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Der Sieger

 

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Bibliothek der besten Romane

 

Band 253

 

Der Sieger.

 

Roman von

Hans Dominik.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin S. 14,
Dresdenerstraße 88–89.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.
Copyright by Verlag mod. Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

Kapitel 1.

Die Fenster des Herrenzimmers in Schloß Oenfels, dem prachtvollen Besitztum des Herrn von Gandern, waren weit geöffnet. Frei flutete die würzige Frühlingsluft in den Raum. Und durch die Fenster hatte man eine wundervolle Fernsicht auf den Wiener Wald, konnte man Felder und Fluren erschauen, in anmutsvoller Abwechslung durch Forsten und fließende Bäche unterbrochen.

Das Schloß, eine Schöpfung edelster Baukunst, lag in einer Gegend, die hervorragende Fruchtbarkeit mit landschaftlichen Reizen verband.

Aber die beiden Herren, die da im Zimmer ein Gespräch pflogen, hatten jetzt wenig Sinn für solche landschaftlichen Reize, Die After-dinner-Zigarre im Munde tauschten sie eifrig Rede und Gegenrede.

Herr von Gandern, ein rüstiger Sechziger, der Besitzer dieses wundervollen Herrensitzes und gleichzeitig einer der Führer der österreichischen Eisenindustrie, stieß wiederum eine duftende blaue Rauchwolke aus der Zigarre, nahm sie dann aus dem Munde und machte eine zirkelnde Handbewegung zu seinem Gaste. Gespannt erwartete dieser die Ausführungen seines Gegenübers.

Und nun kamen die Worte langsam und wohlabgewogen von den Lippen des Schloßherrn.

„Nochmals wiederholt, mein lieber Herr Carsten, von meiner Seite aus steht Ihrer Bewerbung um die Hand meiner Tochter Stephanie nichts im Wege. Ich kenne Sie genügend lange, um ein Urteil über Sie fällen zu können — und ich darf es wohl aussprechen, daß dieses Urteil durchaus zu Ihren Gunsten lautet, Das letzte Wort in dieser Angelegenheit wird selbstverständlich meine Tochter zu sprechen haben. Sie wollen auch wohl bedenken, daß zwischen Ihnen beiden ein Altersunterschied von zwanzig Jahren besteht. Sie wissen, daß Stephanie erst zweiundzwanzig Jahre ist. Ich glaube freilich, daß gerade dieser Altersunterschied ein Vorteil sein wird. Sie werden duldsam sein müssen —“

„Lieber von Gandern —“

Der Schloßherr machte eine abwehrende Handbewegung.

„Sie meinen, ich habe unrecht. Glauben Sie mir, ich kenne meine Tochter doch etwas besser, als Sie. Sie ist äußerst selbständig. Seit sie majorenn[1] geworden ist, habe ich — ich muß es leider eingestehen — gar keine Gewalt mehr über sie. Sehen Sie, viele meiner Freunde und Bekannten haben sich gewundert, warum ich meine Tochter noch nicht verheiratet habe. Aber Stephanie ist keine Persönlichkeit, die sich so ohne weiteres verheiraten läßt.“

„Offen gesagt, Herr von Gandern, habe auch ich mich darüber gewundert. Ihre Tochter ist eine Schönheit, spielt in der Wiener Gesellschaft eine glänzende Rolle, ist bei Hofe vorgestellt und wäre doch eine glänzende Partie.

Freilich haben die Interessen des gnädigen Fräuleins heute wohl noch eine andere Richtung. Sie schwärmt für Kunst und ist eine eifrige Anhängerin des Sports.“

„Besonders des Automobilsports.“

„Ich weiß,“ nickte Carsten, „und bei dieser Gelegenheit hatte ich ja auch die Ehre, Ihr Fräulein Tochter kennen zu lernen.

Doch, wie gesagt, ich wundere mich eigentlich, daß Ihr Fräulein Tochter nicht wie jede unserer anderen jungen Damen in irgend einem jungen Mann das Ziel ihres Glückes — ihrer Wünsche gesehen hat.“

Herr von Gandern lachte laut auf:

„Da sind Sie aber gehörig auf dem Holzwege. Ich kann Ihnen das gerade Gegenteil versichern. Wenn auch Stephanie für Kunst und Sport viel übrig hat, so ist sie doch eine durchaus reale und gesunde Natur.

Was Sie da soeben skizzenhaft andeuteten, das Glücksziel eines jungen Mädchens in irgend einem stark verklärten und mit allen Attributen höchster Vollkommenheit ausgestatteten Mann — — — das, mein lieber Herr Carsten, sind Phantasien, die wohl von manchem jungen Mädchen gepflogen werden und die allermeistens mit einer furchtbaren Banalität enden.

Dazu ist meine Stephanie viel zu praktisch veranlagt.

Und was den Automobilsport anbelangt, so ist das eben die Bekräftigung von dem, was ich sagte — meine Tochter Stephanie hat stets sehr reale Ziele im Auge. Sehen Sie, Herr Carsten, ich muß bei diesem Gespräch etwas weitschweifig werden. Bei dem wichtigen Schritt, den Sie tun wollen, ist für beide Teile eine gründliche Aussprache von größtem Nutzen. Was Sie anbelangt, mein lieber Carsten, so kenne ich Sie. Ich weiß, wie Ihre Finanzen bestellt sind, ich kenne Ihren geschäftlichen Ruf und kenne auch Ihre Lebensanschauung, die Sie heute als geklärter Zweiundvierzigjähriger besitzen. Aber ich glaube, daß Sie im Punkte „Frau“ doch wohl noch nicht so ganz kurant sind, wie Sie selbst es vielleicht glauben. Sie waren verheiratet?“

„Fünf Jahre, Herr von Gandern.“

„Glücklich?“

„Das kann ich bejahen.“

Herr von Gandern blickte nachdenklich dem durch das Fenster fortziehenden Rauch seiner Zigarre nach, und Carsten hatte die Empfindung, als ob sein Gegenüber ihn plötzlich ganz und gar vergessen hätte.

Endlich nach längeren Minuten wandte Herr von Gandern sich wieder seinem Gaste zu und sagte;

„Ich war achtzehn Jahre verheiratet. Das ist ein Unterschied zwischen Ihnen und mir. In achtzehn Jahren lernt man an der Seite einer Frau die Frauen am Ende beurteilen. Ich habe mir da eine Theorie zusammengezimmert, die auch vielleicht — — —“

„Und die wäre?“

„Ich meine, daß diejenigen Frauen, die sich nur von Leidenschaft erfüllt einem Manne anvertrauen, einem Schiffe zu vergleichen sind, das mit vollen Segeln einen Sturm überstehen will. Was ist die Folge? — Ich könnte Ihnen mit dem Dichterwort antworten: Wohl dem Mann, der glücklich den Hafen erreicht hat, und so weiter.

Was da vom Manne gesagt wird, das gilt bemerkenswerter Weise auch von der Frau. Was ich von derartigen Ehen gesehen habe, das war, um im Bilde zu bleiben, nach wenigen Jahren ein Wrack der Liebe.

Da war nichts mehr vorhanden von all dem impulsiven Glücksgefühl — da konnte man es verlernen, noch ferner an das Glück der Menschen in der Liebe zu glauben.“

„Wollen Sie die Abschreckungstheorie an mir versuchen?“

„Keineswegs, verehrter Herr Carsten. Aber ich mußte Ihnen das sagen. Ich mußte gewissermaßen erst den negativen Teil meiner philosophischen Abhandlung bringen, um nun zum positiven überzugehen. Ich behaupte, daß ein wahres und echtes Glück nur erblühen kann, wenn zwei Menschen — Mann und Frau — sich aus wirklicher Zuneigung, die mit dem Strohfeuer der Leidenschaft wirklich nicht zu verwechseln ist, die Hand fürs Leben reichen. Wenn sie dann als getreue fürsorgliche Kameraden einer dem anderen helfen, wenn einer dem anderen wirklich das beste gibt, was er besitzt.

Alles übrige, mein lieber Herr Carsten, vergleiche ich, um einmal ganz trivial zu reden, etwa mit der phantastischen Glücksnacht eines Maskenfestes, auf die ein Erwachen recht unangenehmer Art zu folgen pflegt.

Sehen Sie, das ist es eben, was mir bei Ihnen an Ihrer Bewerbung um die Hand meiner Tochter Stephanie gefällt. Sie kommen ruhig und sachlich — Sie erklären mir, daß Sie meine Tochter von ganzem Herzen gern haben, daß Sie sie verehren, daß Sie sie hochschätzen, und daß Sie alles tun wollen um ihr das sogenannte irdische Glück zu schaffen. Und soweit ich meine Tochter Stephanie kenne, hegt sie ähnliche Anschauungen, Ich erinnere mich, daß sie mehr als einmal von stürmischen Bewerbern um ihre Hand gebeten wurde und daß selbst ich einmal mich auf Seite, eines solchen Bewerbers stellte und auf sie einredete. Wissen Sie, was sie sagte?“

Carsten schüttelte den Kopf.

„Sie erklärte mir: Papa, noch bin ich nicht majorenn. Das Gesetz sieht den Menschen erst mit einundzwanzig Jahren als vollgültig, als voll zurechnungsfähig an. Und ich glaube, daß das Gesetz hier einmal recht hat. Ich glaube, daß die Menschen vor einundzwanzig Jahren einen derartig wichtigen Schritt nicht tun sollten und ich werde ihn jedenfalls vorher nicht tun.“

Carsten lachte.

Je mehr Herr von Gandern über seine Tochter sprach, um so begehrenswerter wurde sie ihm.

Jetzt erhob sich der Schloßherr und fuhr fort:

„Lassen Sie uns zur Terrasse gehen, Herr Carsten, wenn mich nicht alles täuscht, läßt meine Tochter uns dort den Kaffee servieren und Sie werden danach Gelegenheit haben, unter vier Augen mit ihr über Ihre Wünsche zu sprechen. Irgend wie vorzugreifen vermag ich, wie gesagt, nicht.“

Auch Carsten erhob sich, legte die Zigarre fort, und die beiden Herren verließen das Zimmer.

Sie betraten einen langen hallenartigen Flur, dessen Wände mit prächtigen Jagdtrophäen geschmückt waren und Zeugnis davon ablegten, daß der Besitzer des Schlosses ein weidgerechter Jäger nicht nur in Österreich, sondern auch in fernen Landen — in Afrika und Amerika — gewesen.

Um Ende des Flures befand sich eine mit Glasmalereien geschmückte Tür, ein Diener öffnete sie, und beide Herren traten in die Halle des Schlosses, gingen quer durch sie hindurch und gelangten durch eine zweite Tür zur Parkseite des Schlosses und zur Terrasse.

* *

*

Stephanie von Gandern war nach dem Diner mit ihrer Freundin, der sechs Jahre älteren Frau Dr. Gartner, zur Terrasse gegangen und beide Damen hatten in den bequemen englischen Korbsesseln Platz genommen, seidene Kissen unter den Kopf gelegt und blickten sich gegenseitig aus halbgeschlossenen, etwas müden Augen durch die Wimpern hindurch an.

Wohl fünf Minuten lang saßen sie sich in dieser Pose schweigsam gegenüber.

Dann gähnte Stephanie von Gandern und begann:

„Weißt Du, Betty, es ist schauderhaft langweilig.“

Und wie ein Echo kam es aus dem anderen Korbsessel:

„Es ist schauderhaft langweilig!“

„Ich habe eine Idee.“

Auch ihr Gegenüber richtete sich ein wenig auf:

„Auch ich! Gib mir eine Zigarette.“

Stephanie langte in ihr Täschchen, das sie am Arme trug und reichte ihrer Freundin ein kleines goldenes Zigarettenetui hinüber, desgleichen das Feuerzeug. Auch sie selbst nahm eine Zigarette, nachdem sich ihre Freundin bedient hatte, und bald schwebten die Rauchwölkchen wie leichte Schleier in die Frühlingsluft davon.

„Also, was für eine Idee hast Du, Stephanie?“

„Ich werde mit Dir eine Reise im Auto unternehmen. Wie denkst Du über Luzern?“

„Da ist ja doch keine Saison.“

Stephanie von Gandern verzog ihr Gesicht ein wenig spöttisch.

„Das weiß ich eben so gut wie Du. Ich würde auch gar nicht zur Saison dorthin fahren. Jede Saison mit ihrem Getriebe und ihrer Überfüllung ist mir zuwider. Aber gerade jetzt, in dieser wunderschönen Frühlingszeit, muß es doch einfach prächtig sein, mit seinem Wagen, unabhängig von Menschen und Eisenbahnen, durch die Welt zu fahren und sich unter all den Tausenden von Sklaven als freier Mensch zu fühlen.“

„Gut, mein liebes Kind — fahren wir beide nach Luzern.“

„Wir können dann morgen früh aufbrechen.“

„Ganz wie Du willst!“

Beide lehnten wieder die Köpfe zurück, rauchten und blickten den Zigarettenwolken nach.

Dann reckte sich die junge Frau Doktor Gartner und sagte:

„Eigentlich wundert es mich, daß Du gerade jetzt nach Luzern willst.“

„Das wundert Dich, Betty?“

„Aber gewiß!“

„Du bist wunderlich, Betty! Bei der einfachsten Sache suchst Du, wie man in Norddeutschland sagt, einen Haken. Was hast Du an einer Fahrt nach Luzern auszusetzen?“

„Ich kombiniere.“

„Ich verstehe Dich nicht.“

Die junge Frau Doktor, deren Mann auf einer mehrmonatigen Forschungsreise in Indien weilte und die sich während der Zeit als beste Freundin Stephanies von Gandern bei dieser einquartiert hatte, erhob sich, ging zu ihrer Freundin, setzte sich dort auf die breite Korblehne, legte den Arm um den Nacken Stephanies und blickte ihr lächelnd in die tiefblauen Augen.

Stephanie hielt den forschenden Blick ihrer Freundin — ohne die Augen niederzuschlagen — mit Gewissensruhe aus.

„Sieh mal, Stephanie,“ begann jetzt die junge Frau heiter, „Du wirst mir doch nicht etwa erzählen wollen, daß der Besuch dieses Berliner Kommerzienrats nur ein reiner Zufall ist.“

Jetzt veränderte sich der Ausdruck Stephanies, — sie zog die Augenbrauen hoch, sog die Luft durch weitgeöffnete Nasenflügel ein und schob ein wenig die Unterlippe vor.

„Wie meinst Du das, Betty?“

„Dummchen,“ lachte die junge Frau, „willst Du Dich verstellen? — oder glaubst Du, daß Du mir, Deiner besten Freundin, einer bereits sechsjährigen Ehefrau, ein Märchen auftischen kannst?“

„Jetzt werde ich aber ernstlich böse, Betty, Du weißt, ich liebe keine Unklarheiten. Sage mir, was für Ideen Du über den Besuch dieses Berliner Herrn hast.“

„Aber sehr einfach, Stephanie — der Herr Carsten wird hierher gekommen sein, um bei Deinem Vater um Deine Hand anzuhalten.“

„Das ist mir noch völlig unbekannt. Bis jetzt hat dieser Berliner Herr, den ich nur gesellschaftlich kenne, auch nicht die geringste Andeutung gemacht, daß er ein derartiges Attentat auf meine Freiheit beabsichtigt.“

„Er scheint ein tüchtiger Geschäftsmann zu sein, dieser Herr Carsten.“

„Wenigstens Vater sagt es. Er ist ja auch der Leiter einer großen Fabrik. Tüchtig muß er sein.“

„Bon! Da wirst Du auch wohl nicht erwarten können, daß ein derartig tüchtiger Geschäftsmann sich Dir mit irgend einem Wort oder einem Blick eher zu erkennen gibt, als bis er das Geschäftliche der Angelegenheit mit Deinem Vater geordnet hat.“

„Möglich — im übrigen könnte Papa ihm, da er mich zu genau kennt, nur äußerst unverbindlich antworten. Ich bin Gott sei Dank majorenn und tue, was mir beliebt. Papa würde mir niemals irgend einen Zwang auflegen, würde das, soweit ich mein Väterchen kenne, nicht einmal versuchen.“

„Und was hast Du selber für einen Eindruck von dem Berliner Herrn?“

„Vorläufig noch gar keinen. Ich muß Dir offen gestehen, Betty, daß ich an irgend eine Verbindung meiner mit seiner Person noch nicht einmal im Traum gedacht habe und dann — der Mann ist schon über vierzig.“

„Erlaube mal, Stephanie, mein Mann ist auch fünfzehn Jahre älter als ich und ich muß Dir gestehen, ich fühle mich an seiner Seite sehr glücklich. Wir Frauen tun gut daran, uns als Lebensgefährten einen älteren Mann zu nehmen.“

„Das will ich nicht bestreiten. Leute, die sich berufsmäßig damit beschäftigen, wie beispielsweise die Schriftsteller, behaupten es jedenfalls. Aber wie gesagt — dieser Herr Carsten — eine merkwürdige Idee, die Du da plötzlich aufgebracht hast.“

„Er ist vermögend genug, ansehnlich und von gutem Ruf.“

„Das will ich alles nicht bestreiten, aber ich müßte doch wenigstens etwas Sympathie für ihn fühlen und die, meine liebe Betty, die fehlt völlig. Soviel ich weiß, ist er auch schon einmal verheiratet gewesen.“

„Hast Du deswegen eine Antipathie gegen ihn?“

„Aber nein, Betty, — Das würde mich nicht im geringsten hindern, als treuer Lebenskamerad mit ihm eine Ehe zu schließen, aber — ich kenne ihn zu wenig, ich weiß nicht, von welchem Charakter er ist — ich habe nicht Lust, mich einem Manne anzuschließen, der in mir entweder nur seine bessere Haushälterin oder einen kostbaren Luxusgegenstand sieht.

Ich habe die Absicht, einen Mann zu wählen, der mir die Gewähr gibt, daß er mir in schlimmen und harten Lebenstagen ein Schutz — ein Schild ist. Ich müßte mich bei dem Manne meiner Wahl geborgen fühlen.

Du siehst, meine Liebe, ich habe auch meine Ambitionen und da bringst Du plötzlich diesen Herrn Carsten als Heiratskandidaten auf. Der macht mir aber viel eher den Eindruck, als wäre die Heirat für ihn eine Affäre, wie irgend ein Börsenspiel, irgend eine Spekulation — eine Sache, die er aus irgend welchen Zweckgründen eingehen muß und um deren Endresultat er sich wenig Kopfschmerzen macht. Ich vermisse bei ihm das Verantwortlichkeitsgefühl.“

„Das kannst Du heute noch gar nicht sagen. Du kennst ihn doch zu wenig.“

„Du magst Recht haben, Betty — aber ich habe nun einmal das Gefühl, nein — laß uns von etwas anderem sprechen. Sollte der Berliner Herr bei mir um meine Hand anhalten, so würde er ein absolutes „Nein“ hören. Im übrigen werde ich jetzt den Kaffee servieren lassen und Papa durch einen Diener benachrichtigen.“

Sie drückte den Knopf einer kleinen silbernen Tischglocke, ein Diener erschien und nahm ihre Befehle entgegen. Während die Freundinnen sich weiter unterhielten, wurde auf der rechten Seite der Terrasse der Kaffeetisch gedeckt und war in demselben Augenblick fertig, als Herr von Gandern mit seinem Gaste die Terrasse betrat.

Galant reichte der Schloßherr der Frau Dr. Gartner den Arm, während Herr Carsten Stephanie von Gandern zum Tisch führte.

Der energische und erfolgreiche Fabrikherr Carsten hatte Stephanie von Gandern bisher nur bei gesellschaftlichen Veranstaltungen getroffen und es war das erste Mal, daß er im Schlosse ihres Vaters zu Gast weilte. Aber Carsten glaubte bei dem früheren Zusammentreffen immerhin bemerkt zu haben, daß er der jungen Dame nicht ganz gleichgültig war. Und er hatte nun, bevor er seine Werbung beginnen wollte, zunächst mit dem Vater Rücksprache genommen. Das weitere, so dachte er, würde sich dann schnell und leicht finden.

Doch als er jetzt an Stephanies Seite die wenigen Schritte zur Tafel zurücklegte, spürte er eine kalte Unnahbarkeit, die er vordem nie bemerkt hatte. Und ohne daß ein Wort zwischen ihnen gewechselt wurde, fühlte er es, daß sein Wunsch um ihre Hand, vorläufig wenigstens, von der Erfüllung recht fern sei.

An der Tafel unterhielt der Schloßherr mit seiner gewohnten prächtigen Laune die kleine Gesellschaft und dann, nachdem er die zweite Tasse Kaffee genommen, sagte er fast unvermittelt zu Frau Dr. Gartner:

„Gnädige Frau, ich habe eine Überraschung für Sie, es soll mir ein Vergnügen sein, Ihnen diese Überraschung persönlich zu überreichen. Wollen Sie die Güte haben, mich auf einige Minuten zu begleiten?“

Sofort begriff Frau Dr. Gartner, was der Schloßherr mit seinen Worten beabsichtigte.

Die beiden sollten allein sein.

Höflich, ihren schönen Kopf neigend, erhob sie sich, nahm den Arm des Schloßherrn, winkte Stephanie lachend mit der Hand zu und ging.

Aber auch Stephanie wußte, daß der Vater hiermit seinem Gaste den Weg zu ihr frei gemacht hatte und daß jetzt der entscheidende Schritt des Herrn Carsten getan werden sollte.

Einige Sekunden blickten die beiden dem davongehenden Paare nach. Und dann begann der Fabrikherr so, wie er es aus seinem geschäftlichen Leben gewohnt war, ruhig und selbstbewußt seinem Ziele entgegenzugehen.

„Ich habe die Ehre, mein gnädiges Fräulein, mit Ihrem Herrn Vater seit längeren Jahren befreundet zu sein und hatte infolge dieser Freundschaft auch Gelegenheit, Ihnen näherzutreten.“

Er machte eine Pause und blickte Stephanie in die Augen, um vielleicht den Eindruck, den seine Worte gemacht hatten, zu ergründen.

Er wäre wohl sofort im Klaren gewesen, wenn er die Gedanken, die gerade jetzt Stephanies Kopf durchkreuzten, geahnt hätte.

Die lauteten:

„Sehr geehrter Herr! Infolge unserer langjährigen Geschäftsverbindung erlaube ich mir bei Ihnen die Anfrage, ob Sie die Ware nach Nummer soundso, die bei Ihnen oftmals gesehen habe, usw.“

Da Stephanie nichts erwiderte und ihn nur unverwandt mit den Augen anblickte, so sprach er weiter:

„Ihr Herr Vater wird Ihnen vielleicht mitgeteilt haben, daß ich seit sieben Jahren Witwer bin und in Berlin infolge meiner gesellschaftlichen Stellung ein großes Haus führen muß. Sie werden sich denken können, daß es für mich sehr schwer ist, den gesellschaftlichen Pflichten ohne eine Frau gerecht zu werden.“

Stephanie von Gandern setzte dem von ihr in Gedanken begonnenen Geschäftsbrief hinzu:

„Da ich die Ware noch nicht am Lager habe und sie dringend benötige, so frage ich hiermit an, ob Sie mir dieselbe ablassen wollen.“

Und wieder wartete Herr Carsten auf eine Antwort und erhielt keine. Er empfand von Sekunde zu Sekunde deutlicher, daß diese Affäre ganz und gar nicht so einfach war, wie er sie sich vorgestellt hatte. Seine Sicherheit und Überlegenheit, die ihm in seiner Stellung zur zweiten Natur geworden waren, gingen hier schmählich zu Bruche. Stockend fuhr er schließlich fort:

„Ich bin deshalb zu dem Entschluß gekommen, mit Ihrem Herrn Vater über meine Lage zu sprechen und ihm meinen Herzenswunsch mitzuteilen. Und nun gab mir Ihr Herr Vater den Rat, vor allen Dingen erst mit Ihnen über diese Angelegenheit zu reden.“

„Mit mir?“

Stephanie legte in diese zwei kurzen Worte ein maßloses Staunen und so viel Abweisung, wie überhaupt nur möglich war.

Wäre Herr Carsten nicht nur Fabrikant, sondern daneben auch noch ein wenig Psychologe gewesen, so hätte er aus diesen beiden Worten, aus deren Klangfarbe und aus dem Mienenspiel Stephanies jedenfalls genau ersehen, daß alles weitere, was er jetzt noch sagen wollte, gespart bleiben konnte.

Aber Carsten war kein großer Psychologe und Herr von Gandern hatte nicht zu Unrecht behauptet, daß eine siebenjährige Ehe noch nicht genügt, um die Frauen kennen zu lernen.

Trotzdem entschloß sich Carsten, ungeachtet der ungünstigen Vorzeichen zum Sturme vorzugehen, Hals über Kopf eine Überrumpelung zu versuchen.

„Jawohl, mit Ihnen, mein gnädiges Fräulein,“ erwiderte er jetzt und erhob sich, „Ich erlaube mir hiermit, mein liebes gnädiges Fräulein, um Ihre Hand anzuhalten. Ich kann nicht viele Worte machen. Ich kann Ihnen nur sagen, daß ich eine herzliche Zuneigung zu Ihnen fühle und daß ich in Ihnen diejenige Frau sehe, die ich mir als Lebensgefährtin vorgestellt habe und die ich mir wünschen möchte.“

Auch Stephanie erhob sich.

„Herr Carsten, ich bedaure, auf Ihre Worte eine abschlägige Antwort geben zu müssen.“

Carsten hatte das Gefühl, als gösse ihm jemand einen Kübel eiskalten Wassers über den Kopf.

Wohl hatte er in den letzten Minuten eine solche Abweisung gefürchtet. Aber als die ablehnenden Worte nun hart und kalt an sein Ohr drangen, wirkten sie doch überraschend und niederschmetternd.

Aber obwohl Carsten ganz sicher kein guter Psychologe und Frauenkenner war, so war er doch von Berufswegen geschickt genug, um sich durch ein erstmaliges Mißlingen nicht so leicht abschrecken zu lassen.

Der erste Angriff war abgeschlagen. Gut! Also neue Sturmkolonnen vor!

Blitzschnell formierte er seine Gedanken zu einem neuen Angriff. Was konnte sie an seiner Person auszusetzen haben? Er war nicht häßlich, er galt sogar als interessanter Mann, hatte eine glänzende Position in der Berliner Gesellschaft, seine Vermögensverhältnisse waren günstig — ja, was wollte sie eigentlich von ihm? Was hatte sie gegen ihn?

Und von neuem begann er:

„Ihr Herr Vater, mein gnädiges Fräulein, würde eine Verbindung zwischen uns beiden nicht ungern sehen.“

„Mein Vater vermag über meine Hand nicht mehr zu bestimmen, seitdem ich majorenn bin.“

„Sie lehnen also meine Bewerbung für immer ab?“

Und nun sollte der zähe Fabrikherr doch noch einen kleinen Erfolg erringen.

Stephanie von Gandern nickte ganz langsam mit dem Kopfe.

„Vorläufig, Herr Carsten, muß ich Ihre Bewerbung ablehnen.“

„Sie sagen „vorläufig“, mein gnädiges Fräulein, Sie geben mir also die Hoffnung, daß ich später meine Werbung wiederholen kann?“

Stephanie blickte ihn fest und prüfend an. Forschend und kritisierend glitt ihr Blick über ihn hin.

Erst nach längerer Pause sagte sie:

„Herr Carsten, ich kenne Sie noch viel zu wenig, Sie werden mir lange — sehr lange Zeit lassen müssen, bevor ich Ihnen — eine definitive Antwort gebe.“

Carsten, der Kaufmann, begriff, daß die Konjunktur entschieden eine Wendung zum besseren genommen hatte. Er verbeugte sich tief und sagte:

„Ich danke Ihnen für Ihre ermutigenden Worte, mein liebes, gnädiges Fräulein. Ich werde mir die größte Mühe geben, Ihnen näher zu treten, und ich hoffe in einer nicht allzu fernen Zukunft für würdig befunden zu werden, meine Werbung noch einmal vorzubringen.“

Eine kurze Verlegenheit entstand nach diesen Worten. Carsten hatte das dunkle Empfinden, daß er korrekter Weise jetzt eigentlich mit dem nächsten Zuge abreisen müsse. Und Stephanie schien diesen Gedanken zu erraten.

Heiter und in völlig veränderter Tonart fuhr sie fort:

„Betrachten wir also unter bisheriges Gespräch als nicht geführt und reden wir von etwas anderem. Wie denken Sie über das diesjährige Modell des Adlerwagens…?“

Als eine Viertelstunde später der Schloßherr und die junge Frau Doktor — beide ein wenig gespannt und neugierig — zu dem Paar zurückkehrten, fanden sie es in ein durchaus fachmännisches Gespräch über automobilistische Dinge vertieft. War doch Carsten als der Besitzer einer großen Automobilfabrik ein ebenso eifriger Kraftfahrer wie Stephanie von Gandern. Und beide hatten jetzt bei den technischen Dingen beinahe vollkommen die ernste Unterredung vergessen, die sie noch vor wenigen Minuten mit einander gepflogen hatten.

Als sie sich nach einer Stunde trennten, sagte Stephanie:

„Papa, ich hatte eigentlich die Absicht, morgen eine Tour nach Luzern zu machen. Da Du aber für die nächsten Wochen geschäftlich nach Berlin fahren willst, so werde ich gleichfalls nach Berlin kommen, um einmal das Leben in einer norddeutschen Hauptstadt genauer kennen zu lernen.“

Herr von Gandern aber sagte, als er mit Carsten allein war und von diesem erfuhr, wie dessen Bewerbung um die Hand seiner Tochter abgelaufen war:

„Sie haben trotz alledem Chancen. Meine Tochter Stephanie fährt nicht ohne Grund nach Berlin. Ich glaube, daß Sie Ihr Ziel erreichen werden.

* *

*

Im Norden Berlins, dort wo die Spree im weiten Bogen der Havel entgegen eilt, lag die Fabrik, in welcher der Herr Carl Carsten der Herr war. Ein großes Industriewerk, welches der energische und zielbewußte Fabrikant im Laufe weniger Jahre zu einer achtunggebietenden Größe und Ausdehnung entwickelt hatte.

In diesem Betriebe war Carsten der Kopf und der Wille, der all die Hunderte von Händen leitete und bewegte. Von ihm kamen die Anweisung und Anregungen, die sich bei den Oberingenieuren und Ingenieuren zu Plänen und Zeichnungen entwickelten und dann in den Maschinensälen des Werkes in Stahl und Eisen verkörpert wurden.

Bevor Carsten nach Wien gefahren war, hatte er seinem Oberingenieur Martin eine Fülle solcher Anregungen und Skizzen hinterlassen. Und nun war er von seiner Reise zurückgekehrt. Ein wenig verschlossener und einsilbiger als zuvor, wie es dem Oberingenieur schien, aber nach wie vor tatkräftig und zielbewußt.

„Ich bin mit den Modellen zufrieden,“ hatte er eine längere Rücksprache mit dem Oberingenieur geschlossen. „Sie haben mir die Wagen so hergestellt, wie ich sie mir dachte, und ich glaube, wir werden bei der Prinz Heinrich-Fahrt Ehre damit einlegen.“

Und dann war der langgedehnte schrille Ton der Dampfpfeife durch alle Räume des Werkes dahingehallt. Dann hatten alle die Schlosser und Schmiede und Hobler und Dreher, die da an den Werkzeugmaschinen standen, ihre Arbeit unterbrochen, hatten den schmutzigen, ölgetränkten blauen Arbeitskittel mit dem Straßenkleid vertauscht und waren in langem Zuge aus den Arbeitsräumen hinausgezogen. Über den Werkhof hin. Am Pförtner vorbei und auf die Straße hinaus.

Eilig schritten sie ihren Wohnungen entgegen, um nach hartem Arbeitstag einen kurzen Abend und eine kurze Nacht bei den Ihrigen zu verbringen.

Und auch die Zeichner und Ingenieure, die da in den Bureaus saßen, hatten die Reißfedern ausgewischt und die Rechenschieber beiseite gelegt. Heute brauchte keiner von ihnen Überstunden zu machen.

Herr Carsten war ja mit dem Geleisteten zufrieden. Der Herr Oberingenieur hatte es einigen Ingenieuren verraten und im Augenblick wußte es das ganze Bureau, hinab bis zum letzten Zeichner.

Es hätte freilich auch anders kommen können. Der Alte, wie man den Fabrikherrn gelegentlich nannte, hätte auch nicht zufrieden sein können. Er hätte eine Umkonstruktion verlangen können und dann hätte es schwere Nachtarbeit gegeben. Zuerst für die Ingenieure und Zeichner, später auch für die Schmiede und Schlosser.

Aber Herr Carsten war zufrieden und so leerten sich jetzt auch die Bureaus. Die Zeichner gingen nach Hause, Die Ingenieure taten desgleichen und die Herren Kontoristen ahmten das Beispiel nach. Und zu allerletzt ging auch der alte Buchhalter Schultz, nachdem er dem Herrn Direktor noch einige Bücher in sein Privatkontor gebracht hatte.

Leer und dunkel lagen die Räume des Werkes da. Nur im Kontor des Herrn Carsten brannte noch Licht. Das bemerkte der alte Nachtwächter Busse, der seine vorgeschriebenen Kontrollgänge durch das Werk machte, während die Abendstunden dahingingen und aus dem Abend allmählich tiefe Nacht wurde.

Carsten saß in seinem Kontor und prüfte die Bilanzen, die man ihm vorgelegt hatte. Und was er da ziffernmäßig sah, das bestätigte ihm nur, was er seit langem ahnte und fühlte.

Sein Geschäft ging gut. Recht gut sogar. Aber er hatte sich unverhältnismäßig schnell vergrößern müssen. Er hatte Tausende und Abertausende in die neuen Anlagen hineingebaut und er litt jetzt an Kapitalmangel.

Nachdenklich zog der Fabrikherr an seiner schweren Importzigarre.

Es war gar kein Zweifel mehr, daß er neues Kapital brauchte. Nicht Tausende, sondern Hunderttausende. Carsten wußte, daß er diese Summe glatt erhalten würde, sobald er den Geldleuten seine Bilanzen vorlegen würde. Aber er wußte auch, daß mit fremdem Gelde oft fremde Gebieter kommen, und er wollte unter allen Umständen in seinem eigenen Hause Herr bleiben. Er wußte, daß fremdes Kapital dem alten Besitzer so manches mal ein gutes Geschäft aus der Hand genommen hatte. Er kannte die Gefahr und er wollte sie unter allen Umständen vermeiden.

Und dann flogen die Gedanken Carstens weiter. Während draußen die Uhren die zwölfte Stunde schlugen, gedachte er der kommenden Prinz Heinrich-Fahrt und rechnete mit den Möglichkeiten eines Erfolges. Wenn es ihm gelang, einen Preis, womöglich einen ersten Preis zu machen, so standen seine Aussichten geradezu glänzend. Dann wurden die vielen Wagen, die heute in hundert Verkaufsstellen standen, mit einem Schlage bares Geld. Dann flossen Tausende in seine Kasse. Dann war er sofort so geldkräftig, daß er die Campagne wahrscheinlich mit eigenen Mitteln weiter führen konnte, daß fremdes Kapital ihm in jedem Falle nicht mehr gefährlich werden konnte.

Und der Direktor Carsten beschloß, diesen Preis unter allen Umständen zu gewinnen. Ein stahlharter Wille prägte sich auf seinen Zügen aus. Er hatte heute die neuen drei Wagen gesehen, mit denen er die Konkurrenz bestreiten wollte. Er war vollbefriedigt von den neuen Typen gewesen. Und er beschloß nun, sich selber an das Steuer zu setzen und als geschickter und kühner Fahrer selbst in den Kampf zu gehen.

Mit stiller Verwunderung hatte der Nachtwächter Busse wieder und immer wieder zu dem erleuchteten Fenster seines Herrn emporgesehen. Kopfschüttelnd hatte der alte Mann sich seine Gedanken gemacht. Da saß nun der reiche Herr Carsten die halbe Nacht dort oben und setzte die Tagesarbeit fort. Und dabei hätte er doch nach Hause geben können und sich ausschlafen. Oder der Herr Direktor hätte sich mit seinem vielen Gelde in eine der schönen, vornehmen Wirtschaften setzen können, wo es gutes Essen und süßen Wein und lustige Musik gab.

Der alte Mann verstand seinen Direktor einfach nicht.

„Aber so sind die Reichen!“ brummte er vor sich hin. „Wenn sie reich sind, wollen sie immer noch reicher werden.“

Und dann zog der alte Nachtwächter seine Schnapsflasche heraus und nahm einen gehörigen Schluck alten Nordhäuser. Dann aber schickte er sich an, pflichtgemäß weiter zu trotten und seine Kontrollgänge fortzusetzen.

Gerade jetzt kam er an den großen Glasfenstern des Montageschuppens vorbei und wollte eine dort befindliche Kontrolluhr stechen, als ihm ein eigentümliches Funkeln und Blinken in den großen Scheiben auffiel.

Betroffen blieb er stehen und drehte sich um.

„Was war denn das! Sollte das etwa der Widerschein vom Zimmer des Direktors sein, der sich da in den Scheiben spiegelte. Das war ja immerhin möglich.“ Aber als der alte Mann sich jetzt wieder zu dem Fabrikfenster zurückwandte, da war das Funkeln und Glitzern schon viel lebhafter geworden. Es sah aus, als ob dort im Raume jemand mit einem Lichte hantierte.

Der alte Nachtwächter bekam einen gehörigen Schreck.

Sollten dort etwa Einbrecher ihr Wesen treiben, Das wäre ja schrecklich. Mit zitternden Händen machte er seinen Revolver schußfertig und trat näher an das verdächtige Fenster heran

Gerade in dem Moment leuchtete es hell auf und dann schoß eine Flamme rotfunkelnd durch den Raum. Und nun wußte der Alte, was los war. Einbrecher waren es nicht. Aber ein anderer, ein viel gefährlicherer Feind, das Feuer, hatte sich dort eingeschlichen.

„Feuer! Feuer!“ schrie der Alte aus vollem Halse und rannte zu einem Feuermelder, der auf dem Werkhofe stand. Klirrend zerbrach die Scheibe und mit Gewalt drehte der Alte die Kurbel, die den Feueralarm in die nächste Feuerwache gab.

Und dann klirrte es wieder. Aber diesmal waren es die großen Glasscheiben des Montageschuppens, die da in der Hitze zersprangen. Und dann schlugen die Flammen züngelnd und lodernd aus den Fensteröffnungen und warfen ihr grelles Licht über den Werkhof.

Und dann stand der Direktor neben dem alten Wächter. Auf dessen ersten Schrei war er aufgesprungen und aus seinem Kontor auf den Hof geeilt. Ein Blick auf den Feuermelder zeigte ihm, daß der Alte bereits Alarm gegeben hatte.

In fieberhafter Hast riß der Fabrikherr jetzt ein Schlüsselbund aus der Tasche und stürmte auf einen Verschlag zu, der direkt neben dem brennenden Schuppen lag.

Der Schlüssel wollte nicht passen.

Da ergriff Herr Carsten, der sonst so ruhige und gesetzte Herr Carsten, eine schwere Zimmermannsaxt, die da vergessen auf dem Hofe lag. Mit wuchtigen Schlägen ließ er das Eisen gegen die Türhaspen sausen. Krachend schlug Metall auf Metall und dann neigte sich der schwere Torflügel und schlug zu Boden. Jetzt lag die Öffnung frei und im Scheine des begierig um sich greifenden Feuers wurden dort drei Wagen sichtbar. Drei schöne, glänzend lackierte und polierte Automobile. Jene neuen Wagen, mit denen der Herr des Werkes so zufrieden gewesen war, von denen er so viel für seine Zukunft erhoffte.

Im Augenblick war Carsten im Schuppen und stemmte sich gegen den ersten Wagen. Mit gewaltigem Schwung wollte er ihn in den Hof hinausstoßen.

Aber was sonst so leicht geht, ging diesmal nicht. Der kräftige Mann schob und arbeitete, daß ihm die Adern zu springen drohten. Kaum einen Fuß weit schaffte er das erste Fahrzeug von der Stelle, während ihm unaufhörlich die zwei Worte durch das Gehirn flatterten: Du mußt, Du mußt!

Minuten vergingen, bis ihm plötzlich die Idee kam: „die Bremsen sind ja angezogen.“

Mit einem Sprunge war Carsten auf dem Wagen. Ein Ruck an den Hebeln und die Bremsen waren gelöst. Von neuem ein Stoß gegen den Wagen und glatt und willig rollte das schmucke Fahrzeug auf den Hof hinaus.

Und dann drehte sich Carsten um und wollte das zweite holen. Aber da sah er ein einziges, loderndes Flammenmeer. Allzu kostbare Minuten hatte er verloren, während er versuchte das festgebremste Fahrzeug aus dem Schuppen zu stoßen.

Nur einen der neuen drei Wagen hatte er in Sicherheit bringen können. Seine Aussichten für den kommenden Wettkampf hatten sich im Verhältnis von drei zu eins verschlechtert.

Halb besinnungslos rollte er den einen Wagen über den Hof durch das Tor hinaus auf die Straße. Halb betäubt sah er, wie jetzt die Fahrzeuge der Feuerwehr mit Glockensignalen und lodernden Fackeln angestürmt kamen.

Und dann begann der Kampf zwischen den Menschen und dem gierigen Element. Zischend und fauchend warfen die Dampfpumpen mächtige Wasserstrahlen in das Feuermeer. Auf den Alarm „Mittelfeuer“ folgte bald Alarm „Großfeuer“. Von allen Seiten rückten die Dampfspritzen auch von anderen Brandwachen heran. Auch von der Spree her wurden Schlauchleitungen gelegt und aus einigen zwanzig Strahlrohren ergoß sich eine wahre Flut in die Flammen,

Aber das Feuer hatte allzu gute Nahrung. Benzin und Oel in gewaltigen Mengen. Und dann Holzwerk, welches vollkommen trocken war, allerlei Gummi und Lackfarben. Da konnte das Wasser lange nicht gegen das Feuer an. Stundenlang tobte der Kampf und in mächtigem Funkenflug wurde die Glut nach der Spree zu getragen, so daß die Wehren zu tun hatten, um den Brand auf das eine Werk zu beschränken.

Endlich stieg ein rotes kaltes Licht am Osthimmel empor. Die Frühlingsnacht ging ihrem Ende entgegen, und nun brach krachend ein, Dachstuhl nach dem anderen in sich zusammen, stürzte eine Fabrikhalle nach der anderen in Trümmern nieder. Und als die Dämmerung heller und immer heller wurde, als endlich die Sonnenscheibe über den Horizont stieg, da schien sie auf rauchende schwarze Trümmerhaufen, aus denen hier und dort noch einmal eine Flamme emporschlug. Sie schien auf allerlei verbogenes eisernes Bauwerk, auf geborstene Mauerreste, wo sich vor wenigen Stunden noch stolz und sicher das Carstensche Automobilwerk erhoben hatte, und sie schien endlich auf einen fröhlich blinkenden Kraftwagen, neben welchem bleich und übernächtigt der Herr des niedergebrannten Werkes, Herr Carl Carsten stand.

 

 

Kapitel 2.

Im Schwarzen Adler zu Brandenburg an der Havel saß eine fröhliche Gesellschaft an der langen Tafel. Würdige Stadtväter der alten Havelstadt, Industrielle und Offiziere. Obwohl es bereits bedenklich nach Mitternacht war, wollte keiner an den Aufbruch denken. Man saß zu gemütlich beisammen und tat dem guten alten Rotwein und dem Pfungstädter Bier des Wirtes alle Ehre an.

Als nun aber die alte Uhr zum Schlage ausholte und verkündete, daß die Geisterstunde vorüber wäre, da erhob sich einer der Herren mit kurzem Entschluß von seinem Platze. Es war der Rechtsanwalt Dr. Walter Borchardt aus Berlin, der seine schlanke, sehnige hohe Gestalt jetzt zur vollen Größe emporrichtete und sich mit der Rechten über den wohlgepflegten blonden Schnurrbart strich.

Von allen Seiten rief man ihm zu, daß er noch bleiben, daß er noch eine letzte Flasche von dem guten Rotwein mit den anderen leeren möge. Ja, der dicke Stadtrat hielt ihm ein frisch gefülltes Glas trinkfertig zum Munde. Aber Dr. Borchardt verbeugte sich ablehnend und sagte:

„Nein, meine Herren, ich danke Ihnen. Ich weiß genau, wieviel ich mir zumuten darf. Ich habe die Absicht, möglichst bald nach Berlin und ins Bett zu kommen, denn ich muß morgen früh um neun Uhr bereits einen Termin wahrnehmen — — — Pardon — ich meine natürlich heute früh um neun Uhr,“ verbesserte er sich, „Es ist ganz ausgeschlossen… tatsächlich, meine Herren, so reizend Ihre Gesellschaft war…

Stehen Sie auf, lieber Haake,“ wandte er sich an einen anderen jüngeren Herrn, der wenige Plätze von ihm entfernt saß. „Sie als glücklicher Rentier möchten natürlich am liebsten bis in den hellen Morgen hinein pokulieren.“

„Aber es ist ja sowieso gleich Morgen“, rief einer der Herren vom Kopfende der Tafel. „Warten Sie doch lieber ab, bis es hell ist, damit Ihnen mit Ihrer Benzinkarre bis Berlin nichts zustößt.“

„Seien Sie ohne Sorge, Doktor, meine Hand ist genau so sicher am Steuer, als wäre ich soeben frisch gestärkt aus meinem Morgenbad gekommen. Und dann — kenne ich ja so ziemlich diesen Katzensteg zwischen der großen Seestadt Brandenburg und der Ortschaft Preußisch-Berlin, so daß Sie darüber keine grauen Gedanken zu machen brauchen. Los Haake, wir fahren.“

Dr. Fritz Haake, Privatgelehrter, in der glücklichen Lage von seinen Renten zu leben und wie der Rechtsanwalt ein beginnender Dreißiger, erhob sich bedeutend schwerfälliger als der Rechtsanwalt von dem Platze und sandte einen langen, sehnsüchtigen Blick auf die stattliche Batterie von leeren und gefüllten Flaschen, welche die Tafel bedeckten.

Das war wieder einmal eine fröhliche Sitzung gewesen. Dr. Walter Borchardt hatte auf einer Automobiltour, von Magdeburg nach Berlin zurückkehrend, in Brandenburg alte Freunde getroffen. Leute, die dort Führer der kräftig aufblühenden Industrie waren. Er hatte sich im anziehenden Gespräch mit ihnen zusammengefunden und die Stunden waren darüber fast unbemerkt verflossen. Aus einer Flasche waren mehrere geworden. Aber man mußte es dem Rechtsanwalt lassen, daß er der bei weitem mäßigste in diesem Kreise gewesen war.

„Wenn ich meinen Wagen steuere, wenn vierzig Pferdekräfte von meinem Fingerdruck abhängig sind, bin ich für den Alkohol nicht zu haben,“ pflegte Dr. Borchardt zu sagen. Und so hatte er auch an diesem Abend im Laufe vieler Stunden kaum eine Flasche Wein getrunken, hatte es vielmehr gut verstanden, seinem Freunde Haake einzuschenken und selber vollkommen nüchtern zu bleiben. Und so konnte er wohl behaupten, daß er so frisch und nüchtern wie nur an irgend einem Morgen sei, während seine Umgebung sich in recht gehobener Stimmung befand.

Ein allgemeines Stuhlrücken und Händedrücken erfolgte. Die Kellner und der Piccolo brachten die Automobilmäntel, Kappen und Schutzbrillen, halfen diensteifrig dem Herrn Rechtsanwalt und dem Herrn Doktor Haake in ihre diversen Umhüllungen, da die Nacht trotz des vorangegangenen warmen Tages doch noch recht kalt war. Und dann begaben sich die beiden nach einem letzten Händedruck zu dem vor der Tür des Hotels bereits seit dem Nachmittag stehenden großen Tourenwagen, den der Rechtsanwalt als sportliebender Automobilist seit längerer Zeit sein Eigen nannte,

Die großen Scheinwerfer wurden von dem Rechtsanwalt und seinem Freunde erleuchtet, Hausknechte und Dienstmädchen des Hotels, die infolge der späten Herrengesellschaft noch im Gange waren, waren herbeigeeilt, um den für eine Kleinstadt immer noch aufregenden Vorfall einer Automobilfahrt gebührend zu bewundern. Dann setzte sich der Rechtsanwalt hinter das Steuer, zog die festen Lederhandschuhe an, während sein Freund den Motor ankurbelte.

Einmal — — zweimal — noch zündete der Magnet nicht — uff!

„Nochmals, Haake,“ kommandierte der Rechtsanwalt, und mit aller Kraft warf jener die Motorkurbel nochmals herum und dann ertönte das für das Herz jedes Automobilisten erfreuliche gleichmäßige Geräusch des anlaufenden Motors.

Jetzt sprang Haake von der Straßenseite her auf den Platz neben dem Führersitz und dann trat die weinfröhliche Herrengesellschaft aus dem hell erleuchteten Hotelflur, hielt weingefüllte Gläser in der Hand und hub mehr laut als schön an zu singen:

„Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus!“

Vom Automobil her schallte ein kräftiges „Gute Nacht!“

Ein lautes „Prosit, gute Fahrt, Autoheil!“, „Danke sehr, auf Wiedersehen, meine Herren!“ dann machte das Automobil einen Sprung nach vorwärts wie ein Hund, der den nächsten Knochen erhaschen will, noch einen Sprung und die Fahrt begann.

Noch mehrere Sekunden tönten den Automobilisten aus den sangesfrohen Kehlen ihrer guten Bekannten die letzten Töne nach — dann verklangen die Laute — die Stille des im tiefen Schlaf ruhenden idyllischen Havelstädtchens umfing sie.

Noch einige Gassen und Straßen mußte der Wagen in langsamem Tempo durchfahren — endlich war die Stadtgrenze erreicht — in weitem Halbgrau lagen die Felder zu beiden Seiten — nach links ein Wiederblinken des Himmels von den Havelfluten — ein hellerer Schein, und nun schaltete der Rechtsanwalt den schnellen Gang ein und gab volles Gas in den Motor. Der mächtige Wagen begann im Sechzigkilometer-Tempo nach Berlin zu rollen.

Schweigsam, fast mit dem Steuer in eins verwachsen, wie es seine Gewohnheit war, die Augen unentwegt scharf auf die Chaussee gerichtet, um ein etwaiges Hindernis in der Fahrtrichtung bei dem schnellen nächtlichen Tempo rechtzeitig wahrzunehmen, saß der Rechtsanwalt.

Sein Freund dagegen hatte die Hände in die Taschen des dicken englischen Ulsters vergraben und sich trotz der schnellen Fahrt eine letzte Zigarre angezündet.

Die stob oftmals bei dem starken Luftzug die Funken wie einen kleinen Sprühregen hinter sich. Einmal, als dieser Funkenregen sich zu stark ergoß, meinte der Rechtsanwalt:

„Haake, nehmen Sie den Glimmstengel fort. Sie wissen, daß man während der Fahrt nicht rauchen soll. Sie alter Seedampfer werden mir noch den Ulster und womöglich das Leder vom Wagen verbrennen.“

Der Angeredete schüttelte den Kopf.

„Nee, Doktor — den Genuß müssen Sie mir lassen. Sie wissen, ohne Tabak bin ich nur ein halber Mensch. Ich habe außerdem soviel von diesem guten Wein zu mir genommen, daß ich eigentlich nur noch liegend aufzubewahren bin. Wenn ich die Zigarre nicht im Munde behalte, bin ich bis Potsdam eingeschlafen.“

Der Rechtsanwalt brummelte irgend etwas, was Haake bei der schnellen Fahrt nicht verstehen konnte, und ließ das Tempo auf siebzig Kilometer steigen.

Taktmäßig trommelte der Motor — daneben war nur ein leichtes, hastiges Schlippen und Rollen der Pneumatiks auf dem Kies der Chaussee zu hören.

Und außerdem redeten die Bäume an der Landstraße. Schattenhaft sausten sie an dem Kraftwagen vorüber und husch! husch! sagte jeder Baum, der passiert wurde. Denn auch die Bäume gewinnen Sprache, sobald ein Kraftwagen mit mehr als sechzig Kilometer an ihnen vorbeieilt.

Das wußte der Rechtsanwalt schon lange und kümmerte sich wenig darum. Desto schärfer war sein Blick nach vorn gerichtet, denn er kannte die schlechte Angewohnheit der Werderschen Obstbauern, des Nachts mit unbeleuchteten Marktwagen nach Potsdam und Berlin hineinzufahren. Und der Rechtsanwalt Dr. Walter Borchardt hegte zwar den sehnlichen Wunsch, recht bald in sein Bett in seiner in der Grunewaldkolonie gelegenen Villa zu kommen. Aber er hegte daneben auch den brennenden und durchaus berechtigten Wunsch, jede Karambolage mit einem dieser unbeleuchteten Fahrzeuge zu vermeiden. Darum fuhr er zwar schnell, aber er spähte auch mit schärfster Aufmerksamkeit die Straße nach vorn, die von den mächtigen Lichtkegeln der Scheinwerfer über zweihundert Meter hin grell erleuchtet wurde.

Anders erging es dem Dr. Haake. In dem begann jetzt der gute Brandenburger Wein ein wenig zu rumoren und allerlei Gedanken durchkreuzten seinen Kopf.

Wie es wohl sein müßte, wenn dem Wagen bei diesem für eine nächtliche Fahrt immerhin recht scharfen Tempo ein Unfall zustieße.

Ob man da wohl während des Saltomortales mit dem Wagen Zeit genug habe, an irgend welche Rettung zu denken? Oder ob die Prozedur blitzschnell vor sich ginge? Ob man sich wohl den Kopf an einem dieser abscheulich dicken und drohend stehenden Chausseebäume bereits zerschellt hätte, bevor man es recht merkt?

Aber er fuhr ja neben Dr. Borchardt, den er schon seit Monaten auf weiten Tourenstrecken begleitet hatte und spürte bei diesem Gedanken ein Gefühl absoluter Sicherheit. Tatsächlich saß der Rechtsanwalt ja am Steuer, wie in einem Guß mit diesem verschmolzen. Und dann merkte Dr. Haake, daß er beinahe eingeschlafen wäre und schleunigst setzte er eine neue Zigarre an seinem schief niedergebrannten Stummel in Brand.

Jetzt kam Potsdam.

Tief verschlafen. So still, als ob die Stadt überhaupt noch niemals rechtes Leben besessen hätte.

Dr. Haake dachte an eine jener uralten, längst verlassenen Ruinenstädte von Ägypten und Babylonien, während der Wagen durch das Berliner Tor rollte.

Kein Laut, Nichts, gar nichts.

Selbst die Schildwachen, die hier und da in der militärreichen Stadt aufgestellt waren, erinnerten Haake mehr an die selige, köstliche Biedermeierzeit, als er an das moderne zwanzigste Jahrhundert.

Selbst der Nachtwächter schlief.

Kaum waren diese Gedanken durch sein Gehirn gezogen, so war der Wagen auch schon durch Potsdam hindurch und fuhr jetzt in geradem Ziel in den Grunewald hinein.

Der Morgenwind begann bereits aufzubrisen, und durch die hohen Wipfel der Föhren ging es wie das Rauschen einer Meeresbrandung.

Tiefes Dunkel hüllte die Waldchaussee ein, scharf biß sich das Licht des Scheinwerfers auf den Weg, die Kiefernstämme in dem Licht gespenstisch aufleuchten lassend.

Plötzlich sahen Haakes Augen auf der Chaussee weit vor sich ein Lichtpünktchen glimmen. Wahrscheinlich ein Bauernwagen, der zur Stadt fuhr. Die mußten ja um diese nachtschlafende Zeit bereits unterwegs sein. Außerdem war es mindestens drei Uhr morgens,

Auch der Rechtsanwalt faßte das Licht scharf ins Auge und sagte jetzt zu Haake, ohne den Kopf aus der Fahrtrichtung zu nehmen:

„Scheint ein Milchpantscher zu sein.“ Im nächsten Moment ließ er das weit hallende Hupensignal des Wagens ertönen, um möglichst ohne Aufenthalt an dem Hindernis vorbeizukommen.

Aber dann — unwillkürlich zog der Rechtsanwalt den Geschwindigkeitshebel zurück und mäßigte die Fahrt auf fünfzig, dann vierzig, dreißig und zwanzig Kilometer, und vor ihm das Licht vergrößerte sich von Meter zu Meter, und deutlich erkannten sie beide, daß es auf- und niedergeschwenkt wurde.

Das war nächtliches Notsignal. Dort war irgend etwas geschehen. Noch weiter fiel die Fahrt ab und jetzt sahen sie, wie sich aus der halben Dunkelheit dort auf der Landstraße in dem Licht ihres voreilenden Scheinwerfers, ein Automobil hervorschälte und wie irgend jemand von dem Automobil ihnen entgegengeeilt war und ihnen das Notsignal gab.

Jetzt hieß es kameradschaftlich beispringen.

„Halloh, was ist!“ rief der Rechtsanwalt, als er neben einem in Chauffeurtracht stehenden Menschen den Wagen bremste.

„Haben Sie ein Steppneyrad für uns zur Verfügung oder einen Mantel?“

„Welche Breite haben Sie?“

„Hundertundzwanzig Millimeter.“

„Hundertundzwanzig Millimeter?“

„Jawohl, Herr.“

„Da kann ich Ihnen mit einem Gummimantel aushelfen.“

Ein leises „Gott sei Dank“, der Rechtsanwalt stieg von seinem Führersitz und ging ein wenig stelzbeinig, wie ein Mensch, der eine längere Fahrt hinter sich hat, zu dem mehrere Meter entfernt stehenden Wagen, während Fritz Haake mit aller Gemütsruhe in dem Automobil sitzen blieb.

Aber er sah dem Rechtsanwalt nach und jetzt erweiterten sich seine Augen, der Rechtsanwalt legte militärisch salutierend die Hand an die fest auf dem Kopf sitzende Lederkappe und sagte bei der großen Nachtstille deutlich für Fritz Haake hörbar:

„Guten Morgen, meine Gnädigste. Ich höre von Ihrem Chauffeur, daß Ihnen ein Puneumatikdefekt zugestoßen ist.“

Dann eine jugendhelle, frische Damenstimme:

„Leider, mein Herr, Ich liege hier mit meinem Wagen bereits seit einer Stunde fest. Sie sind der erste, der mir zu Hilfe kommt.“

„Es soll mir ein Vergnügen sein, meine Gnädigste.“

Jetzt sprang Fritz Haake mit einem Satz von dem Automobil. Da war ein Abenteuer, eine Dame mitten im Walde. Und wenn er recht gehört hatte, so sprach sie sogar von ihrem Automobil.

Neugierig schob er, immer noch die Hände in den Taschen, dem Rechtsanwalt nach und sah, wie eine gleichfalls im Automobildreß befindliche Dame, deren Gesicht trotz der fest ansitzenden Automobilkappe bei dem ungewissen Lichte dennoch von großer Schönheit zeugte, zu dem Rechtsanwalt hinabstieg.

Weiter ließ Dr. Haake seine Blicke schweifen und in dem ungewissen Licht, welches die Scheinwerfer auch außerhalb der eigentlichen Lichtkegel verbreiteten, glaubte er eine zweite, ein wenig ältere, aber immerhin noch auffallend hübsche Dame im Fond des fremden Wagens sitzen zu sehen. Und dann sah er, wie sein Freund, der Doktor Borchardt an die Seite jener Dame trat, die da soeben ausgestiegen war. Und er sah weiter, wie die beiden ganz zwanglos zusammen an den Wagen des Rechtsanwalts traten und dort den Reservemantel losschnallten. Und dann schritten sie wieder so selbstverständlich, als ob sie sich bereits seit Jahren kannten, auf den fremden Wagen zu.

Nun begann der Chauffeur der Dame hier das schwierige und unangenehme Werk der Pneumatikmontage. Hilfreich hielt ihm der Rechtsanwalt dabei die Laterne.

Ohne ein wenig Schweiß und hier und da ein wenig Fluchen geht das Aufziehen solch eines schweren Pneumatikmantels in den seltensten Fällen ab. Dazu kam noch, daß der geliehene Mantel für die Radfelge des fremden Wagens ein wenig zu eng war. Dazu kam weiter die Schwierigkeit der Arbeit in der Nacht, wo bald dieses, bald jenes Werkzeug plötzlich wie in einem unergründlichen Abgrund in der Dunkelheit verschwunden ist und beim Scheine der Laterne erst wieder mühselig gesucht werden muß. Und dann das immer wieder vorkommende Abgleiten des Mantels.

Lange sah es Dr. Borchardt nicht mit an. Kurz entschlossen drückte er der Dame die Laterne in die Hand und griff selbst mit zu. Und zu zweit ging die Arbeit schon besser vom Fleck. Noch einmal ein kräftiger Schwung an den Montagehebeln und mit einem kräftigen Ruck sprang der Reifen in die Felge.

„Gott sei Dank!“ rief der Chauffeur und setzte erfreut die Luftpumpe in Tätigkeit.

Jetzt erst, während der Rechtsanwalt sich mit einem Benzinlappen die über und über beschmutzten Hände reinigte, warf er einen Blick auf den Wagen und sagte:

„Gnädigste haben einen wunderbaren Wagen. Ich kenne die Type nicht.“

„Es ist ein Österreicher, den ich fahre.“

„So, so sind Sie schon lange in Berlin?“

„Aber nein,“ lachte die Unbekannte. „Ich bin überhaupt noch nicht in Berlin gewesen. Ich bin mit meinem Wagen seit gestern morgen von Wien aus unterwegs. Ich habe mehrmals große Ruhepausen gemacht, da das Wetter bei Tage so schön war und habe mich aus dem Grunde versäumt, sonst hätte ich bereits gegen Abend in Berlin eintreffen müssen.“

Der Rechtsanwalt verbeugte sich verbindlich:

„Ein Vorzug, meine Gnädigste, den ich zu schätzen weiß.“

„Es ist ein furchtbares Gefühl in einer unbekannten Gegend mitten in der Nacht einen Defekt zu erleiden, für den man nicht gleich eine Reserve zur Hand hat. Es muß hier irgendwo scharfes Glas auf der Straße gelegen haben, das mir den Laufmantel durchbohrte, und dann spitze Steine, die das Unglück vergrößerten. Ich hatte fest darauf gerechnet, daß ich mit den mitgenommenen Reservemänteln bis Berlin langen würde.“

„Und, meine Gnädige,“ lachte der Rechtsanwalt, „wie es uns Automobilisten meistens geht — Sie haben sich verrechnet.

Doch nun, meine Gnädigste, wird es wohl Zeit zum Aufbruch. Ich bin nämlich nicht nur Automobilist, sondern habe noch eine kleine Nebenbeschäftigung. Ich muß mir als Rechtsanwalt mühselig mein bisschen Kaviar zum Butterbrot verdienen und für das Wohl und Wehe der Menschheit, namentlich für das letztere, fleißig arbeiten.

Sie werden gestatten, daß ich mich Ihnen empfehle und gleichzeitig die Vorstellung nachhole, die ich in der Eile der Arbeit vergaß. Ich bin der Rechtsanwalt Walter Borchardt.“

Eine dankende Verneigung ihres Kopfes, Fritz Haake schnellte aus dem Halbdunkel gleichfalls heran und sagte:

„Gestatten Sie, daß ich mich dem anschließe, meine Gnädigste, Schriftsteller Fritz Haake.“

Aber wenn die beiden Herren geglaubt hätten, daß sie nun in ebenso korrekter Weise den Namen der schönen unbekannten Automobilistin hören würden, einen Namen, der ihnen vielleicht einen Wegweiser zu einer Fortsetzung ihrer Bekanntschaft geben konnte, so irrten sie sich.

Allerdings stellte sie sich vor und nannte ihren Namen. Aber trotz der verbindlichen Verbeugung, die beide darauf machten, waren sie ebenso klug, als wie zuvor. Das Geräusch des Motors hatte den Namen übertönt.

Jetzt nahmen sie ihre Sitze auf dem Automobil ein und sahen noch, wie die Unbekannte gleichfalls sich ans Steuer setzte und ihr Chauffeur den Motor ankurbelte. Daß sie den Wagen selbst steuerte, imponierte dem Rechtsanwalt, so daß er zu Haake sagte:

„Scheint von kapitaler Rasse zu sein, führt den Wagen selbst. In diesen Wienerinnen liegt tatsächlich ein Schneid, wie man ihn sobald nicht wieder antrifft, Kurage! — Donnerwetter. Aber ich will nach Hause. Ich bin müde.“

Darauf Haake:

„Haben Sie übrigens ihren Namen verstanden?“

Geschwindigkeitshebel auf 60 Kilometer.

„Nee — haben Sie denn den nicht verstanden, Haake?“

„Ich denke gar nicht daran. Was ich da hörte, konnte alles mögliche bedeuten. Schien mir stark tschechisch zu klingen.“

Zündung für 70 Kilometer.

Der Rechtsanwalt blickte sich kurz und scharf um, sah hinter sich aus dem Dunkel wie zwei leuchtende gierige Augen das nachfolgende Automobil und — der Ehrgeiz packte ihn, sich nicht von dem österreichischen Wagen überholen zu lassen.

Gar für 80 Kilometer — knatternd trommelte der Motor, husch-husch-husch flogen die Bäume davon — jetzt die gefährliche Kurve, nun dieses Aufpassen, ob sie das Kurvenschild, das dort vom kaiserlichen Automobilklub aufgestellt war, sehen würde? Und als Warnung für sie ließ er mehrmals scharf die Hupe ertönen, Das mußte sie aufmerksam machen.

Ein dröhnender Hupenton vom Rücken — wollte sie ihm antworten, daß sie ihn verstanden? — wieder hallte der Orgelbaß seines Signals, nochmals und näher die Antwort der gellenden Trompetenhupe.

Jetzt war die Kurve genommen und dann — wieder ein hastiges Rucken des Kopfes des Rechtsanwaltes nach dem Rücken und unwillkürlich rissen seine Hände alle Hebel auf höchste Fahrt — der Österreicher war ganz dicht aufgerückt, Man konnte annehmen, er würde den vorderen Wagen in den nächsten Sekunden überholen.

Machte sie sich etwa ein Vergnügen daraus, ihm die Vorzüge ihres großen Tourenwagens zu zeigen? — Jetzt begann ein Rennen.

Sie wollte tatsächlich dem Rechtsanwalt ihre Fahrkunst zeigen. Mit voller Geschwindigkeit, trotz der gefährlichen nächtlichen Situation jagten die beiden Wagen die Grunewald-Chaussee hinunter. Seite an Seite.

Der Rechtsanwalt hatte die Empfindung, als berührten die Räder nicht mehr den Boden sondern glitten in sausendem Tempo auf einer steilen Ebene hinunter. Ganz fest mußte er sich auf dem Führersitz halten mit den Füßen gegen den Boden stemmen um nicht womöglich bei einem der scharfen Rucke, die der Wagen hier und da erhielt, über Bord zu fliegen.

Zu seiner linken Seite fuhr der fremde Wagen. Nur einen halben Meter vielleicht zurück und auch den schien er aufzuholen.

Mehr war dem Rechtsanwalt nicht möglich aus seinem Wagen herauszuholen, aber auch die Wienerin schien mit der letzten Kraft ihres Wagens zu fahren.

Jetzt kam Hundekehle — der Beginn der Kolonie Grunewald. — Schon begann es zu grauen und ein dämmerndes Gelb legte sich über den Himmel. Dort, wo die Hagenstraße von der Hauptchaussee abzweigt, mußte der Rechtsanwalt abbiegen.

Kaum hatte er seinen Wagen in die Straße hineingelenkt, so flog der andere Wagen an ihm vorüber auf Berlin zu.

Deutlich sah er in dem Morgengrauen, wie sie ihren Kopf für einen Moment ihm zuwandte — und machte sie sich etwa lustig über ihn? — Klang nicht ein spotthelles Lachen zu ihm hinüber?

Langsam fuhr er die Hagenstraße entlang und als er vor seiner Villa hielt, der schlaftrunkene Pförtner auf sein Hupensignal das Tor öffnete, sagte er: „Hören Sie mal, Haake, war es Ihnen nicht auch so, als ob die Österreicherin aus Dank für unsere Hilfe mich noch ausgelacht hat?“

„Gelacht hat sie,“ erwiderte Haake, „Unbedingt. Ich müßte mich höllisch täuschen. Wenn ich nur wüßte, wer sie ist.“

„Das werden wir schon ergründen. Irgendwie muß ich doch meinen Mantel wiederkriegen.“

„Kommen Sie ins Haus, nach Berlin kommen Sie ja um diese Zeit doch noch nicht, schlafen Sie bei mir auf einer Chaiselongue.“

„Angenommen! Ich ersuche Sie aber, lieber Doktor, daß Sie mich, wenn Sie morgen früh zu nachtschlafender Zeit nach Berlin fahren, nicht wecken. Mir tun von der Fahrerei sämtliche Knochen weh.“

Doktor Borchardt lachte; „Wir werden etwas schnell schlafen müssen, um die Zeit wieder einzuholen.“

Beide Herren betraten die Villa und in rationeller Weise auf ihre Ruhe bedacht, lagen sie eine Viertelstunde später in tiefem Schlummer.

* *

*

Im K.A.K,, wie die Abkürzung für den kaiserlichen Automobilklub zu Berlin lautet, wurden die letzten Besprechungen unter den Mitgliedern des Repräsentantenausschusses über das am nächsten Tage in den Krollschen Räumen stattfindende Wohltätigkeitsfest abgehalten,

Zu den Mitgliedern des Ausschusses gehörte auch der Rechtsanwalt Dr. Walter Borchardt. Er war unter den Klubmitgliedern eine äußerst beliebte und geachtete Persönlichkeit und außerdem als ein eingefleischter Automobilist bekannt.

Von Elternseite war er als einziger Sohn eines schlesischen Industriellen so gestellt, daß er nicht darauf angewiesen war, seinen Beruf als Broterwerb zu betreiben. Er konnte sich den Luxus gestatten, die Geschäfte tagelang seinem Sozius zu Überlassen und Automobilreisen zu unternehmen.

In seinem Bureau „Unter den Linden“ verkehrte nur ein vornehmes Publikum. Mit dreißig Jahren hatte er bei seiner Sportbestrebungen noch immer nicht die Zeit gefunden, sich auf die Brautschau zu begeben. Und da er die herkömmliche Art der Konvenienzehen haßte, war er noch unverehelicht.

Er spürte auch einstweilen gar kein Bedürfnis dazu, sich ohne tiefe Herzensneigung irgendwie zu binden sich vielleicht ohne solche den Luxus einer Lebensgefährtin zu leisten. Einstweilen sammelte er alte Porzellane und Gemälde und sein Heim war ein wahres Schmuckkästchen.

Über manche stille und einsame Stunde halfen ihm seine Sammlungen hinweg, weiter sein Sport und endlich sein gesunder Mutterwitz, der auch unangenehmen Dingen eine heitere Seite abgewann.

Die Vorstandssitzung war beendet, die Herren erhoben sich und gingen zwanglos plaudernd aus dem Konferenzzimmer in kleinen Gruppen in die Gesellschafts- und Empfangsräume, Spiel- und Lesezimmer des Klubhauses, um hier und da mit ihren Bekannten in intimen Zirkeln den Abend weiter zu verleben.

Es war selbstverständlich, daß sich bei den meisten dieser Gruppen das Gespräch um Automobilfragen drehte. Der Gast, der als Laie zum ersten mal einem solchen Abend beiwohnte, bekam mancherlei Technisches zu hören, von Kolben und Zylindern, von Zündungen und Vergasern. Auch auf die Dinge des täglichen Lebens wurde diese Sprache gelegentlich scherzhafterweise angewandt. Wenn man zum Beispiel vom kleinen Assessor X. sagte, daß seine Wechsel länger liefen als seine Automobile. Oder vom Grafen S., daß sein Mundwerk mal wieder starke Vorzündung hatte.

Rechtsanwalt Dr. Walter Borchardt hatte sich mit dem Sekretär des Klubs in eine stille Ecke gesetzt und ging mit ihm nochmals die Namensliste der eingeladenen Gäste durch. Die Namen, die auf dieser Liste verzeichnet waren, gehörten Personen an, die Nichtmitglieder des K.A.K. waren, die aber durch den Besitz eines Kraftwagens als zum Automobilismus gehörig anerkannt wurden und deren gesellschaftliche Stellung dem Range des Klubs entsprach.

In der Berliner Gesellschaft schätzte man die Einladungen des Klubs als hohe Auszeichnungen.

Mancher bemühte sich wohl vergeblich, hier Zutritt zu erhalten. Denn die Liste der Einladungen wurde sehr sorgfältig gesiebt und korrigiert, bevor endlich die großen weißen Karten mit dem breiten Goldrande hinausgingen,

Auch jetzt ging die Liste noch einmal durch die Hände der Vorstandsmitglieder und Dr. Walter Borchardt war soeben dabei, sie noch einmal durchzugehen. Eben jetzt stieß sein Auge auf zwei Zeilen der Liste: Herr von Gandern nebst Tochter, beide auf Schloß Oenfels.

Der Rechtsanwalt lehnte den Kopf in den Klubsessel zurück und bemühte sich, nachzudenken, woher ihm der Name so bekannt erschien.

Er mußte den Namen in letzter Zeit öfter gehört haben. Und jetzt fiel ihm auch ein, daß der Name gerade in letzter Zeit häufiger in den Tageszeitungen genannt worden war. Wie Schuppen fiel es ihm plötzlich von den Augen, daß ein Herr von Gandern ja als Führer auf dem österreichischen Eisenmarkt die Presse letzthin vielfach beschäftigt hatte. Und weiter kam ihm in die Erinnerung, daß der Name jener Dame, der er im Grunewald mit einem Pneumatikmantel ausgeholfen hatte, ganz ähnlich gelautet hatte.

Dr. Borchardt schloß einen Moment die Augen und begann die Daumen zu drehen.

„Allewetter! Das wäre ja ein wundersames Zusammentreffen, Die Tochter des Eisenkönigs und seine unbekannte Bekannte ein und dieselbe Person.“

Und wieder begann der Rechtsanwalt zu überlegen und zu kombinieren. Der Name jener Dame hatte sicher ganz ähnlich wie Gandern gelautet. Und aus Wien kam sie ebenfalls mit ihrem Vater. Der Sache mußte er auf den Grund gehen und er machte sich sogleich daran, den Entschluß in die Tat umzusetzen.

Langsam steuerte er zu einem der Spielzimmer, klopfte dort dem dicken Oberleutnant a. D. Freiherren von und zu Schlagwitz auf die Schultern:

„Hören Sie mal, lieber Freund — Sie sind doch nicht bloß mit aller Welt bekannt, Man munkelt doch auch, daß es in den beiden Weltstädten Berlin und Wien nur wenige Familien gibt, mit denen Sie nicht in irgend einer Art verwandt sind — sagen Sie mal, kennen Sie eine Familie von Gandern?“

Der Oberleutnant hörte nur mit halbem Ohr hin. Viel mehr interessierten ihn augenblicklich seine Karten. Bevor er eine Antwort gab, warf er einen Piquebuben auf den Tisch und machte ein Gesicht dazu, als würge er einen schlechten Cognac hinunter. Aber es nützte ihm alles nichts, der Piquebube konnte ihm das Spiel auch nicht mehr gewinnen und weiter hatte er nichts an der Hand.

Die buschigen Augenbrauen zusammenziehend, warf er auf den Rechtsanwalt einen unwilligen Blick:

„Was wollen Sie — mit wem soll ich mal wieder verwandt sein?“

„Ich frage, ob Sie einen Herrn von Gandern kennen,“

„Selbstverständlich, Borchardt — der Mann ist ja zur Zeit hier — was wünschen Sie von ihm?“

„Ich wollte gern Auskunft darüber haben, ob dieser Herr von Gandern der bekannte — — —“

„Eisenindustrielle. Ganz recht, lieber Doktor. Er ist es, der den Österreichern die Preise für die Schienen vorschreibt und dabei ein heidenmäßiges Geld verdient,“

„Kennen Sie ihn persönlich?“

„Wie heißt persönlich?“

„Ich meine, es würde mich interessieren,“

„Ach so! —“ langausgedehnt kamen die beiden Worte aus dem Munde des Oberleutnants und seine kleinen Augen zwinkerten den Rechtsanwalt verständnisvoll an. — „Sie meinen, wie viel seine Tochter mal mitbekommt.“

Doktor Borchardt fühlte sich von dieser Redeweise wenig erbaut. Er dachte in diesem Augenblick an einen Käfer, der lebendig auf eine Nadel gespießt wird.

Ganz verwirrt und absolut nicht mit seiner sonstigen kühlen Selbstbeherrschung erwiderte er:

„Erlauben Sie mal, Herr Oberleutnant, davon ist doch ganz und gar nicht die Rede gewesen,“

„Sagt Ihr alle, wenn es sich um die Wurscht handelt. Aber da Sie mein Freund sind, lieber Borchardt, so will ich Ihnen meine Weisheit nicht vorenthalten. So hören und vernehmen Sie denn, daß besagter von Gandern, der österreichische Eisenkönig, ein recht jovialer Herr ist. Ich hatte die Ehre, ihn in Ungarn auf der Jagd kennen zu lernen.

Er hat nur die sonderbare Marotte, daß seine Tochter, wenn sie heiratet, aus Liebe geehelicht werden soll und nicht ihrer Millionen wegen. Versuchte ihm das mal auszureden und ihm klar zu machen, daß sein Geld das beste Fundament für die Ehe seiner einzigen Tochter bedeutet — aber er wollte davon nichts wissen. Vor allen Dingen haben wir Herren vom Militär, die Herren des Zivils, Adels und sonstigen Gentleman also absolut keine Aussicht, mit seinen Millionen nähere Bekanntschaft zu machen. Der Mann, den seine Tochter wählt, der soll sie ihrem Luxusbedürfnis gemäß aus eigener Arbeitskraft erhalten können. Etwas kostspieliges Vergnügen, mein lieber Borchardt,“

„Danke sehr, mein lieber Oberleutnant.“

Während der Rechtsanwalt fortging, mischte der Oberleutnant von neuem die Karten und das Spiel wurde fortgesetzt.

Dr, Borchardt verließ den Klub, und ging langsam die Linden hinauf zum Café Bauer, wo er sich in eine stille Ecke setzte.

Soeben waren die Theater aus. An der Flut der Besucher in dem Café konnte man das sehr wohl merken.

Unmittelbar nach dem Eintritt des Rechtsanwalts kamen Dutzende von Besuchern. Frack oder Smoking unter dem Paletot und Damen mit leichten Shawls und Seiden-Toiletten, um hier im Café Bauer noch einen Mokka zu genießen, bevor sie nach Hause fuhren.

Dabei konnte man sich noch einmal sehen, konnte über das eben gesehene Stück eine Kritik austauschen und diese oder jene Verabredung mit Bekannten für den nächsten Tag treffen.

Doktor Borchardt hatte sich in der Nähe des Buffets auf einen Eckplatz gesetzt, von wo er ungestört das Getriebe beobachten konnte.

Das Glas Münchener, das er bestellt hatte, schmeckte ihm trotz der vorzüglichen Qualität nicht besonders.

Auch die Zigarre war ihm schon ausgegangen und er unterließ es jetzt, sie wieder anzuzünden. Seine Augen richteten sich fest auf die marmorne Tischplatte vor ihm und während er wie hypnotisiert auf die weiße Fläche schaute, begannen seine Gedanken zu spielen und sich zu ganzen Reihen und Schlußketten zusammenzusetzen.

Er geriet beinahe in Verwunderung darüber, wie eine flüchtige Bekanntschaft seine altbewährten Prinzipien so plötzlich und gründlich erschüttern konnte. Er machte sich beinahe Vorwürfe, daß er sich jetzt plötzlich derart für eine Dame interessiere. Er fragte sich wieder und immer wieder, wie er dazu komme, sich aus seiner gewohnten Ruhe und Behaglichkeit in den aufregenden Kampf um die Gunst und die Hand einer Frau zu stürzen.

War er denn überhaupt noch im Vollbesitze seiner früheren kühlen Überlegung und Überlegenheit? Stand er da nicht im Begriff, sich auf ein höchst gefährliches Gebiet zu begeben?

Und während das Bier vor ihm langsam den Schaum verlor und schal wurde, begann der Rechtsanwalt alle Einzelheiten zu überdenken.

Gewiß —! Seine Verhältnisse waren nicht ungünstig und gegen seine Persönlichkeit ließ sich kaum etwas einwenden. Er besaß ein Vermögen, welches ihn vor allen Wechselfällen des menschlichen Lebens so ziemlich sicherte. Er hatte es als Anwalt verstanden, sich eine gute und ansehnliche Praxis aufzubauen.

Wenn sich Dr. Borchardt in seinem eigenen Kreise umschaute, so konnte er, ohne dünkelhaft zu sein, recht wohl auf die errungenen Erfolge stolz sein.

Aber nun trat etwas neues in sein Leben.

Die Tochter eines der reichsten Männer Österreichs, von welcher der Oberleutnant sagte, daß der Vater ihre Hand nur einem Manne geben wolle, der fähig sei, sie mit ihrem nicht geringen Luxusbedürfnis durch eigene Arbeitskraft und eigenes Vermögen zu unterhalten.

„Pa!“

Der Rechtsanwalt stieß das kurze Wort so plötzlich und unvermutet aus, daß die Umsitzenden ihn erstaunt betrachteten.

Den österreichischen Eisenkönig hatte der dicke Oberleutnant den Vater genannt… Gewiß! Das mochte ein wenig übertrieben sein, Doktor Borchardt wußte, daß die österreichische Eisenindustrie nicht in der Hand eines einzigen ruhte. Er wußte, daß er es hier sicherlich nicht mit einem jener industriellen Giganten im Stile der Rockefeller oder Carnegie zu tun hatte.

Aber er wußte auch andererseits, daß Herr von Gandern die Produktion zahlreicher Bergwerke kontrollierte und daß das Vermögen dieses Mannes jedenfalls viel, viel größer war als sein eigenes.

Ja, wenn er, der Herr Dr. Borchardt, vielleicht in Deutschland Petroleumquellen fände oder neu: Berggerechtsame entdecken könnte, dann wäre es ihm am Ende leicht möglich gewesen, den hochgeschraubten Ansprüchen des Herrn von Gandern nachzukommen und dessen Tochter durch seine eigene Arbeitskraft zu unterhalten.

Aber jetzt! — — Was war da für ein gewaltiger Unterschied.

Er —, der Rechtsanwalt, hatte ernsthaft zu arbeiten.

Er mußte bereits um neun Uhr morgens auf den Berliner Gerichten Termine wahrnehmen. Er mußte nach den Sitzungen in seinem Bureau „Unter den Linden“ seine Klienten empfangen. Und wenn dann die Sprechstunde vorüber waren begann das Studium der Akten. Dann saß er oft noch bis tief in die Nacht über die umfangreichen Schriftstücke gebeugt, um die Prozesse zu studieren, Schwächen der Gegner zu entdecken und eine gute Verteidigung der eigenen Partei zu finden.

Das war das Leben eines arbeitsamen und arbeitsreichen Mannes, das wohl Befriedigung gewährte, aber doch ein Leben, in welches eine verwöhnte, nur dem Luxus und der Zerstreuung sich widmende Gattin schlecht hinein paßte.

Gewiß gestattete ihm sein Vermögen viele Freiheiten. Er konnte sich ein Automobil halten, konnte sich vertreten lassen und größere Reisen unternehmen. Aber alles in allem war sein Leben doch den größten Teil des Jahres hindurch der Arbeit gewidmet. Einer Arbeit, deren materiellen Ertrag er trotz seines Vermögens auch recht gut gebrauchen konnte.

Und in dieses in sich ausgeglichene harmonische Leben sollte am Ende eine Frau hineintreten, deren Launen und Luxusbedürfnisse jede Berechnung über den Haufen warfen!

Nein — er wollte die Sache nicht weiter verfolgen — — ein für allemal hieß es da Schluß machen und sich nicht mit einer Phantasie abgeben, für die er doch sonst als Mann der Realität Überhaupt nicht zu haben war.

„Ober, zahlen!“

Er warf ein Geldstück auf den Tisch und steuerte durch die dichte Menge dem Ausgange des Cafés zu.

Als er um den Springbrunnen, der sich in der Mitte des Cafés befand, herumging, hatte er plötzlich das Empfinden, als wären seine Füße am Boden festgewachsen.

Da — dicht — vor ihm, an dem kleinen runden Marmortisch drei Personen zwei Herren im Abenddreß und dabei eine Dame, welche ihn ebenso erstaunt betrachtete als er sie.

Die beiden Herren, welche ihr Gesellschaft leisteten, ein älterer Herr, ein Sechziger, und ein jüngerer, der ihm wohlbekannte Herr von Schlagwitz, bemerkten es erstaunt. Sie folgten der Richtung ihrer Blicke und sahen jetzt gleichfalls auf Dr. Borchardt.

Und jetzt wich das Erstaunen aus den Zügen der jungen Dame, ein schelmisches Lachen legte sich um ihren Mund und die Augen sandten dem Rechtsanwalt einen Gruß zu. Der nahm höflich den Zylinder vom Kopf, verbeugte sich und wollte weitergehen.

Da winkte sie mit der Hand.

Er blieb stehen.

„Darf ich Sie bitten, Herr Rechtsanwalt, einen Augenblick an unseren Tisch zu treten und meinen persönlichen Dank für Hilfe entgegenzunehmen?“

Warm überflutete es den Rechtsanwalt, als er ihrem Wunsche folgend zum Tisch trat und für einen Moment ihre schlanke Rechte in seiner breiten, etwas bärenhaften Hand hielt. Dann verbeugte er sich korrekt und sagte:

„Gnädiges Fräulein machen zu viel Aufhebens. Derselbe Unfall hätte mir zustoßen können und als Sportkameraden hätten Sie mir denselben Beistand geleistet.“

„Wer weiß,“ lachte sie, „die Frauen pflegen ziemlich selbstsüchtig zu sein, und wenn ich nur noch einen Reservepneumatik an Bord gehabt hätte, ich glaube, ich hätte den doch behalten. Aber vor allen Dingen entschuldigen Sie, meine Herren,“ sie wandte sich zu ihren Begleitern, „gestatten Sie, daß ich Sie miteinander bekannt mache: Herr Rechtsanwalt Dr. Borchardt, dessen Bekanntschaft ich gestern nacht gelegentlich einer kleinen Panne machte, und hier mein Vater, Herr von Gandern, und dort —“

Der Rechtsanwalt verbeugte sich und fügte hinzu:

„Herr von Schlagwitz.“

„Ah, die Herren kennen sich?“

Der Oberleutnant erwiderte die Verbeugung.

„Sehr wohl, meine Gnädigste, wir haben beide das Vergnügen, uns als Mitglieder des Kaiserlichen Automobilklubs bereits seit Jahren zu kennen,“

„Ich sehe, Herr Doktor,“ warf jetzt Herr von Gandern ein, „daß Sie auf dem Nachhauseweg begriffen sind. Darf ich Sie trotzdem bitten, unsere junge Bekanntschaft bei einem Glase Bier einzuweihen?“

Rechtsanwalt Borchardt nahm dankend an.

Wenige Minuten später saß er als Vierter an dem kleinen runden Marmortisch. Saß derjenigen, von der er sich soeben in Gedanken für die Zeit seines Lebens getrennt hatte, dicht gegenüber und fühlte sich ganz in ihrem Bann.

Erst eine Stunde später trennte man sich und nahm vor dem Café verschiedene Wagen. Vorher aber mußte Dr. Borchardt Fräulein von Gandern versprechen, sie an einem der nächsten Tage mit seinem Wagen abzuholen. Sie erklärte, daß sie sich für das Fabrikat interessiere und es kennen lernen wolle,

Sie sprach den Wunsch aus, eine Fahrt zu machen, bei welcher sie selbst am Steuer sitzen wolle. Und Dr. Borchardt versprach die Gewährung dieses Wunsches.

Als der Rechtsanwalt zum Grunewald hinausfuhr, lehnte er sich tief in die Kissen des Wagen zurück und bemühte sich noch einmal eine Richtschnur für seine zukünftigen Handlungen zu gewinnen.

Aber so sehr er sein Gehirn auch anstrengte, um einen Ausweg zu finden, so führten alle seine Gedanken immer wieder zu der schönen Österreicherin zurück.

Immer mehr sah er ein, daß es ein vergebliches Unterfangen sei, sich von ihrem Bilde loszureißen. Immer mehr kam er zur Überzeugung, daß er hier das große Glück gefunden habe, und daß er es auf jeden Fall in seinen Besitz bringen müsse.

* *

*

Herr von Gandern hatte eine herzliche Einladung an Kommerzienrat Carsten gerichtet, ihn doch auch in Berlin aufzusuchen. Als der Fabrikant nach jener Brandkatastrophe aus einem kurzen unruhigen Schlummer erwachte, fand er die Einladung in seinem Bureau.

Ein bitteres Lächeln glitt über seine Züge, als er die Einladung noch einmal überflog.

„Nun bin ich am Ende erledigt,“ sprach er zu sich selber, „Vor wenigen Tagen noch konnte ich als ehrlicher Mann um die Hand der Tochter dort werben. Heute käme ich leicht in den Ruf eines erbärmlichen Mitgiftjägers, wenn ich den Versuch wiederholen wollte.“

Und dann ging er an seine Toilette. Während er sich rein mechanisch ankleidete, arbeitete sein Gehirn ununterbrochen. Er überflog immer wieder seinen augenblicklichen Stand.

Gegen Feuer war er versichert gewesen. Das war ja am Ende ganz selbstverständlich. Aber er sagte sich auch, daß die Versicherungssumme den Wert der zerstörten Gegenstände nicht annähernd erreichte. Seit Jahren hatte er unaufhörlich weiter gebaut und die Police nur sehr wenig erhöht. Ein Geschäft war dieser Brand also ganz und gar nicht für ihn. Er überschlug, daß er von neuem viele Tausende aufbringen müsse, um nur überhaupt den alten Stand wieder zu erreichen. Und das Endergebnis seiner Überlegungen war, daß er fest und immer fester den Entschluß faßte, mit dem letzten Wagen, der ihm geblieben war, in das kommende Rennen zu gehen und es um jeden Preis zu gewinnen.

Und dann tat Herr Carsten die letzten Bürstenstriche und setzte sich den Hut auf, um die Ganderns aufzusuchen.

Es war wenige Minuten vor zwölf, als er in den großen Salon geführt wurde, in welchem Herr von Gandern im Hotel seine Gäste zu empfangen pflegte. Die Morgenblätter hatten die Nachricht von dem großen Fabrikbrande noch nicht bringen können, und die Mittagszeitungen waren noch nicht erschienen. So trat ihm Herr von Gandern fröhlich und unbefangen entgegen und auch Stephanie zeigte das harmlose Wesen früherer Tage. Höflich und freundlich wurde der Gast bewillkommnet und aufgefordert, Platz zu nehmen. Ein Gespräch kam bald in Gang und bewegte sich, wie es in der Natur der Sache lag, um die Zukunftsaussichten der Industrie und um die geplanten Beteiligungen an der großen Automobilkonkurrenz.

Bald aber fiel es der jungen Dame auf, daß der Direktor Carsten heute so ganz anders war als früher, daß seine Mienen ein Gepräge von Kummer und Verdruß und daneben wieder Fanatismus und Entschlossenheit zeigten.

Immer wieder überlegte sie, was die Ursache dieser Veränderung sein könnte, fragte sich, ob die Antwort, die sie auf die Werbung Carstens erteilt hatte, eine solche Veränderung hervorrufen konnte. Und sie begann ein wenig Mitleid mit dem Manne zu spüren, der offenbar so schwer an seinem Schicksal trug.

Um ihn zu trösten, lenkte sie das Gespräch auf seine eigenen erfolgreichen Arbeiten und sprach schließlich die Absicht aus, sein Werk zu besuchen und dort an Ort und Stelle das Werden und Entstehen der Kraftwagen zu beobachten.

Ein jähes Zucken, das über sein Gesicht ging, ein halbes Schließen seiner Augen ließ sie stutzen und verriet ihr, daß ihre Worte dem Manne da vor ihr einen tiefen Schmerz verursachten.

Ein bitteres Lächeln legte sich um seinen Mund und die Augen wieder voll auf sie richtend, sagte er:

„Mein liebes, gnädiges Fräulein — noch gestern hätte mich Ihr Wunsch mit größter Freude erfüllt. Ich wäre sicher gewesen, daß mein Lebenswerk, das ich aus eigener Kraft mit meinen eigenen Händen aus den kleinen Anfängen zu einem großen Unternehmen entwickelt habe, auch Sie erfreut hätte. Aber leider —“

Stephanie sah, daß es in den ihr so bekannten, stets fest und ruhig blickenden Augen des ruhig stehenden Mannes zuckte und er Mühe hatte, sich zu beherrschen.

Sie legte unwillkürlich die Hand auf seinen Arm:

„Sie erschrecken mich, Herr Carsten, um was handelt es sich?“

In diesem Augenblick klopfte es und der Zimmerkellner brachte die Mittagszeitungen.

Rein mechanisch ließ Stephanie ihre Blicke über eins der Blätter gleiten. Da stand es in großen fetten Lettern: Riesenbrand im Nordwesten. Die Carstensche Automobilfabrik vollkommen vernichtet.

Erschrocken ließ sie das Blatt zu Boden fallen.

„Das ist ja furchtbar, Herr Carsten.“

Sie sah ihn mit flammenden Augen an, das Mitleid, das in jedem Frauenherzen schlummert, regte sich. Da er nichts sagte, fragte sie:

„Sind Sie gegen den Schaden versichert?“

Er schüttelte den Kopf.

„Um die hohe Versicherungsprämie zu sparen habe ich mich nur zum Teil gegen den Schaden gedeckt.“

„Aber das ist ja furchtbar.“

„Ich werde wieder von neuem anfangen müssen.“

Während dieser Zwiesprache hatte auch Herr von Gandern die Zeitung überflogen. Auch er war von der Größe des Unglücks betroffen. Aber dann erhob er sich und gab Carsten Worte des Trostes. Nicht inhaltsleere Worte, die ein Unglück bedauern und im übrigen um die Sache herumgehen.

Herr von Gandern war zeitlebens ein Mann der Tat gewesen und kam auch bei seiner Tröstung schnell auf den Kern der Sache. Er bot Carsten sofort finanzielle Unterstützung an und er motivierte das Angebot so treffend, daß es nicht wie eine Unterstützung aussah, sondern wie ein gutes Geschäft, welches Herr von Gandern machen wollte.

Aber der Fabrikherr wies dies Angebot mit aller Freundlichkeit, doch auch mit aller Entschiedenheit zurück,

„Ich bin von jeher gewohnt gewesen, mich auf meine eigene Kraft zu verlassen,“ meinte er, „und habe das auch heute als vierzigjähriger Mann nicht verlernt.

Aber meine Situation hat sich in einer Stunde von Grund auf geändert, und ich hielt mich für verpflichtet, Ihnen davon Mitteilung zu machen. Und dann habe ich noch eine Bitte an Sie zu richten, eine andere freilich als damals.“

„Und welche Bitte ist das?“

In diesem Augenblick wußte Stephanie von Gandern wirklich nicht, was der vor ihr stehende, so schwer vom Unglück getroffene Mann von ihr wünschte.

Doch schon fuhr der Fabrikherr fort:

„Sehen Sie, mein liebes, gnädiges Fräulein, Sie werden hier von der besten Gesellschaft umworben sein. Sie werden vielleicht kaum Zeit finden, sich an den Mann zu erinnern, der sich einmal so große Hoffnungen auf Ihre Hand gemacht hat und der nun von der Stellung, die ihm Arbeit und Vermögen bisher gaben, so tief gesunken ist.

Jetzt heißt es für mich, wieder von neuem anfangen. Und da möchte ich Sie bitten, denken Sie nicht an die äußeren Umstände, sondern nur an den Mann. Und gestatten Sie diesem Manne, wenn es ihm gelingen sollte, sich wieder emporzuarbeiten, und wenn Ihre Hand dann noch frei ist, seine Werbung von neuem vorzubringen.“

Bewegt hatte Stephanie diesen Worten zugehört.

„Aber ich bitte Sie, Herr Carsten. Ihre Rede müßte mich beleidigen, wenn ich nicht wüßte, daß Sie sich augenblicklich in einer tiefen Gemütsdepression befinden.

Ich frage gar nicht danach, ob Sie ein Milliardär oder ein armer Mann sind. Sie wissen, daß ich selbst vermögend genug bin, um auf das, was mein Gatte besitzt, Verzicht leisten zu können.

Hier haben Sie meine Hand, Herr Carsten, und auf frohes Wiedersehen! — Und sollte ich Sie selbst im schmutzigsten Arbeitskittel wiederfinden, so werden Sie mir doch derselbe liebe Freund sein.“

Ein fester Druck seiner Hand bewies ihr, wie wohl ihm diese Worte getan hatten. Er beugte sich tief über die ihm gereichte Hand und küßte sie.

„Sie haben mir den ersten Sonnenschein gebracht und in diesem Sonnenschein werde ich von neuem an die Arbeit geben. Ich habe den festen Glauben, daß ich von neuem das stolze Werk richten werde, das einem tückischen Elemente in einer Nacht zum Opfer gefallen ist. Auf ein frohes Wiedersehen?! —“

Noch einen festen Händedruck tauschten sie miteinander und jetzt kam eine Sekunde der Schwäche über Stephanie. Für einige Sekunden, während sie sich noch gegenüberstanden, kam ihr ein plötzlich aufflackernder Gedanke:

„Richte den Mann vollends auf! Sage ihm, daß Du ihn in seinem Charakter hoch schätzt und verehrst! Daß Du in diesem Vertrauen auf das, das die Dichter so hoch und herrlich preisen, auf die Liebe, vorläufig gern Verzicht leistest, sage ihm, daß Du ihm Deine Hand gibst und mache den Mann glücklich.“

Und Carsten hätte in diesen stummen Sekunden nur mit seinen Augen nochmals eine stumme Bitte zu wiederholen brauchen und sie wäre bedingungslos von ihrer Seite erfüllt worden.

Aber dazu besaß er viel zu viel Stolz. Er dachte nicht daran in diesem Moment, da er wieder am Anfang seiner Laufbahn stand, da er noch nicht einmal wußte, wie tief sein Sturz sei, eine Werbung um die Hand einer Frau vorzubringen.

Seine breitschultrige Gestalt zusammenraffend, machte er eine letzte Verbeugung und empfahl sich dann den Ganderns.

Sein Weg führte ihn in die Fabrik zurück, über Trümmer und qualmende Reste zu den wenigen Räumen, die der Brand verschont hatte. Hier ließ er sich nieder und rief seine Buchhalter, seine Korrespondenten und sein anderes Bureaupersonal an die Arbeit.

Es wurde Nachmittag und Abend. Und dann brach die Nacht herein. Als aber der Morgen begann, da war die kaufmännische Leitung der durch Feuer völlig zerstörten Fabrik wieder in Ordnung. Der Feldherr lag nicht auf dem Kampfplatz, sondern begann seine Truppen zur neuen Schlacht zu formieren.

Carsten wußte, daß man so ziemlich jedes Ding auf dieser Welt durchsetzen kann, wenn man den nötigen Energieaufwand dahinter setzt. Und das tat er. Mit jener Zähigkeit und Tatkraft, die ihm schon so manchen Erfolg gebracht hatte, ging er an die neue Aufgabe.

Bereits drei Tage später hatte er mit Zuhilfenahme aller seiner flüssigen Mittel und Aufnahme eines größeren Bankkredits Maurer und Zimmerleute an der Arbeit, um die Gebäude so schnell wie möglich wieder aufzurichten.

Dann und wann kam ihm in seinen arbeitsreichen und schweren Tagen der Gedanke an Stephanie von Gandern.

Wie ein mächtiger Impuls trieb ihn der Wunsch vorwärts, ihr recht bald zu zeigen, wieweit er bereits mit dem neuen Aufbau vorgeschritten sei.

Er freute sich auf die Stunde, da er ihr die neue Fabrik schon wieder in vollem Betriebe zeigen könnte. Dieser Gedanke trieb ihn zu den Handwerkern. Unablässig feuerte er sie an, ließ mit Nachtschichten arbeiten und das, was tatsächlich niemand für möglich gehalten hätte, wurde Tatsache.

Acht Wochen nach jenem Brande standen die neuen Gebäude. Und während oben noch die Dachdecker an der Arbeit waren, liefen unten bereits wieder die Maschinen. Während Maler und Tapezierer erst allmählich den Neubau wohnlich wachten, standen die Schmiede und Schlosser bereits wieder an Amboß und Schraubstock, begann, wenn auch zuerst nur bescheiden, von neuem die Arbeit.

Carsten aber gab am Tage der Wiedereröffnung seinen Arbeitern einen Extraschmaus. Er hoffte, daß auch er bald eine Belohnung für diese Arbeit erhalten würde.

 

 

Kapitel 3.

Die Frühjahrssaison in Berlin bietet wohl mehr Reize, als irgend eine der anderen Jahreszeiten, Und die oberen Zehntausend verstehen solche Schönheit zu genießen.

Da sproßt und grünt es schon Überall. Der Tiergarten und der Grunewald geben Gelegenheiten zu wundervollen Spaziergängen und Ausflügen. An schönen Tagen ziehen die weißen Sterndampfer bereits über die blaue Havel dahin. Daneben aber sind die Vergnügungen des Winters noch nicht aufgegeben.

Man kann am Nachmittage auf der neuen schönen Grunewaldrennbahn bei köstlichem Frühlingswetter den Rennen beiwohnen und kann des Abends in Frack oder Smoking das Theater genießen oder die Salons aufsuchen.

Im Berliner Frühling treffen sich gewissermaßen zwei Jahreszeiten und bestehen eine Zeitlang nebeneinander. Das glänzende Publikum von Berlin W., welches dem gesellschaftlichen Leben so viel Glanz verleiht, weilt noch in der Hauptstadt und der Strom des Vergnügens und der Unterhaltungen fließt kräftig dahin.

Herr von Gandern ließ den Reiz dieser Jahreszeit voll auf sich wirken. Er hatte in einem der großen vornehmen Lindenhotels eine ganze Zimmerflucht für sich und seine Tochter gemietet. Alle Bequemlichkeiten, aller Luxus, den die moderne Technik für vornehme und wohlhabende Reisende geschaffen hat, standen ihm zur Verfügung. In der Hotelgarage hatte er zwei eigene Automobile und die Dienerschaft des Schlosses Oenfels umgab ihn hier ebenso wie in seinem Heim, Telephon und Telegraph auf seinem Schreibtisch gestatteten ihm, von hier aus seine Geschäfte ebenso schnell und sicher zu dirigieren, wie von Schloß Oenfels aus.

Sein Gold war der Wunderschlüssel, der ihm alles das, was Menschengeist nur an Komfort bieten konnte, gab.

Aber er war trotz alledem ebenso wie seine Tochter im Grunde seines Herzens durchaus bescheiden.

Wenn er in den sogenannten Fürstenzimmern des Hotels logierte, so tat er es gezwungenermaßen, seiner gesellschaftlichen Stellung halber. Reichtum verpflichtet ebenso wie Adel.

An diesem Nachmittag, während Stephanie von Gandern mit Dr. Borchardt eine Automobilfahrt in dessen Wagen zu den Havelseen machte, war er zur Grunewaldrennbahn gefahren, um dort als alter Sportsmann und Pferdeliebhaber den Nachmittag zu verbringen.

Doch während er dort eifrig die Rennen verfolgte, wanderten seine Gedanken zu seiner Tochter. Immer wieder kam ihm der Gedanke, daß dieser Ausflug nicht einer vorübergehenden Laune entsprach, sondern daß da allem Anschein nach eine Stimmung zu Grunde lag, die — — —

Ein leises „Donnerwetten“ entfuhr seinem Munde, weil der Rittmeister von Aberkron soeben im Finish einen Sturz erlitten, der ihm, dem Herrn von Gandern, einiges Geld kostete.

Hatte dieser Aberkron ein Pech!

Na und schließlich war das vorauszusehen gewesen.

Mit gleichgültiger Miene ging er über den Sattelplatz, beobachtete die Pferde des nächsten Rennens und setzte sich dann auf einen der Tribünenplätze, da ihm das Stehen auf die Dauer beschwerlich wurde.

Und hier begannen wieder seine Gedanken mit der Person des Rechtsanwalts zu beschäftigen.

Auf jeden Fall wollte er sich schon morgen eine möglichst eingehende Auskunft verschaffen. Denn so ganz unvorbereitet pflegte er als Geschäftsmann den Ereignissen, die er auch nur zu ahnen glaubte, nicht entgegen zu treten.

Da war also am Ende Carsten, der ihm wirklich ein lieber Freund war, in seiner Bewerbung von einem ihm bis dahin völlig unbekannten Menschen zum mindesten bedroht, wenn nicht gar aus dem Felde geschlagen.

Denn dazu kannte er seine Tochter Stephanie zu genau.

Die war von demselben Schlag wie er.

Hatte sie einmal für irgend etwas eine Vorliebe gefaßt, so blieb das nicht oberflächlich. Er wußte, daß Stephanie alle Dinge mit Energie und Leidenschaft betrieb und daß sie so leicht nichts davon abbringen konnte, für einen Wunsch auch die Verwirklichung zu erstreben.

Merkwürdig!

Der alte Herr schüttelte so energisch den Kopf, daß sich die Umsitzenden über ihn wunderten.

„Eine tolle Welt. Da laufen die Menschen im bunten Gewimmel durcheinander wie die Ameisen im Ameisenhaufen.

In dieser Sekunde noch kennt einer den andern nicht. Und in der nächsten schon schleudert das Schicksal die Würfel, sind die Lose zweier Menschen eng mit einander verbunden, in Liebe oder in Haß verkettet.“

Das Glockenzeichen zum neuen Start unterbrach die Philosophien des Herrn von Gandern. Aber der alte Herr hatte plötzlich den Geschmack am Sport verloren.

Sobald dies Rennen zu Ende war, verließ er die Bahn und kehrte in das Hotel zurück, um seine Tochter zu sprechen, sobald sie zurückkäme.

Sie kamen fast zu gleicher Zeit an.

Stephanie von Gandern mit von der Fahrt frisch geröteten Wangen, blitzenden Augen, in denen noch das Entzücken über die köstlichen Naturwunder, die die Havelseen im Frühlinge bieten, erglänzte.

Der Vater beobachtete sie scharf.

In einer solchen frohen Stimmung, so glücklich hatte er seine Tochter seit langem nicht gesehen. Das war für ihn gewissermaßen das Taxometer, das ihm den Stand der Dinge deutlich kennzeichnete.

„Du wunderst Dich wahrscheinlich,“ begann er das Gespräch in dem kleinen Teesalon, wo sie sich den Nachmittagstee servieren ließen, „daß ich bereits von der Rennbahn zurück bin. Aber da Du am Abend mit Frau Dr. Gartner, die mit dem Neunuhrzuge aus Wien kommt, zusammen bist, so habe ich das sportliche Vergnügen beiseite gesteckt und wollte mit Dir etwas plaudern.“

„Das ist reizend von Dir, Papa, denn ich ärgerte mich schon im stillen, die Stunden bis zum Abend allein verbringen zu müssen. Doktor Borchardt mußte ja noch in sein Bureau, um zu arbeiten. Da durfte ich ihn natürlich nicht abhalten.“

„Und es wäre Dir lieber gewesen, wenn Doktor Borchardt nicht in sein Bureau gegangen wäre?“

Im nächsten Moment wechselten beide einen prüfenden Blick.

Dann lachte Stephanie fröhlich auf.

„Nein, Papa — was Du Dir denkst, das ist vorläufig noch nicht der Fall.“

„Du sagst vorläufig, Stephanie — so hatte ich doch nicht ganz Unrecht mit einer Frage in diesem Sinne.“

Stephanie rührte mit dem kleinen silbernen Teelöffel in ihrer Tasse und der Vater sah deutlich, wie sie verlegen wurde.

„Mein Gott — Papa! —, einmal würde ich ja doch in jedem Falle vor die Wahl gestellt werden, ob ich eine alte Jungfer oder die Gattin eines Mannes werden will. Du weißt wohl, Papa, daß meine Freunde und Bekannten in Wien mich gelegentlich eine kalte und unangenehme Person nannten, weil ich so wenig Herrengesellschaft liebte, und ich selbst habe mir oftmals in stillen Stunden die Frage vorgelegt: Woran liegt es, daß du dich so wenig für Männer interessierst Die Antwort auf diese Frage, die, Papa, habe ich hier in Berlin gefunden.“

„Du gestattest, daß ich rauche, Stephanie?“

„Ich bitte darum, Papa. Ich werde mir auch eine Zigarette anbrennen.“

Herr von Gandern nahm eine seiner schweren Havannazigarren, zündete sie an und lehnte sich behaglich in den Korbsessel zurück, so daß sein Kopf auf dem Kissen ruhte. Dann sagte er in die fortziehenden Rauchwolken hinein:

„Auf dieses Resultat bin ich tatsächlich so gespannt, wie selten auf irgend etwas.“

Stephanie, die in einem Schaukelstuhl lag, wippte denselben leise auf und ab, so daß jedesmal die kleine zierliche Spitze ihres Pariser Lackstiefels sichtbar wurde.

„Das Resultat ist sehr einfach, Papa. — Ich habe bisher noch keine echten Männer kennen gelernt. Die beiden einzigen, die mir bisher auf meinem ganzen Lebenswege entgegengetreten sind, das sind erstens Dein Freund Carsten und dann nun ja eben jener Rechtsanwalt Borchardt.“

„Daß der letztere besonderen Eindruck auf Dich gemacht hat, habe ich beobachtet.“

Stephanie blickte zum Fenster und wies mit der Hand hinaus.

„Dort drüben im Hause auf der anderen Seite in der zweiten Etage liegen seine Bureaus. Wir sind also Nachbarn.“

Herr von Gandern folgte der angedeuteten Richtung, tat dann aber so, als ob es ihn nicht weiter interessiere.

„Wenn Dir mein Freund Carsten als Mann imponiert hat, so wundert es mich wirklich, daß Du seine Werbung ausgeschlagen hast.“

„Wer sagt denn das, Papa?“

Herr von Gandern riß die Augen auf und stieß vor Erstaunen über diese Antwort eine dicke Rauchwolke in die Luft.

„Wer?“

Stephanie wippte weiter mit dem Schaukelstuhl.

„Nun ja, ich doch etwa nicht, Papa. Ich habe seine Werbung doch nicht abschlägig beschieden.“

„Nun erlaube mal —!“

„Aber inwiefern, Papa?“

„Du hast mir doch klar und deutlich erklärt, daß Du ihn nicht heiraten willst.“

„Das habe ich nicht erklärt, sondern ich habe Dir dasselbe geantwortet, was ich Herrn Carsten sagte, daß ich mir vorläufig noch die Antwort vorbehalte. Daß ich mir meine volle Freiheit vorläufig wahre.“

„Allerdings, jetzt erinnere ich mich erst wieder. Aber da scheint ja nun dieser Rechtsanwalt Doktor… er ist ja wohl Doktor?“

„Jawohl, Papa, Doktor juris und er war Gerichtsassessor, bevor er Rechtsanwalt wurde.

„So, so — nun ist also dieser Rechtsanwalt in die Erscheinung getreten und ich fürchte, der hat meinem Freunde Carsten einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht.“

„Auch das trifft nicht zu, Papa!“

„Aber Stephanie…!“

„Papa! Du irrst Dich wirklich. Ich fühle für den Herrn Carsten genau dieselbe Sympathie, wie für den Rechtsanwalt.“

Herr von Gandern strich nachdenklich die Asche von seiner Zigarre ab.

„Nun, das ist ja jedenfalls ein recht hübscher Erfolg für den Herrn Doktor juris, den Du kaum so viele Tage kennst, wie Carsten Monate. Wenn die Entwickelung so weiter geht, so ist mir der Ausgang nicht zweifelhaft.“

Jetzt errötete Stephanie und warf unmutig ihre Zigarette in den Aschbecher.

„Du irrst Dich immer noch, Papa. Du weißt, ich bin bisher in Deinen Anschauungen erzogen worden, in Anschauungen, nach denen es für eine rechte Ehe genügt, wenn man sich als treue Kameraden gegenseitig versteht, wenn beide Teile sich achten, ehren und schätzen.

Und hierin haben meine Anschauungen allerdings plötzlich einen Wandel erfahren.

Ich will einen Mann haben, der mich liebt und den ich liebe.“

Herr von Gandern pfiff durch die Zähne und lachte spöttisch. Aber das brachte Stephanie erst recht in Harnisch.

„Denke Dir nun einmal,“ fuhr sie eifrig fort, „Frau Gartner gibt mir völlig recht.“

„Laß mich mit Frau Gartner.“

„Aber warum, Papas Sie lebt sehr glücklich mit ihrem Mann. Beide sind derartig in einander verliebt, daß sie die augenblickliche Trennung ungeheuer schwer empfinden. Du solltest nur einmal die Briefe lesen, die sie sich gegenseitig schreiben. Ich sage Dir, Papa, schöner vermag ein Dichter nicht über die Liebe zu schreiben, und dabei sind die beiden doch schon mehrere Jahre verheiratet,“

„Das wird sich alles noch legen, Stephanie.“

„Möglich, Papa, Aber dann werden die beiden die köstlichen Jahre, die sie miteinander in so wundersamer Liebe verlebt haben, nie vergessen. Und wenn wirklich das einmal eintritt, Papa, was Du sagst, die Gleichgültigkeit nämlich, so wird die Erinnerung an diese Jahre für ihr ganzes Leben immer wieder sonnigen Reichtum geben.

Schau, Papa, als ich Briefe las, da packte es mich, da sagte ich mir, Du bist wenn Du so wie ein Kaufmann ein Geschäft mit einem, Dich einem Mann verschreibst, und deshalb habe ich beschlossen, mir dem Manne meine Hand zu reichen, für den ich so fühle, wie meine Freundin für ihren Mann. Und nun will ich Dich noch etwas fragen, Papa: Hast Du nicht mit Mama viele Jahre glücklich in Liebe verlebt?“

Das war der wunde Punkt, an dem Herr von Gandern getroffen werden konnte.

Er hatte sehr glücklich gelebt. Er hatte seine Frau förmlich vergöttert in seiner Liebe.

„Du weißt das doch am besten, Stephanie. Mama wird es Dir oft erzählt haben.“

„Ja, Papa — und weshalb hast Du mich in anderen Anschauungen erzogen?“

„Weil mit der Leidenschaft, von der Du jetzt sprichst, nur wenige Menschen das große Los, ja, überhaupt nur ein glückliches Los ziehen, Weil allzu oft nur das gerade Gegenteil des erhofften Glückes erreicht wird.“

„Nun, Papa, ich will aber die Hoffnung auf jenes große Los noch nicht aufgeben, auf jenes große Los, welches nur der wirklichen Liebe beschieden ist. Und vorläufig haben die beiden Herren, Dein Freund Carsten und Doktor Borchardt, ganz gleiche Aussichten bei mir. Einstweilen sind mir beide nur gute Freunde und alles weitere muß der Zukunft vorbehalten bleiben.“

Herr von Gandern erhob sich und streifte die Asche seiner Zigarre ab.

„Eine merkwürdige Lebensanschauung, die Du Dir aufbaust. Hoffentlich endet sie nicht so, daß Du überhaupt nicht weißt, für welchen der beiden Bewerber Du Dich entscheiden sollst.“

 

 

Kapitel 4.

Herr von Gandern war nicht der Mann, der die Dinge willenlos an sich herankommen ließ. Seit reichlich 14 Tagen war nun dieser Herr Dr. Borchardt in sein Gesichtsfeld getreten und hatte, darüber konnte sich Herr von Gandern auch keinen Täuschungen mehr hingeben, auf seine Tochter entschieden Eindruck gemacht.

Der Großindustrielle beschloß daher, dasjenige zu tun, was ein ordentlicher Kaufmann bei der Eingehung irgend einer neuen Verbindung immer tun soll. Er holte zunächst einmal eine Auskunft über den Rechtsanwalt ein.

Und diese Auskunft lag nun vor ihm. Eine Spezialauskunft, die sich auf das eingehendste mit dem Rechtsanwalt befaßte, die in gleicher Weise über seine moralischen, wie über seine wirtschaftlichen Qualitäten Bericht gab und in manchen Dingen vielleicht mehr wußte, als der Doktor selber.

Aber diese Auskunft war gut. Sie enthielt nirgends auch nur die Spur eines Tadels, wußte nur Lobenswertes mitzuteilen.

Mit gemischten Gefühlen blickte Herr von Gandern auf das Papier. Einerseits mußte es ihm natürlich angenehm sein, daß der Mann jetzt zu seiner näheren Bekanntschaft gehörte, so über jeden Zweifel erhaben dastand. Andererseits verlor er durch diese Auskunft aber jedes Mittel, jede Berechtigung, die Werbung seines Freundes Carsten auf Kosten des Rechtsanwalts irgendwie zu unterstützen.

Mit einem leichten Seufzer verschloß er die Auskunft in seinem Schreibtisch.

„Armer Kerl!“ murmelte er dabei vor sich hin. „Du wirst es, weiß Gott, nicht leicht haben, wenn Du überhaupt noch Erfolg hast!“

Herr von Gandern war es gewohnt, treue Freundschaft zu halten. Und wenn er natürlich das Lebensglück seiner einzigen Tochter über alles stellte, so hätte er doch gerade dem tüchtigen Manne, der ihm hier in der Person Carstens entgegengetreten war, den Erfolg gegönnt.

Mit welch beispielloser Zähigkeit und Arbeitskraft hatte Carsten seine Fabrik in wenigen Monaten wieder in Betrieb gebracht. Er hatte sich die notwendigen Mittel irgendwie und irgendwo verschafft, ohne darüber in der Gegenwart des Herrn von Gandern überhaupt nur ein Wort zu verlieren. Seine Freunde sahen nur den Erfolg seiner Arbeit, Sie sahen, daß anstelle der schwarzen Brandruinen wieder schmucke Fabrikgebäude standen, daß die Arbeiter jeden Morgen in hellen Scharen in das neuerrichtete Werk strömten und daß die Maschinen liefen, daß neue Kraftwagen gebaut wurden.

Carsten war ein ganzer Mann. Der stand entweder fest auf seinen beiden eigenen Füßen oder aber er lag tot am Boden. Einen Mittelweg gab es da nicht.

Während Herr von Gandern noch so meditierte, wurde ihm Herr Carsten durch den Diener gemeldet.

Langsam erhob sich Herr von Gandern, um dem Besucher entgegenzugehen.

Carsten steckte im Sportanzug.

Darauf anspielend, meinte Herr von Gandern:

„Ich glaube, mein lieber Freund, Sie sind nächstens ohne Brille, Lederkappe und Staubmantel ganz undenkbar. Haben Sie denn gar keine Zeit mehr, sich in die landläufige Zivilkleidung zu stecken und den ganzen Sport beiseite zu lassen?“

Der Besucher lächelte zu diesen Worten.

„Später vielleicht einmal. Jetzt, Herr von Gandern, wünschte ich so manchesmal, daß der Tag nicht nur vierundzwanzig, sondern achtundvierzig Stunden hätte. Sie wissen ja, daß die Prinz Heinrich-Fahrt, jene große internationale Konkurrenz der besten Tourenwagen, vor der Tür steht, daß der Termin der Fahrt bis auf wenige Tage herangerückt ist.“

Herr von Gandern stieß einen Seufzer aus.

„Natürlich habe ich von der Prinz Heinrich-Fahrt gehört. Allzu viel sogar. Meine Tochter Stephanie hat es sich natürlich in den Kopf gesetzt, die Konkurrenz ebenfalls mitzumachen. Sehr erbaut bin ich von dieser Absicht wirklich nicht.“

Über die Züge Carstens glitt ein frohes Lächeln.

„Das ist ja charmant! Da werde ich doch während jener Konkurrenz Gelegenheit haben, das gnädige Fräulein des öfteren zu sehen. Es wird auf die Strapazen der Tage des Abends hin und wieder ein Lichtblick fallen.“

Herr von Gandern blickte erstaunt auf.

„Ja, wollen Sie denn dieses unsinnige Rennen ebenfalls mitmachen? Es liegt mir natürlich durchaus fern, mein lieber Freund, mich irgendwie in Ihre geschäftlichen Angelegenheiten zu mischen. Aber nach meinem Empfinden sind Sie doch gerade jetzt in Ihrer Fabrik unentbehrlich. Und da wollen Sie volle zehn Tage auf der Landstraße herumliegen? Ich weiß nicht, ob…“ Und Herr von Gandern zuckte mit den Achseln.

Carsten schaute ihn einen Moment an.

„Sie haben gewiß recht, Herr von Gandern,“ erwiderte er dann, „daß ich in der Fabrik kaum abkömmlich bin. Darum eben vorhin mein Wunsch, daß der Tag achtundvierzig Stunden haben möchte, Aber noch unentbehrlicher werde ich während jener zehn Renntage auf der Landstraße sein. Ich muß diese Konkurrenz mit fahren und ich muß unbedingt einen Preis davontragen, Herr von Gandern. Am liebsten, das sage ich Ihnen ganz offen, den ersten. Für andere Leute mag der Sport ein Vergnügen sein. Für mich ist er eine bittere Notwendigkeit, ein Geschäft, von dem sehr viel abhängt.“

Herr von Gandern betrachtete den Sprecher verwundert.

„Ich verstehe Sie nicht recht, Herr Carsten. Ihre Fabrik arbeitet gegenwärtig doch vollbesetzt. Ich meine, Sie müßten eher daran denken, den Betrieb zu vergrößern, als Rennen zu fahren.“

Wieder ging ein Lächeln über Carstens Züge. Er empfand einen gewissen Stolz darüber, daß der Mann da von ihm, der in seinem eigenen Fache der führende Mann war, seinen Kombinationen doch nicht auf den Grund sehen konnte.

Und wie ein Mensch, der einen Augenblick von schwerer Arbeit ausruht, lehnte er sich weit in den leichten Lehnstuhl zurück und lächelte wiederum.

„Mein lieber Herr von Gandern,“ begann er dann. „Diese Prinz Heinrich-Fahrt wird mich erstens runde vierzehn Tage von meinem Betriebe fernhalten. Sie wird mich ferner eine Summe kosten, die viele tausend Mark beträgt, eine Summe, die ich recht gut in meinem Betriebe anderweitig gebrauchen könnte, ja, die ich an anderer Stelle direkt mit allerlei Künsten ersparen muß. Und dennoch, ich wiederhole es, werde, will und muß ich diese Konkurrenz mitmachen.“

„Das verstehe ich nicht ganz.“

„Aber, Herr von Gandern! Die Lösung ist wirklich nicht allzu schwer. Ich habe meine Fabrik wieder aufgebaut und im Betrieb. Aber das ganze Frühjahrsgeschäft ist mir durch den Brand arg zerstört worden. Ich fabriziere. Gewiß, Sie haben es ja mit Ihren eigenen Augen gesehen. Aber denken Sie etwa, daß ich für den Verkauf fabriziere? Weit gefehlt. Einstweilen arbeite ich für mein eigenes Lager. Einstweilen stecke ich jeden Tag Tausende in die Fabrikation für mich selbst. Vor dem Prinz Heinrich-Rennen kauft jetzt kein Mensch einen Wagen. Aber wenn heute über drei Wochen der große Kampf vorüber ist, wenn unter mehr als hundert Wagen die besten erkannt und preisgekrönt sind, dann beginnt das Kaufen. Und wenn ich unter den Preisträgern bin, dann kommen mir im Zeitraum weniger Tage die ausgegebenen Tausender mit Zins und Zinseszinsen wieder herein. Die siegreiche Marke der Prinz Heinrich-Fahrt beherrscht den Markt für das kommende Jahr.“

Herr von Gandern streckte Carsten die Hand hinüber.

„Ich wünsche Ihnen alles Gute, mein lieber Freund. Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen, daß dies Rennen, von dem so viel für Sie abhängt, glücklich für Sie ausgeht.“

In diesem Augenblick ertönte das Telephon auf dem Schreibtisch.

Herr von Gandern ergriff den Hörer.

„Sofort, mein Kind,“ sagte er und legte den Apparat wieder zurück.

„Meine Tochter hat gehört,“ wandte er sich zu Carsten, „daß Sie bei uns zu Besuch sind, Sie läßt bitten, bei ihr das Frühstück einzunehmen. Wollen Sie uns das Vergnügen machen?“

Beide Herren begaben sich durch die nächsten Zimmer zu den Gemächern, welche Stephanie inne hatte, und Carsten beugte sich auf die ihm gereichte schlanke weiße Hand und küßte sie.

Ein kleiner Frühstückstisch für drei Personen war gedeckt, und Carsten freute sich im stillen darüber, daß Stephanie sofort, während er noch mit ihrem Vater plauderte, für ihn ein Gedeck hatte auflegen lassen.

Trotzdem sie doch gar nicht wußte, ob er ihrer Einladung Folge leisten könnte.

Sobald sie am Tische Platz genommen hatten, begannen Stephanie und Carsten ein Gespräch über die Prinz Heinrich-Fahrt.

Stephanie interessierte sich fabelhaft für die Chancen Carstens. Wieder und immer wieder fragte sie ihn, ob er selbst auf seinen Sieg hoffe, ob er glaube, wenigstens einen der zahlreichen ausgesetzten Preise nach Hause zu fahren.

Carsten aber, der dem Herrn von Gandern gegenüber noch vor wenigen Minuten seine Chancen und seine Stellung zum Wettbewerb ganz offen dargelegt hatte, spielte jetzt ein wenig den Zugeknöpften.

„Mein liebes, gnädiges Fräulein, warum soll ich den Preis nicht gewinnen? Irgend einer muß ihn doch schließlich bekommen. Warum soll nicht gerade ich der Glückliche sein?“

„Aber selbstverständlich, Herr Carsten,“ rief Stephanie, die sich bei diesem Gespräch zusehends ereiferte. „Die stille Hoffnung hat natürlich jeder, der sich an der Konkurrenz beteiligt. Die Hoffnung hege ich auch für meinen Wagen ein wenig. Aber ich meine es jetzt doch anders. Ich meine, ob Sie sich auf Grund ganz bestimmter Tatsachen auf einen Preis ganz bestimmte Hoffnungen machen oder machen können.“

Carsten lachte laut auf.

„Aber, mein gnädiges Fräulein, Sie fragen ja direkt wie ein Rechtsanwalt.“

Er schwieg betroffen und unwillkürlich dachten alle drei in diesem Augenblick an Dr. Borchardt.

A propos!“ griff Stephanie den hingeworfenen Faden ruhig auf. „Da wir gerade von Rechtsanwälten reden, kennen Sie denn den Wagen des Herrn Doktor Borchardt?“

Carsten schüttelte den Kopf..

„Noch nicht! Was ist es denn für ein Fabrikat?“

„Das war einmal ein Fabrikat,“ lachte Stephanie.

Sowohl Carsten wie auch Herr von Gandern machten erstaunte Gesichter.

„Jawohl, meine Herren,“ lachte Stephanie wieder, „Das war mal das Fabrikat irgend einer Firma. Aber daraus hat Doktor Borchardt etwas Neues gemacht.“

„Das erinnert wohl an jenen berühmten Paletot, von dem eine Sage unter den Studenten umgeht,“ lachte nun auch Carsten. „Erst wurde das Futter erneuert, dann wurde der Paletot neu überzogen und dann bekam er andere Knöpfe. Nur der Henkel ist geblieben. Meinen Sie es so, mein gnädiges Fräulein?“

„Sie haben es ganz gut erraten, Herr Carsten. Ich habe noch nicht das Vergnügen, Herrn Borchardt als Rechtsanwalt zu kennen. Aber als Techniker ist er wirklich nicht schlecht. Sie wissen ja, daß ich selber eine eifrige Fahrerin bin, und ich versichere Ihnen, der Wagen dieses Rechtsanwalts hat es in sich.“

„Du machst mich wirklich gespannt,“ warf der Vater ein. „Dieser Rechtsanwalt scheint sich als ein wahres Genie zu entpuppen.“

„Auch mich wundert das,“ fügte Carsten hinzu und wandte sich dann direkt an Stephanie.

„Was sind denn das für Hexenkünste, die Herr Doktor Borchardt da an seinem Wagen treibt?“

Stephanie zögerte einen Moment.

„Vielleicht dürfte ich es gar nicht verraten. Aber schließlich wird es doch kein Geheimnis bleiben. Also nehmen Sie zum Beispiel einmal an, Herr Carsten, daß der Rechtsanwalt den gewöhnlichen Automobilmotor durch einen der modernen leichten und starken Luftschiffmotoren ersetzt hat.“

Interessiert hörte Carsten zu.

„Alle Wetter,“ schoß es ihm durch den Sinn. „Da war ja dieser Laie auf denselben Trick verfallen, wie er selbst.“ In diesem Moment begriff Herr Carl Carsten, daß der Rechtsanwalt Dr, Borchardt ganz und gar kein zu verachtender Gegner in dieser Konkurrenz sein würde.

Laut jedoch sagte er:

„Ich glaube, mein liebes, gnädiges Fräulein, daß Herr Doktor Borchardt mit dieser Erfindung nicht der einzige sein wird.“

Doch Stephanie war einmal ins Feuer geraten und ließ so leicht nicht wieder locker.

„Wissen Sie,“ fuhr sie fort, „wie ich den Rechtsanwalt kennen gelernt habe? Nein, das können Sie ja nicht wissen. Also ich hatte Gelegenheit, des Nachts seine Maschine zu bewundern, die geradezu spielend unter ihrem Führer lief. Die Maschine kennen zu lernen, war mein Wunsch. Vor einigen Tagen nun machte mir der Rechtsanwalt das Vergnügen und lud mich ein. Er selbst übergab mir das Steuer, und bevor ich den Wagen bestieg, versuchte ich, die Firma des Wagens kennen zu lernen, Aber da war keine.“

„Keine Firma, mein gnädiges Fräulein?“

„Nein, mein Herr. Der Besitzer des Wagens, eben jener Rechtsanwalt, lachte, als ich ihn nach der Firma fragte, und dann blickte er seinen Chauffeur an, der blickte wieder seinen Herrn an und dann sagte schließlich der Herr: „Gnädiges Fräulein, von der Firma ist nichts mehr zu entdecken, die Firma habe ich so nach meinen eigenen Angaben verbaut, umgebaut und eingebaut, daß ein völlig neuer Bau daraus geworden ist, und den müßte ich, falls ich firmieren wollte, „Borchardt“ nennen. Da ich nun aber als Rechtsanwalt nicht auch Automobilfabrikant sein kann, so habe ich mir auf eine andere Weise geholfen.“ Und dann zeigte mir Doktor Borchardt eine kleine, uralte, aus Buchenholz geschnitzte Statuette, ein altes heidnisches Götzenbild, irgend ein Scheusal, zu dessen Ehren unsere Vorfahren vielleicht einmal Menschen geschlachtet haben. „Mein Automobil hat auch seine Maskotte, genau wie das Luftschiff Wellmans,“ erklärte mir Doktor Borchardt weiter. Zodag — heißt dies Götzenbild, das da über dem Nummernschild befestigt ist und als Marke „Zodag“ will er den Wagen in das Prinz Heinrich-Rennen bringen. Eine völlig unbekannte Marke.“

„Allerdings,“ lachte Herr Carsten, „eine absolut unbekannte Marke.“

„Und Zodag soll nach der Versicherung des Doktors,“ sprach Stephanie weiter, „überhaupt nie nachgebaut werden können, da er alle seine kleinen Geheimnisse an dem Wagen mit eifersüchtiger Scheu nur für sich behalten will.“

„Und läuft der Wagen wirklich brillant?“ fragte Herr von Gandern.

„Papa, Du weißt, daß ich sehr stolz auf meinen Daimler bin, aber ich muß Dir offen gestehen, Papa, das, was hier in Amateur, ein sportfreudiger Mensch mit Interesse sich zusammengebaut hat, das übertrifft die kühnsten Erwartungen, Der Wagen, glaube ich, ist der beste, den ich jemals gesehen habe.“

„Also eine scharfe Konkurrenz für uns anderen Fahrer?“

„Unbedingt, Herr Carsten — ich möchte fast sagen leider und ich wünsche Ihnen im geschäftlichen Sinne, daß Sie das Rennen als Erster bestreiten möchten.“

„Das freut mich von Dir, Stephanie,“ sagte Herr von Gandern, „denn denselben Wunsch habe ich für meinen Freund Carsten. Er erklärte mir noch soeben, daß für ihn so unendlich viel von dem Gewinn des Rennens abhinge.“

Stephanie machte ein ernstes Gesicht,

„Man kann ja nie wissen, was bei derartigen Rennen auch dem besten Wagen zustoßen kann.“

Soll das etwa ein Trost für mich sein, gnädiges Fräulein?“ Carsten beugte sich näher zu ihr.

„Wenn ich offen sein soll, ja.“

„Sie machen mich wirklich begierig, den Wagen des Rechtsanwalts in voller Fahrt sehen zu können.“

„Das werden Sie ja auf der Rennstrecke beurteilen können.“

Ein Diener trat ein und meldete, daß Herr von Gandern in seinem Arbeitszimmer erwartet würde, ein Geschäftsfreund ihn in dringender Angelegenheit zu sprechen wünsche.

Carsten benutzte diesen Anlaß, um sich auch seinerseits zu empfehlen und verließ in Gemeinschaft mit Herrn von Gandern das Zimmer.

Stephanie blieb mit schwankenden Empfindungen zurück.

Je länger sie nun Gelegenheit hatte, beinahe tagtäglich abwechselnd Carsten und Dr. Borchardt zu sehen, desto mehr fühlte sie, wie sehr ihr Interesse zwischen diesen beiden Männern geteilt war, wie sehr sie bald die ernste, sachliche Art Carstens und dann wieder die leichte, weltgewandte Art des Rechtsanwalts anzog.

Sie fühlte, daß beide Männer ihr in diesen letzten Wochen nahe getreten waren und daß ihr eine Entscheidung für den einen oder den anderen von Tag zu Tag schwerer wurde.

Aber auch Carsten, der jetzt an der Seite des Herrn von Gandern dahinschritt, fühlte sich bedrückt.

„Ich muß gehen,“ wandte er sich an seinen Begleiter.

„Schade,“ erwiderte dieser. „Wir hätten uns gefreut, Sie noch länger zu sehen. Im übrigen, mein lieber Carsten, man darf die Frau, die man begehrt, nicht zu sehr vernachlässigen.“

„Ich weiß es wohl, aber was soll ich machen. Entweder lasse ich mein Geschäft ohne Aufsicht laufen und vielleicht in die Brüche gehen, oder ich finde nicht die Zeit, um die Gunst einer Frau zu werben. Beides geht nicht zu verbinden.“

„Da hat der Rechtsanwalt Doktor Borchardt größere Chancen als Sie, mein lieber Freund, denn er versteht beides miteinander zu verbinden.“

„Ich bin leider kein Rechtsanwalt.“

Herr von Gandern trommelte nervös mit den Fingern und Carsten wußte, womit sich dessen Gedanken beschäftigten. Mit seinem Lieblingswunsch, ihn mit seiner Tochter zusammenzubringen.

Aber für derartige Wünsche hatte Carsten jetzt wirklich keine Zeit, Er hatte alle seine Gedanken nur auf seine Fabrik und sein Geschäft zu richten und mußte alle Sinne und Kräfte zusammennehmen, um mit seinem Wagen wenn irgend möglich den Preis bei der Prinz Heinrich-Fahrt zu holen.

Und so reichte er denn seinem Freunde die Hand und verabschiedete sich.

 

 

Kapitel 5.

Das glänzende Fest des Kaiserlichen Automobilklubs bei Kroll hatte seinen Höhepunkt erreicht. Nach einer Theatervorstellung hatte nun der Ball begonnen.

Doktor Borchardt hatte sich erst spät frei machen können. Er mußte in einer Schwurgerichtsverhandlung, die bis nach Mitternacht dauerte, die Verteidigung führen. So kam er erst jetzt und beobachtete von seiner Loge aus die zur Polonaise zusammentretenden Paare. Er erkannte Stephanie von Gandern, die von Carsten geführt wurde.

Er beobachtete auch, daß die Beiden in äußerst angeregtem Geplauder waren, und wie es manchmal so wunderbar zugeht, ahnte und fühlte er in demselben Moment, daß das, was die beiden dort unten sprachen und von dem er doch kein Wort verstehen konnte, sich letzten Endes um die Hand Stephanies drehte.

Und das war tatsächlich der Fall. Durch eine zufällige Bemerkung, die von dritter Seite gemacht worden war, war das alte nun seit Wochen ruhende Thema wieder aufgegriffen worden.

„Ah — sehen Sie da den Direktor Carsten! Wer ist die Dame an seiner Seite?“

Antwort — „die Tochter eines wohlbekannten österreichischen Industriellen von Gandern. Man sieht die beiden seit längerer Zeit fast täglich zusammen.“

Entgegnung — „also bereits eine unausgesprochene Verlobung.“

Stephanie von Gandern hatte diese Worte sichtlich peinlich empfunden. Sie hatte nicht geglaubt, daß der tägliche Verkehr mit Carsten bereits in der Gesellschaft derartig ausgelegt werden könnte.

Carsten bemerkte das wohl und er nahm eben jene fremden Worte zum Anlaß, das alte Thema noch einmal zu berühren. Und er verstand es, die Worte geschickt zu wählen. So geschickt, daß Stephanie, anfangs noch mißgestimmt, mehr und mehr Interesse fühlte, mehr und mehr warm dabei wurde.

Er hatte ihr erzählt, wie er den ersten Kampf gegen sein Mißgeschick nun erfolgreich geführt, wie er die erste Schlacht von einer beinahe verlorenen Position aus doch zum glücklichen Ende geführt hatte. Er sprach mit ihr von seiner Fabrik, die nun wieder in vollem Gange war. Er erzählte ihr, wie auf der alten Trümmerstätte sich nun wieder schmucke Gebäude erhoben und wie fleißig und unablässig geschafft würde.

Und er schloß endlich, daß er nur noch eines einzigen Erfolges, eines Sieges, eines Preises in dem kommenden Rennen benötige. Dann würde er nicht nur jeden Schaden wieder eingebracht, haben. Dann würde er sogar noch sehr viel fester und reicher dastehen, als je zuvor, dann würde er als ehrlicher Mann wieder wagen können, um die Hand einer Frau zu werben.

Und dabei hatte Carsten sie angeblickt, daß sie über den Sinn dieser Worte, über die Frau, um die da geworben werden sollte, nicht im Zweifel sein konnte.

Lange hatte sie seiner Rede zugehört.

„Ich will Ihnen etwas sagen,“ rief sie endlich, „Es soll unbedingte Offenheit zwischen uns herrschen. Sie wissen wahrscheinlich von Papa, daß sich Herr Doktor Borchardt gleichfalls um meine Hand bemüht.“

Sichtbar legte sich bei diesen Worten Mißstimmung über Carstens Züge. Stephanie aber fuhr fort:

„Sie alle Beide sind mir liebe und sympathische Menschen. Aber noch bin ich weit von einem Entschluß, von einer Entscheidung entfernt. Versuchen Sie es nicht, mich heute dazu zu drängen, von mir ein Versprechen zu erhalten, welches mich vielleicht bald gereuen könnte.

Ich will abwarten, will weiter sehen. Wir wollen dies Rennen erst hinter uns haben. Und dann werde ich mich entscheiden.

Vielleicht,“ so fuhr sie mit verschleierter Stimme fort, „daß derjenige, der den besten Preis gewinnt, auch meine Hand erhält.“

Da blickte sie Carsten mit strahlenden Augen an.

„Das nehme ich an, meine Gnädigste, Das wird ein Preis sein, köstlicher, als ihn jemals ein Rennen gebracht hat und wieder bringen wird,“

Stephanie blickte suchend im Saal umher.

Jetzt entdeckte sie ihren Vater und sagte zu Carsten:

„Haben Sie die Güte, Herr Carsten, mich zu meinem Vater zu führen.“

Herr von Gandern hatte bereits in dem großen Saal einen Tisch für das Souper bestellt und forderte die beiden auf, ihm, bevor der große Andrang begann, dorthin zu folgen.

Sie wußten nicht, daß Rechtsanwalt Borchardt sie beobachtete.

Als sie aus dem Hauptsaal verschwunden waren, verließ Dr. Borchardt langsam die Loge und als er die Treppe hinunterging, kam ihm Haake entgegen.

„Ich suchte Sie bereits seit zwei Stunden, lieber Doktor.“

„Aber Sie wissen doch, daß ich Schwurgericht hatte.“

„Das wußte ich. Ich kam mit meinem Wagen zu spät nach Moabit, dort war bereits alles geschlossen und fuhr deshalb hierher. In diesem Gewühl suche ich Sie seit einer Stunde und endlich habe ich Sie entdeckt.“

„Das hätten Sie einfacher haben können. Warum haben Sie mir nachmittags nicht telephonisch gesagt, daß Sie unser Fest hier besuchen wollen?“

„Ich hatte gar nicht die Absicht, das Fest zu besuchen.“

„Aber Sie sind doch hier.“

„Wie Sie sehen, Verehrtester. Aber das hat seine triftigen Gründe. Ich bitte Sie jetzt, mir in irgend einem Winkel einige Minuten Zeit zu schenken, da es sich um eine wichtige Sache handelt. Ich möchte in der Angelegenheit nicht ohne Ihren Rat handeln.“

„Eine Prozeßsache?“

„Vorläufig noch nicht. Aber es könnte eine werden und zwar eine recht bedeutende.“

„Für Prozeßsachen bin ich stets zu haben. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Kommen Sie in meine Loge, wo wir ganz ungestört sitzen. Da können wir die Sache in Ruhe besprechen.“

Beide setzten sich in den rückwärts gelegenen Teil der Loge und Dr. Borchardt blickte gespannt auf Haake.

„Hören Sie also zu,“ begann dieser. „Heute nachmittag kam ein Herr, dessen Namen ich vorläufig noch nicht nennen darf, zu mir und sagte, in dem er mir allerlei Papiere auf den Tisch legte, er hätte eine sehr wichtige Sache gegen den bekannten Automobilfabrikanten Carsten. Eine Angelegenheit, die das Interesse weitester Kreise auf jeden Fall in stärkstem Maße erregen müsse.

Sobald ich den Namen Carsten hörte, wurde ich natürlich doppelt aufmerksam und sagte mir im stillen, wie komisch ist es doch, daß der gerade zu mir kommt, Denn ich bin ja Ihr Freund, na und wie Sie mit Carsten stehen, darüber kann man sich am Ende, wie die Dinge jetzt liegen, wohl seinen Vers machen. Jedenfalls beschloß ich, den Mann einmal ruhig anzuhören.“

„Nun, und —!“ unterbrach ihn der Rechtsanwalt ungeduldig, „Sie sollten sich mit solchen Sachen gar nicht einlassen. Das kennt man ja zur Genüge. Da kommt irgend ein entlassener Angestellter und packt allerlei Schaudergeschichten aus. Wenn es aber nachher zum Beweis kommt, ist die Geschichte gewöhnlich sehr harmlos.“

„Das mag in tausend Fällen stimmen, Aber hier sieht es doch anders aus. Der Mann erzählte mir, daß Carsten nach dem Brande seiner Fabrik bei zwei Gesellschaften finanzielle Hilfe genommen hat, bei einer Berliner Bank und bei einer rheinischen Gruppe. Beiden hat er als Sicherheit für ihre Einlagen seine Depotwagen und Lagerbestände verschrieben.“

Dr. Borchardt hatte interessiert zugehört.

„Nun ja — das ist doch schließlich selbstverständlich. Ohne eine gewisse Sicherheit werden die Leute begreiflicherweise kein Geld geben.“

„So ist die Sache nicht,“ fuhr Dr. Haake fort. „Der betreffende Herr, der mir die Mitteilung machte, bewies mir an der Hand von Abschriften, daß dieselben Gegenstände tatsächlich zweimal verschrieben worden sind, daß hier eine grobe Schiebung vorliegt und daß sich Herr Carsten einer strafbaren Handlung schuldig gemacht hat. Der Mann will diese Sache nun weiter verfolgen.“

Eine stille und lange Pause trat zwischen beiden Herren ein. Dr. Borchardt hatte die Augen fest geschlossen, während Haake kräftig rauchte.

Jetzt gab sich der Rechtsanwalt einen Ruck, öffnete die Augen, blickte Haake fest an und sagte: „Beschmutzen Sie Ihre Finger nicht mit dieser Angelegenheit.“

„Aber ich bitte Sie — ich hätte eine derartige Antwort von Ihnen nicht erwartet.“

„Ach so —“ erwiderte der Rechtsanwalt, „weil ich gerade jetzt durch einen Angriff Herrn Carsten mit seiner Werbung um die Hand Fräuleins von Gandern am Ende aus dem Felde schlagen könnte.“

„Gewiß meine ich das, mein lieber Doktor.“

„Die Sache gefällt mir ganz und gar nicht, mein lieber Haake. Das wäre eine unfaire Waffe. Ich persönlich darf an etwas derartiges überhaupt nicht denken, wenn ich noch Anspruch auf den Titel eines anständigen Menschen haben will.“

Dr. Haake verbeugte sich. „Ihre Gesinnung macht Ihnen alle Ehre, aber wie soll ich mich zu der Angelegenheit stellen?“

„Auch Ihnen rate ich zur größten Vorsicht. Es fragt sich doch noch, ob nicht die beiden Finanzgruppen wissen, daß sie beide an das Objekt die gleichen Forderungen haben.“

„Aber mein Gewährsmann behauptet das Gegenteil.“

„Was behauptet er?“

„Daß jede der Parteien glaubt, das Objekt für sich allein zu besitzen.“

„Haben Sie dafür irgend einen Beweis schwarz auf weiß?“

„Das gerade nicht — ich habe nur die Beweise, daß tatsächlich ein derartiges Lombardgeschäft gemacht worden ist“

„Nun also —“ der Rechtsanwalt schob seinen Oberkörper vor und legte seine Hand Haake auf die Knie.

„Die Sache ist nicht so einfach, wie Sie sich das denken, lieber Haake.“

„Aber es ist doch mit Sicherheit fast anzunehmen.“

„Annahmen ergeben überhaupt keine juristischen Unterlagen. Wenn Sie nicht jede Einzelheit Ihrer Anklage beweisen können werden Sie der Dumme bei dem Geschäft sein. Und nun einmal offen gesprochen. Was gehen Sie die Geschäfte des Herrn Carsten an? Wenn sich einer seiner Geldgeber geschädigt sieht, kann er ja eine Anzeige erstatten. Glauben Sie, daß sich in einem solchen Falle die Staatsanwaltschaft überhaupt durch die Anzeige irgend eines Dritten, Unbeteiligten zum Einschreiten veranlaßt sehen würde? Glauben Sie mir, mein lieber Haake, da hat Bosheit und Niedertracht allerlei zusammengetragen, was in den Papierkorb gehört. Deshalb hätten Sie mir wirklich nicht in der Nacht nachjagen brauchen und Ihre Ruhe opfern. Doch nun kommen Sie und lassen Sie uns ein spätes Abendbrot gemächlich zusammen einnehmen, denn ich habe seit der Pause heute mittag im Schwurgerichtssaal noch nichts gegessen.“

Beide Herren erhoben sich und gingen in den großen Speisesaal, wo an kleinen Tischen überall fröhliche Menschen, lustige Worte tauschend, mit freudeblickenden Augen saßen und die köstliche Nacht genossen.

Rechtsanwalt Borchardt vermochte für sich und Haake bei dem Andrang, der herrschte, nur einen Stehplatz in der Nähe des Buffets zu erobern. Mit der Kunstfertigkeit des Großstädters balanzierte er in der einen Hand belegte Brötchen und Hummermayonnaise und in der anderen das gefüllte Sektglas und kam so zu seinem Souper.

Als er das beendet hatte, sagte er zu Haake:

„Nun lassen Sie sich zum letzten Mal raten. Befassen Sie sich nicht weiter mit der Angelegenheit, sondern benutzen Sie die nächsten vierundzwanzig Stunden, um Vorrat zu schlafen. Sie wissen, daß Sie bei der Prinz Heinrich-Fahrt mein Kontrolleur sind und zweitausend Kilometer lang neben mir im Wagen aushalten müssen. Beherzigen Sie den Ratschlag eines alten Praktikers.“

Danach trennten sich die beiden Herren. Der Rechtsanwalt ging durch die Tischreihen und entdeckte dort Herrn von Gandern mit seiner Tochter. Er trat zu ihnen und wurde von Stephanie mit großer Herzlichkeit begrüßt. Ziemlich reserviert verhielten sich dagegen ihr Vater und Carsten.

Stephanie merkte es und ärgerte sich darüber. Mit erhöhter Liebenswürdigkeit sagte sie daher zu Dr. Borchardt:

„Wir haben zwar keine Damenwahl, aber wenn…“

„Aber selbstverständlich, mein gnädiges Fräulein. Ich weiß die Ehre zu schätzen. Und da soeben ein Straußscher Walzer beginnt, so darf ich wohl um den Tanz bitten.“

Stephanie nahm seinen Arm, er verbeugte sich gegen die beiden Herren. Herr von Gandern sagte: „Wir gehen zur rechten Rangloge,“ und dann verschwand das junge Paar nach dem Tanzsaal.

Es währte ziemlich lange, bevor sie beide in die Loge zurückkehrten. Und wieder bemerkte Herr von Gandern und diesmal auch Carsten, daß die beiden sich mit Augen ansahen, die mehr verrieten als Worte sprachen.

Carsten hatte das Gefühl, daß seine Aussichten auf Stephanies Hand nicht die günstigsten seien. Aber Herr Julius Carsten war nicht der Mann, darüber lange Gedankenketten anzuspinnen. Vor ihm lag diese Fahrt, lag die Möglichkeit des Sieges und diesen Umstand beschloß er als Mann der Tat zunächst einmal auszunutzen.

 

 

Kapitel 6.

Und nun brach der erste Morgen der großen Tourenfahrt an, jener Fahrt, welche die konkurrierenden Wagen durch halb Deutschland und Österreich führen sollte. Noch lag die alte Krönungsstadt Frankfurt im Zwielicht des ersten Morgengrauens und von den Türmen war eben erst der letzte Schlag der dritten Morgenstunde verklungen. Es war eine Zeit, von welcher der allezeit zu Scherzen aufgelegte Haake behauptete, daß ein anständiger Mensch zu ihr wohl noch aufsein, aber beileibe noch nicht wieder aufgestanden sein dürfe.

Aber die große Prinz Heinrich-Fahrt warf alle hergebrachten Einteilungen und Zeitbegriffe über den Haufen. Leute, die sonst die zehnte Morgenstunde für eine unvorschriftsmäßig frühe Zeit erklärten, waren heute schon in der dritten auf den Beinen und Hunderte von Droschken strömten der großen Ausstellungswiese zu, von der aus die Fahrt losgehen sollte. Die Schutzleute hatten einen schweren Stand, die Tausende von Unberufenen und Unbefugten, die ebenfalls zur Wiese pilgerten, zurückzuhalten.

Dort aber herrschte erst recht reges Leben und Treiben. An den hundertundfünfzig Wagen, welche die Fahrt mitmachten, waren Mechaniker und Chauffeure fieberhaft tätig. Lag doch eine gewaltige Reise, eine Reise, die sich über eintausendsechshundert Kilometer erstrecken sollte, vor den Teilnehmern, mußten doch die Wagen diese gewaltige Tour ohne die geringste Nachbesserung überwinden. Denn so mancher der vielen harmlosen Handgriffe, die auf einer gewöhnlichen Fahrt überhaupt kaum als Reparaturen empfunden werden, war ja von dem strengen Rennreglement unerbittlich unter Strafe gestellt worden. Wer aber erst einmal Strafpunkte erhalten hatte, für den war die Aussicht des Sieges unwiderruflich dahin.

Absolut zuverlässig mußte der Wagen sein, der überhaupt für einen Preis in Frage kommen sollte. Und unter diesen Zuverlässigen mußte dann in den eingeschobenen Rennen wieder die Schnelligkeit entscheiden. Wer am schnellsten die steilen Serpentinwege des Semmering-Passes nahm, wer am geschwindesten von diesen Zuverlässigen durch die Ebene des Forstenrieder Parks stürmte, der sollte Gewinner sein.

Und so begann denn hier einer der großen Neunzigpferdigen, die den Tanz eröffnen sollten, knatternd und rasselnd sein Motorspiel und stieß blaugraue und gar nicht schön riechende Rauchwolken in die kühle würzige Morgenluft. Ein anderer sekundierte ihm, ein dritter mischte sich in die Unterhaltung und jetzt knatterte und fauchte das über den ganzen weiten Platz hin.

Hier war an einem der großen Wagen, die alle ihre Rennnummer mit mächtigen weißen Ziffern auf den Kühler aufgemalt trugen, die Motorhaube aufgeklappt und emsig beugten sich Fahrer und Mechaniker über das kunstvolle Getriebe der Maschine. An einer anderen Stelle fuhr ein anderer prüfend mit der Hand über die Pneumatiks und untersuchte die Bremsen. Und wieder an anderen Stellen wurde Benzin und Kühlwasser in die Maschinen gefüllt. Denn eine weite Reise lag ja vor den Konkurrenten. Sollte doch der erste Tag gleich über vierhundert Kilometer gehen und dabei kein neues Benzin genommen werden.

Ein wenig verschlafen und übernächtigt reckte und streckte sich der Herr Dr. Haake ein paarmal, als könne er damit die Müdigkeit aus dem Körper schütteln. Die leuchtend gelbe Armbinde kennzeichnete ihn schon von weitem als einen der Kontrolleure, welche die Ausgabe haben, im Wagen mitzufahren und im Kontrollbuch alle Vorkommnisse zu vermerken, die nach dem Rennreglement von Einfluß auf die Wertung des Wagens sein können.

„Ach! Borchardt,“ sagte er jetzt nach einem letzten, aber wie es schien immer noch vergeblichen Versuch, die Müdigkeit abzuschütteln, „Ich habe wirklich nichts gegen Automobilfahrten einzuwenden. Aber warum es so scheußlich früh losgehen soll, das ist mir immer noch ein ungelöstes Rätsel.“

Amüsiert blickte der Rechtsanwalt von seinem Motor, dessen Haube noch offen stand, empor.

„Das ist deswegen geschehen, Haake,“ erwiderte er in seiner trockenen Art, „damit die Kontrolleure, die bekanntlich alle zu einem unsoliden Lebenswandel neigen, auf dem Wagen schlafen und wir etwaige Reparaturen ungestört ausführen können.“

„Wenn man wenigstens noch rauchen könnte,“ seufzte Dr. Haake. „Aber, die hier von der Feuerwehr sind ja hinter jeder brennenden Zigarette her, wie der Teufel hinter einer armen Seele.“

Interessiert hatte der Rechtsanwalt inzwischen seine Blicke über den Platz schweifen lassen.

„So, da wäre ja auch der Herr Fabrikbesitzer Carl Carsten in höchst eigener Person,“ murmelte er vor sich hin. „Der Herr Chef selber am Steuer und im Rennen. Nun, ich denke, der Rechtsanwalt Doktor Borchardt wird am Ausgange dieses Rennens auch noch ein Wörtchen mitzureden haben.“

Und wieder beugte sich der Rechtsanwalt zu seiner Maschine nieder. Doch im selben Augenblick bekam er von seinem Kontrolleur einen kräftigen Stoß in die Rippen.

„Mensch, Zeitgenosse, Rechtsanwalt, sehen Sie doch mal da, kommt da nicht leibhaftig Fräulein von Gandern? Und in dieser anormalen Stunde so sportmäßig im Dreß, als wollte sie diese Höllentour selber mitfahren.“

Der Rechtsanwalt klappte die Motorhaube zu. Dann wandte er sich von neuem zu seinem Kontrolleur hin.

„Sagen Sie mal, Haake, haben Sie denn nicht die Startliste der Konkurrenz gelesen?“

„Startliste? Nee, wo gibt‘s denn die?“ fragte jener.

„Na, dann schlagen Sie mal gefälligst in Ihrem Kontrollbuch die Seite zwölf auf.“

„Ach so, das ist da vorn, wo all die Bilder von den Fürsten und Herzögen drin sind,“ gähnte der Doktor.

„Seite zwölf,“ wiederholte der Rechtsanwalt,

Nun schlug Dr. Haake die gewünschte Seite doch auf.

„Also lesen Sie mal, wer da an sechzehnter Stelle startet,“ sagte der Rechtsanwalt.

Mit einem unglaublich erstaunten Gesicht blickte Dr. Haake von dem Buch ab.

„Was —? Wie? Nummer sechzehn Fräulein Stephanie von Gandern aus Wien auf einem siebzigpferdigen österreichischen Daimler. Kontrolleur Oberleutnant Thieling, Donnerwetter! A 1a bonheur! Sagen Sie mal, Borchardt, die Kontrolleure können doch unter sich tauschen. Ich muß mal sehen, wo ich diesen Oberleutnant aufgabeln kann.“

„Die Kontrolleure können durchaus nicht tauschen, mein Lieber Haake,“ erwiderte Dr. Borchardt. „Es kann höchstens einem Kontrolleur schlecht werden und dann bekommt er einen großen Magenbitter und wird in den Sanitätsomnibus gesetzt. Aber Sie entschuldigen mich wohl einen Augenblick. Sie wissen ja, daß Sie als Kontrolleur bei der Maschine bleiben müssen?“

Und schon steuerte Dr. Borchardt auf Fräulein von Gandern zu und begrüßte sie mit einem Handkuß. Er kam gerade eine halbe Minute vor Carsten bei ihr an.

„Ein gutes Zeichen für die Zukunft,“ dachte Dr. Borchardt bei sich, während er sich nach dem Befinden seiner Partnerin erkundigte.

„Ich danke Ihnen, meine Herren,“ wandte sich die Dame gleichmäßig an den Rechtsanwalt und Herrn Carl Carsten. „Was kann es Schöneres geben, als eine solche Frühtour, ein solcher Aufbruch im Morgensonnenschein eines glänzenden Junitages zum langen, aufregenden Wettkampf.“

„Zum Kampf der Wagen und Gesänge,“ zitierte Carsten, und die Tatsache unterstützten seine Worte. Denn in das Schnauben und Knattern der Motoren mischten sich jetzt die vielfarbigen Klänge der zahlreichen Hupen und Sirenen. Das tönte in Zwei- und Dreiklängen zu einer gewaltigen Melodie zusammen. Langsam setzten sich jetzt die stärksten Wagen, die den Reigen eröffnen sollten, in Bewegung, rückten dem Ausgange des Feldes nach der Landstraße zu entgegen und begannen sich dort in einer Kolonne aufzustellen. „Ein herrlicher und ereignisreicher Tag,“ rief Stephanie mit blitzenden Augen. „Aber es wird Zeit, meine Herren. Herr Carsten, Ihr Neunzigpferdiger rangiert ja schon an der dritten Stelle, und auch ich muß zu meinem Wagen. Autoheil allerseits und auf fröhliches Wiedersehen in München!“

Und mit einem leichten Neigen des Kopfes verabschiedete sich Stephanie von den beiden Herren und schritt auf ihren eigenen Wagen zu. Auch der Rechtsanwalt kehrte zu seiner Maschine zurück.

„Alles in Ordnung, Schmidt?“ wandte er sich an den Mechaniker, der ihn außer dem Kontrolleur begleiten sollte.

„Alles in Ordnung, Herr Rechtsanwalt,“ erwiderte der Mechaniker.

„Haake,“ wandte sich Dr. Borchardt von neuem an seinen Begleiter, „Haben Sie Ihr Kontrollbuch?“

„Na, natürlich,“ brummte der Angeredete.

„Haake, haben Sie auch einen Bleistift?“

„Herr Gott, ja, was denn noch alles?“

„Haake, haben Sie auch eine richtig gehende Uhr?“

„Zu Befehl, Herr General!“ rief Dr. Haake und zog ein schwergoldenes Chronometer aus der Tasche.

Aber unerbittlich fuhr der Rechtsanwalt in seinem Examen fort:

„Haake, haben Sie die Streckenkarte? Haake, haben Sie die Automobilbrille?“ Und so ging es über ein Dutzend anderer Dinge her, bis der Rechtsanwalt die sichere Gewißheit hatte, daß sein etwas zerstreuter Freund nicht wieder die Hälfte seiner Sachen vergaß.

Und nun sah Dr. Borchardt, wie der neununddreißigste Wagen sich der langen Kolonne anschloß, die zur Chaussee hinausging. Einen Wink von seiner Seite und der Mechaniker kurbelte den Motor an. Ganz langsam setzte sich das schwere Fahrzeug in Bewegung und schob sich als Nummer vierzig hinter den neununddreißigsten Wagen.

Wohl eine Viertelstunde verstrich noch, während der Rechtsanwalt seinen Wagen bald ein paar Meter vorrücken konnte, und dann wieder Sekunden warten mußte. Aber man kam dabei doch weiter, und jetzt war der Wagen Nummer vierzig nach der Abfahrt seines Vorgängers der vorderste am Start.

Der Starter des Kaiserlichen Automobilklubs, der Baron von Janitor, trat mit der roten Flagge in der Hand an den Rechtsanwalt heran und verglich die Uhren.

„Noch zehn Sekunden,“ sagte der Baron und hob langsam die rote Flagge.

„Sieben, acht, neun, los!“

Im selben Augenblick schaltete Dr. Borchardt die Kuppelung ein und mit einem Sprunge schoß der Wagen davon, über die Landstraße hin, den neununddreißig anderen nach, die bereits vor ihm dahinliefen, und weiter verfolgt von einhundertundzehn anderen, die alle in Abständen von je einer halben Minute vom Starter auf die weite Reise geschickt wurden.

Dr. Borchardt war trotz aller zur Schau getragenen Ruhe die letzte Stunde fieberhaft aufgeregt gewesen. Er hatte selbst für die Liebenswürdigkeit und Schönheit von Stephanie von Gandern an diesem Morgen nur halbe Aufmerksamkeit gehabt. Während er höfliche Worte mit ihr wechselte, waren seine Gedanken bei den lebenswichtigen Triebteilen seines Wagens gewesen.

Und diese Aufregung war mit jedem Meter, um den er seinen Wagen dem Starter entgegenführte, gestiegen.

Jetzt aber war er in voller Fahrt. Jetzt sagte er sich selber: der Kampf hat begonnen, und die alte Ruhe und Sicherheit kam wieder über ihn. Gleichmäßig steuerte er seinen Wagen im sechzig Kilometer-Tempo und verfolgte mit scharfem Blick die Kurven des Weges, hielt sich selbst an der rechten Seite und schaute im übrigen nicht nach rechts oder links.

Jetzt wurde ein lautes Hupensignal und das Schrillen einer Trillerpfeife hinter ihm hörbar. Und dann ging Wagen Nummer einundvierzig, der eine halbe Minute hinter ihm gestartet war, an ihm vorüber. Das brachte sonst so phlegmatischen Dr. Haake in Harnisch. Aufgeregt beugte er sich zu dem Rechtsanwalt vor:

„Na, sagen Sie mal, Borchardt, was ist denn das für eine Bummelei? Sonst fahren Sie mit achtzig bis hundert. Und jetzt, der Geschwindigkeitszeiger zeigt doch nur sechzig und — sehen Sie, jetzt geht sogar Nummer zweiundvierzig an uns vorüber.“

Statt einer Antwort griff der Rechtsanwalt zum Drosselhebel und die Geschwindigkeit des Fahrzeuges sank noch weiter, bis auf vierzig Kilometer.

„Halten Sie sich fest, Haake,“ schrie Dr. Borchardt in diesem Augenblick. Und dann machte die Chaussee eine beinahe rechtwinklige Biegung und der gute Haake wäre rettungslos aus dem Wagen geflogen, wenn er nicht krampfhaft die Wagenlehne gepackt hätte.

Und während der Wagen Nummer vierzig, den der Rechtsanwalt Dr. Walter Borchardt steuerte, in hübschem flottem Tempo die Kurve nahm, sah Doktor Haake an jener Stelle einen umgeschlagenen Wagen im Chausseegraben liegen. Und er sah wenige Meter weiter das Fahrzeug, welches die Nummer drei auf dem Kühler trug, am Wegesrande halten, und sah, wie Carsten in Gemeinschaft mit seinem Mechaniker eifrig an der Arbeit war, einen neuen Pneumatik auszuziehen.

Mit der Linken winkte der Rechtsanwalt seinen Kontrolleur wieder nach vorn.

„Verstehen Sie jetzt, warum ich diese zwecklose Jagerei nicht mitmache?“ schrie er ihm ins Ohr, „Die Geschwindigkeit, die wir auf der Tourenstrecke erreichen, hat gar keinen Einfluß auf die Preisverteilung. Ich werde die Tour außerhalb der Rennen mit sechzig Kilometer fahren, und Sie, lieber Haake, können sich jetzt dahinten im Wagen schlafen legen.“

Das tat der aber einstweilen noch nicht. Er versuchte vielmehr, sich eine Zigarette anzuzünden und studierte mit Interesse die wechselnde Landschaft, durch die der Wagen dahinglitt,

Eine Stunde wohl verging, Da wurde hinter ihnen wieder Hupenklang und Sirenengeheul vernehmbar. Und dann sauste der große schwere Wogen Nummer drei, der inzwischen seine Pneumatiks neumontiert hatte, wie ein Pfeil an ihnen vorüber — Dr. Borchardt schätzte die Geschwindigkeit auf annähernd einhundertzehn Kilometer.

Nun lagen die Wagen, die von Stephanie und von seinem ernsthaftesten Nebenbuhler um deren Gunst gesteuert wurden, wieder vor ihm in der Konkurrenz.

Wieder verstrich eine Stunde. Da beugte sich der Kontrolleur von neuem zum Fahrer vor.

„Borchardt, ich finde die Sache stumpfsinnig. Schon zwölf Wagen, die hinter uns abgelassen wurden, haben uns überholt. Wollen Sie denn in diesem geradezu nervös machenden Bummeltempo von sechzig Kilometern weiterfahren?“

„Ich will“, erwiderte der Rechtsanwalt, „Aber trösten Sie sich. In einer halben Stunde haben wir Nürnberg. Da wollen wir eine gute halbe Stunde Mittag machen.“

Und dann tauchte die malerische Silhouette Nürnbergs auf. Die alten Türme und die Burgmauer hoben sich vom blauen Horizont ab. Und dann rasselte der Wagen Nummer vierzig in verlangsamtem Tempo durch die Straßen der alten Burggrafenstadt und fuhr in das eingezäunte Feld, auf welchem schon andere Wagen standen.

Sorgfältig zog Dr. Borchardt die Bremsen fest und stellte die Zündung ab.

„Kommen Sie, Haake,“ sagte er und schlug seinen Kontrolleur auf die Schultern. „Hier brauchen Sie nicht während der Pause beim Wagen zu bleiben. Dafür hat hier die Stadt Nürnberg ihre Nachtwächter beordert, damit keine unerlaubten Reparaturen gemacht werden. Schmidt,“ wandte er sich zum Mechaniker, „lassen Sie sich was zu essen geben.“

Und dann schritten Dr. Borchardt und sein Kontrolleur in die Festhalle, in der eine Militärkapelle spielte und zahlreiche Fahrer an kleinen Tischen saßen und dinierten.

„Um neun Uhr morgens schon Mittag, das ist wirklich ein bißchen früh am Tage,“ meinte Haake.

„Mag es sein, lieber Haake. Meinetwegen brauchen Sie nur eine Flasche Selterwasser zu trinken. Aber eine halbe Stunde will ich hier sitzen bleiben, damit meine Pneumatiks gut runter kühlen.“

Und forschend ließ Dr. Borchardt seine Blicke über die verschiedenen Tische gleiten.

„Ah, sieh da,“ rief er plötzlich und steuerte auf eine größere Gruppe los.

Da saß Stephanie von Gandern zusammen mit ihrem Kontrolleur und weiter hatte Herr Carsten mit seinem Begleiter an demselben Tische Platz genommen.

„Autoheil!“ rief Dr. Borchardt und schwenkte seine Kappe.

„Autoheil!“ erwiderte Stephanie den Gruß und winkte die beiden Neuankommenden an den Tisch heran.

„Nehmen Sie Platz und stärken Sie sich nach den Anstrengungen der Tour. Sie kommen ein wenig spät, Herr Doktor. Ich hatte im stillen gehofft, Sie würden uns aufholen und uns ein kleines Match liefern.“

„Stets gern zu Ihren Diensten, mein gnädiges Fräulein“, erwiderte der Rechtsanwalt. „Aber Sie wissen ja, daß die Arbeit vor dem Vergnügen kommt. Und diese Konkurrenz ist wirklich eine Arbeit. Man muß sich die kleinen Privatkämpfe gewaltsam verkneifen, um die Kräfte für den großen Endkampf zusammenzuhalten. Sie hatten an der ersten Kurve einen Pneumatikdefekt?“ wandte er sich an Carsten.

„Unbedeutende Sache,“ winkte er ab. „Hatte die Kurve ein bißchen scharf genommen. Das vertrug der Pneumatik nicht und empfahl sich. Hat aber nichts auf sich. Sie wissen ja, daß Pneumatikwechsel keine Strafpunkte gibt.“

„Zugegeben, Herr Carsten. Aber Sie haben vielleicht auch den Wagen gesehen, der da im Graben lag und alle vier Räder zum Himmel streckte. Das ist die nächste Folge, wenn man die Kurven übertrieben schnell nimmt. Warum, Herr Carsten? Man kann dabei höchstens viel verlieren, aber ganz sicher nichts gewinnen.“ Und bei diesen Worten warf der Rechtsanwalt einen langen Blick auf Stephanie.

Die Dame schlug einen Moment die Augen nieder.

„Ich bewundere Ihre Kaltblütigkeit, Herr Doktor. Prickelt es Ihnen denn nicht in allen Gliedern, wenn Sie am Steuer sitzen und sehen, wie der eine oder andere Wagen Sie überholt?“

„Gewiß, meine Gnädigste. Aber dann denke ich an den Kampfpreis und dann fällt mir jene alte Spielerregel ein: Gewinner ist, wer zuletzt gewinnt.“

Carsten zog seine Uhr.

„Wie ist es, mein gnädiges Fräulein. Ich denke, wir müssen so langsam aufbrechen.“

Allright!“ rief die Dame und begann sich die Handschuhe anzuziehen, „kommen Sie mit, Herr Doktor?“

Doktor Borchardt zog ebenfalls seine Uhr.

„Gnädiges Fräulein, ich möchte erst in zwölf Minuten starten.“

Stephanie warf ihm einen Blick zu, der Unmut und Enttäuschung verriet.

„Doktor, Sie haben Froschblut in den Adern. Aber wie Sie wollen. Dann auf Wiedersehen in München.“

Und Stephanie, Carsten und die beiden zugehörigen Kontrolleure verließen den Raum, während Dr. Haake der Gruppe einen begehrlichen Blick nachwarf.

„Borchardt, ich verstehe Sie nicht,“ wandte er sich dann an seinen Fahrer. Sie spielen hier weiß Gott die Figur eines Ritters von der traurigen Gestalt. Da brechen die beiden zum fröhlichen Wettkampf auf und werden sich höchstwahrscheinlich bis München noch manches kleine fröhliche Match liefern und Sie gondeln hier fischblütig Ihre Tour nach dem Chronometer und Geschwindigkeitsmesser ab.“

„Bitte, nicht fischblütig, sondern froschblütig hat Fräulein von Gandern gesagt,“ unterbrach ihn der Rechtsanwalt. Er ergriff die Trompete, welche Haake mit in den Saal gebracht hatte, und drückte sie einen Augenblick, als ob er das Blech zusammenpressen wolle. Dann warf er das Instrument auf den Tisch und zog seinen Chronometer.

„Geduld, Haake,“ erwiderte er schließlich mit einem leichten Seufzer. „Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Das ist eine alte Binsenweisheit, aber richtig ist der Satz.“

„Na, wie Sie wollen,“ entgegnete jener und zündete sich eine Zigarette an, „Schließlich ist es ja nicht mein, sondern Ihr Schade, wenn dieser Carsten das Spiel gewinnt. Ich habe nur als Freund meine unmaßgebliche Meinung zum besten gegeben.“

Der Rechtsanwalt antwortete nicht, sondern berichtigte seine Zeche beim Kellner und ergriff seine Kappe.

„Rauben Sie mir nicht die Ruhe, sondern kommen Sie jetzt,“ rief er seinem Kontrolleur zu und verließ den Saal.

Zehn Minuten später rollte der Wagen Nr. 40 beinahe mathematisch genau mit sechzig Stundenkilometern über die Landstraße dahin, über die endlose Straße, die hinter dem Wagen, am Horizont verschwand und vor ihm unerschöpflich neu aus dem Horizont zu quellen schien.

Die Uhr an den Türmen der Frauenkirche in München schlug die vierte Nachmittagsstunde, als der Rechtsanwalt sein Fahrzeug in die abgeschlossene Garage der Prinz Heinrich-Fahrer rollen ließ. Dann holte Dr. Haake sein Kontrollbuch hervor und schrieb die zweite kurze Notiz dieser langen Tagesfahrt ein. Sie lautete nur kurz: Ankunft München vier Uhr null Minuten nachmittags.

Der erste Tag dieser Hetzjagd war vorüber. Der vierte Teil der Gesamtentfernung war zurückgelegt. Aber noch standen Fahrern und Maschinen schwere Anstrengungen bevor. Noch waren die beiden schweren Rennen zu fahren.

Und schon dieser erste Tag hatte böse unter den Konkurrenten aufgeräumt. Von den einhundertfünfzig Wagen waren dreißig ausgeschieden. Defekte aller Art. Aber auch ein schwerer Unfall, eine umgefahrene Telegraphenstange, die im Sturze dem Fahrer den Schädel eingeschlagen hatte.

Befriedigt verließ Dr. Borchardt die Garage, um sein Hotel aufzusuchen und womöglich ein Paar Abendstunden in der Gesellschaft Stephanies zu verbringen.

Die traf er mit ihrem Vater in Gesellschaft des Herrn Carsten bei einem Glase Champagner.

Den hatten sie gemeinschaftlich bestellt, um damit ihre unterschiedlichen Siege gegen verschiedene Wagen, die sie unterwegs auf eigene Faust ausgefochten hatten, zu feiern.

„Bei dieser Flasche dürfen Sie nicht mittrinken, Herr Doktor,“ rief ihm Stephanie entgegen und reichte ihm gleichzeitig die Hand.

„Nein, Herr Doktor, das ist ein Siegespreis. Den haben wir uns gegenseitig, das gnädige Fräulein und ich aus eigener Tasche gestiftet.“

Dr. Borchardt, der den Sinn der Worte noch nicht verstand, nahm Platz und erwiderte:

„Erstens einmal ist die Flasche, soviel ich sehe, bis auf einen kleinen Rest geleert, so daß es sich nicht lohnen würde, noch einer so durstigen Kehle, wie ich sie von der Fahrt mitbringe, etwas davon anzubieten. Zweitens aber will ich Ihnen nicht verhehlen, daß mir ein einfacher deutscher Schaumwein lieber ist, als dieser französische Sekt.“

„Sie sind ein wunderlicher Mensch, Herr Doktor,“ sagte Stephanie, „Sie lieben es immer wieder Rätsel aufzugeben.“

„Inwiefern Rätsel, mein gnädiges Fräulein?“

Stephanie lachte leicht auf.

„Nun zum Beispiel das, was Sie eben über den Champagner sagten. Sie sind, wie ich mich erinnern kann, der erste Mensch, der über französischen Champagner ein abfälliges Urteil zu Gunsten des deutschen fällt.“

Dr. Borchardt zuckte die Achseln.

„Sie meinen, daß dazu Courage gehört, gnädiges Fräulein.“

„Nach der allgemeinen Auffassung ganz gewiß, Herr Rechtsanwalt. Aber mir scheint, Sie lieben es nun einmal, mit geheimnisvollen und rätselhaften Aussprüchen um sich zu werfen und Ihren Mitmenschen allerlei Probleme aufzugeben. Gedenken Sie sich damit interessant zu machen?“

Ein wenig verwundert blickte der Rechtsanwalt auf.

„Ich verstehe Sie wirklich nicht, mein gnädiges Fräulein. Ich erlaube mir die meinem persönlichen Geschmack entsprungene Meinung, daß ich den deutschen Sekt dem französischen vorziehe, eine Meinung, die beispielsweise mein Freund Haake, eine trinkfrohe, weinehrliche Kehle, durchaus teilt, und Sie schieben mir allerlei geheimnisvolle Probleme unter. Erklären Sie Ihre Meinung deutlicher, mein gnädiges Fräulein. Ihr untertänigster Knecht ist bereit, jedes Ihrer Worte mit Spannung aufzunehmen.“

„Also lassen wir den Sekt beiseite,“ lachte Stephanie, „Meinetwegen! Über die Geschmäcker wollte ja wohl schon irgend ein alter Römer nicht streiten.

Sprechen wir vielmehr von den Problemen. Und ein Problem haben Sie uns allen mit Ihrer Art zu fahren entschieden aufgegeben. Warum halten Sie solch vorsichtiges Tempo ein?“

Dr. Borchardt lehnte sich behaglich in seinen Sessel zurück und schmunzelte vergnügt.

„Sie wissen doch, mein gnädiges Fräulein, daß Weisheit die Mutter der Vorsicht ist.“

Stephanie warf ihm einen unmutsvollen Blick zu.

„Jawohl, ich weiß. Es ist mir auch bekannt, daß die Vorsicht ihrerseits wieder als Mutter des Porzellanschrankes ausgegeben wird. Wenn Sie in diesem Sinne allegorische Verwandtschaftsgrade mit mir besprechen wollen, so muß man also die Weisheit als die Großmutter des Porzellanschrankes ansehen.“

Doktor Borchardt ließ sich jedoch durch diesen schnippischen Einwand nicht aus seiner Ruhe bringen.

„Ich sehe, mein gnädiges Fräulein, daß Sie meinen Ausführungen viel Interesse entgegenbringen. Die Vorsicht ist aber auch meine —…“

„Jetzt wird es interessant,“ lachte Stephanie. „Passen Sie auf, Herr Carsten, jetzt werden wir etwas näheres über die verwandtschaftlichen Beziehungen des Herrn Doktor Borchardt zum Porzellanschrank erfahren.“

„Aber nicht doch, meine Gnädigste,“ unterbrach sie der Rechtsanwalt, durch diese Spöttereien schließlich doch verwirrt. „Ich wollte doch nur sagen, daß Vorsicht eine gute Lebensregel bei allen diesen Dingen ist.“

Wiederum lachte Stephanie.

„So leicht kommen Sie von diesem Thema nicht los. Wir wollen etwas näheres über Weisheit, Vorsicht und so weiter… hören.“

Jetzt schlich ein diabolisches Lächeln über die Züge Dr. Haakes. Er erhob sein Glas, verneigte sich gegen Stephanie und begann seinerseits in das Geplänkel einzugreifen.

„Gnädiges Fräulein, ich glaube, unser Freund Borchardt hat da eine Familie aufs Tapet gebracht, in welcher die Vaterlosigkeit geradezu chronisch zu sein scheint. Ich kann Ihnen aus meinen Erfahrungen als Kontrolleur dieses Herrn nur erklären, daß er mit der Vorsicht sehr eng liiert zu sein scheint, während ich viel Weisheit noch nicht bei ihm bemerkt habe.“

Dr. Borchardt warf seinem Freunde einen unmutigen Blick zu. Doch der fuhr unentwegt fort:

„Wir sind daher vielleicht berechtigt, Herrn Doktor Borchardt als den Vater des Porzellanschrankes in Anspruch zu nehmen. Die Weisheit wäre dann seine Schwiegermutter und das unerfreuliche Verhältnis zwischen ihm und ihr erklärt sich ganz zwanglos.“

Und nachdem Dr. Haake diese Blasphemie von sich gegeben hatte, widmete er sich wieder seinem Sektglase, während seine Augen allmählich den feuchten Glanz beginnender Seligkeit zeigten.

„Zehntausendmal lieber sitze ich hier,“ rief er mit lauter Stimme, „und trinke Sekt in netter Gesellschaft, als daß ich da Stunde um Stunde neben Ihnen auf dem Benzinkarren sitze.“

Und dann schweiften seine Gedanken anderswohin. Er betrachtete Carsten und wunderte sich, warum ihm Dr. Borchardt so unbedingt die Schonung dieses Mannes empfohlen hatte. Warum er ein weiteres freundschaftliches Verhältnis zu Haake geradezu davon abhängig gemacht hatte, daß dieser nichts gegen Carsten unternahm.

Und Dr. Fritz Haake kam zu der Anschauung, daß sein lieber Freund Borchardt die Noblesse doch bis zur Unklugheit treibe. Denn das mußte ein Blinder merken, das merkte sogar er selbst, der Dr. Haake, noch bei der dritten Flasche Sekt, daß der Herr Carl Carsten ein gefährlicher Konkurrent um die Gunst von Fräulein von Gandern war.

„Es gibt eben Widersprüche im Leben,“ sagte Haake zu sich selbst, „die nur für den, der den Widerspruch hervorruft, verständlich sind.“

Dr. Borchardt aber änderte jetzt die Tonart und ging vom losen Scherz zum tiefen Ernst über und legte alle Wärme in seine mahnenden Worte:

„Mein liebes, gnädiges Fräulein, ich bitte Sie auf das dringendste, seien Sie vorsichtig auf der weiteren Fahrt. Bis jetzt war es Kinderspiel. Wir sind auf geraden breiten Straßen gefahren. Aber schon morgen wird es anders aussehen und in den letzten Tagen der Woche werden wir uns durch die engen, geradezu lebensgefährlichen Straßen von Steiermark und Kärnten hindurchwinden müssen. Auf das dringendste bitte ich Sie, seien Sie vorsichtig und schonen Sie sich. Ich wäre untröstlich, wenn Ihnen etwas zustieße.“

Diese ernsten Worte verfehlten ihre Wirkung auf Stephanie nicht und sie wurde nachdenklicher, als es sonst ihre Art war.

Erst spät trennte sich die kleine Gesellschaft, um die etwaigen Stunden, die ihnen blieben, zur Ruhe zu benutzen.

Aber das war ja eben das Reizvolle und das Anstrengendste dieser sportmäßigen Veranstaltung, daß sie die physischen Kräfte jedes einzelnen Fahrers aufs äußerste erproben lassen mußte.

 

 

Kapitel 7.

Fritz Haake philosophierte.

Er lag, die Kappe fest bis an die Augen gezogen, die Brille dagegen über die Stirn, so daß die Augen ungehindert durch das Glas die zu Seiten des Wagens verbeijagenden Landschaften sehen konnten, in der ihm zugewiesenen Stellung auf dem Sitz des Wagens und dachte darüber nach, daß diese ganze tagelange Fahrerei absolut kein Vergnügen, sondern schon mehr eine fast menschenunwürdige Anstrengung zu nennen war,

Für ihn stand das Barometer des körperlichen und seelischen Wohlbefindens tief unter Null.

Was machte er sich noch aus den immer wiederkehrenden grünen Wiesen, den langen Pappel-Alleen, den immer wieder von neuem auftauchenden grünen Wäldern, dem blauenden Himmel, den Dörfern, den Menschen, den Städten und Ehrenpforten und all dem Drum und Dran, wenn das alles sich in mathematischer Reihenfolge wie ein unendlicher Kinematographen-Film wiederholte.

Allenfalls interessierte ihn noch ein totgefahrenes Huhn. Und mit einer gewissen Lustigkeit, die stark nach Galgenhumor schmeckte, konstatierte er es, wenn ein besonders kräftiger Stoß des Wagens ihm einen Schmerzensschrei entlockte. Mit einer gewissen Erleichterung stieß er dann jedesmal ein lautes „Au weh!“ aus.

Dann fühlte er wenigstens, daß er Mensch war.

Aber sonst — einmal und nicht wieder ließ er sich zum Kontrolleur einer solchen Fahrerei pressen.

Borchardt natürlich verstand ihn nicht. Der fuhr ja um einen Zweck. Sportlich und wahrscheinlich auch privatim.

Und dann starrte der Dr. Haake wieder auf die endlose Landstraße da vor sich, die unaufhörlich auf ihn zuströmte. Und der Doktor, dem der Sekt des vergangenen Abends noch ein wenig im Blute rumorte, hatte ein Gefühl, als ob diese Landstraße wie ein endloser Aal in seiner Mund und dann durch seinen Leib hindurchrutschte. Und dann blickte er auf den Wagen Stephanies, der vierhundert Meter vor seinem dahinfuhr.

Bei diesem Gedankengang erhielt Haake wieder einen fühlbaren Stoß. Der Wagen machte einen kleinen Luftsprung. Haake erhob sich ein wenig von seinem Sitz, machte eine pendelnde Bewegung, um dann mit einem Ruck, als ob ihm jemand einen Genickstoß versetzte, sich wieder niederzusetzen und weiterzufahren.

Nach diesem Ereignis hielt er es für angebracht, sich recht festzuhalten, und er kam weiter zu dem Resultat, daß das gnädige Fräulein da vor ihm über ein ganz ausgezeichnet durchkonstruiertes Knochengrüst und über eine hervorragend dauerhafte Bauart verfügen müsse.

Jetzt kam wieder ein Dorf.

Am Eingang stand die Ehrenpforte, in der Mitte das nun schon hundertmal gelesene „Herzlich Willkommen!“

Hier und da waren Fahnen aufgezogen, längs der Dorfstraße standen die Bauern mit ihren Frauen und Kindern, hatten sorgsam jedes Ferkel, jedes Huhn und jeden Hund in die Ställe geschlossen und nur sie selbst machten sich das Vergnügen, die schnellen Wagen zu betrachten, die mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch ihr Dorf und dann in seiltänzerischem Bogen um die Kirche, die mitten in der Dorfstraße stand, herumflogen.

Besonders bei der Kirche hatten die Bauern sich in dichten Reihen aufgebaut.

Da standen schon vier Wagen und streckten die offenen Motorhauben nach oben, ähnlich wie Maikäfer, die sich nicht mehr weiter erheben können. Und bei ihm standen ihre Herren, beklopften und untersuchten die Wagen, versuchten mit Hilfe des Dorfschmiedes zu retten, was zu retten war, und einige von ihnen mußten sich sogar selber bei einem Dorfbader einer Reparatur unterziehen.

Das alles sah Haake mit Augen, die ihm selber bisweilen vorkamen, als wären sie die großen Laternen am Kopfe einer Schnellzuglokomotive.

Nun war das Dorf schon wieder weit hinter ihnen — Waldesrauschen links und rechts — ein Rudel Rotwild brach plötzlich bei ihrem Herannahen neben der Straße daher aus dem Dickicht, um sofort wieder zu verschwinden. Und dann eine Zigeunerfamilie, für den Bruchteil einer Sekunde ihr Ohr mit Geschrei erfüllend und aus mechanischer Angewohnheit die Hände zum Betteln gegen den Wagen streckend.

Was sich die Leute eigentlich dachten!

Selbst der Rechtsanwalt bog sich zu Haake und schrie irgend etwas Unverständliches.

Die Situation war doch zu komisch.

Glaubten diese Leute in ihrer Naivität wirklich, daß ein Prinz-Heinrich-Fahrer seinen Wagen stoppen und ihnen einen Backschisch geben würde?

Aber Haake wünschte in diesem Moment, daß er mit einem Satze aus dem Wagen auf das Mooslager zu den Zigeunern flöge und dort, den Kopf auf die Arme gestützt, lang auf dem Boden liegen könnte, die Augen geschlossen und endlich einmal wieder lang und tief ruhen könnte.

Herrgott, wäre das schön gewesen!

Das wußte Haake ganz genau — wenn er diese Höllenfahrt wirklich mit heilen Gliedern überstehen würde, so war mindestens vier Wochen jeder Knochen und jeder Muskel bei ihm ruhebedürftig.

Wenn sie Quartier machten und zu schlafen versuchten, so wurde daraus gewöhnlich nicht viel.

Entweder wurde man von irgend welchen anderen Automobilisten, die sich in dem Nachtlager einfanden, zu einem ausgedehnten Schoppen eingeladen, von dem man sich nicht ausschließen konnte. Oder es gelang ihm wirklich einmal, rechtzeitig eins der gewöhnlich viel zu kurzen Hotelbetten zu bekommen. Aber dann hatte er, sobald der erste Schlummer sich einstellte, das Gefühl, als ob das Bett sich in ein jagendes Automobil verwandelt hatte und mit ihm, ausgerechnet gerade in dieser Nacht, die holprigsten und gefährlichsten Landstraßen aufsuchte.

Genau so müde und zerschlagen, wie er am Abend in eine solche Bettstelle kroch, genau so müde und zerschlagen stand er am nächsten Morgen wieder auf.

Und so ging die Fahrt weiter. Jetzt ein Puff — dann ein Stoß — dann wieder eine schüttelnde Bewegung, daß man das Gefühl bekam, als ob im Leibe die Eingeweide plötzlich Cancan zu tanzen begonnen. Dr. Haake selber diagnostizierte seinen Zustand als einen schnell fortschreitenden ruinenartigen Verfall.

Anders dagegen Borchardt.

Bei dem spannte die Sportsehre jeden Nerv und jeden Muskel zur Höchstleistung an. Seine Natur besaß eine Elastizität, die ihn all die Widerwärtigkeiten der Fahrt kaum fühlen und sicher überwinden ließ.

Nun war es endlich Dienstag morgen. Seit Sonntag früh, wo die wilde Jagd von Frankfurt am Main aufgebrochen, hatte sich Haake nach dem Dienstag gesehnt.

Da mußte man endlich in Wien ankommen.

München und Linz waren nun in starken Tagesetappen erreicht worden, und jetzt war man bis ins Herz Österreichs gelangt. Am Dienstag mittag schon sollten die Wagen in Wien sein.

Mittwoch war zum Ruhetag bestimmt.

Dort fand dann in der großen Praterhalle eine Ausstellung der konkurrierenden Wagen statt, die sogenannte Schönheitsausstellung.

Bei diesem Worte mußte Haake lachen.

Warum man nicht die Fahrer neben ihre Wagen auch in die Schönheitsausstellung schickte? Das wäre nach seiner Meinung sicherlich für jeden Zyniker ein unbezahlbarer Anblick gewesen.

Und während die Wagen nun in langer Reihe in die österreichische Hauptstadt ihren Einzug hielten, hindurch zwischen dichtgedrängten Menschenmauern und allerlei Ehrenpforten, philosophierte der arg zerrüttelte und zerschüttelte Dr. Haake weiter.

Wenn jemals eine der Wiener Hausfrauen im Laufe der nächsten zweihundert Jahre ihrem Dienstmädchen Vorhaltungen wegen schlechten Staubwischens machen wollte, so würde sie sicherlich die Prinz Heinrich-Wagen als abschreckendes Beispiel aufführen. Denn solcher Staub, wie der Staub, der von den Prinz Heinrich-Wagen mitgeschleppt wurde und an ihnen hing, solcher Staub war überhaupt nicht auszudenken. Die Wirklichkeit übertraf hier die kühnste Phantasie.

Haake ließ seine Einbildungskraft spielen, um etwas ähnliches zu finden, und er fand es endlich, indem er sich eine Backstube vorstellte, in welcher der Mehlstaub seit Jahrzehnten in dicken Fladen an der Decke hing. In der Tat bedeckten handstarke Schichten, richtige Krusten und Wolkenbildungen, die konkurrierenden Wagen an allen Teilen.

Im ganzen waren es nur noch hundert Wagen, die in Wien in einer solchen Verfassung ankamen. Fünfzig hatten es bereits aufgegeben, waren im Staube verschwunden, Die lagen irgendwo auf der langen Strecke und konnten nicht einmal mehr „Töff-Töff“ sagen.

Als aber der Rechtsanwalt nun endlich seinen Wagen auf den Sammelplatz im Praterpark lenkte, glaubte der Dr. Haake, in die Übung irgend einer freiwilligen Feuerwehr geraten zu sein. Es sah von weitem aus, als ob die Menschen, die sich dort versammelt hatten, sich gegenseitig wie eine Horde Wilder mit Spritzenschläuchen, mit vollgefüllten Wassereimern, mit Schrubbern und Lappen auf den Leib rückten. Erst bei näherer Betrachtung sah man, daß diese grotesken Anstrengungen den Wagen galten, wobei natürlich die Menschen genau so wie die Wagen trotz ihrer regendichten Ölmäntel naß wie die Katzen wurden.

Auch Dr. Borchardt stürzte sich, als ob er seit vier Wochen kein Wasser gesehen, auf einen Hydranten und begann mit seinem Mechaniker Schmidt eine Sündflut über den armen Wagen auszuschütten.

Haake, der als Kontrolleur dabei bleiben mußte, versuchte vergeblich mit allerlei Schlangenwindungen, die einem Akrobaten Ehre gemacht hätten, den Wassergüssen und Spritzstrahlen aus dem Wege zu kommen und endlich einmal eine Zigarette gegen das Wasser geschützt in der hohlen Hand zu rauchen.

Da entdeckte er nicht weit von ihnen den Wagen Stephanies, der bereits blitzblank und sauber, fertig zur Schönheitskonkurrenz dastand, und er versuchte sich zu der schönen Österreicherin hinüber zu pirschen.

Aber dieser Freund — dieser Dr. Borchardt —, dem er all diese Höllentortur verdankte, erinnerte ihn ernstlich an seine Pflichten als Kontrolleur und gab ihm zum Dank für sein Fortschleichen einen Hydrantenstrahl, der ihn fast der Länge nach in die Wasserlache gesandt hätte.

Volle geschlagene drei Stunden mußte er zwischen abfließendem Waschwasser und wild geschwungenen Wischlappen verbringen, und er nahm sich fest vor, für diese Art freundschaftlicher Behandlung dem Dr. Borchardt, sobald er in Berlin war, irgend eine Gegenfreude zu bereiten. Das natürlich sah er vollständig ein, daß er auch nicht im entferntesten etwas gleich ähnliches fertig bekommen würde.

Doch endlich war der Wagen Nummer vierzig so blitzblank und sauber, als käme er soeben aus der Fabrik in die Praterhalle gerollt,

Das war am späten Nachmittag gewesen, und nun endlich gedachte Haake sich seit langen Tagen in ein weiches Hotelbett zu legen und einmal ordentlich zu schlafen.

Aber es kam wieder ganz anders.

Kaum war er mit Borchardt im Hotel, kaum waren sie mit dem Lift zu ihren Zimmern emporgefahren, so sagte Borchardt:

„Wir müssen uns ziemlich beeilen, mein lieber Haake.“

„Beeilen — zum Teufel, Borchardt, sind Sie denn ganz von Gott und der Welt verlassen — Sie meinen doch mit dem Beeilen, daß wir uns recht schnell zur Ruhe legen?“

„Ich denke gar nicht daran,“ lachte Borchardt. „Sie haben jetzt die Verpflichtung, mit mir zusammen das große Diner mitzumachen, welches die Stadt Wien den Prinz Heinrich-Fahrern im Volksgarten gibt.“

Und Haake blieb weiter nichts übrig, als aus dem Riesenstaub in den festlichen Smoking zu schlüpfen, sich einem Barbier zu überliefern, dann mit Borchardt zusammen einen Fiaker zu nehmen und gerade noch so pünktlich anzukommen, daß sie mit den übrigen Prinz Heinrich-Fahrern sich gemeinschaftlich an die Ehrentafel der Stadt Wien setzen konnten.

Und dann mußte man trinken.

Ein Pokulieren hob an, wie es bei den alten Deutschen Sitte gewesen.

Ganze Methörner voll französischen Sekts wurden den Fahrern nolens volens von den gastfreundlich gesinnten Wienern in die Kehle gegossen. Gewaltige Mengen von Braten, Fisch, Gemüsen und Speisen wurden aufgetragen. Und gerade Dr. Haake mußte das Glück haben, zwischen zwei Wienern zu sitzen, die bei jedem Preisessen unbedingt den Vogel abgeschossen hätten.

Was ihm diese Leute an Speisen und Getränken aufnötigten, das hätte seiner Meinung nach für eine preußische Kompanie genügt, und mit einer Liebenswürdigkeit wurde das getan, daß Haake nicht widerstehen konnte und, um seinen Nachbarn den Gefallen zu tun, schließlich sämtliche Westenknöpfe öffnen mußte. Und während ihm der Nachbar zur Rechten noch eine mächtige Portion Apfelstrudel aufnötigte,… „Doe Mehlspeisen müssen‘s wissen, Herr Doktor, sind dös best von der ganzen Wiener Küch…“, wünschte sich Dr. Haake verzweifelt einen dehnbaren Kontinentalpneumatik an Stelle seines Magens. Aber während er an den Apfelstrudeln würgte, kam ihm der Gedanke, daß auch Pneumatiks bisweilen geplatzt sind. Und während er hier so ein Martyrium über sich ergehen ließ, saß unweit von ihm Stephanie von Gandern.

Ordentlich neidisch wurde der vielgeplagte Kontrolleur, wenn er ihr frisch gerötetes Gesicht, ihre blitzenden Augen und ihre strahlende Laune beobachtete.

Das war tatsächlich eine Frau, bei der die Männer zu tun hatten, gleichen Schritt zu halten.

Die Fahrerei schien sie überhaupt nicht mitgenommen zu haben, und dabei kannte Haake doch die Wege und das, was hinter ihnen lag. Und müde mußte sie sein — viel müder als wie Haake, denn sie saß ja am Steuer und hatte da nicht für eine Sekunde Gelegenheit, so wie es die Herren Kontrolleure im Wagen taten, ein kurzes Nickerchen wenigstens zu versuchen.

Wie Dr. Haake wieder in sein Hotel zurückgekehrt war, das hätte er bis an sein Lebensende nicht beschreiben können.

Er vermochte nur das Faktum zu konstatieren, daß er zurückgekehrt war, und die zweite Tatsache, daß er am nächsten Morgen seiner Meinung nach von Kanonendonner aufgeweckt wurde. In Wirklichkeit waren es die Fäuste des Rechtsanwalts Dr. Borchardt.

„Aufstehen — aufstehen!“ schrie der draußen, und da der vielgeprüfte Kontrolleur immer noch nicht wußte, daß er sich in Wien befand und daß heute ein Ruhetag war, so warf er mit einem Fluch seinen Smoking beiseite und zog seinen eingestaubten Automobildreß an.

Als er endlich dem Rechtsanwalt die Tür öffnete, lachte der laut auf und machte ihm jetzt endlich klar, daß man sich in Wien befand und heute kein Automobil zu besteigen brauchte.

Die Kunde, heute einmal kein Automobil besteigen zu brauchen, richtete Haake sichtlich auf. Eine halbe Stunde später saß er mit Borchardt in dem Frühstückzimmer des Hotels und begann mit starkem Kaffee die Spuren des Wiener Festmahls zu verwischen.

Dr. Borchardt selbst schien von diesem Festmahl gar nicht berührt zu sein.

„Natürlich,“ sagte Haake, „haben Sie nicht das Glück gehabt, neben einem Wiener zu sitzen, der es sich vorgenommen, Sie zugrunde zu richten. Die deutsche Sprache ist zu arm, um meine gestrigen Leiden zu schildern.“

„Das sehe ich,“ lachte Dr. Borchardt, „und nun habe ich an Sie eine Bitte — ich werde ein Automobil nehmen —“

Im nächsten Moment sprang Haake entsetzt auf. Abwehrend hob er beide Hände gegen Borchardt.

„Was haben Sie denn, Haake?“

„Und wenn Sie mir tausend Mark bezahlen, ich setze mich heute in kein Automobil. Ich gehe jetzt in eine Apotheke und werde mir dort eine Salbe geben lassen.“

„Das können Sie ja auch tun, teurer Freund. Lassen Sie sich einsalben und meinetwegen einbalsamieren. Ich sage ja noch gar nicht, daß ich Sie mit in das Automobil nehmen werde. Aber ich werde mit eins nehmen und ich kann deshalb nicht zur Schönheitskonkurrenz geben.“

„Wohin wollen Sie gehen?“ fragte Haake, dem die Schönheitskonkurrenz seit dem Wiener Festmahl noch nicht ins Gehirn zurückgekehrt war. „Machen Sie nicht solche Witze, Rechtsanwalt, Sie würden in der Schönheitskonkurrenz übel abschneiden.“

„Aber, Haake — Sie haben wohl ganz vergessen, daß heute in der Praterhalle die Schönheitskonkurrenz unserer Wagen ist.“

Jetzt dämmerte es bei Haake.

„Ganz richtig, jetzt weiß ich wieder Bescheid — also da wollen Sie nicht mit —“

„Nein, mein lieber Haake, sondern Sie werden allein dorthin pilgern und falls nach mir gefragt wird, so sagen Sie, ich fühle mich nicht wohl oder machen Sie sonst eine glaubhafte Ausrede. Aber die Hauptsache bleibt, daß niemand der Herrschaften erfährt, wo ich bin, auch nicht, daß ich in einem Automobil sitze. Wiederholen Sie mir das letztere, Haake.“

Allright,“ nickte Haake, „auch nicht, daß Sie in einem Automobil sitzen. Haben Sie sonst noch irgend welche Wünsche?“

„Nein, mein lieber Haake.“

„Schön, dann nehmen Sie Ihr Automobil und lassen Sie mich zufrieden.“

Wenige Sekunden später sah Haake durch das Fenster, wie Borchardt in einem mächtigen Kraftwagen davonfuhr. Er selber aber legte sich von neuem schlafen.

Erst spät am Nachmittag wachte er auf und jetzt war ihm bedeutend wohler. Er spürte einen Teil seiner alten Nervenkraft zurückkehren.

In fast normaler Verfassung verließ er das Hotel, nahm in tiefem Abscheu vor allem, was Automobil hieß, einen Wagen mit einem Pferd — sogar mit zwei Pferden — einen Wiener Fiaker und fuhr zur Praterhalle.

Eine große festliche Menge hatte sich dort eingefunden. Alles was in Wien zur Gesellschaft gehörte, war hinausgekommen, um die kühnen Fahrer und ihre Wagen zu bewundern.

Auch Stephanie von Gandern war unter der Menge. Begleitet von ihrem Vater und Carsten, ging sie durch den breiten Gang der Halle und ließ prüfend ihre Blicke über die zu beiden Seiten paradierenden Wagen gleiten.

Das blitzte und blinkte und umschmeichelte mit frischen Farben, als ob tatsächlich keiner der Wagen eine mehrtägige strapaziöse Fahrt hinter sich hätte.

Da hatte jeder der Besitzer sein Möglichstes getan, um das Fahrzeug wieder in bester Ordnung zu bringen.

Nur schrittweise vermochte Stephanie vorwärts zu kommen, denn von allen Seiten begrüßten sie Freundinnen und Bekannte, fragten nach ihrem Wagen und schlossen sich ihr an. Als sie vor dem Wagen Nummer sechzehn, ihrem Fahrzeug, stehen blieb, hatte sich eine beträchtliche Gruppe von Bewunderern der jungen mutigen österreichischen Fahrerin eingefunden.

Beinahe liebkosend strich Stephanie mit der Hand über die Pneumatiks, die fest und prall auf den Rädern saßen, und dann trat Carsten zu ihr und überreichte mit einer Verbeugung ein großes Rosenbukett, das er bis dahin, sorgsam in Seidenpapier eingehüllt, getragen hatte,

Das pflanzte er wie eine Trophäe auf das Steuerrad des Wagens und sagte gleichzeitig zu Stephanie:

„Der Schönheitspreis, der hier zu gewinnen ist, meine Gnädigste — den müßten und sollten Sie unbedingt gewinnen.“

„Sie meinen doch hoffentlich damit den Wagen und nicht mich, Herr Carsten,“ erwiderte Stephanie, „Oder wollen Sie etwa so fad sein und die Person mit dem Wagen verwechseln? — Sie wissen doch genau, daß der Preis gerade hier nicht dem Fahrer, sondern dem Wagen gegeben wird. Aber ich werde mir meinen Preis schon noch holen, verlassen Sie sich darauf.“

Dann ging die plaudernde Gruppe weiter und kam zum Wagen Nummer 40, dem Rechtsanwalt Dr. Borchardt gehörend.

Haake und der Mechaniker Schmidt standen dabei und während Haake, so gut es ihm sein mißhandeltes Rückgrat gestattete, eine kavaliermäßige Verbeugung ausführte, stand der Mechaniker als altgedienter Soldat stramm, als wolle er den Herrschaften beweisen, welcher Schneid auch noch in der Reserve steckt.

Fragend ließ Stephanie ihre Blicke umherschweifen.

„Wo steckt denn Ihr Freund und Fahrer, der Rechtsanwalt,“ wandte sie sich an Haake.

Fast wäre der mit der Antwort herausgeplatzt, „der hat den Automobilwahnsinn und gondelt irgend wo in der Umgegend von Wien herum.“ Noch im letzten Moment besann er sich, daß ihm Borchardt aufgetragen, nicht verlauten zu lassen. So beantwortete er ihre Frage mit einem Achselzucken und Stephanie erwiderte:

„Das ist doch eigentlich merkwürdig, Er wußte doch, daß wir an diesem Nachmittag in die Ausstellung wollten.“

In dem Moment erscholl eine Glocke als Zeichen, daß die Oberleitung den Schönheitspreis verkünden wollte.

Eine erwartungsvolle Stille legte sich über die gleich einem riesigen Bienenkorb summende Menge und das Megaphon, welches der auf einem mit den österreichischen und deutschen Fahnen geschmückten Podium stehende Präsident vor den Mund nahm, um sich den Tausenden von Besuchern der Halle verständlich zu machen, wäre nicht nötig gewesen. Gewaltig und klar schollen jetzt die Worte des Verkünders in die Tausende von Ohren: „Der Wagen des Herrn Rechtsanwalt Dr. Borchardt Nummer vierzig hat nach dem Urteil die meisten Gutpunkte für den Schönheitspreis erhalten.“

Stephanie machte einen Moment ein erstauntes Gesicht.

Sie wußte absolut nicht, warum gerade der Wagen des Rechtsanwalts vor ihrem Wagen den Schönheitspreis erhalten haben sollte.

Der war doch auf keinen Fall sauberer als wie ihr eigener.

Aber schließlich — die Oberleitung mußte das besser wissen als sie. Die Herren gingen mit sachgemäßer Genauigkeit vor und ließen sich durch nichts Äußerliches bestechen. Auch Haake machte ebenso wie der Mechaniker Schmidt ein verblüfftes Gesicht, während sich im nächsten Moment tausende von Augen auf ihren Wagen richteten.

Und da kamen auch schon die Herren von der Oberleitung mit dem obligaten Lorbeerkranz und Schleife in den deutsch-österreichischen Farben und der Jubel der Menge setzte ein. Hände streckte man Haake, den man für den vermeintlichen Besitzer hielt, entgegen. Irgend jemand brachte ein Hurra für den Wagen Nr. 40 aus, in das die Menge einfiel. Doch da war Stephanie, noch bevor die Herren mit dem Lorbeerkranz kamen, zu ihrem Wagen geeilt, hatte dort von dem Steuerrad das Rosenbukett abgenommen und es mit schneller geschickter Hand auf das Steuerrad des Dr. Borchardt befestigt.

Darüber machte nun Carsten seinerseits ein ziemlich indigniertes Gesicht. Denn zu dem Zweck hatte er wirklich nicht die Rosen erstanden.

Aber er zwang sich zu einem konventionellen Lächeln.

Und während nun eine große Parade von Bewunderern an dem Wagen Nummer 40 vorbei zog, blieb Stephanie neben Haake stehen und nahm statt des Rechtsanwalts — der weiß Gott wo steckte, — die Beglückwünschungen entgegen.

Fast hatte sie zuletzt das Gefühl, als sei das tatsächlich ihr eigener Wagen, für den sie die Huldigungen entgegennahm.

Erst nach einer Stunde traf sie sich wieder mit ihrem Vater, der mit Carsten unterdessen die weiteren Wagen besichtigt hatte, und ging mit den Herren zusammen zum Souper.

Dabei war sie von einer derartigen Liebenswürdigkeit zu Carsten, daß der sowohl wie auch Herr von Gandern mehr und mehr zu der übereinkamen, daß der Fabrikherr gerade auf dieser Fahrt von Tag zu Tag mehr Boden bei Stephanie gewänne.

Wo aber war der Preisträger des Wagens, Dr. Borchardt? Das hätte sicher niemand erraten.

Mit dem Kraftwagen, den er von einem Wiener Automobilfabrikanten geliehen, war er nach den letzten Worten, die er mit Haake wechselte, aus Wien hinausgefahren.

In einem Tempo, das gewaltig von seiner Fahrt in dieser Konkurrenz bis jetzt abstach, hatte er die Landstraße nach dem Semmering eingeschlagen.

Und dort, wo die einfache ebene Landstraße urplötzlich in einen steilen Serpentinweg übergeht, hatte er das Terrain sondiert. Langsam war er einmal den gefährlichen Zickzackweg in die Höhe gefahren, um ihn dann im beschleunigten Tempo ein zweites und ein drittes Mal zu nehmen. Gerade in der Zeit, als man ihn in der Prater-Halle als den Sieger in der Schönheitskonkurrenz feierte und seinen Wagen bewunderte, jagte der Preisträger in einem Tempo die gefährlichen Bergwege hinauf, daß die Funken unter den Pneumatiks wegspritzten und von dem Wagen nicht viel mehr als eine große Staubwolke zu sehen war.

Es war Abend geworden. Einer jener schönen Juniabende, da die Sonne sich kaum vom Horizont zu trennen vermag.

An diesem Abend waren die Prinz Helnrich-Fahrer Gäste des österreichischen Automobilklubs in dessen schönem Gebäude am Kärtnerring.

Alle die Leute, die Tage hindurch unförmlich, vermummt und verstaubt auf den Landstraßen dahingejagt waren, die hatten sich aus häßlichen Raupen in schöne Schmetterlinge verwandelt und waren zu diesem Abend in mondäner Gesellschaftstoilette erschienen. Die Herren in Frack, die Damen in Balltoilette.

Niemand hätte in den Festgästen dieselben Personen vermutet, die noch vierundzwanzig Stunden zuvor nur stumpfe gebrochene Farben zeigten, und ihre Gesichter hinter unförmlichen Masken und Larven verbargen.

Ein heiteres, farbenprächtiges Bild war es, das da die Klubräume boten. Man speiste an kleinen Tischen und das aufgebaute Büffet machte es erforderlich, daß die Herren sich selbst und die Damen bedienten.

Einer der letzten Gäste, die erschienen, war der Rechtsanwalt Dr. Borchardt.

Erst jetzt, als er den Klubraum betrat und Bekannte auf ihn zueilten und ihn beglückwünschten, erfuhr er, daß er den Preis in der Schönheitskonkurrenz erhalten.

Gleichzeitig aber fragte man ihn, ob er sich nicht wohl gefühlt habe, da man ihn so stark vermißt hatte.

Er gab ausweichende Antworten und niemand nahm sich die Zeit, auf seine Worte genau zu achten. Immer wieder drängten neue Freunde heran, um ihm ihren Glückwunsch auszusprechen.

So kam er auch an den Tisch, wo Stephanie von Gandern mit ihrem Vater, Carsten und dem Dr. Haake saß.

„Ich gratuliere Ihnen, Herr Rechtsanwalt,“ rief Stephanie, „und beuge mich dem Urteil der Herren von der Jury.“

„Das heißt,“ erwiderte der Rechtsanwalt, „daß damit in Ihren Augen mit meinem Wagen keine Gnade gefunden habe.“

Stephanie war tatsächlich nicht ganz der Meinung der Herren von der Jury. Trotzdem sie in ihrem ersten Impulse den Rosenstrauß an dem Wagen des Rechtsanwalts befestigt, hatte sich ihre Begeisterung nachher bedeutend gelegt. Und indem sie immer wieder ihren Wagen einem Vergleich mit dem des Rechtsanwalts unterzog, war sie zu der Überzeugung gelangt, daß ihr Wagen genau ebensogut, als wie der des Rechtsanwalts, den Schönheitspreis verdient habe.

Eine leichte Mißstimmung hatte deshalb bei ihr Platz gegriffen und sie behandelte den Rechtsanwalt ein wenig kühl.

Aber den schien das gar nicht zu berühren.

Im Gegenteil!

Je kühler Stephanie ihn behandelte, um so lustiger wurde er, so daß sie schließlich seine Aufgeräumtheit direkt als nervenaufreizend empfand.

„Wir werden ja sehen, Herr Rechtsanwalt,“ sagte sie, als man wieder von allen Seiten mit den Sektgläsern zu ihm geeilt war, um auf seinen Preis mit ihm anzustoßen, „bis jetzt hat Ihr Wagen ein derartiges Tempo eingeschlagen, daß man sportlich auf besondere Erfolge nicht hoffen kann. Da haben Sie dann in der Schönheitskonkurrenz wenigstens einen Trostpreis erhalten.“

Darauf sagte Borchardt:

„Man muß dem lieben Gott für alles dankbar sein. Immer besser einen Trostpreis als gar keinen, meine Gnädigste.“

Durch diese Antwort fühlte sich Stephanie derartig gekränkt, daß sie sich von jetzt ab nur noch mit Carsten unterhielt und diesen mit einer Liebenswürdigkeit behandelte, daß es nicht nur ihrem kleinen Kreise, sondern auch ihren Bekannten auffiel.

Als Haake mit Borchardt spät in der Nacht ins Hotel zurückkehrte, wunderte sich Haake über die glänzende Laune seines Freundes. Er konnte ganz und gar keinen Grund dazu entdecken.

„Hören Sie einmal,“ begann er ein letztes Gespräch mit ihm. „Ich finde, das gnädige Fräulein war heute recht ungnädig zu Ihnen. Ich glaube, Doktor, mit der haben Sie es ein- für allemal verspielt.“

Der Rechtsanwalt pfiff eine leichte Operettenmelodie vor sich hin.

„Mein lieber Haake,“ erwiderte er dann, „darüber wollen wir uns nicht ärgern. Im Gegenteil, ich selber nehme mir Veranlassung, äußerst vergnügt darüber zu sein.“

Den Sinn dieser Worte verstand Haake nicht. Er war auch zu müde, um weiter darüber nachzudenken. Ziemlich gedankenlos schlenderte er neben dem Rechtsanwalt dahin, dem Hotel zu, um sich für die Fahrt des nächsten Tages zu stärken.

 

 

Kapitel 8.

Der schöne Rasttag in Wien war in Wahrheit eine Ruhepause vor dem Sturm gewesen. Wieder waren die Fahrer in aller Herrgottsfrühe am Donnerstag von Wien her aufgebrochen, hatten in flotter Fahrt hundert Kilometer durchflogen, waren durch Wiener-Neustadt geeilt und hielten nun in Schott-Wien am Fuße des Semmeringpasses.

Und nun hatte der Starter des Klubs, der Baron von Janitor, die sämtlichen Fahrer zu sich gebeten und in einem Kreise um sich versammelt.

„Also, meine Herren… Verzeihung, meine Damen und Herren!“ verbesserte er sich, als sein Blick auf Stephanie fiel. „Sie werden in der Reihe der Wagennummern von der Kirche aus gestartet. Sie wollen dann in langsamem Tempo losfahren, bis Sie die Schmiede erreichen, die Sie gar nicht verkennen können. Von da aus dürfen Sie Ihr Tempo beliebig steigern, so daß Sie bereits in voller Fahrt bei dem letzten Wirtshaus aus dem Dorf hinaus kommen. Zweihundert Meter weiter liegt das Startband über der Straße, dort beginnt die Rennstrecke und der elektrische Apparat nimmt Ihre Zeit. Und nun in Gottes Namen, meine Herrschaften, und Autoheil auf die Reise!“

Die Fahrer kehrten zu ihren Wagen zurück und, wie noch bei jedem Start der letzten Tage, so setzte sich auch jetzt die lange Kolonne allmählich in Bewegung, um minutenweise vom Starter entlassen zu werden.

„Autoheil!“ rief Dr. Borchardt Stephanie zu, ergriff ihre Rechte und drückte sie einen Moment. „In einer halben Stunde, gnädiges Fräulein, werden wir weiter sein, als jetzt, werden wir etwas über die Preisträger wissen,“ sagte er und verabschiedete sich mit einem langen Blick.

Er fand seinen Kontrolleur wie immer Zigaretten rauchend und ein wenig übernächtigt im Chausseegraben neben dem Wagen sitzend. Denn Dr. Haake vertrug diese Frühaufsteherei absolut nicht.

„Nun hören Sie einmal zu, lieber Haake,“ wandte er sich an den Doktor. „Sie haben bis jetzt wirklich bequem im Wagen schlafen können. Aber jetzt geht es „um die Vorsicht“, wie sie in Frankfurt sagen. Jetzt sollen Sie etwas von Tempo erleben. Aber das ganze Rennen ist für mich natürlich zwecklos, wenn Sie mir während der Fahrt rausfliegen. Also, nun setzen Sie sich mal gefälligst hier so auf das Polster… So strecken Sie die Knie vor und senken Sie die Schultern. So, Sie müssen sich hier in der sogenannten neutralen Linie des Wagens direkt einklemmen. Dann besteht am wenigsten Gefahr, daß Sie umgeschleudert werden. Solange der Wagen steht, bleiben Sie dann auch drin… Und Sie, Schmidt,“ wandte sich Borchardt an seinen Mechaniker, „geben Sie noch mal zwei Pumpen Öl und dann halten Sie sich gefälligst auch ordentlich fest.“

Wieder war während dieser Verhaltungsmaßregeln der Wagen ein Stück vorgerückt und jetzt der vorderste zum Start.

„Los!“ rief der Baron von Janitor und senkte die Flagge.

Und los ging der Wagen Nummer vierzig. Er fuhr geschwind durch das Dorf, er begann bei der Schmiede zu jagen und er flog beim letzten Hause.

Haake, der sich tief eingeklemmt hatte, sah einen Moment das Startband und die elektrische Uhr und hörte dann, während ihm ein schneidender Wind um die Ohren pfiff, das taktmäßige Trommeln des Motors. Dann meinte er einen Augenblick, er würde kopfüber nach vorn aus dem Wagen fliegen, so plötzlich sank dessen Geschwindigkeit von hundert Kilometern auf dreißig herunter. Aber es blieb dabei, daß der gute Dr. Haake nur mit dem Kopf ordentlich gegen die Vorderwand flog und dann zur Seite kippte und sich einen gehörigen blauen Fleck an der linken Schulter holte. Denn in dem Augenblick, da der Wagen von hundert auf dreißig Kilometer herunterkam, nahm er auch haarscharf die erste gefährliche Kurve. Und dann wurde der Dr. Haake wie von einer unsichtbaren Macht wieder auf den Rücksitz geworfen, denn in wenigen Sekunden stieg die Geschwindigkeit des Wagens wieder auf hundert Kilometer und er jagte das zweite gerade Stück des Serpentinweges empor.

Einen blitzschnellen Blick hatte Dr. Borchardt noch hinten geworfen und konstatiert, daß sein Kontrolleur im Wagen sei. Befriedigt jagte er weiter, denn er wußte nun, daß der drin bleiben würde.

Und in der Tat hatte der von dem ersten Vorfall reichlich genug. Er spreizte und klemmte sich jetzt so felsenfest in den Wagenkasten, daß keine weitere Kurve ihn mehr umwerfen konnte.

Unterdes jagte der Wagen Nummer vierzig die zweite Gerade des Serpentinweges im Hundert Kilometer-Tempo dahin. Und dann kam wieder dieser maßlose Ruck nach vorn, dies plötzliche Abstoppen der Geschwindigkeit und die Umsegelung einer spitzwinkligen Kurve.

Diesmal verstand Dr. Haake die Sache schon besser und er fühlte sich sogar sicher genug, um seine Aufmerksamkeit auch den Dingen außerhalb des Wagens zuzuwenden. Er erblickte zur Linken, schon hundert Meter tiefer, aber gar nicht so weit entfernt, das Dorf Neu-Schott-Wien und sah die Herren vom Kaiserlichen Automobilklub am elektrischen Zeitapparat schien. Und dann blickte er nach oben und sah, daß sie noch einmal fünfhundert Meter in die Höhe mußten, um zum Ziel, zum Wirtshaus auf dem Semmering, zu gelangen.

Dann wieder jener Ruck und die Kurve in die nächste Serpentine. Und als Dr. Haake seine Gliedmaßen danach wieder in Ordnung hatte, bemerkte er tief unter sich hier einen weißen Fleck und dort einen roten Punkt, und nun sah er auch, daß das Wagen waren, die schon vor der Nummer vierzig ins Rennen gegangen und an den Kurven gescheitert waren.

Jetzt wieder ein Ruck und wieder eine Kurve. In sausender Fahrt wurde ein schwerer, unsicher fahrenden Wagen überholt. Im Vorbeifliegen sah Dr. Haake, daß das rechte Hinterrad glatt fortgebrochen war. Er sah kläglich aus, wie die Radnabe mit den abgebrochenen Speichenstümpfen noch auf der Chaussee dahinrumpelte. Noch hatte der Fahrer nicht begriffen, daß ihm ein Rad verloren gegangen war, und versuchte, das Rennen weiter durchzuhalten.

Aber Dr. Haake hatte keine Zeit, sich philosophischen Betrachtungen darüber hinzugeben. Denn, Ruck! kam jetzt die vierte Kurve und dann begann die Jagd von neuem in der fünften Geraden. Immer tiefer sank dabei das Dorf Schott-Wien, immer höher stieg der Wagen an der Berglehne empor. Im Junisonnenschein lag die grüne Lehne des Semmeringpasses da, hier saftige Wiesen, dort Bohnen- und Erbsenfelder. Ein Bild idyllischen Friedens. Und jetzt doch ein Schlachtfeld, auf dem ein erbitterter Kampf der jüngsten Industrie, des Automobilismus, ausgefochten wurde.

Schrumm! sagten Bremsen und Getriebe vom Wagen Nummer vierzig, und er flog durch die fünfte Kurve. Diesmal hatte Dr. Haake einen schmerzenden Stoß in die rechte Seite bekommen. Er beschloß, sich von jetzt an dauernd mir beiden Händen und Beinen festzuhalten. Aber um so interessierter ließ er dabei seine Blicke auf dem grünen Abhang ruhen. Und nun sah er, daß unter ihm auf den tieferen Serpentinen bereits fünf andere Wagen im Rennen fuhren. Er blickte die Berglehne hinauf und sah auch vor sich noch drei Konkurrenten. Er hörte ein dumpfes Krachen und sah, wie hundert Meter vor ihnen der Wagen Nummer neununddreißig in der Kurve niederbrach und mit verbogenen Achsschenkeln in ein Bohnenfeld kippte.

Schrumm! schrie darüber das Getriebe von Nummer vierzig und dann hatte er die Kurve genommen und lag in der siebenten Geraden. Wie ein Raubtier, das sich der Kette entreißt, sprang der Wagen, sowie die Kurve genommen war, wieder nach vorn und jagte im Hundertkilometer-Tempo die gerade Strecke nach oben.

Nun lag die Kirche schon ganz tief da unten und die Menschen am Start erschienen nur noch wie die Fliegen, während der Rennwagen höher und höher stieg. Noch einmal eine Kurve und eine Gerade und dann noch einmal. Die saftigen Wiesen wichen jetzt dunklen Kiefern, die den Weg umsäumten. Dann lief der Wagen in sinnbetörendem Tempo über ein schmales weißes Band, welches auf der Straße lag. Und dann wich die Geschwindigkeit und ganz langsam kam Dr., Haake zu der Erkenntnis, daß das Bergrennen über die Semmeringstraße wohl das schwierigste Stück der ganzen Prinz Heinrich-Fahrt, für den Wagen Nummer vierzig vorüber sei. Das ganze Rennen hatte kaum sechs Minuten gedauert. Aber zehnmal war dabei die Geschwindigkeit von hundert auf dreißig Kilometer gefallen und dann wieder gestiegen. Zehnmal war der Wagen um kritische Kurven geflogen, und dem Dr. Haake schien es, als habe die Fahrt nicht sechs Minuten, sondern sechs Stunden gedauert.

Und jetzt fuhr Nummer vierzig um das Semmering-Wirtshaus herum und stellte sich in Reih und Glied neben andere Wagen. Ruhig zog der Rechtsanwalt die Bremsen fest und stieg vom Führersitz hinab. Sein Gesicht war eine Nuance blasser als gewöhnlich. Seine Augen schienen ein wenig zu brennen, als er jetzt zu den Herren am Zielband trat.

Kurze Rede und Gegenrede. Dann trat er zu seinem Wagen zurück.

„Haake, wir haben die Tour vier Minuten und dreiundzwanzig Sekunden schneller zurückgelegt, als wir brauchen. Wir haben reichlich gute Punkte in diesem Rennen verdient.“

Der Doktor sah ihn zunächst an wie ein Mensch, dem von einem sehr hohen Hause ein Dachstein auf den Kopf gefallen ist.

„Ich bin vorläufig noch Mensch a. D.,“ stöhnte er schließlich. „Ich glaube, ich habe keinen ganzen Knochen mehr im Leibe.“

Der Rechtsanwalt lachte.

„Vertreten Sie sich ordentlich die Beine und sehen Sie sich ein wenig unter den Menschen um. Trinken Sie auch ein Glas Wein, das wird Sie wieder zum Menschen machen. Wir bleiben doch wenigstens noch eine Stunde hier, als die letzten Wagen durch sind.“

Und während der Doktor mit zitterigen Händen versuchte, eine Zigarette in Brand zu setzen, ging der Rechtsanwalt um das Wirtshaus herum und suchte seine Bekannten auf.

Mit strahlendem Blick trat ihm Stephanie entgegen.

A la bonheur, Herr Doktor! Ich hörte schon, Sie haben beinahe fünf gute Punkte. Bis jetzt haben Sie von allen Wagen in diesem Rennen am besten abgeschnitten.“

Dr. Borchardt verbeugte sich.

„Ich danke Ihnen für Ihren Glückwunsch, mein gnädiges Fräulein. Darf ich mich nun erkundigen, wie Sie aus diesem Wettstreit hervorgegangen sind?“

Einen Moment schien ein Schatten des Unmutes über Stephanies Stirn zu huschen.

„Wissen Sie was, Herr Doktor,“ erwiderte sie, „ich habe nur zwei gute Punkte gemacht. Und dabei habe ich eine gute Fahrt geliefert. Ich verstehe die ganze Berechnung nicht.“

Dr. Borchardt schwieg einen Augenblick. Er verstand diese Berechnung sehr genau.

Aber er hielt es gar nicht für angebracht, darüber jetzt große Erklärungen zu geben. Er beschränkte sich darauf, auch Carsten, trat jetzt hinzutrat, die Rechte zu schütteln und einen kleinen Imbiß vorzuschlagen

Wenige Minuten später saß man gemütlich an einem der wenigen Tische. Und während von unten her ein Wagen nach dem anderen über das Zielband rollte, während noch so mancher der Konkurrenten sich an den Kurven mit seinem Wagen in das grüne Gras legte, saßen diejenigen, die den Kampf glücklich überstanden, oben auf der Paßhöhe tauschten Scherzworte miteinander und freuten sich, daß sie die schwierige Fahrt bewältigt hatten.

Das Bergrennen war nun vorüber. Aber dafür begann jetzt eigentlich der schwerste Teil der Tourenfahrt: Die Fahrt durch die österreichischen Alpen.

Das war eine neue gewaltige Anstrengung sowohl für die Wagen als wie für die Fahrer.

Aber sie waren allesamt bereit, den Kampf aufzunehmen. Schon begannen einzelne, kaum daß sie das schwere Bergrennen hinter sich hatten, zur Weiterfahrt durch Steiermark und Kärnten und Klagenfurt aufzubrechen.

Auch Stephanie brannte vor Ungeduld, wieder den Fahrersitz einzunehmen und während Dr. Borchardt nebst Haake noch absolut nicht an eine Beendigung ihres Frühstücks dachten, erhob sie sich und reichte dem Rechtsanwalt die Hand:

„Ihre Ruhe, Herr Rechtsanwalt, ist tatsächlich sportwidrig.“

Der Rechtsanwalt legte eine delikate Hühnerbrust, der er gerade seine volle Aufmerksamkeit gewidmet hatte, auf den Teller zurück.

„Inwiefern, mein liebes gnädiges Fräulein?“ erwiderte er dann. „Ich bin im Gegenteil der Ansicht, daß Ruhe, möglichst vollkommene Ruhe die erste und wichtigste Vorbedingung für jeden erfolgreichen Sportbetrieb ist.“

„Ruhe der Nerven, meinetwegen, Herr Rechtsanwalt. Aber ich meine das jetzt betreffs der Zeit.“

„Um die Zeit kümmere ich mich nicht.“

Well! Jeder nach seinem Geschmack! Ich wünsche Ihnen einen weiteren gesegneten Appetit. Ich selbst werde mich jetzt auf meinen Wagen setzen und weiterfahren.“

Der Rechtsanwalt fuhr sich mit der Serviette über den Mund und schob seinen Teller ein wenig zurück.

„Gestatten Sie mir, gnädiges Fräulein, bevor Sie Ihren Wagen besteigen, Ihnen nochmals eine herzliche Bitte auszusprechen?“

Verwundert blickte Stephanie den Rechtsanwalt an.

Was mochte er für eine Bitte an sie haben?! Ziemlich abweisend sagte sie:

„Wenn es in meiner Macht steht, Ihnen die Bitte zu erfüllen.“

„Es steht sogar ganz allein in Ihrer Macht.“

„Dann bitte ich, machen Sie es kurz, Herr Doktor. Sie sehen, daß ich meine Zeit höher bewerte als Sie die Ihrige.“

„Das sehe ich und gerade deshalb wird meine Bitte von Ihnen um so schwerer erfüllt werden. Trotzdem muß ich diese Bitte wieder und immer wieder vortragen.“

„Aber so beeilen Sie sich doch!“

Doch der Rechtsanwalt schien ihre Nervosität gar nicht bemerken zu wollen, In seiner etwas gemächlichen Art erhob er sich, trat dann dicht zu ihr und sagte:

„Ich habe ganz und gar nichts dagegen gehabt, mein liebes gnädiges Fräulein, daß Sie den bisherigen Teil unserer Fahrt in einem flotten Jagdtempo zurückgelegt haben. Aber von jetzt an ändern sich die Dinge ganz gewaltig.“

Stephanie wußte durchaus nicht, worauf der Rechtsanwalt mit den Worten zielte.

„Ich verstehe Sie nicht, Herr Doktor. Wollen Sie mir etwa einen Vorwurf daraus machen, daß ich bis jetzt auf der Fahrt gezeigt habe, daß ich meinen Wagen zu lenken verstehe!?“

„Das bestreite ich Ihnen gar nicht. Aber Sie lassen oftmals die Ruhe vermissen, die für den Fahrer eines derartig schweren Wagens und für den Liebhaber eines so gefährlichen Sportes wie des unsrigen nötig ist. Das Jagdtempo war oftmals ganz unangebracht.“

Stephanie trat einen Schritt zurück und maß den Rechtsanwalt mit kalten Blicken.

„Glauben Sie sich eine Vormundschaft über mich anmaßen zu dürfen?“

„Ich bedaure, mein gnädiges Fräulein, daß Sie das so auffassen, Es sollte nur der Rat eines Freundes sein und eines, wie man weiter mir nachsagt, tüchtigen Kenners unseres Sportes.“

„Ich danke Ihnen sehr,“ erwiderte sie kurz und dann zu den neben ihr stehenden Carsten sich wendend:

„Es ist eigentlich unglaublich, was die Herren der Schöpfung sich manchmal gegen uns Damen als die Vertreter des vermeintlich schwachen Geschlechtes herausnehmen. Kommen Sie, Herr Carsten, wir wollen fahren.“

Und ohne den Warner weiter eines Grußes zu würdigen, ging sie, von Carsten begleitet, zu ihrem Wagen, während der Rechtsanwalt sich mit einem lakonischen: „Na, denn nicht!“ wieder an den Tisch setzte. Dort nahm er sich gemütlich wieder die Hühnerbrust vor.

Haake aber goß langsam den Inhalt des vor ihm stehenden Glases Wein hinunter und sagte, nachdem er das getan: „Bei der schönen Österreicherin, mein lieber Doktor, haben Sie meines Erachtens sämtliche Achsen gebrochen.“

Das bedeutet aus der Automobilsprache ins Deutsche übertragen:

„Mit der hast du verspielt!“

Doch dem Rechtsanwalt Doktor Borchardt schien das sehr gleichgültig zu sein.

Er war einer der letzten, die von dem Platz auf die Fahrt gingen, und einer der wenigen Fahrer, die behaglich zurückgelehnt hinter dem Steuerrad saßen und eine Zigarre rauchten.

Erst als er seine Zigarre zu Ende geraucht, rückte er den Geschwindigkeitshebel und ging aus der gemütlichen Fahrt in ein schärferes Tempo über.

Aber das war auf den sehr schlechten Wegen derart gefährlich, daß Haake wieder ernstlich an seine Lebensversicherungspolice dachte, die er zu Hause bei sich im Schreibtisch für seine etwaigen Erben deponiert hatte.

Nur eine halbe Stunde hielt Doktor Borchardt dieses Tempo ein, da tauchte vor ihm der Wagen Nummer 16 auf und der flatternde dunkelblaue Automobilschleier Stephanies.

Den wollte er erreichen und deshalb hatte er seinen Wagen in ein Renntempo gebracht.

Nun drosselte er die Geschwindigkeit wieder ab und fuhr gemächlich mit gleichbleibendem Abstand hinter dem blauen Schleier her, so daß Haake sich hochbefriedigt in die Kissen des Wagens zurücklehnte und die Augen schloß.

Ihm waren die Landschaften, die sich da so wundervoll zu beiden Seiten aufbauten, ganz gleichgültig.

Anders dagegen der Rechtsanwalt. Dessen Augen nahmen mit Entzücken all das in sich auf, was dort so wundervoll vor ihnen lag.

Der Weg vom Semmering führte sie jetzt über Leoben durch das Murtal. Tief unten im Tale rauschte in tausend Windungen der wilde Gebirgsstrom. Dicht neben dem Fluß, auf hundert Brücken, bald nach rechts und bald nach links springend, zog sich die Eisenbahn dahin. Für die Landstraße aber war da unten kein Platz mehr. Die lief an der Berglehne entlang. So schmal, daß sich zwei Wagen kaum ausweichen konnten, daß an ein Überholen nicht mehr zu denken war.

Und an den Berglehnen lagen auch die Dörfer. Wie aus einer Spielzeugschachtel aufgebaut, lagen sie rechts und links an der schmalen Landstraße und machten den gefährlichen Weg noch gefährlicher.

Da tauchte der Weg geradlinig in ein solches Dorf hinein. Aber nur wenige Schritte. Dann sprang plötzlich eines jener kleinen Gebirgshäuser in die halbe Wegbreite vor und die Straße mußte um das Hindernis in scharfer Kurve herumgehen, Und kaum hatte sie wieder die alte Richtung, so schob sich von der anderen Seite ein anderes Haus in den Weg hinein. So war jedes Dorf geradezu ein raffiniertes Hindernis für die Fahrer.

Wunderbar die Landschaft. Unten der Strom und die Bahn, auf welcher die Züge sich wie Spielzeug ausnahmen. Und dann die dunkelgrünen Berglehnen und darüber die mit ewigem Schnee bedeckten Gipfel der Alpen von Steiermark und Kärnten.

Das war eine Landschaft, die zum geruhsamen Genießen geradezu herausforderte.

Aber die wenigsten der Fahrer nahmen sich die Zeit dazu. „Klagenfurt“ lautete die Parole dieses Tages. Möglichst schnell, möglichst glatt dorthin zu kommen, war das Ziel aller Beteiligten.

Dr. Borchardt freilich, der sich jetzt stets hinter Fräulein von Ganderns Wagen hielt und dem das Tempo, welches sie einschlug, ganz und gar nicht paßte, hielt es doch für angebracht, ihr möglichst nahe zu bleiben, denn er wurde das Gefühl nicht los, daß diese Fahrt nicht glatt ablaufen könne.

Zunächst freilich schienen die Ereignisse ihm Unrecht zu geben.

Stephanies Wagen durchfuhr ein Dorf nach dem anderen. Mürzzuschlag, durch die Politik weltbekannt, in Wirklichkeit ein tristes Dorf, wurde genommen. Krieglach und St. Mareien wurden passiert, Und dann kam Leoben, kam Kraubach und St. Lorenz. Aber immer schroffer wurden jetzt die Berglehnen. Immer schlechter wurde der Weg. Schon war es mehr ein gemeiner Feldweg als eine ordentliche Landstraße. Und dem Rechtsanwalt schien es jetzt, als ob der Wagen, der dort vorn vor ihm dahinflog, weniger sicher geführt würde. Das konnte an der Nervosität der Fahrerin liegen. Es konnte aber auch einen technischen Grund haben. Die Steuerung konnte sich irgend wie gelockert haben.

Dr. Borchardt beschloß, das Fahrzeug unter keinen Umständen aus den Augen zu lassen, Jetzt wurde der Weg in Judenburg breiter. Aber trotzdem ging Stephanies Fahrzeug so dicht an den Bäumen dahin, daß die Stämme gestreift wurden und einer der schweren Reservepneumatiks abgerissen zur Erde fiel.

Die Fahrerin schien es nicht zu bemerken, denn sie jagte unaufhaltsam weiter.

Im Moment brachte der Rechtsanwalt seinen Wagen zum Stehen, ließ den verlorenen Pneumatik in den Wagenkasten werfen und dann ging es weiter.

Wieder wurde eines jener winkligen Dörfer passiert. Dann sah Doktor Borchardt den Wagen Nr. 16 wieder vor sich, sah ihn in windender Eile dahinschießen. Die Landstraße senkte sich jetzt zum Talgrund, um die Bahn zu überkreuzen, Und jetzt bemerkte der Rechtsanwalt auch den Grund der rasenden Fahrt. Dort unten fuhr ein Zug im Tale entlang. Den hatte auch Stephanie bemerkt und von dem wollte sie sich unter gar keinen Umständen überholen lassen.

Nun fuhr die Gebirgsbahn nur etwa mit fünfzig Kilometern. In der Ebene wäre es ein leichtes gewesen, den Zug zu überholen. Aber es ist ein Unterschied, ob ein Kraftwagen in der Ebene auf guter gerader Chaussee dahinfährt oder ob er seinen Weg über eine winklige Gebirgsstraße nehmen muß.

Jetzt sah der Rechtsanwalt, wie der Wagen vor ihm neben der Eisenbahn anlangte. Die Chaussee machte hier einen scharfen Knick, um erst ein Stückchen neben der Bahn herzulaufen.

Und nun sah Dr. Borchardt, wie die Fahrerin da vor ihm plötzlich die Gewalt über die Maschine verlor. Er sah in Bruchteilen von Sekunden, wie der Wagen auf der Landstraße hin- und herschwankte und dann in den breiten, flachen Graben neben der Landstraße fuhr. Und dann drang ein Krachen, ein Klang von brechendem, splitterndem Holz an sein Ohr. Nur über wenige Zehntel einer Sekunde erstreckte sich alles weitere, aber er konnte die einzelnen Phasen haarscharf verfolgen.

Eine der Telegraphenstangen, die den Weg umsäumten, schien sich einen Moment zu heben und flog dann zur Seite in den Acker. Mit einem jähen Ruck stand der Wagen. Und dann wirbelten zwei dunkle Flecke durch die Luft. Einer davon fiel im Chausseegraben nieder und blieb dort bewegungslos liegen. Der andere schlug hart auf die Landstraße auf, erhob sich jedoch sofort wieder.

Und dann war der Wagen des Rechtsanwalts an die Unglücksstelle heran und hielt sofort. Dr. Borchardt sprang vom Fahrersitz und schritt auf das verunglückte Fahrzeug zu. Ein Blick überzeugte ihn, daß der Wagen selbst erstaunlich wenig gelitten hatte. Wäre er mit dem Vorderrad gegen die Telegraphenstange geprallt, so wäre das Rad sicher zertrümmert worden und der Wagen höchstwahrscheinlich umgekippt. Wäre der Wagen direkt mit der Mitte des Vorderteiles dagegen gefahren, so wäre zum mindesten der Kühler und wahrscheinlich auch die Maschinerie zertrümmert worden.

Aber merkwürdigerweise hatte der Kraftwagen die Telegraphenstange gerade mit einem seiner Längsträger gefaßt. So war die starke Stange im gesunden Holz glatt weggebrochen. Querfeldein hing sie schief über dem Acker, da ihr oberes Ende noch von den Leitungsdrähten getragen wurde.

Das alles übersah Dr. Borchardt in einer Sekunde, während er dem Wagen nähertrat. Dann wandte sich seine ganze Aufmerksamkeit der Fahrerin zu.

Stephanie war auf ihrem Führersitz hinter dem Steuerrad geblieben, während ihre beiden Begleiter, der Kontrolleur und der Mechaniker, herausgeschleudert waren. Das breite Steuerrad, weiches sie direkt vor sich hatte und überdies ja im Augenblick der Katastrophe mit den Händen hielt, hatte es verhindert, daß sie ebenfalls vom Wagen geschleudert wurde. Aber es hatte ihr auch gleichzeitig im Augenblick der Kollision einen Stoß versetzt, der sie ohnmächtig auf ihren Sitz zurückwarf. So hing sie jetzt, die Augen geschlossen, mit todblassem Gesicht über dem Rad, vor wenigen Minuten noch die kühne und selbstbewußte Lenkerin der mächtigen Maschine und jetzt nicht einmal mehr Herrin ihrer Glieder.

Entschlossen trat Dr. Borchardt näher, richtete die Ohnmächtige auf, hob sie sanft vom Führersitz und legte sie vorsichtig auf den grünen Rasen. Er fühlte dabei, daß ihr Puls noch ging, daß es sich nur um eine Ohnmacht handelte und nach menschlichem Ermessen keine inneren Verletzungen vorlagen.

Aber Dr. Borchardt war zu sehr und zu lange begeisterter Automobilist, um nicht auch die Gefahren dieses Sportes zu kennen. Er wußte aus seiner Praxis, daß solch plötzlicher starker Schlag des Steuerrades gegen den Leib auch schon gelegentlich schwere innere Verletzungen zur Folge gehabt hatte.

Und so zeigte er auf der Stelle, daß er nicht nur Rechtsanwalt und Kraftfahrer, sondern auch ein wenig Arzt war.

Eilfertig holte er Kissen aus seinem Wagen, bettete die immer noch Ohnmächtige in bequemster Lage und brachte endlich eine Flasche mit feurigem zyprischen Wein zum Vorschein.

Ein wenig“ von diesem alten edlen Traubenblut ließ er dickflüssig und schwer wie Öl in einen silbernen Trinkbecher rinnen.

Dicht neben der Ohnmächtigen kniete er dann nieder, hielt ihren Kopf in seinem Arm und flößte ihr mit unendlicher Sorgfalt ein wenig von der würzigen Flüssigkeit ein. Ganz blaß und wie leblos sah ihr Gesicht aus. Und der feurige Wein wollte die Ohnmacht nicht zu beheben.

Der Rechtsanwalt bettete sie wieder auf die Kissen, eilte zu seinem Wagen, in dem er einen kleinen Medizinkasten für alle Fälle mitgenommen hatte, und ohne sich um die anderen wahrscheinlich schwerer Verunglückten zu kümmern, lief er zu der Ohnmächtigen, öffnete rücksichtslos ihre Taille, achtete gar nicht auf die bestrickende weiße, schneeige Haut, die ihm entgegenschimmerte, sondern begann die Herzgegend mit Äther einzureiben.

Dann hielt er ihr englisches Salz vor das Gesicht, tränkte ein Taschentuch mit Eau de Cologne, rieb die Schläfen und Stirn ein und jetzt endlich bemerkte er mit Freude, daß sie die schönen Augen aufschlug, ihn verwundert für einige Sekunden anblickte und dann die Situation erkennend mit einer hastigen Bewegung beide Hände über die geöffnete Brust deckte, während gleichzeitig glühende Scham ihr ins Gesicht schlug.

Jetzt erst empfand der Rechtsanwalt selber das Peinliche ihrer Lage.

„Gott sei Dank, mein liebes gnädiges Fräulein, daß Sie endlich wieder die Augen aufschlagen. Ich wäre untröstlich, wenn Ihnen etwas Ernstliches zugestoßen wäre. Wie fühlen Sie sich jetzt?“

Mit schwacher Stimme antwortete sie:

„Ich danke Ihnen, mein lieber Herr Doktor. Ich glaube, mir ist nichts Ernstliches zugestoßen. Nur die Rippen tun mir etwas weh. Mein Gott, wie ist das nur alles gekommen?“

Sie versuchte sich aufzurichten, um nach ihrem Wagen Umschau zu halten. In diesem Augenblick wurde das Signal einer schrillenden Trillerpfeife hörbar und ein Kraftwagen tauchte in vollem Renntempo auf.

Schon von weitem leuchtete die brennende Drei am Kopfe des Wagens.

In schneller Fahrt jagte er heran und sowohl Dr. Borchardt wie Stephanie erkannten deutlich die Gestalt Carstens am Steuer.

Und auch Carsten sah die Szene da vor sich. Er sah die gebrochene Telegraphenstange im Felde hängen und sah, wie sein Rivale, der Doktor Borchardt, sich um Stephanie bemühte. Während sein Wagen mit unverminderter Geschwindigkeit dahinschoß, begann das Gehirn des Fahrers fieberhaft zu arbeiten.

Herr Carl Carsten hatte auf der Strecke vom Semmering bis hierher bereits zweimal Pneumatikdefekt gehabt. Das kostete zwar keine Strafpunkte, aber es hielt immerhin unliebsam auf. So kam es, daß sein schneller, schwerer Wagen jetzt überhaupt so weit zurücklag. Und über diese Verzögerung war er nervös geworden,

Blitzschnell jagten seine Gedanken durcheinander.

Sollte er hier halten und seine Hilfe anbieten? Er verlor dadurch ganz und gar nichts, denn das Geschwindigkeitsrennen war ja vorüber. Man befand sich ja wieder in der Tourenfahrt und es genügte, wenn jeder seinen Wagen vor Schluß der Kontrolle nach Klagenfurt brachte.

Aber dann dachte Carsten weiter. Aufenthalt. — — Verpflichtungen —. Sich bis zum Schluß um die Verletzte zu kümmern. Zuspätkommen und andere Zufälle. Und dann wieder kam ihm blitzschnell seine Lage ins Gedächtnis, Er mußte das Rennen machen. Er mußte einen Preis holen, sonst stand es schlecht um seine Existenz.

Viel schneller, als sie hier wiedergegeben werden können, waren alle diese Überlegungen durch Carstens Gehirn gezogen. Aber sein Wagen war dabei bis auf wenige Meter an die Unfallstelle herangerollt. Und nun schien es Carsten, als stände ein anderer hinter ihm, der es ihm unmöglich machte, den Wagen still zu halten. Er wollte seine Hand zur Gasdrossel führen. Aber sie blieb wie gebannt am Steuerrad liegen. Er wollte die Zündung abstellen, aber er brachte keinen Finger zum Hebel. Er wollte den Motor abkuppeln, aber sein Fuß fand den Weg zum Hebel nicht.

Und dann schoß der Wagen Nr. 3 an der Unfallstelle in unvermindertem Tempo vorüber. Einen Augenblick sah Carsten das blasse Gesicht Stephanies aus nächster Nähe, sah er, wie sie ihm einen zornigen, unmutsvollen Blick zuwarf. Dann war alles vorüber und sein Wagen schoß weiter die Landstraße entlang, vorwärts durch grüne Bergwälder, durch Dörfer und über Auen.

Carsten wollte auch jetzt noch umkehren, wollte zu jener Stelle zurückfahren. Aber wieder lähmte ihn sein ungewisses Gefühl, — Im Augenblick, da er endlich die Hand zur Kuppelung bringen wollte, tauchte wieder seine Berliner Fabrik vor seinem geistigen Auge auf, sah er wieder eine schwankende Zukunft und wie im Banne fuhr er weiter, seinem Ziele entgegen und ließ hinter sich liegen, was hinter ihm lag.

Aber von allen den Gedanken und Erwägungen des Fabrikherrn konnten die Leute an der Unfallstelle natürlich nichts sehen, Die sahen nur, daß der Wagen vorüberschoß, und Unmut stieg im Herzen Stephanies auf.

Die Konkurrenz und der Preis gingen also Carsten über alles andere. Deutlich beobachtete Doktor Borchardt, wie sich die schönen Augen Stephanies verfinsterten und ein mißmutiger Ausdruck sich wie ein tiefer Schatten über ihr Gesicht legte.

Der Rechtsanwalt hielt ihr jetzt den silbernen Becher mit dem Wein hin.

„Ruhen Sie noch einige Sekunden, mein liebes gnädiges Fräulein, und trinken Sie von dem Wein. Der wird Sie am schnellsten wieder kräftigen. Ich werde mich in der Zwischenzeit nach den übrigen Insassen Ihres Wagens umsehen. Hoffentlich ist Ihren Mitfahrern nichts Ernstes zugestoßen.“

Während er langsam sich von ihr fortwandte, lehnte sie sich mit halbgeschlossenen Augen in die Kissen zurück, sah ihm nach und trank dann und wann einen Schluck des Weines; sie fühlte mehr und mehr ihre Kräfte zurückkehren und ihre Gedanken wanderten dem Rechtsanwalt nach und jetzt bat sie ihm im stillen das böse Wort ab, das sie ihm wegen seiner Ruhe gesagt hatte.

Hier merkte sie, daß er ihr mit seiner Ruhe und seiner Sachlichkeit weit überlegen war. Jetzt, wo sie absolut nicht wußte, was sie hätte tun sollen, wo sie völlig hilflos, verwundet auf dem Kampfplatz lag, war er der einzige Mensch gewesen, der ihr zu Hilfe eilte und wie ein echter Samariter an ihr handelte.

Und dann dachte sie an Carsten, der im Sportfieber, ohne Rücksicht auf sie zu nehmen, vorüber gejagt war, und ihre Lippen preßten sich von neuem unmutig zusammen.

Sie konnte Carsten eine derartige Handlungsweise ihr gegenüber nicht verzeihen. Wenn sie hier nun ohne Doktor Borchardt gelegen, womöglich schwerverletzt, vielleicht daß ihr in den nächsten Stunden hätte Rettung zu teil werden können, falls Carsten sie in seinem Wagen mitgenommen. Sie ballte ihre Faust über sein Verhalten — das war infam.

Und in ihre Augen trat beinah zärtlicher Glanz, als sie sah, wie Dr. Borchardt zu dem Oberleutnant gegangen war und sich mit ihm gleichfalls in hilfsbereiter Weise beschäftigte.

Der Kontrolleur trat mit so viel Humor, als die Situation erlaubte, auf ihn zu:

„Eine nicht gerade angenehme Verfassung, Herr Doktor, in der ich mich befinde. Es war mir unmöglich, bis jetzt dem gnädigen Fräulein irgend welche Hilfe zu leisten. Sie sehen ja, wie ich aussehe.“

In der Tat sah der Oberleutnant böse aus. Er war im Bogen auf die Straße geschleudert worden und hatte in der kurzen Zeit seines unfreiwilligen Fluges wenigstens noch die Geistesgegenwart gehabt, sich so zu drehen und die Hände zu strecken, daß er den Schlag nicht mit dem Kopf auffing und nicht Gefahr lief, das Glas der splitternden Autobrille in die Augen zu bekommen. Aber trotzdem waren sein Gesicht sowohl wie seine Handflächen übel zerschrammt und über und über mit blutigen Rissen bedeckt.

Prüfend betrachtete ihn der Rechtsanwalt und begann dann ihn zu beklopfen, seine Arme und Beine zu befassen und die Gelenke zu prüfen.

„Danken Sie Ihrem Schöpfer, daß Sie so davongekommen sind, Herr Oberleutnant, das scheint ja Gott sei Dank nur oberflächlich zu sein. Was macht denn der dritte Patient?“

Er ging mit dem Oberleutnant zu dem Chauffeur. Der lag noch immer im Graben an derselben Stelle, wo er niedergefallen. Nur bisweilen entrang sich ein dumpfes Stöhnen seiner Brust.

Sofort ergriff ihm Dr. Borchardt von der einen Seite, während der Oberleutnant von der anderen Seite zupackte, und dann eilte Dr. Borchardt zu seinem Medizinkasten, holte Äther, Kampfer und Salmiak, riß dem Mechaniker die Jacke auf, öffnete das Hemd und begann hier ebenso die Prozedur der Wiederbelebung, wie er es vorher bei der ohnmächtigen Stephanie getan.

Und erstaunlich schnell kam der Mechaniker wieder zu sich. Er hatte keine Verletzungen, sondern war mehr vom Schreck betäubt. Ein wenig humpelnd und ächzend ließ er sich zum Wagen führen und setzte sich dort immer noch verstört auf den Wagentritt nieder. Doch nun tat ein großer Kognak Wunder. Er gab dem Manne nicht nur die Sprache, sondern auch die Bewegung seiner Glieder zurück.

Etwa eine Viertelstunde war seit dem Unfall verflossen. Und schon ließ sich die Situation bedeutend klarer an. Der Mechaniker war wieder ganz auf dem Posten. Der Kontrolleur hatte sich die ehrenvollen Wunden mit Heftpflaster verklebt. So war sein Aussehen ein wenig bizarr. Aber sonst spürte er nur noch leichte Schmerzen in dem Arm, mit welchem er den Stoß aufgefangen hatte, Dagegen befand sich Stephanie immer noch wie in einer leichten Ohnmacht und erholte sich nur sehr langsam.

Noch einmal reichte ihr Dr. Borchardt den Weinbecher. Dann trat er zu dem verunglückten Wagen und musterte alle Einzelheiten der Maschinerie mit fachkundigem Blick.

Einige Griffe am Vergaser und an der Zündung. Dann ein… zwei… drei kräftige Hübe an der Kurbel und der Motor sprang an.

Dr. Borchardt selbst nahm den Führersitz des Wagens ein und prüfte die Steuerung ein wenig. Und dann wieder ein Handgriff an der Zündung, ein kurzer Fußdruck auf die Kuppel, und während das Getriebe einen Augenblick laut aufheulte, ging der Wagen vorwärts und sprang dann mit eigener Kraft aus dem Chausseegraben auf die Landstraße.

Mit eigenem Dampf war das verunglückte Fahrzeug wieder auf die Straße gekommen und rollte jetzt vorwärts. Ein wenig klapprig und wacklig. Aber es ging doch.

In diesem Augenblick kam auf der sonnigen Landstraße ein Eisenbahnbeamter daher.

„Der regt sich wohl auch schon um die Kaiserlich Königlich aerarische Telegraphenstange auf,“ dachte Dr. Borchardt bei sich.

Aber der Beamte schenkte der umgebrochenen Stange keinerlei Beachtung. Teilnehmend blieb er stehen und kratzte sich bedenklich hinter den Ohren.

„Sagen Sie, lieber Freund,“ redete ihn der Rechtsanwalt an, „wie weit ist es zum nächsten Dorf?“

„Dös nächste Dorf, dös täten Euer Gnaden in oane klanen Viertelstund haben. Aber doa is koa Schmieden in. Da müssen Euer Gnaden ins übernächste Dorf, doa stöht gleich rechts beim Wirtshaus dem Schmied sein Haus.“

Mit einem Glimmstengel, der zwar ebenfalls aerarisch, aber keineswegs königlich war, belohnte Dr. Borchardt diese Auskunft. Dann wandte er sich an den Oberleutnant Thieling:

„Herr Oberleutnant, Sie sehen, daß Fräulein von Gandern immer noch unter der Wirkung eines Nervenschocks steht. Außerdem ist Ihr Wagen einer gründlichen Überholung bedürftig. Ich bitte also, daß Sie mit der Dame bis zum übernächsten Dorf meinen Wagen benutzen.

Ihr Mechaniker ist ebenfalls gehörig blessiert. Mein Chauffeur soll daher Ihren Wagen vorsichtig zur Schmiede bringen. Da wollen wir eine mehrstündige Rast machen und gehörig reparieren.“

„Ich denke auch, das wird das beste sein,“ stimmte der Oberleutnant bei.

„Schmidt,“ wandte sich Dr. Borchardt nun an seinen Mechaniker. „Sie bringen den Wagen des gnädigen Fräuleins zur Schmiede. Sie haben ja gehört, wo die ist. Und nun zu Ihnen, mein lieber Haake. Ich bitte Sie, bei diesem Wagen hier zu bleiben und Sorge zu tragen, daß er vorsichtig zur Schmiede fährt.“

Der ehrenwerte Dr. Haake zog ein schiefes Gesicht. Der Auftrag paßte ihm ganz und gar nicht. Nur widerwillig stieg er in den fremden Wagen und mit einem sehnsüchtigen Blick schaute er Dr. Borchardt nach, der jetzt sein eigenes Fahrzeug ankurbelte und dann in schneller Fahrt im Staube der Landstraße verschwand.

Und der Doktor mußte geraume Zeit warten, bevor er den Wagen Nr. 40 wieder zu Gesicht bekam. Denn der Mechaniker Schmidt war nicht der Mann, der mit einem fremden und invaliden Wagen so blindlings darauflos gefahren wäre.

„Mit aller Gemächlichkeit prüfte er die Steuerung des beschädigten Vehikels und wohl fünf Minuten vergingen, bevor er den Motor ankurbelte. Und dann lernte Dr. Haake noch über eine Strecke von einer halben deutschen Meile das kennen, was man in Automobilistenkreisen als Leichenwagentempo bezeichnet. Denn Wagen Nr. 16 war doch recht schwach in den Rädern. Alle Fahrkunst des wackeren Chauffeurs konnte es nicht verhindern, daß der einst so schneidige Rennwagen sich auf der Landstraße vorwärts bewegte, wie ein Mann, der zu solcher schönen Sommerzeit, da an den Stöcken die Reben blühen, dem Vöslauer ein wenig zu stark zugesprochen hat.

Doch schließlich hat auch eine halbe Meile einmal ein Ende und so kam auch — — — für Dr. Haakes Empfinden freilich erst havarierte Fahrzeug ein erfreuliches Wirtshaus sichtete und nach unendlich langer Zeit — — — der Moment, da auch das dann den Kurs auf die daneben belegene Schmiede nahm. Jetzt endlich konnte Dr. Haake seinen Sitz verlassen und schritt eilends auf das Wirtshaus zu.

Hier hatten es sich die Insassen des Wagens Nummer sechzehn bereits bequem gemacht, soweit man eben von Bequemlichkeit in einem einfachen Dorfwirtshause reden kann.

Der Oberleutnant Thieling befand sich in der sachverständigen Pflege des Wirtes und seiner Frau. Die Wirtin zog von den schon gekochten Eiern die feinen Häutchen ab und bepflasterte damit die aufgeschlagene Gesichtshälfte des blessierten Kontrolleurs. Hatte der Herr Oberleutnant vorher ausgesehen wie jemand, der aus einer tüchtigen Rauferei kommt, so machte er nun mit den kreuz und quer gelegten weißen Pflästerchen den Eindruck eines kriegsmäßig bemalten Sioux-Indianers. Und während die Wirtin unermüdlich pflasterte und dazu in jenem schwer verständlichen steierischen Dialekt allerlei Trostworte vorbrachte, hielt der Wirt eine vielversprechende Enzianflasche in der Hand und schenkte dem Herrn Oberleutnant einen herzstärkenden Schnaps nach dem anderen ein.

Und nun ließ Dr. Haake seine Blicke weiter durch die große, halbdunkle Gaststube schweifen. Nur allmählich gewöhnten sich seine Augen, die noch vom Licht der Landstraße geblendet waren, an die dämmrige Beleuchtung. Jetzt aber sah er Stephanie von Gandern behaglich und der Länge nach ausgestreckt auf einer großen hölzernen Ofenbank ruhen, auf welche die vorsorgliche Wirtin noch allerlei Betten gelegt hatte. Und dann erblickte er den verletzten Chauffeur, der in einer anderen Ecke der riesigen Gaststube sein gequetschtes Bein mit Arnikawasser kühlte. Und dann ging wieder die Tür auf und Dr. Borchardt trat herein, bewaffnet mit allerlei Butterbrötchen und einer Flasche roten Tirolers.

„Hallo! Haake, sind Sie glücklich ran?“

„Zu Befehl, mein hoher Herr!“ erwiderte der Angerufene schmunzelnd. „Ich bin glücklich da und bewundere dies Nachtlager von Granada. Aber wie denken Sie eigentlich über unsere Weiterfahrt?“

Dr. Borchardt setzte Teller und Flasche auf den großen braunen Eichentisch.

„Ja, lieber Haake, Sie sehen doch, daß das gnädige Fräulein noch gar nicht auf der Höhe ist. Wir müssen hier wenigstens eine zwei- bis dreistündige Rast machen und diese Zeit soll uns gleichzeitig dazu dienen, auch den etwas ramponierten Wagen Nummer sechzehn wieder fahrbar zu machen.“

„Na, gewinnen wird der wohl kaum noch etwas,“ meinte Dr. Haake.

„Das ist natürlich ausgeschlossen. Die Reparatur, die hier vorgenommen werden muß, würde unzählige Strafpunkte ergeben. Der Wagen Nummer sechzehn ist praktisch aus der Konkurrenz ausgeschieden. Aber wir brauchen ihn hier ganz einfach als Verkehrsmittel. Denn wollen Sie etwa von hier aus mit der Eisenbahn weiter fahren? Das wäre eine wenig erfreuliche Fahrt. Die Hauptsache ist und bleibt, daß wir das Vehikel wieder flott bekommen und mit eigenem Dampf, sei es auch ohne Preis, wieder in München einziehen.“

Und dann nahm der Dr, Borchardt seinen Teller und die Flasche wieder auf und zog nach der Schmiede, um dort bei der Reparatur zu helfen.

Dr, Haake aber beschloß als literarischer Mann etwas für die Bildung zu tun und untersuchte ein Wandbrett, auf welchem einige Bücher standen. Das erste davon war freilich nur eine Attrappe, ein verkleideter Pappkasten. Als Dr. Haake ihn aufklappte, fielen ihm einige Kartenspiele entgegen, Aber dann fand er den sogenannten Mandl-Kalender und konstatierte nicht ohne Freude, daß dieser Kalender so angeordnet war, daß auch Analphabeten ihn lesen konnten. Und dann griff er zum letzten Buch, und siehe da, das war: „Eine wahrhaftige und getreue Beschreibung des weiland Schinderhannes, seiner gottsträflichen Taten und seines greulichen Endes.“

Dr. Haake nahm erst noch einen Enzian und dann das Buch vom Schinderhannes und dann noch einen Stuhl. Den Enzian schluckte er sofort hinunter, den Stuhl stellte er mitten auf die Landstraße und setzte sich in die helle Mittagssonne. Und während in der dämmerigen Gaststube Stephanie in festem Schlummer lag, während der verletzte Chauffeur dort am Ofen leise stöhnend seinen gequetschten Fuß kühlte, während von der Schmiede her der lustige Hammerschlag der Männer herüberklang, die den Wagen Nummer sechzehn wieder fahrbar machten, schickte sich Dr. Haake an, die Taten des weiland Schinderhannes zu studieren.

Nun muß ein gewissenhafter Berichterstatter ein wenig ausholen. Auf einer Automobil-Konkurrenz kann ja, wie die Geschichte bis hierher bereits sattsam gezeigt hat, mancherlei Malheur passieren und eine erfahrene Oberleitung sorgt daher für einen Sanitätswagen. Bei dieser Prinz Heinrich-Fahrt war einer der schnellen Kraftomnibusse der Süddeutschen Automobilfabrik Gaggenau dafür ausersehen. Dem hatte man das rote Kreuz im weißen Felde auflackiert und einen Medizinmann mit einem wohlsortierten Verbandskasten in den Omnibus gesetzt. Und eine wohltätige Institution sorgte dafür, daß der Herr Doktor auf der eintausendsechshundert Kilometer langen Reise in seinem Omnibus keine Langeweile erlitt. Das waren die Herren Kontrolleure von der Reserve. Man mußte ja immer einmal mit dem Umstande rechnen, daß der eine oder der andere Kontrolleur irgendwie durch Krankheit oder aus irgend welchen anderen Gründen sein Ehrenamt niederlegte. Dann aber mußte man Reservekontrolleure zur Verfügung haben. In der Praxis ging es freilich gewöhnlich umgekehrt. Da schied der eine oder andere Wagen aus der Konkurrenz aus und dann ergaben sich die sogenannten überzähligen oder obdachlosen Kontrolleure.

Die Glücklichen, deren Wagen einstweilen alle Strapazen noch überstanden, sagten dann schadenfroh: „Da ist wieder ein Kontrolleur zu den Herren von der Reserve versetzt worden.“

Sei dem indes, wie ihm wolle. An der Tatsache war jedenfalls nicht zu rütteln, daß die überzähligen Kontrolleure in ihrem Sanitätsomnibus ein höchst amüsierliches Leben führten. Sie waren lustig und guter Dinge, und einer der lustigsten unter ihnen war der Ingenieur Hans Zeyssig, der einen Platz neben dem Chauffeur auf dem Wagenbock hatte.

Durch die Munifizenz einer bekannten Sektfirma führte der Sanitätswagen auch einhundertundzwanzig Flaschen Champagner mit sich. Und also hatte Hans Zeyssig gerechnet: Auf eintausendsechshundert Kilometer kommen einhundertundzwanzig Flaschen. Auf dreizehn Kilometer kommt also eine Flasche. Das ist ein einfaches Rechenexempel aus der Regeldetri.

Der Sekt ist natürlich in erster Linie für die armen Kranken mitgenommen worden. Wenn es aber Gott sei Dank und erfreulicherweise keine Kranken gibt, dann sind natürlich die Herren Kontrolleure von der Reserve die nächsten am Sekt.

Und da man nun am zwölfhundertsten Kilometer war, läßt sich durch eine einfache Rechnung ermitteln, bei welcher Flasche Sekt der Ingenieur Hans Zeyssig angekommen war.

An diesem schönen Vormittag nun, da Doktor Haake gerade das Leben des weiland Schinderhannes lesen wollte, saß Hans Zeyssig vergnügt neben dem Chauffeur und fuhr durch die Steiermark dahin. Er konstatierte vergnüglich, daß sehr bald wieder einmal dreizehn Kilometer herum waren.

Da plötzlich fiel sein Blick auf eine Telegraphenstange, die da abgebrochen und umgeworfen trübselig an den Drähten über das Feld hing. Hans Zeyssig legte seine Hand auf die Schulter des Chauffeurs. Der verstand ihn und verlangsamte sofort das Tempo. Beide begriffen, daß hier irgend eine Karambolage und wahrscheinlich ein Malheur stattgefunden habe, und spähten eifrig nach beiden Seiten über die Landstraße, um irgend welche weiteren Spuren zu entdecken. Aber sie mußten mit Erstaunen feststellen, daß nirgends Wagentrümmer, nirgends Wrackstücke eines Kraftwagens zu bemerken waren.

Trotzdem fuhr der Sanitätsomnibus von diesem Augenblick an sehr langsamer. Man spähte im nächsten Dorf in jedes Wirtshaus und man erreichte dann das nächste. Und dann begann der Chauffeur gewaltige Hupensignale zu geben und brachte schließlich den Omnibus zum Stillstand.

Er konnte wohl oder übel nicht anders. Denn vor ihm stand mitten auf der Landstraße ein hölzerner Stuhl, auf dem eine menschliche Gestalt mehr hing als saß und dabei Schnarchtöne hervorbrachte, die an die ganz modernen elektrischen Hupen erinnerten. Das war Dr. Haake. Vor ihm aber lag im Staube der Landstraße die Lebensbeschreibung des weiland Schinderhannes.

Noch einmal ein paar kräftige Hupensignale, die aber nur die Folge hatten, daß sich Dr. Haake auf seinem Stuhl ein wenig mehr auf die andere Seite legte. Dann kletterte der Ingenieur Hans Zeyssig von seinem Sitz herunter.

„Die leeren Champagnerflaschen,“ hatte er ja früher behauptet, „sind immer noch sehr gut zu gebrauchen, um die armen Kranken damit zu massieren, wenn ihnen nicht innerlich, sondern nur äußerlich etwas fehlt.“ Und so begann er denn den festschlafenden Haake mit der Bodenkante einer leeren Flasche zu streichen und zu kneten, bis der mit einem lauten Fluch alle Schlaftrunkenheit fahren ließ und von seinem Stuhle aufsprang.

Inzwischen war auch der Arzt aus dem Omnibus geklettert. Mit einer gewissen Befriedigung vernahm er, daß es hier endlich etwas für ihn zu tun gab, und den gewichtigen Verbandsakten unter dem rechten Arm, trat er in die Gaststube ein, während der Ingenieur Hans Zeyssig sich aufmachte, um in der Schmiede nach dem rechten zu sehen.

* *

*

Die Sonne war bereits bedenklich nach Westen weitergewandert, als die Wagen Nr. 16 und 40 endlich zum Aufbruch bereit standen. Der Sanitätswagen war längst über die Berge weiter gefahren, nachdem der Arzt dem verletzten Chauffeur seinen Fuß gut einbandagiert hatte und der Ingenieur Hans Zeyssig drei Flaschen Champagner „zum besten der armen Kranken“ auf den Tisch gestellt hatte. — — — — Nicht ohne dabei etwas von neununddreißig trockenen Kilometern zu murmeln.

Stephanie war nach dreistündigem festen Schlummer neugestärkt erwacht und fühlte sich sogar kräftig genug, um die Führung des eigenen Wagens wieder zu übernehmen.

Dr, Haake zog zum drittenmal seinen Chronometer:

„Es ist vier Uhr, Borchardt, wir müssen weiter.“

Aber der Rechtsanwalt ließ sich durch diese Mahnung nicht aus der Ruhe bringen.

„Mein gnädiges Fräulein, ich bitte Sie nochmals ganz dringend, lassen Sie meinen Chauffeur fahren und nehmen Sie den Platz auf einem der Rücksitze ein“, beschwor er Stephanie.

Einen Moment senkten sich ihre Blicke prüfend ineinander. Ein eigentümliches Gefühl überkam sie. Bisher hatte sich noch niemand in ihrem ganzen Leben um sie kümmern dürfen. Sie hatte das niemand gestattet. Sie war von Jugend an gewohnt, als Herrin zu leben und über sich und ihre Handlungen und ihre Wünsche selbst zu bestimmen.

Und nun hatte das Schicksal ihr einen Mann in den Lebensweg gestellt, der sich von Anfang an in sorgender Art um ihre Wege kümmerte, zunächst nur soweit es sportliche Dinge betraf. Doch nun waren es nicht mehr rein sportliche Dinge, sondern — — sie fühlte das nicht nur aus seinen Worten, sondern — auch aus seinen Blicken — rein private.

Er sorgte sich um sie, wie man sich nur um einen lieben Angehörigen sorgen kann.

Da hatte er alle seine sportlichen Wünsche, die er für die Fahrt wohl ebenso wie jeder andere Fahrer gehegt hatte, beiseite gestellt, um sich ihr zu widmen.

Sie brachte es deshalb nicht übers Herz, seinem Wunsche Widerspruch entgegen zu setzen, sondern neigte den Kopf und blickte ihn dankbar an.

„Sie sind sehr gütig zu mir, mein lieber Herr Rechtsanwalt,“ sagte sie endlich. „Ich weiß gar nicht, wie ich Ihre Fürsorge belohnen soll.“

Doktor Borchardt schüttelte abweisend den Kopf.

„Ich tue das wirklich nicht, um irgend einer Belohnung willen,“ erwiderte er, „sondern weil ich Gefahren für Sie sehe und weil ich fürchte, daß die Dinge ein andermal weniger glimpflich ausgehen könnten als heute. Und darum bitte ich Sie dringender als je, versprechen Sie mir, in Zukunft keinerlei sportliche Leistungen zu versuchen, die unter Umständen Ihr Leben gefährden können.“

„Und welches Interesse hätten Sie an meinem Leben?“

Die Frage kam so unvermittelt, so unerwartet, daß es selbst dem sonst in allen Sätteln gerechten Verteidiger, dem gewandten Rechtsanwalt, schwer fiel, die passende Antwort zu finden.

Blitzschnell formten sich seine Gedanken. Und dann zog der sonst so redegewandte und schlagfertige Mann vor, zu schweigen und seine Antwort in einen einzigen stummen Blick zu legen.

Er hätte auch gar keine Antwort geben brauchen. Denn sie müßte kein Weib gewesen sein, um nicht längst aus seinen Anordnungen und Wünschen für ihr persönliches Wohl zu wissen, daß er sie liebte.

Daran zweifelte sie auch nicht eine Sekunde. Weshalb sollte er sonst wohl alle seine großen Chancen, die er in diesem Rennen besaß, aufgegeben haben.

Nur die Liebe war es, die ihn an ihre Seite fesselte.

Wie anders dagegen jener Carsten. Der hatte ihr viel von Liebe und Freundschaft gesprochen, hatte wieder und immer wieder ihre Hand zu gewinnen versucht.

Und jetzt, wo die Dinge zum erstenmal akut wurden, wo es sich zum erstenmal darum handelte, ihr wirklich beizustehen und bei ihr zu bleiben, da fuhr der Herr Direktor Carsten einfach seiner Wege, da kümmerte er sich nur um seinen Sport und um seinen Ehrgeiz.

Stephanie ahnte ja nicht, wie ungeheuer viel gerade für Karl Carsten vom Ausgange dieses Rennens abhing. Sie wußte nicht, daß der Ausgang des Rennens für die weitere Existenz des Fabrikherrn ausschlaggebend war, während es für Doktor Borchardt im Grunde belanglos war, ob er einen Preis machte oder nicht.

Und so nahm das Verweilen Dr. Borchardts hier an ihrer Seite in ihren Augen die Gestalt eines ungeheuren Opfers an, während ihr die Weiterfahrt Carstens über die Maßen herzlos erschien.

Mit einer jähen Bewegung ihres Hauptes blickte sie zu Dr. Borchardt hin und reichte ihm die Hand:

„Also gut, mein, lieber Freund, ich verspreche Ihnen ein Äquivalent für Ihre Fürsorge zu geben. Ich verspreche Ihnen, daß ich in Zukunft alle halsbrecherischen Sportbestrebungen meiden werde. Genügt Ihnen das?“

Und mit einem ehrlichen, strahlenden Aufleuchten seiner Augen erwiderte er:

„Das soll für mich ein hohes Gut bedeuten.“

Und dann, während sie ihm die Hand noch ließ, sagte sie:

„Sie haben den Herrn Carsten gesehen, wie er mit seinem Wagen bei uns vorbeijagte und auch nicht den Bruchteil einer Sekunde sich um uns kümmerte.“

Sie erwartete, daß Borchardt eine abfällige Bemerkung über seinen Nebenbuhler machen würde, aber er zuckte nur die Achseln:

„Er sah mich ja bei Ihnen, da mußte er sich sagen, daß einer genügt.“

„Sie haben recht, lieber Freund — einer genügt, einer hat und muß genügen. Jeder zweite ist von Überfluss. Hoffentlich hat Herr Carsten die Situation in diesem Sinne voll und ganz verstanden.“

Rechtsanwalt Borchardt verstand noch nicht den unterlegten Sinn ihrer Worte. Sie wartete vergeblich darauf, daß er jetzt ihre Hand nicht loslassen würde, sondern für immer mit der seinen verbinden.

Langsam ließ sie ihre Hand aus der seinen niedersinken schritt zu ihrem Wagen und als sie bereits auf den Polstern saß, wandte sie sich nochmals an Borchardt:

„Ich muß Ihnen noch etwas Merkwürdiges beichten!“

„Und das wäre?“ fragte Borchardt gespannt.

„Ich habe nämlich dem Herrn Carsten, kurz bevor wir vor Berlin zur Fahrt aufbrachen und als er zum zweitenmal um meine Hand anhielt, geantwortet, daß ich die Entscheidung über meine Hand nach dieser Konkurrenz treffen wolle.

Vielleicht hat er meine Worte mißverstanden, vielleicht hat er ihnen eine Deutung unterlegt, die sie niemals haben konnten, als wolle ich etwa meine eigene Person als einen Rennpreis ausschreiben.

Vielleicht war er in solchem Irrtum befangen, Aber trotzdem hätte er doch… —“

Stephanie brach ihre Rede ab.

„Aller Wahrscheinlichkeit nach,“ erwiderte Doktor Borchardt und senkte den Kopf auf die Brust. Er sah nicht das feine, schalkhafte Lächeln, das um ihren Mund zog, und fuhr erst aus seinen Gedanken auf, als sie ihm mit der Hand über den Arm strich, den er auf das Automobil gelegt hatte.

„Mein lieber Freund,“ sagte sie, „fahren wir jetzt mit Autoheil die Strecke weiter. Mag Herr Carsten glauben, was er will. Den besten Preis, den die Prinz Heinrich-Fahrt bringen kann, wird er sich nicht holen, Autoheil!!“

Als Doktor Borchardt nach letztem Händedruck zu seinem Wagen zurückkehrte, mußte sie unwillkürlich lächeln. Immer wieder kam ihr ein mächtiger, treuer Neufundländer in die Erinnerung, den sie zu Haus auf Schloß Oenfels besessen und der sie als Kind einmal vom Tode des Ertrinkens gerettet hatte. Obwohl zwischen dem schlanken eleganten Rechtsanwalt und einem Neufundländer wirklich keine äußere Ähnlichkeit bestand, und obwohl es gegen alle hergebrachte Sitte war, wenn eine Wohlerzogene junge Dame den Mann ihrer Wahl mit einem Hunde verglich, konnte sie diese Erinnerung doch nicht loswerden. Es mußte wohl das Gefühl einer Errettung aus schlimmer Gefahr und das Gefühl des sicheren Schutzes sein, welches diese unzeitgemäße Erinnerung immer wieder wachrief.

Doch schon ertönte der Zweiklang der Hupen und die Wagen nahmen die Fahrt nach Klagenfurt wieder auf.

So stolz, als hätte er niemals im Chausseegraben gelegen, zog der Wagen Nr. 16 davon. In mäßigem Abstande folgte Dr, Borchardt mit seinem eigenen Fahrzeug. Er wußte, daß er jetzt, nachdem der Sanitätswagen lange fort war, der letzte auf der Straße war. Er wollte auch der letzte bleiben, um so über das Wohl von Nr. 16 wachen zu können.

Und so führte Dr. Borchardt seinen Wagen stetig und zielbewußt durch die Straßen von Steiermark und Kärnten.

Immer neue schneeige Gipfel stiegen zu beiden Seiten der Straße empor, um dann wieder zu verschwinden, wie sie gekommen waren.

Wieder zog Dr. Haake seine Uhr und konstatierte, daß es gerade sechs sei, daß man wohl in zwei Stunden das Ziel des Tages, die Stadt Klagenfurt, erreichen könne.

Aber Dr. Haake hatte dabei nicht an die Tücke der leblosen Dinge gedacht und er hatte besonders den kategorischen Imperativ vergessen, der da lautet: Nimm dir nichts vor, dann geht dir nichts schief.

* *

*

Seit einer halben Stunde hatte Dr. Borchardt den Wagen Stephanies aus den Augen verloren. Mit einer gewissen Absichtlichkeit hatte er dem Fahrzeug diesen Vorsprung gegönnt. Jetzt sah er hinter einer Chausseekrümmung das Fahrzeug wieder und bemerkte weiter, daß es hielt und daß der Chauffeur am Hinterpneumatik montierte.

Schnell war der Rechtsanwalt heran und stieg vom Wagen.

„Was ist los, Schmidt?“

„Vom rechten Hintermantel ist der Wulst abgerissen.“

Das war böse, denn dies war der einzige Mantel mit Gleitschutz. Auch Dr. Borchardt hatte keinen Reservemantel bei sich. Denn nach den Bestimmungen der Konkurrenz brachte ein Mantelwechsel ja doch so viel Strafpunkte, daß der Wagen damit praktisch ausschied. So wäre ein Reservemantel hier eine unnütze Beschwerung gewesen und es war beinahe ein Zufall, daß Stephanies Wagen wenigstens noch einen Reservemantel ohne Gleitschutz mit sich führte.

Eine halbe Stunde verstrich. Dann war der Schaden kuriert. Mit neuem Mantel ging die Fahrt weiter und mit fröhlichem Autoheil ließ Dr. Borchardt den Wagen Nr. 16 wieder vor sich herziehen.

Und wieder verfloß eine Stunde. Aber das Landschaftsbild hatte sich inzwischen bedenklich geändert. Schon während der letzten Stunden zeigte der stechende stahlblaue Junihimmel kleine ballige Wolken.

Immer größer waren die Wölkchen geworden. Bald waren es Wolken und dann ging auch die weiße Farbe allmählich ins Graue und dann ins Schwarz-Graue über.

Jetzt wurden die blauen Stellen am Himmel selten. Immer mehr nahm das drohende Schwarz die Himmelskuppel ein.

Nun verschwand auch die Sonne und obwohl es eben erst sieben Uhr abends war, obwohl die Sonne noch länger als eine volle Stunde über dem Horizont stehen mußte, senkte sich doch tiefe Dämmerung über die Straße, die gerade durch einen dichten Tannenwald führte.

Mit wachsender Besorgnis beobachtete Doktor Borchardt diese Entwicklung der Dinge. In kurzen, ruckweisen Stößen kam ein scharfer Gewitterwind seinem Wagen entgegen und jagte ganze Ladungen von Chausseestaub in die Lüfte.

Und dann plötzlich riß der schwarze Wolkenvorhang an einer Stelle mitten durch und lodernde Glut erfüllte den Himmel. Unmittelbar danach folgte ein grauenhafter Donner und dann entlud sich eines jener schweren Gewitter, wie sie in den Alpen heimisch sind. Die Wolken lagen in einem verhältnismäßig engen Tal, in dessen Sohle die Landstraße neben der Mur entlang ging. Sie konnten sich nach keiner Richtung hin verziehen, da die Wolkenwand tiefer lag als die umgebenden Gebirgskämme.

Alles, was sich da an Elektrizität in der Luft befand, das entlud sich jetzt in einer ununterbrochenen Kanonade.

Und während noch die Blitze zuckten und unaufhörlicher Donner durch das Tal dahinrollten, setzte ein wasserfallartiger Regen ein.

Beim ersten Blitz hatte Dr. Borchardt das leinene Verdeck seines Wagens hochgeschlagen und sich selbst in einen wasserdichten Gummimantel gehüllt. So ließ er den Wagen jetzt durch den strömenden Regen dahinlaufen, von der Hoffnung getragen, daß die fünfzig Kilometer, die ihn noch von Klagenfurt trennten, ja schließlich auch einmal ein Ende nehmen würden.

Eine Viertelstunde verging. Da tauchte ein anderes Fahrzeug vor ihm auf. Jetzt kam es näher und jetzt erkannte Dr. Borchardt den Wagen Nr. 16, der sich dort auf der Landstraße vorwärts quälte.

Es schien, als ob sich alles gegen das unglückliche Fahrzeug verschworen habe. Der Chauffeur hatte vorhin einen Mantel ohne Gleitschutz auflegen müssen. Und nun war dieser Regen gekommen und hatte den Tonboden der Landstraße in eine einzige glatt fettige Fläche verwandelt.

Dr. Borchardt mäßigte das Tempo seines Wagens bis auf fünfundzwanzig Kilometer. So blieb er dauernd hinter Stephanies Wagen. Und nun konnte er beobachten, wie sein eigener Chauffeur, der da vorn das Steuer führte, sich die größte Mühe gab, das Fahrzeug sicher zu lenken, wie das aber ohne Gleitschutz auf der schlüpfrigen Landstraße unmöglich war. Trotzdem Schmidt das Tempo immer mehr verlangsamte, schleuderte der Wagen in der bedenklichsten Weise quer über die Straße. Bald war das Wagenhinterteil nur noch wenige Fuß von den Obstbäumen entfernt, welche die Straße auf der einen Seite begrenzten, und bald wieder schleuderte es bis dicht an die Bäume der anderen Seite.

Obwohl die Fahrgeschwindigkeit schließlich bis auf zehn Kilometer sank, würde ein sicheres Fahren nicht möglich.

Da tauchte aus dem Waldesdunkel ein Wirtshaus auf.

Dr. Borchardt gab Hupensignal. Der Chauffeur da vorn erwiderte den Ruf und vor der Waldschänke kamen beide Wagen zum Stehen.

Dr. Borchardt trat zu dem Chauffeur.

„Es geht nicht, Schmidt, wir müssen diesen Regen abwarten und uns irgendwie Gleitschutz verschaffen.“

„Es geht wirklich nicht, Herr Doktor,“ erwiderte der Chauffeur, und jetzt bemerkte der Rechtsanwalt, daß der brave Schmidt schwitzte, als ob er aus einem Dampfbad käme. Der wackere Fahrer hatte eine halbe Stunde hindurch sein möglichstes getan, um ohne Gleitschutz auf der schlüpfrigen Straße vorwärts zu kommen. Er hatte damit eine gewaltige körperliche Arbeit geleistet. Aber was nicht ging, das ging eben nicht.

Erst jetzt wandte sich der Doktor zu den Insassen des Wagens, die ebenfalls unter dem Verdeck Schutz gesucht hatten.

„Mein gnädiges Fräulein, gegen die Gewalt der Elemente können wir nicht ankämpfen. Wir müssen hier eine kurze Rast machen und das schlimmste Unwetter austoben lassen.“

Und wieder verfloß eine kostbare Stunde, während welcher die Insassen der beiden Wagen in der halbdunklen Gaststube Zuflucht suchten und draußen eines der schweren Alpengewitter mit wolkenbruchartigem Regen niederging. Der Rechtsanwalt teilte seine Aufmerksamkeit zwischen der schönen Fahrerin und dem Wetter da draußen, das nur ganz allmählich eine Wendung zum besseren nahm.

„Nun sagen Sie mal, Herr Wirt“, wandte sich Dr. Borchardt jetzt an diesen, „wir brauchen unbedingt ein ordentliches Stück eiserner Kette, Was haben Sie davon im Hause?“

Der Wirt kratzte sich bedenklich hinter dem rechten Ohr,

„Kette — Kette ja, dös heißt, dös sollt schon sein, ich mein‘ alleweil, wir hätten noch ein alten Brunnenketten unterm Dach liegen. Aber — aber —“

Und nun brachte der Wirt eine ganz erkleckliche Menge von „Wenn“ und „Aber“ vor.

Doch der Rechtsanwalt war nicht der Mann, der sich durch solche Hindernisse aufhalten ließ. Er entwickelte jene Beredsamkeit, die ihm in Berlin den Ruf eines guten Anwaltes verschafft hatte, und er zeigte dabei eine schöne funkelnagelneue Zehnkronennote, und zehn Minuten später hatte sich der Wirt mit einer brennenden Stallaterne bewaffnet, und eine Expedition, bestehend aus Dr. Borchardt, dem Chauffeur Schmidt und eben jenem Wirt, trat die Reise auf den Dachboden an.

Das ging über allerlei Stiegen und Winkel durch altfränkisches Gebälk und Gemäuer.

Da standen alte Truhen und Möbel, die sicherlich zu jeder anderen Zeit das Sammlerherz des Rechtsanwalts hoch entzückt hätten. Da stand ein alter geschnitzter Schrank aus dem Jahre eintausendsiebenhundert, der sicherlich sämtliche Antiquitätenhändler Berlins begeistert hätte. Aber Dr. Borchardt würdigte ihn keines Blickes. Er atmete erst erleichtert auf, als der betriebsame Schmidt aus einem anderen Haufen alten Gerümpels eine eiserne Kette von guter Daumenstärke und einer Länge von wenigstens fünf Metern hervorzog.

Die Kette war alt, unansehnlich und stark verrostet. Aber der Rechtsanwalt betrachtete sie wie eine Kostbarkeit. Liebevoll ließ er beim trüben Schein der Laterne die einzelnen Kettenglieder durch die Finger laufen.

„Passen Sie mal auf, Schmidt, was wir jetzt gleich für einen famosen Gleitschutz haben werden.“

Und den gefundenen Schatz um den Arm gewickelt, trat Dr. Borchardt zufrieden den Rückzug aus dem Bodenraum an.

„In zwanzig Minuten, meine Gnädigste, hoffe ich, können wir wieder zu flotter Fahrt aufbrechen,“ begrüßte er Stephanie beim Durchschreiten der Gaststube.

Und dann spielte der Herr Rechtsanwalt und Dr. jur. Borchardt selber ein wenig Mechaniker. Mit der Wagenwinde wurde der Wagen Stephanies ein wenig angehoben, so daß das eine Hinterrad sich frei drehen konnte. Dann manipulierte Dr. Borchardt am Pneumatikventil. Zischend entwich eine gehörige Portion Luft und sichtlich schrumpfte der pralle Pneumatik zusammen. Dann aber begann der Doktor die mühselig eroberte Kette in allerlei Windungen und Spiralen um die Felge dieses Rades zu wickeln. Getreulich half ihm der Chauffeur Schmidt dabei und nach wenigen Minuten war die Felge von gleichmäßigen Kettenwindungen umschlungen. Sorgfältig vereinigte der Doktor selbst die beiden letzten Kettenglieder durch ein starkes Drahtband, sodaß die Kette jetzt wieder ein einziges Ganze bildete. Dann arbeitete der Chauffeur am Ventil. Von neuem trat Preßluft aus der mitgebrachten Stahlflasche in den Gummireifen. Kräftig blähte sich der Reifen und prall wie eingegossen lagen jetzt die Kettenglieder an dem Gummi.

Der Regen hatte mittlerweile aufgehört. Nur noch von den Bäumen, die hier dicht und massig standen, tropfte es leise zur Erde hernieder, aber schon brach die Abendsonne wieder aus den Wolken hervor und vergoldete mit ihren schrägen Strahlen die schneeigen Gipfel der Alpen.

Interessiert betrachtete Stephanie die Arbeit, die der Doktor mit seinem Mechaniker zusammen fertiggebracht hatte. Die Sache sah bizarr aus. Im Grunde genommen nicht gerade vertrauenerweckend.

Stephanie mußte lachen. Dann wandte sie ihren schönen Kopf dem Rechtsanwalt zu und sagte:

„Ich bin wirklich neugierig, ob die Erfindung, die Sie da an meinem Wagen gemacht haben, sich praktisch bewähren wird.“

Dr. Borchardt verbeugte sich.

„Mein liebes, gnädiges Fräulein… Fräulein Stephanie, Sie werden in dem Wagen jetzt vollkommen sicher fahren. Vertrauen Sie meinen Worten und meinen Maßnahmen. Und nun wollen wir weiter, wollen wir unserem Ziele entgegeneilen!“

Und nun noch einmal ein freudiger melodischer Dreiklang aus den Hupen, dann setzten sich die Wagen von neuem in Bewegung. Jetzt zeigte es sich, daß der Rechtsanwalt eine höchst nützliche Arbeit getan hatte. Obwohl die Straße noch immer von Nässe triefte, obwohl der Schlamm hier zäher und schlüpfriger war als irgendwo anders, sauste der Wagen doch in flotter Fahrt dahin und ließ sich auch bei einem Vierzigkilometer-Tempo sicher steuern.

In schneller Fahrt wurde jetzt ein Dorf nach dem anderen passiert. Nun begann sich das Tal zu weiten. Die Berge traten mehr und mehr zurück und im Schein der schnell eintretenden Abenddämmerung erblickten die Kraftfahrer endlich die Türme von Klagenfurt. Nach einer achtzehnstündiger Fahrt voll mancher Abenteuer und Aufregungen war endlich die Etappe dieses Tages glücklich erreicht. Mit einem Gruß trennte. sich Dr. Borchardt von Stephanie, um seinen Wagen in die für die Prinz Heinrich-Fahrer reservierte Halle zu fahren. Schnell rollte das Fahrzeug durch die Straßen und hielt bald an der gewünschten Stelle.

Doch jetzt sollte der Rechtsanwalt noch eine unangenehme Überraschung erleben. Jene Halle war geschlossen. Man erwartete keinen Wagen mehr, und die Beamten, welche den Schlüssel besaßen, hatten sich schon vor einer halben Stunde zurückgezogen. Das war eine unangenehme Entdeckung, um so unangenehmer, als nun auch die Dunkelheit mit Macht hereinbrach und die Herren von der Oberleitung sich bereits in Rücksicht auf den frühen Start des nächsten Tages zur Ruhe begeben hatten.

Jetzt kam ein Augenblick, da Dr. Borchardt die Folgen seiner Ritterlichkeit unangenehm zu spüren bekam.

Aber zu ändern war jetzt nicht mehr viel. So nahm sich denn der Rechtsanwalt seinen Unparteiischen her.

„Also nun hören Sie einmal zu, Haake, Die Kontrolle ist bereits geschlossen. Da kommen wir nicht mehr hinein, auch wenn wir uns auf den Kopf stellen. Ich muß mich also auf Sie in Ihrer Eigenschaft als unparteiischer Kontrolleur berufen. Ich werde den Wagen jetzt in die Garage unseres Wirtes fahren. Dann schließen wir die Garage zu und Sie bekommen den Schlüssel. Dadurch ist doch jede unzulässige Maßnahme unmöglich gemacht.“

So geschah es und Dr. Haake legte sich als gewissenhafter Mann den Garagenschlüssel unter das Kopfkissen.

Aber das konnte an der Tatsache nichts ändern, daß Doktor Borchardt in dieser Nacht in Klagenfurt mit recht beklommenem Gemüt zu Bett ging und daß er recht deutlich die Wahrheit des alten Lehrsatzes empfand, daß Frauendienst und Sport im Grunde sehr verschiedene und oft sehr schwer vereinbare Sachen sind.

 

 

Kapitel 9.

Vom Süden her stößt die alte Reichsstraße von der österreichischen Grenze auf München zu. In ständigem Fall führt der Weg von den Höhen der bayrischen Alpen zu Tal. Schäumend und brausend begleiten die smaragdgrünen Fluten des Innflusses die Landstraße ein stattliches Stück. Eilend und rauschend suchen die Wasser den Weg zu Tal und auch die Eisenbahn geht neben Fluß und Landstraße nordwärts.

Die Lokomotiven, die bisher keuchend und schnaufend über die Höhen der Alpen fuhren, können jetzt mit abgestelltem Dampf in die Tiefe rollen, so frei und mühelos beinahe wie die Fluten des Inn.

Und auch die Prinz Heinrich-Fahrer fanden jetzt wieder bequeme, geradlinige und übersichtliche Wege.

Von Rosenheim an konnte das Gasgemisch in den Automobilmotoren auf halbe Kraft gedrosselt werden. Die Wagen liefen dennoch schnell und willig dahin und jeder Kolbenstoß der mächtigen Rennmaschinen schien dasselbe Lied zu singen und zu brummen: zu Ende, zu Ende. Ein Schluß der langen Reise.

So flogen die kräftigen Wagen über die Strecke dahin. Immer weiter traten die Gipfel der Alpen am südlichen Horizont zurück, immer weiter und immer freier dehnte sich die Münchner Hochebene vor den Fahrern.

Fünf Tage hindurch hatten die Wagen in den Hochalpen gesteckt. Fünf Tage hindurch hatten sie sich ihren Weg auf Straßen gesucht, die bald an ragenden Wänden und bald an schwindelnden Abgründen vorüberführten.

Wie erlöst schienen Fahrer und Wagen zu sein, da nun nach unendlichen Mühen und Anstrengungen endlich die leichte Fahrt in der Ebene begann, das Ziel der langen Reise nur noch wenige Kilometer entfernt war.

Das Ziel war nahe. Aber wenn jemals das alte Griechenwort Berechtigung besaß, daß die Götter vor den Kampfpreis den Schweiß gesetzt haben, so war es sicherlich hier. Denn ganz kurz vor dem Ziele kam ja noch das zweite große Rennen der Konkurrenz, das Flachrennen im Park von Forstenried.

Weithin ziehen sich im Süden der bayrischen Hauptstadt die grünen Reviere des königlichen Parkes von Forstenried. Meilenweit umgeben sie das königliche Schloß, in welchem abgeschieden und abgeschlossen von aller Außenwelt der arme König des reichen Bayernlandes seine Tage verbringt.

Nur selten betreten Fremde den Park. Doch heute war er der Schauplatz eines großen Ereignisses.

Quer durch den Forstenrieder Park führt eine Landstraße über die Länge einer deutschen Meile. Vollkommen geradlinig zieht sie sich über viertausend Meter dahin, macht dann einen mäßigen Knick, um dann weitere dreitausend Meter schnurgerade zu verlaufen.

„Diese Straße,“ so hatte die Leitung der Konkurrenz beschlossen, „sollen die Fahrer noch voll auskosten, bevor sie endlich zur Ruhe eingehen können, bevor der gigantische Wettstreit nach einer Jagd durch halb Europa zum Ende kommt.“

Und so zeigte der Forstenrieder Park denn auch heute ein buntes Bild. Die elektrischen Meßapparate, die schon am Semmering gearbeitet hatten, waren auch hier wieder in Tätigkeit. Wo aber die Landstraße zum Dorfe Forstenried hin den königlichen Park verläßt, waren Tribünen neben Tribünen errichtet. Dort war alles versammelt, was in München Interesse für den Automobilsport hegt. Da glänzten die hellen Sommertoiletten der Damen neben den bunten Uniformen der Offiziere. Dazwischen aber verteilten sich die Herren vom Kaiserlichen Automobil-Club, vom Bayerischen und Österreichischen Klub, schon weithin kenntlich durch das blaue Sportkostüm und die Klubmütze.

Hier sah man den stets à quatres épingles gekleideten Generalsekretär des Kaiserlichen Automobil-Clubs, der einem on dit zufolge sogar mit dem Monokel schlafen ging. Hier stand der stets fidele Präsident des Bayerischen Automobilklubs und gab einigen Personen der Münchener Hofgesellschaft Auskunft über Namen und Art der Fahrer, die da mit schwindelerregender Schnelligkeit angesaust kamen, wie der leibhaftige Blitz über das Zielband rasten und ihre Wagen dann erst allmählich abstoppten.

Denn das Flachrennen im Forstenrieder Park war bereits in vollem Gange. Wie die Fahrer an der Südseite des Parkes ankamen wurden sie in kurzen Abständen in das Rennen geschickt.

Hier aber an der Nordseite stand neben den Tribünen eine gewaltige schwarze Tafel, auf welcher ein Sekretär des Bayerischen Klubs unermüdlich allerlei Zahlen schrieb. Dem Kundigen besagten diese Ziffern eine ganze Geschichte. Denn da standen Wagennummer und gefahrene Zeit in Minuten, Sekunden und fünftel Sekunden,

Und so gruppierten sich denn um die Tafel jene Eingeweihten und begannen ein emsiges, eifriges Rechnen um die guten Punkte, die jeder Fahrer in diesem Rennen verdiente. Wenige Schritte aber von der Tafel entfernt, erhob sich, nur roh aus Brettern zusammengeschlagen, das Posthaus. Nur für diesen Tag war es errichtet, aber an diesem Tage hatte es auch Beschäftigung. An den Telephonapparaten standen die Zeitungsleute und verkündeten die gefahrenen Resultate nach Berlin und nach Wien, nach Köln und nach Frankfurt.

Denn im ganzen Deutschen Reiche, ja überall, wo Kraftfahrzeuge gebaut werden, wo eine Automobilindustrie besteht, herrschte ja ein brennendes Interesse am Ausgange dieser Konkurrenz.

Wer den ersten Preis in dieser Konkurrenz erwarb, der hatte nicht nur die Ehre, aus des Hand des prinzlichen Protektors einen Preis entgegen zu nehmen, er hatte auch gleichzeitig seinen Wagen zu einem gewaltigen wirtschaftlichen Erfolg gesteuert.

Die Wagenmarke, die siegreich aus der Konkurrenz hervorging, genoß, sei es mit Recht oder sei es mit Unrecht, nun einmal für das kommende Jahr den Ruf, die beste Marke Europas zu sein. Und so erwarteten die großen Automobilwerke den Ausgang des Kampfes mit nicht geringerer Sorge und Aufregung als die Fahrer selbst.

Nur diejenigen Wagen, die überhaupt die maßlos schwere Tour durch Mitteleuropa ohne jegliche, auch nur die allergeringste Störung überwunden hatten, kamen ja überhaupt nur in die Konkurrenz. Und unter diesen waren es wiederum Bruchteile einer Sekunde, welche den Ausschlag gaben.

„Unter den absolut Zuverlässigen die Schnellsten!“ Das war die Devise der Prinz Heinrich-Fahrer.

Auf der großen Tribüne, die sich unmittelbar neben dem Zielband erhob, saß Stephanie neben ihrem Vater. Sie hatte es vorgezogen, in Klagenfurt die Bahn zu nehmen und ihren Wagen zu einer gründlichen Reparatur direkt nach Wien zurückzusenden. Zwei Tage hatten genügt, um alle Nachwirkungen jener anstrengenden Fahrt über den Semmering verschwinden zu lassen.

Rosig und frisch, ein Bild blühender Gesundheit saß sie dort auf der Tribüne und verfolgte mit dem brennenden Interesse der begeisterten Automobilistin die einzelnen Phasen des Rennens, die sich dort unten vor ihren Augen abspielten. Sorgfältig schrieb sie die Zahlen von der schwarzen Tafel auf einen Notizblock und rechnete selbst die guten Punkte zusammen.

Gerade jetzt dröhnte ein Hupensignal von der Rennstrecke her und ein langgestreckter weißer Wagen tauchte auf, war im Augenblick auch heran, sprang förmlich über das Zielband und verschwand dann in der Gruppe der anderen Fahrzeuge.

Zehn Sekunden verflossen. Dann begann der Mann an der Tafel zu schreiben, „Wagen Nr. 3…“

Atemlos folgte Stephanie den Schriftzügen an der Tafel. Das war also das Fahrzeug von Carsten. Schnell verglich sie die von ihm gefahrene Zeit mit seiner Pflichtzeit.

Eine kurze Berechnung. Eine Hinzuzählung der guten Punkte, die der Fabrikant bereits auf dem Semmering erobert hatte und tief aufatmend ließ Stephanie den Bleistift auf den Block fallen. Es unterlag keinem Zweifel mehr, daß Carsten bis jetzt wenigstens der bei weitem beste in dieser Konkurrenz war.

Und zu dem gleichen Resultat mußten wohl auch andere gekommen sein. Dann ein Raunen und Rauschen ging in diesem Augenblick durch die Menge. Auf den Tribünen steckte man die Köpfe zusammen und auch die Herren des Klubvorstandes traten gruppenweise zusammen. Man witterte bereits den künftigen Sieger dieser Konkurrenz.

Und nun erschien Carsten selbst bei den Tribünen. Laute Bravorufe und Händeklatschen begrüßten ihn, während er gemächlich an der Bretterwand entlang schritt und dann durch die Bankreihen emporstieg zu jener Stelle, wo Stephanie mit ihrem Vater saß. Er bemerkte nicht, wie scharf ihn Stephanie bei seinem Näherkommen betrachtete. Und während ihr Vater mit vor Freude gerötetem Gesicht sich von seinem Platz erhob, um dem wahrscheinlichen Sieger entgegen zu gehen, lehnte sie sich nachlässig und mit kühlem Gesichtsausdruck in den Sessel zurück und wandte, als ihr Vater mit Carsten zusammentraf, sogar ostentativ den Kopf von ihnen ab.

Sie hatte eine Beobachtung an Carsten gemacht, die ihr nicht gefiel. Vielleicht zum erstenmal hatte Carsten ihr seinen wahren Charakter enthüllt. Es war, als er die Tribüne entlang zu ihrem Platz schritt, nichts von seiner sonstigen wohlwollenden und verbindlichen Art in seinem Gesicht zu lesen. Seine Züge hatten einen harten, brutalen, unangenehmen Ausdruck angenommen, Und dieser Ausdruck wurde noch dadurch verstärkt, daß jene recht große Dosis von Selbstbewußtsein, das er von Jugend an besaß, sich jetzt fast zu einer Art Dünkel gestaltete.

Genug — — Stephanie fand sein Aussehen in diesem Moment einfach widerwärtig. Sie verglich es in Gedanken mit der Büste eines römischen Imperators, die sie bei einem Spaziergang im Park des Charlottenburger Schlosses gesehen.

Eines jener breiten, massiven, vierkantigen, brutal ausschauenden römischen Imperatoren-Gesichter, bei deren Anblick man keinerlei Bewunderung, sondern nur Widerwillen empfindet.

Erst jetzt, als Carsten zu ihr trat, veränderte sich sein Gesicht wieder zu dem verbindlichen gesellschaftlichen Lächeln und sich tief vor Stephanie verbeugend, sagte er:

„Gnädiges Fräulein, ich habe die Ehre, mich Ihnen vorzustellen. Darf ich hoffen, daß meine sportlichen Erfolge Gnade vor Ihren Augen gefunden haben? Darf ich hoffen, daß diese Konkurrenz mir mehr als einen Preis bringen wird?“

Herr Carl Carsten sprach mit dem Stolze eines glücklichen Siegers. Nachdem er seinen Wagen nach dem Rennen zum Stillstande gebracht hatte, war sein Blick sofort auf die Zeittafel gefallen. In Bruchteilen einer Sekunde hatte er berechnet, daß er der Sieger war, daß er eine Anwartschaft auf den ersten Preis besaß, die ihm ein anderer kaum noch nehmen konnte.

Und mit einem Schlage war die Sorge von Carl Carsten abgefallen, jene niederdrückende Sorge, die ihn Monate hindurch gequält hatte.

Schon sah er sein Fabrikat als beste Marke der Welt in aller Munde. Schon sah er seine Fabrik gewaltig vergrößert und mit Aufträgen überschüttet. Mit eisernem Willen und mit eiserner Energie hatte er in unglaublich kurzer Zeit noch einmal den Weg vom Bettler zum Millionär zurückgelegt, hatte er das widrige Schicksal, das sich gegen ihn erhoben hatte, mit mächtiger Faust zu Boden geschmettert.

Solche Gedanken waren ihm in jenen Sekunden durch den Kopf geschossen, als er der Tribüne zuschritt. Gerade solche Gedanken hatten seinem Antlitz den Stempel unbeugsamen Willens aber auch häßlicher Brutalität aufgeprägt, hatten seine Züge vorübergehend so abstoßend gemacht.

Doch dann waren seine Gedanken weiter geflogen, hatten seine Züge von neuem eine Wandlung erfahren.

Die Geldfrage war jetzt für ihn erledigt. Jetzt konnte er wieder an anderes denken, jetzt konnte er seine Werbung um Stephanie, die im Frühjahr eine so jähe Unterbrechung erfahren hatte, wieder mit vollem Rechte und gutem Gewissen aufnehmen.

Und so war er denn vor Stephanie hingetreten.

Doch sie maß ihn mit einem kalten Blick. Sie wußte ja, worauf seine Worte anspielten.

„Ach so!“ erwiderte sie langgedehnt. „Wir werden sehen.“

Jetzt war es an Carsten, eine unangenehme Überraschung zu spüren.

Warum behandelte ihn die schöne Österreicherin gerade jetzt, im Moment seines höchsten Triumphes, so abweisend? Gerade jetzt, wo er doch die Siegespalme bereits in den Händen trug, wo ihn sportliche Ehren erwarteten und seine Vermögensverhältnisse mit einem Schlage die denkbar besten waren?

Eine weitere Unterhaltung wurde vorläufig durch den Vater Stephanies unterbrochen, der ihn sofort nach allerlei Details des Rennens fragte und sich speziell danach erkundigte, ob nach Carstens Meinung noch irgend jemand ein annähernd so gutes Resultat erwarten könne.

Das vermochte natürlich auch Carsten nicht zu sagen, denn das Rennen ging noch ununterbrochen weiter.

Wenn auch nur noch siebzig Wagen in der Konkurrenz waren, so dauert es schließlich doch eine ganz geraume Zeit, bis siebzig Wagen im Abstande von je zwei Minuten das Rennen durchlaufen.

Vorübergehend war das Interesse nach der Fahrt Carstens geringer geworden. Doch nun setzte das Rechnen und Kalkulieren von neuem ein.

Namen und Nummern schwirrten durch die Menge.

„Nummer acht hat wohl noch Chancen, Nummer drei zu schlagen,“ meinte der Generalsekretär des Kaiserlichen Automobil-Clubs und begann ebenfalls in seinem Kontrollbuch zu rechnen.

„Ausgeschlossen, lieber Baron,“ erwiderte der Präsident des Bayerischen Automobilklubs und schlug dem Redner auf die Schulter. „Dann müßte Nummer acht ja eine Stundengeschwindigkeit von hundertfünfzig Kilometern entwickeln und das ist nach Lage der Dinge wohl ausgeschlossen.“

Und nun sauste auch bereits Nummer acht durch das Ziel. Seine Geschwindigkeit von 125 Kilometern war imposant, doch nicht ausreichend, um durch gute Punkte einen geringen Defekt, der ihm auf der Tour fünf Strafpunkte eingebracht hatte, wieder gut zu machen.

Dann sah der Generalsekretär noch einmal seine Listen durch. Seine Stirn runzelte sich mißmutig und dann geschah etwas, was dem Herrn Baron nur selten passierte. Er ließ sein Monokel fallen und wandte sich an den Präsidenten des Bayerischen Automobilklubs:

„Es ist wirklich schade um den Wagen vierzig. Er hat bis jetzt am meisten gute Punkte am Semmering verdient. Ich weiß nicht, was dem Fahrer eingefallen ist, sich nicht zur rechten Zeit in Klagenfurt bei der Kontrolle einzufinden, Nummer vierzig hätte sonst Chancen, den ersten Preis zu machen.“

Der Bayer überlegte eine Weile.

„Müssen wir ihn denn tatsächlich ausschließen? Ich vermute er wird sich hier noch weitere gute Punkte holen und sicherlich dicht an Nummer drei herankommen.“

Mit einem sichtbaren Ruck setzte sich der Generalsekretär das Monokel wieder fest.

„Unbedingt, lieber Graf, Das kann gar keine Frage mehr sein. Wo kämen wir hin, wenn wir etwas derartiges durchgehen ließen.“

„Aber lieber Baron, er hat den Wagen doch sofort in eine verschlossene Garage gefahren und der Schlüssel ist nach der ehrenwörtlichen Versicherung des Kontrolleurs die ganze Nacht in dessen Händen gewesen.“

„Zugegeben. Ich halte den Fahrer von Nummer vierzig ebenso wie den Kontrolleur für durch und durch anständige Menschen. Aber wohin würden wir kommen, wenn wir etwas derartiges auch nur ein einziges Mal durchgehen ließen? Wir würden jetzt die unangenehmsten Proteste haben und wir würden bei der Konkurrenz des nächsten Jahres überhaupt keinen Wagen in der offiziellen Garage haben.

Nein, mein lieber Graf, wir müssen, so hart es uns ankommt, nach dem Buchstaben des Reglements verfahren, müssen sozusagen ein Exempel statuieren. Aber ich würde mich geradezu freuen, wenn Nummer vierzig jetzt ein schlechtes Rennen machte, so daß die Frage überhaupt nicht an uns herantritt.“

In diesem Augenblick wurde der Präsident durch andere Herren der Oberleitung in Anspruch genommen und das Gespräch fand sein natürliches Ende.

* *

*

„Die Konkurrenz ist übrigens noch gar nicht entschieden, Herr Carsten,“ sagte Stephanie, „Wir wollen doch zunähst einmal abwarten, was der Wagen Nummer vierzig in diesem Rennen macht. Ich bin selber neugierig, was die offizielle Preisverteilung uns bringt.“

Wieder ein Hupensignal und wieder schoß ein Wagen wie ein Raubvogel über die lange Bahn, um dann allmählich in ein langsameres Tempo zu verfallen.

Und dann trat wieder der Mann an die Tafel und schrieb die Nummer vierzig hin und dann die Fahrzeit.

Der Fabrikbesitzer Carsten wurde eine Nuance blasser und auch Stephanie spürte, wie ihre Hände zitterten. Schnell und geschickt machte sie die Berechnung.

Und dann strich sie sie durch und rechnete noch einmal und dann zum drittenmal. Aber das Resultat blieb dasselbe. Der Wagen Nummer vierzig hatte vier gute Punkte mehr, als Nummer drei. Bis jetzt war Nummer vierzig der unbedingte Sieger und nach menschlichem Ermessen war es ausgeschlossen, daß irgend ein anderer der Konkurrenten die Leistung von Nummer vierzig noch überbot.

Ein Klatschen und Stampfen und Bravoschreien ging durch die Menge, als nun auch Dr. Borchardt zu den Tribünen kam.

Und auch ihn beobachtete Stephanie so scharf, wie es ihr nur irgend möglich war. Bei jedem Schritt, den er näher kam, zog eine große Freude in ihr Herz. Er ging, wie er stets durch das Leben schritt, den Kopf etwas straff in den Nacken, jetzt aber die Augen von einer gewissen gutmütigen Ironie für die Menge erfüllt: und ein übermütiges Lachen um den Mund. Mit den Bekannten, die auf ihn einsprachen und ihm zu dem Siege die Hände schüttelten, wechselte er irgend welche belanglosen Worte, die Stephanie direkt zu hören glaubte.

Da war auch nicht ein einziger Zug an Borchardt, der auf Hochmut und übertriebenes Selbstbewußtsein schließen ließ.

Dem war die Sache höchstens ein Spaß, den die Menge mit ihm trieb. Das andere hatte er sich ja einfach durch seine ernste sportliche Arbeit verdient. Das war eine Sache, die ihn ganz allein anging.

Irgend welchen Neid kannte er nicht, den mochten andere besitzen.

Und als er jetzt zu Stephanie kam, sprang sie empor und reichte ihm beide Hände mit den Worten:

„Dem Sieger!“

Und der Rechtsanwalt lachte laut auf, ergriff die Hände und sagte so laut, daß es ziemlich weit schallte:

„Autoheil, mein liebes gnädiges Fräulein, Ihre kleinen Hände sind mir der beste Preis!“

Alle Umstehenden lachten und auch Carsten, der dabei stand, versuchte es, dem Rechtsanwalt einige verbindliche Worte zu sagen.

Aber hinter diesen Worten verbargen sich ganz andere Gedanken. Auch Herr Carl Carsten hatte im Augenblick die gefahrene Zeit Borchardts berechnet. Er hatte sofort herausbekommen, daß sein Konkurrent ihm um vier gute Punkte überlegen, daß er normaler Weise der erste Preisträger war.

Aber Carsten wußte es sehr wohl, daß Doktor Borchardt in Klagenfurt nicht in die vorgeschriebene Garage gegangen war. Und während er hier verbindliche Worte sprach, formulierte er in Gedanken bereits den Protest, den er einlegen wollte, wenn die Oberleitung dem Rechtsanwalt doch den Preis zusprechen würde.

Doktor Borchardt aber legte auf alle die Worte wenig Wert. Er war sich dessen sicher, daß er den besten Preis, den das Rennen für ihn bieten konnte, daß er die Hand Stephanies erobert hatte. Und alles andere kümmerte ihn wenig.

Noch einmal tauschte er Blick und Händedruck mit seiner schönen Partnerin. Und dann wandte er sich in seiner leichten weltmännischen Weise an den Fabrikherrn.

„Wissen Sie was, lieber Carsten, das ist ja alles recht schön. Aber mit Worten macht man einen durstigen Menschen nicht glücklich. Wir wollen einen Kellner auftreiben und wollen den Schluß der Kampagne mit einem Glase Sekt begießen.“

Und während da unten die letzten Wagen in windender Fahrt über das Zielband sausten, während weiter gute Punkte notiert und Berechnungen angestellt wurden, ergriff Doktor Borchardt sein Glas und stieß mit Stephanie an.

* *

*

Der letzte Abend der großen Konkurrenz war gekommen. Noch einmal sollte ein festliches Mahl alle diejenigen vereinen, die im friedlichen Wettkampf zehn Tage hindurch um die Palme des Sieges gerungen hatten. Und bevor man sich zum Schmause niederließ, sollte die Verteilung der Preise an die glücklichen Gewinner erfolgen.

Da standen sie im Vestibül, welches den Zugang zu dem eigentlichen Festsaale bildete, auf einer langen Tafel aufgebaut.

Schimmernde Humpen, aus schwerem Silber gerieben. Statuen und Schüsseln, alles Meisterwerke der Goldschmiedekunst im Werte von vielen Tausenden.

Denn die Stifter dieser Preise ließen etwas daraufgeben und verfolgten mit ihrer Stiftung einen doppelten Zweck. Nicht nur die Automobilindustrie, sondern auch das heimische Kunstgewerbe sollte dabei Förderung erfahren.

So war jeder dieser Preise ein wahrhaftes Pracht- und Prunkstück. Noch größer freilich, als der Besitz der Sache an sich, war daneben der Ruhm, den Preis errungen zu haben.

Und darum wurde von all dem goldenen und silbernen Zierrat, der dort auf der Tafel stand, am allermeisten ein verhältnismäßig einfacher Pokal geschätzt, der auf der einen Seite das wohlgetroffene und sauber ziselierte Relief des Prinzen Heinrich trug, während auf der anderen Seite eine Vignette für Gravierungen eine freie Fläche darbot.

Das war der Prinz Heinrich-Pokal.

Der höchste aller hier vertretenen Preise.

Nicht kostbarer als die anderen. Aber unsicherer als diese, denn er wurde nicht Eigentum des Gewinners. Wer den Prinz Heinrich-Pokal gewann, der bekam ihn nur in seine Obhut und durfte für das Jahr seinen Namen auf die Vignette gravieren.

Aber im nächsten Jahre mußte er den Pokal in einer neuen Konkurrenz verteidigen und im übernächsten noch einmal, und nur wer dreimal hinter einander den Becher an sich brachte, der durfte ihn behalten.

Das aber war bisher noch keinem geglückt. Den Pokal ein einziges Jahr im Besitze zu halten, galt schon als das höchste Ziel, galt mehr als der dauernde Besitz aller jener anderen Schalen und Geräte, die schon beim erstenmal dem Sieger anheim fielen.

Und nun sollte die Preisverteilung beginnen.

Schon eine Stunde vorher war die offizielle Liste für das Volkische Telegraphenbureau herausgegeben worden und eine Stunde vorher hatte der Rechtsanwalt Dr. Borchardt unter vier Augen eine lange und ernste Unterredung mit dem Generalsekretär des Kaiserlichen Automobilklubs gehabt.

Jetzt hatten sich die glänzenden Räume dicht gefüllt. Und nun ließ die Regimentsmusik, die an diesem Abend konzertieren sollte, eine altdeutsche Fanfare ertönen.

Stille trat ein und erwartungsvoll blickte alles nach dem Gabentisch.

Noch einmal eine Fanfare und dann schritt eine Gruppe von Klubherren auf den Tisch zu. Das Präsidium der drei verbündeten Klubs, welche die Fahrt organisiert hatten, unter ihnen der Protektor der Fahrt, der Prinz Heinrich, ebenfalls im blauen Klubkostüm.

Und dann trat der Generalsekretär des Kaiserlichen Automobilkubs vor und begann nach einer Verbeugung gegen die Königliche Hoheit und die übrigen Anwesenden seine Rede.

Man wußte wohl, daß der Baron ein guter Redner war, und hörte ihn gern sprechen.

Er brachte zunächst den Dank des Klubs an die Teilnehmer der Konkurrenz zum Ausdruck, an jene Teilnehmer, die so beispiellose Mühen auf sich genommen hatten, um die große technische und kulturelle Idee des Kraftwagens zu fördern.

„Es liegt ja in der Natur der Dinge begründet,“ fuhr er fort, „daß nicht jeder der Teilnehmer einen Preis bekommen kann. So müssen sich diejenigen, die diesmal ohne eine Gabe davongehen, mit dem Gedanken trösten, daß auch sie nach besten Kräften zum Gedeihen des Automobilismus beigetragen haben. Es mag das schmerzlich sein, aber es ist nicht zu vermeiden. Und ganz besonders,“ fuhr der Baron mit erhobener Stimme fort, „möchte ich das dem Fahrer des Wagens Nummer vierzig zurufen. Dieser Wagen hat das beste Bergrennen und das beste Rennen in der Ebene gefahren. Er hat nach dem durchaus glaubhaften Kontrollbuch auch keinerlei Strafpunkte erlitten. Aber das Reglement, das für alle gilt, bestimmt, daß die Fahrzeuge an jedem Abend vor Schluß der Kontrolle in die offizielle Garage gebracht werden müssen. Und das ist beim Wagen Nummer vierzig leider in Klagenfurt versäumt worden. Es ist sicherlich nur aus Gründen unterlassen worden, die mit der Beschaffenheit des Wagens in keinem Zusammenhang stehen. Aber der Verstoß gegen das Reglement liegt vor und darum mußte Nummer vierzig aus der Konkurrenz ausscheiden.“

Jeder der Anwesenden bemühte sich, den ihnen so wohlbekannten Fahrer des Wagens Nummer vierzig, den Rechtsanwalt Dr. Borchardt, zu erspähen.

Aber der war nicht anwesend. Der hatte gar kein Interesse mehr für den letzten Akt des großen Rennens, sondern der saß in einem kleinen intimen Speisesaal des Hotels, in dem Stephanie mit ihrem Vater wohnte, und in ihrer Gesellschaft befand sich noch Dr. Haake.

Als ihm nach Bekanntwerden der Preisverteilung Herr von Gandern sein tiefstes Bedauern ausdrücken wollte, lachte der Rechtsanwalt:

„Aber ich bitte Sie, das hat ja gar nichts zu sagen. Die Hauptsache ist für mich, daß ich schließlich doch das Rennen gemacht habe.“

Und bei diesen Worten warf Dr. Borchardt einen Blick auf Stephanie, der ihrem Vater die Situation vollkommen enthüllte, soweit sie ihm noch nicht klar war.

Und dann nickte Stephanie wieder und dann stand Dr. Borchardt sehr gemessen und sehr feierlich auf und trat auf Herrn von Gandern zu und machte eine Verbeugung, die auf jedem Hofball bestehen konnte:

Herr von Gandern, ich gestatte mir, nunmehr auch offiziell um die Hand der Tochter anzuhalten.“

Herr von Gandern aber setzte das feierlichste Gesicht auf, obwohl ihm der Schalk im Nacken saß.

„Aber mein Herr, ich weiß ja gar nicht, ob meine Tochter Sie mag.“

Aber da war bereits Stephanie an der Seite Borchardts und widerlegte dadurch am allerbesten die Frage ihres Vaters.

Als dies geschehen war, erhob sich der Dr. Fritz Haake und schwang sein Glas und rief:

„Die Jungverlobten hipp hipp hurra!“

Und er brachte das Hurra! derart kräftig heraus, daß die Gläser klirrten und die Kellner erschreckt zusammenfuhren.

Dann aber griff Dr. Fritz Haake nach seinem blitzblanken Zylinder.

„Wo wollen Sie hin, Haake?“ fragte ihn sein Freund verwundert.

Da zog sich das Gesicht Haakes vergnüglich in die Breite.

„Wo ich hin will?… Schlaue Frage. Hier bin ich doch schon ganz sicher überflüssig. Zu dem Klubfest will ich und meinem Spezialfreund Carsten die Pille heute noch eingeben.“ Und dann schoß Dr. Haake mit automobilartiger Geschwindigkeit zur Tür hinaus, während Dr. Borchardt und Stephanie ihm lächelnd nachschauten.

* *

*

Das Schlußfest des Klubs war im besten Gange. Die Preisverteilung war vorüber und das opulente Diner hatte begonnen. Ein Gang nach dem anderen wurde aufgetragen. Der gute Wein belebte die Teilnehmer. Rauschende Musik erfüllte den Saal und schwieg nur, wenn in einer Pause zwischen zwei Gängen einer der offiziellen Toaste gehalten wurde.

Schon hatte man die Monarchen der drei Reiche, durch welche die Fahrt gegangen war, hochleben lassen. Man hatte auf die Klubs und auf die siegreichen Fahrer getrunken. Man hatte in einem besonderen Toast gerade der Damen und besonders jener einen Dame gedacht, die das schwere Rennen mitgefahren hatte.

Die Schlußworte jenes Toastes wurden gerade gesprochen, als der Doktor Fritz Haake im Saale auftauchte. Der hörte noch die letzten Sätze und suchte sich einen Platz in nächster Nähe des Vorstandstisches. Und während er behaglich ein Glas Wein schlürfte, vernahm er mit scharfem Ohr, wie die Herren dort gerade die Gründung von Trostpreisen besprachen. Er hörte, wie der rührige Generalsekretär des Kaiserlichen Automobilklubs die Stiftung zweier Trostpreise für die einzige Dame im Rennen und für den Wagen Nr. 40 einem reichbegüterten Mäcen des Klubs nahelegte. Er hörte, wie der Vorschlag Beifall fand und wie der Präsident sich erhob, um diesen Beschluß den fröhlichen Festgenossen zu verkünden.

Lauter Beifall begrüßte die Ausführung des Präsidenten. Der Dame gönnte man die besondere Auszeichnung ohne weiteres. Und da sich inzwischen bereits durch die Vermittlung des Ingenieurs Hans Zeyssig herumgesprochen hatte, warum eigentlich der Wagen Nr. 40 um den ersten Preis gekommen war, so gönnte man auch dessen Führer die Anerkennung ohne jeden Vorbehalt.

Der Präsident hatte sich eben wieder gesetzt, als schriller Gläserklang von einer anderen Seite des Tisches her erklang. Dort hatte sich der Doktor Fritz Haake erhoben und schlug kräftig an sein Glas.

Wieder trat Stille ein und alles blickte verwundert nach der Stelle hin, denn ein offizieller Toast stand nicht mehr auf der Liste.

Aber Doktor Haake kümmerte sich wenig um offizielle und nichtoffizielle Toaste.

„Meine hochverehrten Damen und Herren!“ rief er mit hallender Stimme durch den großen Saal, „Ich komme soeben vom Wagen Nummer vierzig und von der Führerin des Wagens Nummer sechzehn…“

Jetzt wurde die Stille allgemein und man lauschte wirklich gespannt. Das mußte wohl eine Überraschung geben. — Fritz Haake aber fuhr unbeirrt fort:

„Ich muß Ihnen die Mitteilung machen, daß die Beteiligten der Entscheidung des Präsidiums bereits vorgegriffen haben…“

Das war den Zuhörern nun wieder ganz unverständlich. Aber die Erklärung kam sofort.

„Der Führer des Wagens Nummer vierzig hat sich nämlich selber einen Trostpreis genommen,“ fuhr der Doktor fort, „und zwar hat er die Führerin des Wagens Nummer sechzehn erwählt… —“

Jetzt begann man, den Redner zu verstehen und hier und dort wurde Händeklatschen vernehmbar. Aber der Doktor Fritz Haake verschaffte sich noch einmal durch kräftiges Klopfen an seinem Glase Ruhe.

„Und die Führerin von Nummer sechzehn betrachtet ihrerseits den Führer von Nummer vierzig als einen recht guten Trostpreis.

Meine Damen und Herren, ich habe Ihnen die soeben vollzogene Verlobung von Nummer sechzehn und Nummer vierzig mitzuteilen. Der Neuverlobten, sie leben hoch!!“

Bei diesen Worten erhob der Doktor sein Glas und die Musik fiel mit einem Tusch ein.

Brausende Hochrufe erfüllten den Raum. Man trank und jubelte.

Nur Herr Carl Carsten preßte sein Sektglas zusammen, daß die Scherben ihm die Hand blutig schnitten. Er hatte den Preis der Konkurrenz gewonnen, den anderen, vielleicht viel wertvolleren darüber verloren.

Und dann begab nach einer halben Stunde noch etwas, was bisher in der Geschichte des Automobilismus unerhört war.

Das Präsidium der verbündeten Klubs ließ den Doktor Fritz Haake ex officio in die Kanne steigen. Der hatte nämlich beim Präsidium angefragt, ob er diese Verlobung auch noch als unzulässige Panne in sein Kontrollbuch vermerken müsse.

 

 

Ende.

 

Anmerkung:

[1] volljährig, großjährig, mündig