Olaf K. Abelsen
Abenteuer
Abseits vom
Alltagswege
Einzig berechtigte
Bearbeitung a. d.
Schwedischen von
M. Schraut
– Band 35 –
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1931 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.
1. Kapitel.
Als der alte Mango starb.
Die langgestreckte, inselreiche Lagune in einem der unwirtlichen Küstenstriche Madagaskars war belebt von Vogelscharen und Krokodilen, die alle mit gleichem Mißvergnügen die seltsam farbenfroh überpinselte kleine Motorjacht betrachteten, deren Bug dicht an einem Inselchen unter einem schief gewachsenen uralten Mangobaum vertäut war.
„Carmen“ hieß sie …
Dieses schnittige Fahrzeug, beinahe nur ein besserer, eleganter Motorkutter, mißfiel nicht nur den bisher so unumschränkten Besitzern der Lagune. Auch mein indischer Freund Amed Schami und ich, die wir vor Stunden im Ruderboot hier am Außenstrand gelandet waren, nachdem uns ein riesiges Floß aus Bambus bis in die Nähe des Brandungsstreifens getragen und die Floßbewohner uns Lebewohl gesagt hatten, wurden von Madagaskars Gestaden äußerst unfreundlich willkommen geheißen.
Das Unheil war über uns hereingebrochen mit der Schnelligkeit eines tropischen Gewitters. Der Blitz war eingeschlagen, und der Blitz bedeutete für uns ein Paar gewaltige Männerfäuste. Wir wurden unerwünscht sehr unerwünschte Gäste der Dame „Carmen“, wir wurden getrennt, einzeln recht unbequem untergebracht, und meinem vierschrötigen groben Wächter hatte ich bereits insgeheim den Titel „Gorilla“ beigelegt …
„… Wenn der Mann nur nicht solche O-Beine hätte!“, ging mir neuerlich beim Vorüberschlendern dieses Wächters ein flüchtiger Gedanke durch den Sinn.
Gewiß, der Kerl war auch sonst nicht gerade schön geraten, und sein Skelett wäre mal für vergleichende Studien über das Übergangsstadium vom Affen zum Menschen wertvoll gewesen.
Immerhin mußte der bärbeißige, fuchsige Bursche ungeheuere Kräfte, auch gorillamäßig, besitzen, und ein Hieb mit dieser Faust, Handschuhnummer 16, würde auch einen dicken Negerschädel peinlichst lädieren, — — sagte ich mir weiter und scheuerte geduldig und mit harmloser Miene unaufhörlich meine Stricke an der Ecke der Holzkiste, die mir als Rückenlehne diente.
An der Decke hingen drei elektrische Lampen und zeigten mir all die bizarren Schönheiten des auf und ab stampfenden Gorillas.
Sein Verbrauch an Priem war begreiflich, wenn man mit ansehen mußte, wie der rotbärtige, breitschultrige Knabe alle zwei Minuten seinen Mundwinkel öffnete und Feuerwehr spielte.
Draußen über der Lagune grollte ein Gewitter, und durch die offene Deckluke gewahrte ich das fahle Aufglühen der elektrischen Entladungen.
Der Gorilla blieb zuweilen stehen und schüttelte halb ärgerlich, halb sorgenvoll seinen Eimerschädel.
In solchen Momenten scheuerte ich mit verdoppeltem Eifer, und da dieses Spiel nun bereits eine Stunde währte, hoffte ich auf Erfolg.
Wie ich freilich die Fußfesseln loswerden sollte — eine andere Frage!
Durch die Luke tröpfelte Regen herein, abgerissene Blätter flatterten herab, sogar Aststücke prasselten hernieder.
Der Gewittersturm stieß mitunter recht arg in seine Posaune, und der Kutter schwankte dann leicht, die Lampen pendelten und der Gorilla marschierte noch breitbeiniger.
Die Kante der Kiste, an der ich lehnte, war mit Eisenbändern benagelt, und das Eisenband ragte etwa drei Millimeter über das Holz hinaus.
Pfuscherarbeit, — — hier nur zum Nutzen.
— Das ganze Leben setzt sich für den geistig Blinden aus einer Kette magischer Zufälle zusammen.
Zufall?!
Darüber ist genug geredet und geschrieben worden.
Überall gibt es nur Ursache und Wirkung.
Hätte der Gorilla mich anderswo hier niedergestaucht, wäre es eben eine andere Kistenkante gewesen.
… Trotz des bedenklichen Ohrensausens und der Beule an der Stirn nebst folgerichtigen Kopfschmerzen wurde mein Hirn unheimlich klar, als ich die rechte Hand vorsichtig aus der zerriebenen Doppelschlinge drehte.
Gerade da warf der Gorilla mir einen tückischen Blick zu.
Breitbeinig pflanzte er sich vor mir auf, spielte Feuerwehr und grunzte:
„Also — wie heißen Sie?!“
„Karl Benson“, sagte ich.
„Hm …“ Wieder ein Spritzstrahl zur Seite.
„Benson“, sagte ich nochmals …
„Und was wolltet ihr hier in diesem Dreckwinkel von Madagaskar?“, bohrte er weiter.
„Bekannte suchen …“ — das hatte ich schon vorhin gelogen.
Er grinste …
„Hier?! Bekannte?! — Mensch, du riechst verflucht nach Bürostaub und Paragraphen, du …! — Greifer?“
Pech …
Er gab selbst das Stichwort.
Greifer? Polizist? So was Ähnliches? — Nein — ganz im Gegenteil!
Aber Greifer, — — zugreifen …!
Ich grinste … auch ich …
Er durfte nicht merken, daß all meine Muskeln sich zusammenzogen, daß ich …
Gedanken fliegen …
Die Tat ist oft schneller…
Meine Hände fuhren nach vorn, packten des Gorillas Fußgelenke, und der Kerl schlug hintenüber mit dem Eimerschädel auf die blanken Bodenbretter …
Dann war ich schon über ihm …
Brutal?!
… Er hatte mir vor Stunden einen Wischer versetzt, — hier war die Quittung …
Ich kann auch zuschlagen.
Der mächtige Körper lag da wie ein großer, in fettiges Leinen gekleideter Baumstumpf mit einem Kürbis und viel roter Wolle als Haaren.
Blitzschnell tauschte ein Ledergurt samt Anhängsel den Besitzer, und ich drückte mich in die dunkelste Ecke zwischen die vielen Kisten, die einen penetranten Gestank aushauchten.
Die Deckwache oben schlenderte vorüber …
Der Gorilla saß scheinbar dösend auf einer Kiste.
„Hallo, Ewers …?!“, rief der Mann, den nun der Lampenschein beleuchtete.
Auch ein Europäer … Auch keine Schönheit.
Herr Ewers weilte zur Zeit in fremden Gefilden und antwortete nicht.
Die Sache wurde brenzlich.
Der Mann oben bückte sich …
Sein Kopf tauchte auf …
Sein Pech!
Was ihm da gegen die Ölkappe flog, war keine Apfelsine …
Die Deckwache besaß genügend Kameradschaftsgefühl, Herrn Gorilla Ewers in die dunklen Gefilde zeitweiser Gehirnlähmung zu folgen und lag mit Armen und Schädel in der Luke.
Die gewisse frohe Erregung solchen eigenartigen Kampfesspieles trieb mir in der glutheißen schwülen Nacht die Perlen aus allen Poren.
Ich warf die Deckwache neben Herrn Ewers, schlug den Lukendeckel zu, schloß den Riegel und wollte mich nach Freund Amed umtun.
Ein Blick über die Lagune …
Gerade fuhr wieder drüben im Nordwald ein Bündel Blitze nieder…
Ein Boot rauschte heran …
Sechs — sieben Kerle …
Und ich, im bengalischen Licht glänzende Zielscheibe, wurde angerufen …
Dann versank alles wieder in Dunkelheit und Regen …
Nur …
Ich bekam Beine …
Die Burschen spuckten Kugeln …
Ins Wasser springen?!
Bei dem Überfluß an Krokodilen?!
Danke!
Über mir hingen von dem uralten, schiefen Mangobaum die zähen Lianenstricke herab, — ein Sprung, acht Kletterzüge, und als der nächste Blitz kam, deckte mich das Laub …
Das Boot legte an.
Eine Frauenstimme schlug zu mir empor, kurz, herrisch …
„Sucht den Fremden … er darf nicht entkommen!“
Der Regen rauschte stärker, ein Sturmstoß knickte einen Ast des alten Riesen, und krachend und polternd stürzte er über mir herab, hätte mich erschlagen, wenn nicht die lebenden Taue der Lianen und Ranken gewesen wären.
Er pendelte wie eine Schaukel …
Er hing fest …
Und an ihm hingen fünf verschrumpelte Säcke.
Kannte ich, diese Beutelsärge: Zebuleder, innen gefüllt mit …
Aber das kann man nur andeuten. Sagen wir respektvoll: Mit den Resten eines toten braunen Madagassenkriegers.
Die Beerdigungsmethoden der verschiedenen Stämme verraten viel Phantasie.
Die Lederbeutel pendelten gleichfalls …
Alles pendelte …
Der Gewittersturm wurde Orkan, die Regenschnüre wurden Peitschenhiebe, die Blitze gaben spärliches Licht …
Urwald, Lagune und das nahe Meer veranstalteten eine Sinfonie des großen Unwettergottes, und in den Sturmpausen kreischten Affen, Papageien und Wildschweine als billiger Chor ihre angstvolle Begleitmusik …
Der uralte Mango, der hier auf der Laguneninsel den Jahrhunderten getrotzt hatte, schüttelte immer bedenklicher sein Haupt, und seine Haarsträhnen wurden ihm ausgerupft wie Grasbüschel.
Es blieb nicht bei einem Ast, der kurz abknickte und herabsauste.
Ich klemmte mich dicht an den Stamm, und die Orchideen und die anderen Schmarotzerpflanzen, die sich dort in den Hautfalten Großpapas, der schon reichlich senil war, eingenistet hatten, waren mit größter Vorsicht als Gesichtsschleier zu genießen, da sie gefährlichen Hautausschlag erzeugten.
Großpapa Mango trug sein Schicksal, immer mehr Anhänger, in Gestalt von Ästen und Zweigen einzubüßen, mit hoheitsvoller Fassung: Wie ein Menschengreis, dessen kindliche Seitensprünge nur er selbst gut heißt, weil er in seiner Vereinsamung den Maßstab für den Wert von Getreuen und für die eigene schicksalhafte Pflicht, dem jungen Unterholz weichen zu müssen, nicht mehr voll begreift.
Der Riesenbaum war kein ideales Versteck.
Der Winkel von fast fünfundvierzig Grad, in dem er bisher seinen Stamm und seine Krone über die Lagune weit hinausgestreckt hatte, wohl im Vertrauen auf die zähe Festigkeit seiner Wurzeln, die sich in das mürbe Gestein des Inselufers eingekrallt hatten, schien mir zusammenzuschrumpfen wie ein geöffneter Zirkel, dessen einen Schenkel man niederdrückt.
Und unter dem Mango lag der fremde Motorkutter mit seiner höchst zweifelhaften Belegschaft.
Wenn ich Kutter sage, bin ich genau so bescheiden, wie Freund Gorilla etwa hinsichtlich der Kleidung. Seinen Leinenanzug hatte er offenbar zum Putzen der Motoren benutzt, und seine sonstigen Kostümteile beschränkten sich auf ein Paar Ledermorgenschuhe, sogar Strümpfe hatte er hier in den Tropen verabscheut, leider auch verabsäumt, sich die Füße zu waschen. Möglich auch, daß die gewissen Tabakspritzer daneben gegangen waren.
Gorilla war ja nun zunächst ohne Bedeutung.
Gefährlich die Herren, die da an Bord umherwimmelten, sagen wir: An Bord der Motorjacht!
Sie waren mir ja sämtlich höchst unerwünschte Neuerscheinungen, denn vorhin hatten Herr Gorilla Ewers und der andere süße Knabe, der von Ewers zärtlich „Brillenhengst“ gerufen worden war, mit Amed Schami und mir nur zu zweien Fangball gespielt, wobei wir — ein Wunder — ohne Rippenbrüche weggekommen waren.
Die Sorte Gentlemen — sieben waren es —, die da unten an Deck nun auf Befehl der scharfen Stimme rücksichtslos einen Scheinwerfer nach oben richteten, gefiel mir weit weniger als Gorilla und Brillenhengst.
Die Kerle sahen sämtlich so aus, als ob sie die Mutter Erde schon dreimal umkreist hätten, immer getrieben von dem Verlangen, den Verfolgern zu entgehen.
Es war eine böse Sieben, eine bunte Sieben, und keiner dieser fixen, straffen Kerle hätte sich besonnen, mir ein Loch durch die Gehirnkappe zu pusten …
So sahen sie aus.
Bevor der Lichtfinger des verflixten Scheinwerfers mich noch erreichen konnte, war ich höher geturnt, hatte die große Schaukel mit den ledernen Knochenurnen als sichersten Schlupfwinkel erkoren, lag bäuchlings über dem gewaltigen Schwebereck und prüfte den am meisten mitgenommenen Ledersack auf seine Festigkeit und seinen Inhalt.
Ich wollte …
Aber ich unterließ es.
Er roch zu stark.
Außerdem hatte Großpapa jetzt endgültig jeden Halt verloren, neigte sich immer tiefer vor dem Orkan und …
Unter mir ein tolles Brüllen, Hasten, Jagen …
Fix waren die Kerle … Mußte ihnen der Neid lassen…
Im Nu hatten sie die Jacht losgemacht, schoben sie mit Bootshaken bei Seite …
Der alte Mango starb …
Durch seinen Stamm ging ein Dröhnen und Knarren wie das Ächzen eines Verscheidenden.
Mit verzweifelter Hast kletterte ich auf einen der ungeheuren Äste, die nicht in die Lagune als Stützen für den Todgeweihten versinken würden.
Meine noch immer zerschundenen, kaum oberflächlich geheilten Innenflächen der Hände brannten wie höllisches Feuer, ich hatte Pflanzen zerdrückt, deren Saft wie Salzsäure war, ich hatte Ameisenkolonien zerquetscht, die noch genügend Überlebende mir als Rächer über die ganze Haut verteilten.
Dann gab es einen Knall, als ob ein gewaltiger Holzpfosten gesprengt wird.
Der Mango, innen seit langem hohl, brach mannshoch über dem Erdreich ab, und der gelöste Stamm fiel plätschernd ins Wasser und sackte tiefer und tiefer, bis die Äste ihn hielten.
Er lag dicht über der Wasseroberfläche, ich selbst hing an einem der senkrechten Äste, und zu meinem geringen Vergnügen zeigte mir der nächste Blitz die kleine Motorjacht mit ihren übereifrigen zähen Herrschaften in allernächster Nähe …
Der Scheinwerfer flammte wieder auf.
Weißes Licht umspielte mich …
Die scharfe Frauenstimme, die geradezu Unbehagen hervorrief, befahl schneidend und kurz:
„Kommen Sie herab!“
Der Orkan wollte ihr die Worte vom Munde pflücken und seewärts jagen als nichtssagenden Hauch. Der Sturmstoß kam zu spät …
Für mich nicht …
Mein Ast knickte …
Ich flog durch die Luft wie ein welkes Blatt.
Und flog genau in das Loch des Mangostumpfes hinein …
Fegte wie ein Kaminkehrer den mürben Zunder des vermorschten Stammendes auseinander und landete zu Füßen eines verschleierten Etwas, das mir kurzer Hand — meine Augen tränten wie Bäche — die Arme nach hinten riß …
Ein Knacken …
Seltsam …?! Sollten das …
Es waren Stahlfesseln …
Und ich war glücklich von dem Regen in die Traufe geraten …
Gorilla Ewers hatte nur Stricke benutzt. Das Bündel Stoff da vor mir, scheinbar eine verirrte, tief verschleierte Haremsdame, hatte richtige Stahlketten mit kleinen praktischen Schlössern bereit.
Als der von mir aufgewirbelte Baumstaub sich gesetzt hatte und meine Augen wieder leidlich in Ordnung waren, … sah ich gar nichts mehr.
Ich hatte ein Tuch um den Kopf, und an der Schläfe hatte ich etwas Rundes, Kaltes, das unfehlbar eine Pistolenmündung war.
„Wenn Sie schreien, schieße ich“, flüsterte eine sanfte Stimme, die in mir die Illusion von einem ganz jungen wunderschönen Mädchen mit verträumten Märchenaugen wachrief.
… Vielleicht hätte sie nicht geschossen …
Aber die Herrschaften draußen waren sicherlich unangenehmer als diese Fremde.
Ich hockte am Boden und hauchte zurück:
„Sie sollen mit mir zufrieden sein …“
Eine Weile nichts …
Dann das übliche: „Wer sind Sie?“
… Ein Jammer …!
Wenn die Menschen sich es doch nur abgewöhnen wollten, in solchen Lagen so trostlos abgeschmackte Fragen zu stellen.
Ein Mango (von jener Art, wie sie in Afrika auch bis zu fünf Meter dick werden) knickt um. Oben in das morsche Loch fährt ein Schornsteinfeger, unten sitzt eine Haremsdame.
Muß da die Dame, nachdem sie Hand- und Fußschellenprozedur erledigt und die ganze Augenweide auch abgesperrt ist, ausgerechnet fragen: „Wer sind Sie?!“
… Sie hatte englisch geflüstert …
Ich war höflich.
„Karl Benson, Miß …“
Der Gorilla war mit Benson und dem nachfolgenden Umfall und Fausthieb zufrieden gewesen.
Warum nicht die Miß?!
„Und wie heißen Sie wirklich?“
Das klang schon etwas ungeduldig.
Sie hatte meine Augenbinde schlecht zugeknotet, und hinter mir war der rissige Innenstamm …
Ich duckte mich, die Binde verfing sich hinten, rutschte mir über die Nase, und ich blicke staunend beim Lichte der kleinen Laterne, die links von mir hing, in ein bärtiges, kühnes Gesicht von bräunlicher Farbe.
Dunkle große Augen starrten mich genau so verblüfft an.
Dann griff eine Hand nach meiner Binde, und die Vision verschwand …
Diesmal wurde der Knoten vorn geschürzt und drückte die Nasenwurzel wie ein harter Stein.
Unser Zwiegespräch erfuhr keine Fortsetzung.
Irgendwoher und irgendwie war ein dritter erschienen.
Ein grunzender Baß flüsterte in einer mir unbekannten Sprache …
Wenn das nicht der Gorilla Ewers war, dann war ich nicht mehr Olaf Karl …
Und nun erwiderte der Abenteurer mit dem flotten Spitzbart und den Märchenaugen, und ich schärfte die Ohren noch mehr …
Die Stimme war sanft und märchenhaft wie das Murmeln einer versteckten Quelle im Waldesdunkel, durch das nur hier und dort die Sonnenstrahlen helle Kringel auf grüne Moospolster malen …
2. Kapitel.
Die Jacht „Carmen“ und ihre Edelgauner.
„Drei Schüsse …!“, hatte mein brauner Freund Amed vor vielen Stunden gesagt, als wir kaum erst unser Boot in das Ufergestrüpp gezogen hatten.
Und fern … ganz fern zog das Floß der Leidenschaften seine Bahn heimwärts … Einst unser Floß, mit unser Floß … Jetzt nur noch Spuk der Vergangenheit. — Der Diamantenfluß hatte seine Reichtümer hergegeben, und aus Haß ward Liebe, und Chan Kai’s Weisheit war still entschwunden gen Osten, wo sein Land seiner wartete.
Amed und ich waren gleicher Natur, unruhiges Blut … Madagaskar hatte uns gelockt, und die Freunde hatten uns ungern ziehen lassen.
„Drei Schüsse …!“
Wir krochen zum Innenstrand, wo der helle Kies der Lagune häßlichen Krokodilen Bettruhe gewährte, wo die kleinen Inseln grün und farbenfroh leuchteten und die schwimmende Pracht der mannigfachen Wasserpflanzen uns berauschte …
Aber drei Schüsse und der Anblick der drüben vertäuten Jacht zerstörten jeden Augenrausch, und Amed flüsterte noch eindringlicher:
„Olaf, dies hier ist etwa der unzivilisierteste Strich der ganzen Ostküste … Die Franzosen als Herren der Insel Madagaskar weichen den Bergvölkern der Ikarisi aus … Ich muß es wissen … Als Kapitän …“
Kapitän, — ja …
Eines uralten Frachtdampfers …
Daß Schami mit diesem Rattenkasten den indischen Ozean überquert hatte, war Tollkühnheit und Wunder zugleich.
Die Lagune vor uns war durch die drei Schüsse so etwas außer Rand und Band geraten.
Die Möwen, Kraniche, Reiher und Wasserhühner hatten gegen die Ruhestörung protestiert. Auch die Affen …
Allmählich legte sich der Lärm, die kreisenden Vogelschwärme fielen wieder mit Plätschern und Rauschen in die Seerosenfelder ein, und Schami schlug vor, doch einmal zu der Jacht hinüberzurudern …
Mir behagte die Jacht nicht.
Ihr Anstrich war ja in der Hauptsache grün, aber mit braunen und gelblichen Flecken durchsetzt, genau so die flache Heckkajüte und der schräge dicke Schlot.
Mimikry-Anstrich …
Wer pinselt ein schlankes Fahrzeug derart bunt an, wenn er nicht selbst eine etwas bunte Seele im Leibe hat?!
Amed, der als großer Schweiger nie Überflüssiges redet, pflichtet mir bei.
„Stimmt… faul!!“
Faul?!
Oberfaul …
Was da hinter uns durch die Büsche kroch, waren lautlose lebende Beweise für „oberfaul.“
Die Tatzen, die mich bei der Gurgel packten, waren gorillaartig, und selbst der blitzschnelle Stoß mit den Stiefeln auf einen prall gefüllten, dicken Bauch schafften mir nur für Sekunden Luft. Dann schleuderten mich zwei Riesenarme in die Lagune, hinterher flog mein Angreifer, und bevor ich noch den Mund über Wasser hatte, massierte er mir die Stirn, kniete mir im Rücken, und schleifte mich erst an Land, als ich übergenug Wasser geschluckt hatte.
Immerhin besaß er Verständnis für schlichte Entleerungsmethoden, stellte mich auf den Kopf, schüttelte mich leer und band mir dann säuberlich die Arme zusammen.
Von Schamis Fußballspieler sah ich nicht viel. Es war der bewußte Brillenhengst.
Jämmerlich wurden wir in einem Boot verstaut, unser Boot, und nachdem meine fünf Sinne einigermaßen wieder arbeiteten, hatte ich als Ausblick und Anblick den Gorilla vor mir, der mich aus den winzigen Pünktchen, die seine dicken Lider und Tränensäcke frei ließen, höhnisch angriente und dabei seine Mundspalte halbwegs bis zu den Ohren zog.
Es ging zur Jacht, auf die Jacht, ich kam in den Laderaum, — wo Schami blieb, wußte ich nicht, und … dann kam das übrige …
Endergebnis: Der Stumpf des Mango und Stahlketten und Augenbinde! —
Globetrotter meines Formats erleben allerlei.
Schon vor dem Trott …
Ich hatte mich mit der Dressur von Zuchthauswanzen abgegeben, ich hatte den Beruf fallen lassen und war ausgekniffen, und ich geriet auf einen Kutter, landete in der Polakai von Südamerika, wo die Füchse mit dem Schwanz bellen.
Ich war genügsam und anspruchsvoll geworden …
Wie man es nimmt …
Menschen liefen mir über den Weg, und sogenannte Menschen stieß ich von meinen Pfaden. Das Leben und der Sinn des Lebens gewannen neue Bedeutung … Meine Augen lernten sehen, und was ich sah, war das große Lehrbuch der Wege abseits vom Alltag.
Es war schön.
Nichts Menschliches blieb mir fremd.
Halunken in zerrissenen Hemden und eleganten Aufmachungen zeigten mir die dreckige Innenseite ihres Herzens … Kerle von Eisen drückten als Freunde meine Hand, und stille Philosophen wie Chan Kai gaben mir Rätsel auf.
— Was wurde hier gespielt?!
Wer war dieser Mann in bunter Seide mit dem Gesicht eines kultivierten Beduinenscheichs?!
Mann?! Mit der weichen Stimme?!
… Angeklebte Bärte haben mich nie beunruhigt.
Ich sah sie nie.
Kriminelles mit Einschlag nach der Tonart „Sensation der Hetze zwischen Recht und Rechtsbrechern“ streifte mich nur.
Daran änderten auch die Zuchthausläuse nichts.
Auch nicht die zwecklos erneuerten Steckbriefe, die auf zitterigen Greisenbeinen hinter mir her torkelten.
Ich war schuldlos in die Gesetzesmaschinerie geraten, und diese hatte mich durch den falschen Auswurf in eine Zelle spediert.
… Wie ein Automat, der ein ehrliches Nickelstück verschluckt und dafür eine leere Pappschachtel hergibt: Zelle!! — Mehr als Pappschachtel war jene Zelle nicht … Nur der Fluchtweg war unbequem.
Jahre gingen dahin … Letzte Etappe — keine Etappe der Drückeberger —: Der Diamantenfluß — — das Floß der Leidenschaften.
Neuer Kurs: In ein Baumloch hinein!
Es hätte auch übler enden können … Der Stumpf des Mango hatte harte Kanten und Spitzen … Vorläufig waren mir die Stahlfesseln angenehmer.
Das Getuschel zwischen Gorilla und sanfter Quelle endete mit verschiedenen Geräuschen, und dann wurde mir die Augenbinde abgenommen.
Vor mir saß in der Baumhöhle Herr Gorilla Ewers, der das Englische noch ärger zerkaute als die Londoner Dockarbeiter.
Die Laterne enthüllte wieder alle Schönheiten seines Leibes. Sogar den jetzt mit Pomade festgeklebten roten Scheitel und die rote Pflaume an seiner Schläfe.
Nachdem er mich gemütvoll-heimtückisch angeblinzelt hatte, öffnete sich sein fuchsiger Bartwald, nach links fuhr ein Strahl, geradeaus fuhr die brummige Anerkennung:
„Sie hauen eine gute Handschrift, Mister …“
„Wie Sie …!“
„Gut, wir sind also quitt … Nach zwei Stunden segeln Sie und Ihr Freund mit Ihrem Kahn nach Süden und lassen sich hier nicht mehr sehen. Das wäre alles, was ich Ihnen zu bestellen hätte von …“ — Zögern … — „von dem „Herrn“ …“
Das „Herrn“ wurde unmerklich betont.
„Außerdem …“ — der Gorilla riß die Augen, so weit dies möglich, groß auf, „wissen Sie wohl, daß die unerlaubte Einfuhr und der unerlaubte Besitz von Waffen hier verboten ist: Zuchthaus!!“
„Kenne ich …“
Gorilla Ewers war hellhörig. — Zuchthaus, von dem ich als Kenner gesprochen, wenn man auch meinen kurzen Einwurf auf den ersten Teil seiner Sätze beziehen konnte, schien bei ihm Erinnerungen zu wecken:
Er kratzte sich die Hüfte, und sein braunrotes Tropengesicht bekam einen sehr widerspruchsvollen Ausdruck.
„Kennen Sie? Woher?“, fragte er gespannt.
„Aus eigener Erfahrung …“ — Auch ich kratzte mich.
Sonnenschein glitt über sein verschlagenes Fuchsgesicht.
„Wo?“, platzte er heraus.
Ich nannte den Namen.
Er lachte verächtlich. „Das muß ein verdammt plundriger kleiner Kasten gewesen sein … — Belegschaft?“
„Zweihundert …“
„Na — immerhin … — Die größeren Hotels kenne ich so ziemlich alle … — — Weshalb?“ Er erleichterte die Priembacke und schaute mich starr an.
„Totschlag …“
„Schade, — — das paßt nicht“, meinte er etwas rätselhaft. „Das sind zumeist Affekthandlungen, und es fehlt das Brauchbare: Die Erfahrung! — Massenmörder wäre mir lieber gewesen.“
Bisher hatte mich dieser Ewers nur seines ungeschlachten Kadavers wegen interessiert. Seine letzten Äußerungen jedoch verrieten so allerlei. Obwohl der muskelstrotzende alte Bursche gar nicht so blutdürstig erschien.
Er nahm die Laterne von dem in die Baumwand geschlagenen Nagel herab, putzte die Scheiben und leuchtete mir ins Gesicht.
Dann schlackerte er den Kopf.
„Aus Ihrer Visage werde ich nicht schlau … Und dabei kann ich Gesichter beurteilen. Wenn die Herren Richter rechtzeitig das Studium menschlicher Züge betreiben wollten, würden sie nicht so oft in ihren Sprüchen im Strafmaß daneben hauen. — Etwa Notwehr?!“
„Ja…“
„Dachte ich es mir doch …!“ Er hängte die Laterne wieder weg und holte aus seiner jetzt sauberen Jacke eine fein geschnitzte Zigarrettendose hervor.
Über uns verklangen draußen die letzten Töne der Unwettersinfonie …
„Bitte … Ich darf Ihnen wohl eine Zigarette in den Mund schieben und anzünden … Ich habe mir auch die Hände gewaschen … Der „Herr“ hat mich mächtig angepfiffen, weil ich wie ein Botokude herumlief … — Kunststück, — wenn man gerade den Motor nachsieht!“
Die diversen bei mir noch vorhandenen Ameisen waren eine ständige Pein.
„Ich danke Ihnen, Mr. Ewers … Würden Sie mir nicht …“, — und ich brachte meine Bitte genau so höflich vor, wie er mir den Genuß einer Zigarette angeboten hatte.
„Einen Augenblick …“, — er überlegte, und seine kantige Stirn bekam Falte neben Falte.
Nach einer Weile zuckte er die Achseln. „Mr. Benson, die Sache ist die … Wir haben heute gerade die beiden Leute eingebüßt, die so ziemlich als einzige von unserer harmlosen Cook’schen kleinen Reisegesellschaft mit einem Schießeisen umgehen konnten… Können Sie schießen, daß heißt treffen? Schießen kann ja jeder … Aber die Kugel wirklich dorthin schicken, wo sie sitzen soll, das ist sehr schwer. Ich schoß mal mit einem Browning auf einen Kater auf dem Dache und traf einen Bobby in die Schulter, das gab drei Jahre …“ Er kratzte sich wieder …
Gorilla war eine Seele von Mensch.
„Ich treffe“, wiederholte ich nur.
„Und Ihr Freund?“
„Auch …“
„Gemacht!“, frohlockte er. „Die anderen werden zwar verdammt dagegen sein, aber der „Herr“ hat hier zu befehlen. Würden Sie sich verpflichten, nichts zu fragen, zu gehorchen und zu schweigen?“
„Nein!“
Er zog die warzige Nase kraus, schob das Etui in die Tasche und erhob sich.
„Also dann — nach zwei Stunden, — — weg mit euch beiden!“, grollte er enttäuscht, schob hinter sich einen Stein zur Seite, kroch durch ein ausgefaultes Loch ins Freie und verkeilte das Loch von draußen mit einem anderen Stein.
All das, was mir hier soeben eröffnet worden, gab mir trotz der Ameisen genügend Stoff zum Nachdenken.
Coo’ksche Reisegesellschaft?!
Schwindel …!
Ich hielt die Bande für ganz gesiebte Abenteurer, und Gorilla Ewers schien so der Adjutant des „Herrn“ zu sein. —
Nicht allzu lange, und der Stein bewegte sich, und eine Frau schlüpfte in das etwas alltägliche Audienzlokal.
Aha — die Dame mit der schneidigen Stimme! Ein Blick in ihr schmales, leidenschaftliches, dunkel getöntes Gesicht, und ich wußte: Südländerin!
„Mr. Benson“, sagte sie hastig, „ich möchte nur eine Frage beantwortet haben…“
„Bitte …“
Ihr grünleinener Sportdreß war fabelhaft schick.
„… Sie flogen von ungefähr in den hohlen Baumstumpf …?“
„Ja … Ihr Scheinwerfer erhaschte mich beim Absturz nicht mehr.“
„Ganz recht … — Was fanden Sie hier vor?“
Sie war nervös, etwas ängstlich …
„Antworten Sie doch! Wer war hier verborgen?“, drängte sie temperamentvoll.
Hinter ihr erschien eine Riesenfaust.
Eine Kollektion von fünf unheimlichen Fingern bekam die Miß beim Kragen zu packen, und ihr Angstschrei verhallte draußen, so blitzschnell wurde sie hinausbefördert …
Gorilla!
Ich mußte lachen — — trotz der Ameisen …
Dann tauchte ein Pomadenscheitel auf, und Mr. Ewers grinste mich äußerst freundlich an.
„Nur gut, daß Sie ihr nichts erzählten“, flüsterte er ehrlich dankbar. „Ich möchte es doch mit Ihnen beiden versuchen … Sie müssen mir nur in die Hand geloben, nichts von dem „Herrn“ zu verraten, den Sie hier leider durch Ihren eiligen Einzug durch den Schornstein überraschten.“
Also das war der … „Herr“ …!
Eine komische Gesellschaft …!
„Gut — — gemacht …!“, nickte ich.
„Und auskneifen werden Sie auch nicht?“
„Nein.“ Da kannte er mich schlecht …
Diese Herrschaften mußte ich unbedingt näher kennen lernen.
Er nahm mir sofort die Fesseln ab, geleitete mich durch das Dickicht zur Laufplanke und schob mich in eine winzige Badekabine am Heck.
„Ihren Koffer bringe ich Ihnen …“
Tat er auch.
Ich zog mich um, dann kam Amed und der Gorilla, der nun wie ein fein ausgeputzter Zirkusaffe ausschaute, riß eine andere Tür auf und meldete großartig:
„Mr. Benson und Mr. Amed Schami, — auf Befehl des „Herrn“ in die Besatzung eingereiht.“
Zunächst wischte ich mir mal die Augen.
Aber das Bild im blendenden Lichterglanz blieb.
Da war eine vornehm ausgestattete Kajüte, eine üppig gedeckte Tafel, und da waren fünf Gentlemen im Frack und zwei Damen in großer Robe, — das heißt also: allerstärkste Stoffersparnis!
Ewers schob uns beide vorwärts, — die Gentlemen erhoben sich …
Aber — — all die sieben Gesichter drückten ärgste Mißstimmung und kühlste Ablehnung aus.
Ewers nahm davon keinerlei Notiz.
„Brillenhengst, noch zwei Gedecke auflegen“, kommandierte er … „Und ihr anderen, macht nicht so blöde Fratzen … Befehl ist Befehl. Hier gilt nur ein Wille, das wißt ihr: Der des Herrn!“
… Ich überflog die Kajüte nochmals …
Etwas fiel mir auf …
Hinten an der Schmalwand stand ein lebensgroßes, grell bemaltes Götzenbild mit einem Sockel, der einen Naturstein nachahmte. Der Götze stellte eine hockende Frau mit halb erhobenen Armen und einem Kopfschmuck dar, wie in Altägypten einst die Isis ihn trug, halb Strahlen, halb Schakalkopf, dazu die Sonnenscheibe.
Aber noch etwas …: Aus den Falten des Gewandes über der Brust rieselte Wasser herab, sammelte sich im Schoße der Göttin und versickerte irgendwo.
Dann stand schon der erste der Gentlemen vor mir: Müde, blasiert, verlebt, grau an den Schläfen.
„Fürst Olgurow …“, näselte er seinen Namen. „Drei Jahre — — Falschspiel, — — bedauerlicher Irrtum der Richter in Nizza …“
Der nächste reihte sich an:
„Emil Schimke, Generaldirektor a. D., zwei Jahre, — — ein Versehen meinerseits, kleine Wechselgeschichte …“
„… Graf Hilgerström, — ein Jahr, — — persönliches Pech … Fremde Juwelen für mein Eigentum gehalten …“
„Lothar Siegfried Borstein, — — drei Jahre, — — irrtümliche Verzögerung einer Konkursanmeldung, — — bis dahin war es stets geglückt …“
„… Edelgar Wallach, — — zwei Jahre, — Versuche hinsichtlich Festigkeit von Panzerschränken … Die Richter hielten es für Einbruch, — die Justiz ist blind …“
Diese Blütenlese von einwandfrei eleganten Kavalieren trat bis auf den näselnden Fürsten zurück, und Olgurow näselte weiter:
„Gestatten — nun die Damen …: Dort Lady Leslie Hamilton, — — drei Jahre, — versehentlich mit vier Schafsköpfen gleichzeitig verlobt … Weiblicher Heiratsschwindel, erklärte ein verblödeter Richter …“
Lady Hamilton war die „scharfe Stimme“ …
„Ich bin Witwe …“, streute sie so nebenbei ein … „Geborene Portugiesin aus den Kolonien.“
So sah sie aus.
Der Fürst wies auf die Wasserstoffblonde unweit der Statue:
„Miß Geraldine Farnasczy — mit czy hinten, — zwei Jahre, — eine Pistole ging zu früh los, ein kleiner Streit zwischen Verlobten … Nach einem Jahr mit Bewährungsfrist ihrem Beruf als Künstlerin wiedergegeben … Deutsche Richter nennen das schwerblütig und verkalkt: Taschendiebstahl und Streit um die Beute … — Ansichtssache …!“
Hierauf deutete er mit äußerst respektvoller Miene auf „Freund“ Ewers …
„… Mr. Fred Ewers, — drei Jahre, auch sonst noch einige Bagatellen … Mr. Ewers wollte einen jaulenden Kater schießen und traf einen Polyp,— Pech …! — Die Geschworenen ließen sich beschwatzen und nahmen Angriff auf einen Beamten während der Flucht an …“
Und etwas herablassend nun den baumlangen Kerl in der Ecke mit dem Kindergesicht und der schwarzen Intelligenzbrille:
„… Mr. Aloys Hengst, — vier Jahre, — — irrtümliches Wegschaffen eines fremden Koffers … — Mr. Hengst hat die Liebenswürdigkeit, hier Koch und Steward zu spielen … — Wir haben also zwei edle Pferde unter uns“, fügte er blinzelnd hinzu … „Mr. Edelgar Wallach und Mr. Aloys Hengst …“
Dann legte er sein schwammiges Gesicht in straffe Falten, richtete sich kerzengerade auf und verneigte sich dreimal vor der Statue.
„…Und dort unser Wohltäter, Kapitän und Herr … — Herr genügt … — Bitte, verbeugen Sie sich dreimal … Es ist hier so Brauch …“
Ich wunderte mich keinen Deut, als von dem Götzen her eine klare, harte Stimme ertönte:
„… Wir wollen uns zu Tisch setzen … Ich eröffne die heutige Hauptmahlzeit mit unserem Wahlspruch: „Nichts fragen, gehorchen, schweigen und gut bezahlt werden …“
Dann erklang aus der anderen Ecke sehr diskret ein Grammophon …
Es war der bekannte Marsch aus „Carmen“:
„Auf in den Kampf, Torrero…“
… Ich wischte mir abermals die Augen.
Das hatte ich nicht erwartet …
Und das erste Glas Wein goß ich auf einen Zug hinab.
… Es war alles in allem wie ein toller Traum.
Neben mir saß Lady Hamilton, links von mir der dekadente Fürst … Die beiden Pferde saßen mir gegenüber …
Die Speisen waren vorzüglich, die Tischunterhaltung leichtflüssig, gewandt, alle Gebiete streifend, — — trotzdem fühlte ich: Über diesen Menschen hier, die eine geheimnisvolle Persönlichkeit Gott weiß wo aufgelesen hatte, schwebte eine ständige stumme Drohung als unsichtbare Wolke …
3. Kapitel.
Die Sternschnuppen fliegen.
Nach Tisch nahm seine Durchlaucht Amed und mich abseits. Wir setzten uns in eine Ecke, und Boris Olgurow erzählte, — — was er erzählen durfte, denn der Gorilla stand dabei und kaute langsam eine Zigarre auf — kaute, nicht rauchte.
„Dja, — meine Herren, das Leben ist ein Würfelspiel“, begann Olgurow und putzte sein Monokel. (Auch Wallach und Borstein trugen Scherben im Auge) … „Wer die richtigen Würfel hat, die mit Bleieinlage, der gewinnt, er darf sich nur nicht erwischen lassen. Daß ich mein Lebtag nie etwas gearbeitet habe, ist selbstverständlich. Unsere in Südrußland ansässige Familie war so reich, daß unsere Güterdirektoren und Bankiers stets als Millionäre sich zur Ruhe setzten. Nach den bewußten Ereignissen war ich der letzte Olgurow, arm, Flüchtling … — Arbeiten?! Meine Herren, mit solchen Händen arbeitet man nicht … Man jeut … — In Nizza hatte ich Malheur … Als ich die staatliche Anstalt, wo ich mich mit Ersinnen neuer Kniffe amüsant beschäftigt hatte, da ein zuvorkommender Arzt mir beginnende Gehirnerweichung bescheinigte, wieder verlassen durfte, begegnete ich Mr. Fred Ewers …“
Der Gorilla brummte: „Ich habe Euer Durchlaucht abgefangen …“
„Gut, — das ist dasselbe … Mr. Ewers warb mich für die Jacht „Carmen“ an … Handgeld hundert englische Pfund … Monatlich dasselbe … Bei Abschluß der Expedition tausend Pfund. — Ich sagte zu …“
Der Gorilla korrigierte: „Euer Durchlaucht mußten mitmachen … Es schwebte noch ein Ermittlungsverfahren …“
Der Fürst wehrte ungeheuer gleichgültig ab.
„Drei, nicht eins, mein lieber Mr. Fred … — Aber unterbrechen Sie mich nicht immer … Ich finde den Faden so schwer wieder. — Wo waren wir doch stehen geblieben? … Richtig, — also ich kam in Algier an Bord der „Carmen“, und so allmählich wurden wir komplett, gingen in See, landeten hier in der Lagune, und heute — — hatten wir die ersten Abgänge. Pardon, verstehen Sie mich richtig, ich bin nicht frivol, der Tod ist eine ernste Sache … Zwei von uns Herren werden heute getötet …“
Daß dieser Russe ein Narr, Komödiant und doch auch eine brutale Natur war, erkannte ich schon aus seinen gelegentlichen ironischen Blicken, mit denen er Amed und mich prüfend streifte.
„… Der Herr hatte befohlen, wir sollten heute die Quelle suchen … — Quelle?! Dort in den Bergen hinter dem Urwald gibt es Dutzende … Endergebnis: Plötzlicher Angriff, die beiden Pechvögel bekamen jeder einen Speer in die Brust, wir anderen schlugen uns durch … Die Toten mußten wir zurücklassen …“
An dem großen Tisch hatte derweil Graf Hilgerström eine Bank aufgelegt, und die Banknoten flogen nur so hin und her.
Der Fürst hüstelte …
„… Das wäre alles … — Meine Herren, Sie entschuldigen mich nun … Auch mein Geld ist echt, und Falschspiel ist hier verboten …“
Er erhob sich, trank noch seine Mokkatasse aus und schlenderte hinweg.
Mr. Fred Gorilla lehnte an der Mahagonitäfelung und kaute die zweite Zigarre hinunter.
In seinem weißen Tropenanzug mit weißen Schuhen, buntem Seidenhemd und gemusterter langer Krawatte um den halbweichen Kragen repräsentierte er dieses Panoptikum gar nicht übel.
Ich fragte ihn vorsichtig:
„Ist das alles wahr, Mr. Fred?“
„Vollkommen … — Der „Herr“ hat seine Auswahl sehr vorsichtig getroffen“, flüsterte der Gorilla undeutlich. „All diese Herrschaften sind tolle Draufgänger, auch die Damen … Und alle mußten froh sein, Europa verlassen zu können … — Bitte — fragen Sie nichts …“, kam er meiner Frage eiligst zuvor. „Ich darf gar nichts sagen, und ich weiß auch nichts … Ich selbst wurde freilich als erster angeworben …“
„Wie?“
Er hob die kolossalen Schultern.
„Bedauere — — verboten. — Falls die Herren noch Likeur oder Mokka wünschen … — Brillenhengst, — — Mokka!!“
Der lange Kerl flog herbei, und dann entfernte Mr. Fred sich, Amed blickte mich lange an und meinte nur:
„Im Vergleich hierzu war der Diamantenfluß eigentlich eine dünne Suppe…“
Ich schwieg mich aus.
Es lohnte nicht, über diese Dinge zu reden, denn — wo sollte man anfangen?! Die spukhafte Phantastik dieser Jacht und ihrer Besatzung war zerronnen, wir standen hier vor nackten Tatsachen, die Leute waren sämtlich Gescheiterte, man brauchte sie nur beim Spiel zu beobachten, die Leidenschaft für die bunten Kartenblätter hatte von ihren Gesichtern die dünnen Masken vornehmen Getues immer mehr abgestreift, die Augen blinkten in anderem Licht, jede Beherrschung der Züge schwand, und unter der Wolke von Zigarren- und Zigarettendunst griffen flatternde Hände nach leichtem Gewinn oder nach den verdeckten Karten, um sie mit verkrampften Munde zu prüfen, was Göttin Fortuna ihnen an Chancen beschert hatte.
Trotzdem bemerkte ich, daß diese Außenseiter dort jedes laute Wort vermieden.
Und ich gewann von neuem die Überzeugung, daß sie nie das Gefühl verloren, dauernd kontrolliert zu werden und daß … die Furcht vor dem „Herrn“ ihnen im Nacken saß.
Es war ein völlig neuartiges Erleben für mich, und das Bild da vor mir hatte seine Reize und seinen prickelnden Ansporn, dem Geheimnis dieser Jacht irgendwie auf den Grund zu kommen.
Es war jetzt drei Uhr morgens.
Über der Statue drüben hing ein Schiffschronometer.
Die Zeit war dahingeflogen.
Hatte ich wirklich über eine Stunde stumm gesessen und Studien gemacht?!
Drei Uhr …
Die Tür nach dem schmalen Gang hin öffnete sich, Fred trat ein …
Sein Baß übertönte das heisere Wispern der strohblonden Miß Geraldine, deren junges Gesichtchen ohne Schminke und Puder recht anziehend gewesen wäre.
„Schluß jetzt, — — Befehl des Herrn!!“
Ein paar Köpfe schnellten in flüchtiger Auflehnung hoch, andere senkten sich sofort.
Ich merkte mir die Widerspenstigen. Es konnte nichts schaden, wenn man über die Charaktereigentümlichkeiten rechtzeitig orientiert war. Fürst Olgurow hatte sogar die Karten wütend auf den Tisch geworfen, wahrscheinlich hatte er gerade sehr schlechte erwischt, und außer ihm waren es noch Lady Hamilton und Herr Emil Schimke, die aus ihrem Ärger über ihre Bevormundung kein Hehl machten. Die übrigen schauten scheu nach der bunten Statue hin, schwiegen, und in wenigen Minuten war die Kajüte leer.
Bis auf uns vier: Amed, Fred Ewers, Aloys Hengst und mich!
Fred hatte hinter dem letzten mit feierlichem Bückling die Tür geschlossen. „… Gute Nacht, Euer Durchlaucht …“
Der Bückling war natürlich der reine Hohn. Der Gorilla hatte vor Olgurow etwa so viel Respekt wie ein Gefängnisaufseher von strotzender Kraft vor einem Zelleninsassen, Hochstaplertyp mit einigen sportlichen Neigungen.
„Mr. Benson“, wandte er sich in mehr vertraulichem Tone an mich, „Sie beide müssen wegen Platzmangel hier schlafen … Wir werden Ihnen ein Segel vor diese Ecke spannen, und Brillenhengst sorgt für zwei Schlafmatratzen und Zubehör … Sie sind doch hoffentlich einverstanden? Während wir hier lüften, können Sie sich ja noch an Deck die Beine gelenkiger machen … Sie würden uns damit überhaupt einen Gefallen erweisen, damit die Jacht nicht ohne Wache bleibt … Ihre Waffen hole ich sofort … Sie sehen, wie sehr der „Herr“ Ihnen vertraut, und Sie werden dieses Vertrauen nicht enttäuschen, sonst … würden Sie beide mir ehrlich leid tun, und die Krokodile in der Lagune hätten ihren Schlemmertag …“
Sein braunrotes Kürbisgesicht nebst rotem Wollvorhang, Bart genannt, grinste gemütlich, — ich nickte nur, die Sache mit den Krokodilen war in jedem Falle abgetan, und Amed und ich stiegen die kleine Treppe hinan.
Alle Wunder der Tropennacht empfingen uns draußen. Das Gewitter hatte sich verzogen, sternenklarer Himmel funkelte über uns, die Mondsichel hing wie eine riesige Apfelsinenscheibe über den fernen Bergen, die Lagune spiegelte das Firmament wieder, zehn Meter vor uns lag der tote Mango wie eine Baumbrücke in der schillernden Flut, und vom Außenstrande her kam das unermüdliche Grollen der Brandung des Indischen Ozeans …
Zauberdüfte belebten die fast stille Luft, alle Pflanzen, Blüten, Büsche feierten den belebenden Segen des warmen Regenbades durch verdoppeltes Ausströmen ihrer vielfachen Gerüche, über dem Wasserspiegel tanzten die Milliarden von Mücken in wechselnden, schleiernden Formen, am Rande der Lagune, täuschten Ketten und Klumpen und Wölkchen von Leuchtkäfern die Lichter stiller Ortschaften vor, und mit pfeifendem Zischen oder heiseren schrillen Tönen jagte das vielgestaltige Volk der Flattertiere seine Beute …
Sonst friedvolle Stille …
Wir standen am Heck, wir beide, und der große Schweiger Amed Schami, einer jener schmalbrüstigen, schmalhüftigen reinblütigen Inder mit fast kaukasischem Gesichtsschnitt, begnügte sich wie ich mit einem jede Einzelheit umfassenden Rundblick, — die Einsamkeit hier senkte sich über unsere aufgepeitschten Seelen hinab wie die segnende, beruhigende Hand einer Gottheit.
In dieser Reinheit, Unberührtheit und Taufrische des nächtlichen Bildes lag es wie ein Ausgleich zu den ungehemmten Instinkten der moralisch aus geordneter Bahn geworfenen Bewohner dieser Planken, auf denen wir, frei von dem krankhaften Odem der mit Menschendunst und faden Gerüchen erfüllten Kajüte unten, das benebelnde Gift der letzten Stunden wieder aushauchen in die warme, würzige Tropennacht.
Amed Schami hatte sich mir bedächtig zugewandt. Sein Profil stach von der dunklen Bläue des flimmernden Himmels in scharfen Umrissen ab, und zu meinem Erstaunen fuhr die rechte Hand, wie einem fremden Zwange gehorchend, in die Öffnung des leichten Hemdes und nestelte an der Brust das kleine Ledertäschchen los, in dem Amed, ein gläubiger Hindu, die Kennzeichen seiner hohen Kaste trug.
Er war Brahmane. Sein Beruf als Seemann hatte es ihm viele Jahre unmöglich gemacht, all die zahllosen religiösen Vorschriften streng einzuhalten, und sein mehr internationaler Einschlag, der ihm als Dampferkapitän allmählich etwas selbstverständliches geworden, hatte die Eigentümlichkeiten seiner Kaste noch mehr in den Hintergrund gedrängt.
Schweigend, den Blick der großen dunklen Augen starr auf die nahe Wand der Urwälder gerichtet, in den Zügen etwas ungewohnt Gespanntes, band er sich die weiße Brahmanenschnur um den Hals und murmelte dazu die feierlichen Gebete.
Ebenso stumm befeuchtete er die kleine Scheibe weißen Flußtons aus dem heiligen Ganges mit Speichel und rieb sich die Stirn über der Nasenwurzel einen weißen Farbfleck.
„Schami?!“
Er hörte nicht …
Ein Windstoß fuhr über die weite Lagune, und eine riesige silbrig schimmernde Mückenwolke flatterte näher und wuchs nach oben und nahm die Gestalt eines Menschen mit schleppenden Gewändern an.
Ich beugte mich vor …
Schamis Pupillen waren starr und ohne Empfindung. Ich hatte meinen Finger über seine Augen streifen lassen, — er wich nicht einmal zurück.
Mir ist das Verständnis oder auch nur das Gefühl für alles, was an Übernatürliches grenzt, völlig fremd. Der Aberglaube meiner Kollegen, als wir die gefährlichste Strecke des Jungfrau-Tunnels sprengten, erheiterte mich nur, wenn ich auch schwieg und nicht lächelte. Es waren Männer darunter, die einen Namen hatten, — von dem gewissen kleinen Aberglauben konnten sie sich nicht freimachen und streichelten heimlich ihren Talisman vor jedem Sprengschuß, der unser ganzes Werk vielleicht vernichtete, da wir auf Gaskammern im Gestein gestoßen waren. Der eine führte eine Locke seiner Frau als Talisman mit sich, der andere ein Zähnchen seines Kindes, der dritte ein Heiligenbild, ein vierter gar einen getrockneten Schlangenkopf.
Auch die Technik ist nicht erhaben über die volkstümliche Mystik.
— Schamis Zustand, das sah ich, war Katalepsie. Die Wissenschaft doktert an diesen Zuständen mit gelehrteren Namen herum, — es bleibt stets das gleiche.
Und doch empfand ich hier — seltsam genug — dasselbe unbestimmte, unsichtbare Wehen von schwarzen, unsichtbaren Fittichen wie vorhin während der ersten Mahlzeit unten in der Kajüte.
Etwas unnennbar Drohendes lag in der Luft, etwas niemals Greifbares, — — Vorahnung kommenden Unheils nennen es wir Menschen, geben uns zufrieden mit dieser Deutung, und tun klug daran.
Meines Freundes Schami Augäpfel drehten sich immer mehr aufwärts, bis nur noch das Weiße sichtbar war.
Die Wangenmuskeln hatten sich so straff zum Kinn gespannt, als ob unter der Haut dicke Schnüre sich hinzögen.
Sein Mund war halb geöffnet, seine linke Hand umkrallte leicht gebogen die heilige Schnur seiner Kaste.
Mich selbst packte eine eigentümliche dumpfe Gleichgültigkeit gegenüber den Vorgängen der Außenwelt, — für mich auch etwas völlig Unbekanntes.
Es war wie ein Abgesperrtsein von den tatsächlichen Lebenserscheinungen ringsum, — es mochte all das auf die wirren Eindrücke der letzten Stunden zurückzuführen sein, die mir, dem begeisterten Naturfreunde und noch begeisterteren Verehrer urwüchsiger, ursprünglicher Naturmenschen, des Daseins dunkelste Seite gezeigt und mir die hochgepriesene Zivilisation weder einmal zur elenden Maske geformt hatten.
Der Druck dieser Stunden war Belastungsprobe für mich selbst gewesen, — Fesseln waren mir gewachsen …
Jetzt rissen sie …
Mit einem jähen, fühlbaren Ruck …
Das Fremde glitt von mir ab …
Ich war ich…
Und dieser alte Olaf Karl, Weltentramp und selbst Geächteter, hatte dort drüben von den Ästen des schwimmenden Mangos nur ein leichtes Aufblinken bemerkt …
Nichts mehr…
Es hätte ein Glühwürmchen sein können…
Die jäh erwachten Augen sahen, erkannten anderes: Metall, im Sternenlicht gleißend …
Und schon kam es herbei wie eine ganz tief ihre Bahn ziehende Sternschnuppe …
Blitzschnell …
Zu schnell …
Und der brutale Griff, der den Freund hinter die eiserne Reling riß, geschah um Sekunden zu spät …
Über meinem Haupt hinweg sausten die anderen Sternschnuppen, bohrten sich in die Deckplanken.
Der eine Speer hatte Amed Schamis Herz getroffen.
In meinen Armen lag ein Toter, ein friedlich und weise und erlöst Lächelnder.
Dann — wie ein lauteres, rollendes Echo: Schüsse …
Dicht neben mir …
Dicht neben mir auf dem Kajütdache lag ein Etwas, in farbige Seide gehüllt …
Die Haremsfrau…
Der… „Herr“…
Und seine Winchesterbüchse spie Kugel um Kugel in das dunkle Gezweig des toten Mango, der nur mehr eine Balkenbrücke mit einigen Ästen im weiten Blumenfelde der Lagune war.
Schuß um Schuß fuhr aus der Mündung …
Drüben splitterte Rinde, drüben knickten Äste, — surrend fauchten die Querschläger ins Nichts wie Riesenbremsen …
Die Lagune, der Urwald beteiligten sich …
Wasservögel schossen in Schwärmen hoch, an den blauschwarzen Rändern der Wildnis rollten Echos, — — Affenvölker wurden mobil, Papageien erhoben sich in wirrem Getümmel über die Baumkronen und strichen davon …
Die Umwelt war mit mir erwacht …
Aber Schami war tot, und als ich den Speer aus seiner Brust zog und alle Muskeln dazu spannte, kam es mir wie Schändung vor …
Und — anderes kam mir: Die bittere Erkenntnis, daß ein stiller Weiser seinen eigenen Tod in stiller Ergebenheit erwartet hatte.
Der Speer fiel auf die Planken, und Amed Schami ruhte daneben, den gebrochenen Blick gen Osten gewandt — seiner Heimat zu.
Leben den Lebenden …
Und daher — ein Griff nach der Büchse, ein Blick über die Reling …
Die Lagune, der Urwald, die kleinen Inseln, — — die sah ich, vom heimtückischen Feinde nichts …
Ich schaute seitwärts.
Das Kajütendach war leer …
Aber aus dem Treppeneingang brach es nun hervor wie eine Woge geschmeidiger bunter Katzen.
Voran der Gorilla.
Hinterher die gierigen Spieler, die Verfehmtem, — nicht mehr die sinnlos das Geld auf schnödes Kartenglück setzenden Narren, nein, — Kerle wie die Leoparden in ihren bunten Schlafanzügen, zwei Weiber dabei, nicht mehr geschminkte Puppen,— Amazonen mit fliegenden Haaren in losen hellseidenen Hosen und flatternden Jacken …
Die Garde des „Herrn“ …
Doch keine läppischen Pseudo-Abenteurer, wie ich sie eingeschätzt …
Nein, — Menschen mit dem großen wilden Zug der Kampfnaturen, kein feiges Gelump, das nur stehlen und betrügen kann.
Wie ein Panther schnellte sich der Fürst neben mich …
Fragte eiskalt:
„Wo?“
Und warf nur einen flüchtigen Blick auf den Toten.
Wo?!
„Im Mango — in den Zweigen …“
Ein anderer dieser tollen Kerle sprang schon hinab ins Boot mit nackten Füßen, — Herr Schimke, der Wechselschieber …
Schuhe fehlten …
Monokel war da …
Und das Beste auch: Der Rausch des Erlebens!
Ich sah es ihm an …
Und schnellte über die Reling, fiel neben ihn.
Da schrillte die scharfe Stimme der Lady Hamilton auf:
„Vorsicht … Pfeile …!“
Schimke preßte mich nieder hinter die Bootswand …
„Wollen Sie vielleicht Ihren Blinddarm anspicken lassen!“
Und er sagte das mit demselben eisigen Zischen eines Entflammten und doch kalt Berechnenden.
„… Ducken Sie sich …! Da haben wir den Salat!“
Er sprach plötzlich deutsch …
„Getroffen, Benson?“
„Nur der Oberärmel …“
„Schwein gehabt, mein Junge! Die Schufte schießen mit vergiftetem Dreck …“
Und sein Messer schlitzte den Stoff auf …
„Keine Wunde, — — seien Sie froh! Diese Ikarisi sind böse Kräutchen …“
Klatsch …
Im Bogen sauste ein Pfeil in das eine Sitzbrett …
Von der Jacht jetzt ein wildes Geknatter …
Die helle schneidige Stimme der Lady gab das Ziel an …
„Hinter dem Mangostamm hocken sie in den Kähnen …!“
Ich hob den Kopf …
Schreie bellten auf …
Todesschreie …
Ich selbst feuerte kniend … Der Fürst brüllte uns zu:
„Hier die Riemen … Ich werfe das Tau los!“
Er sprang hinterdrein …, stieß mit dem Bootshaken ab …
„Den Burschen werden wir Beine machen …! — Hallo, Benson, — das saß …!“
Ein neuer spitzer Schrei flackerte auf …
Erstarb in einem Wimmern …
Ich sah, daß der Mango sich gleichsam spaltete …
Ein langes Kanu löste sich aus dem Schatten der Zweige, und geisterhaft flog es davon über die flimmernde Flut, eigentümlich hochbordig, und nicht ein Kopf sichtbar, nicht einer, — nicht ein Ruder.
Der Fürst war sprachlos.
„Benson, begreifen Sie das?!“
Ob ich es begriff! Ich brauchte nur an meine zerschundenen Hände zu denken und an das Floß der Leidenschaften.
„Die Kerle haben das Kanu an einem Tau, und drüben im Walde wird gezogen, Olgurow …!“
Wechsel-Schimke fuhr uns grob an:
„Feuert, — quasselt nicht!“
… Wieder deutsch …
Feuern?!
Nach dem zweiten Schuß gab ich es auf.
„Zwecklos! Eisenplatten! — Da — — hören Sie den Kugelaufschlag?!“
Olgurow nickte. „Mir zwar unverständlich … Immerhin: Ein Panzerkanu! Kein schlechter Witz. Wenn ich das dem Doktor in dem Staatshotel, das ich beehrte, erzählt hätte, würde er einen Grad zugelegt haben: Gehirnerweichung zweiten Grades!“
Wechsel-Schimke ruderte wie ein Besessener.
Der Fürst putzte sein Einglas.
„Herr Generaldirektor, weshalb spielen Sie Schwerarbeiter?! Der Kahn hat bereits vierzig Meter Vorsprung. — Herr Benson, zufällig eine Zigarette zur Hand?“
Der Russe hatte Nerven und hatte keine Nerven …
Hier hatte er keine. Am Spieltisch ja.
Hier gefiel er mir…
„Bitte …“
Auch Emil Schimke ließ die Riemen schleifen.
„Der Bogen um den verdammten Baumkadaver war zu weit“, meinte er achselzuckend. „Im übrigen eine ganz nette Nacht … Erinnert mich lebhaft an meine Verhaftung … — Sie gestatten, Mr. Benson … Eine Zigarette rauchte ich auch damals, als ich vor dem Polizeiauto in meinem Mercedes auskniff — auch nachts … Drei Stunden hetzten sie mich … Polizeifunk alarmierte ganz Magdeburg … — Kennen Sie das Städtchen? Tilly hat es mal niedergebrannt … Lange her … Schade, daß er es nicht total absengte … In Magdeburg schossen sie mir die Pneus kaputt, und mein Wagen sauste in einen Konfitürenladen … Als ich die Handschellen dankend entgegennahm, kaute ich noch schnell eine Praline … Es war das letzte für lange Zeit …“
Der Fürst blies Schimke den Rauch ins Gesicht.
„Schwätzer! — Mr. Benson, das ist nämlich Schimkes einziges Erlebnis … Während des Krieges wohnte er in Holland …“
„Und Sie?!“, fragte Schimke ironisch.
Olgurow wehrte mit einer unnachahmlich hochmütigen Handbewegung ab.
„Lassen Sie das, Herr General … direktor … An mir haben die Pflasterschmierer mehr Nähseide verbraucht, als Miß Geraldine zu einem ihrer Abendkleider braucht. — Mr. Benson, finden Sie nicht auch, daß wir mit den Preisen aufschlagen müssen?“
Ich verstand ihn zunächst nicht.
„Ich meine, für diese Sorte von Expedition bezahlt der „Herr“ zu wenig … Ich bitte Sie, was sind hundert Pfund monatlich bei dem Risiko?! Gegen ehrliche Kugeln habe ich nichts, aber Giftpfeile, Speere, Wurfkeulen und ähnliche vorsintflutliche Instrumente!! Geradezu unvornehm!!“
Schimke trudelte unser Boot gemächlich rückwärts.
Er nahm Olgurows Idee begeistert auf.
„Stimmt, — bei dem Risiko!! Der „Herr“ muß hundert zulegen, oder wir streiken …“
Sein hageres Sportgesicht und der blonde gelichtete Scheitel ließen auch Wechsel-Schimke ungeahnt vornehm erscheinen.
„Legen Sie weniger Wert auf Zulegen, sondern legen Sie mal an dem Mango an“, bat ich den verkrachten Wechselreiter. „Vielleicht hängt in den Zweigen ein Toter … Ich möchte …“
„… für die Krokodile sorgen, weiß schon“, — und Schimke drückte das Boot herum.
Er wußte gar nichts.
Ich hatte anderes im Sinn … Das Panzerkanu hätte mich nicht sofort stutzig gemacht. Aber die Pfeile, die im Boote lagen, sahen mir zu zivilisiert aus.
Darüber schwieg ich …
Wir fanden keinen Toten … Nur ein totes Krokodil … Es war mit Augenschuß emporgeschnellt und zwischen den Ästen verendet.
— Eine halbe Stunde darauf lag die „Carmen“ mitten in der Lagune vor Anker, und der kleine stämmige Wallach und ich teilten uns in die Deckwache.
Daß Miß Geraldine einen Speer in die linke Wade bekommen hatte, schmerzte den Wallach am allermeisten.
Leben den Lebenden …!
Amed war hinübergegangen in seinen etwas komplizierten Himmel. Der Brahmanismus mit seinem Glauben an die Seelenwanderung ist etwas sehr Poetisches … Vielleicht war Schamis Seele jetzt in den Leib eines jungen edlen Rosses gefahren …
Ich fand mich damit ab.
Aber meine Stimmung blieb ernst trotz Edelgar Wallachs ehrlicher Trostworte. Dieser Künstler im Geldschrankknacken hatte sich trotz seiner dauernden Beschattiung mit Stahl ein sehr weiches Gemüt bewahrt.
Er war der dritte der Tafelrunde, den ich — außer Fred und Brillenhengst — näher kennen lernte.
4. Kapitel.
Die kleine Angeline.
Wir saßen im Morgengrauen auf dem Dach der Heckkajüte, und Wallach erzählte:
Er schaute das Leben mit seinen Augen an.
„ Mr. Benson, wir internationalen Gebläsekünstler haben es sehr schwer … Die Technik schreitet fort … Mit Läppereien habe ich mich nie abgegeben … Man sollte die Panzerschrankfabriken schließen … Ich bitte Sie, wenn zum Beispiel die Großbanken ihre Tresore sogar mit infraroten Strahlen sichern …!! Wo soll da unsereiner noch sein Auskommen finden?! Wir können doch nicht noch Physik und Chemie studieren und etwa den Doktor machen?!“
Der Gebläsekünstler drehte sich eine frische Zigarette.
„ Die Technik zwingt mich noch, den Beruf zu wechseln … Mit fünfunddreißig ist das sehr schwer. Graf Hilgerström, der mehr für leichte Tätigkeit in der Juwelenbranche ist, hat mir ja gewisse Vorschläge gemacht … Aber … — Pardon, hören Sie zu?“
„Nein …“
„Was tun Sie denn?“ Er war nicht empfindlich.
„Ich stelle fest, daß all diese Pfeile Fabrikarbeit sind, Herr Wallach …“
Der dunkelhaarige Gentleman staunte.
„Sie haben recht“, entschied er … „Das sind Pfeile, die auf Bestellung mit dieser Art Eisenspitzen gefertigt wurden …“
Ich legte das Bündel Pfeile wieder abseits.
„Erzählen Sie mir doch mal Näheres über den gestrigen Überfall droben in den Bergen. Sahen Sie die Angreifer?“
„In dem Dickicht? — Nur Schatten … Aber es waren Ikarisi-Krieger … Die Bande trägt den Schädel rasiert und nur in der Mitte eine Skalplocke wie die seligen Indianer.“
Trotzdem kam ich von dem Gedanken nicht los, daß wir es hier nicht mit Madagassen zu tun hätten. Die Pfeile gaben zu denken und das Panzerkanu noch weit mehr.
Inzwischen hatte sich bereits das Zwielicht des nahenden Tages über die Lagune ausgebreitet, die Tierwelt hatte ihre Nachtruhe beendet, es wurde immer lebhafter ringsum, und auf unserem Mango drüben — jetzt hundert Meter entfernt — saßen fünf prächtige Reiher und schielten ins Wasser …
Urplötzlich strichen sie kreischend davon.
Mein Gefährte, gewitzigt durch seinen schweren Beruf, wurde mißtrauisch.
„Da stimmt etwas nicht, Mr. Benson …“
„Das stimmt …“ — All diese Gentlemen hatten ihre besondere Art trockenen Witzes. — Ich machte auch dabei mit.
„… Und weil dort etwas nicht stimmt, werde ich hinüberrudern …“, erklärte ich weiter. „Es ist jetzt hell genug … Sie können die ganze Lagune überblicken …“
„Und Sie werden zu viel Morphium eingespritzt bekommen. — Bleiben Sie hier!“
Er war ein guter Kerl und aufrichtig besorgt.
Mr. Benson hätte die Warnung vielleicht beachtet.
Ich?!
Soeben hatten zwei Kraniche den Mango für Sekunden als Sitz erkoren.
Strichen ab …
Das genügte mir.
Ich nahm meine alte wackere Snidersbüchse und sprang ins Boot.
Gerade da tauchte Mylady auf.
Erstaunlich frisch, schick, graziös-kraftvoll.
Das blauschwarze Haar war frisch gewellt, der Patronengurt frisch gefüllt … Die Augen strahlten vor Unternehmungslust.
Wirklich: Ein Panoptikum, diese Jacht!
„… Morgen …“, grüßte sie kurz. „Wohin, Mr. Benson?“
„Allein nach dem Mango … allein“, betonte ich.
Ihre großen Augen wurden argwöhnische Sehschlitze.
„Sie bleiben!“
Das war der herrische, schneidige Ton, den ich kannte.
„Sie bleiben!! Die Geschichte hier ist nicht ganz geheuer, und Sie sind es auch, Mr. Benson! — Lassen Sie gefälligst Ihre Büchse liegen, oder es knallt von mir aus.“
Das war ernst gemeint.
Die Frau hatte ein Gesicht, das Männer toll machen mußte: Edelunkraut!
Kein Wunder, daß sie ihre zahllosen Verlobten arg ausgesogen hatte, vielleicht, ohne sich selbst etwas zu vergeben.
„… Sie und Ihr nunmehr toter Freund Amed wissen vielleicht, wo die Pfeile hergestellt wurden“, sagte sie infam anzüglich. „Mir scheint, daß hier ein übles Konsortium in der Verkleidung von wilden Eingeborenen nach denselben Goldfischen angelt, wie unser sogenannter „Herr“ …“ Sie hüstelte schnell, und den jäh neben ihr auftauchenden Gorilla traf ein Blick, der eine Schlange verscheucht hätte.
Fred Ewers spielte zunächst mal Feuerwehr, aber über die Reling hinweg. Dann orgelte er mit verfänglicher Höflichkeit:
„Mylady, den Mr. Benson wollen wir hier aus dem Spiel lassen … Und nun gar noch der Unsinn mit gefärbten Ikarisi! Das mag ja mal in ollen Schmökern, in denen das Skalpieren auf jeder Seite dreimal eine Gänsehaut beim Leser gratis hervorrief, oder in Spionageromanen, die natürlich alle „eigenes Erleben“ und von A bis Z Erstunkenes und Erlogenes darstellen, ganz hübsch für ein Babygemüt gewesen sein. Aber hier?!“
Herr Gebläsekünstler Edelgar, dem seine Eltern mit dem Vornamen Edelgar, aus Edgar gereckt, ein sehr zweifelhaftes Dauergeschenk mit auf die dunklen Daseinspfade gegeben hatten, erlaubte sich zu bemerken, daß ich offenbar zu derselben Ansicht gelangt sei.
Fred schlenkerte überrascht mit den Affenarmen.
„Was Deibel?! Sie auch, Mr. Benson?!“
Er suchte in Tonfall und Stimme recht viel respektvolle Teilnahme hineinzulegen, die mehr Freund Amed als mir galt. Ich war der trauernde Hinterbliebene, und meinetwegen hätte er sich nicht derart anzustrengen brauchen. Amed Schami war den schönsten und schnellsten Tod gestorben, den ein Mann finden kann, — besser als Siechtum oder jahrelanges Hinwelken. Das hätte zu Schami so gar nicht gepaßt. Er war mir lieb und wert gewesen, und jetzt?! War er nicht zu beneiden?! So, wie er starb, im Glauben an ein neues Leben und an eine endliche Einkehr in seinen Himmel, verlor der Tod alles Erschütternde. Ein Licht erlischt, gleichzeitig flackert irgendwo ein neues Lichtlein auf: Wohl dem, der so hinübergeht!
— Gorilla war auch nicht für viele Worte.
„Also dann rudern Sie, Mr. Benson … Aber stecken Sie die Nase nicht allzu weit vor … Die Pfeile sind vergiftet …“
„Keine Sorge …“, — und das Boot flog auf den Mango zu, wo es leicht gegen den Stamm schrammte.
Gerade da brach die Sonne durch, auftauchend aus dem Dunst der Meeresferne, hinüberlugend über die zarten Schleier des Horizonts, — mit einem Schlage gewann die Landschaft ein anderes Aussehen.
Ich zog die Riemen ein.
Ich wußte schon, wo ich suchen mußte.
Die davonstreichenden Vögel hatten mir die Spur gewiesen.
Als ob die ersten Sonnenstrahlen jede Müdigkeit der durchwachten Nacht verscheucht hätten: Wie der Tau auf den Blättern und die Perlen der Regentropfen in den wunderholden Blüten der Wasserrosen im Frühlichte funkeln, als wären es frisch geschliffene Diamanten, nicht anders fühlte ich in Herz und Muskeln jenes berauschende Prickeln unverbrauchter Kräfte und Sinne, die hier mehr denn je nach Betätigung lechzten!
Hier …!!
Wieder einmal hatte das Geschick mich von ungefähr auf einen Nebenpfad der großen Heerstraße des Alltags geführt, mitten hinein in eine bunte Gesellschaft von Nichtalltäglichen und Nichtalltäglichem, und ich war dankbar wie immer dafür.
Dankbar schon als Knabe, wenn die holde Sommerferienzeit uns gestattete, auf einer der Schären - Inselchen meiner schwedischen Heimat halbecht Robinson zu spielen und ich die Eltern tagelang nicht zu Gesicht bekam. Waren das Zeiten, waren das Wunder, — und war das ein beklemmender Druck für die Kinderseele, die dem Lichte und der Natur entgegenjauchzte, wenn mein weltfremder Vater, eingesponnen in die Leere seiner Bücherweisheit, plötzlich sich auf seine mißverstandene Pflicht besann und … mich zurückholte in ein gesittetes Leben, — was er darunter verstand. Braungebrannt, gesund, aber heulend vor Grimm stand ich dann vor meiner Mutter, die mir sanft den Struwelkopf streichelte und die ein so unsagbar wehes Lächeln um die Lippen hatte. Aus dem frohen Berlin war sie gekommen, und nie war sie heimisch geworden in dem alten Hause am Hafen in Malmö, in dem der muffige Dunst der Tradition eines einst reichen Patriziergeschlechtes die Brust beengte.
Hier, — die sonnige Lagune, der Urwald, draußen das grollende Meer, und dazu die Überfülle von Getier dieses entlegenen Erdenwinkels.
Das war Freiheit, das dehnte die Brust, und die Lungen sogen die würzige Luft ein bis zum Bersten …
Das ist Leben.
Ist es nicht genau derselbe Lebenshunger, dieselbe Naturfreude, die den Großstädter hinaustreiben aus dem Gestank seiner Wohnkäfige in die Wälder und auf die Flüsse und Seen mit leichtem Zelt, mit Kochtopf und billigem Proviant? Sind nicht die Zeltstädte an den Peripherien wasserreicher Metropolen genau dieselbe Sehnsucht nach Rückkehr zur Natur, nach der Freiheit der grünen Bäume und Büsche, nach der Freiheit der plätschernden Wellen und des sanft wogenden Röhrichts?!
Und hier noch dazu?!
Hier die Abkehr vom Alltag: Das Abenteuer als Geschenk!
Hier die schmucke Motorjacht, bunt betupft, dazu eine Besatzung, deren noch größere Buntscheckigkeit für die Zukunft so allerlei verhieß.
Und ein Kapitän, ein „Herr“, der sich nicht zeigte, der die Idee des großen Götzenbildes, seines Verstecks, in noch phantastischerer Form zu neuem Leben erweckt hatte aus ungezählten Romanen …
Und ein Endzweck des Ganzen, der mir fremd. Denn was wußte ich hierüber? Nichts! Wußte nur, daß gestern diese erlesene Schar von Edelbanditen tapfer ausgezogen war, eine „Quelle“ zu suchen!
Quelle?!
Sprudelte nicht auch aus der Brust der imitiert altägyptischen, etwas stilwidrigen Kolossalstatue klares Wasser und plätscherte sanft herab in den Schoß der Isis? — Nun gut, sagen wir Isis… — „Herr“?! Ich hatte die Stimme des Herrn nicht aus einem feurigen Busche vernommen, sondern in der Baumhöhle des Mangostumpfes. Ich fragte mich, als ich nun das Boot ankettete, um die Ursache der eiligen Vogelflucht zu ergründen: War die Frau mit dem vorgeklebten Bart, die mich so erschrocken angeschaut hatte, nur aus Neugier in die muffige Baumhöhle geraten? Hatte sie, die doch an Bord der „Carmen“ so trostlos einsam lebte, einmal frische Luft schöpfen wollen und war auf der Insel hin und her geschritten, da ja ihre seltsame Garde doch unterwegs?!
Und — führte dies nicht zu dem überzeugenden Schluß, daß sowohl der Gorilla wie der Brillenhengst die Frau genau kannten?!
Wer war es?
Was wollte sie hier?
Reich mußte sie sein …!
Wer wie sie — wahrscheinlich durch Fred Ewers — aus Europas Staatsgefängnissen ein so treffliches Gemisch von Exsträflingen sammeln läßt, wer diese kleine, seetüchtige, moderne Jacht sein eigen nennt, muß über Geld verfügen.
Aber — war da nicht ein Widerspruch?
… Ich saß noch immer auf der Ruderbank …
Büchse über den Knien …
Augen wach, Ohren gespitzt …
Die Gedanken blieben doch an dem Rätsel dieser Isis haften. — Widerspruch? — Welche Frau, die so leicht das Geld hingibt für so eine weite Expedition, die doch alles in allem ein Vermögen verschlungen haben mußte, wird so abenteuerlichen Neigungen folgen und eine Quelle suchen?
Was wollte diese der Stimme nach blutjunge Frau hier?
Eine weiche Traumstimme war es im Baumstumpf gewesen …
Aus dem Munde der tönenden, vergoldeten und auch sonst grell bemalten Isis war die Stimme freilich mit aller Schärfe hervorgedrungen. Trotzdem, es war dasselbe Organ, und ich stellte mir den „Herrn“ nun einmal sehr jung, sehr rassig, sehr klug und — — echt weiblich vor.
Stimmen verraten mehr als das Auge.
Augen als Seelenspiegel, — — kein größerer Bluff ward je der kritiklosen Menge von weltfremden Poeten vorgesetzt.
… Und das alles glitt mir so durch den Sinn wie eine Vision …
Ungewollt …
Und ich hatte doch anderes vor:
Mein Boot schaukelte am dicksten Ende der durch die starken Äste gestützten Baumbrücke. Der tote Mango lag etwa fünfzehn Zentimeter über dem Wasserspiegel fast wagerecht.
Noch fünfzehn …
Wie lange noch?! — Die Flut setzte bereits ein. Das Wasser stieg auch in der Lagune, die ja mehrere schmale Durchschlüpfe zur See hatte. Noch zwei Stunden, und du ertrinkst, mein Freund! Oder ihr ertrinkt, falls ihr da zu mehreren in dem hohlen Stammende steckt, das ich gerade vor mir habe — ausgefault, morsch — — wie eine Brunnenröhre.
Warten, bis die Flut dort eindringt?!
Nein … — Und deshalb — Kopf gesenkt — freundliche Aufforderung:
„Kommt heraus!!“
Ganz freundlich …
Weshalb nicht?! Die Burschen hatte ich ja sicher …
„Kommt heraus!!“
Nichts rührt sich …
Der Stamm hat Löcher, wo der Orkan die Äste abrupfte wie Grasbüschel.
Vier Löcher …
Man schaut hindurch, hinein …
Die Sonne sendet ihre Strahlen in das Dunkel. Der feurige Ball im Osten ist höher geklettert.
„Kommt heraus!!“ — Schon etwas ungeduldiger …
Ich halte die Pistole bereit …
Die Löcher da können auch zu Schießscharten werden.
Gift bleibt Gift, und die Schlangengifte der Bergvölker Madagaskars gaben den Herren Professoren zu raten auf.
Dann sehe ich etwas …
Das Etwas hat braunschwarze Haare, die dick mit Baummehl bestreut sind.
Mensch?! — Nein …
Mein Büchsenlauf fährt in das Loch, und der Büchsenstoß wird durch ein sehr dumpfes Knurren erwidert.
Hund?!
Merkwürdig!
Das ist doch kein Madagassenköter, gemästet für das nächste Dorffest?! Die haben nicht so langes Haar, diese Sorte Hund …
Ein neuer Stoß …
Jetzt als Erfolg: Grimmes Aufheulen!
Ein strammer Bursche muß das sein …
Aber — es bleibt bei dem kurzen Heulen … Damit ist mir nicht geholfen.
Und dann sehe ich — ich stutze — durch ein dem Wasserspiegel zugeneigtes Loch etwas Rotes in die Lagune tropfen …
Sehe die Kugeleinschläge, die diese Baumröhre zerfetzt haben …
Die dunkle, ungewisse Ahnung einer Katastrophe geht mir auf. Ich begreife, weshalb der Hund sich nicht rührt … Das Baumloch ist verstopft, vor dem Hunde liegen Menschen, verwundete, blutende Leiber.
„Hallo, Fred, — — hierher!“, brülle ich zur Jacht …
Der Gorilla springt in das zweite Boot, Mylady möchte mit, Herr Ewers lehnt ab, und neben Mylady taucht der hagere Olgurow auf …
Sie reden auf Fred ein.
Gorillas unterwürfiger Hohn endet mit einem Kernfluch, der so unverfälschtes Hamburger Platt ist, daß Mr. Fred Ewers jählings vom Engländer zum Deutschen wird und daß er mir seine Geschichte vom Kater und vom angeknallten Bobby nie mehr erzählen darf, wenn er nicht ausgelacht werden will.
Gorillas Boot schießt herbei.
Ich beuge mich an eins der Löcher …
„Sind Sie verwundet?“
Der Abenteurer wird zum Samariter, und ganz zart kommt die Antwort:
„Ja … Und vor mir liegt ein Toter …“
Fred ist da.
Ich starre ihn an.
„Ewers“, sage ich deutsch, „dort drinnen steckt ein Mädeln ein Toter und ein Hund …“
Ewers’ roter Vollbart sträubt sich wie ein Igel. Sein Gesicht flammt dunkel.
„Pest!! Ein Mädel?! Ich sehe nur Hundenhaare und Blut…“
Dann spritzt die Tabaksauce bei Seite, und seine kleinen verquollenen Augen blinzeln tückischer denn je.
Obwohl er doch, das habe ich längst erkannt, ein sehr harmloses Gemüt ist, so von der Spielart: Knurren, aber nicht beißen!
„Mädel also!“ Sein Baß sinkt in das tiefste Kellerloch … „Aha — — also etwa …, — na, wir werden sehen, und dann gnade ihr Gott!“
… Er wird gar nichts sehen …
Ich nehme den Bootshaken, fahre damit in den morschen Stamm hinein und fördere mit einiger Mühe eine braune Leiche zu Tage.
„Ein echter Ikarisi …“, brummt Ewers enttäuscht. „Nur weiter, Mr. Abelsen … oder Herr Abelsen, — reden wir deutsch … Sie können es, ich kann es, weshalb sollen wir uns mit Englisch die Kinnladen ausrenken und die Zunge spalten?!“
Er grinst …
Abelsen?!
„Woher wissen Sie meinen Namen?“ Meine Überraschung ist nicht freudiger Art. Der gewissen mit Beinen versehenen greisenhaften Verfolger wegen: Bedrucktes Papier …!
„Später“, fertigt er mich ab …
Und befühlt den Ikarisikrieger, nimmt ihn beim Lendenschurz …
Etwas wirbelt durch die Luft…
Klatsch …
Wasser spritzt …
Furchen von Krokodilnasen ziehen durch das Wasser …
Ich angele vorsichtig mit dem Bootshaken in der Röhre …
„Können Sie sich festhalten?“
„Nein …“
Die zarte Stimme …
Ich lege den lackierten Bootshaken weg und krieche in das Loch hinein …
Meine Beine sind noch draußen …
Der Gorilla packt zu …
„Abelsen, — — Schweinerei, — — fünf Kanus von der Seeseite … Raus mit Ihnen! Es wird Ernst …“
Undeutlich höre ich das Bellen der Schüsse …
Ich reiße mich los … brülle zurück .…: „Zur Jacht, Ewers! Ich helfe mir schon selber!“
Das Geknatter schwillt an …
Mein Kopf liegt vor dem ersten Baumloch …
Ein Blick …
Nicht fünf Kanus, — — acht zähle ich …
Und alle gepanzert: Eisenplatten!
Freds Boot jagt davon… Der Gorilla legt sich in die Riemen …
Knack …
Das eine Ruder ist zum Teufel …
Fred steht aufrecht, paddelt …
Heute schießt die Bande aus den Kanus nicht mit Pfeilen …
Pulverblitze überall … Vielleicht alte Vorderlader …
Armer Gorilla, — er taumelt, fällt über Bord in die großen Blätter der Seerosen …
Furchen von Krokodilschnauzen ziehen herbei. Mir wird es kalt, — — siedend heiß …
Wie sagte doch Fürst Olgurow? — „…Ich bin nicht frivol, der Tod ist eine ernste Sache!“
Armer Fred Ewers!
Aber auch mir droht nichts Besseres. Das angekettete Boot muß uns verraten … Ich muß zurück, krieche zurück … Zweige decken mich …
Das Boot erhält einen Fußtritt, und mit Büchse und Bootshaken verschwinde ich wieder. Baummehl fällt, morsches Holz fällt, — endlich fühle ich in dem wirbelnden Staub ein paar Stiefel.
„… Haben Sie keine Angst … Ich tue Ihnen nichts… Wo sitzt der Schuß?“
„In der linken Wade … Aber die Blutung steht. Ich habe mein Taschentuch fest verknotet.“
In die weiche Stimme mischt sich das drohende Knurren und Röhren …
„Beruhigen Sie den Hund, Miß …! Man wird nach uns suchen …“
Ich finde links ein kleines Astloch, faustgroß, und trotz der tränenden Augen überblicke ich atemlos die Lagune …
Die Schüsse sind verstummt … Zwei Boote treiben … Leer … Neben der Jacht liegen die Kanus, und das Deck wimmelt von braunen Gestalten.
Ein einzelner Knall …
Ein einzelner Schrei …
Gnadenschuß?!
Ich beiße die Zähne zusammen …
Wenn wir hier Glück hätten?! Aber — das Mädel gehört ja mit zu der feindlichen Sippe, und wenn sie die Burschen herbeiruft …
Wieder ein Schuß…
Ein Schrei …
Ich fühle, daß ich bleich werde …
Das da war Lady Hamiltons Stimme, und — — Krokodilnasen durchfurchen die Lagune, lauern, warten … Die Bestien haben eine sehr feine Witterung für eine bequeme Beute. Die Furchen laufen strahlenförmig zur Jacht, genau so, wie vorhin zu der Stelle, wo der arme Fred versank.
… Eine unachtsame Kopfbewegung, und der zerdrückte Basthut löst von der verfaulten, zerpulverten Decke dieser Baumröhre gelblichen Staub, morsche Holzteilchen, Ameisen, Käferlarven, und all das fällt herab wie ein dichter Schleier und entzieht mir vielleicht zur rechten Zeit das Bild der sonnigen Lagune und ihrer finsteren Schrecken.
Dann meldet sich auch schon vor mir die Fremde, und als ob sie mir in all dem Ungemach wenigstens einen Lichtblick schenken möchte, flüstert sie wie beschwörend, damit ich nicht Zweifel hege an ihrer Aufrichtigkeit:
„Wer Sie auch sein mögen, — ich bin selbst ein Flüchtling … Voller Entsetzen habe ich mich abgewandt von Pierres blutigen Plänen … Er hatte mich belogen, getäuscht … Sie werden ja wissen, wer Pierre ist, Sie gehören ja mit zu den Leuten der Jacht … In der verflossenen Nacht entwich ich aus dem großen Kanu, und ich hoffte schon, daß ich hier nicht entdeckt werden würde … Monte nahm ich mit, denn Pierre hat den braven Hund stets roh behandelt … Aber einer der Ikarisi hatte mich doch bemerkt, folgte mir, versuchte mich wieder ins Freie zu ziehen und … wurde erschossen … Ich habe hier eine Stunde durchlebt, die geradezu grauenvoll war … Die Kugeln von der Jacht trafen zumeist den Baumstamm, — ich bin nicht feige, Mister, nein, dazu haben wir ja ein zu abenteuerliches Leben geführt … Aber hier in dieser Baumröhre eingesperrt zu sein, vor mir das noch gesunde Holz des Baumes, hinter mir den Toten, und — — dann noch der Blutverlust durch die Fleischwunde, … — es war entsetzlich …! — Sagen sie mir eins, — was geschieht dort draußen?! Sagen Sie es mir! Ich hörte Schüsse… Nun ist alles so still … Sollte Pierre den verbrecherischen Wahnwitz so weit treiben, daß er gar am Tage den offenen Kampf nicht scheut?! Bitte, verhehlen Sie mir nichts … Mag ich auch noch ein halbes Kind sein, — ich habe übergenug erlebt und gelitten … Wir sind gehetzt worden wie die wilden Tiere … — So sprechen Sie doch, sprechen Sie doch …! Nur nicht dieses lähmende Schweigen …! Trauen Sie mir nicht? Hat etwa Carmen so schlecht über mich …“
Ihre Worte hatten immer mehr überstürzt … Ich fühlte ihre Seelenbedrängnis und die nervöse Zerfahrenheit ihrer Sinne, sie tat mir unendlich leid, dieses junge Geschöpf, mit der mich hier das Schicksal in so enger Gemeinschaft zusammengeführt hatte, vielleicht nur deshalb, um mir auf ungewöhnlichem Wege Klarheit über Dinge zu verschaffen, die ich bis dahin nicht begreifen konnte und auch jetzt noch nicht voll überschaute.
„Ich glaube Ihnen …“, — vielleicht war es zu kühle Berechnung, die mich nur diese Erwiderung wählen ließ. Aber nur durch dieses Mädchen konnte ich alles erfahren, alles, und ein einziges unvorsichtiges, ungeschicktes Wort mußte ihre verängstigte Ehrlichkeit in scheue Zurückhaltung verwandeln.
„… Sorgen Sie nur dafür, daß der Hund ruhig bleibt …“, fügte ich ohne Pause hinzu. „Man wird nach uns suchen … Pierre hat die Jacht angegriffen und erobert…“
Ein klagender Angstruf …
„Die Schüsse, — ich ahnte es … Pierre schrickt vor nichts zurück … Arme Carmen! Sein Haß kennt keine Grenzen … Aber das wissen Sie ja alles … Wenn wir nur mit dem Leben davonkämen! Und … frei bleiben, frei, um helfen zu können …! Haben Sie Hoffnung? Können Sie beobachten, was draußen geschieht? … Wie heißen Sie …? Mit mir machen Sie bitte keine Umstände, nennen Sie mich Angeline, schenken Sie sich alle Höflichkeitsphrasen … Ich bin ja so froh, daß ich wenigstens Sie habe — und Monte … Monte ist ein sehr kluges Tier und nur so bissig, weil Pierre ihn so roh behandelte … Also — wie heißen Sie? Pierre erzählte mir, Carmen hätte nur alles Verbrecher als Matrosen an Bord genommen … Das kann doch nicht wahr sein … Gerade Carmen — — und Verbrecher?! Nein, — schon damals kamen mir Zweifel … Ich bin ja schließlich kein Kind mehr … Mit siebzehn galten die Mädchen in der Oase Amdora bereits für alt …“
… Armes kleines Ding …! Ihre Nerven waren überreizt, ihr hastiges Geplapper verriet ihren bedrohlichen Gemütszustand.
„Zunächst beruhigen Sie sich einmal, Angeline“, flüsterte ich herzlich. „Wir werden hier nicht entdeckt werden … Das Wasser steigt, und es wird gerade so hoch steigen, daß wir noch atmen können, wenn wir dann auch im Nassen liegen … — Beruhigen Sie sich … Unsere Baumröhre liegt mit dem offenen Stammende, also mit dem Einschlupfloch, etwas tiefer, und das Loch wird völlig von Wasser bedeckt sein … Die Flut steigt sehr schnell … Also keine Angst, kleine Angeline, wir drei hier in dieser Fuchsröhre werden uns miteinander sehr gut vertragen, auch Monte wird mit mir Freundschaft schließen, ich habe Hunde gern, und was den Namen betrifft: Olaf genügt, — denken Sie, ich wäre eben ein guter Onkel Olaf, den Ihnen die Vorsehung so von ungefähr geschenkt hat … — Nicht wahr, Angeline, nun werden Sie meine tapfere, kleine Kameradin sein … Kümmern Sie sich nur um Monte … Er darf auf keinem Fall knurren … Ich kann jetzt wieder sehen, was draußen geschieht … Der Staub hat sich wieder gesetzt. Ein Kanu kommt … Liegen Sie ganz still … Und kein Wort mehr… Nur noch etwas, Angeline: Dort, wo Monte liegt, ist gerade ein Astloch … Kratzen Sie morsches Holz ab und bedecken Sie Montes Fell damit … — Still jetzt … Hören Sie die Ruderschläge? Aber man wird uns nicht finden … Ich fühle bereits das Wasser in meinen Stiefeln… Das Schlupfloch ist verschlossen…“
Ich log…
Ich mußte lügen. Ich weckte Hoffnungen, an die ich selbst nicht glaubte. Ich redete von Rettung, und ich erwartete einen jämmerlichen Tod …
Die Flut stieg — zu schnell …! Und die braunen Kerle, die dort im Kanu heranflitzten, daß das Wasser nur so schäumte, brauchten nur etwa auf den Stamm zu klettern, dann — — ertranken wir, dann würde der Stamm tiefer sacken, und wir würden ersäuft werden wie die Mäuse in der Falle …
Acht Ikarisi zählte ich in dem Kanu …
Mittelgroße, kräftige Gestalten, buntscheckig gekleidet, der eine nur mit Bastschurz, der andere mit Leinenhosen, ein dritter gar in einem seidenen Schlafanzug, den unbedingt seine Durchlaucht nachts getragen hatte.
Ob Iwan Olgurow auch bereits den Krokodilen serviert worden war?! — Armer vornehmer Teufel mit den feinen, schlanken Spielerhänden …! Auch dir wäre es besser gewesen, Fred Ewers hätte dich nicht angeworben …!
Das Kanu stieß gegen den Stamm …
Mir stockte der Herzschlag …
Hinter mir rauschte und gurgelte es …
Über mich hinweg flutete das laue Wasser der Lagune …
Vor mir ein leises Kreischen …
Stille …
Wahnwitziges Pochen in den Schläfen, Atemnot … Brausen in den Ohren …
Hier … ersaufen?!
So?!
So jämmerlich …!
Niemals!!
Und ich packte zu, packte Angelines Fuß, kroch rückwärts — im Wasser, in der wassergefüllten Röhre …
Kroch … und zog mit aller Kraft …
Funkenbündel sprühten mir vor den Augen.
Meine Trommelfelle wollten bersten unter dem Druck von verbrauchter Luft und heimtückischem Wasser …
Sekunden?
Minuten?
Nein — Ewigkeiten …
Und dann ein Versuch, Atem zu holen …
Ein Wahnwitz …!
Wasser drang mir in Mund und Kehle, — — ich hustete…
— — Urplötzlich sog ich Luft ein …
Mein Kopf, ein Bleiklotz, fiel nach vorn …
Ein letztes hörte ich wie aus fremden Welten: Taktmäßig enteilenden Ruderschlag …!
Der tote Mango hatte das Wasser wieder ausgespien. In seinem hohlen Innern lagen drei Geschöpfe und rangen im Anfangsstadium der Bewußtlosigkeit nach Luft …
5. Kapitel.
Fred Ewers’ Geist.
… Das war gestern. Heute scheint wieder die Sonne, und meine kleine Freundin liegt dort auf dem Blätterbett und streichelt ihren Monte und schaut mir zu, wie ich aus hartem, biegsamem Holz den Bogen schnitze, der uns ernähren soll.
Aber die kleine blonde Angeline mit dem dunkel getönten Gesichtchen und den dunklen Augen, die so groß und so märchenhaft tief sind, hat um den taufrischen Mund einen sehr nachdenklichen Zug, der mir nicht gefällt.
Ich bin doch unvorsichtig gewesen.
Angeline hat gemerkt, daß Carmen mir nichts mitgeteilt hat, und — das war in der verflossenen Nacht, als ich glücklich das eine Boot erwischt hatte und wir uns diese Insel hier als Versteck auswählten, die im südlichsten Winkel liegt und die zunächst so unzugänglich erschien.
Eine einzige kleine Unachtsamkeit …
Ich fragte, als wir den von Dornen und Lianen überdeckten natürlichen Kanal gefunden hatten:
„Ob Pierre seine Schwester wohl sehr brutal behandeln wird?“
Und da hatte die kleine Angeline mir im Mondlicht scharf ins Gesicht geschaut …
Nichts weiter …
Zu scharf …
Und hatte geantwortet, und ihre Stimme war ohne Klang, ohne die bisherige vertrauliche Wärme:
„Vielleicht …!“
Nichts mehr, nur das eine Wort …
Seitdem steht etwas zwischen uns als Schranke: Die Lüge!
Denn auch ausweichende Antworten haben Lügenbeine, und die, die da sagen, Lügen hätten kurze Beine, kennen das Leben nur aus Büchern oder aus ihrer eigenen, fehl gehenden Phantasie.
Lügen haben sehr lange Spinnenbeine, etwa wie jene heimischen langstelzigen Tiere, die ihren kleinen Kugelleib auf wahren Riesenfüßen fortbewegen … Weberknechte nennt man sie.
Und die Lügen laufen so eine hinter der anderen eilends her — ins Unendliche.
Eine Lüge ist die Mutter der zweiten, und die verlogene Familie pflanzt sich lawinenartig fort.
So entstand die Schranke zwischen Angeline und mir.
Und jetzt, wo die kleine Angeline so süß geschlummert hat, ist ihr reger Geist noch eifriger damit beschäftigt, mir … gar nichts zu verraten.
Daß der Hund Monte (der selige Graf von Monte Christo hätte sich im Grabe umgedreht, wenn er diesen Namensvetter nur ein einziges Mal beobachtet hätte!) — daß also Monte bösartig nach mir schnappt und jeden Annäherungsversuch ablehnt, hätte ich noch hingenommen.
Angeline traut mir nicht.
Sie weiß nicht, was sie von mir zu halten hat.
Ringsum starren Dornen, Gestrüpp, hängen Lianen … Ein wilder Bananenstrauch, schon mehr Baum, strotzt von Früchten. Aber nur von Bananen leben?!
Und dort, wo die nackten Felsen durch die Randbüsche der Lichtung brechen, schimmert in der Tiefe Wasser, dort liegt unser Boot.
… Ich erzähle Angeline eine Geschichte, die entfernte Ähnlichkeit hat mit unserer Errettung aus dem hohlen Stamm …
„… Wir waren da drei Freunde, Angeline, echte Lausbuben … Und in der Nähe meiner Heimatstadt gab es da einen Kiefernwald, in dem ein hübsches Restaurant lag mit Aussicht auf die Stadt … Kaninchen hausten in dem Walde, und wir Lausbuben freuten uns, im Frühjahr die Jungtierchen durch das Gestrüpp flitzen zu sehen … Junge Wildkaninchen sind wie graue Wollbüschel. Dick, rund, mit dicken Köpfen und mit so blanken Augen, wie Sie sie haben, Angeline … — Hören Sie auch zu, Angeline?“
„Ja …“
Ich schnitzte weiter an dem Bogen, und ich äugte nach den Wildtauben droben in den Baumästen.
Ich besinne mich ganz genau: Angeline hatte bei diesem gedehnten „Ja“ nicht einmal aufgeschaut.
„… Kaninchen graben Bauten in die Erde, und wenn die Spaziergänger aus der Stadt Hunde mitbrachten, ärgerten wir Lausbuben uns stets, weil dann auch nicht eins der Tierchen zu sehen war … Eines Tages, Angeline, merken Sie auf!, schlüpfte ein kleiner Teckel, dem die Mordgier im Blute lag, in einen Kaninchenbau und … kam nicht mehr zum Vorschein. Die Familie, der er gehörte, jammerte — — und tat nichts. Menschen sammelten sich an … Wir vernahmen deutlich das klägliche Heulen des Teckels, der zweifellos innen im Kaninchenbau verschüttet worden war … Er heulte immer jämmerlicher und leiser, und ein Herr mit einer Brille sagte: „Er erstickt!“ — Aber keiner tat etwas … Nur wir drei Lausbuben liefen nach dem Restaurant, baten um Spaten, kehrten zurück und gruben dort, wo der Teckel zuletzt gewinselt hatte. Jetzt war er still, und der dicke Herr sagte: „Er ist tot … Wir wollen Kaffee trinken gehen.“ — Trotzdem gruben wir weiter …
Angeline blickte auf …
„Und — war er tot?“, fragte sie zaghaft.
… So erzählte ich ihr an der Ostküste der großen Insel Madagaskar eine wahre Geschichte, die ich in meiner nordischen Heimat mit erlebt hatte.
„Nein, er war nicht tot … Er war nur halb erstickt und erholte sich bald. Als wir drei Lausbuben, die überall verrufen waren, der Familie das Hündchen in das Restaurant brachten, wo die Leute gerade Kaffee tranken und Kuchen aßen, sagte der Herr mit der Brille, er war der Vater von drei artigen Kindern: „So, er lebt?! Nun, er ist nicht ganz echt … Ich liebe nur reinrassige Tiere.“ — Da habe ich gesagt: „Herr Doktor, darf ich den Teckel behalten?“ — Ich durfte … Und dafür bekam ich daheim von meinem Vater drei Ohrfeigen, und nur durch meiner Mutter Fürsprache blieb der Teckel mein … Er starb erst, als ich schon Student war, kleine Angeline, und ich habe ihn betrauert wie einen besten Freund, denn das war er mir: Mein bester Freund!“
Angelines kleine braune Hand liegt plötzlich auf meinem Arm.
„Olaf, das war schön … Das war auch eine wahre Geschichte … Man merkt es. — Olaf, ich vertraue Ihnen wieder …“
Sie lächelte mich an …
Ihre Zähne blinkten hinter den frischen Lippen.
„… Olaf, — Carmen hat Ihnen also nichts mitgeteilt?“
„Nein …“
Der Hund Monte knurrt und zeigt mir sein Gebiß, weil Angeline ganz dicht an mich heranrückt, und weil der zottige Monte eben eifersüchtig ist.
Ich erzähle dem Mädchen eine andere Geschichte, die auch wahr ist. Ich beginne mit Amed Schamis und meiner Trennung von den lieben Freunden auf dem großen Bambusfloß, aber das Floß der Leidenschaften und der Diamantenfluß werden nur flüchtig gestreift, es sind das Erinnerungen, die besser im Schoße der Vergangenheit ruhen bleiben.
Ich schildere ohne viel Beiwerk unsere Gefangennahme, meine Flucht, Fred Ewers’ unfreiwilligen Unfall und des Brillenhengstes Pech in der Luke, als ihm der Schraubenschlüssel gegen den Kopf flog.
Angeline schaut mich unverwandt mit großen Augen an, wie ein Kind den Vater anblickt, der ihr ein Märchen vorträgt von … vielleicht von Rübezahls, des Gebirgsgeistes, wilden Streichen.
Ihre kleine Hand hat sich in die meine gestohlen, und Hand in Hand sitzen wir, von Faltern umgaukelt, von Bienen umsurrt, von winzigen Vögelchen umflattert, die in dem Gebüsch ihre Nester haben. Ich kenne den Namen dieser kleinen, grellbunten Tierchen nicht, die so gesellig leben, daß ihre Nester, runde Kugeln mit einem Schlupfloch, dicht beieinander in den Zweigen hängen und man glauben könnte, es seien Nüsse von Faustgröße mit rauhen Schalen.
Auch Monte Christo, der ein total mißratener Schäferhund ist und genau so gut von sich behaupten könnte, sein Vater sei ein Neufundländer und seine Mutter eine echte Polarhündin, obwohl Angeline nachdrücklich betonte, er sei ein Schäferhund, — auch Monte hat die Abneigung gegen mich, den Fremden, überwunden, und hat nach eingehender Beschnupperung meiner Stiefel seinen Mischmaschkopf auf meine Wade gelegt und blinzelt nach den schwirrenden Vögeln. Die Wasserratte, die er vorhin an unserem Kanal erwischte, war wohl nur ein Schmeckhappen für seinen knurrenden Magen. Aber besser, daß sein Magen knurrt, als daß er mich weiter anfletscht. Wir drei müssen ja zusammenhalten, wir sind auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden, und die Zukunft liegt dunkel und düster wie eine Gewitterwolke vor uns, aus der jeder Zeit der vernichtende Blitzstrahl herabflammen könnte.
Als ich von Schamis seltsamem Verhalten kurz vor seinem Tode erzählte und dann von dem Speer, der sein Herz durchbohrte, preßte Angeline meine Finger und flüsterte scheu: „Das habe ich gesehen … Und dann floh ich. Pierre ist ein Mörder …“
Wer ist dieser Pierre? — Carmens Gatte, das weiß ich. Und die kleine Angeline ist Carmens jüngere Schwester. Auch das weiß ich. Aber mit alledem ist wenig anzufangen.
Pierre bekämpft die eigene Frau, die sich von ihm getrennt haben muß. Angeline hat sich gegen Carmen aufhetzen lassen. — Und weshalb das alles?! Um eine Quelle?! Die Abenteurer Carmens sollten in den Bergen eine „Quelle“ suchen.
Was ist damit anzufangen?!
Ob Angeline nun die Schleier lüften wird?!
Ich meinerseits habe nichts verhehlt. Mein Bericht ist zu Ende.
Das Mädchen neben mir hat den Kopf tief gesenkt, und die kleine Hand schlüpft aus meinen Fingern, ein trockenes Schluchzen ertönt, und zwei schmale Hände bedecken ein verstörtes, zerquältes Gesichtchen.
„Arme Carmen …!“
Keine Tränen …
Aber die Stimme klingt zerbrochen, erfüllt von Scham, Reue und Verzweiflung.
Wird sie sprechen?
— Ich warte … — Der Bogen ist fertig, die Bogensehne habe ich schon vorhin aus festen Lederschuhsenkeln geknotet, meinen Stiefeln genügt auch ein Ersatz aus den Strängen eines Strickes aus dem Boote.
Ich beginne mit den Rohrpfeilen, — die Arbeit ist mir nicht neu, ich füge als Spitzen Steinsplitter ein, — — und warte.
Angeline in ihrem derben Tropenanzug mit weiten Kniehosen starrt jetzt ins Leere.
Die Hände sind in den Schoß gesunken.
Monte, der Angeline vergöttert, fühlt ihre Seelenbedrängnis, kriecht zu ihr hin und wühlt ihr seinen dicken Kopf aufmunternd in die verschlungenen Hände, als ob er diese Hände auseinander zwingen und gleichzeitig des Mädchens beklemmendes Schweigen brechen möchte.
Ich wickele Schnüre um das sauber eingefügte Gefieder der Pfeile, und die Zeit verrinnt, die Sonne steigt höher und höher, die Schatten der Baumkronen, die über der Lichtung liegen, kriechen mit den Sonnenflecken zugleich weiter, von der See her weht der steife Monsum gegen den Glutodem an, die Lagune, für uns unsichtbar, meldet sich immerfort mit ihren Tierstimmen und dem gurgelnden Gähnen der Krokodile, Blütendüfte fächeln uns, selige Schmetterlinge tanzen auf und ab, das lustige Vogelvölkchen kommt nicht zur Ruhe, Wildtauben gurren, und ihr zärtliches Geschnäbel droben in den Ästen wird nur durch uns fremde Eindringlinge gestört, wenn wir irgend eine hastige Bewegung machen.
Aber Angeline rührt sich nicht.
Sie kämpft mit sich …
Bis endlich die harte Rinde schmilzt und überhastet und angstvoll und flehend die Worte hervorquellen, auf die ich vorbereitet bin — so halb und halb …
„Olaf, ich habe mir alles reiflich überlegt … Wenn Carmen sich so eng mit einem Panzer des Geheimnisvollen umgeben und nichts verraten hat, darf ich es erst recht nicht tun … — Olaf. Sie dürfen mir deshalb nicht zürnen … Sie müssen begreifen, daß ich nicht sprechen darf …“
Wieder naht bittend die kleine Hand, und die Traumaugen haften auf meinem Gesicht mit banger Frage.
Meine Antwort?
Ich bringe sie nur halb zu Stande. Ich sage nur mit nachsichtigem Lächeln: „Dann wird die Zeit diese Rätsel mir lösen, ich war stets ein sehr geduldiger Mensch und …“
… Monte Christo ist emporgeschnellt, fährt knurrend auf zwei Krokodile zu, die sich eng beieinander soeben über den Felsenrand des kleinen versteckten Hafens hinwegschieben …
Die Bestien müssen nicht recht gescheit sein, daß sie so am hellen Tage einen Angriff wagen …
Schießen darf ich nicht, der Knall würde uns verraten.
Es bleibt nur das Messer, falls die Panzereidechsen …
Falls …
Der Hund Monte steht mit vorgestemmten Beinen und gesträubtem Nackenhaar da …
Plötzlich … wedelt er …
Die Krokodilköpfe heben sich, darunter grinst ein braunrotes Etwas mit fuchsigen Bart, und ein gluckerndes Lachen ertönt …
Angeline erhebt sich, stützt sich des Wadenschusses wegen auf meine Schulter, und mit einem tiefen, befreienden Seufzen ruft sie überglücklich:
„Käpten Ewers, — — Sie?! Sie leben?!“
Der pudelnasse Gorilla richtet sich auf, wirft die Krokodilhäute bei Seite und stapft breitbeinig näher, streichelt Monte den Kopf und steht vor mir.
„Ob ich lebe — allemal!!“
… Feuerwehr — Strahl nach links …
„Der alte Ewers wird sich doch nicht von solchen braunen Banditen abknallen lassen!! Noch besser!! Wer solche Affenarme und solche fein geschweiften Beine hat wie ich, schwimmt unter Wasser wie eine Forelle, ist nur nicht eßbar, höchstens für Kannibalen, und auch die würden nur Sehnen und Muskeln in meinem Kadaver finden …“
Angeline hatte beide Hände auf Freds kolossale Schultern gelegt …
„Käpten Ewers, — — wo ist Carmen?“
Die bebende Angst in ihrer schwankenden Stimme läßt Mr. Fred zunächst mal kräftig hüsteln.
„Hm … Wo sie ist? — Weiß ich nicht … Jedenfalls entflohen wie ich … Der feine Herr Pierre hat das Nachsehen … Die Edelfasanen, die er da auf der Jacht einfing, nützen ihm gar nichts… — Also, wie gesagt: Frau Carmen ist in Sicherheit, zweifellos, genau wie ich und der Brillenhengst, der noch besser schwimmt … — Na, und ihr drei hier? Wie habt ihr euch denn zueinander gefunden?«
… Feuerwehr nach rechts …
„Haben Sie den Säugling etwa aus dem Baumstamm herausgeklaubt, Abelsen? — Wird wohl so sein … Auch den Monte mit dazu. Kann mir das schon zusammenreimen. — Ihnen wurde es wohl etwas unbehaglich bei dem feinen Herrn Pierre, Kindchen?“ Und seine mächtige Pranke fährt ganz sacht über Angelines Blondhaar hin. „Kleines Dummchen, — sich von dem Burschen so einwickeln zu lassen!! Wie kann man nur! Na — das ist ja nun alles eingerenkt, und wir wollen mal schnell Palaver halten, wie wir dem Pierre die Suppe versalzen können …“
Er machte nicht viel Umstände, setzte sich ins Gras und rutschte dorthin, wo ein großer Sonnenfleck ihn beschien.
„… Bei sechsunddreißig Grad Wärme haben nasse Lappen auf den Knochen nicht viel zu besagen“, meinte er achselzuckend … „Immerhin, in meinen Jahren geht man dem Rheuma lieber aus dem Wege … — Nehmen Sie doch Platz, Kindchen. Zu irgend welchen Befürchtungen liegt gar kein Anlaß vor. Der Pierre ist genau so schlau oder so wenig schlau wie vorher, und Sie auch, kleine Angeline, und Abelsen desgleichen. Das muß nun mal so sein. Hauptsache, wir erobern die Jacht zurück … Und die Edelfasanen müssen befreit werden. Sind Kerle wie die Löwen, und die beiden Dämchen stehen auch ihren Mann, das muß man ihnen lassen … Jedem das Seine! Ob einer vorher im Loch gesessen hat, tut gar nichts. Frau Carmen wußte schon, weshalb sie gerade diese Leibgarde anheuerte. — Nun reden Sie mal einen Ton, Abelsen … Sie sind ja im Bilde. Sie sahen in der verflossenen Nacht genau wie ich, daß die Jacht und die Kriegskanus der Ikarisis in den versteckten Binnensee hineinsteuerten, der da im Norden noch näher nach dem Gebirge zu mitten im Walde liegt. Im übrigen müssen wir eben alles Nötige auskundschaften, und dazu denke ich mir, sind gerade Sie der rechte Mann … — Äußern Sie sich also …“
Fred Ewers’ etwas unzusammenhängendes Gerede machte genau denselben nervösen, fahrigen Eindruck wie Angelines überstürzte Sätze in dem hohlen Mango, die unsere Bekanntschaft eingeleitet hatten.
Der Gorilla, das ahne ich, wußte ganz genau, wo Frau Carmen sich verbarg, und Frau Carmen war der geheimnisvolle „Herr“ der schmucken kleinen Jacht.
Ich sollte reden … Nun gut … — Unklare Verhältnisse liebe ich nicht. — Also …
„Käpten, Sie schwammen unter Wasser an Land, auf die kleine Insel … Sie haben sich dort in dem hohlen Mangostumpf versteckt. — Allein?“
Er war kein Diplomat. „Was heißt … allein?!“, polterte er in grimmer Verlegenheit hervor. „Brillenhengst war schon da … Ist noch da …“
„So… so… — Allein?“
Unter meinem ironischen Blick lief er vor Ärger blaurot an.
„Natürlich allein!“, röhrte er wütend. „Oder rechnen Sie Ameisen und Würmer zu den Menschen?!“
„Manchmal ja — einige — oder eine einzelne Ameise … — Genug davon. — Wie fanden Sie uns hier?“
Jetzt spielte er erst mal nach rechts und links Feuerwehr, um seiner Geringschätzung über mein geringes Urteil über seine Fähigkeiten Ausdruck zu verleihen.
„Finden?! Ich?! Mann, ich bin so etwa zehnmal um die Erde gegondelt und kenne selbst das lausigste Hasennest … Und da sollte ich nicht merken, daß hier auf der Insel Menschen stecken, wo doch die Tauben so wild um die Baumkronen flatterten?! Wenn der Pierre und seine braunen Halsabschneider auch nur ein Quäntchen Hirn im Schädel hätten, wären sie längst hier …! — Zwei Krokodile habe ich mit einem Steinchen totgeschlagen, das vielleicht zwei Zentner wog, abgepellt habe ich die Viecher, habe mir so eine Art Floß gebaut und bin hierhergepaddelt. — Aber von Ihrer Fragerei habe ich nun genug … Wir müssen die Jacht und die Edelfasanen uns holen, und dazu sollen Sie sich äußern. Alles andere ist vorläufig dummer Snack, wie wir Hambörger seggen… Sie verstehen doch Plattdeutsch.“
„Etwas … — Jedenfalls ist am Tage nichts zu machen, Käpten … Ich nehme an, daß die Ikarisi noch auf uns Flüchtlinge fahnden, und daß jede Unvorsichtigkeit unsererseits sich böse rächen könnte. Warten wir die Nacht ab. Wir haben das Boot, wir können es mit Röhricht maskieren… In der Lagune gibt es übergenug Röhrichtfelder an den flachen Stellen … Zunächst möchte ich etwas Festeres essen. Bananen sind als Nachtisch gut, gebratene Tauben sind besser …“
Aber Ewers schien weder von meiner Speisenkarte noch von meinen behutsamen Plänen sonderlich entzückt.
„Zum Abwarten haben wir keine Zeit, Abelsen …“ Er war sichtlich enttäuscht über meine Zauderpolitik. „Ist es Ihnen denn ganz gleichgültig, was mit der Leiche Ihres Freundes Amed geschehen ist?! Sie können doch meine Krokodilhäute benutzen … Sie sind geschickter als ich, und …“
Angeline fiel ängstlich ein. „Käpten Ewers, weshalb drängen Sie Olaf so nachdrücklich zum Handeln?! Er wird doch am besten wissen, was uns nützlich ist …“
Allerdings, — das wußte ich, und ich wußte noch weit mehr … Ich hatte den Gorilla durchschaut. Ob er nun auf höheren Befehl dieses undurchsichtige Spiel trieb, mochte noch dahingestellt bleiben.
Mir macht niemand etwas vor.
Auch der „Herr“ nicht …
Ich gab zum Schein nach …
„… Dann erwarten Sie mich hier also, fünf bis sechs Stunden werde ich wohl wegbleiben … Ja, die Büchse nehme ich auch mit … — Bemühen Sie sich nicht, Ihr Floß finde ich schon. Sehen Sie auch nach Angelines Wunde, der Verband muß erneuert werden …!“
Es war ein sehr flüchtiger Abschied. Der brave Gorilla fühlte sich ein wenig betreten, Angeline war geradezu verlegen, ich war überzeugt, daß auch sie gemerkt hatte, Käpten Ewers wollte mich nur für einige Zeit entfernen, und dem kleinen Mädel ging es offenbar sehr gegen ihre geheimen Wünsche.
Nur einer war da, der es sich nicht nehmen ließ, mich doch hinab bis zum kleinen Hafen zu begleiten: Der Prachthund Monte! — Gewiß, reinrassig war er nicht, aber die Hauptsache blieb schließlich seine imposante Größe, Stärke und Beweglichkeit. Das Tier hatte es bei seinem Herrn, dem etwas mystischen Pierre, nicht gut gehabt. Er war mißhandelt worden, er sah wohl in jedem Mann nur einen Peiniger, er hatte sich deshalb so eng an Angeline angeschlossen, vielleicht hatte ihm nun sein Instinkt gesagt, daß er bei mir mehr Verständnis für sein Anhänglichkeitsbedürfnis finden würde.
Der Abstieg zu der schmalen, überwucherten Bucht war nicht ganz einfach, wenn man jedes Geräusch vermeiden wollte.
Und der Anstieg? — Hatte nicht Fred Ewers vorhin so lautlos sich herbeigeschlichen, daß nicht einmal Monte aufmerksam geworden war?! Und da wollte der Gorilla von sich behaupten, er eigne sich nicht für einen Kundschaftergang?! Ich sollte das lieber übernehmen?!
… Fred Ewers, du bist durchschaut!
Wir werden ja sehen, was du mit der kleinen Angeline vorhast! Wir werden sogar sehr scharf aufpassen! An der Nase lassen wir uns nicht umherführen wie ein Tanzbär, verehrter Gorilla! Dazu suche dir nur getrost andere Leute aus … Dümmere …
6. Kapitel.
Ewers ohne Geist.
Die schmale Bucht, überwölbt von grünem Flechtwerk, das jeden Sonnenstrahl abhielt, war ein idealer Bootshafen.
Das Halbdunkel, das hier herrschte, ließ den Wasserspiegel wie geschmolzenes Blei schimmern.
Ich schickte Monte zurück, kraute ihm vorher noch den Kopf und tat das, was jeder Hundekenner tut, der einem Tiere für immer seine persönliche Witterung vermitteln will: Ich schob Montes Schnauze in meine Achselhöhle, und ich wußte nun, daß der Hund selbst im Finstern mich unter Hunderten herausfinden würde.
Ein leiser Schlag auf den Hinterschenkel …
„Allons — nach oben!“ — und er verstand.
Nochmals drehte er sich um, wedelte, — und ich war allein.
Ich habe das Alleinsein oft wie eine Befreiung empfunden. Menschen können zu Ketten werden, die eigenen Gedanken nur dann, wenn man sich mit Zweifel und Befürchtungen abquält.
Dort lag unser Boot …
Neben dem Boot Fred Ewers’ Floß.
Kein schlecht erdachtes Gefüge von Bambus und Zweigen und Röhricht, — winzig klein, nur eine Stütze für den Leib.
Ich sah auch die beiden primitiven Paddelruder, — der Gorilla mußte in seinem Leben schon so manche kitzliche Situation durchgemacht haben, der Mann war mehr Abenteurer als Kapitän, jedenfalls hatte er nie in einem Gefängnis gesessen. Das war Schwindel. Er kannte sowohl Frau Carmen als auch Pierre und Angeline seit langem, er war Carmens Vertrauter, und der lange dürre Brillenhengst, dieses zweite Unikum von Athlet, besaß genau so Carmens Vertrauen.
Ich probierte das Floß. Die Bucht war nicht tief, das Wasser reichte mir nur bis zur Brust, und da der Gorilla schwerer als ich war, wurde ich auf dem Floß halb vom Wasser umspült. Freilich hingen meine Füße über den hinteren Rand hinweg, — die Krokodile würde ich mir schon vom Leibe halten.
Mein Plan war fertig.
Von dieser Insel konnte ich nur beobachtet werden, wenn Ewers einen der Bäume am Rande der kleinen Lichtung droben erkletterte, und das würde er schön bleiben lassen, da die Tauben- und Papageienschwärme dann sofort hochgeflattert wären und sicherlich die Ikarisi-Späher aufmerksam gemacht hätten. Die Vögel waren ohnedies unruhig genug.
Ich paddelte also ins freie Wasser hinaus, — die Insel war von Schilf und Röhricht umstanden, und zunächst hatte ich noch genügend Deckung, da das Röhricht weite Lücken zeigte.
Es war jetzt gerade Ebbezeit, und eine leichte Strömung lief nach Norden und brachte mich sehr bequem bis zum nächsten Inselchen, wo ich gegen Gorillas heimliche Absichten den entscheidenden Schlag führte.
Ich landete, lag still, schaute zurück …
Und erschrak …
Ewers war ein Narr, ich hatte den Mann überschätzt …
In der Luft über „unserer“ Insel kreisten aufgeregte Tauben, Papageien, große weiße Aras und dichte Wolken kleinerer Vögel!
Das Geschrei der aufgescheuchten Schwärme war weithin zu hören, und wenn wirklich ein Ikarisi drüben am Urwaldrand lauerte, mußte des Gorillas Torheit die übelsten Folgen haben.
Ich konnte daran nichts ändern …
Ich blieb bei meinem Plan, fertigte hier im Röhricht rasch ein zweites Floß an, opferte meine Jacke, die ohnedies für derartige Unternehmungen zu hell war, stopfte sie mit Gras aus, schob das Ersatzfloß in die Strömung und sah es davontreiben.
Für meine Zwecke genügte dies …
Jeder mußte annehmen, auf dem kleinen maskierten Floß läge ein Mensch.
Dann trug ich das andere Floß zur Westseite des Inselchens hinüber, vervollständigte noch den Röhrichtausputz, legte Bogen und Pfeile griffbereit, verknotete Büchse und Pistole in die Röhrichtstengel und setzte die Fahrt gen Süden mit dem unbehaglichen Gefühl fort, daß unbedingt sich etwas ereignen würde.
Die Strömung war hier in der Mitte der Lagune stärker. Ich hütete mich, die Paddel zu benutzen. Ich wollte erst abwarten …
Vor mir befand sich eine flache Stelle, — Sandbänke mit sich sonnenden Krokodilen, weite Felder von Seerosen und anderen schwimmenden Wasserpflanzen und vereinzelte Stauden sehr kräftigen Rohres.
Darauf hielt ich zu. Ich brauchte nur mit den Füßen zu steuern, damit das Floß sich nicht drehte.
Rechter Hand schwamm das Ersatzfloß — schneller als ich, denn es war leichter, aber auch auffälliger. Meine weiße Tropenjacke leuchtete durch das Röhricht hindurch.
Ich selbst, nur noch mit dem dunkelgelben, bastseidenen Hemd oben bekleidet, konnte unmöglich bemerkt werden. Dazu bewegte sich mein Floß zu langsam. Es sah wie ein Fleck Röhricht aus.
Ich war auf die Weiterentwicklung der Dinge außerordentlich gespannt. Sollte Ewers etwa beabsichtigen, Angeline mit dem Boot zu entführen (und dies nahm ich mit ziemlicher Bestimmtheit an), konnte es zu unliebsamen Zwischenfällen kommen.
Mein Floß stoppte von selbst …
Es war gegen ein Büschel Röhricht gestoßen, drehte sich etwas und lag fest.
Nun hieß es abwarten.
Ich beobachtete den Urwaldstreifen, wo hohe Mangroven mit dicken Luftwurzeln schlammigen Untergrund verrieten.
Ich beobachtete auch die Insel … Die Vogelschwärme kreisten noch immer.
Das mußte auffallen, und ich wurde besorgt, verdoppelte meine Aufmerksamkeit und hielt mich zum Eingreifen bereit.
Die beiden bereits scheußlich stinkenden Krokodilfelle lagen übrigens neben mir. Sie waren mir als Schutzdach vorläufig noch zu unappetitlich.
Vielleicht später …
Doch dies „Später“ kam leider allzufrüh.
Das Ersatzfloß war bereits verschwunden. Die etwa fünf Meilen lange und etwa eine halbe Meile breite Lagune war ja überhaupt sehr unübersichtlich, — die kleinen Inseln, die Röhrichtfelder und die auf Sandbänken angeschwemmten Urwaldriesen verengerten das Gesichtsfeld nur zu sehr.
Es mochten noch keine zehn Minuten vergangen sein, als ich zweierlei bemerkte, beides gleich bedenklich …
Unter den Mangroven, die im Schatten lagen, erschien ein durch grüne Zweige sehr mäßig als treibender Baumstamm maskiertes Kanu.
Gleichzeitig leuchtete von Süden her ein ähnliches Machwerk auf: Bestimmt unser Boot!
Die Segenswünsche, die ich jetzt für den Gorilla spendete, hätten ihm in den heißesten Kessel der Hölle verholfen.
Der Käpten Ewers war ein verdammter Narr, daß er so ohne weiteres dem Befehl Frau Carmens gehorcht hatte und zu uns gekommen war, um Angeline zu ihrer älteren Schwester zu bringen.
Und welch ein Narr, — — er ruderte!!
Daß er die Riemen mit Grünzeug umwickelt hatte, nützte ihm gar nichts!
Auch das Kanu rückte vor … sehr langsam, sehr schlau …
Der Gorilla hätte von den braunen Burschen etwas lernen können!
Und ich?!
Irgendwie hier eingreifen? — Wie?!
Dann wäre auch mein Schicksal besiegelt gewesen. Verhielt ich mich dagegen ruhig, öffnete ich mir bessere Zukunftsaussichten.
Ich wartete ab …
Vielleicht war Käpten Ewers doch nicht so unbegabt, das Kanu nicht zu bemerken.
Behielten beide Fahrzeuge die Richtung bei, mußte es in meiner unmittelbaren Nähe zu einem Zusammenstoß kommen.
Ich wurde etwas nervös … Das Gefühl, hier eine Verantwortung zu tragen, die vielleicht um Menschenleben ging, bedrückte mich …
Vorsichtig griff ich nach den Krokodilhäuten. Ewers hatte sie an einer Seite zusammengenäht, das heißt, Löcher eingeschnitten und durch Bindfaden verknotet.
Die Felle stanken …
Es half nichts …
Ich mußte mich unsichtbar machen können … Die Häute bedeckten mich nötigenfalls vollständig.
Ich hatte leider nicht mit meinem schlecht verankerten Floß gerechnet, das bei der geringsten Bewegung abtreiben konnte.
Es trieb ab …
Die geringe Erschütterung, als ich die Häute über mich deckte, hatte genügt.
Und — es war ein Glück, daß ich erst fünfzig Meter weiter wieder auffuhr.
Inzwischen hatte ich für Minuten die beiden Fahrzeuge aus den Augen verloren.
Ewers ruderte jetzt mit aller Kraft auf die schmale Halbinsel zu, die das offene Meer von der Lagune trennte. Er hatte den Gegner bemerkt und trachtete zu entkommen.
Die Chancen waren gleich Null.
Auch die Leute im Kanu lüfteten die Maske, tauchten die Blattruder tief ein, und ein Kanu, mit sechs Mann besetzt, sauste wie ein Motorboot dahin.
Die Verfolger suchten Ewers den Weg abzuschneiden und änderten die Richtung. Sie mußten so keine zehn Meter an dem Röhrichtfeld vorübergleiten, an dessen Rande ich nun festlag.
Der Gorilla erkannte die Gefahr. Er hatte zwei Pistolen im Gürtel gehabt und er begann zu feuern …
Der erste Schuß scheuchte sämtliches Federvieh der Lagune empor.
Philosophische Reiher und Kraniche, die bisher mit Engelsgeduld auf Baumstämmen gestanden und ins trübe Wasser gestarrt hatten, erhoben sich zugleich mit bunten Wildenten und Möwen und Wasserhühnern.
Die Lagune war ein einziger Lärm, ein einziges Brausen und Surren von Flügelschlägen.
Ewers war kein Schütze …
Er glaubte wohl, die Quantität würde die Qualität ausgleichen und pfefferte andauernd ins Blaue.
Seine Kugeln tanzten über das Wasser, flogen als Querschläger ins Leere …
Bis doch endlich ein Schuß saß.
In dem Kanu schnellte eine der knienden Gestalten kerzengerade hoch und platschte seitwärts ins Wasser.
Er hatte Glück …
Ein zweiter Ikarisi brach zusammen …
Das Kanu stoppte etwas …
Es war bereits halb an mir vorüber …
Da traf die dritte Kugel …
Eine unangenehme heisere Männerstimme stieß einen wütenden Fluch aus, — — englische Worte, und zwischen dem Grün der Zweige sah ich flüchtig einen Tropenhelm, ein scharfes Profil …
Ewers knallte weiter …
Oder war es nicht Ewers?! Sollte etwa die kleine Angeline die bessere Schützin sein?
… Ein Arm erschien drüben zwischen den Büschen des Bootes …
Ein Frauenarm …
Angeline drückte ab, und die Kugel ließ den vierten braunen Burschen zusammenknicken.
Das Kanu hielt, schaukelte …
Der Tropenhelm wurde sichtbar, — ein neuer Fluch …:
„Kleine Kanaille, — dann stirb!“
Aber Pierre, der feine Pierre, der nun die Büchse in die Schulter zog, ließ sie sofort wieder sinken …
Zwölf Meter für einen Pfeilschuß mit einem Bogen, den man nicht ausprobiert hat, sind eine anständige Entfernung …
Ich traf …
In den linken Oberarm …
Ein neuer heiserer Fluch, — — und doch war das Geschick gegen uns.
Zwei lange Kriegskanus, wie sie die Ikarisi nur noch als einziges Volk der Madagassen benutzen, weil sie eben als einzige noch in völliger Wildheit und Freiheit leben, während sonst auf Madagaskar überall bereits eine zweifelhafte Scheinzivilisation sich breit macht, — zwei vollbesetzte Kanus rauschten heran, und schleunigst zog ich die Schädel der Felle noch tiefer und äugte hinüber …
Fred Ewers gab das Spiel verloren. Er stand mit hochgereckten Armen da, brüllte mit seinem mächtigen Baß: „Morrell, — schonen Sie Ihre Schwägerin! Morrell, — — ich warne Sie, — — keinen Mord!“
Ein heiseres, rachsüchtiges Lachen …
„Kannst Zebu spielen wie die anderen …! Und Angeline …? Nun, was mir Carmen verweigerte, wird das Mädel mir geben müssen …!“
Braune Kerle rissen Ewers nieder …
Angelines bleiches Antlitz tauchte auf …
„Pierre, — — ich hasse dich!!“
„Und ich liebe dich, — — das gibt eine gute Mischung, kleine Angeline!“
Jetzt sah ich Pierre Morrells Gesicht ohne die Scheidewand der grünen Zweige.
Das Gesicht eines Gottes und Teufels zugleich.
Das Kanu lag fest neben dem Boote …
Ein braungelber Tierkörper schnellte durch die Luft: Monte, der Hund …!
Sein Peiniger schlug zu …
Die schwere Kriegskeule sauste nieder …
Ein Aufheulen …
Das Tier versank, und die Kanus und das Boot entfernte sich nach dem Urwald zu.
Angelines trostloses Schluchzen zerschnitt mir das Herz …
— — Pierre Morrell,, wir sehen uns wieder — — bald! — Und das erklang in mir wie ein Schwur …
… Die Lagune wurde wieder still …
Das Röhricht rauschte, der Ozean brandete.
Vor mir erschien ein Haarbüschel …
Wollte wieder versinken …
Ich packte zu …
Ein buschiger Hundeschwanz war mein, und an dem buschigen Schwanz hing noch der halbtote Monte …
7. Kapitel.
Am Binnensee.
Mittags lastete über dem Wasser eine unerträgliche Glut. Der sonst so zuverlässige und stätige Monsum hatte offenbar gerade eine Überholung seines Riesenblasebalges nötig und feierte.
Alles feierte. Alles Getier hatte sich in den Schatten verkrochen. Nur die Krokodile waren selbst gegen vierzig Grad gewappnet, lagen auf den Sandbänken umher und ließen sich schmoren, und auch die Fischreiher, deren gekrümmte Kopfschöpfe einen sehr praktischen Sonnenschirm darstellten, standen als verkörperte Geduldsprobe lauernd auf den Baumstümpfen.
Sogar die Wasserrosen und jene andere Art von Riesenblüten mit Riesenblättern, groß wie ein Zweizugtisch, hatten ihre Kelche geschlossen.
Unbarmherzig stach die Sonne und die wiederholten Ausflüge zu dem einzigen Quell der kleinen Felseninsel, die ich nun als neuen Schlupfwinkel erwählt hatte, waren eine Pein.
Die Felsen glühten …
Aber Monte brauchte kühles Wasser für die Kompressen seines übel zugerichteten Kopfes.
Das eine, das linke Ohr, war hin …
Es war zerquetscht worden, hatte allerdings die Wucht des Keulenhiebes abgefangen. Ich mußte es bis auf einen kurzen Stummel abschneiden, was im übrigen Montes zweifelhafter äußerer Schönheit nichts schadete, da das rechte Ohr bei irgend einem Hunde-Eifersuchtsduell zweimal aufgeschlitzt worden und nur aus Lappen bestand.
Monte, viel zu klug, meine Samariterdienste nicht voll zu würdigen, lag ganz still da und röchelte nur zuweilen, wenn ich die Kompressen erneuerte.
Dieses Inselchen hier bot außer der Quelle den nicht zu unterschätzenden Vorteil, keine hohen Bäume zu beherbergen, sondern nur Büsche und Dornen. Die Vögel fehlten fast ganz, die mich hätten verraten können, und die Ursache unseres Vogelmangels war bald entdeckt: Baumratten, so ein Mittelding zwischen Eichhörnchen, Ratte und fliegendem Hund, bewohnten die Insel zu Hunderten und unternahmen von hier aus ihre Beutezüge. Per Floß. — Es klingt dies höchst unglaubwürdig, aber es ist so. Die Tiere kennen ihren Hauptfeind, das Krokodil, sehr genau, und wenn man bedenkt, wie kunstvoll viele Vögel ihre Nester herstellen, wird man es auch den Baumratten zugestehen müssen, aus Röhrichtstengeln oder Zweigen kleine Flöße zu bauen, auf denen sie bequem und sicher bis zum Festland gondeln, indem einige das Floß schwimmend schieben. Erscheint ein Krokodil, ist die ganze Gesellschaft auf dem Floß vereint, und kein Krokodil schnappt danach — der fingerlangen Dornen wegen, die den Floßrand zieren.
Wir lagen im Schatten, Monte und ich, und da ich vorhin einen lachsähnlichen, meterlangen Fisch mit einem provisorischen Speer erbeutet hatte, wagte ich es schließlich, ein kleines Feuer anzuzünden, indem ich darauf vertraute, daß der Qualm der von einzelnen Inselufern aufsteigenden, durch Selbstentzündung schwelenden angeschwemmten Gräser und Schilfstengel mir dienlich sein würde. Die Ikarisispäher würden auch meine schwache Rauchsäule für eins der harmlosen Feuer halten.
Der Hunger war gestillt. Monte schlief. Auch ich streckte mich lang hin, im Nu war ich eingeschlummert. Auch mein Körper verlangte nach Ruhe.
Die Lagune war in Abendrot getaucht, als ich erwachte. — Nun, Freund Monte ging es tadellos, die fünf Baumratten, die ich für ihn erlegt und gebraten, waren bis auf zwei zusammengeschmolzen.
Trotzdem nahm ich ihn nachher nicht mit, dazu war er doch noch zu schwach. Von den Ikarisi hatte ich nichts mehr gespürt, ich verstärkte daher das Floß, um trocken zu sitzen, und fuhr noch vor Mondaufgang davon.
Ich hielt auf jene Mango-Insel zu, wo ich zuerst in der Baumhöhle Carmen Morrells Gesellschaft genossen und ihre Stimme gehört hatte. Wenn Carmen und Herr Aloys Hengst, jetzt nur noch ihr einziger Beschützer, irgendwo zu finden sein konnten, dann nur in der Baumhöhle des Mangostumpfes. — So kalkulierte ich …
Die nächtliche Fahrt war ja nun kein Paddelbootausflug. Im Gegenteil … Ich war wachsamer denn je, und ich rechnete allzeit mit der Möglichkeit, einem Kanu zu begegnen. Ich beobachtete Tiertragödien der Wildnis, und doch — all das trat zurück gegenüber dem Übermaß an Fragen, die sich mir immer wieder aufdrängten.
Worum ging es hier?!
Weshalb hatte Carmen ihren Gatten verlassen, weshalb war Pierre seiner Frau hier zuvorgekommen und hatte die Ikarisi für sich gewonnen.
Geldeswert?! Etwa ein zweiter Diamantenfluß?! Fast schien es so. Carmen hatte eine bestimmte Quelle durch die Edelfasanen suchen lassen, und eine Quelle wird zum Bächlein, zum Bach …
Diamantenbach?!
— Weg mit den Gedanken! Das waren spätere Sorgen.
Vor mir lag der tote Mango im Wasser, nein, über Wasser …
Friedlich standen acht Reiher dort, alle nur auf einem Bein, … schliefen …
Und dort ragte am Ufer im Gestrüpp der dicke Rumpf empor.
Ich landete …
Wartete, horchte …
Schließlich kroch ich durch das Dickicht, fand den Stein in dem Einschlupf liegen, — horchte wieder, — — ich hatte das ungewisse Gefühl, beobachtet zu werden, ich war sprungbereit …
Nichts …
Ich zog den Stein heraus, — Stein?! Sagen wir Felsstück …
Die Baumhöhle war leer.
Also der erste Fehlschlag …
Und dann — ich fuhr wie ein Blitz herum, ich war kaum erst wieder im Freien: Vor mir stand Brillenhengst … Lang, dürr, mit dummpfiffigem Kindergesicht.
„Haben Sie Appetit auf einen Giftpfeil?“, fragte er trocken. „Die Ikarisi sind recht munter, Herr Abelsen … Die suchen Frau Carmen … Können lange suchen … Aber Sie werden sich zwecklos opfern … Wir wissen alles … Der Käpten ist ein Dummkopf … Angeline sollte er holen, und nun verdauen ihn die Krokodile, fürchte ich. Wenn ich Ihnen einen guten Rat geben kann: Tun Sie gar nichts! Frau Carmen wird die Sache schon einrenken.“
Seine letzten Sätze klangen wie ein halber Befehl.
„… Und was Amed Schamis Leiche angeht, — kommen Sie… Wir sorgen auch für tote Getreue …“
Er schlüpfte durch die Büsche, und mitten in einem Dornengehege wies er auf den Boden, der dicht mit allerlei Blumen bepflanzt war.
„Sein Grab …“, meinte er schlicht. „Als Hindu hätte er ja verbrannt werden müssen, aber im Augenblick ließ sich das nicht machen …“
Hinter der rauhen Schale dieses langen Deutschen verbarg sich Gemüt.
Ich konnte ihm nur stumm die Hand drücken, — eine große Sorge war von mir genommen, eine …
„Führen Sie mich nun zu Frau Carmen …“, bat ich ihn etwas energischer. „Wir wollen zusammen beratschlagen, und …“
Vor uns erhob sich aus dem meterhohen Grase ein Mensch, — ich faßte zum Gürtel …
„Lassen Sie nur, es ist der alte Häuptling Karibanu,“ beruhigte mich Aloys Hengst …
Ein Greis?! — Es war ein wandelndes Skelett mit schneeweißem Kinnbart, schneeweißer Scheitellocke, zahnlos, trübe Augen, gehüllt in grellblaues Leinen, aber straff aufrecht, und um den halb offenen Mund einen Zug von Hochmut, Härte und Verbitterung.
Er redete mich leise in französischer Sprache an, recht gewandt, sehr höflich, aber trotzdem mit einer gewissen Herablassung.
„Monsieur, mir ist von Ihnen viel Gutes berichtet worden … Wir bitten Sie trotzdem, sich vorläufig nicht einzumischen. Wir kennen Ihr Versteck, pflegen Sie den Hund weiter, wenn wir Sie brauchen, rufen wir Sie.“
Der Wink war deutlich.
Aber er war so gar nicht nach meinem Geschmack.
Ich war es nicht gewöhnt, zweite Geige zu spielen.
Der alte braune Mann da vor mir, der sich nun auf einen schlanken Speer stützte, fügte in demselben Tone hinzu:
„Der Herrin angeworbene Leute leben … Wenn Sie also etwa, Monsieur, dieser Leute wegen sich schwerer Gefahr aussetzen wollten, handelten Sie gegen das Gebot des Verstandes, der uns zur Vorsicht mahnt. — Kehren Sie zurück, — die Herrin wird Sie benachrichtigen.“
Er führte die Hand leicht grüßend bis in Augenhöhe, winkte dem Herrn Aloys Hengst, und sie tauchten beide im Buschwerk unter.
Das war für mich nichts anderes — sagen wir — als ein glatter Hinauswurf. Ich war überflüssig …
Nun gut, — dann also… allein!
Mein Floß trieb dem Urwald zu, ich landete zwischen Mangrovenwurzeln, horchte, spähte ringsum, sah die rote Apfelsinenscheibe des Mondes auftauchen, und die dunkle Lagune ward geheimnisvolle Dämmerung.
Langsam zog ich das Floß von Luftwurzel zu Luftwurzel dorthin, wo sich der verborgene Kanal zum Binnensee befinden mußte.
Die Sterne funkelten jetzt heller, die eigentliche Tropennacht begann, eine jener Nächte stiller Wunder, die sich unter dem strahlenden Firmament vollziehen.
Mit der zunehmenden Dämmerung, die jetzt die Stunde der Dunkelheit abgelöst hatte, wuchsen die Gefahren … Es war nur ein mäßiger Schutz, den mir die nun sauber gereinigten Krokodilpanzer gegen Speere oder Giftpfeile boten. Beide Waffen sind heimtückisch … sind lautlos. Der Knall eines Schusses warnt, das Schwirren einer Bogensehne verliert sich in dem Gemenge nächtlicher Geräusche. Das Ohr nützt nicht viel, das Auge muß rechtzeitig warnen.
Rechtzeitig …
Da hockten an der Stelle, wo das übermannshohe Röhricht den Kanal maskierte, auf den Mangroven vier dunklere Schatten …
Speerspitzen, frisch geschliffen, funkelten wie matte Spiegel …
Also … umkehren!
Mir blieb nur der Weg durch den Urwald.
… Eine halbe Stunde darauf hatte ich einen breit ausgehauenen Pfad gefunden, den ich behutsam betastete. Wildschweinfährten liefen hier dicht bei dicht, kreuz und quer …
Wie das Zebu, das Buckelrind, den Reichtum und die Arbeitskraft der Madagassenstämme darstellt, genau so sind die Wildschweine das häufigste und leckerste Jagdtier. Genau so wie einst in den Wäldern an der Grenze Neumexikos die kleinen tollkühnen amerikanischen Wildschweine selbst den Jaguar anfielen und zerfleischten, nicht anders ist es mit diesen madagassischen Rüsseltieren: Gereizt, greifen sie blindwütig an. — Doch auch ihre Zeit ist bald vorüber … Die Zivilisation mordet sie, und der Küstengürtel, der einst in der Tiefe seiner Tropenwälder von ihrem frechen Grunzen und Quieken widerhallte, beherbergt zu viele buntscheckige Kerle, die mit Flinten und Schrot alles austilgen — alles … — Chinesen, Afrikaner, Inder, Perser, Araber haben dort ihr Blutgemisch zusammengeliebt, dessen Sprößlinge alle schlechten Instinkte ihrer verschiedenen Ahnen geerbt haben. — Die Europäer nicht zu vergessen …! Was sie Madagaskar brachten, war wie überall der Leichengeruch sogenannter Kultur — wie in der einst so seligen Südsee. Meines Freundes Chan Kai’s allumfassende Weisheit frohlockte, daß wenigstens einige Stämme des Inneren und hier an der Ostküste die Ikarisi jeden Fremdling kurzer Hand in ein Zebufell nähten und zwischen ihre Toten in die Baumäste hingen — — lebend … — Chan Kai lächelte: „Das hat geholfen, Olaf … — Und Strafexpeditionen?! In den Bergen?!“ — Und er hatte gegrinst … Das Übrige konnte ich mir denken: Herabrollende Felsen, Waldbrände, Steppenbrände …! — — Das Hinterland hier türmte sich auf zu Hochgebirgen, zu unendlichen Abhängen, mit Wäldern bedeckt … —
… Ich folge dem Wildschweinpfad, bis ich auf die ersten untrüglichen Anzeichen der Nähe einer menschlichen Siedlung stieß: Auf frischen Zebudünger.
Gleich darauf öffnete sich rechter Hand eine Lichtung, und ich sah ein Reisfeld, daneben einen Viehkral, mehrere kleine Wachtfeuer und vor diesen die ruhelosen Silhouetten von Menschen und von Hunden.
Ich war jetzt vielleicht zwei Stunden zu Fuß unterwegs, und das Bild dort vor mir enttäuschte mich. Ich hatte den großen Binnensee bisher nicht gefunden, und wenn ich auch glaubte, die Richtung leidlich eingehalten zu haben, so war auf dieses Selbstvertrauen hier wenig Verlaß.
Zu allem anderen kam hier noch die Sorge hinzu, von den Madagassenkötern gewittert zu werden. Mochten diese auch zumeist fett und faul sein, — Hundenase bleibt Hundenase, und der Körpergeruch eines Weißen ist für die Fettwänste der Ikarisi genau dasselbe wie der Körpergeruch eines Schwarzen, für die Bluthunde der südstaatlichen Pflanzer aus den Zeiten der Sklaverei.
Ich huschte weiter … Der Pfad wurde breiter, Reisstroh lag umher, — noch eine Viertelstunde, und das Zirpen der Grillen wurde übertönt von dem klingenden Läuten der Glockenfrösche, — ich roch das Wasser, noch eine kurze Strecke, und alle Zauber eines großen Waldsees mit dem Hintergrund gewaltiger Bergmassen taten sich mir auf. In der matt schillernden Fläche zog sich ein langer dunkler Schatten hin, durchsetzt von der roten flackernden Glut von brennenden Holzstößen: Eine Insel, größer als all die Laguneneilande, nach Westen zu mit einer kahlen steilen Kuppe als Abschluß, die oben schneeweiß schimmerte: Vogeldünger von Jahrtausenden, aufgehäuft von unendlichen Generationen von Seevögeln, die hier einst genistet, gebrütet, Junge großgezogen hatten und gestorben waren, wie dies so der Welt und der Einzelgeschöpfe vorbestimmter Lauf ist.
Die untere Gabelung eines Mango sollte mir vorläufig als Ausguck dienen. Bevor ich jedoch den ersten Klimmzug an den Lianentauen getan, schoß hinter mir aus dem Baumschatten ein hoher Tierkörper japsend heraus, und der Hund Monte, den durchgenagten Strick noch um den Hals, stellte sich triumphierend vor mich hin und hob den Oberkörper, legte mir die Vorderpfoten auf die Schultern und stieß mir seinen hastigen Atem mit tropfender, Zunge überfroh ins Gesicht.
Es ist mir bis heute ein Rätsel geblieben, wie er von der Insel trotz der Krokodile an Land gekommen und meine Spur gefunden haben mag. Er war da, und wer je einen Hund besessen und je die Freude des Tieres bei unverhofftem und halb unerlaubtem Wiedersehen erleben durfte, weiß genau, was ich tat: Monte streicheln und beruhigen!
Ich nahm ihn dann am Halsband, ein Gebüschstreifen zog sich bis zum sandigen Seeufer hinab, und hier kauerten wir nun und schauten nach der Jacht aus, deren Mastspitzen irgendwo sichtbar sein mußten. Ich bemerkte nichts, nur vor mir lag im Schilf ein morsches Kanu, die Ränder verfault, keine Sitzbretter mehr, innen ein Haufen Stroh und Laub, und dicht neben der Kanuspitze die Schnauze eines Krokodils, dessen Augen im Mondlicht Unglücksopalen glichen.
Der Hund Monte drängte plötzlich vorwärts, obwohl ihn der Moschusduft der Panzereidechse, die sich bereits etwas auf den Vorderbeinen aufrichtete, warnen mußte.
Er winselte dazu ganz leise, und — — plötzlich schnellte das Krokodil vorwärts, wurde jedoch durch eine mir zunächst unbegreifliche Kraft zurückgerissen, während gleichzeitig das Kanu noch näher heranglitt.
Die seltsame Verkettung zwischen dem mißglückten Angriff des Krokodils und der Bewegung des Bootes wollte mir nicht recht in den Kopf, und dies umso weniger, als ich deutlich gewahrte, daß dem gefräßigen Vieh dort im Wasser um die Schnauze ein Tau gewickelt war, das erst hinter den Vorderbeinen endete.
Monte winselte stärker … Ich spürte den Schlag seiner wedelnden Rute gegen meine Schenkel, und eine blitzartige Ideenverbindung ließ mich leise rufen:
„Hallo, — — etwa Sie, Käpten?!“
Der nasse, faulende Strohberg im Kanu geriet in Aufruhr … Aus dem gelben Stroh schob sich ein roter Besen hervor, dessen Borsten nach allen Seiten starrten. Dann kam etwas tiefer noch etwas Rotes zum Vorschein, und aus einem schwarzen Loch fauchte ein Kellerbaß in vorsichtigstem Pianissimo:
„Mann, kriechen Sie sofort in dieses kühle Bett … Der Tanz wird sofort losgehen … Die Schafsköpfe werden meine Flucht beim Ablösen der Wachen merken, wenn auch meine beiden Wächter vorläufig kaum reden können, vielleicht …“
Ein Schuß knallte irgendwo … Das Echo der Waldränder warf den Schall zurück, und das benutzte Gewehr mußte eine Elefantenflinte gewesen sein, Format: Kleingeschütz!
Nun war der Teufel los …
Fernher stieg ein Gebrüll zum Himmel, das sämtliches Getier vollends scheu machte.
Wie durch Zauberschlag flackerten ringsum an dem Seeufer Feuer auf, und da erst sah ich, welch unverschämtes Glück Monte und ich hatten: Fünfzig Meter rechts und links prasselte und knisterte brennendes Reisstroh, Flammenzungen fuhren gen Himmel, und eilends nahm ich Monte in den Arm, kroch in das halbwracke Kanu, wo Fred Ewers bereits die Strohdecke gelüftet hatte.
„Rein mit Ihnen!“ knurrte er … „Und liegen Sie gefälligst still …! Denken Sie, es ist ein Spaß, ein solches Mistvieh zu lenken?! Warten Sie nur, wir müssen hier weg, wir müssen drüben zur Insel, dort sucht uns niemand … — Hallo, du infames Vieh, — — wirst du wohl parieren!“
Meine Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt, — wir hockten hier unter einem Dach von Stroh, grüne Zweige waren im Bogen von Bord zu Bord festgeklemmt, links war ein Loch in der Bordwand, durch dieses Loch lief ein dicker Strick, und neben dem Strick bewegte sich ein Lanzenschaft.
„Ewers, was tun Sie da?!“
Ich war so ziemlich sprachlos.
Sein kollerndes Lachen klang ziemlich stolz.
„Was ich[1] tue, Abelsen?! — Kunststück — — Frage!! Waren Sie mal in Florida?”
Er stocherte mit dem Speer wieder draußen im Wasser …
„Nein … — Haben Sie etwa das Krokodil an das Kanu gebunden?“
„Natürlich … In Florida veranstalten die ganz Übergeschnappten Alligatorrennen, und ein Alligator ist ein Krokodil … — Mistvieh, wirst du wohl ziehen!!“
Es gab einen Ruck, das Kanu schwankte, und das Rauschen des Schilfes bewies, daß wir tatsächlich fuhren.
„Ein elender Schleppdampfer …!“, fluchte der Gorilla … „Aber haben Sie keine Angst, unser Kahn kippt nicht um, das Tau ist genau in der Mitte unten am Boden verknotet … Sehen Sie, die Kutsche gondelt … Ist übrigens nicht meine Erfindung, ist ein alter Ikarisischerz aus jenen Zeiten, als diese braune Bande noch die besten Leute für die Leibwache der Königin Ranavalona III. uns Letzten stellten … — Achtung, die Kanaille steuert verkehrt … So, — ein gelinder Stich in die andere Bauchseite, — — aha, — — volle Fahrt voraus, — — glänzend … — Na, was sagen Sie nun, Abelsen?!“
„Gar nichts … Ich warte, bis die Geschichte kentert und wir im Wasser liegen …“
Aber so toll das Stückchen auch war, das der Käpten sich hier geleistet hatte, — — die Sache klappte!
Röhricht streifte die Kanuwände, Ewers kappte das Tau, das Krokodil verduftete, und wir lagen mitten in einem rauschenden, knisternden Wasserdickicht, keine sechs Meter vom Inselufer entfernt.
Der Käpten klappte das Stroh zurück, — draußen waren noch immer alle Teufel unterwegs, und sogar auf der Insel wurden die flackernden Scheiterhaufen vermehrt.
Der Gorilla feixte und kramte in seinen Taschen, brachte ein daumenlanges Stück Priem zum Vorschein, schob es in die Backe und streichelte Montes Kopf mit aller Vorsicht …
„Du hast mit Pierre auch noch etwas zu verrechnen, mein guter Hund … Wir alle haben es, und wenn mal all diese Wechsel präsentiert werden, dürften Herrn Pierre die Augen so tränen, daß er sich auch gleich seine verruchte Seele mit ausweint … Besonders der Fürst ist geladen wie ein Pulverfaß, und mit Olgurow ist nicht zu spaßen … Der vergißt es keinem, der ihn je zum Arbeiten zwang und einen braunen Kerl mit einem Knüppel als Aufseher daneben stellte! Können Sie sich Olgurow bei der Reisernte vorstellen — — mit den feinen Falschspielerhänden?! Ich sage Ihnen, Abelsen, den Blick hätten Sie sehen sollen, den der Russe so eisig kalt über Pierre hinschweifen ließ, als der Aufseher zuschlagen wollte und als Pierre höhnisch lachte …! Ich sage Ihnen, Pierre lachte nicht mehr …! Er drehte sich um und verduftete. Nein, solch eine Sorte Edelfasan so anzupacken, ist ein verdammtes Risiko …“
Was ging mich all das an?!
„Wo ist Angeline?“, fragte ich stockend …
„Ich weiß es nicht, Abelsen … Aber das weiß ich: Wenn dieser Wicht sich an unserem kleinen Mädelchen vergriffen haben sollte, dann soll er … braten, bei lebendigem Leibe braten, falls ihn nicht schon vorher seine Durchlaucht abgekehlt hat, — — was zu befürchten steht … Es wird ein großes Wettrennen geben, wer als erster Herrn Pierre unter die Finger bekommt … — Hallo …, — — runter mit Ihnen …! Solch eine Schweinerei …!“
Ein blendend weißer Lichtkegel, war über uns hinweggeglitten, — kehrte zurück … Klebte auf uns …
Es war zu spät …
Die Jacht „Carmen“ rauschte heran …
Ihre Reling war dicht besetzt mit Bewaffneten.
Scharfe Kommandos …
Ein noch schärferer Befehl …
— Wir hatten das Spiel vorläufig verloren.
8. Kapitel.
Pierre.
Dem armen Gorilla erging es nicht gut, während man mich auf Pierre Morrells Befehl fast zu zart anpackte und sogar gestattete, daß ich Monte mitnahm.
Man führte mich in die Heckkajüte, man stieß die Tür auf … Monte behielt ich fest am Halsstrick.
Ich stand zum ersten Male Pierre Morrell Auge in Auge gegenüber.
Die Tür fiel zu, und Pierres Leibgarde, alles dunkelhäutige Araber aus irgend einem nordafrikanischen Hafennest, wie ich annahm, entfernten sich sämtlich. Meine Waffen hatte man mir abgenommen, und da Morrell auf dem Tisch vor sich zwei Pistolen liegen hatte, war für ihn diese großartige Geste, mit der er die Kerle weggeschickt hatte, ein sehr ungefährlicher, und ein sehr durchsichtiger Spaß.
„Setzen sie sich dorthin …“, — er zeigte auf die andere Schmalseite des langen Tisches …
Vier Meter lagen zwischen uns …
Und … Welten trennten uns.
Ein einziger Blick hatte mir genügt: Den Typ von Mann kannte ich … —
Er hatte eine schlanke, bewegliche, beherrschte Figur, schwarzes, glattes, gescheiteltes Haar über einer schmalen Stirn mit eingesunkenen Schläfen, sehr starke dunkle Brauen, tiefliegende dunkle Augen mit langen Wimpern, eine dünne, leicht gekrümmte Nase, einen zu kleinen Mund, zu große Ohren und eine schwach entwickelte Kinnpartie. Die Oberlippe war zu kurz, die blendend weißen Zähne blieben stets sichtbar, und der Hals war unförmig dick und allzu muskulös.
Für den flüchtigen Beobachter und für Frauen mochte Pierre eine bestechende Erscheinung sein. Ein sehr verbindliches Lächeln lag um seinen Mund.
Das war — er, — für mich: Schamloser Genußmensch, hinterlistig, wahrscheinlich feige, eitel, selbstherrlich und beschränkt. Vielleicht tollkühn aus Eitelkeit, vor Zeugen.
„… Bedienen Sie sich bitte …“
Sehr höflich. Zigaretten und Likör standen dicht vor mir. Ich dankte.
„… Ich habe von Ihnen gehört, Mr. Abelsen … Meine kleine Schwägerin verriet mir Ihren Namen …“, begann er von neuem. „Ich glaube, wir sind verwandte Naturen… Abenteurer besonderer Art… Nicht wahr?“
„Nein.“ — Was wollte der fade Bursche von mir? Weshalb diese Unterredung. „Verwandte Naturen, Mr. Morrell, können wir kaum sein. Giftpfeile, auf Befehl eines Europäers benutzt, stellen diesen Mann auf eine Stufe mit Giftmördern. — Haben Sie mir nichts Besseres zu sagen?!“
Sein Lächeln schwand, kehrte zurück. „Oh, gewiß, — sehr vieles …“
Er zog eine Juchtentasche hervor und hielt mir einen Zeitungsausschnitt hin.
„Sind Sie das? — Ein Steckbrief‥! — Die nächste französische Militärstation wäre mit der Jacht in fünf Stunden zu erreichen …“
Sein prüfender, verschleierter Blick wurde enttäuscht.
„In fünf Stunden kann sehr viel geschehen“, sagte ich nur.
„Gewiß …“ Seine Zähne entblößten sich vollkommen. Hohn und Niedertracht warfen ihre Streiflichter über dieses dekadente Gesicht. Aber, — die Maske fiel wieder herab, deckte den Trug, — er lächelte …
„… Wir wollen uns hier nicht lange mit der Vorrede aufhalten“, sprach er sehr flüssig und ölig weiter. „Die kleinen Meinungsverschiedenheiten zwischen mir und meiner Frau sind Ihnen der Ursache nach wohl unbekannt …“
Ein lauerndes Zwinkern …
Ich erlöste ihn aus der Ungewißheit.
„Ich weiß nichts darüber …“
Er nickte zufrieden. „Ja, Angeline sagte es mir … Es ist auch zweckmäßiger, Sie hören von mir alles Nötige. — Meine Frau ist eine Großnichte der letzten Königin von Madagaskar, die bekanntlich in Algier im Exil starb, nachdem man ihren Gatten standrechtlich erschossen hatte. Man nennt so etwas „großzügige Kolonialpolitik“ …! Alle europäischen Staaten haben auf ähnliche Weise in friedlichster Art exotische Länder … erworben. Spanien machte damit den Anfang, England verstand diese Kunst des Länderraubes in der Vollendung, und …“ — er verlor den Faden, in seine Züge trat ein Ausdruck von Geistesabwesenheit, und ein scheues, hilfloses Grinsen zuckte um seinen Mund …
Ich wurde aufmerksam.
„… Jedenfalls, — Carmen und Angeline sind die letzten Verwandten der Hova-Königin“, stieß er überhastet hervor. „Die selige Königin Ranavalona hatte nun in ihre Leibwache, da ja die hellhäutigen Howas gänzlich degeneriert waren, zumeist Ikarisikrieger eingereiht …“
Seine Finger krabbelten wie Spinnen über die Tischdecke. Schon wieder hatte er den Faden verloren, lächelte noch hilfloser und duckte schnell den Kopf.
Ich bin nicht Psychiater, nicht Irrenarzt, aber wir hatten da in dem staatlichen Luxushotel, das mich gratis ein paar Monate beherbergte, in der Tischlerei einen „Lebenslänglichen“, der bereits völlig kindisch geworden war und der sich gerade an mich eng anschloß. Vielleicht ahnte er, daß ich mich sehr bald wieder ins öffentliche Leben verflüchtigen wollte, seine einzige Sehnsucht war ja … das Meer, noch einmal als Fischer die Netze einzuziehen … — Er hatte drei Menschen ermordet, drei Verwandte, und die Ärzte nahmen einen „Grenzfall“ an, das heißt, sie billigten dem Mann halbe Unzurechnungsfähigkeit zu. — In Wahrheit war der Ärmste von jeher irrsinnig gewesen. Mir fiel auf, daß er bei seinen Erzählungen immer wieder stockte, von vorne anfing, — ich fragte, ob er diese „Geistesabwesenheit“ schon als Kind an sich bemerkt hätte, — er bejahte, er wäre schon auf der Schule nie fähig gewesen, ein Gedicht auswendig zu lernen, und zuweilen sei es ihm späterhin passiert, daß er Gegenstände verlegte und nicht wiederfand, oder nur durch einen Zufall. — Immerhin wußte ich genug über Geisteskrankheiten, um festzustellen, daß der Sträfling von jeher an Bewußtseinsstörungen gelitten hatte, ich meldete dies dem Anstaltsarzt, der sofort begierig die Sache aufnahm. Der Lebenslängliche kam frei, er war harmlos geworden, er wird, hoffe ich, das Meer und seine Netze und die Abendsonne am Horizont wiedergesehen haben.
Nun saß mir hier, Jahre später, ein Mann gegenüber, dessen Konzentrationsfähigkeit vollständig versagte, dessen Blicke in diesen Momenten des Aussetzens des Gehirns scheu, leer und wie gehetzt waren.
Ich merkte noch schärfer auf.
Pierre Morrell hatte sich jetzt schnell ein Glas mit Whisky gefüllt und trank …
Die brennende Zigarette versengte das Tischtuch …
Er sah es nicht.
Ein Qualmfaden stieg hoch …
Erst der brenzliche Geruch ließ ihn die Zigarette ausdrücken.
„Sie sind recht zerstreut …“, warf ich hin.
Wieder traf mich der scheue Blick.
Er riß sich zusammen.
„Überarbeitet, Mr. Abelsen …“
„Was arbeiten Sie?“
„Ich bin … Arzt …“
Seine Schultern sanken herab, der Kopf ebenso … Die Finger krallten sich ineinander.
… Arzt …?! Und da sollte er nicht wissen, wie es um ihn stand?!
„Morrell!!“
Der scharfe, herrische Anruf hatte bei ihm genau denselben Erfolg wie bei jenem Larson, dem Lebenslänglichen.
Er zuckte hoch, suchte sich Haltung zu geben und starrte mich abwartend, wie aufhorchend an, was nun folgen würde. Die Augen blieben eigentümlich leer.
„Morrell, erzählen Sie weiter …“
Er betupfte sich die Stirn, und — dann setzte die Denkmaschine wieder ein …
„Sehr gern, — — also weiter … Wo waren wir doch stehen geblieben?“
„Bei der Quelle … bei der bewußten Quelle.“
Es war ein Experiment, das ich hier wagte. Es glückte …
„Natürlich, — bei der Quelle … — Carmen pflegte eben im Schlafe zu sprechen, sonst hätte ich nie davon erfahren … Und weil sie mir nicht nähere Auskunft geben wollte, entzweiten wir uns …“
Ich konnte mich mit diesen dürftigen Andeutungen nicht zufrieden geben.
„Also eine Quelle hier in den Ikarisi-Bergen. Und … ein Schatz?“, fragte ich auf gut Glück.
Er kniff die Augen klein. „Abelsen, — — wollen wir teilen? Es muß sich um Millionen handeln … Viele Millionen … Die Königin Ranavalona starb bettelarm — — absichtlich … Sie besaß ungeheuere Reichtümer… Niemand fand sie bisher, und nur Carmen weiß davon… — — Wollen wir teilen?“
Also das war es! Deshalb diese Unterredung unter vier Augen, deshalb erhob er sich jetzt, ging zur Tür, spähte in den Gang hinaus, verriegelte die Tür und setzte sich wieder.
„Wollen wir teilen?“ … Er flüsterte … „Ich finde die Quelle nicht … Carmen ist mir entschlüpft … Bringen Sie mir Carmen her, und … das weitere besorge ich!“
Seine Zähne blinkten … Der dicke Hals quoll noch mehr auf.
In solchen Augenblicken, in denen man so schwerwiegende Entscheidungen treffen muß, in denen alle Vorteile und Nachteile dieses oder jenes Entschlusses gegeneinander abgewogen werden müssen, drängt sich das rein geistige der Menschennatur derart in den Vordergrund, daß selbst der „Nur-Tatmensch“ zum „Nur-Diplomaten“ wird.
Aber eines fehlte mir noch, hier die Umstände voll zu berücksichtigen.
Ich mußte Gewißheit haben, ob Pierre Morrell wirklich nur auf jenen schmalen Grenzweg zwischen voller Zurechnungsfähigkeit und krankhaften Trieben dahintaumelte. Dies war ein selbstverständliches Gebot.
Habgier war sein Leitmotiv gewesen. Die Mittel, derer er sich bedient hatte, waren so abschreckend gewissenlos, daß schon die Anwendung dieser Mittel für ein angekränkeltes Hirn sprachen.
Mit tiefstem inneren Widerstreben ging ich nun Schritt für Schritt auf der mir durch die eiserne Notwendigkeit vorgezeichneten Bahn vor.
„Ihr Vorschlag wäre zu überlegen, Morrell“, sagte ich leise. „Können wir hier auch nicht belauscht werden?“
Sein Gesicht rötete sich, seine Augen glänzten.
„Nein … Es befinden sich an Bord nur drei Wachen … Die Männer, die ich da von Algier hierher mitnahm, wissen nichts und ahnen nichts … — Reden Sie also … Wo ist Carmen?“
Mein Blick streifte die Oberlichtfenster. Sie waren geschlossen, und das matte Glas war undurchsichtig.
„Bevor wir einen Vertrag schließen, Morrell“, erklärte ich eindringlich, „müssen Sie mich in die Sachlage vollständig einweihen. An meiner Entscheidung wird das ja nichts ändern.“
Er faßte das Wort „Entscheidung“ anders auf.
„Gewiß, das begreife ich …“ Er beugte sich weit über den Tisch. Seine Finger spielten unabsichtlich mit den entsicherten Pistolen. „Da ist übrigens nicht viel zu berichten, Abelsen … Ihnen ist vielleicht bekannt, daß die Königin Ranavalona eine Tante und einen jungen Neffen mit in der Verbannung nach Algier nehmen durfte, wo sie in einer kleinen weißen Villa in strengster Abgeschlossenheit lebte. Der Neffe der Königin sollte nicht heiraten, die Familie sollte erlöschen. Hohe Politik!! Aber der Mann war schlau, und als er sich in die Tochter eines reichen griechischen Kaufmanns verliebte, wurde das Mädchen als Dienerin in die Villa geschmuggelt, ein griechischer Priester segnete die Ehe ein, und …“ Schon wieder versagte sein Hirn … Ich — — verzichtete auf weiteres.
„Morrell!!“
Der Anruf wirkte.
„Morrell, schreiben Sie einen Vertrag, — ganz kurz … Dann werfen Sie ihn mir zu, und ich werfe Ihnen das Papier zurück … Beeilen Sie sich …“
Ekel, Mitleid quollen in mir hoch.
Nur eines wünschte ich: Hier ein Ende machen!
Wäre Pierre ein angemessener Gegner gewesen, hätte es mir Freude bereitet, ihn zu überlisten.
So aber?!
Es war ein unwürdiges Spiel. Daß es notwendig war, konnte meine Empfindungen des Widerwillens nur abschwächen.
Er hatte eine Füllfeder hervorgeholt und riß die leere Seite eines Briefes ab.
Er lächelte wieder mit jener übertriebenen Selbstgefälligkeit, die mir bewies, daß er … mich hineinzulegen gedachte. Sein Lachen sollte liebenswürdig harmlos sein …
Dann flog das gekniffte Papier über den Tisch.
Was Pierre geschrieben, verriet die ganze raffinierte Hinterhältigkeit des Irrsinnigen.
An Bord der Jacht „Carmen“,
Ikarisi-See, den 2. 10. 19‥
Zwischen den Herren Olaf Karl Abelsen, Ingenieur, schwedischer Staatsangehörigkeit, und dem Arzt Doktor Pierre Sebastian Morrell, portugiesischer Staatsangehörigkeit, wird vereinbart, daß der Nachlaß der Gattin Doktor Morrells geteilt werden soll.
Dr. Pierre Morrell.
„Ist Ihnen der Text recht?“, fragte er lauernd.
„Vollkommen … Reichen Sie mir Ihre Füllfeder …“
Er griff mit der rechten Hand nach der einen Pistole, mit der anderen nach dem Füllhalter.
Ich überflog nochmals den Zettel.
„Halt — noch einen Augenblick … Fügen Sie noch hinzu, Morrell, daß der Vertrag sich auch auf den Nachlaß der Hova-Königin bezieht … Es ist lediglich Formsache …“
Er warf mir einen tückischen Blick zu.
„Gut, —— und Sie verschaffen mir Carmen?“
„Ja, sobald ich das Papier unterzeichnet habe.“
Ich kniff es ganz schmal, warf es mit sicherer Hand, — — das Papier flog links neben Pierres Platz auf den Teppich, er bückte sich blitzschnell, hob es auf, richtete sich auf, und als sein Kopf in einer Höhe mit der Tischkante war, versetzte ich dem Tisch einen solchen Stoß in der Längsrichtung, daß Morrell hintenüber flog und regungslos liegen blieb …
9. Kapitel.
Pierres Freunde.
… Der Hund Monte winselte, die Ventilatoren surrten, — — ich horchte.
Minutenlang saß ich selbst wie versteinert da.
Ich hatte einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Ein Gefühl der Übelkeit lähmte mich.
Ich kam mir erbärmlich vor, — vielleicht zu Unrecht. Aber — — es mußte sein …
Ich hatte die Geschicke vieler Menschen hier in meine Hand genommen, ich hatte mich aufgeworfen zum Helfer. Ich mußte handeln …
Ich fesselte den Bewußtlosen mit einer Vorhangschnur, steckte ihm einen Knebel in den Mund, legte ihn unter einen Wanddiwan und schlich in den schmalen Kabinengang, Angeline zu suchen.
Drei Türen waren unversehrt, die vierte hatte zwei frisch angebrachte, vorgeschobene Riegel.
Ich öffnete, es brannte Licht, und von dem Bett schnellte eine kleine blonde Katze hoch.
Angelines Züge erstarrten …
„Olaf, Sie …?!“
Und dann ein graziöses, beglücktes Heben der Arme … Angeline umklammerte mich, weinte …
Für Tränen war hier keine Zeit.
„Kleine Angeline, — Pierre ist ausgeschaltet. Wir müssen fliehen, ihn mitnehmen …“
Und dann das Schwere:
„Angeline, Pierre ist geisteskrank …!“
Sie fuhr zurück.
Und doch sah ich in ihren tränenfeuchten Zügen nicht jenes Entsetzen, das ich erwartet hatte.
Ihre dunklen Augen schauten mich grüblerisch an …
„Ich … habe es geahnt, Olaf …“, flüsterte sie, bereits wieder völlig gefaßt.
Und dennoch erschauerte sie …
Mein sanfter Zuspruch wirkte, und ich konnte das erledigen, was hier noch getan werden mußte.
„Sie bleiben hier, Angeline“, bestimmte ich. „An Deck sind drei Wachen, es werden wohl Pierres Vertraute sein … Kennen Sie die Namen der drei?“
„Gewiß, es sind Mischlinge … Sie nennen sich Araber … Schurken sind es … Olaf, seien Sie vorsichtig … Die Kerle sind schlau und stark, und es sind …“
„Die Namen?“
Ich merkte sie mir …
„Monte behalten Sie hier, ich hole ihn …“
„Hallo, Mustafo … Morrell will dich sprechen …“
Ich stehe frei und frech auf der Kajüttreppe und eine der drei Deckwachen eilt zu mir.
Zwischen meinen Lippen glüht die Zigarette, und Mustafo mit ehrerbietigster Hochachtung …:
„Sind Sie einig geworden, Mr. Abelsen?“
„Und ob …! Ihr sollt den Vertrag mit unterzeichnen … Komme nur, zuerst du …“
Ja — zuerst du, mein Sohn …
Er tritt arglos ein …
Ein dumpfer Schlag, ich fange ihn auf …
Herr Mustafo leistet Pierre unter dem Diwan Gesellschaft.
Immerhin, es bleiben noch zwei …
„Selim, — Ibbar, — auch ihr sollt unterschreiben …“
Wieder die Treppe, die Zigarette, — draußen stille Mondnacht …
Die Kerle lauern schon.
„Morrell billigt jedem von euch ein Achtel der Beute zu, — das dürfte fast eine Million sein, ihr Halunken …“, — und die Komödie glückt, Selim und Ibbar eilen die Stufen hinab, die letzten Stufen brauchen sie nicht mehr die Füße zu bewegen, ein Pistolenkolben ist ein hartes Ding …
Platt wie die Frösche liegen sie im Gang, und die kleine Angeline fliegt herbei, auch die Helden werden verstaut, und vorläufig ist die Jacht unsere.
Ich bin doch etwas außer Atem gekommen, ich muß mir nun zuerst einmal die Umgebung genauer betrachten, bevor wir einen weiteren Schlag wagen.
Die Jacht ankert unweit des schroffen Felsens mit der weißen Guanokappe, der den Abschluß der langen Insel nach Westen bildet. Dem Felsen gegenüber erheben der Urwald und das Gebirge unmittelbar ihre düsteren, feierlichen, übereinander getürmten Kulissen. Ein breites Tal schneidet tief und geheimnisvoll in die von Dämmer umflossene Szenerie, und fern, ganz fern dehnen sich Terrassen mit helleren Feldern, in denen stete Bewegung zittert, und glühen rote Feuer vor dem Hüttengemenge eines Dorfes.
Ikarisi-Dorf … Die Küsten-Ikarisi, die Vorposten … Die Hauptmasse des Volkes wohnt weit höher in den Lichtungen versteckter Schluchten.
Mein Blick senkt sich wieder und huscht über die Seeufer hin. Es brennen nur noch wenige Wachtfeuer, und auf der Insel selbst am Südfluß des Bergkegels schillern die Konturen eines großen Tropenzeltes, in dem Licht brennt.
Menschen bewegen sich dort, ihre Schatten gleiten über die Zeltwände wie über ein Transparent und in das Zirpen der Grillen und das Läuten der Glockenfrösche, die zu Ehren der Mondsichel die Köpfe aus dem Schilf strecken oder auf den grünen Tellern der Seerosen zu Dutzenden hocken und eine feierliche Andacht mit ihren Glockenstimmen veranstalten, mischt sich das hastige Schrillen von Bangosaiten, in deren eintönige Melodie zuweilen eine Flöte kreischend einfällt.
Angeline, neben mir im Schatten der Heckkajüte, flüsterte tuschelnd:
„Pierre hatte zwölf seiner Banditen mitgebracht … Drei sind tot, drei jetzt gefangen, bleiben sechs. Dort hausen sie in dem Zelt, und in dem Felsen stecken Carmens Leute und die beiden Frauen, — Edelfasanen, sagt Fred Ewers …“
„Es sind noch Ikarisi auf der Insel, kleine Angeline?“
„Ja … zu viele …“
„Und wie gelangtet ihr hierher?“
„Auf Frachtdampfern, als Passagiere, zuletzt zu Fuß die Küste entlang …“
Es ist das sehr nebensächlich, — ich sage gar nichts mehr.
„Ewers befindet sich bestimmt hier auf der Jacht“, fügt das Mädchen hinzu, als ob sie meine Gedanken erraten hätte. „In Eisen, Olaf … Unten im Laderaum, in Ketten … Morgen oder heute früh sollte er … eingenäht werden, — Sie verstehen …“
Ich verstand.
Ich möchte nur noch über einen Punkt Klarheit haben.
„Ich begreife nicht, daß Pierre die Ikarisi für sich gewinnen konnte … Die Ikarisi müssen doch wissen, daß nur Sie, kleine Angeline, und Carmen Nachkommen, Verwandte der letzten Hova-Königin sind.“
„… Er stahl Carmen den Talisman, Olaf … Und ich … half ihm dabei …“ Ihr Stimmchen zittert. „Es war ein Talisman, wie ihn die meisten Ikarisi tragen, — aufgereihte Krokodilzehen, Zähne und durchlochte Goldplättchen, aus Teilen von Goldmünzen gehämmert. Jede Zehe, jeder Zahn, jede Goldscheibe haben ihre Bedeutung, und diese lange Halsschnur stellt die Botschaft oder den Ausweis dar, die uns schützte … Der Oberhäuptling Karibanu, den wir hier anzutreffen hofften, war bereits tot, und sein Nachfolger und Enkel ist nicht in das Geheimnis eingeweiht. Deshalb fand Pierre die Quelle nicht …“
Ich horchte auf. — Karibanu?! Tot?!
… Ich sah plötzlich als klare Vision meines Freundes Ameds Grab und den alten, weißbärtigen Eingeborenen, der mit mir gesprochen hatte.
Ich schwieg trotzdem. Karibanu lebte, und ein neuer Abschnitt eines dunklen Intrigenspiels zeigte mir seine verschwommenen Umrisse.
„Warten Sie hier, Angeline, und geben Sie auf das Zelt acht … Ich hole Käpten Ewers.“ — Die kurze Pause, die ich mit Beobachtungen und Fragen hatte ausfüllen wollen, war vorüber. Die Zeit des Handelns war gekommen, und da der Morgen sehr bald heraufziehen mußte, tat Eile not …
Ich ging zur Vorderluke, klappte sie hoch und fand den Raum, den ich bereits kannte, wie damals hell erleuchtet.
An einer Kiste saß Fred Ewers, tatsächlich angekettet wie ein frisch gefangener Elefant.
Die Ketten fielen herab, der Gorilla stellte sich breitbeinig aufrecht, und sein erster Griff galt den Falten seiner umgekrempelten Leinenhosen, aus denen er ein in Staniol eingewickeltes Ende Priem hervorangelte, ein Stück davon abbiß und dann erst fragte:
„Sind die Kerle tot?“
„Nein … Nur betäubt … Pierre und seine drei Araberfreunde sind es …“
Er grinste verächtlich. „Araber?! Und nicht tot?! — Halbe Arbeit, Abelsen… Sie sind zu weich für dies Geschäft.“ Er stampfte zur Treppe, ohne eine weitere Frage zu tun. An Deck oben duckte er sich jedoch geschmeidig hinter der Reling und knurrte schnell:
„Ein Boot — die anderen Halunken!“
Angeline huschte herbei.
„Olaf, — sie kommen … sie haben gerufen, und da Mustafo sich nicht meldete, …“
„Kindchen, ein Glück, daß sie kommen … Dort ist das Fallreep … — Achtung, im Schatten bleiben …“, — er schob den rechten Ärmel etwas hoch, ballte die Faust, und …
Wieder kam der Ruf herüber:
„Hallo, Mustafo …?!“
„Melden Sie sich, Abelsen … Zeigen Sie sich in voller Figur …“, zischelte der Kapitän … „Lügen Sie dem Pack die Hucke voll …“
Ich schlüpfte zur Hecktreppe, tat so, als käme ich soeben erst aus der Kabine, und lehnte mich am Fallreep über die Reling …
Alle sechs saßen in dem Boot, sie schienen doch irgendwie Verdacht geschöpft zu haben, und einer der Burschen, der sich zweifellos des Fürsten patenten Tropenanzug ausgeliehen hatte, hob bereits seine Büchse und zielte mit aller Bedächtigkeit …
Hier half nur die größte Unverfrorenheit.
„Wenn ihr euch nicht zum Teufel schert, rufe ich Morrell …! Ihr habt die weißen Spitzbuben zu bewachen …! Ich habe jetzt hier die Wache an Deck!“
Die beiden Ruderer ließen die Riemen schleifen, und die Bande steckte die Köpfe zusammen …
Das durfte nicht sein …
Und genau so kam der Nachsatz:
„Da ihr nun schon mal unterwegs seid, könnt ihr gleich den Ewers mitnehmen, — sobald der Tag graut, baumelt er …“
„Vorzüglich!!“, knurrte Ewers neben mir und grunzte vor Behagen.
„… Beeilt euch aber, und macht keinen Lärm“, rief ich den sechs Gentlemen zu. „Morrell will schlafen … Ran mit dem Boot, ich helfe euch mit dem Bootshaken, — aber leise …“
Mein gerissenes Manöver, Umgruppierung der Kräfte im kleinen, hatte jetzt vollen Erfolg, denn daß ich die Frechheit besitzen könnte und mich unbefugt unten am Fallreep aufbauen könnte, wo jeder Sauschütze mich abknallen konnte, erschien den Kerlen denn doch allzu unwahrscheinlich.
Das Boot kam näher, ich faßte mit dem schweren Bootshaken zu, holte es heran und meinte zu dem Spitzbartburschen, der Olgurows Garderobe annektiert hatte:
„Drei genügen… Stopft dem Ewers aber vorher einen Lappen ins Maul …“
Die schmale Fallreepleiter bot nur immer für einen Platz.
Der erste kletterte empor …
Den zweiten bat ich schnell um ein Zündholz.
Hinter mir oben an Deck blieb alles still …
Der Gorilla und Angeline waren schlau genug gewesen, die Herren erst im Laderaum zu empfangen.
Der zweite kraxelte hoch …
Ich rauchte und stützte mich auf den Bootshaken …
Der dritte stolperte über den Bootshaken und fluchte …
Mir war es so, als hörte ich hinter mir ein Geräusch, wie wenn eine Keule auf einen Eisentopf schlägt, — — und dieses verfängliche Geräusch wiederholte sich.
Nun waren noch drei im Boot.
Zwei hielten das Boot am Fallreep fest, der dritte drehte sich eine Zigarette und hielt die Tabaksbüchse auf den Knien.
Mein Bootshaken fiel mir aus den Händen, — der Zigarettendreher hatte Pech, denn die dicke Stange sauste ihm mit einigem Schwung auf den schönen breitrandigen Basthut, und vorläufig zeigte der Mann keine Neigung, eine Zigarette zu rauchen, sondern sackte nach vorn zusammen.
Die beiden anderen schauten etwas verblüfft in zwei schwarze Augen, und da die Augen jeden Moment Blei sprühen konnten, hoben sie sehr gehorsam die Pfoten hoch …
Das war alles so wunderbar glatt gegangen, daß Käpten Ewers wirklich etwas mehr Milde hätte walten lassen können.
„Gemacht!“, erklärte der Gorilla, spielte Feuerwehr nach rechts und holte die drei Tröpfe äußerst schwungvoll an Deck, wobei es etwas lärmend herging, da die Herrschaften wider Willen eine reichliche Strecke durch die Luft flogen.
Mit äußerst behaglichem Schmunzeln verstaute Ewers nun die gesamte lästige Fracht, Morrell einbegriffen, im Laderaum, und da die vorhandenen Ketten durchaus ausreichten, lehnten sehr bald an den Kisten eine Reihe etwas schlapper Bagnosträflinge, von denen lediglich Morrell, Mustafo und Selim bereits wieder in die traurige Wirklichkeit sich zurückgefunden hatten.
Angeline lehnte an der Treppe, Ewers beäugte breitbeinig sein Werk, und ich zerbrach mir den Kopf, was die Kisten nur enthalten konnten.
„Kleine Angeline“, sagte ich leise, als ich den halb aufgebrochenen Deckel einer Kiste lüftete und zunächst nur trockenes Gras erblickte, „Sie wissen wohl nicht, was diese Kisten bergen?“
Ewers hatte verdammt feine Ohren.
„Krokodilfelle — eingesalzen …“, rief er über die Schulter uns zu. „Ha — da staunst de?! Wir mußten doch für die Jacht irgend einen Erwerbszweig austüfteln, also: Krokodiljäger für die sehr ehrenwerte Koffer- und Handtaschenfabrik Gebr. Renaux, Paris … Die Firma kann lachen: Nun darf sie sogar Menschenhaut verwenden, denn soweit ich Olgurow, Schimke und den edlen Edelgar Wallach kenne, werden sie diese reinrassigen Araber hier bei lebendigem Leibe abhäuten!!“
Morrells blutunterlaufene Augen quollen noch mehr heraus. Seine neun Getreuen schwiegen, die einen aus Mangel an klarem Verstand, die anderen aus Angst. Nur ihr Chef, dem ich den Knebel abgenommen hatte, fand sich mit dieser schmählichen Niederlage nicht ab.
Sein Blick hatte etwas so Bestialisch-Rachsüchtiges, daß man darüber das Frösteln bekommen konnte. Und der Blick galt mir …
Noch abschreckender wirkte das kaum verständliche Röcheln, — ein Hervorlallen der Worte aus einer durch die ungeheuere Erregung zugeschnürten Kehle …
„… Noch haben … Sie nicht gesiegt …, noch nicht …!! Und Ewers … ja, Ewers Gedanke ist nicht schlecht …: Abhäuten — — ab … häuten!!“
Er kreischte das Letzte so schrill, daß Angeline an Deck flüchtete.
„Armer Narr!“, sagte Ewers kalt. „Kommen Sie, Abelsen … Unsere Edelfasanen werden warten …“
Hinter uns schlug der Lukendeckel zu, Ewers legte die Krampen vor, und ich … sog tief, ganz tief die reine Luft ein …
10. Kapitel.
Der Kanal.
„… Wenn Sie wollen, — — gemacht!”, nickte Ewers, als ich allein ins Boot stieg, nachdem er mir noch kurz erklärt hatte, wo die Grottenzellen unserer Edelfasanen lagen.
Er mußte an Bord bleiben, er sollte auch ganz behutsam die Anker lichten, bei seinen Bullenkräften bedurfte er dazu der Motorwinde nicht.
Angeline war ängstlich.
„Olaf, es sind Ikarisi auf der Insel … Also — — Vorsicht!”
Ich mußte mich beeilen.
Das Boot jagte durch Röhricht, lief auf, — dort stand das Zelt, innen noch immer erleuchtet.
Ich stieg an Land, horchte …
Alles still …
Links, keine zehn Meter ab, ragte aus Dornen und weißen Orchideen der kahle Felsen empor.
Der Eingang zu dem von den Ikarisi mit Balkentüren versehenen Felslöchern lag nach Osten zu. Ich mußte das Zelt umgehen, da links nur Dornen wucherten.
Lautlos huschte ich durch das Gras, — vor dem Zelt stand noch ein Kochnapf über einem glimmenden Feuer, der Geruch würzigen Kaffees drang mir in die Nase, und ich konnte der Versuchung nicht widerstehen … Aluminiumbecher lagen umher, — ich bückte mich …
Zufall?!
Der Wurfspeer, der nur noch meinen Hutrand streifte, hätte mich seitwärts in die Brust getroffen …
Ich wollte mich niederwerfen …
Ein riesiger Ikarisi mit Lendenschurz und einem kurzen Jagdspeer sprang aus dem Zelt, holte zum Stoße aus …
Ich konnte die Pistole nicht mehr in Anschlag bringen, ich rollte mich zur Seite, der Bursche folgte …
„Olgurow …!!”, rief ich im letzten Moment.
Im letzten Moment hatte ich das Gesicht des wilden Kriegers deutlich gesehen, und das Monokel, das leicht funkelte, gab mir Gewißheit.
Die Speerspitze fuhr zur Seite in den Sand.
„Abelsen”, sagte der Kartenkünstler vorwurfsvoll, „das nächste Mal drücken Sie sich Ihren Hut nicht so tief in die Stirn …”
Ich erhob mich.
Ich sah, daß der Russe sich über und über mit Tonerde beschmiert hatte, die noch feucht war.
„Was treiben Sie denn hier?”, fügte der gefärbte Ikarisi hinzu und winkte nach dem Zelte.
Als erster kroch Herr Edel-Wallach ins Freie, auch ganz Ikarisi, sogar die geflochtene Mütze fehlte nicht …
So folgte einer nach, dem anderen, zuletzt Lady Hamilton und die wasserstoffblonde Geraldine, — die Damen freilich in roten Lambas, gewebten Überwürfen.
„Ich wollte Sie holen”, erklärte ich Olgurow, immer noch etwas benommen von dem Bilde, das die gerupften Edelfasanen darboten.
„Holen?!”, meinte der Gebläsekünstler Wallach unsäglich wegwerfend. „Uns einsperren?! Und solche Türen?! Bei meiner Fachkenntnis …! — Idioten, die Kerle hier! Ein Säugling aus meiner Branche knackt die Türen auf!”
Da Carmens ganze Leibgarde mit Speeren und Keulen bewaffnet war, erlaubte ich mir um Auskunft zu bitten, woher diese ersten Ikarisierwaffen, Schurzfelle, Mützen und Lambas stammten.
Graf Hilgerström hüstelte… Die anderen machten harmlose Gesichter.
„Gefunden …”, erwiderte der Juwelenfinder höchst gleichgültig. „Es lagen drüben am Feuer einige tote Ikarisi herum, und sie hatten nichts dagegen, daß wir die Sachen mitnahmen …”
Ich hielt es für richtiger, nicht nach Einzelheiten zu fragen. Außerdem mahnte uns auch das plötzliche dumpfe Wirbeln einer Signaltrommel an beschleunigte Abfahrt.
Als wir am Fallreep anlangten, empfing uns die kleine Angeline mit hastigem Zuruf:
„Ewers ist im Maschinenraum … Mister Schimke und Mr. Borstein sollen ihn dort sofort ablösen … Die Trommeln schlagen Alarm …”
Ich zog Angeline schnell bei Seite.
„Laufen Sie zu Ewers, — kein Wort, daß die Gefangenen im Laderaum stecken … Sie sind entflohen, sagen wir, — schnell!”
Ich hatte meine Gründe zu dieser Warnung. Im Boot hatte ich gesehen, daß nicht nur Olgurows Rücken dicke blutige Striemen zeigte, auf denen der dunkle Schlamm nicht haften geblieben war. Alle waren brutal geprügelt worden, alle, — Lady Hamiltons linke Schulter war sogar dick geschwollen, und sie konnte den linken Arm kaum bewegen. Wenn die Edelfasanen in ihrer jetzigen Stimmung Morrell und Genossen zu Gesicht bekämen, war eine schnelle gründliche Abrechnung unvermeidlich.
Die Umstände begünstigten es auch, daß ich die Luke sehr bald verschließen konnte, da jetzt überall die Trommeln dröhnten und auch Feuersignale am Seeufer weiterliefen, große Holzstöße aufflammten und die ersten Schüsse fielen, als wir kaum den bisherigen Ankerplatz verlassen hatten.
Wieder zeigte sich hier, wie tadellos diese merkwürdige Besatzung der Jacht eingespielt war. Alles ging wie am Schnürchen, jeder hatte seinen Posten, selbst Lady Leslie Hamilton stand kühl und kalt vorn am Scheinwerfer und leuchtete die Fahrrinne ab.
Ewers, die kleine Angeline und ich standen am erhöhten Heck neben dem Steuer, dessen Speichen des Gorillas ungeheuere Pranken umkrallt hielten.
Zunächst blieben die Schüsse wirkungslos. Die Gewehre der Ikarisi waren zumeist uralte Vorderlader, und die wenigen modernen Büchsen, schon am Knall kenntlich, wurden miserabel bedient.
Die Jacht mußte allen Seerosenfeldern ausweichen, zuweilen kamen wir so dem Südufer sehr nahe, und als eine Ladung gehackten Bleies aus einer Elefantenbüchse jetzt die Oberlichtfenster zersplitterte, drückte ich Angeline und den wütend bellenden Monte auf die Deckplanken nieder.
„Sitzen bleiben …!!”
… Es wurde immer ungemütlicher.
Wir näherten uns dem Kanal …
Die Lady ließ den Strahlenkegel über die engen Ufer gleiten.
„Verdammt!!”, — Ewers riß den Hebel des Maschinentelegraphen herum auf halbe Fahrt …
Die Ufer waren mit schwarzen Gestalten bedeckt …
Hunderte lauerten dort …
Verschwanden ebenso blitzschnell.
„Wir müssen durch!”, rief Ewers dumpf. „Hier im Binnensee sind wir verloren … Die Jacht ist aus Eisen erbaut, die Reling ist Eisen, — — also — — durch!!”
An den Ufern dröhnten die Trommeln, loderten Feuer, über uns kreischten die empörten Seevögel. Qualmwolken zogen über den See, Brandgeruch mischte sich in den Benzindunst unserer Jacht …
Und wir glitten in den Kanal hinein …
Breite: Vielleicht sechzig Meter, viele Windungen, viele gestürzte Urwaldriesen, allzu viel Schilf und Röhricht …
Ewers kniete und feuerte …
Vorn standen Olgurow und Hilgerström und schossen …
Auch ich feuerte …
Alles zwecklos …
Speere, Pfeile flogen wie Hagelschlossen … Kugeln klatschten, Bleispritzer …
Die Hölle war los.
Der Gebläsekünstler Wallach mit seinem Einglas lag auf dem Kajütdeck und wischte sich das Blut von der Stirn …
„Streifschuß, Abelsen … — Werfen Sie mir Patronen zu …”
Mit seltsam vibrierendem Tone bohrten sich die Speere in die Deckplanken.
Die Pfeile waren ungefährlicher … Sie waren nicht vergiftet und nicht Importware.
Fred Ewers bewies hier sein Format als Kapitän … Er wagte geradezu halsbrecherische scharfe Wendungen … Die Jacht lief mit voller Maschinenkraft …
Vor uns spielte dauernd der Lichtkegel, — Lady Hamilton verstand ihr Geschäft …
Ich war nach vorn geeilt, — wir näherten uns der Einmündung in die Lagune.
Der Kanal wurde breiter …
Dann — — zwei, drei lange Kanus … Dicht besetzt.
Die fehlten noch …
„Achtung!!”, brüllte Ewers… „Ich ramme. Keinen an Bord lassen!!”
Ich schaute durch die eine Klüse …
Zwei Kanus lagen links, eins rechts …
Wir schossen durch einen Röhrichtstreifen …
Der Kiel schrammte über Grund …
Ein leichter Stoß, noch einer …
Rammstöße …
Aber über die Backbordreling turnten flinke Gestalten …
Pistolen spuckten …
Geraldine, neben der Luke liegend, feuerte mit aufgestütztem Arm, und der Edelwallach knallte den letzten Enterer ab.
Durch …
Ich beobachtete nach vorn …
Ich sah etwas …
Taue …
Dicke Taue …
Lianentaue …
Aber nicht quer über den Kanal gespannt, sondern von den Baumkronen schräg zum anderen Ufer …
„Ewers, — — stoppen … stoppen!!”
Meine Stimme überschlug sich …
„Stoppen, — sie haben die Bäume eingekerbt!”
„Gemacht!!”, kam der Baß zurück. „Habe auch Augen im Kopf …!”
Die Schrauben schlugen rückwärts …
Und doch …
Links vor uns neigte sich ein Baumriese, krachte, knisterte, sauste, — — schlug mit der halben Krone noch auf den Bug, drückte die Jacht in den Schlamm …
Die Schrauben rasten …
Die Jacht rührte sich nicht …
Es war einer der kritischen Augenblicke dieses tollen Spuks …
Olgurow, die Lady, ich — wir waren durch Äste eingeklemmt …
Von den Ufern tobte das Heulen der Ikarisi.
Dann ein Splittern, Rauschen, Schleifen … — Ewers hatte die Jacht nach links gewendet, die Klammern der Äste glitten ab, — wir waren frei …
Da krachte der zweite Baum …
Er fiel schräg …
Er erreichte uns nicht mehr …
— — Und dann schwamm unser Schifflein wieder im Binnensee.
Und der neue Tag zog herauf …
Schweißnasse, blutige Gesichter stierten sich an.
„Ratten in der Falle!”, sagte Olgurow gelangweilt… „Pech!! Pechsträhne!”
Ich spähte zu dem Inselberg empor …
„Noch sind wir nicht verloren … Trotz der Kanus! Dort nach oben, — Proviant mitnehmen, Trinkwasser … Den Berg können wir tagelang verteidigen!”
Ewers melancholischer Blick flammte wieder auf.
„Abelsen hat recht …! Los — — packen … Jeder ein Bündel … Fix, Kinder … Ich steuere den Kahn dicht an den Berg … Nur fix! Rührt euch!”
Acht, neun Kriegskanus waren hinter uns …
Ein wildes Hasten und Arbeiten begann…
Konservenbüchsen flogen in Säcke, Hartzwieback in andere Säcke, Olgurow füllte leere Benzinkannen mit Wasser …
Es ging ja um Minuten …
Der Berg im Westen der Insel mit seiner Guanomütze war nur an einer Stelle, von Osten zu erklettern …
Um Minuten ging es…
Die Jacht lief aus … Eine Laufplanke flog zum Ufer … Keuchende Menschen rannten hinüber, bepackt wie die Esel …
„Abwerfen die Säcke auf der ersten Terrasse!”, brüllte Ewers und riß das Zelt samt Stangen und Pflöcken mit …
Ich schob Angeline empor, und Angeline half Monte …
„Olgurow, — — bleiben Sie!”, — wir legten uns zwischen die Proviantsäcke … „Schießen, Olgurow …, schießen …!”
Halber Wahnsinn lohte in unseren verzerrten Gesichtern …
Über die Insel fluteten die braunen Wellen lebender Leiber heran …
Wir feuerten …
Die anderen kletterten höher …
Zwei mußten sich opfern …
Der Fürst und ich lagen dreißig Meter über den Dornen und jagten Schuß um Schuß aus den Rohren …
„Üble Sache”, meinte der Kartenkünstler achselzuckend … „Mein Büchsenlauf ist heiß … Der Auswerfer klemmt … Ladehemmung … — Lassen Sie sich nicht stören, Abelsen …”
Er nahm seine echte Ikarisimütze, feinstes Geflecht, von dem spärlich behaarten Schädel und zeigte mir eine große Schachtel Zigaretten.
„Ein Russe ohne Zigaretten ist undenkbar, Abelsen … — Sogar Zündhölzer habe ich mitgenommen … — Gemein, die Kerle schießen uns in die Konservensäcke …! Rufen Sie den Kerlen doch mal zu, daß …”
Olgurow schwieg. Schwieg so jäh, daß ich wieder hinschaute.
„Was haben Sie?”
„Da … der … Mustafo … Und hinter ihm Morrell … Selim und die übrigen Giftmischer.” Er nannte die Namen mit verfänglicher Gelassenheit. Vor dem Namen Selim hatte er eine längere Pause gemacht. „Wie bescheiden sie sich ganz im Hintergrund hinter den Bäumen halten! Wo sie nicht getroffen werden können! Natürlich! Immer dasselbe: Die Drahtzieher bleiben unsichtbar! — Ich bedauere die Leute … Sollte ich je an sie herankommen, wird es eine böse Abrechnung geben.” Er sprach ohne jede Erregung, beinahe in allzu leichtem Plauderton. „Sie haben wohl die Striemen auf meinem Rücken gesehen, Abelsen …: Stockschläge! — und sehen Sie hier meine Hände, — zerfetzt, zerschunden, — gestern haben wir fünfzehn Stunden ohne Pause in den Reisfeldern drüben arbeiten müssen. An sich hätte ich gegen die Arbeit nichts einzuwenden, denn sie hat mir gewissermaßen die Augen geöffnet. Man lernt dabei seinen eigenen Körper und dessen Leistungsfähigkeit kennen. Ich habe mich in dem Punkte innerlich also umgestellt. Es war eine ganz heilsame Gewaltkur, nur die Stockhiebe verdarben vieles. Wir alle sind geschlagen worden. Morrell empfand eine sadistische Freude daran, uns mit der Pistole zu bedrohen und zuzusehen. Dieser Mensch steht unter dem Tier, denn er ließ auch die Lady und die nette blonde Geraldine prügeln.”
Ein abprallendes Geschoß fegte giftig surrend zwischen uns in das Gestein.
Olgurow wischte einen kleinen Blutstropfen von der Hand … „Die Kerle schießen noch saumäßiger als ich …”
Ich zwang seinen Blick zur Stetigkeit. „Olgurow, den Doktor Morrell scheiden Sie besser aus, rate ich Ihnen …” — Auch mein Büchsenlauf war heiß, und ich mußte pausieren. Der Feind wagte auch nicht vorzuprellen.
Des Russen seltsam tiefe, melancholische Augen zwinkerten. „Hm — gute Ratschläge, Abelsen …! Hören ja, aber befolgen?!”
„Morrell ist geisteskrank …”, erklärte ich mit Betonung.
Worauf mein Nachbar hier hinter der Steinbarrikade so herzlich lachte, daß ich ihm wirklich nicht böse sein konnte.
„Geisteskrank? Abelsen, auf dem Spezialgebiet kenne ich mich doch aus! Wir hatten im Staatshotel Künstler, die jeden Professor glatt hineinlegten.”
Ich erzählte ihm kurz meine Beobachtungen während der denkwürdigen Unterredung mit Pierre und verschwieg auch nicht, daß die ganze Gesellschaft im Laderaum verstaut gewesen.
Er nahm eine frische Zigarette.
„Armer Teufel …”, — und er meinte es ehrlich. „Natürlich ist der Mann krank … Die Anzeichen kenne ich … Sie wurden mir von einem anderen Gast im Staatshotel warm empfohlen … Aber ich verließ mich doch besser auf meine eigene Taktik … — Hallo, der Wallach ist verrückt …”
Ein wütendes Geschieße setzte ein, da der Gebläsekünstler, klein, stämmig und geschickt, durch die schmale Felsspalte herabkraxelte, die zum weißen Gipfel des Berges führte, der vielleicht hundertfünfzig Meter hoch sein mochte.
„Wallach, — sind Sie des Teufels!!”
„Ne, sondern ehrlicher, und daher armer Eltern ungeratenstes Kind”, — und der hundeschnäuzige Tresorknacker warf sich nieder und kroch zwischen uns. In seinem Ikarisi Spar-Kostüm und mit dem zumeist abgeblätterten dunklen Schlamm, der nur noch einige Hautstellen bedeckte, sah er wie eine gestreifte Bulldogge aus. „Übrigens, Käpten Ewers schickt mich …”
„Und wenn Sie als durchlöcherte Leiche hier angelangt wären!” — Ich merkte, daß diese Äußerung Olgurows ehrlicher Sorge um den Gefährten entsprang.
„Leiche — — ich?! — Geben Sie mir eine Zigarette … Danke … Ich verstehe vom Schießen wenig, aber das eine weiß ich doch: Die Helden dort drüben sind gänzlich falsch instruiert. Wer nicht schießen kann, soll niemals auf das Ziel, sondern fünf Meter daneben halten, dann trifft er vielleicht …”
Olgurow nickte ernst. „Sie haben unbedingt recht … — Wie sieht es oben bei euch aus?”
„Glänzend … Alles trockener Vogeldünger, und dann drei tiefe Mulden … Zwei Zelte sind schon aufgebaut, eins für die Damen, eins für uns Herren. Ewers läßt Ihnen übrigens sagen, daß Sie ein Ochse sind, Durchlaucht, Sie haben das Trinkwasser in ungereinigte Benzinkannen gefüllt, und kein Mensch kann das Zeug saufen …”
„Allerdings, — bedauerliches Versehen”, — Olgurow probierte den Auswerfer seines Büchsenschlosses … „Trotzdem werden wir das Zeug saufen müssen … — Hat Ewers sonst noch Wünsche?”
„Ja … Es wird sofort ein Tau durch die Schlucht herabgleiten … Die Proviantsäcke sollen emporgehißt werden. Generaldirektor Schimke beabsichtigt ein Frühstück herzurichten.”
Hinter uns rumpelte ein schwerer Stein durch die Schlucht, um den Stein war das Tau geschlungen, und Wallach kroch rückwärts, knotete das Tau los und … begann weidlich zu schimpfen …
„… Sauschützen!! Büchsengemüse und kondensierte Milch, das treffen sie!!”
„Werfen Sie mir einen Zwieback zu und benehmen Sie sich anständig”, meldete sich Olgurow und ließ das Büchsenschloß zuschnappen.
Der erste Sack polterte aufwärts.
Die Ikarisi — es waren gut fünfhundert — feuerten nicht mehr.
Die Sonne erschien, und die aufgeregten Vogelscharen kamen zur Ruhe. Die langgestreckte Insel mit ihren Reisfeldern, Baumgruppen, Bewässerungsgräben und Hütten enthüllte mir nun all ihre Einzelheiten. In der Ferne weideten buntscheckige Zebus, — Madagaskar mit seinen zehn Millionen Zebus und drei Millionen Einwohnern ist die Insel der Ochsen. Ochsen gibt es auch anderswo. Nirgends so viele auf jeden Kopf der Bevölkerung. Zebus bedienten die Schöpfwerke, Zebus schleppten Lasten, Zebus brieten über großen Feuern.
Gerade vor uns, dreihundert Meter ab, zog sich ein dichter Buschstreifen hin. Dort steckten die Herren Scharfschützen und Morrell nebst Konsorten.
Von der Jacht war nichts zu sehen. Die lag hinter dem Berge auf Grund.
Wallach hatte sich wieder verabschiedet und uns einen Berg Zwieback und eine Büchse Sardinen in Tomatentunke zurückgelassen.
„Weshalb schießen die Kerle nicht?”, fragte der kauende Olgurow.
„Munitionsmangel … Auch wir müssen Patronen sparen …”
Die Sonne brannte heiß hernieder
„… Wie denken Sie sich das Ende dieses Spaßes, Abelsen?”
„Gut, denke ich … Die Ikarisi haben da irgendwo den alten Oberhäuptling Karibanu … verloren, — sagen wir verloren. Sein Enkel ist nun Obermacher, und Karibanu befindet sich bei Frau Carmen und bei Aloys Hengst auf der Mango-Insel. Ich sprach mit Karibanu …”
„Olgurow starrte mich an. „Tatsache?””
„Tatsache …!”
„Und Sie meinen, dieser Staatspräsident Karibanu wird die Geschichte einrenken?”
„Bestimmt … Wir müssen nur Geduld haben und bis dahin am Leben bleiben, vielleicht glückt uns das, obwohl ich einige Zweifel hege. Für Frau Carmen ist das Spiel bestimmt gewonnen …”
Der Russe, dessen striemenbedeckter Rücken in der Sonne schmorte, überlegte eine Weile …
„Was fürchten Sie, Abelsen?”
„Die Eisenplatten, mit denen die Kerle ihr Kanu damals nachts gepanzert hatten, als Sie den schönen Schlafanzug trugen. Es sind Platten vom Wrack eines eisernen Dampfers, und Morrell wird wohl schlau genug sein, erst nachts anzugreifen und mit diesen Schutzschilden …”
Der Russe nickte … „Dann sind wir geliefert, glauben Sie?”
„Ja. Und deshalb müssen wir sofort nach Anbruch der Dunkelheit die Bergkuppe derart verbarrikadieren, daß wir sie einzeln abknallen können … Obwohl ich fürchte, daß sie Leitern mitbringen werden.”
„Mag sein … — Sehr heiß hier …” — Olgurows Wurstigkeit war nicht erkünstelt. Diese Edelfasanen hatten nur Nerven beim Jeu. Mit solchen Leuten Seite an Seite zu kämpfen, war ungeheuer beruhigend. Ihre Auffassung vom Leben und Sterben mochte aus ungesunden Quellen entsprungen sein, aber sie blieb einzigartig. Wieder fragte ich mich da: Wie hatte Frau Carmen mit Hilfe Ewers’ und des langen Aloys gerade diese Herrschaften aus dem überreichen Material herausgefischt?! Es mußte doch zwischen diesen Entgleisten irgend einen Zusammenhang geben! Welchen? Alle möglichen Nationen waren in ihnen vertreten, und es war doch ausgeschlossen, daß etwa Fred Ewers so viele Länder bereist und die sieben so allmählich vom Wege aufgelesen hatte!
Olgurow begann sich ein Sonnendach aus Steinen zu bauen. „Mein Rücken brennt wie Feuer”, war die ganze Begründung.
Ich tat dasselbe, und jetzt knallten wieder einige Schüsse …
Wir klagen nun im Schatten.
„… Eine Frage, Olgurow …”
„Bitte …”
„Nachdem nun das Geheimnis des „Herrn” der Jacht enthüllt ist, dürfen Sie getrost ganz offen reden. Kannten Sie Schimke und die übrigen schon früher?”
Er zögerte etwas …
„Gut denn, Sie sollen alles wissen, Abelsen … Ich fühle mich bei dieser Sachlage an mein Versprechen nicht mehr gebunden … Kennen Sie die Stadt Algier?”
Algier? — Flüchtig taucht vor mir als Fata Morgana eine kleine weiße Villa auf: Das Exil der Königin Ranavalona, ihrer Tante, ihres Neffen.
… Olgurow erzählte …
Auf seine Art …
11. Kapitel.
Frau Carmen.
„… Unsereiner hat häufiger einen Luftwechsel nötig. Sie werden das begreifen, Abelsen, die Polizei ist so übereifrig, die Moralbegriffe sind verschoben, — ich sage verschoben, nicht veraltet. Bei mir daheim hatte jeder Beamte seinen Preis, je höher der Herr, desto höher die Bestechungssumme. Ich bitte Sie: Ist das Moral?!
So erging es mir in einem jener Staaten, wo es mehr pensionierte Präsidenten, Generäle, höchste Würdenträger als Einwohner gibt … Saß da so ein Gemisch dieser Rassen hinter dem Richtertisch und wollte mir beweisen, ich hätte auf dem Passagierdampfer im Hafen gezinkte Karten benutzt! Ich — gezinkte Karten!! Das ist für Anfänger gut, nicht für mich. Diese Mißgeburt redete und redete, und da er zu lange redete, war inzwischen wieder eine der landesüblichen Revolutiönchen fällig geworden, Bewaffnete drangen in den Saal, und der Herr Richter empfahl sich schleunigst für alle Zeiten, da er höchst unbeliebt war. Nach diesem damaligen kleinen Bummel nach Süden wandte ich mich nach Algier … Algier, Abelsen, — — Märchenstadt!! Für unsereinen ein exquisites Kampffeld. Der Boulevard de la Republique müßte nach Paris verlegt werden … Im Hotel „Des Ambassadeurs” lernte ich Schimke kennen … Er war nach der tragischen Wechselaffäre ebenfalls für Luftwechsel, — alles im Leben ist Wechsel. Und so allmählich fanden wir sieben uns zusammen: Ich, Schimke, Hilgerström, Borstein, Wallach, die Lady und die hübsche Geraldine. Es wurden wundervolle Wochen, die Dummen wurden nicht alle, wir verkehrten natürlich in ersten Kreisen, und … dort stießen wir auch auf Käpten Ewers … Ein Ehrenmann durch und durch … Nicht nur auf Ehrlichkeit frisch lackiert. Und auch Aloys Hengst …” —
„Wann war das?”, warf ich ein.
„Vor etwa drei Jahren … Etwas länger mag es her sein … — Ewers hatte einen sehr feinen Riecher, und am Tage nach dem Einbruch in die Bank de France, übrigens ein Meisterstück Wallachs, bei dem wir anderen nur Statisten spielten, überraschte er uns in Lady Hamiltons entzückender Villa, die ihr so ein Trottel von Finanzier eingerichtet hatte … Wir teilten gerade die Beute … Es war so etwa eine Million, — es ging an … Wie gesagt, er trat ein, hatte in jeder Hand eine Neunschüssige und erklärte sofort, er sei nicht Geheimpolizist. Ewers schlug uns vor, mit ihm zusammen einen Herrn und ein Mädelchen zu verfolgen, die in die Wüste geflüchtet seien … wahrscheinlich nach einer Oase …, den Namen habe ich vergessen. — Wir waren nicht abgeneigt, erhielten Handgeld und wollten uns abends wieder treffen … — Aber acht Stunden können für unsereinen umwälzende Veränderungen herbeiführen, jedenfalls: Wir merkten, daß man hinter uns her war, verdufteten, wurden später in Europa doch verhaftet, und jeder bekam sein Freiquartier zugewiesen, der eine hier, der andere dort … Ich persönlich war mit meinem Sommersitz sehr zufrieden, die Franzosen sind Kavaliere, und ihre Ärzte noch mehr. — Na, und dann hat uns Ewers tatsächlich wieder zusammengetrommelt, alle sieben … Wir hatten ihm gefallen, — — die Reise begann … Und damit ist das Lied vorläufig aus … Mehr weiß ich nicht. Was ich vermute, vermuten Sie ja auch: Großer Schatz, enorme Reichtümer, — — in der bewußten Quelle …”
Der Sonnenball hatte sich derweil mehr nach rechts geschoben und war wieder hinter hohen Baumwipfeln halb verborgen, die die gleißenden Strahlenbündel nur stellenweise hindurchließen. Diese scharf umgrenzten Lichtflecken lagen auf dem stillen Urwaldsee und auf der Insel wie hingemalte Lichter, und während an den Waldrändern ein geheimnisvoller Halbschatten dämmerte, erschienen See und Insel doppelt klar und scharf umrissen, — eine träumerische, trügerische Stille herrschte, fernher kam das dumpfe Brüllen der Buckelrinder, etwas näher erklang das Geschnatter und das schrille Rufen von unsichtbaren Röhrichtbewohnern, und dicht unter uns in den Dornen und dem blühenden Gestrüpp und den weißen Orchideen summte es ununterbrochen mit feinen, schwirrenden Flügelschlägen von Millionen von Bienen und Hummeln, die den neuen Tag mit erhöhtem Arbeitseifer einleiteten.
Olgurow gähnte diskret. Verschlafen, müde und noch näselnder meinte er: „Ein hübsches Bild, das Ganze … Man muß es sich einprägen … Morgen werden wir vielleicht schon von einer Krokodilmama in kleinen Stückchen ihrem Nachwuchs serviert werden. — Merkwürdig, daß man die Schönheiten der Natur erst schätzen lernt, wenn man an einen neuen Tag nicht mehr recht glaubt.
„… Sie haben hier ja auch die körperliche Arbeit würdigen gelernt …”, erwiderte ich nur so obenhin. — Meine Aufmerksamkeit galt dem Buschstreifen. Es war dort lebhafter geworden, Gestalten huschten hin und her, vier Zebus kamen vom Ostufer der Insel durch die Pfade zwischen wogenden Reisfeldern, und die Lasten, die man ihnen aufgepackt hatte, ähnelten durchaus großen Platten, dicht übereinander geschichtet.
„Olgurow!!”
Er war eingenickt, fuhr hoch, stieß mit seiner Mütze gegen den Stein seines Kaninchenbaues und fragte sehr uninteressiert: „Was Neues?!”
„Ja … Ich fürchte fast, daß Morrell doch nicht bis zum Abend warten wird … Geben Sie den Rest der Zwiebacke her … Wir müssen sparen … Und dann — nach oben … Es hat wirklich keinen Zweck, daß Sie sich vorzeitig totschießen lassen … Bitte, seien Sie vernünftig, Olgurow … Kaltblütigkeit ist eine sehr lobenswerte Eigenschaft, — flinke Beine sind zuweilen noch besser …”
„Wie Sie wünschen …”
Er kroch zurück, verstaute seine Patronen in seiner Mütze, tat die Zigaretten hinzu und schob mir drei Pakete Zwieback in Reichweite.
Die Sonne, die jetzt hier die grünen Wipfelränder siegreich emporgestiegen war, zeigte mir das übernächtigte, schmierige, blutüberkrustete Gesicht des Russen mit aller Schärfe.
Dann erhob Olgurow sich und reckte und dehnte sich …
„Ich bin ganz steif …”
Seine Gestalt, nur mit dem Lendenschurz bekleidet, wirkte trotz des abblätternden Schlammes keineswegs lächerlich. Eine kraftvolle Grazie lag in der Lässigkeit seiner Bewegungen.
„Laufen Sie, zum Teufel …!!”
Ein paar Bleispritzer flogen umher …
„Sofort, Abelsen …”
Trotzdem schaute er jetzt mit verkniffenen Augen zu den Büschen hinüber. Seine Züge verloren den gelangweilten, faden Ausdruck, mit einer schnellen, längst gewohnten Handbewegung klemmte er das Einglas fester und lächelt hart.
„Stimmt, der Tanz beginnt, Abelsen …”
Sein Kopf flog etwas zur Seite …
„Beinahe, — zehn Zentimeter vorbei, mein Junge …”, — und dann ließ er sich in die Knie sinken, verschwand mit langen Sprüngen nach oben.
Es stimmte … Morrell griff an. Etwa fünfzehn Eisenplatten schoben sich von den Büschen her durch das Gras, senkrecht aufgerichtet, die breite Seite uns zugekehrt.
Hinter jeder der Eisenplatten stellte ich ein paar Füße fest. Um die Platten waren Basttaue geschlungen, und diese Angriffsmethode war an sich nicht schlecht.
Der Schuß knallte, und der eine Ikarisi knickte zusammen.
Ein Mann allein konnte den Schild nicht tragen. Die Platte senkte sich, blieb schräg stehen.
Aus den Büschen kam ein Geheul wie von einer hungrigen Wolfsmeute im strengen Winter.
Die zweite Kugel flog aus der Mündung, und drüben betrauerte ein zweiter Ikarisi seinen Fuß.
Hoch über mir knatterte es jetzt gleichfalls.
Ewers’ Stimme erging sich in echt Hamburger Reeperbahn-Flüchen, — ich verstand so etwas wie Sauschützen, und die Aufschläge der Kugeln gegen die Schilde saßen viel zu hoch … Wo ein Mantelgeschoß getroffen hatte, verschwand die Rostschicht und ein blanker Fleck glänzte wie mattes Silber, wie aufgepappte Taler.
Die Sturmlinie stockte …
Droben jetzt irgendwo der schneidigen Lady scharfer Sopran: „Abelsen, Vorsicht …!! Pfeile!”
Wie Regenschnüre, die in verkehrter Richtung fliegen, surrte es aus dem Gestrüpp unter mir gen Himmel, — ein Schauer von Pfeilen, die im Bogen herabfuhren, nachdem sie den höchsten Punkt ihrer Bahn erreicht hatten …
Auch das war zwecklos … Unsere Sonnendächer waren Steinplatten, und die Bogenschützen verzichteten auf den wirkungslosen Spaß, als ich die Bestandteile von Olgurows Kaninchenbau hinab in die Dornen schleuderte.
Trotzdem wurde es plötzlich bitterster Ernst: Morrell hatte den zweiten Sturmtrupp vorprellen lassen, und jetzt liefen die Ikarisi mit ihren Eisenschilden im schnellen Trab vorwärts, ein sicherer Schuß war nicht anzubringen, und Ewers’ Donnerstimme mahnte mich mit Recht, schleunigst den Rückzug anzutreten.
Ich strauchelte zweimal, — dreimal bückte ich mich höflichst vor bissigen Kugeln, — dann lag die Schluchtwand zwischen mir und den Angreifern, und ein Tau flog vor mir nieder …
„Festhalten, — — wir ziehen …!!”
Und wie zogen sie!!
Ich fuhr eine Wand empor, die bereits in allen Rissen weiße Guanostellen zeigte …
Ich landete droben auf einer schmalen Terrasse, wo ich Olgurow, die Lady, Herrn Edel-Wallach und die hübsche Geraldine vorfand. Das Gestein wölbte sich über uns, bis zum eigentlichen Gipfel waren es noch vierzig Meter …
Ich lag der Länge nach zwischen diesen Menschen auf grauweißem Vogelunrat — zwischen Menschen, die heute wie die Strolche oder noch Schlimmeres ausschauten und die doch daran gewöhnt waren, die subtilste Körperpflege fast zu überspannen und als Außenseiter des Daseins sich alle Wünsche auf ihre Art zu erfüllen …
Sie durften lachen, sie — — ja! Denn sie besaßen trotz allem den großen, feurigen Schwung jener Lebensbejaher, die das feige Rüpeltum kläglicher Schreiblinge nie begriffen und ohne Prahlerei ohne große Geste, ohne jenes gewisse Schielen nach andächtigen oder fiebernden Zuschauern das höchste Gut mit erhabener Selbstverständlichkeit einsetzen: ihr Leben!
Ich hatte sie studiert, diese Außenseiter, und ich kannte sie nun genügend. Jeder von ihnen ein Typ für sich, — alle in einem wesentlichen Punkte völlig gleich: Lebensbejaher, weil der Tod ihnen keine Schrecken zu bieten vermochte!
„… Hier kommt nicht einer lebendig nach oben”, meinte die Hamilton neben mir, und ihre sprühenden Augen lachten mich an … Den Zigarettenrauch stieß sie in kurzen Pausen zwischen den blinkenden Zähnen in die Luft … „Die armen Teufel, die Morrell hier nach oben hetzt, tun mir leid … Mag er ein kranker Narr sein, Abelsen: Ihm und seinem neuen Freunde gebührt eine Kugel, nichts weiter! Mich … ekelt das alles an, — das ist verbrecherischer Wahnwitz … Da — — sehen Sie …!”
Unter uns zog sich die Schlucht hin, steil, mit Geröll angefüllt …
Über uns ein donnerndes Poltern, und ein Felsstück saust herab, vielleicht vier Zentner schwer, prallte gegen den Boden der Schlucht, brachte das ganze Geröll ins Gleiten, sauste tiefer — — um eine Ecke, zersplitterte …
Gellende Schreie …
Olgurow warf seinen Zigarettenstummel weg.
„Abelsen, man müßte diese braunen Burschen irgendwie zur Vernunft bringen … Das ist kein Kampf … Das sind betrunkene Kinder der Wildnis, die ein verseuchtes Hirn vor die Gewehre treibt. — Abelsen, Sie sollten doch mit Ihrer Erfahrung hier irgend etwas ausrichten können … Mann, ziehen Sie Ihr Basthemd aus … Wir wollen winken, unterhandeln …”
Ich hörte anderes …
Die Schüsse waren verstummt …
Alles schwieg …
Es war, als ob selbst die Vögel sich scheu verkrochen hätten …
Ich horchte nur …
Hob den Kopf immer höher … über die auch hier aufgeschichtete Brustwehr …
Aus den düsteren Schluchten der Ikarisi-Berge kam ein einziger Laut
Dumpf, schwer, eigentümlich dröhnend …
Noch einer …
Dann drei, kurz hintereinander …
Trommelschläge einer großen Signaltrommel. Hergestellt aus einem hohlen Baumstamm, den man auf zwei Meter kürzte und an einer Seite mit fein gegerbtem Zebufell bespannte.
Eine Meile weit soll es zu vernehmen sein, dieses Dröhnen des straffen Leders, das seine Tonwellen durch das erweiterte Rohr in die Ferne schickt …
Rumm — — bumm, bumm, — — rumm — — bumm, bumm … Und dies Signal blieb … Dies Signal lebte auf wie ein unnatürlich starkes Echo, — erklang aus den Wäldern vor uns, neben uns …
Immer näher …
Wir standen längst aufrecht, wir sahen die Ikarisi nach den Büschen flüchten, sahen sie in den Reisfeldern verschwinden …
Von hier aus waren das Gestrüpp und die Bäume dort nur eine Bühne, — wir die Zuschauer.
In einer Lichtung rannten da Morrells letzte Getreue, Mustafo und Konsorten, wie verängstigte Hühner hin und her, während ihr Herr und Gebieter scheinbar völlig teilnahmlos an einem Baum lehnte.
„Olaf …!!”
… Ein schlankes Figürchen flog auf mich zu, hinterdrein der bellende Monte, der offenbar Angelines Freude für Übermut und Anreiz zum Umhertollen hielt.
„Olaf …”, — ich fing sie auf, und Lady Hamilton lächelte verträumt und wandte den Kopf nach Olgurow hin, — „Olaf, Carmen ist auf der Insel …”, rief das straffe Nippfigürchen ganz außer Atem … „Und Aloys ist bei ihr und ein alter Ikarisi, und die ganzen Inselufer sind eine einzige Kette von Menschen … Ihr könnt das alles von hier nicht sehen, kommt nach oben, auch Ewers läßt euch sagen, daß wir gar nichts mehr unternehmen sollen, der alte Karibanu habe die Berg-Ikarisi herbeigeholt, und jede Gefahr sei vorüber … Kommen Sie, Olaf, — Sie müssen Carmen sehen … alles sehen …!”
Ich folgte ihrem Rufe und schaute dann hinab auf die Bühne.
Frau Carmen ist ihren beiden Begleitern vorausgeeilt … Carmen Morrell trägt nicht mehr wie damals in der Baumhöhle die alles verhüllenden Seidentücher … Sie schreitet dahin in derben Tropenstiefeln, braunen Lackgamaschen, flottem Sportanzug, weißem Tropenhelm, dessen Nackenschleier auf und ab wippt.
Sie schreitet elastisch, federnd, kraftvoll, ihre linke Hand trägt eine leichte Büchse, Mündung nach unten …
So kommt sie durch die Reisfelder mit den dicken, reifen Kolben, — neben sich, unsichtbar für sie zwei Schlangenlinien geduckter Körper, über denen das blanke Eisen von Speerspitzen und die dunklen Striche von Flintenläufen zu schweben scheinen.
Morrells Leute haben sich im Busch verkrochen.
Pierre Morrell schaut seiner Frau entgegen, die Arme verschränkt, zwischen den Lippen die glimmende Zigarette.
Sie steht vor ihm …
Spricht …
Was sie sprach, bleibt Geheimnis einer Frau, die den Doktor Pierre Morrell einst aus reiner Neigung heiratete …
Und er sie …
Angeline hat es mir erzählt …
Carmen spricht noch immer …
Morrells Arme sinken, die Zigarette entfällt ihm, seine Gestalt wird schlaff, und plötzlich drückt er beide Hände vor das Gesicht und … wendet sich ab …
Die beiden Schlangen dunkler Leiber, die Frau Carmen beschützt haben, bilden einen Kreis, — — aus den Büschen taumeln neun Gefesselte …
Olgurow sagt hart:
„Ich gab mir selbst mein Wort, daß ich …”, den Rest verschluckte er, da Lady Leslie sehr energisch einfällt:
„Ich denke, wir nehmen zuerst ein Bad, — in dem Aufzuge können wir uns nicht sehen lassen.”
Edelgar Wallach streicht über sein Stoppelkinn: „Ja — — und rasieren … Olgurow, rasieren …!”
… Die Herrschaften haben es plötzlich sehr eilig …
Minuten später liegt die kleine Angeline in der älteren Schwester zärtlichen Armen, und dann reicht auch Carmen mir die Hand … nickt mir zu … Ein ernstes, dankbares Lächeln umspielt einen herben Mund.
… Irgendwo dröhnt wieder eine Trommel …
Der alte Karibanu sagte sehr gelassen:
„Ein ehrgeiziger Aufwiegler und seine Helfer sterben …”
Nochmals dröhnt die Trommel.
„… Und jetzt feiern die Krokodile den Einzug der Herrin in das Land ihrer Getreuen …”, — und der Greis mit dem weißen Schifferbart und der roten Lamba und der knallrot gefärbten hohen Mütze aus feinstem Bast verneigt sich vor Carmen, und die Ikarisi ringsum schlagen klirrend die Speerspitzen aneinander …
12. Kapitel.
Die heilige Quelle.
Die Sonne steht ganz hoch … Gluthitze liegt über Insel und See. Die Jacht, am Südufer im Baumschatten verankert, duftet wie eine Hotelküche. Vorn in der Kombüse wirtschaftete der lange Aloys, Töpfe klappern, Teller klirren, Angeline hilft, und gegen zwei Uhr nachmittags sammelt sich in der Kajüte ein erlesener Kreis.
Olgurow im Frack, blendende Erscheinung, — Lady Hamilton, ganz große Dame.
Man speist …
Man ißt nicht …
Der einzige, der ißt, dürfte Karibanu sein …
Doktor Pierre Morrell, bisher unsichtbar, hat unten am Tisch neben Borstein Platz genommen. Pierre bleibt stumm, sein verfallenes Gesicht, die leeren Augen, die schlaffen Bewegungen: Ein Kranker, — ein Arzt, der nun sein eigener Arzt ist …
Eine eigentümliche Mahlzeit … Das Gespräch lebt auf, wird künstlich vorwärtsgepeitscht, erstirbt wieder …
Morrell trinkt keinen Tropfen …
Olgurows erprobtes Schwätzertalent verpufft, Lady Hamiltons Weltgewandtheit versagt, Edelgar Wallach versucht es mit Anekdoten, die wahr sind und nach Sauerstoffgebläse riechen, — — Graf Hilgerström winkt ab:
„Unpassend, Wallach …!”
— Schon einmal saß ich an dieser Tafel … Dunkle Fittiche wehten versteckte Drohung über den Tisch — damals. — Heute?!
… Es liegt etwas Unausgesprochenes in der Luft …, eine bange Frage.
Carmen ist ernst, die kleine Angeline ist bedrückt …
Und mir ist die Brust wie zugeschnürt …
Pierre Morrell stiert auf seinen Teller, seine Hände liegen auf dem blütenzarten Tischtuch, und die Hände sind wie erstorben.
… Eine bange Frage lastet über uns allen.
Bis Morrell den Kopf hebt, aufsteht, sich zusammenreißt, sich strafft …
„… Meine Damen und Herren, ich muß mich von Ihnen für immer verabschieden. Ich habe eingesehen, daß ich nicht nur, was die sogenannte Zauberquelle der Ikarisi betrifft, in meinen Vermutungen gänzlich fehlgegangen bin, sondern daß ich es auch als Arzt nicht länger verantworten kann …” — und dann wieder in dem für Sekunden belebt gewesenen Gesicht der hilflose, verzweifelte Zug …
Dieses mitleiderregende kindliche scheue Lächeln, der starre, nach innen gerichtete Blick, der dem versagenden Hirn helfen möchte …
„… Ich … bin krank …” Die zerbrochene Stimme peinigt … „Ein … Kanu wird mich zur … nächsten Militärstation bringen … Und dann … ein Dampfer … irgendwohin. In eine Anstalt. Für immer … Ich … verabschiede mich … Carmen, lebe wohl, und …”
Er ist bereits zur Tür geschwankt …
„Ich verzeihe dir, Pierre, denn ich habe dich geliebt, — — gehe, … mache dir den Abschied nicht zu schwer …”
Ein Mann taumelt in den Gang, wo braune Krieger warten …
Ein Kanu stößt von der Jacht ab …
Carmens Platz ist leer … Droben an der Reling lehnt eine Frau und weint …
Olgurow hüstelt diskret … Betupft sich die Stirn …
Bleiche, starre Gesichter ringsum, gesenkte Augen …
Angeline schlüpft hinaus …
In die Totenstille dringt das wehe Schluchzen von oben … und ein tröstendes, zärtliches Wispern.
Olgurow, die Zähne in die Unterlippe gepreßt, putzt übereifrig sein Monokel.
Klemmt es ein, schaut seine Freunde an, einen nach dem anderen …
„Nun, wie … ist euch?!”
Seine Blicke halten Leslie Hamiltons tränenverschleiertes Blinzeln fest.
„Wie ist euch, frage ich … Was mich betrifft: Ich rühre keine Karte mehr an … Ich werde arbeiten … In mir ist etwas vorgegangen, für das ich keinen Ausdruck finde … Man hat mir vielleicht einen Spiegel in meine Seele gezwängt, und ich sehe mich in diesem Spiegel in all meiner Erbärmlichkeit … Ich habe das Brauchbare in mir bisher verkümmern lassen — — pfui Teufel! Jetzt ist es Schluß damit … — So ist mir zu Mute …”
Ein Aufatmen ringsum … Gespannte Züge lösen sich, Fred Ewers hebt die geballte Faust, — aber der Hieb auf die Tischplatte unterbleibt, und er beläßt es bei einem dumpfen, heisren kurzen Spruch.
„Olgurow”, — und er würgt an den Worten, weil seine Äuglein so verdächtig naß sind, „das war so etwa das Vernünftigste, was Sie je geredet haben … Wenn aus Frau Carmens großem Leid nicht auch ein reinigender Sturmstoß in Ihr Herz gefahren wäre, hätten Sie mich bitter enttäuscht.”
Der alte Karibanu sitzt etwas verlegen und verständnislos dabei.
Große Seelenprobleme sind ihm fremd, und doch streicht er mit seiner braunen Greisenhand seltsam nachdenklich seinen weißen Bart, und in seinen noch immer klaren Augen blinkt ein mir unbegreifliches, ganz wenig spöttisches Lächeln.
Ewers hat Olgurow die Hand über den Tisch hingestreckt, und auf diesen Händedruck folgten noch einige weitere, während Edel-Wallach dazu eine Erklärung für alle abgibt.
„… Von einem Spiegel in meiner Seele merke ich zwar nichts, aber ich glaube wohl, daß wir sieben, die wir Frau Carmen dienen durften, sämtlich dasselbe fühlen: Ein Schuft, der jetzt nicht spürt, daß wir an einem Wendepunkt unseres Lebens stehen, — ein doppelter Schuft, der seine Vergangenheit nicht begräbt und nicht Schluß macht mit dem Gefasel von richterlichen Fehlsprüchen und ähnlichen lahmen Selbstentschuldigungen … — Und deshalb frage ich Sie, Geraldine, in dieser Schicksalsstunde nochmals wie vor Jahren in Algier, wo Sie mir freilich einen Korb gaben: Wollen wir beide als schlichtes Ehepaar das neue Leben beginnen? — Mädel, wie es um mich steht, wissen Sie ja … Antwort, Geraldine. — klipp und klar: Wollen Sie?”
Das leise „Ja” kam nicht recht zur Geltung.
In der Tür war Frau Carmen erschienen, hinter ihr die kleine Angeline.
Carmen, bereits wieder völlig beherrscht, nahm ihren Platz wieder ein, Angeline schlüpfte an meine Seite, und Carmens Stimme klang weich und gütig über die noch gedeckte Tafel:
„Meine Freunde, ich habe den schwersten Kampf überstanden … Mag Kapitän Ewers, der Treueste der Treuen, Ihnen nun das mitteilen, was noch zu erklären nötig wäre — bis auf den einen Punkt, den ich später selbst erläutern möchte, wenn wir die Quelle erreicht haben … Wir werden nachher sofort aufbrechen, denn ich möchte meine Mission beenden, bevor vielleicht meines unglücklichen Gatten Helfershelfer, denen ich die Freiheit, Geld und ein Kanu schenkte, irgendwo an der Küste irrige Gerüchte verbreiten — irrig, denn die Zauberquelle der Ikarisi birgt keine Schätze … Was sie verbirgt, werden Sie alle sehen …”
Ewers, kein großer Redner vor dem Herrn, machte die Sache sehr kurz …
„Erklären …, gut … Viel zu erklären ist da nicht mehr. Der Aloys war mein Steward, ich selbst fuhr als Kapitän einen Dampfer, der zwischen Algier und Marseille hin und her pendelte, ein verdammt langweiliges Geschäft … Diesen Dampfer benutzten mal Frau Carmen, der Doktor und die kleine Angeline. Ich freundete mich mit Frau Carmen an, sie war sehr bedrückt, sie faßte Vertrauen zu mir, und als wir im Hafen von Algier festmachten, gingen der Doktor und Angeline sehr eilig und allein an Land … Frau Carmen lag in ihrer Kabine, ein Schlafmittel hatte sie betäubt, und da kam dann die Wahrheit an den Tag, die sie nur mir mitteilte. Pierre Morrell hatte ihr den Talisman gestohlen, der als Ausweis gegenüber dem Oberhäuptling der Ikarisi dienen sollte, Pierre hatte auch das dumme, kleine Mädel beschwatzt und ihr vorgeredet, Frau Carmen wollte ihr ihren Anteil an den Schätzen der Hova-Königin vorenthalten … — Wir mußten dann unsere Vorbereitungen für unsere Fahrt nach Madagaskar in aller Heimlichkeit treffen, wir brauchen ein kleines, flinkes Schiff und eine Besatzung, die mit uns durch dick und dünn ging … Darüber verstrichen drei Jahre … Wir hatten Zeit. Der Doktor und Angeline, die in die Oase Amdora geflüchtet waren, deren Beduinenstamm Morrell gut kannte, ließen uns beobachten, — — Sie brauchen kein so unglückliches Gesicht zu machen, Kindchen, das alles ist nun ja vergessen, verstanden und vergeben —, — also Morrell kam uns hier zuvor, wiegelte den Enkel Karibanus auf, dieser Wicht von Enkel erschlug Karibanu, das heißt, er glaubte ihn erschlagen zu haben, nähte ihn in den üblichen Ledersack und verbreitete die Mär, der Alte sei durch einen Baumstamm getroffen worden. Karibanu entwich mit Hilfe einiger Bergikarisi zur Lagune, traf mit Frau Carmen zusammen, die auf der Mango-Insel ein Versteck gefunden hatte, — — das wäre wohl so alles, schätze ich, denn meine Bekanntschaft mit den sieben Herrschaften, die damals in Algier eine gewinnbringende Aktiengesellschaft gegründet hatten, mag Schimke des näheren schildern … — Von mir aus können wir uns zum Marsch in die Berge fertig machen … Ziehen Sie aber Ihren Frack aus, Olgurow, damit die Zebus auf den Weiden nicht neidisch werden, an solche Pracht sind die Ochsen hier nicht gewöhnt.”
„Danke — sehr liebenswürdig …”, — Olgurow schaute die Lady von der Seite an …
„Leslie, mein Liebes, auch dein Kostüm dürfte einiger Ergänzungen bedürfen … Die Herrschaften gestatten: Wir sind verlobt, soeben … durch drei Händedrücke unter dem Tischtuch … Wir wollen nicht hinter Geraldine und Edelgar zurückstehen.”
Die Kajüte leerte sich schnell.
Schließlich blieben nur noch Carmen, Angeline Ewers und ich zurück. Wir brauchten uns nicht umzuziehen.
Carmens ernste, weiche Schönheit und Angelines frische Lieblichkeit standen in scharfem Gegensatz zu Fred Ewers’ ungeschlachtem Körper, — der Käpten wanderte ruhelos und wiegenden Schrittes mit rudernden Armen hin und her, machte vor dem großen, hohlem Götzenbilde halt und sagte brummig:
„Ich wollte das Ding hier eigentlich zerschlagen … Das Loch im Fußboden habe ich schon vernagelt … Aber der alte Karibanu ist ganz versessen auf Ihr Versteck, Frau Carmen, das ja zugleich Ihr Sprachrohr war … Er soll es also zum Andenken behalten … Übrigens hat er seine Enkelin, seine eigentliche Lebensretterin, schon vorausgeschickt … Ein flinkes Mädel … Man sollte nicht glaube, wie schön manche Weiber der Ikarisis sind … — Ich werde mich jetzt mal draußen umtun, ob die Sänften fertig sind …”, — Er stapfte hinaus.
Die Tür fiel zu.
Frau Carmen hob den Blick.
„Abelsen, mein Freund, — ahnen Sie, was die Quelle birgt?”
„Nein …!”
„Ich auch nicht, Olaf, — trösten Sie sich …”, meinte die kleine Angeline etwas schmollend. „Carmen hütet ihr Geheimnis bis zur letzten Sekunde.”
Die schöne, ernste Frau, deren Leben und Liebe ein Leidensweg gewesen, sagte träumerisch:
„Meine Gedanken weilen in der Vergangenheit … Und Vergangenes vererbte sich als heilige Pflicht von Mund zu Mund bis auf mich, die ältere Schwester, die ältere der beiden letzten Verwandten der Hova-Königin. Denen, die vor mir diese Pflicht kannten, war keine Möglichkeit gegeben, dieses Vermächtnis zu erfüllen. — Abelsen, mein Freund, der Sie so selbstlos für mich eintraten: Es handelt sich nicht um Geldeswert, nur … um ideelle Werte, um … eine große Liebe, eine große Sehnsucht … — Kommen Sie, — — die Kriegstrommeln rufen … Karibanu, treu wie Ewers, treu wie seine Vorgänger, mahnt zum Aufbruch …”
— Ein endloser Zug von Kriegern, in der Mitte zwei Sänften aus Bambus für Carmen und Angeline, hinter den Sänften wir Europäer und Monte, der Hund, verschwand in den Bergwäldern.
Felsschluchten, in die kein Sonnenstrahl fiel, taten sich neben uns auf, Bergwässer rauschten, Wasserfälle jagten als glitzernde Bänder in die Tiefe, Bergterrassen, fruchtbar und bebaut, schoben sich als Siedlungsstätten in die wilde Szenerie des unwirtlichen Gebirges, vereinzelte Hütten mit kleinen Reisfeldern, mit stillen Menschen, bellenden Hunden, quiekenden Schweinen trafen wir, — atemlos nahm uns der Dom der Urwälder auf, schmale Pfade durchzogen ihn, friedliche Dämmerung herrschte …
Dann wieder kahle Felsenklüfte, Bergzacken, reißende Bäche, Gestrüpp, Dornen …
Braune muskulöse Männer keuchten unter der Last der Sänften, Speere klirrten, — Monte blieb stets neben mir, und an der anderen Seite schritt Ewers, der heute zu Ehren des Tages ein Stück Priem wie einen kleinen Apfel in der Backentasche trug und furchtbar schwitzte.
Wildschweinrudel gingen flüchtig davon unter tollem Lärm …
Vogelschwärme fliegen empor …
Weiße Aras kreischen uns wütend nach …
Dann ein besonders beschwerlicher Anstieg …
Aber als Lohn ein Bild vor uns, das einzig schön war.
Wir hatten wieder eine Bergterrasse ereicht, in deren Mitte ein großer Weiher mit einer Überfülle von Seerosen schimmerte …
Zu beiden Seiten zog sich finsterer Urwald empor, den Abschluß der Terrasse bildete ein kahler Berg von dunklem Gestein, aus dem hoch über uns eine Quelle hervorsprang mit starker Wassermenge, die in vielfach gewundenem Lauf als silbernes Band dem Weiher zuströmte.
… Wir schritten weiter …
In einer jener weißen Riesenblüten, die, auf ihren Tellerblättern auf dem Wasser schwimmend so selten gefunden wird, daß die Wissenschaft sie mit nüchternem Namen verbucht, stand da wie eine fremdartige Wasserfee ein braunes Mädchen in bunte Stoffe gehüllt, eine Büchse lässig im rechten Arm haltend …
Unweit davon, kaum zu sehen, schaukelte ein winziges Kanu …
Karibanu, der dem Zuge voranschritt, rief dem braunen Kinde etwas zu.
Es zog das Kanu näher, kletterte hinein, trieb es mit dem Blattruder zu dem Felsen und griff in eine Spalte …
Zog ein dickes Lianentau hervor …
Wandte fragend den Kopf …
Wieder rief der Alte …
Das Mädchen hängte sich mit vollem Gewicht an das Tau, und unterhalb des Quelloches wurde eine Felsplatte bei Seite gerückt, die bisher dem silbernen, fließenden Band eine bestimmte Richtung gegeben hatte.
Das silberne Band verrutschte gleichsam und gab eine Öffnung im Gestein frei …
Karibanu verneigte sich vor Carmen.
„Herrin, wir können emporsteigen …”
Ein schmaler Zickzackpfad führte uns höher, — — wir traten ein, Harzfackeln brannten in der sich nach hinten zu stark erweiternden Höhle, Ikarisikrieger hielten die Fackeln, deren roter Schein nur uns beleuchtete und … einen dunklen Sarg aus nie faulendem Tespe-Holz.
Der Sarg, mit rohen Schnitzereien über und über verziert, stand auf zwei Felsstücken. Ringsum lagen frische Orchideen, bunte Blumenkränze.
Die Kälte der Grotte machte frösteln.
Carmen und Angeline waren Arm in Arm als einzige dicht an den Sarg herangetreten.
Sie standen eine Weile stumm …
Dann sprach Carmen, und sie hatte die Hand auf die Metallplatte gelegt, in die der Name des einsamen Schläfers eingraviert war …
„… Als der letzten Hova-Königin Gemahl, der zugleich ihr erster Minister war, erschossen wurde, sollte seine Leiche verbrannt und die Asche in alle Winde zerstreut werden, damit nichts mehr an ihn erinnerte. Er hatte den neuen Herren der Insel Wiederstand geleistet, sein Andenken sollte ausgetilgt werden. Treue Ikarisi tauschten die Leiche aus, schafften den Toten hierher und verbargen ihn. — Die verbannte Königin Ranavalona hatte nur den einen Wunsch, neben ihrem Gemahl dereinst bestattet zu werden. Ihr Wunsch wurde heilige Pflicht … Ich bin gekommen, diesen Sarg zu holen und ihn nach Algier zu schaffen … — Das, meine Freunde, ist das Geheimnis, hinter dem mein Gatte Millionenwerte vermutete …”
— Erst spät nachts bei Fackellicht wurde der Sarg durch die Wildnis zur Jacht getragen.
Der Laderaum nahm ihn auf, die Kisten mit den Krokodilhäuten wurden ringsum aufgetürmt, und dann erst begaben wir uns zur Ruhe.
Wir hatten unvergeßliche Stunden hinter uns, — wir hatten teilnehmen dürfen an dem letzten Akt einer Herzenstragödie, die uns selbst erschütterte und unsere Lippen schweigsam machte.
Am anderen Mittag glitt die Jacht in das offene Meer hinaus …
Der Strand war bedeckt mit braunen Leibern, — das Volk der Ikarisi nahm Abschied von einem Toten, den die Weisheit und Treue seiner Oberhäuptlinge durch die Zauberquelle vor jedem Fremden beschützt hatte.
Die Küste entschwand hinter uns …
Angeline, ich und Monte lagen auf dem Deck der Heckkajüte, und meine kleine Freundin hatte bereits wieder frohe, blanke Augen und lächelte über Olgurow, der die Lady Hamilton nicht sorgsam genug im Liegestuhl betten konnte und der nur noch zärtlicher Liebhaber war.
… Bis vom Ruder her, wo Freund Ewers breitbeinig seiner Pflicht nachkam und nur zuweilen einen braunen Strahl nach einem frechen Haifisch spritzte, der tiefe Baß alarmierend über das Deck hallte:
„Achtung!! Gerade voraus — — ein Kreuzer!! — Abelsen, welche Flagge?”
Ich griff nach dem Fernglas …
„Die französische, Ewers …!”
Indem erschien Frau Carmen auf der Treppe.
Sie wurde bleich …
Wir drängten uns alle an der Reling zusammen …
Der schlanke Kreuzer kam mit hoher Fahrt näher, signalisierte: „Stoppen … Wir schicken ein Boot …”
Carmens farblose Lippen zuckten …
„Ewers, — — schnell, beschweren Sie den Sarg mit eisernen Ketten, — — dann über Bord! Es muß sein …!”
Olgurow nahm das Fernrohr von den Augen.
„Frau Carmen, — warten Sie noch … Es ist der Kreuzer „Sorbonne”, und wenn der Kommandant inzwischen nicht gewechselt hat, was ich nicht glaube, haben wir es mit einem Manne zu tun, der das Herz auf dem rechten Fleck hat und den ich gut kenne …”
Wir stoppten …
Eine Pinasse rauschte heran.
Olgurow fragte den Offizier … Der bestätigte: „Kommandant Fregattenkapitän Raoul Brassart … Ich habe Befehl, die Jacht zu durchsuchen und …”
„Das hat Zeit …”, fiel der Russe höflich ein. „Brassart ist ein Duzfreund von mir … Ich möchte ihn vorher sprechen. — Mr. Benson, begleiten Sie mich, ich brauche einen Zeugen.”
Das galt mir. — Wollte Olgurow sich hier etwa auf eine frühere Freundschaft und auf die Ritterlichkeit einer Nation berufen?! In der großen Politik scheiden Gefühlsmomente aus, und Madagaskar war eine wertvolle, umfangreiche Kolonie, und die Ikarisi wahrlich nicht beliebt …!
Mit etwas unbehaglichen Empfindungen saß ich in der zum Kreuzer zurückjagenden Pinasse, und dies umso mehr, als ich an den Diamantenfluß dachte und auch diese kurze Etappe einer ziellosen Pilgerfahrt Einzelheiten barg, in denen ebenfalls solch ein gepanzerter Windhund des Meeres unangenehm tätig gewesen.
In der Kajüte des Kommandanten schüttelte Olgurow derb und mit rauher Kriegsbegrüßung die Hand des zunächst sehr reservierten Monsieur Brassart.
„… Du besinnst dich doch wohl noch auf mich. Die Geschichte damals 1915, bei der wir beide etwas Blut lassen mußten, schweißt Männer zusammen, und an den Unsinn, den die Zeitungen über mich verbreiteten, wirst du natürlich nie geglaubt haben. — Gestatte, hier Mr. Benson, ein reicher Amerikaner, auch ein Gast der Frau Doktor Morrell auf deren Jacht, die natürlich keine Schätze an Bord hat … nur einen Sarg. Frankreich dürfte kein Interesse mehr daran haben, zu verhindern, daß der Gemahl der toten Königin Ranavalona neben ihr in Algier beigesetzt wird. Ich appeliere an eure Großmut. Die Sachlage ist folgende …”
Olgurow schilderte die Dinge nicht ganz wahrheitsgetreu, er schob die Person des geisteskranken Morrell in den Vordergrund, und Monsieur Brassart, der tatsächlich auf eine mit Millionenwerten beladene Jacht gefahndet hatte, sah sich so einer Tragödie gegenüber, die auf ihn nicht ohne Eindruck bleiben konnte.
Er fuhr mit zur Jacht hinüber, begrüßte die Damen mit größter Liebenswürdigkeit, ließ sich den Sarg zeigen und öffnen: Er enthielt nur menschliche Gebeine.
Brassart hatte Frau Carmen nachher einige Worte der Teilnahme gewidmet, ihrer ernsten Schönheit still bewundernde Blicke, — — und der Kreuzer dampfte davon.
Frankreich war es gleichgültig geworden, ob eines toten Gegners sterbliche Überreste neben denen seiner Gemahlin beigesetzt wurden.
— — Unsere Jacht steuerte jetzt bereits dem Roten Meere zu.
Es ist Abend, und die kleine Angeline und Monte kauern hinter mir auf dem Teppich und balgen sich zuweilen und stören mich.
Ich schreibe die Schlußzeilen …
In der großen Kajüte spielten die Edelfasanen, so weit sie nicht Borddienst haben, mit viel Lärm und Frohsinn ein harmloses Würfelspiel um … Zündhölzer. Das Hazard ist abgetan …
Frau Carmen steckt den hübschen Kopf zur Tür hinein …
„Immer noch fleißig, Abelsen?”
„Ja … Mir fehlt eine Schlußpointe … Angeline und Monte nehmen so gar keine Rücksicht auf mein Tagebuch …”
„Schlußpointe?!” Carmen lehnt neben mir an dem kleinen Tischchen … „Brauchen Sie die denn, Abelsen?! Ich denke, dieser Ihr Abseitspfad hat übergenug Besinnliches für Leute, die nicht nur nach groben Sensationen haschen. Schreiben Sie doch als Schluß:
Heilige Liebe ist heilig, Quelle …
„Wie wäre es damit?”
Ich schreibe es …
Und mir fährt es durch den Sinn, daß die wahre Schlußpointe insgeheim längst vorbereitet ist … Ich habe mich hier an Bord mit meinem halben Landsmann Holger Hilgerström eng angefreundet, wir haben unsere besonderen Pläne, wir haben den trefflichen Gorilla eingeweiht, und noch in dieser Nacht werden wir uns mit dem kleinen Kutter der Jacht still davonschleichen — wir beide und Monte … Denn Monte gehört mir. Vielleicht wird die kleine Angeline ein paar Tränen vergießen … Vielleicht wird Carmen denken, ich sei vor ihr geflohen … Vielleicht hat sie recht …
Jedenfalls: Um Mitternacht stößt der Kutter ab …
Gorilla wird meine Hand zerquetschen und mit den Augen blinzeln und husten …
Und, dann wird das Abseits wieder um mich sein, und ich werde warten, welch neuen Weg, es mich leitet …
Nächster Band:
Anmerkung:
[1] Original „ist” - in „ich” geändert