

„– geht über die Hutschnur!“ half er ihr, da sie umsonst nach dem passenden Ausdruck suchte.

Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

„Schweig!“ schrillte ihre Stimme wie eine Alarmpfeife. „Schweig! Du bist durchschaut! Du wolltest Bogumil von vornherein vor Gerti unmöglich machen. Deshalb das Sektgelage! – Aber – hoffe nicht, daß das Heiratsprojekt von mir etwa fallen gelassen worden ist, weil Bogumil sich etwas auffällig kleidet! Nein – ich werde ihn umziehen – das heißt, er muß sich wie ein vernünftiger Mensch anziehen! – Dann aber, Friedrich, – das Schlimmste: In deinen Hosen steckt eine –“

– Kunstpause. Sie wollte die niederschmetternde Wirkung erhöhen.

Und er? Friedrich Uhlich? Der fast wie ein Fünfunddreißigjähriger aussehende? Er, neben dem die fromme Helene wie ein mit Seide dekorierte Vogelscheuche im Großmutteralter wirkte – er – konnte nicht anders!

Er lächelte! Und er war brennend neugierig, was denn in seinen Hosen steckte!

„– steckt eine Lockennadel. Du – du Betrüger! Und an deinem Hosenknopf – ein Stückchen Spitze – Damenhosenspitze wahrscheinlich!“

Und er?

Er machte jetzt: Rumpf vorwärts beugt!

Und er beschaute seine Hosen, auch die Knöpfe, soweit sie zu sehen waren, richtete sich wieder auf.

„Ich finde nichts, Helene!“ meinte er bescheiden.

Da kam das Blut der Hunderte von Muselmanen abgemurkst habenden Ahnen bei Frau Helene zum Durchbruch.

Ein kreischender Wutschrei! Dann – flog sie auf ihn zu, stand dicht vor ihm.

„Du – du wagst noch, mich zu verhöhnen, wo ich deine Hosen selbst in der Hand gehabt habe und darin das fand, was nie hinein gehört! Du – du – du –“

Und – sie holte aus; sie wollte – zuschlagen, sie glich sich selbst kaum mehr.

Aber Friedrich Uhlich hatte schon ihr Handgelenk gepackt –

Und – er lächelte wieder, sagte mit unnatürliche Ruhe:

„Genug, Helene! Zwanzig Jahre meines Lebens hast du mir gestohlen, vergiftet. – Nein, doch nur fünfzehn sind’s! Bisher war ich still zu allem – des lieben Friedens wegen. Jetzt –“

Aber sie fühlte sich stärker denn je, die geborene von Holbein-Knittritz.

„Komm!“ rief sie. „Komm!“

Und sie zerrte ihn im Schlafzimmer, nahm die Beweisrose vom Bett, wies auf das Innerste des großen Bodens, wo die Lockennadel steckte, wies auf das Stückchen Spitze am hinteren – Knopf, hielt dem Gemahl auch den dreieckigen Papierfetzen vor die Augen –!

Und er – besah sich das alles gelassen; schüttelte verwundert den Kopf. Und als sie nun in Fisteltönen hervorschnob:

„Betrüger – ich kann mich jetzt scheiden lassen!“ –

Da nickte er nur:

„Ach ja – tu’ doch! – Jedenfalls gebe ich dir aber mein Ehrenwort, daß ich an dieser Lockennadel, dieser Hosenspitze und dem Fetzen unschuldig bin!“

Darauf wandte er sich ab und schritt hinaus.

Helene blieb zurück, – wutbebend, enttäuscht! Sie hatte gehofft, er würde angesichts dieser mit so belastenden Beweisen behafteten Hose geradezu in die Knie sinken vor Schuldbewußtsein. –

Dafür sank sie nun auf den nächsten Stuhl, faltete die Hände und flehte: „Schicksal, hilft du mir, ihn zu überführen! Er ist zu abgebrüht, um durch seine Hose außer Fassung zu geraten.“

 

 

4. Kapitel

Kleine Enthüllungen.

Seltsam! Der karierte Bogu war sofort total nüchtern geworden, als er ‚Hier genest man‛ betrat und nun Frau Gerstel und Hanna begrüßte.

Auch diese hatten sich bei seinem Anblick das Lachen kaum verbeißen können. Und er – lachte fidel mit.

„Wir können hier hoffentlich nicht belauscht werden, meine Damen,“ flüsterte er nun und seine Visage war zum durchaus annehmbaren Gesicht geworden. „Setzen wir uns. Ich weiß, ich sehe in dieser Kluft wie ein Affe aus. Aber – ich spiele hier ja eine bestimmte Rolle. In mir wird niemand den Detektiv vermuten. Ich bin nämlich vom – ‚Weltauge‛! – Gelt, gnädiges Fräulein, das ist eine Überraschung für Sie! Hier ist mein Ausweis. Bitte lesen Sie ihn nur durch. Mein Chef, Herr von Förstbeck, hat ihn unterschrieben. Er ist auch mal als Offizier um die bewußte Ecke gegangen, und da hat er sich vor einem Jahr heimlich meiner angenommen. Keine Seele ahnt, daß ich Privatdetektiv bin und daß ich endlich mein wahres Talent entdeckt habe! Zum Leutnant war ich scheinbar zu dämlich. Vielleicht war auch das ewige: ‚Zu Befehl! – Stillgestanden! Augen gerade – aus! Rührt euch! – usw.‛ zu stumpfsinnig. Als Detektiv leiste ich was, sagt mein Chef. – Und da meine Pflegemama, die Mutter der Frau Kommerzienrat Uhlich, mich doch nun hierher auf die Brautschau schicken wollte, so vereinten wir das Angenehme mit dem Nützlichen, – das heißt, ich weile jetzt hier in doppelter Mission: Erstens in Sachen Franz Müller mit dem Fragezeichen und zweitens in Sachen Gerti Uhlich, bei der ich übrigens bereits einen Bombenerfolg gehabt habe – ganz wie ich wünschte – und sogar noch mehr! Mein Äußeres hat Gerti geradezu hingerissen; meine Dämlichkeiten hat ihr Herz gerührt; und meine Besäuseltheit hat ihr imponiert! Schon auf dem Bahnhof überreichte sie mir sogar ein reizendes Geschenk: Distelkörbchen mit einer Wiener Wurst in Mostrich-Garnitur obenauf! – Sehr sinnig! – Sie können sich vorstellen, meine Damen, wie kolossal entzückt ich über diesen Korb war! Denn – ganz unter uns! – ich heirate nicht auf Befehl! Ich habe keine Schulden mehr, die mich zwingen, meiner Pflegemama zu gehorchen. – – Ich liebe nur blonde Frauen. Dunkelhaarige wirken auf mich geradezu abkühlend. Gerti wird sich also nach einem anderen Dompteur alias Eheherrn umtun müssen. – Kurz, verehrtes Fräulein Kollegin,“ und er lächelte Hanna gewinnend an, „wir beide werden uns ziemlich ungestört Herrn Franz Müller widmen können.“

Da Frau Gerstel in der Wirtschaft zu tun hatte, blieben Hanna und Bogumil bald allein, unterhielten sich vortrefflich und stiegen dann in Hannas Zimmer hinauf, dessen Fenster als Gegenüber nur die Seitenmauer des Gerichtsgefängnisses mit dem kleinen, vergitterten Fensterchen hatte.

Hanna deutete dorthin und meinte: „Hinter dem fünften Fenster von links sitzt ein Mann! Zu Gesicht habe ich ihn nie bekommen. Die Gucklöcher liegen ja so, daß die Häftlinge nicht mal mit den Händen das Gitter berühren können. – Ich bin sehr froh, daß wir so ohne jedes Visavis sind. Ich treibe abends gern noch bei offenen Fenstern Zimmergymnastik, und da sperre ich die frische Luft nicht gern durch Vorhänge ab.“

Bogumil fand diese natürliche, zwanglose, kluge Hanna geradezu berückend. Donner, – Augen hatte die, und einen Mund. Das war Rasse, das war Temperament.

Hanna aber dachte: ‚Welch ein interessanter Mensch! Welch ein glänzender Schauspieler! Und – was hat er wohl schon alles als Detektiv erlebt!‛

Dann gingen sie in den Garten, tranken in der Laube Kaffee, spielten eine Partie Tennis auf dem im Garten befindlichen Platz, waren heiter und guter Dinge und hofften zuversichtlich, daß Franz Müller ein lohnender Fang werden würde.

Bogumil von Preßla nannte Hanna nur noch ‚Fräulein Detektiv‛. Und Hanna hatte schnell so viel Vertrauen zu ihm gewonnen, daß sie ihm ganz ernst und etwas schwermütig erzählte, mit welchen Sorgen ihre Mutter zu kämpfen hätte und wie sie beide Frauen selbst die gröbsten Arbeiten bis zum eigentlichen Saisonbeginn allein verrichteten. –

„Ich bin also auch Ihr Stubenmädchen, Herr von Preßla,“ meinte sie ein wenig schalkhaft.

Und da nahm er schnell ihre Hand und drückte einen langen Kuß darauf, sagte dann: „Arbeitende Frauenhände verdienen diese Huldigung weit mehr als faulenzende. Aber zumeist küssen Herren nur die zweite Sorte. Es ist eben eine total meschugge Welt, in der wir leben, Fräulein Detektiv. – Nur wir beide sind nicht meschugge.“

Und sie sahen sich an und lachten. Und in Hannas bisher so stillem Herzen war bei diesem Handkuß seltsamerweise eine Tür aufgesprungen, aus der nun tausend kleine Elfen heraushüpften und sich lustig mit jedem Herzschlag weiter und weiter in dem jungfräulichen Leid verteilten. –

Helle Glut brannte auf Hannas Wangen. Und als Preßla wieder ihre Hand an die Lippen führte, als sie ihn aus immer mehr sich verschleiernden Augen wie um Gnade flehend anschaute, da – da grub er seine Zähne urplötzlich in die warme, weiche Haut dieser Hand ein, und da – schluchzte Hanna leise auf.

Und er?! –

Er zog sie sacht an sich, flüsterte: „Mädel, liebes Mädel, – glaubst du an eine Liebe auf den ersten Blick? – Sieh, ich bin kein Tugendpinsel! Aber – wirklich geliebt habe ich noch nie. Und schon vorhin da oben in deinem Zimmer, – da hätte ich dich am liebsten in die Arme genommen, hätte gesagt: ‚Sei mein, – mein für immer, du Reine, du Kluge, du Fleißige!‛“

Er küßte sie auf den Mund, ganz zart. Und in ihren Augen glomm ein seliges Leuchten auf.

„Ich glaube an die Liebe und an dich!“ sagte sie schlicht. –

Und – dann riß sie sich los, lief tiefer in den Garten hinein. Und als er sie endlich eingefangen hatte, war’s gerade mitten in einem dichten Gebüsch, wo auf freien Plätzchen Veilchen blühten und dufteten.

Er zog sie abermals an sich. Und Anna bog den Kopf zurück, flüsterte:

„Wünsch dir etwas, Liebster! Alles ist dir gewährt, alles!“

Und sie glitt in die Knie, tauchte das Gesicht in die kleinen Blauveilchen und – wartete.

Brauchte nicht lange zu warten – schon war er neben ihr.

Meisen zwitscherten in den Büschen; die Veilchen dufteten um ein köstliches Brautlager. –

*

Um sechs Uhr tänzelte derselbe Preßla nebenan bei Uhlichs mit Gerti durch den Park und spielte wieder den Unausstehlichen, bis Gerti ihn angrobste:

„Bogu, du bist ein fader Aff! Ich heirate dich nie. Verstehst du – nie! Ich darf überhaupt nur einen ganz Bestimmten heiraten! Denn – mit einer Lüge geh ich nicht in die Ehe!“

Er verstand, blieb stehen, nahm ihre Hände in die seinen.

„Du, Gerti, – du gefällst mir! Aber – heiraten tu’ ich dich nie! Ich darf nur eine ganz Bestimmte heiraten, eine, deren Kleider jetzt süß nach Veilchen duften, die –“

„Du bist albern!“ schnitt Gerti ihm das weitere ab. „Dort drüben übrigens, das ist unser taubstummer Gärtner. Er ist menschenscheu. Komm’ weiter. Papa hat verboten, ihn auszusprechen. Er muß wohl ‛n kleinen Klapps haben – ich meine, der Taubstumme! Er weint oft. Ich war heute vormittag an seinem Häuschen. Aber er ließ mich nicht ein. –

Ich weiß nicht – der Martin wirkt überhaupt so sonderbar. Er trägt Winter und Sommer diese über den Kopf gezogene wollene Kappe. Und eine sogenannte Hühnerbrust hat er auch.“

Bogumil Preßla äugte scharf nach dem gerade Erdbeeren pflückenden Gärtner hinüber. –

Plötzlich stützte er, fragte nun: „So, also der Onkel Friedrich wünscht nicht, daß man mit diesem Martin sich beschäftigt? – Hm – ich möchte es doch mal tun. Ich kenne die Fingersprache der Taubstummen. – Warte bitte hier.“

Gerti war baff. Der ekelhafte Bogu war ja plötzlich ganz verständig!

Und dieser Bogu blieb ein paar Minuten neben Martin stehen, der nur einmal flüchtig aufgeblickt und sein von einem wirren Bart umrahmtes Gesicht gezeigt hatte.

Dann schloß Preßla sich Gerti wieder an. –

„Er ist wirklich sehr menschenscheu,“ meinte er. „Es hat keinen Zweck, den armen Burschen zu ängstigen.“ –

*

Um dieselbe Zeit verließ Franz Müller das Gefängnis mit seinem kleinen Koffer, in dem bei seiner Verhaftung nur ein Oberhemd, ein Kamm, eine Zahnbürste und ein Stück Seife sich befunden hatten. Diese Dinge waren noch drin. – Er schritt dem Kurhotel zu, das an dem sogenannten Konzertplatz lag. Plötzlich sprach ihn ein kleiner, dicker Herr an, dessen Nase schon von weitem die Vorliebe für Alkohol in jeglicher Form verriet und dessen Kleidung eine große Neigung für geniale Nachlässigkeit zeigte.

„Achilles Wimmerburg, Eberkürzer und Rechtskonsulent, Stadtrat, unbesoldeter Vorsitzender des Athletenklubs ‚Bizeps‛ und Abgesandter eines Herrn, der sich für Sie lebhaft interessiert,“ stellte er sich vor. „Ich habe Ihnen hier aufgelauert. Bitte begleiten Sie mich in mein Junggesellenheim. Nachher bringe ich Sie ins Kurhotel, wo Sie Oberkellner werden können. Oder wollen sie nicht?“

„Natürlich will ich. Nur der Frack fehlt – und so weiter.“

„Wird beschafft. Ihr Gönner bezahlt alles.“

„Hm – ist es nicht eine Gönnerin?“

„Bedaure, Herr Müller. Darüber schweigt des Sängers Höflichkeit und sein Lied! – Gehen wir! Sie sehen ja: die Buxhügler begaffen Sie wie ein Wundertier! Sie sind hier populär geworden.“

„Ja – durch Fräulein Gerti Uhland. Weiß Bescheid, Herr Stadtrat.“

Und dann schritten sie davon.

Müller blieb diese Nacht bei Wimmerburg und lernte so ein Original kennen und schätzen. Am nächsten Vormittag trat er seinen Dienst im Kurhotel an, dessen Besitzer die Bedingung stellte, er müsse mit Monokel Dienst tun. –

Das gewährte Müller mit gnädigstem Lächeln.

Es regnete an diesem Tag wie aus Eimern. Trotzdem hatten sich in den Restaurationsräumen des Kurhauses abends einige Dutzend von der Neugier geplagte Buxhügler und Kurgäste eingefunden.

Oberkellner Müller fragte seinen neuen Freund Wimmerburg, der ebenfalls erschienen war, immer wieder, ob nicht Gerti oder Fräulein Hanna Gerstel – denn inzwischen hatte er schon erfahren, wer in der gelben Villa wohnte! – unter den Gästen sich befände, erhielt aber stets ein ‚Nein!‛ als Antwort.

 

 

5. Kapitel

Der Kladderadatsch.

Um elf Uhr war das Kurhotel wieder leer. Der Herr Oberkellner Franz Müller konnte nun also seinen eigenen nächtlichen Geschäften nachgehen. Zunächst kleidete er sich in seinem Zimmer um. Man hatte ihm einen sehr behaglichen Raum im dritten Stock angewiesen.

Als er gerade im Negligee dastand, tat sich die Tür ein wenig auf und jemand fragte in süß schmachtendem Ton:

„Brauchen Sie noch etwas, Herr Müller?“

Hm – das war die ‚kalte Mamsell‛ des Hotels, eine Walküre mit entsprechender Fülle überall. Müller erkannte die Stimme sofort wieder. Aber – er schwärmte nicht für kalte Mamsells von solcher Massigkeit. Er ahnte: sie brauchte etwas! –

Er wollte es mit ihr jedoch nicht verderben. Daher erwiderte er liebenswürdig: „Ich bin todmüde. Heute brauche ich nichts, Fräulein Hildchen. Gute Nacht. Träumen Sie süß!“ –

„Danke. Ich wird’s besorgen. Auf baldiges Wiedersehen, lieber Herr Müller!“

‚Aha – es geht schon los!‛ dachte der Herr Ober. Ich habe doch stets dasselbe Pech! Die Weiber sind reinewegs toll nach mir!‛

Kaum gedacht – jetzt hatte er schon die Beinkleider an, – tat sich die Tür abermals auf. Und zu ihm hinein schlüpfte die schwarze Anna, das Stubenmädchen aus dem ersten Stock.

Sie waren nur noch sehr notdürftig kostümiert. Diesen Mangel an Garderobe ersetzte sie vollauf durch Keckheit. Sie schwebte bis dicht vor den patenten Ober hin, knixte tief, fragte und ließ ihn zugleich feststellen, daß sie keine Walküre, sondern oben eine formvollendete Venus sei!

„Brauchen Sie etwas, Herr Müller?“ Und der – der Blick noch dazu! Das war mehr als eine offene Offerte!

Müller hatte im Gefängnis bei Vater Scheppermann in einer Beziehung doch gefastet – total gefastet! Das merkte er jetzt. Anna war blitzsauber und appetitlich. Man konnte also immerhin etwas entgegenkommender sein, wenn man auch nicht viel Zeit hatte. –

So nahm er Ännchen denn ohne weiteres in die Arme und küßte sie.

Das war ein Leichtsinn! Ein unglaublicher Leichtsinn nach vierzehn Tagen Fastenzeit! Denn die schwarze Anna verstand zu küssen, schmiegte sich auch in einer Weise an ihn, daß ihm sehr schwül zumute wurde.

Aber – er hatte doch keine Zeit! Er mußte in dieser Nacht unbedingt noch seine schöne ‚Unbekannte‛, die sich jetzt als Hanna Gerstel entpuppt hatte, wiedersehen. –

Aber – das schwarze Ännchen war nicht so leicht loszuwerden. Ihre Lippen waren so köstlich weich; ihr Leid duftete so verführerisch, so zart, so aufreizend. –

Ja – nicht oft hatte er bei Frauen diesen unaussprechlich feinen Duft gespürt. Nur ein einziges Mal bisher! Und – daran erinnerte er sich jetzt – zu seinem Glück! Das lenkte seine Gedanken ab; das gab ihm die Kraft, Ännchen auf morgen zu vertrösten und sie sanft hinauszudrängen.

Eine Erinnerung! Und welch köstlich-romantisch-bacchantische Erinnerung! –

Wie er nun durch die stillen Straßen des Städtchens im Mondschein – der Regen hatte längst aufgehört – dem Amtsgericht zuwanderte, rief er sich mit stillem Entzücken alle Einzelheiten jenes Abenteuers im D–Zug Berlin–Königsberg wieder ins Gedächtnis zurück.

Da war er 1. Klasse, Nichtraucher, allein mit einer verschleierten jungen Dame gewesen – zu zweien die ganze Nacht über; da hatte man erst geplaudert. Und er war bald völlig begeistert von seiner originellen, witzigen, kecken, koboldartigen Reisegefährtin; hatte schließlich die Stoffhalbkugeln über die Lampe herabgezogen, hatte die Tür mit einer Schnur zugebunden, hatte der Verschleierten dann eine feurige Liebeserklärung gemacht.

Und – sie – sie war erst ganz verschüchtert gewesen; wurde bald zugänglicher, wärmer, heißer, – sehr heiß. Er fühlte: diese Lippen waren noch rein!

Und da – hatte er die Unbekannte schonen wollen, hatte sich mit den Lippen begnügt, doch nein – nicht lange!

Aber das war nicht seine Schuld gewesen. Was sie ihm, in seinen Armen ruhend, zart verträumt – und doch wieder wild verlangend – zuflüsterte, mußte er verstehen – mußte er erfüllen! Sonst hätte er sie gedemütigt, beleidigt! –

Ein paar Verse waren’s gewesen, eine Strophe:

Eine Nacht will Dein ich sein

Mit allen meinen frischen Sinnen.

Dann muß ich wieder fremd dir sein,

Dann wird in meinem Herzen klein

Nur die Erinnerung noch zarte Fäden spinnen,

– Eine Nacht! Diese Nacht! Welch eine Nacht! –

Schließlich war er eingeschlafen, ihren Kopf an seiner Brust. Und als er erwachte, war sie verschwunden. Den Zug hatte er abgesucht. Nichts! – Sie mußte wohl in Dirschau ausgestiegen sein. – Er hatte sie nicht vergessen können. Bis heute nicht. Er wußte nicht, wer sie gewesen. Nur – den Duft ihres liebesheißen Leibes würde er wieder erkennen – ganz bestimmt! Und an diesen Duft hatte die schwarze Anna ihn erinnert. –

Er hatte die beiden einsam in der Vorstadt liegenden Villen erreicht – die weiße und die gelbe! Es war jetzt gerade Mitternacht. Er strich um die Gartenzäune herum, schwang sich nun in den Vorgarten der gelben Villa, umkreiste das Haus. – Alle Fenster dunkel. Nirgends ein Lichtstrahl mehr.

‚Er – war zu spät gekommen. Seine kopflose Schöne lag wohl schon in den Kissen!‛ dachte der elegante Herr Ober. – Aber – merkwürdig –: Die Sehnsucht nach dem wundervollen Leib dieser Hanna Gerstel war jetzt gar nicht mehr so groß! Müller fühlte die Erinnerung an jene zauberhaft-köstliche Nacht vor einem Jahr war noch so stark, war stärker jetzt als die frischere Erinnerung an das, was er mit Hilfe Scheppermanns Opernguckers erspäht hatte!

Er wollte heim. –

Nein – dieser nächtliche Ausflug hatte wirklich nicht gelohnt! –

Er gähnte, wandte sich wieder dem Vorgarten zu.

Da – eine Gestalt – ein Mann! –

Und der Mann mußte ihn bemerkt haben!

Müller bekam einen unheimlichen Schreck! Wenn man ihn jetzt hier erwischte, – ihn, den soeben aus dem Gefängnis Entlassenen, dann – dann würde man unfehlbar annehmen, er wandele auf Diebespfaden!

Mit langen Sätzen eilte er dem die beiden Grundstücke tränenden Zaun zu, kletterte hinüber.

Hinter ihm da ein halblautes:

„Halt – oder ich schieße!“

Das verlieh ihm Flügel, machte ihn aber auch noch ängstlicher. Seine Nerven hatten durch die vierzehn Tage Haft doch gelitten. Sonst hätte er nicht so unbesonnen gehandelt wie jetzt. –

*

Gerti hatte bis zehn Uhr mit den Eltern, zwischen denen heute eine geradezu eisige Kühle herrschte, und mit dem Patenonkel Bogu im Salon sich sträflich gelangweilt. Dann ward sie endlich erlöst, dann hatte sie ihr im Hochparterre nach dem Park hinaus gelegenes Zimmer auf dem gewöhnlichen Weg, heute nur unkenntlich gemacht durch langen Seidenmantel und dichten, langen Schleier, mit Hilfe der zum Verschneiden des Weinspaliers dienenden Trittleiter wieder verlassen, war eine halbe Stunde auf dem Konzertplatz vor dem Kurhotel auf und ab gegangen und hatte gehofft, ‚ihn‛ vielleicht zu sehen; vielleicht würde ‚er‛ noch die kühle, frische Nachtflug draußen genießen wollen –! –

Aber – er kam nicht! Und da war sie enttäuscht heimgekehrt, war wieder in ihr Zimmer geklettert, begann sich nun im Dunkeln bei offenem Fenstern langsam zu entkleiden, saß dann im langen, seidenen Nachthemd auf dem Bettrand und – zwang ihre Gedanken viele Monate zurück in eine wundervolle, kurze Vergangenheit, – nur eine Nacht – eine Nacht im D-Zug, 1. Klasse, Nichtraucher!

Er – er! –

Nie hatte sie ihn vergessen, hatte weiter hier die Buxhügler Range gespielt, nur um sich zu betäuben! Und doch hatte ihr junges, heißes Herz in Sehnsucht nach ihm förmlich sich zusammengekrampft!

Und dann – war er hier verhaftet worden – als Zechpreller! Nie und nimmer glaubte sie, daß er ein gewöhnlicher Hochstapler wäre! Sie wußte ja: Er war ein vielseitig gebildeter Mann! Wie reizend hatten sie sich damals unterhalten!

Nein – ein Betrüger war er nicht! Vielleicht ein Unglücklicher, ein Gestrauchelter! Und daher hatte sie für ihn Partei ergriffen, hatte für ihn gesorgt!

An all das dachte sie und – sehnte sich namenlos! Sehnte sich und weinte leise in sich hinein! Denn – sie liebte ihn ja! Und das Leben würde für sie wertlos sein, wenn es ihr nicht gelang, ihn für immer an sich zu fesseln!

Da – da – im Mondlicht vor dem Fenster ein Mensch, – ein Mann, der sich nun blitzschnell ins Zimmer schwang, der dieselbe Leiter benutzt hatte.

Gerti schrie auf. –

Und er stutzte, wich zurück, erkannte nun undeutlich die weiße Gestalt, bat flehenden Tones:

„Retten Sie mich – verbergen Sie mich. Ich werde verfolgt. Ich bin – Franz Müller, der –“

Er brauchte nichts mehr hinzuzufügen.

„Du – du – endlich!“ hörte er eine jubelnde Stimme.

Weiche Arme umschlangen ihn; ein Mädchenkopf lehnte an seiner Schulter.

Und – er spürte einen Duft –! Er konnte sich nicht täuschen: Das – das mußte seine Holde aus den D-Zug sein!

Dann – war’s also Gerti Uhlich gewesen! Nur sie konnte es sein, nur des Kommerzienrats Einzige!

Und – er hob sacht ihren Kopf, flüsterte:

„Das Gedicht – die Verse –!“

Sie verstand; flüsterte zurück:

„Nur die Erinnerung noch zarte Fäden spinnen!“

Und das genügte!

„Gerti – Gerti, – also habe ich dich doch gefunden!“ rief er leise, küßte sie, ließ sich küssen.

*

Eine zweite Nacht begann – begann traumhaft schön. Gertis Lippen waren wie glühende Rosenblütenblätter, die die Sonne des Mailmonats durchhitzt hat; ihre Arme waren wie tropische Schlinggewächse, die nicht mehr freigegeben, was sie umklammern. –

Und im anderen Flügel der Villa ‚Bald Frieden‛ saß der Kommerzienrat ebenfalls im Hochparterre bei offenen Fenstern in seinem Herrenzimmer und überlegte, wie er wohl endlich diese Fesseln einer ihm längst widerwärtigen Ehe abstreifen könnte.

Unten im Garten plötzlich ein leiser Pfiff. – Friedrich Uhlich schaute hinaus, erkannte Bogu, den Überpatenten.

Dann stand Preßla vor ihm, berichtete hastig, – daß ein Kerl da soeben mit Hilfe einer Leiter in ein Fenster eingestiegen sei; das dann seltsamerweise die Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen worden seien.

Uhlich ging mit in den Garten; ließ sich die Fenster zeigen und – fühlte mit einem Mal seine Knie zittern. – Gertis Fenster! Und ein Mann dort bei ihr – ein Einbrecher, der sie vielleicht nun mit Gewalt –“

Ihm traten kalte Tropfen auf die Stirn. –

„Vorwärts, Preßla, – hinein ins Haus wieder!“ keuchte er vor Aufregung. „Aber leise, damit wir den Schuft fangen!“ –

Gerti hatte eins vergessen: die Tür abzuriegeln!

Ihr Bett stand unter einem Baldachin mit schweren, seidenen Vorhängen. Und als nun die Tür leise knarrte, als des Vaters Stimme rief:

„Gerti – Gerti!“

Da – da antwortete sie mit seltener Geistesgegenwart:

„Ja, Papa, was gibt’s?“ und – gähnte entzückend natürlich, obwohl sie nur zu munter war.

Und ebenso geistesgegenwärtig schlüpfte sie in die Pantöffelchen und in den langen Kimonomorgenrock, schlug die Vorhänge auseinander und erblickte nun auch Bogumil Preßla, nickte dem Vater zu, der inzwischen das Licht eingeschaltet hatte, gähnte wieder und –

Da – da war der Papa schon wie ein Habicht auf einen hellen Herrenstiefel geschossen, rief:

„Der Kerl ist hier! Wahrscheinlich liegt er dort unter dem Diwan!“

„Oder gar unter Gertis Bett!“ fügte der entsetzliche Bogu ahnungslos hinzu.

Und – dann kam der von Friedrich Uhlich lange vorausgeahnte Kladderadatsch! Denn da leuchtete dieser infame Bogu wirklich unter das Bett! Und dorthin hatte sich inzwischen der Herr Ober geflüchtet; dorther holte man ihn nun ans Lampenlicht!

Das heißt: Er erschien von selbst.

*

Da hatte Preßla ihn erkannt!

„Moßberg!“ rief er: „Viktor, Mensch, – wie –?“

Doch dieser Moßberg machte dem Kommerzienrat jetzt eine tadellose Verbeugung, sagte schon:

„Gestatten: Graf Viktor Moßberg, allgemein der verrückte Moßberg genannt, Oberleutnant a.D., Majoratsbesitzer, Millionär, Regimentskamerad von Preßla gewesen, Zechpreller infolge einer tollen Wette des Inhalts, vierzehn Tage lang ohne einen Pfennig Geld zu leben und alle Folgen zu tragen – alle! Daher auch falscher Name, Gefängnis hier – und so weiter. – Herr Kommerzienrat, ich bitte hiermit feierlichst um Gertis Hand.“

Friedrich Uhlich faßte sich an die Stirn. –

War das alles nur ein Spuk? Träumte er nur? –

Die Antwort gab ihm – die fromme Helene! Sie war lautlos eingetreten; Sie hielt in der Linken die Beweishose wir eine Fahne, rief nun, denn alles andere war ihr jetzt gleichgültig:

„Der Verdacht gegen dich ließ mich nicht schlafen, Friedrich, du – du Betrüger, du Wüstling, du – du Ehebrecher! Nochmals habe ich diese Hose durchsucht – soeben! Und ich fand, – ja schau nur hin! Dies fand ich!“

Und sie hielt ihm die Hosenschnalle unter die Augen. Und darin hatte sich ein kleines Büschel dunkler, langer Haare verfangen.

Friedrich Uhlich zuckte die Achseln.

„Helene, dies alles ist zu albern, um –“

Da war der zweite Kladderadatsch schon da! Denn die geborene ‚von‛ hatte jede Selbstbeherrschung verloren, schlug – schlug dem Gatten die unselige Beweishose um die Ohren, lachte dann schneidend auf und verschwand wieder.

Die Hose aber lag auf dem Teppich. Gerti bückte sich, hob sie empor, schluckte an Tränen, sagte dann aber tapfer:

„Papa, – lieber Papa, – es sind meine Haare, – die da in der großen Schnalle. Und auch dies Stückchen Spitze hat mal meine –“ sie hüstelte „– geschmückt, Papa, ich habe meinem Verlobten jede Nacht heimlich Lebensmittel und anderes gebracht, indem ich am Blitzableiter in dienem Anzug auf das Dach des Gefängnisses kletterte. So sind auch die Haare und die Spitze –“

„– und die Lockennadel und das Fetzchen Papier an und in die Hose gelangt!“ vollendete er, und er verkniff sich ein Lächeln. „Dies mag aber unter uns bleiben. Ich werde mich von der Mama trennen. Dieses Leben kann ich nicht fortführen. Ich liebe ein anderes Weib! Und – ich habe sie auch seit Jahren in meiner Nähe. Es ist –“

„Martin, der Gärtner!“ vollendete Preßla ernst. „Mein Detektivauge erkannte sofort, daß der Bart falsch war und daß die stark vorgewölbte Hühnerbrust – andere – weibliche Ursachen hat!“

Preßla nahm den Kommerzienrat nun unter den Arm.

„Komm’, Onkel, – wir haben hier nichts mehr zu suchen!“

Uhlich zögerte. Er wollte eigentlich auch Viktor Moßberg mitnehmen. Aber dann dachte er an sich und seine Liebe zu Marianne, an das Süße so einer Jugend- und jungen Liebe. –

Und schweigend folgte er Preßla.

Die Beweishose lag jetzt auf dem einen Sessel und träumte davon, daß sie wohl noch in einem Ehescheidungsprozeß eine Rolle spielen würde; sie kam sich sehr wichtig vor, sie hatte viel erlebt, hatte oft genug schlanke Mädchenbeine umschlossen.

Das war dann immer sehr aufregend gewesen. – Einige Monate drauf heiratete ‚man‛ in aller Stille zu dreien: der Seifenfritze seine Marianne, Moßberg seine Range, und Preßla sein Fräulein Kollegin.

Die Beweisrose lebte noch lange, lange Zeit im Hause des Kommerzienrats und wurde hoch geehrt von Alt und Jung, von Kindern und Enkelkindern. Und wenn Frau Gerti ihren Viktor mal besonders erfreuen wollte, dann schlüpfte sie in die ehrwürdige Hose; und dann wurde diese wieder jung und fand alles wieder so reizend aufregend wie einst bei den nächtlichen Kletterpartien auf das Gefängnisdach –

So – das ist die neckische Geschichte einer Herrenhose, – eben der berühmten Beweishose!

 

 

Anmerkung:

[1] auf Platte ablichten