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Detektivinspektor Gordys Gewissen

 

Harald Harst

 

Band: 353

 

Detektivinspektor Gordys Gewissen

 

 

Von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16

 

1. Kapitel

 

Der Leidensweg einer Familie.

Als Helga Barn nach stundenlangem Umherirren durch benzindunsterfüllte Straßen und Menschenleid aushauchende Warteräume von Geschäftspalästen die Zementstufen der mütterlichen Souterrainwohnung hinabstieg und der fade Geruch der Kellervorräume sie umfing, blieb sie unwillkürlich stehen und rang nochmals mit dem schweren Entschluß, der kränklichen Frau dort drinnen durch eine fromme Lüge eine neue bittere Enttäuschung zu ersparen.

Helga Barn war seit Jahren durch eine harte, unerbittlich schicksalshafte Lebensschule gegangen.

Als ihr Vater, müde des zwecklosen Kampfes gegen Anklagen, die er nicht zu widerlegen vermochte, selbst Hand an sich gelegt hatte, waren Friedrich Barns fanatische Gegner mit doppelter Gehässigkeit gegen die mittellos gewordenen beiden Frauen, Mutter und Kind, vorgegangen.

Helga, damals kaum achtzehn, sah die verbitterte, vergrämte Mutter dahinwelken und packte ihre Zukunft nun mit festen, zielbewußten Händen an.

Ihre Vorbildung befähigte sie, als Auslandskorrespondentin bei einer Firma einzutreten, deren Chefs zunächst großzügig genug waren, über den in der Öffentlichkeit verfemten Namen Barn hinwegzusehen.

Damals bezogen die beiden Frauen die Souterrainwohnung in dem Haus Trabener Straße, – ein Mietshaus, das sich stolz Villa nannte, und dessen Besitzerin aus ihren Mietern unter ewigem Stöhnen und Klagen an Nebenzins herauzuspressen wußte, was nur irgend herauszupressen war. Dafür verlebte die Frau Prof. Stöckner auch regelmäßig den Winter an der Riviera und überließ es ihrem Hauswart, daheim nach dem Rechten zu sehen.

Zwei Jahre arbeitete Helga zur vollen Zufriedenheit ihres Chefs. Dann wurde ihr gekündigt, – angeblich wäre ihre Stellung überflüssig und das anfallende Lohngeld müßte eingespart werden.

Das Zeugnis, das man ihr ausstellte, entsprach in keiner Weise ihren Leistungen. Auf dieses Zeugnis hin konnte sie nirgends in ähnlicher Position unterkommen. Sie klagte gegen die Firma auf Änderung dieser unwahren Bescheinigung von mäßigen Durchschnittsleistungen und wurde abgewiesen.

Damals, das lag nun drei Monate zurück, merkte sie, daß auch sie mächtige, rücksichtslose Feinde hatte.

Tag um Tag bemühte sie sich fortan um eine neue Erwerbsmöglichkeit, stets umsonst. Die Ersparnisse, die sie umsichtigerweise zurückgelegt hatte, schmolzen dahin.

Die Mutter, die sich in den beiden sorgenlosen Jahren etwas erholt hatte, begann von neuem zu kränkeln.

Helga Barn gab den zermürbenden Kampf nicht auf…

Sie wäre mit der schlechtbezahltesten Stellung zufrieden gewesen. Nicht einmal diese Bescheidenheit nützte ihr. Sie nahm Demütigungen von anmaßenden wohlgenährten Personalchefs hin, die zunächst nicht abgeneigt waren, das pikante, schlanke, kluge Mädchen mit dem sicheren, ruhigen Auftreten unterzubringen. Wenn diese Herren, die zumeist jede Schätzung für die Not ihrer Mitmenschen verloren hatten, dann allzu zudringlich wurden, konnte dieselbe Helga Barn freilich eine so eisige Miene aufsetzen, so vollkommen große Dame werden und die Herren so von oben herab abfertigen, daß ihre geringen Hoffnungen stets im Nu wieder zerflatterten.

In diesen drei Monaten hatte Helga eins gelernt: Menschen zu durchschauen – und zu verachten.

Alles, was in ihrem jungen, unberührten Herzen noch einen Glauben an die Menschheit und an Vertrauen auf eine gerechte Vorsehung gelebt hatte, war ausgerottet worden.

Die Welt in all ihrer Erbärmlichkeit hatte die Seele dieses fleißigen, ehrlichen Mädchens auf dem Gewissen.

Helga Barn kannte nur noch ein wärmeres Gefühl: Die Liebe zu ihrer beklagenswerten Mutter.

Aus dieser Liebe heraus aber wuchsen unter dem alles vergiftenden Einfluß der bittere Not Charaktereigenschaften hervor, deren Helga sich schämte.

Die Mutter, nun seit Wochen ans Bett gefesselt, ahnte nicht, daß auch die letzten Wertstücke längst verkauft waren.

Helga spielte vor der kranken Mutter allzeit die Muntere, Hoffnungsfrohe und Siegesgewisse.

Es war eine Marter, die auf die Dauer unerträglich schien.

Heute war das junge Mädchen zu dem Entschluß gelangt, die Mutter noch gröber zu täuschen.

Es mußte sein. Das Lebensflämmlein der lebensüberdrüssig blassen Frau war am Erlöschen.

Helga wollte lügen, Helga hatte bereits einen Plan entworfen, nunmehr selbst vor dem Leben nicht mehr zurückzuschrecken: Betteln zu gehen!

Denn daß sie zum Schein die noch aus der Bibliothek des Vaters vorhandenen Bücher an den Wohnungstüren anzubieten gedachte, war ja nur eine versteckte Bettelei.

So stand sie dann nun hier im dämmerigen, kühlen, von Erddunst erfüllten Vorraum der drei Souterrainwohnungen und raffte all ihre Kraft zusammen, in diese fromme Lüge jenes Maß von Glaubwürdigkeit einflechten zu können, das der mißtrauischen Mutter alle Zweifel fernhielt.

Als die Tür zu ihrer Linken sich plötzlich öffnete, erschrak sie derart, daß sie bis zur Wand zurückwich.

Der Hauswart Emmich erkannte sie, und über sein blasses, hageres, eigentümlich faltenloses Gesicht mit den dunklen, allzeit finsteren Augen glitt ein flüchtiges Grinsen hin.

„Na, – heute ist der dritte, Fräulein… Wie steht es mit der Miete?“

Wenn Helga dieser Menschen begegnete, und leider geschah es bei der engen Nachbarschaft sehr oft, hatte sie stets das Gefühl, in die mordlustigen, schillernden Augen einer Giftschlange zu blicken.

„Abends bezahle ich,“ erklärte sie schroff und schob den Schlüssel in das Flurtürschloß.

„Wovon?!“ rief ihr Emmich höhnisch nach… „Wenn Sie auch nur ein Möbelstück aus der Wohnung schaffen, dann…“

Da knallte die Tür ins Schloß, und Emmich verzichtete auf weitere Redensarten.

Mit den Händen in den Hosentaschen, den Kopf brutal vorgeschoben, schritt er die Treppe empor und schnauzte im Hofraum eine der Hausangestellten des Mieters der ersten Etage grob an…

„Papier wird nicht in die Müllkästen geworfen!! Suchen Sie sofort jeden Fetzen wieder raus, – – verstehen Sie!!“ – – –

An demselben lauen Junitag nachmittags gegen fünf Uhr schlug unsere Flurglocke an, und da ich gerade mit einigen chemischen Versuchen beschäftigt war und unsere Haushälterin Einkäufe machte, öffnete mein Freund persönlich.

Ich hörte ihn in der Diele mit einer Frau sprechen, die ein sehr angenehmes Organ hatte. Dann bat er die Fremde in unser Büro, schob ihr einen Sessel hin und nahm selbst Platz. –

Mich hatte er dem ärmlich gekleideten Mädchen kurz als ‚mein Freund Schraut‛ vorgestellt.

Unwillkürlich lauschte ich nun aus meiner Ecke schärfer auf das sich entspinnende Gespräche.

„Liebes Fräulein, woher haben Sie dieses Buch, für das sie drei Mark verlangen?“

„Aus meines Vaters hinterlassenen Bücherschätzen…“

„Entschuldigen Sie, war Ihr Vater Sammler alter Werke?“

„Ja, von jeher…“

„Wissen Sie, was diese erste Ausgabe des ‚Cagliostro‛ wert ist?“

„Nein, wirklich nicht… Ich bin sehr in Not, Herr… Herr…“

„Harst,“ half mein Freund aus.

„Harald Harst,“ ergänzte er dann.

Aber auch das machte auf das junge Mädchen nicht den geringsten Eindruck.

Mein Freund betrachtete die mit Büchern gefüllte Aktentasche unserer Besucherin, und meinte dann höflich:

„Der ‚Cagliostro‛ ist mindestens achthundert bis tausend Mark wert, Fräulein… – Wie war doch Ihr Name?“

„Helga Barn… – Herr Harst, ist das wahr, – achthundert Mark?! Aber das bezahlt doch heute niemand für ein Buch…“

„Oh doch… – Ich allerdings könnte mir die Ausgabe aus Liebhaberei nicht gestatten… Aber ich habe einen Bekannten, der gerade für Werke über berühmte Alchimisten und Abenteurer – beides ist ja dasselbe – gern diesen Preis zahlen würde. – Bevor ich jedoch auf das rein Geschäftliche zu sprechen komme, – können Sie sich legitimieren?“

„Ja. Bitte… Hier mein Ausweis mit Lichtbild. Ich war einmal bei der Firma Sodelstern Auslandskorrespondentin und hatte viel mit Vertretern auswärtiger Staaten zu tun…“

„Danke, Fräulein Barn. Das genügt mir. –

Und nun noch eine Frage. Ist Ihnen der Name Harst völlig unbekannt?“

„Nein, daß wohl nicht, Herr Harst. Ich weiß, daß es hier in einem Vorort Berlins einen vielfachen Millionär gibt, der sich aus Liebhaberei mit der Aufklärung von Verbrechen beschäftigt. – Verzeihung, sind Sie dieser Herr?“

„Ja und nein.“ Mein Freund lächelte harmlos… „Meine Millionen habe ich eingebüßt. Ich bin jetzt Berufsdetektiv. Dieses bescheidene Häuschen ist allerdings mein Eigentum…“

Mit unserer Besucherin ging plötzlich eine auffallende Veränderung vor sich. Sie wurde erst sehr rot, dann sehr blaß, schaute meinen Freund unverwandt an und sagte dann entschlossen:

„Darf ich Ihnen meine Lebensgeschichte erzählen, Herr Harst, die zugleich die Lebensgeschichte meines verblichenen Vaters ist?“ – –

Als Helga Barn uns zwei Stunden später verließ, hatte mein Freund kurz vor ihrem Aufbruch jemand telephonisch angerufen.

Helga nahm fünfhundert Mark mit sich und hatte all ihre Bücher bei uns gelassen.

Es war wirklich ein Glückszufall, daß sie zu uns gekommen war, bevor sie, was ihre Absicht gewesen, den drei Häuser weiter wohnenden Antiquar aufgesucht hatte, von dem sie ohne Zweifel grob betrogen worden wäre. Der Mann war dafür bekannt, daß er nur unsaubere Geschäfte machte.

 

 

2. Kapitel

Karl Emmichs Lügen.

Wir waren nun allein, Harst schritt rauchend auf und ab und erör–terte in großen Zügen das von Helga Barn Gehörte, der er noch eine Unmenge Fragen gestellt hatte.

„Man soll sich in unserem Beruf vor gewissen Gefühlsregungen besonders hüten,“ sagte er unter anderem und blieb vor mir stehen. Seine hageren Züge waren dabei völlig leidenschaftslos und undurchdringlich. „Vorzeitiges Mitleid trübt den klaren Blick… Dieses Mädchen gab freimütig zu, durch den Druck der Umstände eine perfekte Lügnerin geworden zu sein. Vieles in ihrer Schilderung erschien mir fragwürdig.“

Er deutete auf das Bücherpaket.

„Helga Barn ist über den Durchschnitt hinaus gebildet und hat angeblich trotzdem nicht gewußt, daß Ihres Vaters Sammlung alter Werke einen solchen Wert haben könnte. Sie erklärte, sich nie um die große Bücherkiste, die im Kohlenkeller abgestellt war, gekümmert zu haben. – Du siehst, mein Alter, ich beurteile die Dinge gänzlich unvoreingenommen. Man muß zwischen sich und einem neuen Fall, der noch im ersten Anfangsstadium sich befindet, unbedingt Abstand halten. – Weiterhin kommt es mir unwahrscheinlich vor, daß der Oberintendanturrat Barn, der durch Selbstmord endete, so heimtückische Feinde gehabt haben soll, daß diese Leute selbst die Witwe und die Tochter noch weiter drangsalieren. Dazu würde ein Übermaß von Rachsucht und Niedertracht gehören, das selbst bei verderbten Charakteren selten zu finden ist. Ich könnte hier noch mehr zweifelhafte Punkte aufführen. Jedenfalls wollen wir behutsam und unvoreingenommen zu Werke gehen. Nach Helga Barns Äußerungen besteht die Möglichkeit – ich betone, die Möglichkeit –, daß all ihre Schritte überwacht werden. Ob dies zutrifft, werden wir sehr bald wissen. Ich habe mit Absicht Freund Monk gebeten, dem Mädchen zu folgen. Monk ist verschwiegen und zuverlässig.“

Er hatte den Kopf nach dem offenen Fenster gedreht, und in seinem Gesicht zeigte sich ein jäher Ausdruck von Spannung und Überraschung.

„Ein Mann steht an der Vorgartenpforte… Nach Helga Beschreibung kann es der unangenehme Hauswart Emmich sein, so hieß er ja wohl… Er zögert noch, ist unschlüssig, ob er läuten soll… Sein Auftauchen und sein Zaudern sprechen für die Wahrheit der Angaben des Mädchens… Jetzt will er sich entfernen… Er traut sich nicht zu uns…“

Harst schob schnell den durchsichtigen Fenstervorhang zur Seite und rief dem Mann zu:

„Die Glocke an der Pforte versagt zuweilen… Bitte treten Sie nur näher…“

Ich war bereits hinausgeeilt.

Wenn es sich um diesen Emmich handelte, konnte uns der Mensch so manches verraten.

„Emmich ist mein Name,“ stellte er sich mürrisch vor. „Die Glocke versagte wirklich…“

Harst war neben uns erschienen.

„Die Batterie wird erschöpft sein,“ meinte er harmlos. „Treten Sie nur näher… – So, nehmen Sie Platz… Was führt Sie zu uns?“

Karl Emmich hatte sich bei uns mit einer Lüge von vornherein in Mißkredit gebracht. Er hatte nicht geläutet. Die Glocke war in Ordnung.

Auch sonst machte der Mann mit dem eigentümlich bleichen, bartlosen Gesichts und dem dichten, schwarzen, glatt zurückgestrichenen Haar einem denkbar ungünstigen Eindruck.

Er glich etwa dem für das Schicksal der letzten russischen Zarenfamilie so überaus verhängnisvollen Mönch Rasputin, nur daß er ausgesprochene Mörderaugen hatte, finster, heimtückisch, ruhelos und lauernd.

Daß es ihm höchst ungelegen gekommen war, von Harst angerufen worden zu sein, verriet sein abermaliges Zaudern, als er nun erklären sollte, weshalb er uns zu Rate zu ziehen gedächte.

Dann schaute er starr an Harst worüber und sagte überstürzt:

„Fräulein Barn war vorhin bei Ihnen… Mit Büchern… Dort liegen sie…“

„Kennen Sie denn die junge Dame?“

„Ich bin der Hauswart und der Vertreter der Wirtin, der Frau Prof. Stöckner…“

„Nun – – und?!“

Emmich zögerte wieder.

„Die Bücher sind gestohlen… Sie gehören der Frau Professor… Im Kohlenkeller bei Barns steht eine Kiste, und dort waren die Bücher verwahrt.“

Mein Freund schwieg.

Schweigen ist für manche Leute eine Qual. Emmich wurde immer aufgeregter und fahriger.

„Ich muß die Bücher wieder mitnehmen… Ich werde Anzeige erstatten…“

„Dann bin ich von dem Mädchen belogen worden, Herr Emmich. Sie behauptete, die Bücher wären Erbstücke ihres Vaters.“

„Gaben Sie ihr etwa Geld, Herr Harst?“

Jetzt blickte Emmich meinen Freund flüchtig an.

„Leider… Fünfhundert Mark Anzahlung,“ erwiderte Harst mit einer bedauernden Handbewegung.

Dann nahm er den Cagliostro von dem Bücherstapel und blätterte darin.

Ein schmaler Zettel fiel heraus, ein etwas vergilbtes Lesezeichen mit Bleistiftnotizen.

Ich starrte wie gebannt auf das Blättchen, das mein Freund schnell überflog.

„Was war denn Prof. Stöckner von Beruf?“ warf er gleichgültig hin.

„Künstler, Bildhauer…“

„So … so…“ – Harald drehte den Zettel um, der auf der anderen Seite einen Vordruck und rote und blaue Linien enthielt. Er legte ihn in das alte, in Schweinsleder gebundene dicke Buch zurück und sagte sehr bestimmt:

„Die Bücher bleiben hier, Herr Emmich, bis die Eigentumsfrage einwandfrei geklärt ist… Sie können mir das nicht verdenken, ich möchte nicht gern fünfhundert Mark einbüßen…“

„Nun gut, – – weil Sie es sind,“ brummte Emmich…

Und Harst ergänzte: „Außerdem möchte ich gern die Frau Professor mal sprechen… Ist sie daheim?“

„Nein,“ erwiderte Emmich allzu schnell. „Sie ist bei Bekannten in Potsdam, glaube ich… Aber morgen vormittag können Sie sie antreffen, Herr Harst…“

„Schön, also morgen… – Wir sehen uns dann ja ebenfalls wieder, Herr Emmich. Fräulein Barn würde ich zunächst nicht irgendwie behelligen, damit sie nicht gewarnt wird.“

„Werde mich hüten!“ meinte der bleiche Hauswart verbissen. „Ich danke Ihnen noch vielmals für Ihr Entgegenkommen, Herr Harst… Ich tat nur meine Pflicht, die Barn ist eine Schwindlerin, genau wie ihr Vater ein…“

„Kannten Sie ihn?“ fiel Harst schnell ein.

Emmichs lauernde Augen flogen herum. Er hatte soeben die aufgestapelten Bücher gezählt.

„Nein… Weshalb fragen Sie?!“

„Ich stelle des öfteren eigentümliche Fragen… Ich nehme auch niemals einen Vorschußdank entgegen. Also – Sie schulden mir keinen Dank. Im Gegenteil, auch ich tue nur meine Pflicht.“

Emmich hatte sich erhoben.

Seine Art, den Kopf etwas geduckt vorzuschieben, gab seiner Haltung etwas Herausforderndes, bewußt Nachlässiges und erinnerte an finstere Kaschemmentypen.

Harsts letzte Sätze mußten diesen zweifellos intelligenten Menschen stutzig machen.

Er drehte seinen Hut zwischen den Händen und schaute auf den Schweinsleder-Cagliostro.

„Der Zettel gehört mir, Herr Harst, den Sie in dem alten Schmöker fanden,“ sagte er patzig. „Geben Sie ihn mir… Ich brauche ihn…“

Das war dumm, grob ausgedrückt.

Herr Karl Emmich entblößte sein Inneres immer mehr.

„Ich brauche den Zettel erst recht,“ meinte Harst verfänglich kühl. „Also dann auf Wiedersehen, Herr Hauswart. – Morgen vormittag – mit dem Zettel.“

Ein Blick von unten her traf meinem Freund, der Helga Barns Ausdruck ‚Schlangenblick‛ vollauf bestätigte.

„Wiedersehen,“ knurrte Emmich und schob wuchtigen Schrittes ab.

 

 

3. Kapitel

Eine vornehme Dame.

Frau Prof. Belinda Stöckner, die den zweiten Stock ihrer sogenannten Villa in der Trabener Straße bewohnte, hatte an demselben Abend gegen halb acht einen Gast empfangen, der ziemlich regelmäßig alle vier Wochen sich einfand und seinen Besuch durch ein harmloses Telegramm ebenso regelmäßig anmeldete.

Sobald diese Depesche eintraf, pflegte die schlanke, weißhaarige Dame, die sich auf ihre tadellose Figur ebensoviel einbildete wie auf ihr noch immer überraschend jugendliches Gesicht, ihr Personal genau so regelmäßig von sieben Uhr ab zu beurlauben und ihre sonst recht robusten Nerven durch noch reichlicheren Kognakgenuß verdoppelt zu stählen.

Belinda Stöckner, die in gewissen Kreisen Berlins einer tonangebende Rolle spielte, hatte längst all den seelischen Ballast über Bord geworfen, der ihrer Lebensgier, ihrem Ehrgeiz und ihrer zügellosen Raffsucht hätte hinderlich sein können. Daß ihr Gatte einmal an einem Fürstenhof als Gleichberechtigter hatte ein- und ausgehen dürfen und daß sie noch heute eine sehr anständige Staatspension auf Grund dieser ehrlich-nationalen Gesinnung des früh Verstorbenen bezog, focht sie nicht weiter an. Stöckner war zuletzt Direktor einer Kunstschule gewesen, und sowohl dieses Amt, wie das kluge, überkluge Finanzgebaren seiner Witwe hatten ihr ein Einkommen gesichert, von dem sehr bequem ein Dutzend Familien hätte leben können.

Frau Belinda saß jetzt mit ihrem ihr höchst unwillkommenen andrerseits sehr einträglichen ‚Monatsgast‘ in ihrem äußerst modern hergerichteten Wohnsalon, der freilich für Menschen mit unverbildetem Geschmack genau so aussah wie eine im Schaufenster aufgebaute Möbelausstattung.

Es fehlte jede persönliche Note.

Aber diese Kahlheit und frostige Steifheit war nun einmal modern, und die Kreise, die Frau Belinda jetzt als ihre Welt betrachtete, besaßen weder das Empfinden noch den Wunsch nach Behaglichkeit.

Die Unterhaltung mit dem Monatsgast verlief wie immer.

Der unauffällig gekleidete Herr stellte Fragen, Belinda antwortete, und auch die stets wiederkehrende Frage fehlte nicht, ob Karl Emmich auch wirklich zuverlässig sei.

Die Entgegnung lautete … wie stets:

„Solange er seine … Rente bezieht, bestimmt.“

Heute erlebt diese merkwürdige Zusammenkunft jedoch eine unerwartete Störung.

Es läutete sehr stürmisch an der Flurtür, und als Belinda durch das Guckloch schaute, erkannte sie ihren Hauswart, der jetzt noch energischer auf den Klingelknopf drückte.

Sie öffnete und sah sofort, daß Emmich ungewöhnlich erregt war.

„Ich muß Sie sofort sprechen,“ flüsterte er ohne jeden Respekt. „Lassen Sie mich ein… Der Satan hat seine Hand im Spiel!“

Sie führte ihn bestürzt in das Eßzimmer, wo er sich sofort in einen Sessel warf und seine schweißfeuchte Stirn trocknete.

„Geben Sie mir einen Kognak,“ verlangte Emmich grob. „Ich habe eine Auffrischung nötig…“

Die Frau starrte ihn wortlos an.

Sie war blaß geworden.

„Was ist denn geschehen, Emmich?“

„Kognak!!“ schnauzte er… „Ich bin durch Sie in Teufels Küche geraten…“

Sie eilte zum Büfett, und er goß das Weinglas auf einen Zug hinab.

„So, – – und jetzt passen Sie auf,“ begann er gehässig…

Seine nächsten Sätze bewirkten, daß auch die Hausherrin schleunigst sich ein Glas füllte.

„Harst?!“ hauchte sie verstört…

„Ja – – der Harst!! Und wenn der mal irgendwie Verdacht geschöpft hat, kann man…“

Beide fuhren zusammen…

Lang und anhaltend läutete abermals die Zimmerglocke.

„Schleichen Sie zur Tür,“ flüsterte Emmich heiser. „Dem Satan ist alles zuzutrauen…“

Frau Belinda erkannte durch das Guckloch einen ihr unbekannten, kaum mittelgroßen Herren, der sehr harmlos aussah.

Sie wollte nicht öffnen.

Plötzlich schob Emmich sie zur Seite…

„Verdammt – – sein Freund!! Ahnte ich es doch!“ raunte er der verstörten Frau zu. „Ich verschwinde über die Hintertreppe… Natürlich war ich nicht bei Ihnen‥! Verstanden!!“

Belinda suchte sich zu fassen. Dann rief sie durch die Tür:

„Einen Augenblick, ich habe die Schlüssel verlegt!“

– Daß dies nur Ausflüchte waren, um Zeit zu gewinnen, wußte ich.

Nun, wir waren auf alles vorbereitet, und Harst und Justus Monk, der draußen heimlich aufpaßte, würden schon das Nötige feststellen.

Endlich wurde ich eingelassen.

„Schraut,“ stellte ich mich gemessen vor. „Dürfte ich Sie, gnädige Frau, um eine Auskunft bitten?“

Sie musterte mich sehr kühl.

Aber das Flattern ihrer Augenlider und das Zucken der Unterlippe verrieten übergenug.

„In welcher Angelegenheit, mein Herr?“ fragte sie noch hoheitsvoller.

Es war so etwa der Ton, den schlechte Schauspielerinnen anschlagen, wenn sie Hofdamen oder Fürstinnen zu spielen haben.

„Fräulein Barns wegen,“ erklärte ich. „Sie hat Ihnen wertvolle Bücher gestohlen.“

„Ah, – – etwa aus der Kiste im Keller?! – Unerhört!! – Bitte, treten Sie näher, Herr Schraut.“

Ich wurde in einen Salon geführt, der mich trotz des warmen Juniwetters frösteln machte.

Ich roch hier sofort ganz besonders gearteten Zigarettenrauch, der aus dem Nebenzimmer zu kommen schien, obwohl die bunt verglaste Schiebetür geschlossen war.

Ich durfte in einem Seidensessel Platz nehmen und hatte vor mir einen Bechsteinflügel und eine hellrosa Seidentapete und das große Bild eines Mannes, der gerade rechtzeitig gestorben war, bevor man ihm trotz seiner hohen Stellung eine Anklage wegen Hochverrats anhängen konnte.

Frau Belinda war schlau genug gewesen, sich ganz in den Schatten zu setzen. Sie schaltete kein Licht ein, und ich merkte sehr bald, daß sie immer wieder ängstlich nach der Schiebetür hinhorchte.

Ich befolgte Harsts Anweisungen wörtlich, wickelte den Schweinsleder-Cagliostro aus der Seidenpapierhülle und fragte geschäftsmäßig trocken:

„Hat dieses alte Werk Ihrem Gatten gehört, gnädige Frau?“

Erst zögerte sie. Dann bejahte sie schnell, nachdem sie den Buchtitel gelesen hatte.

Aber sie gab sich noch eine weitere Blöße.

Sie blätterte den Cagliostro mehrmals wie spielend durch.

Natürlich suchte sie den Zettel, das Lesezeichen.

Es gehört nun nicht gerade zu den Annehmlichkeiten unseres Berufs, Leute durch geschickte Schachzüge noch weiter einzuwickeln.

Ich wußte jedoch bereits mit aller Bestimmtheit, daß Emmich soeben bei seiner Herrin gewesen war, vielleicht sogar noch in der Wohnung weilte.

So erzählte ich denn, scheinbar empört über Helga Barns bereits ‚erwiesenen‛ Diebstahl der Bücher, von dem Besuch des jungen Mädchens bei uns und den dann so aufschlußreichen Angaben Karl Emmichs.

Frau Prof. Stöckner schien auch wirklich auf meine glaubwürdige Komödie prompt hineinzufallen.

Und nun zog sie weichere Saiten, freilich mit unverkennbar falschen Tönen auf.

„Frau Barn ist sehr krank, Herr Schraut, und ich möchte daher von weiteren Schritten gegen ihre Tochter absehen,“ erklärte sie mit einer so bescheiden unterstrichenen Nächstenliebe, daß ein Argloser sich bestimmt hätte täuschen lassen. „Wenn ich die Bücher zurückerhalte, ist die Sache endgültig aus der Welt geschafft.“

Dann allerdings kam ihr wahrer Charakter doch wieder zum Vorschein. „Ihr Freund Harst wird wohl die Liebenswürdigkeit haben, mir das Geld zurückzuverschaffen, daß er Fräulein Barn heute als Anzahlung gegeben hat, – fünfhundert Mark, sagten Sie wohl. Außerdem würde er mich sehr zu Dank verpflichten, wenn er mir die Adresse des Bücherliebhabers nennen würde. Mit Fräulein Barn wünsche ich nicht irgendwie in Berührung zu kommen, – Sie werden das verständlich finden.“

„Vollkommen, gnädige Frau,“ pflichtete ich durchaus ernsthaft bei, obwohl tausend Teufelchen höhnisch in mir kicherten. Wußten wir doch ganz genau, daß die Bücherkiste samt Inhalt Frau Barns und Helgas Eigentum war. Der Beweis hierfür war so unwiderlegbar, daß Harst, als wir vorhin Herrn Emmichs Taxe gefolgt waren, triumphierend auf seine Brieftasche geklopft hatte, wo der vielsagende Zettel, das vergilbte Lesezeichen, steckte.

Ich verabschiedete mich nun mit dem Versprechen, alles nach Wunsch der gnädigen Frau in Ordnung zu bringen. Den Schweinsleder-Cagliostro überließ ich ihr, und an der Flurtür deutete ich noch an, daß ich jetzt sofort Fräulein Barn aufsuchen würde.

Wir standen hier auf dem Treppenabsatz und hatten das eine Flurfenster vor uns.

Durch ein paar Baumkronen des Hintergartens des Grundstücks konnte man die breiten Bahnanlagen des Rangierbahnhofs Grunewald überblicken, wo zahllose Fracht-, Personen- und D-Züge sowie Lokomotiven neuer Verwendung harrten.

Auch die Frau Professor hatte genau wie ich den Kopf dorthin gedreht, weil ein immerhin ungewöhnliches Bild unsere Aufmerksamkeit und Neugierde wachrief.

Wir sahen einen kleinen buckligen Mann mit Schlapphut, der von zwei anderen verfolgt wurde und der in langen Sätzen quer über die Geleise stürmte.

Ich erkannte in den eifrigen Verfolgern des Fremden sofort Freund Monk und Harald, und da der Bucklige seiner Fluchtergreifung nach sehr wohl aus dem Garten der Frau Professor gekommen sein konnte, wandte ich den Kopf etwas zur Seite und musterte die Gesichtszüge der weißhaarigen Dame, – – und erblickte nichts als eine stiere Fratze wahnsinniger Angst.

Die Frau hatte unbewußt beide halbgeballten Fäuste gegen das Herz gepreßt, ihr Mund stand offen, sie atmete nicht, ihre Augen hatten für nichts anderes Interesse als für diese tolle Jagd, die nun, Verfolgter und Verfolger, hinter einem D-Zug verschwanden.

Neben mir ertönte plötzlich ein pfeifendes rasselndes Stöhnen, wie ich es selten vernommen habe.

Ich konnte gerade noch die Arme ausstrecken und die Umsinkende auffangen

Frau Belinda war ohnmächtig geworden.

 

 

4. Kapitel

Die Bücherkiste.

Unser Beruf verlangt neben vielem nicht eben Billigenswerten auch eine schnelle Entschlußfähigkeit.

Ich trug die Frau in die Wohnung zurück, legte sie in einen Sessel des Musiksalons und überließ sie sich selbst.

Ich mußte so handeln.

Hinterher hat Harst mir erklärt, er sei selten mit meiner Mitarbeit so zufrieden gewesen wie damals.

Mir lag daran festzustellen, wer im Nebenzimmer die stark opiumhaltigen, parfümierten Zigaretten geraucht hatte.

Ich schob die Schiebetür auf und betrat den Wohnsalon, in dem ich nach flüchtiger Umschau das Licht einschaltete.

Der Raum war mit Zigarettendunst angefüllt, aber der auf einem Tischchen stehende Aschenbecher war leer.

Nicht ein Zigarettenrest war zu finden, jedoch die Aschenschale war warm. Mithin war sie noch vor kurzem benutzt worden.

Zwischen den Fenstern stand ein Unding, das sich moderner Damenschreibtisch nannte. Ich hoffte, der flüchtig gewordene Gast der Frau Professor würde hier irgend etwas zurückgelassen haben. Unter dem Löscher lag lediglich ein Häufchen englischer Pfundnoten, im ganzen waren es achthundert Pfund, ein recht nettes Sümmchen.

Ich hielt nochmals Umschau… Dann kehrte ich zu der Bewußtlosen zurück, die noch immer nicht zu sich gekommen war.

Mit einem Mal öffnete sich die nur angelehnte Tür lautlos, und Harst trat ganz außer Atem ein.

Ein Blick genügte ihm.

„Hat die Frau gesehen, wie wir den Fremden verfolgten?“

„Ja.“

Er sog prüfend die Luft ein.

„Hm, – englische Zigaretten… Schnell, berichte ganz kurz…“

Ich tat es. Als ich die Pfundnoten erwähnte, ging Harald schnell in den Nebensalon und rief mir von da halblaut zu: „Vielleicht findest du in ihrem Schlafzimmer ein Narkotikum … Äther etwa… Laß sie so lange Äther riechen, daß sie uns nicht lästig wird. Hier muß uns jedes Mittel recht sein. Emmich ist tot, – Kopfschuß aus einer Pistole mit Schalldämpfer…“

Diese Nachricht kam zu unerwartet…

„Das ist unmöglich, Harald… – Wer erschoß ihn denn?“

Er hörte nicht mehr, winkte mir befehlend zu und verschwand im Nebenzimmer.

Frau Belinda Stöckner machte uns keine Schwierigkeiten. Ich will nicht weiter darauf eingehen, wie ich sie ausschaltete. Niemand konnte mir daraus einen Vorwurf machen. Hier handelte es sich schon jetzt um ein solches Übermaß von Gemeinheit gegenüber zwei schutzlosen Frauen, daß jede Rücksichtnahme fortfallen mußte, außerdem war hier in diesem Haus, das so oft Helga Barns Verzweiflung fremden Augen verhüllt hatte, ein Kapitalverbrechen verübt worden, – Grund genug, daß wir die Zeit bis zum Eintreffen der Mordkommission ungestört nach Kräften ausnutzen wollten.

Ich folgte meinem Freund in den Nebensalon und fand ihn an dem lächerlichen Gebilde von Schreibtisch sitzen. Vor ihm lag einer jener Kalender mit Marmorsockel und zwei Bronzebügeln, dessen Blätter sich umschlagen lassen.

Auf dem Kalenderblatt des heutigen Tages war mit Bleistift vermerk:

Kunsthändler M. – wie immer

Aber die Notiz war in englischer Sprache niedergeschrieben, und zwar von Frau Belinda selbst.

„Bitte, hier…“ sagte Harst und blätterte bis zum 2. Mai zurück.

Auf dem Blatt dieses Tages stand genau dasselbe in derselben Schrift, und noch weiter zurück sah ich die gleichen Vermerke für den 3. April, den 5. März, den 6. Februar und den 8. Januar.

„Herr Kunsthändler M. ist ein sehr regelmäßiger Monatsgast,“ meinte Harst trocken. „Nun gib acht… Der Witz der Sache kommt erst.“

Er blätterte bis zum 5. Juli, und hier las ich in verstellter Handschrift mit Tintenstift grob und flüchtig hingehauen, aber ebenfalls englisch:

Unsere Beziehungen hören hiermit auf.

Unternehmen Sie nichts mehr.

M.

Harst riß dieses Blatt und die anderen entsprechenden heraus und steckte sie zu sich.

„Wenn wir schon das Glück haben, mein Alter, als erste zur Stelle zu sein,“ erklärte er kühl, „können wir auch die besten Früchte für uns pflücken. – Was macht die Frau?“

„Sie … schläft,“ drückte ich mich vorsichtig aus.

„Sehr gut. Dann folge mir. Viel Zeit haben wir nicht mehr. Monk ist unten. Der Kerl ist uns entwischt. Er hatte ein Motorrad zwischen den Gleisen versteckt… Ein ganz geriebener Kerl, der bucklige Kunsthändler M. aus England…“

Wir nahmen die Wohnungsschlüssel mit und eilten in das Souterrain hinab.

Harst öffnete eine Tür, die zu den eigentlichen Kellerräumen führte, und in einem der Verschläge kniete Monk vor einer großen Kiste zwischen ganzen Stapeln von Büchern und empfing uns mit der vergnügten, bissigen Bemerkung:

„Sie haben mit Ihrem Verdacht vollkommen recht, Herr Harst. Ich habe all die Bücher, die Frau Stöckner heute in die Kiste eingeschmuggelt hat, und die ihrem verstorbenen Mann dem Namenszug nach gehörten, hier beiseite gelegt‥.“

„Dann pack die anderen wieder ein… Diesen Stapel trage ich zu Frau Belinda nach oben und stelle sie in den Bücherschrank zurück. – Welche abgefeimte Schurkerei liegt im alledem!! – Ich bin sofort wieder bei euch…“

Monk und ich nageln dann die Kiste wieder lose zu, schlossen das Kellergelaß mit dem Dietriche ab und begaben uns in den Vorkeller.

Inzwischen hatte Monk mir berichtet, wie Harst den an Emmich verübten Mord entdeckt hatte.

Mein Freund war, während ich droben bei der Frau Professor läutete, um das Haus herumgegangen und hatte Monk im Garten postiert, der Helga Barn bis hierher gefolgt war.

Er selbst wartete am Hintereingang, hörte Emmich die Hintertreppe hinabkommen und verbarg sich im Kellergang. Emmich begab sich sofort in seine Wohnung, und da durch bösen Zufall gerade da eine der Hausangestellten Kartoffeln aus dem Keller holte, mußte Harst in einen der Verschläge schlüpfen.

Nachdem das Mädchen sich entfernt hatte, vernahm er durch die Vorkellertür einen dünnen Knall, öffnete der Schloß schnell mit dem Dietrich, stieß Emmichs Flurtür auf und sah den Hauswart mit dem Kopf auf der Küchenschwelle am Boden liegen. Dann hörte er auch schon Monks Pfeifsignal, stürmte in den Hof und eilte hinter Monk drein, der leider beim Überklettern des Zaunes mit dem einen Fuß hängen blieb.

So entkam der Flüchtling.

Da Emmich in seiner Souterrainwohnung Telephon hatte, mußte Monk die Polizei benachrichtigen und sodann die Bücherkiste genau auf eingeschmuggelte Bücher aus Stöcknerschem Besitz durchsehen.

Während Monk und ich jetzt auf Harst warteten, unterhielten wir uns leise über das bisher Geschehene und beratschlagten, was wir vor der Mordkommission bekunden sollten und was wir für uns behalten wollten.

Monk pflichtete mir vollkommen bei, daß bei den besonderen Verhältnissen, die hier vorlagen, insbesondere infolge der sehr guten Beziehungen der Frau Professor zu höchsten Regierungsstellen, weiter aber auch infolge des schlechten Rufes des Vaters Helga Barns von unserer Seite alles getan werden müßte, das Mädchen wirksam gegen skrupellose Machenschaften zu schützen.

Harst hatte zweifellos genau dasselbe im Auge gehabt, als er mit seiner blitzartigen geistigen Wendigkeit sofort geargwöhnt hatte, die Gegner der Familie Barn würden die Bücherkiste mit Stöcknerschen Büchern spicken, um Helga des Diebstahls beschuldigen zu können.

Nur deshalb hatte mein Freund befohlen, Monk sollte den Inhalt der Kisten sichten.

Schon allein eine vorübergehende Verhaftung Helgas hätte ihrer kränklichen Mutter das Leben kosten können.

Unser Tun war also durchaus gerechtfertigt.

Die weitere Entwicklung der Dinge zeigte auch, daß wir im Grunde noch zu gewissenhaft gewesen waren.

 

 

5. Kapitel

Der Kriminalrat.

Harst blieb über Gebühr unsichtbar.

Als er wieder erschien, wurde er zu unserer peinlichen Überraschung von Frau Stöckner begleitet, der ich leider doch zu wenig Äther verabfolgt hatte.

Sie war vollkommen frisch, und ihre Miene bewies, daß sie uns schon jetzt als ihre Feinde betrachtete.

Harst sagte hastig, um uns vorzubereiten:

„Ich habe der gnädigen Frau Emmichs Tod nicht vorenthalten können… Sie will ihn durchaus sehen. – Gnädige Frau, der Anblick ist nichts für Damen.“

„Meine Nerven versagen selten,“ erklärte sie feindselig und wollte Emmichs Flurtür öffnen.

Wie schon erwähnt, wohnten hier im Souterrain drei Parteien: Frau Barn nebst Helga mit den Fenstern nach dem Hof hinaus, dann Karl Emmich, der gleichfalls zwei Stuben innehatte, und drittens ein Mann namens Josef Hebbel, ein älterer Kleinrentner, der nur Stube und Küche sein eigen nannte. Er sowohl wie der Hauswart waren unverheiratet und ohne jeden Anhang.

Über Hebbel wußten wir sehr wenig.

Helga Barn hatte ihn uns als menschenscheuen Sonderling geschildert, der als Hausierer tagsüber unterwegs war.

Inzwischen, auch das muß ich betonen, war es längst neun Uhr und fast dunkel geworden. Im Vorratskeller brannte Licht.

Als nun Frau Stöckner sehr selbstsicher Emmichs Flurtür öffnen wollte, tat sich nebenan die Tür des alten Joseph Hebbel auf, und in der entstanden Spalte erschien ein bartloses, zerfurchtes Greisengesicht mit eigentümlich lebendigen Augen.

Frau Belinda schrak leicht zusammen.

„Daß Sie alter Schleicher auch immer zur Unzeit auftauchen müssen!“ entfuhr es ihr in gereizten Ton.

Hebbel lächelte nachsichtig.

Es war das kluge, halb ironische, sehr überlegene und doch eigentümlich verhaltenen Lächeln eines großen Weisen.

„Schleicher, Frau Professor, – oh nein, das sollten Sie nicht sagen… Das sag keine Dame zu einem Mann, der nur beobachtet, wie die Toten schließlich doch wieder auferstehen…“

Belinda Stöckner zuckte die Achseln.

„Die törichten Redensarten kenne ich schon, Herr Hebbel… Schließen Sie Ihre Tür, Sie sind hier überflüssig!“

Der alte Herr öffnete langsam seine Tür ganz weit und lehnte sich an den Türpfosten.

Er war mittelgroß, schmächtig, ärmlich, aber sauber gekleidet, und seine Erscheinung machte unbedingt einen vornehmen Eindruck.

Seine Haltung war straff, sein Mund sehr kräftig modelliert, die Kinnpartie desgleichen, am hervorstechendsten waren seine jugendlichen Augen und die intelligente, gut gebildete Stirn.

„Wenn ein Mensch hier nicht überflüssig ist, dann bin ich es,“ sagte er mit energischer Betonung. „Ich wohne im übrigen hier, und kann tun und lassen, was ich will… – Der Krug geht so lange zum Wasser, bis er bricht,“ fügte er ohne jeden Zusammenhang hinzu. „Auf diesen Tag habe ich gewartet, Frau Professor… Als erste zogen hier unten die beiden Barns ein, nachdem Sie aus Kellerlöchern Wohnräume hervorgezauberten hatten… Sie erhielten sogar noch einen Zuschuß für die Umbauten, und man erzählt sich, dieser Zuschuß sei so hoch gewesen, daß Sie aus … Nächstenliebe dem betreffenden Dezernenten die Hälfte abgegeben haben… Das soll vorkommen. Die Herren, die seit 1918 regieren, drücken beide Augen zu, wenn man ihnen etwas in die Tasche schiebt… – Ja, und dann zog Karl Emmich hier als Hauswart ein, nachdem einer Ihrer Freunde, Frau Professor, die verarmten Barns in die finsteren beiden Löcher nach dem Hof hinaus auch aus Nächstenliebe, alles aus Nächstenliebe, hineinkommandiert hatte… So war es doch, denke ich… Und dann mietete ich die dumpfe Stube und die kleine Küche, Frau Professor: Kleinrentner Josef Hebbel‥! Ehedem Vater von zwei Söhnen, die in Flandern ihr Grab fanden, ehedem Besitzer eines ehrlich erworbenen Vermögens, das mir die teuflische Inflation in Papierbillionen zerflattern ließ… So lernte ich denn Sie, Ihren Hauswart, die Barns und noch ein paar Leute kennen… – Schleicher nennen Sie mich?! Bleiben Sie doch Dame! Lange werden Sie es ohnedies nicht mehr sein… Wenn die Toten zu sprechen beginnen, bricht der Krug, und das Wasser fließt aus, die guten Freunde ziehen sich zurück, und die Wahrheit kommt an den Tag. Wirklich, Frau Professor, Karl Emmichs Bankguthaben ist viel zu hoch, obwohl er noch so und so viele andere Spitzel zu bezahlen hatte…“

Während der alte Herr gleichmütig, aber erbarmungslos all diese Anklagen der Hausbesitzerin in das totenbleiche Gesicht schleuderte, hatte ich jeden Augenblick erwartet, daß diese Frau urplötzlich empört aufbegehren würde.

Sie tat nichts.

Sie stand da mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf, und ihre Lider flatterten, ihre Unterlippe zuckte, und ihre Stirn wurde blank von Schweißperlchen…

Josef Hebbel schaute das verstörte Weib, das jetzt nur noch verkörpertes Schuldbewußtsein war, mit einem letzten tiefernsten Blick an, verbeugte sich leicht vor uns und verschwand mit einem höflichen: „Es wird mir auch fernerhin ein Vergnügen sein, meine Herren…“ in seiner ärmlichen Behausung.

Der Eindruck, den er durch seine anklagenden Sätze und durch seine würdevolle Persönlichkeit bei mir hinterließ, war so nachhaltig, daß ich wie aus einem Traum erwachte, als nach Minuten peinvollen Schweigens im Hof Stimmen laut wurden und die Mordkommission erschien.

Der Kriminalrat, der den Herren voranschritt und der galant der Frau Professor die Hand küßte, während er uns kaum zunickte, war als Leiter der Mordkommission 3 erst kurze Zeit auf diesem Posten, war jung, hatte rasch Karriere gemacht und sonnte sich in der Gunst seiner Vorgesetzten, die genau wußten, was sie ihm zumuten konnten.

Eben alles…

Daß dieser Kriminalrat Bernhard Wiepert gerade meinen Freund Harst insgeheim wie die Pest haßte, war weiter kein Wunder.

In einer benachbarten Provinzialstadt war da vor Wochen ein Kriminalfilm abgerollt, der leider nur von wenigen als Film empfunden worden war. Diese dunkle Affäre hatte ein paar höheren Richtern, die noch immer zu unmodern dachten, eine Strafversetzung eingetragen. Einer hatte sich das Leben genommen. Harst kannte die wahren Schuldigen. Zu derselben Zeit wurde ich urplötzlich von der gesamten gesinnungstüchtigen Presse als Schundschriftsteller gebrandmarkt, und als ich Urteile über meine bescheidenen tagebuchartigen Aufzeichnungen in einem Gerichtsverfahren vorlegte, machte ich die Sache noch schlimmer, da mir gebildete Leute bescheinigten, daß ich nicht nur einen einwandfreien Lesestoff liefere, sondern auch das Nationalgefühl, das vaterländische Gefühl zu fördern suchte.

Das sind Tatsachen.

Junge, unreife Bürschchen, die ihr Hirn im Literatencaféhaus am Kurfürstendamm mit den Künsten des Wegleugnens sittlicher Verpflichtungen gegenüber dem Volk verseucht hatten, pöbelten mich an, als gehörte ich etwa zu ihrer erbärmlichen Clique, die mit Dank Ohrfeigen und Fußtritte einsteckte, – – um nicht vielleicht noch ärger verprügelt zu werden.

Jugendbildner, urplötzlich zu Regierungsräten die Leiter hinaufgefallen wie Zirkusclowns, entrüsteten sich über die ‚zeitfremde Tendenz‛ meiner anspruchslosen Arbeiten. Aber Universitätsprofessoren mit deutschem Rückrat schrieben mir das Gegenteil.

Und nun mußte ausgerechnet dieser Herr Bernhard Wiepert den Vorfall Emmich in seine Art von Behandlung nehmen!

Das konnte recht genußreich werden.

Und es wurde auch genußreich…

Mit einem Handkuß begann es…

Mit unserer Vernehmung droben in der feudalen Wohnung der Frau Belinda beschloß dieser Tag.

Diese Vernehmung verdient ein besonderes Kapitel…

 

 

6. Kapitel

Harst wird unangenehm.

Herr Wiepert besaß jene Bauernschlauheit, die für den Landbewohner im Kampf mit seinen Gegnern vielleicht ausreicht, weil sie auf enges Gebiet begrenzt bleibt. Der deutsche Bauer kennt seine Pappenheimer. Zumeist heißen sie nicht Pappenheimer, sondern so ähnlich.

Und mit dieser Schlauheit suchte Wiepert Helga Barn als die Schuldigen hinzustellen.

Gewiß, man hatte neben dem Toten eine Mauserpistole gefunden, in deren Lauf der Name Friedrich Barn und die Zahl 1916 eingeätzt waren.

Man hatte Helga Barn kurz verhört, und mit eisiger Verachtung hatte sie dem anmaßenden, fortgesetzt skeptisch lächelnden Wiepert erklärt, die Waffe habe in der Bücherkiste im Kohlenkeller gelegen.

Nun ging es um die Vorgeschichte des Falles Emmich…

Harst berichtete über Helga Barns Erscheinen bei uns und über Emmichs nachfolgenden, sehr merkwürdigen Besuch.

Harst kennzeichnete Emmich als Lügner.

Er nannte die Beweise.

Der Leser blättere zurück… –

Wiepert gestattete, daß Frau Belinda sich einmischte und für den Toten wärmstens eintrat.

Über Tote soll man nur Gutes reden. – Es gibt viele blöde Sprichworte. – Karl Emmich war ein käufliches Subjekt gewesen.

Auch Belinda trumpfte auf. „Die Bücherkiste gehört mir… Ich verlange, daß sie durchsucht wird, dann wird…“

„… Unnötig,“ fiel Harst sehr kühl ein. „Eine Frage, gnädige Frau… Ihr Herr Gemahl war Herrn Barns Freund?“

„Freund?!“ entrüstete sie sich. „Noch besser – – Freund! Sie kannten einander gar nicht!“

Harst nickte. „Ich bitte, dies zu Protokoll zu nehmen, Herr Kriminalrat…“

„Unnötig, – belanglos!!“ urteilte Wiepert allzu vorschnell.

„Glauben Sie?! – Ich habe hier in dem alten Schweinslederband über den Alchimisten und Schwindler Cagliostro ein vergilbtes Lesezeichen gefunden mit Notizen von Herrn Barns Hand, die einige Stellen des Buches betreffen. Die Rückseite des Zettels beweist durch ihren Aufdruck, daß das Papier aus einem Rechnungsbuch einer Division-Intendantur stammt. Herr Barn war bekanntlich Oberintendanturrat, zuletzt im Kriege bei einem Armeekommando. – Ich frage Sie, Herr Rat, wie kommt der Zettel in den ‚Cagliostro‛ hinein, wenn Frau Prof. Stöckner das Buch als Eigentum ihres Mannes angibt, der Barn nie gekannt hat? – Ich frage Sie weiter: Wie kommt es, daß ich in anderen Büchern ähnliche Lesezeichen fand, alle mit Notizen Barns bedeckt?!“

„Wo sind die Zettel?“ fragte Wiepert verlegen und daher gröbsten Tones.

„In Sicherheit,“ erwiderte Harst kalt.

„Was heißt das?! – Ich lasse Sie durchsuchen, wenn…“

„Gestatten Sie, ich denke, Sie wollen die Wahrheit ermitteln. Ich habe noch mehr Zettel in Sicherheit gebracht…“

Bisher war der geheimnisvolle Besucher Frau Belindas gar nicht erwähnt worden.

Jetzt kam mein Freund hierauf zu sprechen und gab zu, die so belastenden Blätter des Kalenderblockes gleichfalls versteckt zu haben. –

Er sagte ausdrücklich ‚versteckt‛.

„Es ist also Tatsache, Herr Rat, daß Frau Stöckner allmonatlich in den ersten Tagen einen Fremden empfing, der als ‚Kunsthändler M.‛ bezeichnet wurde. Dieser Mann war auch heute bei ihr, als Emmich ihr die Alarmnachricht überbrachte, wir hätten der Bücher wegen Verdacht geschöpft und ahnte wahrscheinlich, daß eine Anschuldigung wegen Diebstahls gegen Helga Barn konstruiert worden sei…“

Frau Belinda lehnte zusammengesunkenen im Sessel und rang nach Atem.

Ihr kalkweißes Gesicht wirkte abschreckend.

Wiepert hüstelte unschlüssig.

Harst fügte abschließend hinzu: „Der Fremde, der für Frau Stöckner und Emmich achthundert englische Pfund Sündenlohn zurückließ, hat Emmich erschossen und entfloh dann. Er war bucklig, hatte einen schwarzen Spitzbart und trug Brille. Monk wird dies bestätigen.“

„Er stimmt,“ sagte Dr. Monk ernst.

„Außerdem beschuldige ich neben diesem Fremden die Frau dort, Frau Prof. Stöckner, heute in der Frau Barn gehörigen Bücherkiste Bücher ihres Mannes, die innen den Namenszug des Professor Stöckner tragen, absichtlich hineingeschmuggelt zu haben… Vorhin verlangte diese … Dame, die Kiste sollte durchsucht werden. Sie verlangte es, um jene Bücher ans Tageslicht zu befördern, die sie hineingetan hatte. Vorhin habe ich diese Bücher wieder nach oben geschafft und in den Bücherschrank zurückgestellt, weil ich Fräulein Barn Aufregungen ersparen wollte. Jetzt bedauere ich dies…“

Wiepert spielte nervös mit seiner Füllfeder…

Er wußte nicht recht, ob er es wagen dürfte, hier allzu scharf durchzugreifen.

Inzwischen hatte Frau Stöckner sich wieder ein wenig erholt und holte nun zum Gegenschlag aus … tat es recht geschickt. Sie übertrieb nicht, sie spielte den Unschuldsengel in der Vollendung.

„… Ich finde, Herr Kriminalrat, daß Sie den phantastischen Unterstellungen dieses Herrn Harst, dessen Methoden ja hinlänglich bekannt sind, zuviel Wert beimessen. Ich möchte Sie bitten, meinen persönlichen Freund, Ihren Chef, herbeizurufen… Ich sehe mich in die Verteidigung gedrängt, und…“

Wiepert huschte bereits.

Man merkte geradezu, wie er sich einen innerlichen Ruck gab.

„Herr Harst wird die Zettel ausliefern,“ meinte er schroff. „Gnädige Frau, ich bin befugt, sowohl Harst wie…“

„Bitte – – Herrn Harst!“ mahnte mein Freund mehr belustigt als gereizt.

„… Herrn Harst als auch Herrn Schraut und Dr. Monk nötigenfalls wegen Verdunkelungsgefahr zu verhaften, und…“

„Oh – einen größeren Gefallen könnten Sie uns kaum tun, als diesen,“ fiel Harst prompt ein. „Dann werden die wenigen Zeitungen Berlins, die noch den Mut zur Wahrheit haben, bestimmt einen Höllenlärm schlagen, und da bereits die ersten Anzeichen eines sehr netten Barmatskandals(1) im Silberstreifen am Horizont dieser einzigartigen Epoche verdunkeln, werden Ihre hohen Vorgesetzten Ihnen äußerst dankbar sein, noch ein weiteres Thema diesen sehr ehrlichen Zeitungen dargereicht zu haben: Harst verhaftet! Das wird sich als Überschrift glänzend ausnehmen!“

Und ohne den wieder gänzlich vertatterten Wiepert weiter zu beachten, wandte er sich an die Stöckner.

„Wer ist dieser Kunsthändler M.?“

Die Dame beging einen Fehler.

„Eine Phantasiefigur von Ihnen!“ stöhnte sie.

Der große Salon, in dem wir saßen, hatte, wie erwähnt, eine Schiebetür nach dem Nebenzimmer hin. Diese stand halb offen.

Und in dieser Öffnung erschien nun wie hingezaubert die straffe, greise, vornehme Gestalt des alten Herrn Hebbel.

Er hustete laut, und alles schaute hin. Ganz unbefangen erklärte er:

„Dieser Kunsthändler M. existiert, und ich kenne ihn als Ihren Monatsgast, Frau Stöckner, bereits zwei Jahre, genau so lange, wie ich hier wohne. Wenn er sich telegraphisch anmeldet – die Depeschen kommen stets aus Antwerpen –, schicken Sie Ihr Personal fort, damit Sie mit ihm und Emmich allein sind. – Herr Kriminalrat, nehmen Sie das zu Protokoll.“

Wiepert war böse in der Klemme.

Wie alle Leute, die keine saubere Weste haben, wurde er zunächst grob.

„Herr, wie kommen Sie hier in die Wohnung? Eine Unverschämtheit!! Wer hat Sie gerufen?!“

„Meine Pflicht als anständiger Mensch, der genau weiß, daß Frau Barn und Tochter von diesem Kunsthändler M., von Ihnen, Frau Stöckner, und von Emmich und seinen Kreaturen in tiefste Verzweiflung und in den Tod gehetzt werden sollten, – genau wie Barn selbst.“

Er sprach ganz schlicht, und jedes seiner Worte trug den Stempel der Wahrheit.

„Darf ich Platz nehmen?“ fragte er höflich. „Ich bin sehr müde… Ich muß tagsüber unterwegs sein, um Fräulein Helga nie aus den Augen zu lassen. Im übrigen bin ich der ehemalige Kommerzienrat Josef Hebbel, den die neue Zeit, sagen wir die Übergangszeit, zum Bettler machte.“

Wiepert schwieg unschlüssig.

Sein ihm unterstellter Kollege, ein stiller, älterer Kommissar, meinte höflich:

„Bitte setzen Sie sich, Herr Hebbel…“

Frau Belindas angstvolle Augen hingen starr an dem bartlosen, intelligenten Greisengesicht.

 

 

7. Kapitel

Die Ratschläge Harsts.

Hebbel schaute sich prüfend die Herren der Mordkommission an.

„Ich bitte, daß meine Aussage stenographiert wird. Ich werde langsam sprechen. – – Als ich, gänzlich verarmt, von meinen Bekannten vergessen, hier in dieses Haus zog, lernte ich Helga Barn kennen. Von dem traurigen Geschick ihres Vaters wußte ich. Mir fiel hier im Haus mancherlei auf. Emmich behandelte Frau Stöckner unter vier Augen wie seinesgleichen. Allmählich kam ich hinter noch dunklere Dinge, insbesondere in der letzten Zeit. Ich will nicht weitschweifig werden. Daß Fräulein Barn keine Stellung fand, ist Karl Emmichs Schuld. Er hatte ein paar Leute gedungen, die überall dort, wo das junge Mädchen sich um einen Posten bemühte, eine Anstellung hintertrieben. Man kann da getrost von einem großen Komplott gegen Mutter und Tochter Barn sprechen, dessen Geldgeber zweifellos Herr M. war, der Monatsgast…“

Was Hebbel noch weiter vorbrachte, ist bekannt.

Wer Emmich erschossen hatte, wußte er aus eigener Beobachtung nicht. Den Schuß hatte er gehört und auch im Kellerraum, als er seine Tür öffnete, den faden Geruch rauchlosen Pulvers bemerkt.

Trotzdem blieb er dabei, daß für ihn der Fremde als Täter in Betracht käme.

„Mag Frau Stöckner uns sagen, wer der Mann ist,“ verlangte er sehr energisch.

Wiepert handelte jetzt genau so, wie man dies in zahllosen ähnlichen Fällen miterlebt hat: Er ließ Frau Belinda einfach fallen! Er hatte eingesehen, daß er sich böse die Finger verbrennen könnte, falls er weiter für die so schwer bloßgestellte Frau Partei ergriffe.

„Reden Sie! Wer ist Kunsthändler M.?“ befahl er mürrisch. „Gegenüber all diesen Zeugen steht es um Ihre Sache sehr schlecht.“

„Ich verweigere die Aussage!“ preßte Frau Belinda keuchend hervor. „Ich … ich werde mich beschweren, – – ich werde…“ – aber ihre Widerstandskraft war erschöpft, und ihre Nerven versagten nun vollkommen.

Wiepert ließ eine halb Ohnmächtige nach dem Präsidium schaffen. Frau Prof. Stöckners Rolle als ‚Dame‛ war ausgespielt, genau wie Josef Hebbel es ihr heute prophezeit hatte. Sie war verhaftet worden.

Nunmehr zog Wiepert auch uns gegenüber andere Seiten auf.

„Herr Harst, ich würde mich außerordentlich freuen, wenn Sie mir so etwas helfen würden,“ bat er mit der ganzen Unverfrorenheit eines sehr skrupellosen Gemütes. „Besitzen Sie irgend einen Anhaltspunkt, wer Kunsthändler M. sein könnte?“

„Vorläufig nur einen einzigen: Das Kalenderblatt, auf das er für Frau Stöckner schrieb, daß er die Beziehungen zu ihr endgültig abbreche. Da die Handschrift verstellt ist, und da Herr M. sich gehütet haben wird, als vorsichtiger Mann Fingerabdrücke zurückzulassen, ist auch die Fährte sehr unsicher. Ich glaube auch kaum, daß Frau Stöckner mit Bestimmtheit weiß, wer der Fremde ist. Er mag sich ihr als Kunsthändler M. genähert haben, weil er ihre Gewissenlosigkeit richtig einschätzte und weil es ihm in seine Pläne hineinpaßte, sowohl Mutter und Tochter Barn als auch Karl Emmich hier in der stillen Trabener Straße unterzubringen, wo er über die Bahngleise notfalls schnell entfliehen konnte. Emmich allerdings muß gewußt haben, wer der Mann ist. Deshalb muße er auch sterben.

Von einer Haussuchung bei Frau Stöckner verspreche ich mir gar nichts. Herr M. ist ein zu vorsichtiger Mensch, um irgendwie und irgendwo Spuren in Gestalt von Schriftstücken zu hinterlassen. Daß er maskiert war, ist selbstverständlich. Der Mann ist sogar so geistesgegenwärtig gewesen, trotz der eiligen Flucht aus diesem Salon noch seine Zigarettenstummel und die Zigarettenasche aus jenem Aschbecher in eine Zeitung zu schütten und mitzunehmen. Schraut fand die Aschenschale noch warm vor und den Salon voller Rauch von englischen Zigaretten. Genau so überlegt handelte der Fremde, als er vor dem Besuch bei Frau Stöckner sein Motorrad am Bahndamm drüben versteckte. – Wenn ich Ihnen einen Wink geben soll, wie Sie den Mann aufstöbern könnten, Herr Wiepert, so rate ich Ihnen zu folgendem: Durchsuchen Sie vielleicht doch die Wohnung der Frau Professor – und die Karl Emmichs, suchen Sie weiter nach einem Menschen mittlerer Größe, der sich ein Motorrad lieh und der das Deutsche mit englischem Akzent spricht, lassen Sie sofort alle Verbindungswege nach England überwachen und nehmen Sie alle Briten auf diesen Strecken scharf aufs Korn, und schließlich noch die Hauptsache: Vergessen Sie nicht, daß das tragische Schicksal Friedrich Barns, des Vaters Fräulein Helgas, unbedingt mit diesem ‚Kunsthändler M.‛ und dem Mord eng zusammenhängt.“

Eine Weile blieb es ganz still in dem strahlend hellen, eleganten Raum.

Dann sagte der alte Josef Hebbel leise:

„Ihnen zuzuhören, Herr Harst, ist ein doppelter Genuß. In selbstlosester Weise haben Sie derselben Polizei, von der sie nicht gerade sanft angefaßt werden, wertvolle Fingerzeige gegeben.“

Kriminalrat Wiepert war sehr rot geworden.

Aber der Kampf, der sich jetzt offenbar in seinem Inneren abspielte, endete, das sei zu seiner Ehre betont, mit dem Sieg des besseren Teiles seines widerspruchsvollen Charakters.

Er erhob sich, schritt auf Harst zu, verbeugte sich und sagte mit etwas belegter Stimme:

„Ich habe Sie um Verzeihung zu bitten, Herr Harst… Ich war Ihr erbitterter Gegner… Von heute an bin ich es nicht mehr.“

Mein Freund blickte ruhig zu ihm empor und streckt ihm dann die Hand hin.

„Ich war nie ein Pharisäer… Wir haben alle unsere Fehler. Wir müssen nur zugeben, daß wir auf Irrwegen wandelten, sobald man uns ein Spiegelbild unseres wahren Ichs zeigt. – Wir dürfen uns nun wohl verabschieden… Ich möchte Fräulein Barn gern noch sprechen… Sie und ihre Mutter sollen heraus aus dieser Umgebung – schnellstens… Ich habe in meinem Heim zwei sonnige, freundliche Fremdenstübchen… Ich hoffe, Mutter und Tochter Barn werden meine Einladung nicht ablehnen. – Dann hätte ich nur noch eine Bitte an Sie, Herr Wiepert: Hier den alten Schweinsleder-Cagliostro möchte ich wieder mit mir nehmen. Und was die Lesezeichen und die Kalenderblätter betrifft: Hier sind sie!“

Er lächelte ganz wenig…

Er bückte sich, hob eine Ecke des farbenfrohen Teppichs hoch, und dort auf dem staubigen Parkett lagen die einzigen Beweisstücke, die gegen Frau Stöckner, gegen Karl Emmich und dessen Mörder zeugten.

 

 

8. Kapitel

Der Fall Friedrich Barn.

Helga Barn saß in dem größeren Zimmer der Souterrainwohnung bei offenen Fenstern und geschlossenen Vorhängen und starrte, die Hände im Schoß verschlungen, nachdenklich und weltverloren in das milde Licht der kleinen Stehlampe.

Ihr Herz war erfüllt von Dankbarkeit gegen den schlichten, klugen Mann, der heute in ihr geheimnisvolles Geschick eingegriffen hatte.

Sie hegte blindes Vertrauen zu ihm, und sie wartete geduldig, daß er sich nochmals bei ihr einfinden würde.

Der Verdacht, sie könnte fremde alte Werke sich angeeignet haben oder gar Emmichs Mörderin sein, schien ihr so unsinnig, daß sie sich dieserhalb keine Gedanken mehr machte.

Die Mutter schlief nebenan. Sie hatte ihr geglaubt, daß sie eine neue Stellung gefunden hätte, und sie war froh und fast heiter gestimmt gewesen, als Helga ihr das von Harst erhaltene Geld vorzeigte: einen Vorschuß, hatte sie erklärt.

Sie hatte in dieser stillen Juninacht das eigentümliche Gefühl der Zuversicht in sich aufkeimen gespürt, daß nun ihr Lebensweg wieder aufwärts führen würde.

Mitternacht war vorbei.

Leise schlug im kleinen Flur die Glocke an.

Das Mädchen huschte hinaus und öffnete.

Harst nickte ihr sofort aufmunternd zu:

„Die Dinge liegen überaus günstig,“ erklärte er leise. „Auf Ihnen ruht auch nicht mehr die Spur eines Verdachtes…“

Dann brachte er seinen Vorschlag mit aller Zartheit und Liebenswürdigkeit an.

Helga griff sofort nach seinen Händen…

„Herr Harst, Besseres konnten Sie mir nicht bieten, als diese Einladung‥! – Ja, nur fort aus diesem Haus … nur fort! – Ich werde Mutter wecken… In einer halben Stunde können wir aufbrechen… Ich nehme nur das Nötigste heute mit…“

– Zwei Taxameterdroschken bogen gegen drei Viertel Eins von der Trabener Straße nach der Königsallee ab, hielten dann plötzlich, und Freund Monk fuhr allein mit den beiden Frauen und den Koffern weiter nach unserem Heim.

Harst und ich kehrten zu Fuß um.

Mein Freund hatte weder Monk noch mir erklärt, was er noch zu tun beabsichtigte.

Ich fragte auch jetzt nichts, ich merkte, daß er nicht gestört sein wollte. Er hatte den Cagliostro fest unter den Arm geklemmt und rauchte zerstreut seine Zigarette.

Er wandte sich dem Bahnhof Grunewald zu, löste Fahrkarten bis Charlottenburg und sprach auf dem Bahnsteig kein Wort, sondern schritt immer weiter dem Ostende des Bahnsteigs zu, blickte sich vorsichtig um und sagte dann:

„Schnell, – – dort hinter den Güterzug!“

Auf diese Weise gelangten wir in den Gemüsegarten der Stöckner-Villa, wo wir uns in der Nähe des Hofraumes leicht verbergen konnten.

Kriminalrat Wiepert war mit seinen Beamten noch immer im Haus, wie uns der Lichtschein hinter den Fenstern der Wohnung der Frau Professor zeigte. Er nahm es mit der Durchsuchung der Räume offenbar sehr genau, und erst nach einer geraumen Weile wurden sämtliche Fenster dunkel, so daß wir ein gleich darauf sich schnell entfernendes Geräusch zweier Autos auf der Trabener Straße nur dahin deuten konnten, die Polizei sei nun endgültig abgerückt.

Wir saßen hier zwischen zwei Reihen hoher Johannisbeerstauden, deren Zwischenräume durch kräftig duftenden Goldlack ausgefüllt waren. Harald hatte seinen Platz so gewählt, daß er sowohl den Zaun als auch den kleinen Hof und die Fenster der Souterrainwohnung der Barns im Auge behalten konnte. Bevor er sich endgültig niedergekauert hatte, war er noch längere Zeit tief gedrückt durch den ganzen Garten geschlichen, schien sich überzeugen zu wollen, ob wir auch wirklich allein seien.

Inzwischen war ich mir, auch ohne daß er mich irgendwie aufgeklärt hätte, über seine Absichten völlig klar geworden.

Er rechnete aus irgendeinem mir freilich unverständlichen Grund mit dem erneuten Auftauchen des geheimnisvollen Mr. M.

– Wer war dieser Mann? Wer konnte es sein?

Ich hatte mir darüber schon genügend den Kopf zerbrochen. Harst hatte Kriminalrat Wiepert gegenüber geäußert, der Unbekannte stünde mit dem tragischen Geschick des Oberintendanturrats Barn in engster Verbindung.

Der Fall Friedrich Barn war mir durchaus geläufig. Helga Barn hatte uns alles darüber mitgeteilt, was sie selbst wußte, sogar einige Einzelheiten, die nie an die Öffentlichkeit gedrungen waren.

Oberintendanturrat Barn hatte sich, als die Novemberrevolte ausbrach, dicht hinter dem Frontabschnitt des Armeekorps befunden, dem er zuletzt in besonderer Mission zugeteilt gewesen war. Um die Stimmung in den vordersten Linien zu heben, hatte das Armeekommando befohlen, den Mannschaften doppelte Löhnung zu zahlen. Friedrich Barn gelangte mit seinem Dienstauto bis in die Nähe von Villiers, als ein Volltreffer ihn und seine drei Begleiter in einen Granattrichter schleuderten.

Barn verlor das Bewußtsein, erwachte erst nach Stunden wieder, fand seine Begleiter tot neben sich und die drei Geldkoffer geleert in dem zertrümmerten Wagen.

Im Morgengrauen, so hatte er stets angedeutet, wollte er unweit des Trichterloches ein Flugzeug bemerkt haben, das plötzlich aufstieg und in Richtung der englischen Front zu verschwand.

Dann war ihm ein Infanterist, ein Gefreiter, zu Hilfe gekommen, der ihn sehr genau ausfragte und ihm erklärte, daß auch bei den Fronttruppen bereits Soldatenräte gebildet seien, und daß er, der Gefreite, der Vorsitzende des Soldatenrates des hier liegenden Regiments sei.

Darauf war dieser Gefreite in einem nahen Wald verschwunden, und wieder nach einiger Zeit erschienen fünf andere Infanteristen, die Barn für verhaftet erklärten, weil er die im Auto befindlichen Gelder, rund fünfhunderttausend Mark, offenbar irgendwo versteckt habe.

Der Oberintendanturrat wurde unter Bedeckung nach Koblenz geschafft, den ihm zuerst begegneten Gefreiten bekam er nie mehr zu Gesicht, konnte auch dessen Namen nicht erfahren.

Die gerichtliche Untersuchung gegen ihn zog sich jahrelang hin. Immer wieder wurde ihm vorgehalten, er hätte das Geld in ein Versteck geschafft, – er leugnete, beteuerte seine Unschuld, aber die fünf Infanteristen, die ihn damals festgenommen hatten, blieben ihrerseits hartnäckig bei ihrer Behauptung, sie hätten nichts von einem Kampfflugzeug bemerkt und Barns Angaben seien nur leere Ausflüchte.

Schließlich versagten Barns Nerven. Er erschoß sich. Seiner Frau wurde die Witwenpension entzogen, und damit begann der Leidensweg von Mutter und Tochter, in den wir uns auf so eigentümliche Art helfend einschalten konnten.

Dies wäre in großen Zügen die Tragödie eines gehetzten Mannes, der zweifellos unschuldig gewesen war.

Welche besonderen Momente wies nun diese ungewöhnliche Tragödie auf? –

Da war zuerst der Gefreite, der sich selbst als Vorsitzender des Soldatenrats bezeichnet hatte. Dieser Mann blieb wie gesagt unauffindbar. Und die fünf, von denen Barn später als verhaftet erklärt worden war, wußten nichts von diesem Soldatenratsvorsitzenden.

Zwei von ihnen brachten es zu angesehenen Stellungen und waren diejenigen, die das Gerichtsverfahren gegen Barn immer wieder vorwärtstrieben. –

Wie stand es nun mit Barns Bekundung, daß wahrscheinlich ein feindlicher Flieger die Geldkassen ausgeraubt hätte? –

Barns Angaben erschienen in der Tat wenig glaubwürdig. Gerade bei Villiers war eine Landung selbst für die leichtesten Maschinen der vielen Granattrichter wegen unmöglich. Über diesen Punkt waren Zeugen gehört worden.

Und schließlich: Wo war das Geld aus den Koffern, fast eine halbe Million, geblieben?! –

Hatte etwa der Gefreite es gestohlen?! Dies war möglich.

– Ich komme nun zu meinem eigenen Schlußfolgerungen aus dem unklaren Tatbestand.

Wir wußten, daß Karl Emmich niemals Soldat gewesen war. Sonst hätte es sehr nahegelegen anzunehmen, er sei jener Gefreite gewesen.

Hiergegen sprach auch noch etwas anderes. Wäre Emmich mit dem Gefreiten identisch gewesen, so hätte für ihn kein Anlaß vorgelegen, auch noch Mutter und Tochter so heimtückisch zu drangsalieren. Er würde sich dadurch nur der Gefahr ausgesetzt haben, daß man irgendwie auf ihn aufmerksam wurde.

An den feindlichen Flieger glaubte ich ebenfalls nicht.

Mit einem Wort: Mir war das Ganze vollkommen unklar.

Ob Harst die Dinge bereits richtig überschaute, konnte ich nicht recht sagen.

Erst jetzt, als wir hier zwischen den Beerensträuchern kauerten und die Mondsichel drüben über dem Grunewaldforst stand und auf dem großen Bahnhof dauernd Züge rangiert wurden, flüsterte er mir plötzlich zu:

„Karl Emmich ist Soldat gewesen… Er hat nur damals als Gefreiter einen anderen Namen geführt. Er heißt gar nicht Emmich.“

„Und die Beweise hierfür?“ –

Haralds Behauptungen erschienen mir denn doch etwas kühn.

„Du hast den Beweis ebenfalls gesehen,“ erwiderte er nur.

 

 

9. Kapitel

Ob diese Theorie stimmt?!

Ich sann angestrengt nach. Harst kam mir schließlich gutmütig zu Hilfe.

„Als Emmich bei uns war und ich ihm den Cagliostro-Band reichte, streckte er die linke Hand danach aus. Dabei schob sich sein Ärmel empor, und ich sah dicht über seinem Handgelenk eine kleine Tätowierung in Rot und Blau: Die Zahl 301 und darüber den Sowjetstern. – Einige besonders fanatische Anhänger der Einrichtung der Soldatenräte ließen sich nun als Andenken an jene Monate, als diese Meuterer eine große Rolle spielten, die Regimentsnummer und den Sowjetstern auf den Unterarm tätowieren. Dies erwähnt unter anderem auch der Kriegsberichterstatter Hugo Kahn in seinem Buch ‚Die Revolutionierung der Westfront‛. – Im Wald bei Villiers lag damals das 301. Reserveregiment. – Verlangst du noch mehr Beweise, daß Karl Emmich gar nicht Emmich hieß, sondern jener Gefreite war, der Herrn Barn als erster ins Verhör nahm?! Wohl kaum. – Und nun kämen wir zu der Frage, mein Alter: Hat Friedrich Barn den feindlichen Flieger wirklich nur erfunden? Ich sage, nein! Ich folgere aus dem, was wir nun alles wissen, etwa so: Die Engländer ließen damals durch ganz leichte Maschinen über der deutschen Front dauernd gedrucktes Zersetzungsmaterial abwerfen. Die Novembernächte waren in den Niederungen bei Villiers sehr neblig. Ein englischer Flieger, zweifellos unserer Mr. M. landete notgedrungen, fand die Geldkoffer, entleerte sie, wurde hierbei von dem Gefreiten ‚Emmich‛ überrascht, – und die beiden Ehrenmänner teilten die Beute. Als der Gefreite dann den Oberintendanturrat so genau ausforschte, wollte er nur feststellen, ob Barn den Engländer etwa gesehen hätte – so gesehen, daß er ihn wiedererkennen würde. Der Gefreite zog es dann vor, seinen Truppenteil zu verlassen, und bei dem allgemeinen Wirrwarr damals fiel dies überhaupt nicht auf. Der Engländer wieder, der den wahren Namen Emmichs gekannt haben muß, fühlte sich dauernd dadurch bedroht, daß Friedrich Barn irgend wie seine Gesichtszüge, die sehr charakteristisch gewesen sein müssen, sich gemerkt habe und irgendwelche Aufzeichnungen hierüber hinterlassen haben könnte. Kurz, des Engländers Gewissen kam nicht zur Ruhe, und die Angst, seine damalige schäbige Tat könnte doch noch aufgedeckt werden, veranlaßte ihn zu dem ungewöhnlichen Bündnis mit der geldgierigen Frau Stöckner und mit dem mitschuldigen ‚Emmich‛, der nicht Emmich hieß. – Psychologisch betrachtet ich all dies als durchaus verständlich, wenn man annehmen will, daß der Engländer in hoher amtlicher Stellung sich befindet und inzwischen sehr reich geworden ist. Aber – der Mann lebt in beständiger Angst, sein angesehener Name könnte bloßgestellt werden, – deshalb seine niederträchtigen Bemühungen, auch Mutter und Tochter Barn derart zu zermürben, daß sie das Leben von sich würfen. – Wir hätten also für die Person des Engländers folgende Anhaltspunkte: Ein Mann in angesehener Stellungen, im Krieg Flieger gewesen, nach dem Krieg, etwa durch Erbschaft, zu Vermögen gelangt. – Aber diese Anhaltspunkte sind noch nicht erschöpft. Bedenke, daß der Engländer Mr. M. heute, bevor er aus dem Salon über die Hintertreppe entwich, um Emmerich zu ermorden, etwas tat, was nur ein Fachmann tun würde. Er nahm die Zigarettenstummel und die Zigarettenasche mit! – Unter Fachmann verstehe ich hier einen höheren Kriminalbeamten… Ein Nichtfachmann hätte kaum gefürchtet, die Zigarettenreste könnten ihn verraten.“

„Allerdings. Deine Schlußfolgerungen haben sehr viel für sich.“

„Nun gut. – Weshalb sitzen wir hier und warten? Weil ich hoffe, dieser englische Kollege wird die Abfahrt von Mutter und Tochter Barns vorhin beobachtet haben und beabsichtigen, die Barnsche Wohnung gründlich zu durchsuchen – – eben nach Barns Aufzeichnungen, falls solche überhaupt vorhanden… – Gewiß, meine Hoffnung wird vielleicht trügerisch bleiben, aber… – hallo, – – schau hin, hinter den Fenstern der Barns schimmert Licht… Jemand geistert dort mit einer Taschenlampe umhehr… – Vorwärts, Helga gab uns die Schlüssel… Der Bursche muß unser werden!“

Lautlos öffneten wir die Haustür, lautlos stiegen wir in den Vorkeller hinab und näherten uns der Barnschen Flurtür.

„Pistole bereithalten, mein Alter…“ flüsterte Harald… „Nicht lange fackeln‥! Der Kerl schieß sonst zuerst!!“

Er legte die Hand auf den Türdrücker…

In demselben Augenblick ging die Tür auf und vor und stand Kriminalrat Wiepert.

Er war weit weniger überrascht als wir. Er lächelte sogar.

„Ich hoffte, Sie beide hier vorzufinden,“ erklärte er sehr liebenswürdig. „Ich hatte bei Ihnen angerufen, und Dr. Monk teilte mir mit, daß Sie nicht daheim seien. Ich wollte Ihnen nur erzählen, Herr Harst, daß ich Ihre Ratschläge sofort befolgt habe, unter anderem fragte ich telephonisch beim Flughafen Tempelhof an, ob ein Engländer oder Ausländer etwa mit einer Extramaschine abgeflogen sei. Zu meinem Erstaunen wurde mir geantwortet, daß ein Oberinspektor der Londoner Kriminalpolizei um drei Viertel Eins nach Blissingen gestartet sei, daß derselbe Herr jeden Monat Berlin per Flugzeug besuche und sich stets von einem Monteur ein Motorrad gegen hohe Belohnung leihe…“

„Und der Name des Oberinspektors?“ fragte Harst, sich mit aller Macht zur Ruhe zwingend.

Wiepert zuckte die Achseln.

„Der Name lautet Mac Gordy… Das hilft uns aber sehr wenig, denn daß dieser englische Kollege nichts mit unseren Dingen zu schaffen haben kann, bedarf wohl kaum einer Erörterung, zumal ich den Engländer persönlich kenne, soweit man den Oberinspektor überhaupt ‚kennen‛ lernt, da er die etwas romanhafte Eigentümlichkeit besitzt, sein wahres Gesicht niemandem zu zeigen.

Das heißt also: Er ist der waschechte Romandetektiv, der nur maskiert umherstelzt.“

Wiepert war während dieser in aller Harmlosigkeit vorgebrachten Sätze wieder in den Flur der Barnschen Wohnung zurückgetreten, hatte uns eingelassen und die Tür dann wieder zugedrückt.

Hier im Flur stand eine kleine Bank aus Korbgeflecht.

Harst setzte sich, nachdem er die Ampel an der Decke eingeschaltet hatte, und betrachtete den Kriminalrat mit eigentümlich nachdenklichem Blick.

„Sagen Sie mal, Herr Wiepert, wie haben Sie es eigentlich vor sich selbst verantworten können, sich auf einen Posten schieben zu lassen, dem Sie durchaus nicht gewachsen sind?!“ meinte er in aller Ehrlichkeit und in durchaus freundschaftlichem Ton. „Sie waren noch vor zwei Jahren Assistent… Heute sind Sie Kriminalrat. Ich glaube, Sie nun einigermaßen richtig beurteilen zu können. Sie sind kein schlechter Kerl…“

Wiepert war feuerrot geworden.

Aber der innere Wandlungsprozeß, den Harst vor Stunden bei ihm eingeleitet hatte, war doch schon so weit vorgeschritten, daß er in voller Offenheit, wenn auch begreiflicherweise recht verlegen, erwiderte:

„Herr Harst, den Ehrgeiz, sich emporzuarbeiten, hat jeder. Mir geriet da zufällig mal eine Anzeige in die Hand, die nachher unterdrückt werden sollte… Man erkaufte mein Schweigen durch…“

„… Schon gut, Wiepert. – Ehrgeiz ist etwas durchaus Anerkennenswertester aber dieses ‚Sich emporarbeiten‛ muß stufenweise vor sich gehen, das heißt, das Maß der neu erworbenen Kenntnisse muß im Einklang mit den geforderten Leistungen stehen. – Ich bin ja schließlich auch einmal Jurist gewesen. Hätte man mich damals etwa vom Referendar zum Landgerichtsrat und Untersuchungsrichter ohne die Durchgangsstadien der Assessorjahre befördern wollen, würde ich die Sache höchstens als Scherz aufgefaßt haben… – Nun, die Zeiten haben sich geändert, und an dieser Änderung ist das Schlimmste, daß die meisten Leute jetzt einen Gewissen aus Gummi besitzen… – Sogar Ihr Kollege Mac Gordy macht da als Engländer keine Ausnahme. Ich werde Ihnen beweisen, daß Mac Gordy der Mörder Karl Emmichs ist und daß der geheimnisvolle Gast der raffgierigen Frau Prof. Stöckner nur Mac Gordy sein kann. Bedenken Sie doch: Gordy kommt jeden Monat nach Berlin! Genügt Ihnen das nicht als Anlaß für einen schleimigen Flug nach London?

Mir ja. Wir drei werden morgen diesen Oberinspektor mit Hilfe meines englischen Freundes Joe Burns entlarven, und dann wird sich zeigen, daß meine Schlußfolgerungen hinsichtlich der Vorfälle beim Verschwinden der Geldsummen an der Westfront nur wenig von den tatsächlichen Geschehnissen abweichen… – Brechen wir auf… Je eher wir in London eintreffen, desto besser… Gordy sollen nicht Zeit finden, sich von den Befürchtungen zu erholen, die er nunmehr zweifellos seiner Sicherheit wegen hegt.“

Harald erhob sich und legte Wiepert leicht die Hand auf die Schulter. Ein nachsichtiges Lächeln spielte um seinen Mund, als er etwas erhobenen Tones hinzufügte:

„Hat Ihnen denn die Auskunft des Flughafenmonteurs über das entliehene Motorrad gegen ‚hohe Belohnung‛ so gar keinen Anstoß zum Mißtrauen gegeben?! Sie wußten doch, daß Frau Prof. Stöckners buckliger Gast am Bahndamm drüben ein Motorrad verborgen hatte und damit entkam!! – – Wiepert, wenn Sie ein anständiger Kerl werden wollen, lassen Sie sich aus Gesundheitsgründen in die Provinz versetzen und möglichst in ein Städtchen, in dem nur Rentner, Spießbürger und Kriegervereinsmeier ihre wohlgepflegten Bäuche spazieren führen. Die ‚Gesundheitsgründe‛ stimmen ja… Es fehlt Ihnen wirklich etwas… – Wo, – das ergänzen Sie sich selbst…“

„Ja – – in punkto Intelligenz fehlt mir etwas,“ sagte Wiepert bedrückt. „Ich werde mich versetzen lassen… Mac Gordy soll mein letzter Kriminalfall von Bedeutung werden.“

„… Von Bedeutung?“ meinte Harst achselzuckend. „Ich glaube, Sie kennen Mac Gordy nicht… – Warten wir ab…“

 

 

10. Kapitel

Gordys Gewissen.

Oberinspektor Hamilton Mac Gordy war gegen zehn Uhr vormittags in London eingetroffen und hatte sich vom Flugplatz direkt in sein Dienstzimmer im Polizeipalast von Scotland Yard begeben.

Seine Abwesenheit von London hatte kaum vierundzwanzig Stunden gedauert, aber ein voller Tag kann im Leben eines Menschen, dessen Vergangenheit nicht völlig makellos ist, all die Gespenster dieser Vergangenheit wieder aufleben lassen. Oft genügt hierzu schon eine kürzere Zeitspanne, falls die Umstände eben ungünstig liegen.

Bei Mac Gordy lagen sie sogar schicksalhaft entscheidend.

Und er wußte dies.

So lange, als er nur gegen eine mehr oder weniger eingebildete Gefahr gekämpft und seine Vorbeugungsmaßnahmen als kaltblütiger Kopf getroffen hatte, – so lange also nur diese skrupellose Frau Belinda Stöckner und der Gefreite Emmich seine Helfer gewesen, die er mit Geld für ihre zweifelhafte Treue bezahlte, durfte er sich Herr der Situation fühlen.

Er hatte sich gegen Verrat und ähnliche Umtriebe wirksam geschützt gehab. – – Und nun, ein plumper Zufall zerstörte das überfeine Gewebe seiner von vielleicht überflüssiger Angst gesponnenen Intrigen und Ränke.

Als er, im Salon der Stöckner sprungbereit zur Flucht das Gespräch zwischen der gewissenlosen Frau mit dem Freund des deutschen Privatdetektivs belauscht und gehört hatte, daß Helga Barn diesem Harst ihres Vaters Leidensweg und ihre eigenen Nöte anvertrauen konnte, weil wirklich nur ein blinder Zufall sie zu Harst als halbe Bettlerin geführt hatte, da … verlor er den Kopf.

Harst!!

Das war wie ein Dämon, der ihn vorwärtshetzt, der ihn zu der längst bereitgehaltenen Pistole jenes Friedrich Barn greifen ließ.

Emmich starb…

Emmich war stumm.

Was war damit gewonnen?!

Wahrscheinlich nichts…

Gordy erkannte die unermüdliche Zähigkeit dieses Harst. Er hatte ihn gleichsam als einen Gegner, den er eben in jedem hellen Kopf sah, rechtzeitig studiert. Gordys Angst, daß seine Vergangenheit einmal ans Tageslicht gezerrt werden könnte, war krankhaft.

Dieses Krankhafte hatte ihn auch zu seinem Verfolgungsfeldzug gegen Mutter und Tochter Barn verführt. Er kam von dem Gedanken nicht los, der Oberintendanturrat Barn könnte Aufzeichnungen hinterlassen haben, in denen jene Stunde im Morgennebel bei Villiers mit Einzelheiten wiedergegeben seien, die hin ans Messer lieferten – – nach Jahren noch.

Diese fixe Idee, daß empfand er selbst unklar, war zugleich für ihn eine Art Sühne und Rechtfertigung, denn diese übertriebene Vorsicht entstieg letzten Endes seinem ruhelosen Gewissen.

Daß sein Gewissen ihn nicht andere Wege wies, sein Unrecht zu tilgen, war wiederum Beweis seiner angeborenen verbrecherischen Veranlagung. –

Tief in Gedanken eingesponnen saß Gordy vor seinem mit Akten bedeckten Schreibtisch und rauchte nervös und ohne Genuß eine Zigarette nach der anderen…

Dann erteilte er telephonisch seinen Untergebenen einige Befehle und wollte nun in seine Privatwohnung fahren.

Im Korridor jedoch begegnete er seinem Kollegen Joe Burns, der mit ihm etwas dienstliches zu besprechen hatte.

Gordy, durch die stark opiumhaltigen Zigaretten in einen Zustand halber Betäubung versetzt, hörte Burns ohne Interesse zu.

Dann aber machte der joviale Kollege eine Zwischenbemerkung, die auf Gordy wie die Heraufbeschwörung eines Teufels wirkte.

Burns sagte so nebenbei: „Dieser verzwickte Giftmord Jefferson wäre so recht etwas für meinen Berliner Freund…“

Gordy wußte sofort, wen Burns hiermit meinte, und dieser Hinweis auf Harst genügte, die einschläfernde Wirkung der schweren Zigaretten sofort wieder aufzuheben.

Als er dann daheim in seinem eleganten Herrenzimmer rastlos auf und ab schritt und schließlich vor einer Wanddekoration stehen blieb, die aus einem Flugzeugpropeller und anderen Kriegsandenken bestand, verzog sich sein Gesicht zu einem bitterqualvollen Lächeln…

„Vorbei!!“ sagte er ganz laut…

So laut, daß er selbst vor dem Klang seiner Stimme zusammenschrak.

Er starrte den Propeller, der einige leichte Schußspuren aufwies, genau so wehmütig an wie den eleganten flachen Glaskasten darunter, der seidene Kriegsorden enthielt.

„Fehler im Blut!“ sagte er abermals, jetzt jedoch als Anklage gegen den eigenen Vater.

Dann setzte er sich, nahm einen Bogen Papier und begann zu schreiben.

Sein Gedächtnis floß ihm aus der Feder wie ein klarer Bach, dessen Schleuse plötzlich geöffnet wird.

Er schrieb:

London, den 4. Juni 192.

Oxfordstreet 14

In der Erkenntnis meiner verzweifelten Lage bekenne ich folgendes:

1. Zu Beginn meiner Beamtenlaufbahn bei der Kriminalpolizei entdeckte ich, daß mein Vater, der Börsenmakler James Mac Gordy, nebenher seit vielen Jahren Hehlergeschäfte betrieb. Ich zeigte dies nicht an, obwohl auch meines Vaters Bruder, seine Schwester und deren Söhne mit in diese strafwürdigen Dinge verwickelt waren.

2. Im Weltkrieg gehörte ich 1918 der Sonderstaffel für den Abwurf von Propagandamaterial zur Zermürbung der deutschen Front an. Im November mußte ich nachts während eines solchen Fluges hinter den deutschen Linien niedergehen, da ich Motordefekt hatte. Ich landete glatt und unbemerkt und fand in der Nähe ein zertrümmertes deutsches Auto mit zwei Koffern, in denen Pakete mit Banknoten lagen. Der eine Insasse des Autos war bewußtlos und war seinen Papieren nach der Oberintendanturrat Friedrich Barn. Urplötzlich überkam mich die Gier, mir das Geld anzueignen. Mein Flugzeug war bereits wieder startbereit. Während ich die Banknoten darin verstaute, tauchte aus dem Morgennebel ein deutscher Soldat auf, den ich mit der Pistole zwang, seine Waffen wegzuwerfen. Um ihn zum Schweigen zu bringen, händigte ich ihm einen Teil des Geldes aus, und er versprach mir, sofort seinen Truppenteil zu verlassen, da die Revolte auch bereits auf diesen Frontabschnitt übergegriffen hatte. Er entfernte sich, und ich bestieg meine Maschine. Im Anrollen sah ich, daß Friedrich Barn den Kopf gehoben hatte. Er muß mich genau gesehen haben. Mein Gesicht ist nun infolge der Mundfalten so leicht wiederzuerkennen, daß ich hinterher ewig in der Angst lebte, Barn könnte mich, zumal ich damals neues Zersetzungsmaterial mit Aufforderung zur Meuterei abgeworfen hatte, später ermitteln und meine Karriere vernichten.

Ich suchte daher Anschluß an eine Frau, die in Berlin Einfluß besaß, und bestach sie, ohne daß sie mich kannte, zum Einsatz ihres Einflusses gegen Friedrich Barn.

Barn erschoß sich.

Ich glaubte, hierdurch würde sich meine krankhafte Furcht vor Entdeckung meines Diebstahls von selbst legen. Aber irgend etwas in mir, das genau so stark war wie der ererbte, verbrecherische Trieb, ließ diese Furcht sehr bald wieder erwachen und verführte mich zu noch ärgeren heimtückischen Angriffen auf Barns Witwe und Tochter.

Sollte das eintreten, womit ich rechnen, so wird man dieses Geständnis finden.

Ich habe nur eine einzige Entschuldigung für mein Tun: Das Blut, das in meinen Adern fließt, das Blut eines raffinierten Hehlers und Betrügers – – meines Vaters!

Man gehe nicht zu streng mit mir ins Gericht. Wir Kriminalisten wissen am besten, daß ererbte Charakterschwächen kaum durch eigenes Wollen auszutilgen sind.

Hamilton Mac Gordy

Oberinspektor Joe Burns, unser alter Bekannter, begrüßte uns abends in seiner Privatwohnung mit ehrlicher Freude.

Auch Wiepert schüttelte er kräftig die Hand, ließ Whisky bringen, schleppte Gläser, Zigarren und Zigaretten herbei und zeigte sich wieder einmal als der treue, bewährte Freund von einst.

„Nun, Harst, – wo brennt es denn?“ fragte er nach dem Begrüßungsschluck…

„Leider bei Ihrem Kollegen Gordy.“

Burns stutzte.

„So?! Inwiefern? Mac Gordy ist der beste von uns fünf Oberinspektoren, und…“

Harst winkte ab.

„War er im Krieg Flieger?“

„Das stimmt…“

„Bis zum Kriegsende?“

„Gewiß…“

„Hat er nach dem Krieg reich geheiratet oder viel Geld geerbt?“

„Geerbt, Harst… – Von einem Verwandten mütterlicherseits aus Amerika… Aber was soll das alles?!“

„Sofort, lieber Burns. Erst noch einige weitere Fragen. – Hat Mac Gordy in Berlin Bekannte?“

„Ja. Er kennt dort einen deutschen Kriegsteilnehmer, erzählte er mal. Den besucht er jeden Monat.“

„So … so‥!!“ Harst warf Wiepert einen vielsagenden Blick zu.

Dann zeigte er Burns das Kalenderblatt mit Gordys verstellter Handschrift.

„Hat dies Gordy geschrieben, Burns?“

„Hm, mag sein… – Ja, – ich glaube, das ist seine Schrift, obwohl er…“

„Danke… – Raucht Gordy opiumhaltige Zigaretten?“

„Leider! Er ruiniert sich damit seine Nerven. Er ist Kettenraucher, vierzig Stück ist sein Durchschnittsquantum.“

„Bevorzugt er eine besondere Marke?“

„Ja, – er rauch stets die Marke ‚Istanbul‛ mit Korkmundstück…“

„Also das träfe dann ebenfalls zu. – Ist Gordy Motorradler?“

„Natürlich. – Aber was in aller Welt…“

„… Einen Augenblick noch… – Haben Sie Mac Gordy heute gesprochen?“

„Ja…“

„Fanden Sie ihn irgendwie verändert?“

Burns lachte.

„Wissen Sie, Harst, Mac Gordy hat einen eigentümlichen Spleen… Er ist nämlich stets ‚verändert‛. Er trägt immer Perücke und falschen Bart, – eine Marotte von ihm, die sich zuweilen bis zu einem Buckel steigert.“

Aber Harst verzog keine Miene.

„Besitzt Gordy vielleicht sehr scharfe Züge?“

„Ja. Wer sein Gesicht einmal unmaskiert gesehen hat, vergißt es nicht wieder. Er hat eine eigentümlich faltige Mundpartie, schon als junger Mensch.“

„Ich fragte Sie soeben, Burns, ob Sie heute Mac Gordy verändert gefunden hätten… Ich meinte im Benehmen, in seinem Sichgeben?“

Burns nickte. „Er schien wie leicht angetrunken… Er war soeben erst aus Berlin zurückgekehrt, und er behauptete, er habe sich dort erkältet, – deshalb der viele Whisky!“

Harst schaute den klugen Oberinspektor gerade in die Augen.

„Lieber Burns, Gordy hat getrunken, weil er seine Nerven bändigen wollte… Er hat in Berlin einen Mann ermordet, mit dem zusammen er…“ – und nun erzählte Harst die ganze Tragödie Barn von Anfang bis zu Ende. – –

Etwa zu derselben Zeit betrat Mac Gordy in Scotland Yard das Dienstzimmer seines Untergebenen, des Inspektor Marlync. Er war in Zivil und wollte sich nach Hause begeben.

„Nun, Marlync, was ist‥? Sie sollten da ein paar Ermittlungen anstellen lassen…“

Der Inspektor erwiderte eifrigst: „Es sind heute nachmittag tatsächlich drei Herren aus Berlin im Flugzeug hier eingetroffen, ein Kriminalrat, dann der Privatdetektiv Harst und sein Freund Schraut… Die drei befinden sich jetzt bei Mr. Burns, und Burns hat soeben auf spezielle Anordnung des Präsidenten einen Haftbefehl gegen Unbekannt diktiert… Der Betreffende soll in Berlin einen Mann namens Emmich erschossen haben…“

Mac Gordy bückte sich rasch über den Tisch, um sein bleiches Gesicht nicht sehen zu lassen.

„Haben Sie den Haftbefehl schon ausgefüllt?“ fragte er eigentümlich heiser.

„Bitte, – hier ist er… Sie sollen ihn unterzeichnen, hat Mr. Burns befohlen.“

„Schon gut… Ich weiß Bescheid… Geben Sie mir Ihre Füllfeder, Marlync…“

Und Gordy unterschrieb, obwohl er wußte, daß er damit sein eigenes Todesurteil unterzeichnete.

Dann strich er den Namen Karl Emmich in dem Vordruck aus und schrieb dafür ‚Gustav Heppner, Gefreiter beim 301. Reserveregiment‛.

Weiter unten aber setzte er mit fester Hand folgendes hinein:

Mein letzter Wille

Ich, Mac Gordy, ernenne heute zu meinem Universalerben die Frau Anna Barn und ihre Tochter Helga Barn, Berlin-Grunewald, Trabener Straße 102. –

Ich bekenne mich schuldig, im November 1918 einen bewußtlosen Deutschen, den Gatten der Frau Barn, um 350.000 Mark bestohlen zu haben. 140.000 Mark überließ ich dem Gefreiten Gustav Heppner, den ich gestern erschossen habe.

London, den 4. Juni 192.

Allan Mac Gordy

Dann richtete Gordy sich auf, hob schnell die linke Hand an die Schläfe… – –

Gordys Gewissen hatte noch in letzter Minute das wieder gut zu machen versucht, was er der Familie Barn jahrelang angetan hatte…

 

 

Fußnote:

(1) vielbeachteter Finansskandal in der Weimarer Republib 1924/25