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Der Dieb, der nie etwas stahl

 

Harald Harst

 

Band: 355

 

Der Dieb, der nie etwas stahl

 

 

Von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16

 

1. Kapitel

Vater und Tochter.

Gerda Gerd überflog den Zeitungsartikel mit der merkwürdigen Überschrift nochmals und legte das Blatt dann mit sehr nachdenklichem Gesicht beiseite. Sie saß in dem Arbeitszimmer ihres Blockhauses am Schreibtisch und blickte nun durch das offene Fenster auf den stillen Waldsee hinaus, auf dessen Oberfläche sich die Uferbäume mit ihrem frischen Grün freundlich widerspiegelten. Zarter rötlicher Glanz der scheidenden Sonne, die am Horizont nochmals siegreich die grauen Wolkenfetzen durchbrochen hatte, verlieh dem Landschaftsbild noch intimeren Reiz, und das junge Mädchen verfolgte mit einem schwachen Seufzer das frohe Liebesspiel zweier Schwäne, die mit zu Geheimrat Gerds ausgedehntem Besitz gehörten.

Gerda hatte Sorgen, die sie niemandem anvertrauen konnte. Der Zeitungsartikel hatte ganz bestimmte Ideenverbindungen in ihr hervorgerufen, und diese Gedanken paßten kaum zu ihrer blühenden, wenn auch ernsten Jugend und zu dem Naturgemälde des Waldsees da draußen.

Dieselben Gedanken rissen sie förmlich aus dem Schreibsessel empor und zwangen sie zu einem ungestümen Auf und Ab in dem geschmackvoll eingerichteten Zimmer, dessen eine Wand vollkommen durch Regale, angefüllt mit Büchern und den verschiedensten Apparaten bedeckt war.

Gerda Gerd blieb schließlich wieder vor ihrem Schreibtisch stehen und blätterte in einem ihrer Kolleghefte, die die Niederschrift der Vorlesungen Doktor Mallisons enthielten.

Die fein gewölbten Lippen des Mädchens zogen sich zu einem bitteren Lächeln nach unten, und gleichzeitig trat in Gerdas kühle Augen ein ungewohnt harter Ausdruck.

Sie hatte draußen in der Diele den leichten, federnden Schritt ihres Vaters und seine allzeit fröhliche, fast zu unbekümmerte Stimme vernommen und schob das Kollegheft schnell unter die Zeitungen, wobei sie flüchtig errötete und aus Ärger hierüber noch hastiger nach einer Zigarette griff und diese anzündete, während ihr Vater bereits nach kurzem Anklopfen das Zimmer betreten hatte.

„‛n Abend, Mädel,“ begrüßte er sie etwas lärmend und küßte sie flüchtig auf die Stirn, eine Liebkosung, die zwischen Vater und Tochter nur mehr Gewohnheitssache geworden.

Elmar Gerd war der Typ des noch immer schönen, stets eleganten, stets verbindlich lächelnden Weltmannes und Großindustriellen mit kosmopolitischen Neigungen und Absichten. Das einzige Kind, das ihm seine Gattin, eine geborene von Steuben, hinterlassen hatte, bereitete ihm seit Monaten ernstes Unbehagen, und die Entfremdung zwischen Vater und Tochter steigerte sich von Tag zu Tag, obwohl der Geheimrat dies absichtlich übersah. Er war ein Mann ohne viele Skrupel, er fürchtete niemanden, er konnte äußerst brutal werden, nur Gerdas kühle Augen störten ihn, mehr noch, er empfand vor seinem Kind genau dieselbe Scheu, wie er sie vor seiner verstorbenen Gattin niemals hatte abschütteln können. Die geborene von Steuben war wohl seine Frau, nie aber seine Geliebte, Kameradin oder wahre Lebensgefährtin gewesen.

Der Geheimrat warf sich in einen am Fenster stehende Klubsessel und betrachtete Gerda mit scheinbar harmloser Vaterfreude. „Mädel, du siehst wieder einmal fabelhaft aus! Dieses Abendkleid – – ein Gedicht! Gedenkst du noch auszufahren?“

„Ja.“ Sie lehnte an der Schreibtischecke und zerkrümelte die kaum angerauchte Zigarette über dem Aschenständer. „In den Klub…“ fügte sie hinzu, wobei sich ihre Lider etwas senkten und ihr Blick merklich forschend wurde.

Elmar Gerd hüstelte und drehte den Kopf etwas zur Seite.

„So ‥. so… – In den Klub… Interessante Gesellschaft dort… Nur etwas gemischt, zu gemischt. Der Privatdetektiv… hm, wie heißt er doch…“

„… Harst,“ half sie aus. „Weshalb tust du so, Papa, als wäre dir der Name entfallen?!“

Er lachte recht gezwungen. „Lieber Gott, – was geht mich Harst an?! Ich habe anderes im Kopf… Der ekelhafte Prozeß zum Beispiel, – – na, und auch noch… – aber davon verstehst du nichts, Mädel… – Verzeihung,“ verbesserte er sich schnell, „du verstehst ja von allem etwas… Und darauf bin ich sehr stolz.“

„Zu Unrecht, Papa,“ erwiderte Gerda bedächtig. „Ich verstehe zum Beispiel gar nichts von kriminellen Dingen … oder von Kriminalistik…“

Des Geheimrats schmaler Kopf mit dem starken, grauen Scheitel war herumgefahren. Ein mißtrauischer Blick traf sein Kind, und die nächste Frage klang eigenartig schroff:

„Was geht dich die Kriminalistik an?! Läßt du dir etwa von Harst Vorlesungen über dieses Thema halten?!“

„Nein,“ entgegnete sie vollkommen gleichgültig. „Ich kann nur jene Nacht vor drei Wochen nicht vergessen, als ich zufällig Zeugin wurde, wie du den Einbrecher durch deine Rüden hetzen ließest und ihn niedergeschossen hättest, wenn mein Anruf dich nicht davon abgehalten haben würde.“

Sie sprach immer langsamer und schleppender. Es war das eine mühsam angelernte Angewohnheit von ihr, um ihre wahren Empfindungen zu verschleiern.

„… Der Dieb hatte doch nichts gestohlen, und deine Erregung damals ging weit über das Maß deiner sonstigen Strenge und Voreiligkeit bei ähnlichen Anlässen hinaus. Ich freue mich, daß der Mann entkommen ist… Es gibt heute so unendlich viel Hungernde und Darbende, die auf die Bahn des Verbrechens gedrängt werden.“

Der Geheimrat betrachtete interessiert seine auf und abwippende Stiefelspitze und sagte leichthin:

„Hast du etwa Harst davon erzählt?!“

Gerda hörte seiner Stimme sehr wohl an, daß er diesen harmlosen Plauderton nur vortäuschte.

„Würde dir das sehr unangenehm sein, wenn ich es getan hätte?“ fragte sie geradezu, um endlich über einen ganz bestimmten Punkt Aufschluß zu erhalten.

„Komische Frage, das‥!“ meinte Elmar Gerd vielleicht allzu gereizt. „Überhaupt möchte ich endlich einmal von dir darüber Aufschluß erhalten, weshalb du mir so selten die Freude macht’s, dich drüben in der Villa bei mir sehen zu lassen?“

„Weshalb?!“ wiederholte sie erst nach einer peinlichen Pause mit einem schwachen Achselzucken. Und dann fuhr sie lauter und recht bestimmt fort: „Hast du den heutigen Artikel über den merkwürdigen Dieb gelesen? – Ja? – Nun, ist nicht auch dir darin einiges aufgefallen? Sollte es ein Zufall sein, daß der geheimnisvolle Mann…“

Der Geheimrat erhob sich mit einem Ruck. Sein schmales Gesicht, in dem die Augen sehr dicht beieinander lagen und die Brauen über der Nase fast zusammenstießen, zeigte nur mehr den alten belustigten, spöttischen Ausdruck.

„Um Gotteswillen, hören mir mit derartigen Hintertreppengeschichten auf‥! – Entschuldige, – ich denke soeben daran, daß ich noch Justizrat Henniger anrufen muß… Sehr wichtige Sache, – – also auf Wiedersehen…“ –

Er streckte ihr nur die Hand hin. Aber Gerda hielt seine Finger fest umspannt.

„Papa, – bei Henniger ließ der Dieb das eigentümliche Einbruchswerkzeug zurück… Nicht wahr?“

Er starrte sie groß an. Dann riß er sich los und meinte unwirsch: „Mit dir kann man wahrhaftig kein vernünftiges Wort mehr sprechen‥!“

Er schmetterte die Tür hinter sich im Schloß.

Gerda Gerd stand ohne jede Bewegung da und schaute mit bitterem Lächeln über den im Abendrot schillernden See hinweg.

„Ich werde es doch tun müssen!“ murmelte sie dann mit jener schroffen Kopfbewegung, die bei hier stets einen unumstößlichen Entschluß gleichsam unterstrich.

 

 

2. Kapitel

Die Schule der Ganoven.

„Ihre Behauptung, daß es eine derartige Universität gebe, mein lieber Kriminaldirektor, erinnert mich an den uralten Witz von der Heranbildung chinesischer Zahntechniker,“ sagte Gerda Gerd aus der Tiefe ihres Klubsessel heraus mit ungläubigem Lächeln, aus dem auch ein wenig Selbstbewußtsein und feine Ironie herauszulesen waren.

Wenn Gerda Gerd, einziges Kind des Alleininhabers der weltberühmten Gerd-Fabriken, in diesem intimen Kreis ihrer Verehrer und dazu noch in diesem noch intimeren, raffiniert schlicht eleganten Zimmer des feudalen ‚Klubs der Geprüften‛ irgendwie zu einem abwegigen Thema sich äußerte, spitzte jeder die Ohren.

Dieses blonde, mittelgroße Mädchen mit den kühlen, prüfenden, dunklen Augen, dem vielseitigen Wissen und dem nimmermüden Fortbildungsdrang gehörte dem Klub erst eine Woche an, da dessen Statuten von jedem Bewerber um die Mitgliedschaft eine besonders schwierige ‚Prüfung‛ verlangten.

Gerda Gerd hatte mit ihrem Mercedeswagen unlängst einen Rekord Berlin-Hamburg und zurück um volle zwölf Minuten verbessert, und dies unter besonders schwierigen Umständen. Sie war genau so leidenschaftliche Autofahrerin wie Sportfliegerin und Chemiestudentin, und die meisten der acht Herren, die ihr heute im ‚violetten Zimmer‛ des Klubs Gesellschaft leisteten, konnten es mit diesem hübschen Mädchen weder an Intelligenz noch an Körpertraining irgendwie aufnehmen. Aber die Gerd’schen Millionen lockten, und wenn über diesen Millionen noch als Krone ein blonder Engel von Gerdas pikantem Liebreiz schwebte, verlohnte es sich schon, die alleräußersten Anstrengungen zu wagen, die Konkurrenz irgendwie zu beseitigen. Freilich war bei Gerda Gerd mit den landläufigen Mitteln, ihr Interesse und schließlich vielleicht auch wärmere Gefühle wachzurufen, gar nichts auszurichten. Das wußte auch Kriminaldirektor Volker, der nach einer schnellen, wohlverdienten Beförderung nunmehr daran dachte, auch in sein arbeitsreiches Dasein die Annehmlichkeiten eines eigenen Hausstandes mit einer klugen, zärtlichen Lebensgefährtin einzufügen.

„Sie spielen da auf die Geschichte von den Chinesenknaben an, die schon mit sechs Jahren Holzpflöcke aus Brettern mit den Fingerspitzen herausziehen müssen und dadurch ihre Fingermuskulatur zu erstaunlichen Leistungen bringen,“ meinte Volker nachdenklich. „Falls diese Geschichte nur gut erfunden sein sollte, ist eine andere bestimmt wahr: China darf sich rühmen, schon vor hundert Jahren sowohl Diebes- wie Bettlerschulen besessen zu haben. – Die Chinesen, die nach Kalifornien auswanderten, errichteten ähnliche Schulen, wie nachgewiesen, auch in San Franzisko, und von dort übernahmen europäischer Verbrecher diese Art von Universitäten. Die erste Hochschule für Taschendiebe wurde in London von einem Kollegen 1891 ausgehoben, seitdem besitzt jede Weltstadt diese wenig angenehmen Unterweltbildungsstätten, und wir hier in Berlin haben zur Zeit vielleicht die berühmteste ‚Lehranstalt‛ dieser Art, die hauptsächlich Diebe und Einbrecher sachgemäß unterrichtet.“

Gerda Gerd drehte etwas den schmalen Kopf und schaute meinen Freund fragend an, der schweigend neben mir auf einem mit violettem Leder bezogenen Klubsofa mehr im Halbdunkel saß.

„Herr Harst, Volker äußerte vorhin, diese Berliner Ganovenschule sei leider nicht zu entdecken, sie existiere jedoch bestimmt. Wie denken Sie darüber? Sie sind doch auch Fachmann als Privatdetektiv.“

Harst verneigte sich leicht…

„Sie existiert, gnädiges Fräulein.“

„Ah, – dann wissen Sie auch Genaueres darüber?“

„Vielleicht… Vielleicht weiß ich mehr als Herr Volker. Es soll ja vorkommen, daß man mich in diskret verzwickten Fällen lieber zu Rate zieht als die Kriminalpolizei.“

Dieser feine Hieb, der sich gegen Volker richtete, hatte seine Berechtigung. Volker war ein Streber und rücksichtsloser Egoist, der gerade meinem Freund nur allzu gern Schwierigkeiten machte. Im Fall der ‚Roten Pantöffelchen‛ und bei dem noch schwierigeren Problem der ‚Königin der Orchideen‛ hatte die Rivalität zwischen Volker und Harst durch des ersten Schuld Formen angenommen, die nicht mehr ganz einwandfrei gewesen war.

Ich werde diese beiden Kriminalfälle übrigens demnächst in Druck geben.

Volker fühlte den Nadelstich, gab sich aber ganz unbefangen und meinte nur:

„Sie wollen doch nicht behaupten, bester Harst, daß Sie den Inhaber dieser hiesigen Ganovenschule etwa kennen oder gar den Ort wüßten, wo der geheimnisvolle Lehrer seine Unterrichtskurse abhält?!“

Mein Freund erwiderte zu meinem Erstaunen merklich ausweichend: „Bestimmtes ist mir nicht bekannt. Ich hörte nur, daß Sie sich die allergrößte Mühe geben, diese ‚Universität der Gauner‛ schleunigst zu schließen und den Rektor und Professor und Dekan, der ja all diese Posten bekleidet, zu verhaften, obwohl die strafrechtlichen Voraussetzungen hierzu fehlen. Ich kenne keinen Paragraphen im Strafgesetzbuch, der eine derartige Lehrtätigkeit verbietet.“

Der Fortgang dieser Unterhaltung bot nichts Bemerkenswertes. Als wir um Mitternacht den Klub verließen, dem auch wir angehörten, schloß sich uns Gerda Gerd an und deutete auf ihren in der Nähe parkenden Mercedeswagen.

„Herr Harst, ich möchte diese Ganovenschule aus eigener Anschauung kennen lernen. Sie wissen, wo sie sich befindet. Volker mag sich leichter täuschen lassen als ich. Ich verspreche Ihnen strengste Diskretion… Findet der Unterricht auch nachts statt?“

„Ja,“ entgegnete mein Freund sehr einsilbig und blickte sich mißtrauisch um.

Diese Julinacht, warm, windstill und etwas schwül, hatte hier in der vornehmen Wohnstatt des Berliner Westens den an sich geringen Verkehr völlig zum Einschlafen gebracht. Drüben am Hohenzollernplatz parkten die Autos der Klubmitglieder, und deren Chauffeure waren fast die einzigen Menschen in der weiteren Umgebung des Klubhauses. –

Übrigens heißt der Klub anders, als ich ihn hier benannt habe.

Wir standen etwa dreißig Schritt vom Portal des Klubs entfernt im Schatten eines Alleebaumes, und Harst fügte nun etwas geistesabwesend hinzu: „Sie schnitten vorhin das Thema ‚Ganovenschulen‛ an, Fräulein Gerd. Weshalb?“

„Ich hatte an den Aufsatz in einer englischen Zeitung gedacht, den ich für ein bloßes Phantasieprodukt hielt, Herr Harst.“

„Kriminaldirektor Volker würde Ihnen diese Begründung auch nicht glauben, und da er vor uns den Klub verließ, hat er zweifellos diese Taxe dort drüben bestiegen und wartet.“

„Worauf?“

„Auf uns… Er will uns heimlich folgen. – Gut, Sie sollen die Diebesschule kennen lernen, Fräulein Gerd. Ihrer Verschwiegenheit bin ich gewiß.“

Gerda Gerd hatte ihren Chauffeur nach Hause geschickt und steuerte den Wagen selbst. Harst saß neben ihr und gab ihr gewisse Winke, wie wir die folgende Autotaxe abschütteln könnten. Das junge Mädchen legte im Tiergarten ein wahrhaft höllisches Tempo vor, und als wir den Stadtteil Moabit erreicht hatten, war die Straße hinter uns leer.

Wir hielten zu meiner ehrlichen Enttäuschung vor einem einzelnen stehenden, villenartigen Haus, das inmitten eines baumreichen Gartens lag. Harst, der hier sehr gut bekannt sein mußte, läutete an der Gitterpforte, worauf sich das große Einfahrttor öffnete und das Auto in den Garten und hinter das Haus glitt.

Es war dies ein sehr altes Gebäude mit allerlei Erkern, Türmchen und Stuckverzierung. Der Garten lief bis zum nahen Spreeufer hinab. Harst schritt schweigend voran, öffnete die Pforte, die auf den Uferweg mündete, und bog nach links ab, wo ein Flußfrachtdampfer am Bollwerk vertäut war.

Als wir die Laufplanke passierten, erblickten wir an Deck zwei Männer, die uns entgegentraten und die erst auf Harsts leise geflüstertes Losungswort den Weg zur Achtertreppe freigaben.

„Höchst romantisch und vielverheißend,“ meinte Gerda Gerd ohne jeden Spott.

Der eine der Männer meldete uns an. Wir mußten derweil in der kleinen Kajüte warten, wo wir tief unter uns aus dem Laderaum kommend ein dauerndes Surren vernahmen, das dann plötzlich verstummte. –

Die Kajüte zeigte die übliche bescheidene Einrichtung.

Der Wächter trat ein und winkte uns. Es ging eine zweite Treppe hinab, dann durch einen kurzen Korridor, und schon hier rochen wir den kennzeichnenden Dunst erhitzten Metalls.

Eine dritte Tür flog auf, und wir befanden uns im großen Laderaum des Heckraddampfers. Blendende Helle empfing uns. Mitten in dem mit Kisten, Fässern, Stühlen und Tischen angefüllten und elektrisch beleuchteten Zwischendeck stand neben der Attrappe eines Geldschrankes, von dem nur die Tür echt war – Schmelz- und Bohrlöcher bewiesen, daß es sich um einen Unterrichtsgegenstand handelte –, ein Mann in einem zerschlissenen Schlafrock mit einem Seidenkäppchen auf den weißen Künstlerlocken und einer Hornbrille auf der verdächtig roten Nase. Der Greis trug einen gutgepflegten weißen Vollbart, hatte sehr schmutzige Hände und zahllose Ölspritzer im Gesicht. Neben ihm lagen ein Sauerstoffgebläse und allerlei elektrische Stahlbohrer neuester Konstruktion.

Der Geruch hier war beizend und mit Zigarrenrauch vermischt, zwang zum Husten. Die ‚Schüler‛ des Herrn Professors der Ganovenkunst hatten sich wohl schleunigst anderswohin verzogen.

Harst benahm sich, als befände er sich in einem Salon und als ob der Mann im Schlafrock eine Respektsperson wäre.

„Sie gestatten, daß ich Ihnen Fräulein Gerda Gerd und meinen Freund Schraut vorstelle, Herr Kapitän… Wir danken Ihnen, daß Sie uns empfangen haben.“

Der Greis verbeugte sich und deutete auf ein Tischchen und vier Korbsessel.

„Wollen Sie bitte Platz nehmen.“ Seine Stimme klang dunkel und tief, etwas wie ein schlechter Lautsprecher mit Kellerton.

Nachdem wir uns gesetzt hatten, entschuldigte sich der ‚Kapitän‛ seines unsauberen Anzuges wegen. „Ich hielt gerade eine Unterrichtsstunde ab, wie man Tresorschlösser herausbrennt,“ fügte er mit größter Selbstverständlichkeit hinzu. „Es ist eine unsaubere Arbeit. – Herr Harst, nachher möchte ich Sie einige Minuten allein sprechen.“

Über die Unterrichtsmethoden, die er uns dann genau auseinandersetzte, nicht des Näheren auszulassen, halte ich für unzweckmäßig.

Nach einer Stunde verabschiedeten wir uns wieder, und Gerda Gerd brachte uns mit ihrem Mercedes bis in die Nähe unseres Heimes und verabschiedete sich mit aufrichtigem Dank für den interessanten Ausflug in die geheimsten Gefilde der Unterwelt. Mit keinem Wort fragte sie, woher Harst den Kapitän so genau kannte. Sie gehörte zu jenen seltsamen jungen Damen, die nie eine überflüssige oder unangebrachte Neugier zeigen.

 

 

3. Kapitel

Etwas über Doktor Malisson.

Vor unserem kleinen Eigenheim hielt auf der anderen Straßenseite eine Autotaxe. Harst meinte spöttisch, als er die Haustür aufschluß, Hans Volker sei äußerst rührig…

„Fortan wird der uns auf Schritt und Tritt beobachten lassen, was ich ihm nicht verargte. Die Ganovenschule hat auch mich in böse Gewissenskonflikte gebracht. Ich erzähle dir das Nähere bei der üblichen Tasse Mokka, mein Alter…“

In unserem Büro, das gleichzeitig Wohn- und Herrenzimmer war, summte um zwei Uhr morgens gemütlich die Kaffeemaschine. Mein Freund saß in einem Sessel, rauchte und weihte mich in die mir bisher unbekannte Vorgeschichte ein.

„Vor acht Tagen war es… Du warst bereits zu Bett gegangen, als mich jemand telephonisch anrief und mich bat, ihm eine Unterredung unter vier Augen zu gewähren. – Ich will mich kurz fassen. Der greise Kapitän erwartete mich an der Straßenecke in einer Limousine, ich stieg ein, und wir fuhren langsam durch den stillen Westen. Der vornehme alte Herr nahm mir das Versprechen ab, Stillschweigen zu bewahren. Dann erzählte er mir, wer er sei und was er treibe. Über seine Person schwieg er sich aus. – Sein Anliegen war für einen Mann, dem doch eine Menge gewandte Leute zur Verfügung stehen, sehr merkwürdig. Eines Nachts habe sich ein Herr auf seinem Dampfer eingefunden und die Teilnahme an einem Kursus für Geldschrankknacker erzwungen, indem er mit Anzeige bei der Polizei drohte. Der Herr trug dunkle Brille, falschen Bart und bezahlte das doppelte Honorar im voraus. Natürlich versuchte der Kapitän herauszubringen, wer der Geheimnisvolle sei, aber dieser entzog sich allen Verfolgern mit verblüffendem Geschick.

Der ‚Kapitän‛ bat mich, doch einmal zu versuchen, die Identität dieses Herrn festzustellen. Auch ich habe zwei Nächte umsonst geopfert, der Mann entging mir beide Male. Heute nun, als wir mit Gerda Gerd auf dem Dampfer waren, teilte mir der mindestens ebenso geheimnisvolle Greis mit, daß sein unbekannter Schüler ihm einen Brief in die Kajüte gelegt habe des Inhalts, daß er für den Unterricht danke und daß er daran nicht mehr teilnehmen würde. Dem Brief lagen fünfhundert Mark bei, er war getippt und sehr höflich abgefaßt. Der Kapitän zeigte ihm mir, als Gerda und du den ‚Übungstresor‛ bewundertet.“

Harst blinzelte mich vielsagend an.

„Diese Vorgeschichte, mein Alter, verspricht so allerlei, zumal Gerda Gerd, wie ich vermute, gleichfalls den ‚Kapitän‛ in Nahrung setzen will, das heißt Unterricht nehmen…“

Ich lachte herzhaft. „Das soll doch wohl nur ein Witz sein, Harald‥!“

„Nein, kein Witz. Das kann eine sehr, sehr ernste Sache werden‥!“

Er trank einen Schluck Kaffee. „Hast du von dem Prozeß zwischen dem Privatdozenten und Chemiker Doktor Arthur Malisson und den Gerd-Werken gelesen? Es geht dabei um eine Erfindung, die Millionen wert ist. Malisson hat sie fast gleichzeitig mit dem Gerd-Werken zum Patent angemeldet und behauptet, die Gerd-Werke hätten ihm die Grundidee der Erfindung gestohlen. Der Prozeß dauert bereits ein halbes Jahr, und der Ausgang für Doktor Malisson ist höchst zweifelhaft, außerdem werden die Anwalts- und Gerichtskosten sein ganzes Vermögen verschlingen.“

Mein Freund wühlte in einem Stoß der heutigen Abendzeitungen und zog ein Blatt hervor, das dafür bekannt war, Sensationsmeldungen in geschickter Aufmachung zu bringen. Er deutete auf einen Artikel auf der Innenseite und las vor:

„Der Dieb, der nie etwas stiehlt.

Seit einigen Wochen ist Berlin um ein Original von Dieb reicher geworden: um einen Einbrecher oder besser Eindringling, der nachts elegante Privatwohnungen besucht, jedoch nie das Geringste mitgehen heißt.

Im Verlauf der letzten Woche ist dieser seltsame nächtliche Gast fünfmal verscheucht oder beobachtet worden, es gelang jedoch niemals, ihn festzunehmen. Der Mann entwickelt eine erstaunliche Geschicklichkeit, sich seinen Verfolgern zu entziehen, und…“

Hier legte Harst die Zeitung weg. „Der Rest sind zumeist Redensarten… Von einem Geistesgestörten oder einem Witzbold faselt der Zeitungschreiber! Nun, wir wissen es besser, mein Alter:

Der Dieb, der nie etwas stiehlt – oder nicht zu stehlen scheint!“

„Eine kühne Schlußfolgerung!“ warf ich zweifelnd ein.

„Keineswegs. Der Verfasser des soeben von mir vorgelesenen Artikels macht seine oberflächlichen Kombinationen über die Person des ‚Witzboldes‛ dadurch wieder gut, daß er die Wohnungsinhaber anführt, die der ‚Dieb‛ zuletzt heimgesucht hat.“

Er griff abermals nach dem Blatt und nannte mir fünf Namen:

Generaldirektor Bechstern

Oberingenieur Kaupert

Direktor Dr. Fenzke

Syndikus Dr. Schmidthals

Justizrat Dr. Henning

Das wären die von dem rätselhaften Eindringling in den letzten zwei Wochen beehrten Wohnungsinhaber. Alle diese fünf Herren stehen in allerengster Beziehung zu den Gerd-Werken. Wahrscheinlich dürfte der ‚Dieb‛ bei seinen früheren, nicht bekannt gewordenen Streifzügen die anderen Mitglieder des Direktoriums der Gerd-Werke besucht haben. Mithin ist mein Argwohn gegen Doktor Malisson durchaus nicht aus der Luft gegriffen, im Gegenteil, – wenn man bedenkt, was alles für Malisson vom Ausgang dieses Prozesses abhängt, erscheint es verzeihlich, daß er das Beweismaterial für seine Behauptung, die Gerd-Werke hätten ihm das Patent gestohlen, auf jede nur mögliche Weise sich verschaffen will, zumal der Geheimrat Gerd dafür bekannt ist, daß er in geschäftlichen Dingen über Leichen geht und seine Vertrauten, eben die fünf oben genannten Herren und noch einige andere, so ziemlich vom gleichen Schlag sind und mit ihm blindlings durch dick und dünn gehen – was ihren Bankkonten nur zuträglich ist.“

Ich schwieg hierzu.

Wir kannten Arthur Malisson persönlich. Auch er war Mitglied des ‚Klub der Geprüften‛, ließ sich dort jedoch in letzter Zeit seltener sehen, was allgemein bedauert wurde. Zweifellos wollte er Gerda Gerd ausweichen, mit der er ohnedies im Laboratorium der technischen Hochschule – er als Privatdozent und Lehrer und sie als Studentin – oft genug zusammentraf, was freilich auf dem neutralen Boden des Hörsaales oder des Laboratoriums nicht viel zu bedeuten hatte.

So wie ich diesen ruhigen, sehr gemessen und sehr wortkargen, dabei aber vorbildlich höflichen Malisson als Mensch einschätzte und auch ehrlich schätzte, erschien es mir undenkbar, daß ein Mann von so sympathischem Wesen zu derartig anfechtbaren Methoden greifen sollte, seinem Prozeß eine günstige Wendung zu geben.

Harst beobachtete mich still. Er las mir meine begründeten Bedenken vom Gesicht ab, nickte mir mit ernsthafter Miene zu und erklärte sehr bestimmt:

„Malisson ist auch der geheimnisvolle Schüler des Kapitäns des Frachtdampfers ‚Spreenixe‛. Der alte Herr heißt übrigens Hugo Wattersen und gilt als Original, unternimmt nur selten Frachtfahrten mit seiner ‚Spreenixe‛ und läßt das Schiff dann durch den Steuermann Gulbert führen. Auch das alleinstehende, von einem Garten umgebene Haus in Altmoabit gehört ihm, er hat es als Arbeitslosenheim eingerichtet und tut auch sonst viel Gutes. – All dies war unschwer festzustellen. Ich wollte doch wissen, wer dieser ‚Kapitän‛ eigentlich sein mochte, der im Hauptberuf – es erscheint geradezu unglaubwürdig! – Leiter und Lehrer einer Ganovenschule ist. – Kehren wir zu Doktor Arthur Malisson zurück. Ich wiederhole: Malisson ist der Schüler des Kapitäns, den dieser durch mich ermitteln lassen wollte. Du wirst fragen, wie ich dies beweisen will. – Sehr einfach. Das erste Auftauchen des Diebes, der nie etwas stiehlt, fällt genau in die Zeit, als jener maskierte Schüler des Kapitäns auf der ‚Spreenixe‛ für zehn Tage oder besser vierzehn Nächte lang Unterricht erhalten hatte. Der Kapitän erzählte mir, daß der Fremde, der sich durch Drohungen Zutritt zu den Unterrichtskursen verschafft hatte, Wert darauf gelegt habe, zunächst einmal die Kunst des Eindringens in fremde Wohnungen zu erlernen. Außerdem hatte dieser ‚Schüler‛ vom alten Wattersen sehr bald allerfeinste Dietriche und sonstige Diebeswerkzeuge ‚erworben‛, unter denen sich auch ein Instrument zum Öffnen von Fensternriegeln befand, das der Kapitän mir genau beschrieb. Es ist englischer Herkunft, äußerst selten und sehr teuer. Tatsache ist nun, und dies erwähnte eine Morgenzeitunge von vor drei Tagen, daß der ‚Dieb‛ bei Justizrat Doktor Henninger ein solches Instrument bei seinem eiligen Rückzug im Fensterrahmen stecken ließ. Mithin haben wir hier das verbindende Glied zwischen dem ‚Dieb‛ und dem Schüler Wattersens gefunden, und diese Verbindung ist für mich sehr wichtig, so einwandfrei, daß ich vorschlagen möchte, noch in dieser Nacht die Probe aufs Exempel zu machen. Geheimrat Gerd gibt heute einen seiner berühmten Herrenabende, die immer erst um Mitternacht beginnen und nie vor dem Morgengrauen ein Ende finden. Er als Witwer kann es sich leisten, seine Getreuen durch die Anwesenheit einiger mehr berüchtigter als berühmter Künstlerinnen zu erfreuen, und diese ‚Herrenabende‛ sind wohl mit der Hauptgrund dafür, daß Gerda Gerd seit einem Jahr nicht in Geldpalais selbst, sondern weit hinten im Park dicht am Seeufer im sogenannten Blockhaus wohnt. – Für einen kühnen Eindringling gibt es nun kaum eine bessere Gelegenheit, des Geheimrats Privaträume zu durchsuchen, als einen solchen Herrenabend. Beeilen wir uns also… Jetzt im Juni wird es sehr früh hell, und trotzdem ist die Zeit nicht ungünstig gewählt, da das seit Stunden drohende Gewitter nun heraufzieht und wir mit starkem Regen rechnen dürfen.“

Fünf Minuten später brachte uns eine Taxe nach dem Villenvorort hinaus, wo Geheimrat Gerds Besitztum den größten Teil des Uferstreifens des idyllischen Waldsees für sich beanspruchte.

Von unserem Freund Volker war nichts mehr zu bemerken. Er hatte für heute das zwecklose Spiel, sich an unsere Fersen helfen zu wollen, aufgegeben.

 

 

4. Kapitel

Der Fremde.

Ein Blitz fuhr knatternd hernieder und schlug in die höchste der Pyramidenpappeln des Gerd-Parkes ein, tauchte die Umgebung weithin in flüchtige Helle und wurde von einem Dröhnen in den tief hängenden Wolkenmassen begleitet, das alle Scheiben des Gerd-Palastes klirren ließ.

Der elektrischen Entladung folgte ein ebenso urplötzlicher Regenguß, und die dunkle Gestalt, die sich nun von einem der Balkons des ersten Stockwerks durch die mühsam geöffneten Türen ins Zimmer schlich, triefte von der Schlappmütze bis hinab zu den Schuhen mit Gummisohlen so anhaltend, daß sie auf dem Parkett des eleganten Raumes eine deutliche Spur von Wassertropfen zurückließ.

Kaum war dieser Eindringling durch die türkischen Türvorhänge hindurch im Nebengemach verschwunden, als an den Stäben des Spaliers nacheinander zwei andere Gestalten emporkletterten und sich auf denselben Balkon schwangen.

Inzwischen hatte der erste Eindringling das Arbeitszimmer des Geheimrats, das durch eine Eichentür mit Patentschlössern gesichert war, erreicht und arbeitete beim Schein einer Blendlaterne mit einem sehr ungenügenden Werkzeug an den komplizierten Schlössern herum, wobei dieses Werkzeug zerbrach und ein Stückchen davon auf den Teppich fiel.

Trotzdem ging die gut gesicherte Tür, die überdies noch eine Alarmvorrichtung hatte, nach wenigen Minuten auf. Der regentriefende nächtliche Gast hatte die Drähte der Alarmvorrichtung, die sehr zweckmäßig und fast unauffindbar montiert waren, sachgemäß zerschnitten.

Das Arbeitszimmer des Geheimrats bestand aus zwei Räumen, aus dem eigentlichen, mit großem Diplomatenschreibtisch versehenen zweifenstrigen Hauptgemach und einer schmalen, langen Bibliothek, die nur Bücherregale und einen in die Wand eingemauerten Tresor neuester Konstruktion enthielt.

Nur ein echter Perser von dunklen Farben war an einer Messingstange als Türvorhang zwischen den beiden Räumen angebracht.

Der seltsame Dieb betrat ohne Zögern die Bibliothek und ließ den Lichtkegel seiner Taschenlampe auf eins der Bücherregale an der linken Wand fallen, als ob er genau wüßte, daß dieses Regal irgendetwas enthielte, worauf er es besonders abgesehen hatte.

Plötzlich prallte der Eindringling jedoch mit einem leisen Aufschrei tiefsten Schreckens zurück.

Vor dem eichenen, bis zur Decke reichenden Büchergestell lag ein Mann in dürftiger Kleidung und in unheimlicher, unnatürlicher Haltung regungslos auf dem dunkelroten Afghan, und der Rucksack neben ihm und einige bereits ausgepackte Werkzeuge ließen keinen Zweifel darüber aufkommen, daß der Bewußtlose oder sogar Tote – zumal das eine Fenster nur angelehnt war und der eiserne Rolladen davor ein großes Loch aufwies – ein zünftiger Einbrecher sein mußte.

So hatten sich denn in dieser Gewitternacht im ersten Stockwerk des Gerdpalais, denn die Bezeichnung Villa wäre für den Prachtbau zu bescheiden gewesen, fast gleichzeitig vier Personen eingefunden, während im Erdgeschoß der Herrenabend bei Sekt, Likören, Musik und in Gegenwart einiger williger Damen, die nicht Damen waren, ausgelassen und in recht lärmender Form seinen Fortgang nahm.

Daß wir die beiden letzten Eindringlinge waren und vorher die Kletterkünste unseres Vorläufers beobachtet hatten, will ich nur nebenbei erwähnen.

Wichtiger an sich war die zunächst unbedeutend erscheinende Tatsache, daß Harst, bevor wir Zeugen des jähen Zurückprallens wurden, das abgebrochene Stückchen des Werkzeuges, das der Einbrecher übersehen, zu sich gesteckt hatte.

Wir konnten dann kaum schnell genug hinter dem großen Schreibtisch uns verbergen, da der regennasse Dieb nunmehr in wilder Flucht und offensichtlich vollkommen verstört den Rückweg antrat.

Kaum war er hinter der Eisentür, die er weit offen ließ, entschwunden, als Harst in die Bibliothek schlüpfte und mir zuraunte, ihm zu helfen, die regungslose Gestalt ins Freie zu schaffen.

Der Mann, den wir nun mit vereinten Kräften und mit Hilfe einer Strickleiter in den Park hinabschafften, machte auf mich durchaus den Eindruck eines echten Unterweltlers, und das schmierige Gesicht, der ungepflegte Schnurrbart und eine häßliche Knollennase sowie ein Geruch nach schlechtem Schnaps zwangen mich förmlich zu der Frage, weshalb mein Freund um den Fremden sich derart bemühte, denn Doktor Malisson war es auf keinen Fall. Malisson war schmächtiger und größer.

Harst, der aufmerksam in den plätschernden Regen hinaushorchte, erwiderte kurz, die Beweggründe unseres Tuns würde ich später begreifen.

Wir standen unterhalb des Balkons auf der Marmorterrasse, und der Fremde lag zwischen uns, halb an die Mauer gelehnt. Mein Freund beeilte sich, auch noch den Rucksack, die Werkzeuge und die erloschene Laterne des Bewußtlosen zu holen und nahm dann den Mann auf die Schulter und tappte mir voraus dem Seeufer zu, wo ein kleines Boot uns erwartete, das wir vom Steg der gegenüberliegenden Villa entliehen hatten.

Der Morgen graute bereits, aber der Regen fiel so dicht, daß wir auch die Rüden des Geheimrats nicht zu fürchten brauchten. Bei diesem Unwetter hatten die Wolfshunde es vorgezogen, irgendwo ein trockenes Plätzchen zu finden.

Harst hatte den Mann auf den Boden das Boot gelegt und wollte gerade nach den Rudern greifen, als ein neuer Blitz herniederfuhr und uns wie in mattem Magnesiumslicht nicht nur den Waldsee und die Villen und die weißgestrichenen Bootsstege, sondern auch mehrere Leute zeigte, die vom Gerdpalais her mit den angekoppelten Rüden laternenschwenkend über die weitere Rasenfläche auf uns zueilten.

Wir sahen noch mehr.

Der bisher bewußtlose Mann hatte sich mit einem Ruck aufrecht gesetzt und stieß einen kurzen Ruf aus, der aber von dem Nachhallen des Donners übertönt wurde.

Die sekundenlange Leuchtkraft des Blitzes erlosch ebenso jäh, die Regenfinsternis wurde umso dichter, und als eine neue Zickzacklinie über das schwarze Gewölk hinweg ihren Weg zur Erde nahm, war der Platz, wo der Fremde zwischen uns gelegen hatte, leer.

Der Mann war über Bord gerollt und entflohen.

Harst stieß das Boot vom Ufer ab, das Gebell der Rüden näherte sich, und mit kraftvollen Schlägen trieb mein Freund das leichte Fahrzeug im Bogen auf das Blockhaus zu, in dem Gerda Gerd offenbar noch immer arbeitend am Schreibtisch saß.

Wir landeten, Harst versetzte dem Boot einen starken Stoß, und dann pochte er an den hölzernen Fensterladen, durch dessen herzförmige Luftlöcher oben Licht hindurchschimmerte.

Er zog mich um das Haus zur Vordertür, und Gerda Gerd, bekleidet mit einem schwarzseidenen, silberbestickten Kimono und mit roten Saffianschuhchen an den Füßen, ließ uns ein.

Als sie Harst erkannte, war sie sekundenlang völlig stumm verharrt.

„Verbergen Sie uns,“ sagte mein Freund nachdrücklich. „Die Dienerschaft Ihres Vaters und die Hunde sind hinter uns her… Es liegt nur in Ihrem Interesse, Fräulein Gerd, daß wir nicht entdeckt werden, glauben Sie mir.“

Er hatte die Haustür wieder zugedrückt, verriegelt und deutete auf die halb offene Tür des Arbeitszimmers.

„Ich habe mit Ihnen mancherlei zu besprechen. Es dürfte sich empfehlen, alle Vorbereitungen zu treffen, unsere Anwesenheit hier zu verheimlichen. Führen Sie uns in Ihr Schlafzimmer und säubern Sie hier in der Diele den Fußboden von den Regenspuren unserer triefenden Mäntel.“

Gerda Gerd, deren Gesichtszüge bei dem gedämpften Licht der Dielenampel nur unklar zu erkennen waren, schritt uns schweigend voran. Aus ihrem Arbeitszimmer mündete eine Tür in ein großes, einfach eingerichtetes Schlafgemach, wo wir auf einen Diwan im Dunkeln Platz nahmen.

Das junge Mädchen hatte uns dieses Versteck angewiesen, ohne auch nur eine Silbe über unser Erscheinen und über unser immerhin recht ungewöhnliches Anliegen zu äußern.

Gerda Gerd war mir schon immer ein hübsches kluges, wandelndes Rätsel gewesen. Heute verstand ich sie erst recht nicht, ihr Benehmen erweckte den Eindruck, als ob unser Auftauchen sie innerlich und äußerlich zu einer willenlosen Marionette umgeformt hätte.

„Vergessen Sie die Regenspuren nicht,“ hatte Harst hier leise nach gerufen, als sie uns mit dem Rucksack des Fremden allein ließ.

 

 

5. Kapitel

Gerda Gerds Schweigen.

Meines Freundes rascher Entschluß, Gerda Gerds Hilfe in Anspruch zu nehmen, war, wie er mir nun mitteilte, hauptsächlich der Überlegung entsprungen, daß der Geheimrat, der irgendwie von dem Einbruch in seinen gut gesicherten Arbeitsraum erfahren haben mußte, wahrscheinlich auch das Überfallkommando alarmiert haben dürfte und daß die umliegenden Straßen abgesperrt worden wären, bevor wir uns hätten in Sicherheit bringen können.

„Außerdem,“ fügte er hinzu, während draußen noch immer der Donner grollte und einzelne Blickschläge vernehmbar wurden, „geht es hier um Doktor Malissons Person, die Gerda Gerd keineswegs gleichgültig ist – aus verschiedenen Gründen, unter denen zwei bedeutungsvoll sind: Liebe und … Furcht! – Ich weiß nicht, mein Alter…“ – er sprach noch gedämpfter als bisher – „ob dir nicht im Klub aufgefallen ist, daß das junge Mädchen beide Male, als sie mit Malisson in unserer Gegenwart dort zusammentraf, sehr bald sich entfernte. Ich bin nun ein leidlich scharfer Beobachter auch für Vorgänge, die außerhalb unserer Tätigkeit liegen. Es gibt stets gewisse Anzeichen dafür, ob ein Mädchen sich aus Antipathie von einem Mann fernhält oder ob sie dies nur tut, um ihre Sympathie und noch wärmere Gefühle, die hier leider zweifellos mit gewissen Befürchtungen verquickt sind, zu verbergen. – Gerda Gerd verdient unser Mitleid. Der unselige Prozeß um das Patent wird auch ihr Lebensglück zerstören, das ihr bereits greifbar nahe die Zukunft zu verschönern versprach.“

Wir saßen im Dunkeln, und vielleicht machten Harsts von warmem Gefühl durchpulste Worte gerade deshalb einen so starken Eindruck auf mich.

„Der fliehende Einbrecher war Malisson,“ sagte ich nur, da mir im Augenblick nichts Gescheiteres einfiel…

Eine Antwort oder Bestätigung blieb aus, denn wir vernahmen nun in Nebenzimmer laute, lärmende Stimmen, die jedoch urplötzlich abbrachen.

Es war Gerda Gerd, die jetzt sehr brüsken Tones ihrem Vater und dessen Gästen zurief:

„Es genügt wohl, Papa, wenn ich nochmals das wiederhole, was ich dir durch das Haustelephon vorhin mitteilte. Ich sah zufällig beim Schein eines Blitzes vor dem Beginn des Regens einen Mann am Spalier der Villa emporklettern und hielt es für meine Pflicht, dich zu benachrichtigen. Mehr weiß ich nicht. – Gute Nacht, – – ich bin müde…“

Hierauf wurde es nebenan vollkommen still, eine Tür fiel ins Schloß, und dann eine zweite, entferntere.

Minuten verstrichen noch. Wir horchten angespannt. Die Hunde bellten wieder, und ihre tiefen Kehllaute verloren sich gleichfalls im eintönigen Geräusch des niederprasselnden Regens und im Dröhnen des abziehenden Gewitters.

Dann ging die Tür des Arbeitszimmers auf, milde Helle einer halb abgedämpften Schreibtischlampe überflutete uns, und das Mädchen im Kimono machte eine einladende Handbewegung. Ihr Gesicht war farblos, und der herbe Zug um den feingeschnittenen Mund trat noch deutlicher hervor. Harst ergriff den Rucksack des Fremden, und Gerda Gerd rückte um ein zierlich gedecktes Ecktischchen die Sessel zurecht, ohne den blonden Kopf zu heben. Ihre Haltung war müde, gleichgültig, verzagt – wie schuldbewußt.

Wir nahmen Platz, sie schenkte Tee ein, schob uns Zigarren, Zigaretten und eine Schale Biskuits hin und setzte sich dann mit dem Rücken nach dem Licht in einen altertümlichen Armstuhl, offensichtlich Altnürnberger Arbeit. –

Eine gewisse Stimmungsmalerei gehört auch zu einer Detektivgeschichte. Sie darf nur nicht übertrieben werden und müßte sich von selbst aus der Art der Darstellung ergeben.

Während draußen der neue Tag heraufzog, während draußen das Gewitter abflaute und der Regen nachließ und die ersten Sänger der Vogelwelt sich meldeten, war hier in diesem ernster Arbeit gewidmeten Gemach eines sehr reichen, sehr klugen und sehr beherrschten jungen Mädchens die Atmosphäre mit seelischer Spannungen überladen.

Gerda Gerd hatte nur gesagt: „Bitte, greifen Sie zu, meine Herren…“ und war dann wieder ihrer alten Taktik des Abwartens gefolgt, die unter den gegebenen Umständen nur als übergroße Vorsicht angesehen werden konnte.

Wer allzu vorsichtig ist, hat etwas zu verbergen.

Harst trank einen Schluck, entzündete eine Zigarette und strich sich mit der Linken leicht über die Stirn, als wollte er unangenehme Gedanken wegwischen. Urplötzlich begann er dann, und seine Sätze konnten trotz des leisen Tones als Angriff gewertet werden:

„Auch wir sahen den Bewußtlosen in der Bibliothek Ihres Vaters, wir schafften ihn fort und er entfloh uns.“

„Auch wir!!“ – Darauf kam es an.

Gerda Gerd schaute jetzt auf und musterte meinen Freund wie abschätzend.

„Welchen Bewußtlosen?“ fragte sie, etwas spät die Erstaunte spielend.

Harst lehnte sich ein wenig über den Tisch.

„Fräulein Gerd,“ bat er warm und eindringlich, „wir wollen ehrlich sein – jeder! Sie waren der zweite Einbrecher, der beim Anblick des Bewußtlosen flüchtete. Sie verloren die Nerven. Vorher verloren Sie etwas anderes.“

Er wollte offenbar die Situation schnellstens klären. Ohne jede Theatralik hielt er Gerda die Spitze einer Nagelfeile hin. Das abgebrochene Stück war kaum so lang wie ein Fingerglied.

„Wir haben Sie, wie gesagt, beobachtet, Fräulein Gerd… Wir sahen Ihr Bemühen, an der eisernen Tür zu Ihres Vaters Arbeitszimmer starke Kratzer an den Schlössern zurückzulassen. Sie wollten den Anschein erwecken, als wäre mit Nachschlüsseln gearbeitet worden. Die Nagelfeile brach ab. Sie fanden das abgebrochene Stück nicht, – ich fand es. Und ich sah auch Ihre Hände. Sie haben sehr schöne Hände, nur zu klein und zu schmal für einen Mann. Sie besaßen die richtigen Duplikatschlüssel zu den Kunstschlössern der Tür, und Sie wußten auch genau, wo die Drähte der Alarmvorrichtung montiert waren und welche Drähte Sie zerschneiden mußten, ohne einen Kontakt herzustellen. Nachher flüchteten Sie, und hier wieder angelangt, zogen Sie Ihrer geschickten Verkleidung – geschickt für eine Anfängerin! – aus und riefen Ihren Vater telephonisch an. Sie hätten dies nicht getan, wenn Sie überzeugt gewesen wären, der bewußtlose Eindringling seit Doktor Malisson. – Wäre es Malisson gewesen, hätten Sie anders gehandelt, hätten Sie Malisson erkannt, würde Ihr Mitgefühl Ihren ersten Schreck besiegt haben, und Sie hätten Malisson ins Leben zurückzurufen gesucht. Da es ein Fremder war, nahmen Sie keine Rücksicht. – Ist dem so?“

„Ja,“ sagte sie leise und gequält und starrte vor sich hin, als ob sie immer noch hilflose Marionette in einem gefährlichen Spiel wäre.

„Fräulein Gerd,“ fuhr Harst noch wärmer fort, „Sie ahnen eben, daß Malisson der Dieb ist, der nie etwas stiehlt, daß Malisson nach Beweismaterial gegen die Gerd-Werke sucht und daß die Gerd-Werke ihm um den Lohn mühsamer Forschungen zu … betrügen suchen.“

Das Mädchen uns gegenüber richtete sich plötzlich straffer auf. Ein harter, fast feindseliger Blick traf Harst, und in gänzlich verändertem Ton sagte sie mit scheinbarer Empörung:

„Wollen Sie andeuten, daß mein Vater sich zu Unredlichkeiten hingibt, Herr Harst?!“

„Ich habe Ihnen nur meine Schlußfolgerungen mitgeteilt. Sie mögen falsch sein. Ich glaube aber kaum, daß ein Mann wie Doktor Malisson als Einbrecher die Wohnungen gerade des intimsten Freundeskreises Ihres Vaters heimsucht, wenn er dies nicht vor seinem Gewissen verantworten könnte. Er kann ist. Wahrscheinlich wird er auch bereits den Versuch gemacht haben, bei Ihrem Vater einzudringen, und meiner Überzeugung nach wissen Sie davon und waren Zeugin seiner Flucht, bei der Sie ihn erkannten. Heute im Klub, liebes Fräulein Gerd – ich spreche als wohlmeinender Freund – brachten Sie bewußt das Gespräch auf Ganovenschulen. Ich traue Ihnen sehr wohl die geistige Rührigkeit und die Phantasie zu, sich auszumalen, Malisson könnte bei dem ‚Kapitän‛ Unterricht genommen haben.“

Gerda Gerd wollte den mitfühlenden, freundschaftlichen Ton überhören. Ihre Züge waren noch steinerner und eisiger geworden.

„Das Gebiet derartig weitgehender Schlußfolgerungen liegt mir so fern, daß ich Ihren Ausführungen wirklich nicht zu folgen vermag, Herr Harst,“ meinte sie äußerst ablehnend und förmlich. „Ich denke, wir beenden dieses Thema… Sie haben meinen Vater verdächtigt, und Sie können es mir nicht verargen, daß ich diese Taktlosigkeit dadurch zurückweise, daß ich Sie beide bitte, mich fernerhin mit diesen Dingen auf keinen Fall zu behelligen.“

„Wie unlogisch doch selbst die klügsten Frauen handeln können!“ erwiderte Harst nachsichtig. „Liebes Fräulein Gerd, – weshalb drangen Sie denn bei Ihrem Vater ein?! Was wollten Sie dort suchen?! Sie verkleideten sich, Sie wählen diese günstige Nacht, und…“

Gerda Gerd hatte sich vorgebeugt.

„Herr Harst‥!!“

Sie war noch bleicher geworden.

„Herr Harst, wenn Sie der Mann sind, der als guter Deutscher, als ein Mann von verständnisvollem Mitgefühl gerühmt wird, schonen Sie mich… Lassen Sie mich diesen bitteren Kampf allein ausfechten‥!“

Ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, und das verzweifelte, schmerzliche Zucken ihres Mundes veranlaßte meinen Freund, sich schnell zu erheben und um den Tisch herumzugehen und dem Mädchen die Hand leicht auf die Schulter zu legen.

„Weshalb – – weshalb betonten Sie soeben mein eindeutiges Deutschtum?!“ meinte er merklich nachdenklich und grüblerisch. „Sollten etwa gewisse Dinge noch ärger liegen, als ich dies bisher vermutete?! Haben Sie doch Vertrauen zu mir, Sie werden mit dieser Sache niemals allein fertig werden…“

Das Mädchen lehnte sich wieder zurück, ließ den Kopf ganz tief sinken und flüsterte noch gequälter:

„Ich kann nicht – ich darf nicht!! Herr Harst, schonen Sie mich‥!“

Und dann mit einem jähen, erneuten Aufflackern einer Energie, die noch mitleiderregender wirkte: „Jedenfalls tun Sie meinem Vater bitter Unrecht! Er würde nie…“

Harst war an seinen Platz zurückgekehrt.

Das Mädchen vollendete den begonnenen Satz nicht. Ein scheuer Blick traf unter den langen dunklen Wimpern hervor meinen Freund.

„Vielleicht sehen Sie sich draußen einmal um, ob wir ungehindert den Park verlassen können,“ bat Harald etwas zurückhaltender. „Wir möchten Ihnen nicht länger zur Last fallen, Fräulein Gerd… Wenn aber jemals eine Stunde kommt, in der Sie nicht aus noch ein wissen, denn bemühen Sie sich zu uns, – – ich werde tun, was ich kann, und die Stunde wird kommen, fürchte ich…“

 

 

6. Kapitel

Der Mann ohne Rucksack.

Wir schliefen daheim bis Mittag. Während der Rückfahrt in einer Autotaxe hatte Harst nur zwei Äußerungen getan, die von Wichtigkeit waren, im übrigen jedoch eine Erörterung des Falles ‚Malisson‛ abgelehnt.

Die erste Äußerung bezog sich auf den Bewußtlosen.

„Der Mann ist durch einen elektrischen Schlag betäubt worden, als er sich an dem Bücherregal zu schaffen machte. Wer er ist, wird vielleicht sein Rucksack verraten.“

Und die zweite:

„Mir gefällt es gar nicht, daß Gerda Gerd die Bemerkung entschlüpfte, ich sei ein guter Deutscher. Was sollte das in dem Zusammenhang?! Es gäbe wohl eine Erklärung dafür, aber die würde die Angelegenheit nur noch verschlimmern.“

Hiermit mußte ich mich vorläufig abfinden. Jetzt nach dem Mittagessen nahm mein Freund den bis dahin sorgsam verschlossen gehaltenen Rucksack vor und breitete den Inhalt auf dem Sofatisch aus, wobei er die Metallteile der Werkzeuge nur mit Gummihandschuhen berührte, um nicht etwa Fingerabdrücke zu verwischen.

Außer tadellos modernem Einbrecherwerkzeug und der Karbidlaternen kamen so noch folgende Gegenstände zum Vorschein:

1. Ein Sportanzug, dazu ein leichter Gummimantel,

2. eine Brieftasche, ganz neu, Inhalt zehn englische Pfund und achthundert Mark in deutschen Scheinen, ferner eine genaue Skizze der Villa des Geheimrates und eine zweite von dessen Arbeitszimmer und Bibliothek,

3. ein Paß auf den Namen Albert Mac Ferson, London, Handlungsreisender. Das deutsche Visum lag eine Woche zurück.

Harst, der mit der Zigarette im Mundwinkel diese Sachen minutenlang musterte, sagte nur kopfschüttelnd:

„Armes England, man bringt dich zu plump in Verdacht!“

Er deutete auf die Kleidungsstücke. „Alles französischer Herkunft… Herr Mac Ferson hätte besser in Deutschland einkaufen sollen… Bitte!“

Er klappte den Rand der einen Innentasche der Jacke des Sportanzuges nach oben, und ich sah ein französisches Firmenzeichen. Auch die fast neuen Sportschnürstiefel trugen eine Pariser Fabrikmarke. Sogar die wollenen, bunten Sportstrümpfe zeigten eine gleiche eingewebte Marke.

„Hm‥!!“ machte Harst, als er dies entdeckt hatte. „Abermals Frankreich, – – wer die Wahl hat, hat die Qual.“

„Du meinst?“ fragte ich aufhorchend.

„Ich meine jetzt, daß der Bewußtlose weder Engländer noch Franzose war… Überlege dir einmal: wird ein Einbrecher seinen Paß und Geld und die Kleider in einen Rucksack stecken, den er vielleicht, falls er überrascht wird, zurücklassen muß?! – Wohl kaum! All das ist Bluff. Die wahre Nationalität sollen nur verschleiert werden.“

Mir leuchtete dies durchaus ein.

Harst tat die Sachen in unseren Tresor und behielt nur die beiden Zeichnungen zurück, die er sorgfältig studierte.

Inzwischen waren die Mittagsblätter, auf die wir abonniert sind, weil wir eben alles lesen müssen, bei uns abgegeben worden, und ich machte mich an die gewohnte Arbeit, herauszusuchen und auszuschneiden.

Der Wert derartiger Sammelmappen, die systematisch geordnet sind, ist unschätzbar. Auf diese Weise kann man auch nach Jahren ein Verbrechen in kürzester Zeit sich mit allen Einzelheiten ins Gedächtnis zurückrufen.

Bei der Durchsicht der druckfrischen Zeitungen stieß ich sofort auf eine Notiz, die meine Aufmerksamkeit erregen mußte, weil der Ausgangspunkt der Tragödie in nächster Nähe der Besitzung des Geheimrats Gerd in einen westlichen Villenvorort Berlins lag.

Geheimnisvoller Mord. Heute früh gegen halb sechs erschien der Taxenbesitzer W. mit seinem Wagen auf dem Hof des Polizeipräsidiums. In dem Auto lehnte ein Toter, der durch einen Strick und einen Haken mit scharfer Spitze in sitzender Haltung festgebunden worden war.

W. gab folgendes an: Um elf Uhr abends habe ihn ein Herr unweit des Alexanderplatzes für eine längere Fahrt gemietet und sofort fünfzig Mark angezahlt. Der Herr sei groß, elegant angezogen und zweifellos ein Ausländer gewesen, habe ein tief gebräuntes Gesicht, einen schwarzen Spitzbart, hagere Züge und eine sehr rote, schmale Nase gehabt, dazu kleine Augen und eine Narbe unter dem linken, die dick geschwollen und vielleicht fünf Zentimeter lang gewesen sei. Der Herr hatte ihm befohlen, zunächst nach dem Restaurant ‚Hundekehle‛ an der Grenze des Grunewaldes zu fahren.

Dort war ein zweiter Mann mit einem Rucksack zugestiegen. Nunmehr mußte der Taxenbesitzer den Weg nach dem Waldsee nehmen, wo beide Männer auf einer unbebauten Straße ausstiegen. Er selbst sollte warten, und nachher nochmals fünfzig Mark erhalten, da die Abwesenheit der beiden Stunden dauern könnte, wie der mit dem Spitzbart betonte.

Morgens gegen vier – der Taxenbesitzer war am Steuer eingeschlafen – rüttelte ihn der Herr wach und befahl ihm, nach Berlin, Station Zoologischer Garten, zurückzukehren.

Der zweite Mann saß bereits im Wagen. Der andere stieg nachher am Zoologischen Garten aus, gab dem Taxenbesitzer die versprochenen weiteren fünfzig Mark und wies ihn an, den in seiner Ecke trotz des schweren Gewitters scheinbar fest schlafenden zweiten Fahrgast nach der Alexanderstraße 16 zu bringen.

Als die Taxe hier angelangt war, merkte der Besitzer, daß der zweite Mann, dessen Rucksack jetzt fehlte, in der Wagenecke nur festgebunden und offenbar tot war…

Soweit hatte ich mit wachsender Spannung gelesen, den Rest überflog ich nur.

Ich glaubte, der Einbruch im Gerdpalais würde in diesem Zusammenhang irgendwie erwähnt sein. Es war nicht der Fall.

„Harald!!“

Mein Freund drehte sich am Schreibtisch um. Ich hielt ihm die Zeitung hin.

„Der Bewußtlose ist tot, ermordet durch einen Messerstich… Da, lies!!“

Harsts Gesichtsausdruck veränderte sich kaum.

„Arme Gerda!“ sagte er nur.

Ich war unangenehm überrascht.

„Wie kannst du Gerda Gerd mit diesem Mord in Verbindung bringen‥?!“

„Jetzt kann ich es – jetzt – – leider!!“

Er nahm die Zeitung und überlas die wichtige Notiz. Dann nickte er leicht.

„Wollen abwarten, wie Gerd sich dazu stellt… Kriminaldirektor Hans Volker hat den Fall persönlich übernommen. Hans Dampf in allen Gassen‥! Wir kennen das: Ehrgeiz, gute Beziehungen nach oben hin, – wenn es nicht Volker wäre, würde ich demjenigen einen Wink geben… Aber es ist unser Freund Volker. Mag er zusehen, wie er damit fertig wird.“

„Wir werden Scherereien bekommen!“ warnte ich nachdrücklich. „Gerda Gerd wird…“

„Gerda?!“

Er lachte bitter.

„Das arme Mädel wird nun noch stärkere Angst empfinden, daß die Wahrheit an den Tag kommen könnte.“

Er begann auf und ab zu gehen. Die eigenen Gedanken trieben ihn hin und her. „Gerda sprach von meiner deutschen Gesinnung und meinte damit meinen Widerwillen gegen die Überwucherung unseres gesamten Kulturlebens durch fremde, zersetzende Einflüsse. Ihr Vater ist Kosmopolit. Wer sich darauf etwas einbildet, und viele tun es heute, ist nicht mehr Deutscher.“

Er blieb vor mir stehen und sagte: „Ich möchte dir nicht raten, diese meine Äußerungen, falls du einmal den ‚Fall Malisson‛ zu Papier bringst, mit zu erwähnen. Deine Widersacher würden wie ein Hornissenschwarm über dich herfallen… Andererseits läßt sich der Fall ‚Malisson‛ ohne jene Hinweise auf die Zersetzung der allgemeinen Moral gar nicht psychologisch erklären. Leg das Manuskript dann also beiseite, bis anstelle der ewigen Silberstreifen am Horizont, Auslandspump genannt, etwas Besseres, Gesünderes aufdämmert.“

Er nahm seinen Spaziergang wieder auf und lächelte trübe.

„Es ist eine unwürdige Lage, in der wir beide uns befinden,“ fügte er hinzu. „Wir könnten mit einem Schwertstreich dies Gefüge von Trug, Lüge und Raffsucht zerstören. Aber – was würde werden, wenn ich Volker unsere Erlebnisse mitteilte?! Volker wurde zuerst seine hohen Gönner benachrichtigen, und dann würde alles sehr schnell verschleiert, verwischt, verdunkelt werden. – Letztens hat sich da ein hoher Justizbeamter erschossen, weil er dieses verbrecherische Treiben, das Verwaltungsbehörden den Gerichten in den Arm fallen, nicht mehr mitmachen wollte. Wer weiß, wie man uns zum Schweigen brächte… Ich bin nicht feige, aber ich bin Diplomat. Ich werde eingreifen, sobald ich den richtigen Zeitpunkt für gekommen halte. Hier muß man eben mit Mitteln arbeiten, die denen zumindest ähnlich sind, durch deren Anwendung wir mundtot gemacht werden könnten. Inzwischen werden wir den Mann mit der Narbe suchen, der natürlich weder eine echte Narbe, einen schwarzen Spitzbart noch eine rote Nase besitzt.“

„Und wie gedenkst du das Kunststück fertig zu bringen, ihn zu finden?!“ meinte ich zweifelnd.

Er blickte mich scharf an.

„Vielleicht habe ich ihn schon gefunden… Man kann auch nur mit dem Gehirn suchen. Seit mich das Problem ‚Malisson‛ beschäftigt, denn es ist wirklich ein Problem in seiner Art, habe ich mich über die Beziehungen der Gerd-Werke zum Ausland glänzend informiert.“

Er ging zum Schreibtisch und zog aus einem Stoß Zeitungen ein besonders gefaltetes Blatt hervor.

„Abgestiegen sind:

Hotel Splendide:

Generaldirektor Jean Lottinelle, Brüssel.“

las er vor.

„Wie wäre es, wenn wir dem Mörder des angeblichen Engländers Mac Ferson einmal unsere Aufwartung machten, mein Alter,“ fügte er unmittelbar hinzu und warf die Zeitung auf den Tisch zurück. „Um fünf Uhr ist wie stets im Wintergarten des ‚Splendide‛ großer Tee… Man trifft dort ‚die‛ Gesellschaft, wie du weißt, – die oberen Zehntausend… Herr Jean Lottinelle dürfte sich freuen, unserer Bekanntschaft zu entgehen, aber er wird ihr nicht gut ausweichen können…“

Er hatte seinen Gang durch das Zimmer abermals aufgenommen, griff die beiden Skizzen vom Gerdpalais und von des Geheimrats Arbeitszimmer vom Schreibtisch, verließ wortlos den behaglichen Raum und begab sich in unser kleines Laboratorium. Ich konnte mir unschwer zusammenreimen, was er dort zu tun beabsichtigte. Fingerabdrücke waren nicht die einzigen Spuren, die ein Gesetzesbrecher auf einem Papier zurücklassen konnte. Schon so mancher, der sich auf seine Gummihandschuhe verlassen hatte, mußte nachher erfahren, daß eine andere Unvorsichtigkeit ihn ans Messer geliefert hatte. –

 

 

7. Kapitel

Jean Lottinelle.

Gerda Gerd pflegte stets allein an den bekannten Sammelpunkten der großen Welt zu erscheinen, – daß sie sich in Begleitung ihres Vaters befand, gehörte der Vergangenheit an. Im übrigen ließ sie sich auch sehr selten an den Plätzen sehen, wo Reichtum – Würdenträger und Glücksritter eindeutigster Art sich ein Stelldichein gaben. Ihrer etwas schwerblütigen Veranlagung und ihrer jeder Oberflächlichkeit feindseligen Charaktereinstellung konnten diese Zusammenkünfte von Eitelkeit, Glänzenwollen und Zurschaustellung neuester Toiletten nichts, aber auch gar nichts bieten. Immerhin war der Name Gerd so bekannt, daß sie sofort überall Anschluß fand, zumal die Herrenwelt ihrer pikanten Schönheit und ihren Millionen nur zu gern überschwängliche Huldigungen darbrachte.

Als sie im Wintergarten des ‚Splendide‛ auftauchte, gewahrte sie zu ihrer heimlichen Befriedigung ihren Vater an einem abseits stehenden Tischchen in Gesellschaft eines überschlanken Herrn, dessen Gesichtszüge ein hohes Maß von Selbstbewußtsein und kaltherzigem Herrenmenschentum verrieten. Das glatt zurückgestrichene schwarze Haar, die eckige Stirn, die starken dunklen Augenbrauen und die dünnen Lippen wirkten als Ganzes gesehen nicht unsympathisch. Zergliederte man jedoch dieses bartlose Antlitz, so stieß man auf Merkmale, die zur Vorsicht mahnten. Hinter der verbindlich lächelnden Maske des Weltmannes und hinter dem schillernden Monokel grinste dann die schamlose Brutalität eines Gewaltmenschen hindurch.

Gerda begrüßte ihren Vater und dessen Geschäftsfreund mit einer wohlabgewogenen Liebenswürdigkeit, obwohl ihr nichts verhaßter war als Heuchelei.

Und hier mußte sie heucheln. Sie war mit einem klar umrissenen Plan hierhergekommen, und nur von ihrer Geschicklichkeit würde es abhängen, ob sie sich die Gewissheit verschaffen könnte, die ihr ferneres Tun ausschließlich bestimmen mußte.

Sie nahm ungezwungen Platz, bestellte für sich Tee, Gebäck und einen Likör und begann ein Gespräch über gleichgültige Dinge, wobei sie sich der französischen Sprache bediente, da Jean Lottinelle das Deutsche nur sehr unvollkommen beherrschte. Nach etwa einer halben Stunde griff sie hastig nach ihrem Handtäschchen, holte einen zusammengefalteten Bogen Papier hervor und wandte sich scheinbar leicht verlegen an Lottinelle.

„Mir fällt da gerade ein, daß ich dieses Schreiben des Vorstandes vom ‚Klub der Geprüften‛ noch heute zu beantworten habe. Die Herren sind sehr genau in diesen Dingen… Führen Sie eine Reiseschreibmaschine mit sich, Herr Lottinelle… Die Hotelschreibmaschinen taugen alle nichts…“

Lottinelle erhob sich sofort. „Gewiß… Wenn Sie mich in meinen Wohnsalon begleiten wollen… Sie sind dort ganz ungestört, und meine Maschine ist neu und vorzüglich…“

„Zu liebenswürdig… Ich nehme Ihr Anerbieten mit Dank an…“

Lottinelle schritt neben Gerda durch die dicht besetzten Tischreihen und benutzte diese Gelegenheit, die buntgemischte Teegesellschaft unauffällig zu mustern.

Er war stets ein sehr vorsichtiger Mann gewesen, und gerade jetzt hatte er allen Grund, noch wachsamer als sonst zu sein.

Er besaß die größte Übung darin, selbst eine größere Anzahl Menschen blitzschnell daraufhin zu prüfen, ob sich unter ihnen Spione befänden.

Er rechnete überall mit Häschern und bezahlten Beobachtern.

Ihm war jenes instinktive Mißtrauen eigen, das dem nur nachts auf Beutefang ausgehenden Raubtier zur zweiten Natur geworden.

Nebenher verfügte er noch über jenes dem Unterbewußtsein entspringende allerfeinste Vorgefühl für eine drohende Gefahr. Er litt an Ahnungen, und diese trogen selten.

Gewiß, seine Selbstbeherrschung hatte er bis zur irgend erreichbaren Höchstgrenze ausgebildet, jedoch auf Kosten seiner Nerven. Diese Selbstbeherrschung war ungesund wie alles an ihm. Sie zerfaserte seine Kräfte. Er war ein Tiger, der ewig mit angespannten Muskeln und Sehnen auf der Lauer lag. Nie wurde ihm eine Ruhepause gegönnt.

Während er harmlos mit Gerda einige Bemerkungen über die fragwürdige Zusammensetzung der hier versammelten ‚Elite‛ wechselte und über diesen oder jenen der Gäste bissige, treffende Äußerungen tat, die seine genaue Vertrautheit mit dem Werdegang der diversen Herren Doktores honores causa bewiesen, blieb er stets der ‚Tiger‛ oder vielleicht besser die Geschäftshyäne, die jede Minute irgend einen Angriff erwartete.

Der Fahrstuhl brachte Gerda und ihn in die feierliche Stille der Korridore der eleganten Karawanserei empor, wo die weißen, geschweiften, goldverzierten Türen der Luxusgemächer im gedämpften Licht die glatten, mit gelbmatter Seide bespannten Wände in ihrer Eintönigkeit angenehm unterbrachen.

Er schloß auf, ließ Gerda in den Salon eintreten und zog hinter sich die Tür zu.

Gerda überflog den Raum.

Sie war an Luxus gewöhnt. Diese schablonenhaft vornehme Einrichtung wirkte schablonenhaft kalt. Aber Lottinelle paßte in diesen Rahmen hinein.

„Dort steht die Schreibmaschine… Hier ist Papier,“ sagte er dienstbeflissen. –

Zuweilen hatte seine Liebenswürdigkeit etwas domestikenhaftes.

Gerdas Herz klopfte stärker

Sie sah den großen Schrankkoffer, der dort hinter dem japanischen Wandschirm stand, und sie mußte ein frohes, erleichtertes Aufleuchten ihrer Augen gewaltsam unterdrücken: die Schließklappen des Kofferdeckel waren nur lose zugedrückt, nicht verschlossen!

Um Lottinelle, der wahrscheinlich vergessen hatte, den Koffer abzusperren, diese Nachlässigkeit jetzt nicht merken zu lassen, suchte sie seine Aufmerksamkeit abzulenken und bat ihn, einen Bogen Papier in die Maschine zu spannen…

„Ich kenne die Maschine nicht…“ sagte sie lachend. „Man kann nicht mit all diesen Modellen vertraut sein.“

Innerlich fieberte sie. Die Entscheidung war da.

Lottinelle, wie alle verbrecherischen Naturen sehr sinnlich veranlagt, verschlang ihre keusche Schönheit mit hungrigen Blicken, als Gerda sich jetzt über den Schreibtisch beugte und dabei ihr schlichtes Gewand die feste junge Brust freigab.

Etwas hastig verabschiedete Lottinelle sich. Er kannte sich. Wenn es um Weiber ging, versagte seine angelernte Selbstbeherrschung nur zu schnell.

Kaum war die Tür hinter ihm zugefallen, als Gerda sich weit vorbeugte, angespannt horchte und dann zur Tür huschte, leise öffnete und hinausblickte.

Lottinelle verschwand gerade in der Richtung der Haupttreppe und der Fahrstühle.

Irgendwo in nächster Nähe klappte eine andere Tür, Gerdas Kopf fuhr herum, sie gewahrte jedoch nur noch eine Hand, – und die Tür fiel zu.

Sie riegelte sich ein und stand Sekunden müde und zusammengesunken da. Sie schämte sich vor sich selbst.

‚… Es ist weit mit dir gekommen, Gerda Gerd!‛ dachte sie bitter…

Aber die Ehre des Namens Gerd bedeuteten ihr mehr als diese Stimme des Gewissens.

Sie begann ihr verschwiegenes Werk. –

Als Lottinelle nach etwa fünf Minuten wieder im Wintergarten erschien und neben Geheimrat Gerd Platz nahm, sagte er mit einem Seufzer der Erleichterung: „Wir wurden durch Fräulein Gerda gerade an der wichtigsten Stelle unseres Gesprächs unterbrochen. – – Nach genauer Prüfung der Einzelheiten muß ich zu meinem Bedauern mein Angebot zurückziehen.“

Gerd, der heute um Jahre gealtert schien und tiefe Schatten um die müden, übernächtigten Augen hatte, warf Lottinelle einen Blick zu, der schwer zu deuten war. –

Inzwischen hatten zwei Herren, die unweit der Tanzkapelle hinter ein paar Palmen gesessen hatten, unauffällig den Kellner herbeigewinkt, hatten schnell bezahlt, ließen ihre Getränke stehen, begaben sich in den Vorraum, stiegen die Haupttreppe mit größter Selbstverständlichkeit empor und machten vor der Tür des Luxusapartments Nr. 3 halt.

Der Korridor war leer. Harst legte die Hand auf den Türdrücker, – die Tür war von innen verschlossen.

Er klopfte kräftig, und nach einiger Zeit wurde geöffnet.

Als Gerda Gerd uns erkannte, fuhr sie leicht zurück. Mein Freund drängte sie etwas rücksichtslos beiseite und schloß die Tür hinter uns.

„Sie haben uns den Weg geebnet, Fräulein Gerd,“ sagte er leise und streckte ihr kameradschaftlich die Hand hin. „Auch wir wollten Lottinelles Zimmer gründlichst durchsuchen…“

Auf diese Weise klärte er mit einem einzigen Satz die Situation.

Gerda Gerd empfand sehr wohl, daß sie durchschaut war. Aber sie durfte um keinen Preis die Wahrheit eingestehen, Sie hatte die Ehre des Namens Gerd einzuhalten, koste es, was es wolle.

Sie hob den feinmodellierten Kopf kampflustig noch höher und fragte mit einem gewissen Trotz in ihrer klaren Stimme: „Suchen Sie Herrn Lottinelles Schreibmaschine, Herr Harst? Dort steht sie. Ich habe einen wichtigen Brief abzusenden, und…“

Unter seinem vorwurfsvollen Blick errötete sie jäh und schwieg. Harst deutete genau so schweigend auf den Schrankkoffer, der halb hinter dem Wandschirm stand und dessen Deckel geöffnet war.

„Ich fand ihn unverschlossen vor,“ rief Gerda halb verzweifelt, da sie die Unmöglichkeit einsah, diesen Gegner, der es nur gut mit ihr meinte, zu täuschen.

„Unverschlossen?!“ Mein Freund wurde stutzig. „Sie klappten doch den Deckel hoch?“

„Ja… Ich will nicht weiter lügen, – ich antworte überhaupt nicht mehr. Ihnen entgeht man so doch nicht, Herr Harst.“

Sie wandte sich ab, setzte sich an den Schreibtisch und schlug nervös ein paar Buchstaben an. Das leise Klappern der Reiseschreibmaschine wirkte fast aufreizend. Aber mein Freund nahm davon keine Notiz, sondern schritt auf die Verbindungstür nach dem nebenan gelegenen Schlafzimmer zu, öffnete sie und trat ein. Ich wollte ihm folgen, aber ein fast herrischer Blick bannte mich am Platz.

Er drückte die Tür hinter sich zu, blieb etwa drei endlos erscheinende Minuten im Nebenraum und kehrte dann gemächlich und schier gleichgültig zurück.

Gerda schaute ihm forschend entgegen.

„Herr Harst, glauben Sie, daß ein Einbrecher hier war?“ fragte sie ängstlich.

„Ich weiß es, daß jemand hier war, Fräulein Gerd. Bitte, beenden Sie Ihren Brief, und lassen Sie uns dann hier allein. Sie können uns getrost einschließen. Wir haben Dietriche bei uns. – Bitte, keine Widerrede! Es muß sein‥! Wenn dieser Herr Jean Lottinelle wüßte, was hier geschehen ist, würde er nicht Ihrem Herrn Vater seine leicht zu erratenden Phrasen vortragen… – Ich werde jedenfalls alles tun, was irgend möglich ist, von Ihnen alle Unannehmlichkeiten fernzuhalten, obwohl ein Mord eine sehr ernste Sache bleibt…“

Das Mädchen drehte sich wieder langsam ihrer begonnenen Arbeit zu, und als sie den Brief fertig hatte, verließ sie uns mit einem beinahe schüchtern klingenden Dankeswort.

 

 

8. Kapitel

Der Schrankkoffer.

Harst drückte den Wandschirm zur Seite und betrachtete den eleganten Schrankkoffer mit Kennermiene.

„Da hätte Gerda lange suchen können,“ meinte er achselzuckend. „Diese Ungetüme enthalten so schlau angelegte Verstecke, daß allerhöchstens der Kapitän Hugo Wattersen von der ‚Spreenixe‛ sie entdecken könnte… Und da Gerda noch keinen Unterricht bei ihm genommen hat und auch nicht mehr nehmen wird, würde sie umsonst gesucht haben, ganz abgesehen davon, daß das Versteck bereits leer sein wird.“

Er klappte auch die Vordertür auf, entfernte die im Koffer hängenden Anzüge und zog eins der an der Seite angebrachten Schiebfächer heraus, das nur Kragen und Taschentücher enthielt. Die nächste Schieblade, die für Toilettensachen eingerichtet war, erregte irgendwie seinen Verdacht. Er zog sie vollends heraus und meinte mit halb zugekniffenen Augen: „Etwas sehr schwer, das Ding!! Gewiß, ein Rasierapparat, Seife und so weiter wiegt mehr als Kragen und Taschentücher. Trotzdem: Aluminium ist ein sehr leichtes Metall… – Bitte!!“

Plötzlich schnellte aus der Seitenwand des Kästchens eine flache, zweite Schieblade hervor, die innen metallisch glänzte. Es war Aluminium.

„Leer!“ sagte ich enttäuscht.

„Nicht ganz!“ Und Harst fuhr mit dem Finger über den Boden, zeigte mir dann seine dunkelrote Fingerspitze.

„Schminke!! Malisson hat auch sie mitgenommen.“

„Malisson?“

„Ja… – Warte ab.“

Er brachte den Koffer wieder in Ordnung, versperrte auch die Außenschlösser mit einem kleinen Dietrich und betrat das Schlafzimmer, das nach dem Hotelpark hinauslag. Ein Fensterflügel stand weit offen, und wortlos deutete Harst auf zwei winzige Löcher im Mittelstück des Fensterrahmens, die mit noch frischem weißen Kitt verschmiert waren.

„Ein Künstler, der Mann!“ lobte Harst nachdenklich. „Ob Malisson wirklich schon so weit sich als Einbrecher vervollkommnet hat, derartig saubere Arbeit zu leisten, erscheint doch zweifelhaft.“

Er beugte sich zum Fenster hinaus, zog den Kopf jedoch schnell wieder zurück.

„Bitte, schau mal vorsichtig nach links,“ flüsterte er. „Armer Malisson, du hast Pech!!“

Was ich drunten dicht vor einem Seitenausgang des Hotels erblickte, war allerdings für Malisson eine äußerst peinliche Situation.

Offenbar hatte Gerda, vielleicht um uns in Lottinelles Zimmer mehr Zeit zu gönnen und den Generaldirektor uns vom Leibe zu halten, diesen aufgefordert, mit ihr den Park zu besichtigen, der sowohl durch seine uralten Kastanien und Linden als auch durch die Marmorfontäne, die zahlreichen Marmorstatuen und durch eine Nachbildung eines altchinesischen Grabmals berühmt ist.

Jedenfalls hatten Lottinelle und Gerda das Seitenportal kaum verlassen, als ein Geräusch das junge Mädchen veranlaßte, schräg nach oben zu blicken, wo Doktor Arthur Malisson soeben an einer der Säulen beim Hinabklettern mit den Füßen einen Halt suchte.

Gerda Gerd rief dem kühnen Fassadenkletterer seinen Namen zu, und Doktor Malisson fand keine Gelegenheit mehr, umzukehren und droben wieder in einem der Fenster zu verschwinden.

Wenn inzwischen nicht leichter Regen eingesetzt und der Himmel sich nicht so drohend und düster bewölkt hätte, würden noch mehr Personen Zeugen dieses für den Privatdozenten äußerst beschämenden Vorganges geworden sein.

Malisson sprang jetzt auf den Kiesboden hinab, grüßte Gerda und Lottinelle mit eisiger Höflichkeit, öffnete die Tür, und verschwand. – –

Die Tür klappte zu, und da erst kam plötzlich Leben und Bewegung in den wie versteinert dastehenden Generaldirektor. „Das war ja wirklich dieser Narr Malisson!!“ entschlüpfte es ihm im Ton so ungezügelten Hasses, daß auch wir oben am dritten Fenster jedes Wort deutlich vernahmen.

Dann wollte er die Tür öffnen, fand sie aber versperrt.

Voller Widerwillen und Entsetzen stellte Gerda fest, daß dieser Lottinelle nun, sei es aus Angst oder Wut, vollkommen die Herrschaft über sich verlor und wie ein Halbirrer mit bleichem Gesicht, vorquellenden Augen und keuchender Brust seine zwecklosen Versuche fortsetzte, die Tür aufzusprengen, wobei er sich in wilden Drohungen gegen Malisson erging, die in ihren Ausdrücken einen kläglichen Tiefstand von Erziehung und Taktgefühl und in ihrem Gesamtinhalt nur die wahnwitzige Furcht verrieten, Malisson könnte in sein Zimmer eingedrungen gewesen sein.

Wenn Lottinelle nur ein einziges Mal den Kopf gehoben hätte, würde er über sich Harsts eigentümlich gespanntes Gesicht neben dem meinen bemerkt haben.

Aber er war nur darauf versessen, Malissons schleunigst wieder habhaft zu werden, und als ein durch den Lärm herbeigelockter Hotelboy die Tür von innen öffnete, stürzte Lottinelle wie gehetzt davon, ließ Gerda Gerd einfach stehen.

Es wurde höchste Zeit für uns, das Feld zu räumen, und doch traf Harst keinerlei Anstalten, das Schlafzimmer zu verlassen, lehnte nur die Tür nach dem Wohnsalon bis auf eine fingerbreite Spalte an und postierte sich dicht hinter der Tür.

Da trat Lottinelle ein, – nein, er stürmte in den Wohnsalon, knallte die Tür ins Schloß, verriegelte sie, schoß zu dem Wandschirm, schleuderte ihn beiseite und betrachtete die Schlösser des Schrankkoffer. Dann zog er die Schlüssel aus der Tasche, schloß auf und riß jene Schieblade heraus, drückte auf den Messingknopf, ließ die schmale zweite Schieblade hervorschnellen, und mit dumpfem Poltern fiel das Kästchen auf den Teppich, und die verschiedenartigen Toilettensachen rollten hierhin und dorthin, während der totenblasse Mann mit dem ins Genick gerutschten Hut in den nächsten Sessel sank und wie betäubt vor sich hinstierte.

Harst zog lautlos die Tür auf und trat ein.

Lottinelle gewahrte ihn nicht eher, als bis er dicht vor ihm stand. Seine glasigen Augen weiteten sich noch mehr, und der Versuch, aufzuspringen, unterblieb angesichts der halb erhobenen Pistole…

„Ich habe nur einige Fragen an Sie zu richten,“ sagte mein Freund mit unangenehmer Sachlichkeit… „Mein Bestreben war es allzeit, nicht noch mehr Schande auf Deutschland zu häufen, indem bekannte deutsche Namen bloßgestellt werden. Sie sind ein Mörder, Lottinelle, und Ihr Werkzeug Mac Ferson, dessen Nationalität möglichst verborgen bleiben sollte, ist Ihr Opfer. Leugnen wäre zwecklos. Hier reiht sich lückenlos ein Beweis an den andern, so daß die Polizei zugreifen müßte, selbst wenn sogenannte persönliche Interessen für Sie in die Waagschale geworfen würden.“

Lottinelle blickte seinen unerbittlichen Ankläger blöde an. In seinen Augen irrlichterte die Angst, und seine Gesichtsmuskel zuckten wie im Krampf.

„… Sie haben diesen Mac Ferson, der bei Geheimrat Gerd einbrechen sollte, nachdem Sie ihm die Skizzen der Privaträume verschafft hatten, bei der Hinfahrt in der Taxe begleitet, sind ihm dann gefolgt, sahen Mac Ferson, als er eine bestimmte Stelle des Bücherregals berührte, durch den elektrischen Schlag wie tot umsinken, schalteten den Strom ab und zogen aus dem Regal die so harmlos zwischen den Büchern stehende Zigarrenkiste hervor. Die Kiste Sumatrazigarren mit ihrem protzigen Goldaufdruck und dem üblichen kleinen Knebelverschluß war für mein Auge denn doch etwas zu auffallend dort aufgebaut… – Jedenfalls entnahmen Sie der Kiste die Photographien und Duplikate der Erfindung Malissons, die Ihr Geschäftsfreund Gerd irgendwie sich verschafft hatte. Sie ließen Mac Ferson liegen, wo er lag, wollten zum Halteplatz der Taxe zurück und müssen noch im Park einem zweiten Einbrecher begegnet sein, dessen Auftauchen Sie veranlaßte, die weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten…“

Lottinelle nickte schwerfällig.

„Ja, – ich sah auch Sie beide,“ sagte er etwas drohend. „Es stimmt, – der zweite Einbrecher war Mallison!“

Er grinste bereits wieder recht anmaßend.

Der gründliche Dämpfer folgte sofort. „Wir wollen die Dinge leidenschaftslos wie bisher behandeln, Lottinelle,“ sagte Harst mit etwas erhobener Stimme. „Sie sind ein Mörder und ein schamloser Betrüger… Nichts rettet Sie mehr. Sie sind bereits ein toter Mann.“

Der Ausländer leckte mit der Zungenspitze die trockenen Lippen. „Das wollen wir abwarten,“ murmelte er ohne jede Zuversicht. –

Es war ein kläglicher Versuch, seine verlorene Position noch zu halten.

 

 

9. Kapitel

Lottinelle macht Schluß…

Harst sicherte seine Pistole, schob sie in die Tasche und lehnte sich an den Schreibtisch. „Lottinelle, ich werde nachher genau fünf Minuten warten – genau. Sie verdienen nichts Besseres. – Kommen wir zu den Hauptfrage… Nachdem Mac Ferson, oder wie der Mann sonst heißen mag, uns entwischt war, trafen Sie mit ihm an dem Halteplatz der von Ihnen gemieteten Taxe zusammen, betäubten ihn in der Taxe durch eine präparierte Zigarette und machten diesen Mitwisser für immer stumm. Es muß so gewesen sein. Nur eine Zigarette kann Ihr Opfer betäubt haben. – Wer war Mac Ferson? Antworten Sie!“

Lottinelle krächzte heiser: „Ein berüchtigter Brüsseler Einbrecher… Er … hieß … Pierre Barras…“

„Ja – und er öffnete Ihnen den Weg zu den wichtigen Zeichnungen und Photographien, er starb beinahe durch den elektrischen Schlag, und gerade dies wollten Sie herausbringen: Wie Geheimrat Gerd sein Versteck gesichert hatte! Menschenleben gelten Ihnen nicht viel. – Da wird auch Ihr eigenes Leben für Sie wenig Wert haben. – Nun zu der allerrüdesten Ihrer Machenschaften… Ich spreche hier ganz ungeschminkt. Die Gerd-Werke stehen vor dem Ruin. Das ist ein Geheimnis von wenigen Eingeweihten. Die letzte Bilanz ist Schwindel. Gerd suchte zu retten, was noch zu retten war, tat sich mit Ihnen zusammen, und Sie finanzierten den Diebstahl der Malissonschen Konstruktionspläne und den Prozeß – – bis heute. Heute, nachdem Sie nun die Photographien und die Pausen der Originalpläne in der Hand hatten, werden Sie Gerd erklärt haben, fernerhin kein Geld mehr opfern zu wollen. Ohne Zweifel wollten Sie nun von sich aus in den Prozeß eingreifen und behaupten, daß Ihre Firma ebenfalls auf dieselbe Konstruktionsidee gekommen wäre. Sie hätten also Gerd, der eine deutsche Erfindung dem Ausland überlassen wollte – Ihnen! –, freilich nur aus Not, kaltblütig geopfert, ebenso Malisson. – Hierin liegt das Erbärmlichste Ihrer Handlungsweise, die mich zu keinerlei Schonung zwingen könnte. – Geben Sie das alles zu?“

„Ja… Aber ich werde…“

„… Was Sie tun werden, bestimme ich… Ich betone nochmals: Ich werde der Welt nicht das klägliche Schauspiel bieten, einen deutschen Großindustriellen und seine Tochter an den Pranger zu stellen. – Setzen Sie sich dort an den Schreibtisch und nehmen Sie die Feder in die Hand. – Bitte‥!! – Ich möchte Ihnen nur noch eins vorhalten, Lottinelle: Die Skizzen, die Sie für den Einbrecher Barras mit Gummihandschuhen anfertigten, haben Sie leichtsinnigerweise in Ihr geheimes Tagebuch zwischen die zuletzt beschriebenen Seiten gelegt, und die noch frische Schrift dieser Seiten hat sich auf die Skizzen übertragen, wie die photochemischen Versuche ergaben, die ich mit den Skizzen vornahm.

Ich konnte so entziffern, daß Sie von vornherein die Absicht hatten, Barras, Ihr Werkzeug, hinterher zu opfern und Gerd und Malisson um die Erfindung zu betrügen. Keine Macht der Welt rettet Sie mehr vor einem wohlverdienten Ende. – Schreiben Sie… – Bitte! Oder ich rufe die Polizei herbei, und das Zuchthaus winkt Ihnen! Ihr Vaterland wird Sie dann abschütteln, muß Sie abschütteln, kein Finger wird sich für Sie rühren… – Schreiben Sie:

Ich, Jean Lottinelle, gebe zu, den von mir gedungenen Einbrecher Pierre Barras alias Max Ferson in der Taxe letzte Nacht betäubt und ermordet zu haben.

Jean Lottinelle

Lottinelle gehorchte. –

Dieser brutale Gewaltmensch hätte sich zweifellos geweigert, dieses schriftliche Geständnis abzulegen, wenn Harst ihn nicht so nachdrücklich darauf hingewiesen hätte, daß seine eigenen Landsleute sich von ihm lossagen und ihn als Schädling seiner Heimat verdammen würden.

Sein Benehmen zeigte jetzt eine wesentliche Veränderung. Er war nicht mehr der zerstörte, seelisch zusammengebrochene Schwächling von vorhin. Mit fester Hand setzte er seine Unterschrift unter die wichtige Urkunde und erhob sich dann.

„Sie wollten mir noch fünf Minuten gewähren, Herr Harst… Ich brauche keine fünf Minuten… Ich weiß, daß ich verspielt habe. Ich vermag Sie auch nicht mit haßerfüllten Gedanken zu verfolgen, nein, ich bewundere Ihre Findigkeit. Leben Sie wohl…“

Er verneigte sich leicht und ging hinüber in sein Schlafzimmer.

Als der dünne Knall an unser Ohr drang, öffnete Harst für Sekunden die Schlafzimmertür, schaute hinein und schloß die Tür wieder. Er rief Volker, Kriminaldirektor Hans Volker an und teilte ihm mit, was er für gut befand. Dann begaben wir uns in den Wintergarten hinab, wo Gerda Gerd noch mit ihrem Vater an dem kleinen Tischen saß.

„Sie gestatten, daß wir Platz nehmen, Herr Geheimrat… – Fräulein Gerd, erschrecken Sie nicht. Lottinelle ist tot… Hier ist sein Geständnis. – Ihre Person, Herr Geheimrat, soll in Rücksicht auf Ihr Kind und den Namen Gerd aus dem Spiel bleiben. Nur eins möchte ich Ihnen noch sagen: Fräulein Gerda ahnte Ihre verwerfliche Zusammenarbeit mit Lottinelle. Ihre Tochter wollte die Zeichnungen aus dem gesicherten Zigarrenkistchen an sich nehmen, um Sie Malisson zuzustellen. Danken Sie es Ihrem Kind, daß die Dinge diesen Sie schonenden Ausgang nahmen. – Ich werde Ihnen nun einige Winke geben, wie Sie sich Volker gegenüber verhalten sollen, der sofort hier erscheinen wird… – Sie aber, Fräulein Gerd, finden sich bitte heute abend elf Uhr bei uns ein. Ich will Ihnen beweisen, daß Arthur Malisson, der Dieb, der nie etwas stahl, über so hohe moralische Qualitäten verfügt, daß jedes Mädchen stolz darauf sein kann, von ihm geliebt zu werden. Malissons wahres Geheimnis, wertvollstes Geheimnis liegt auf einem ganz anderen Gebiet. Ich will jetzt nur andeuten, daß der ‚Kapitän‛ – Sie wissen, wen ich meine – hier im ‚Splendide‛ neben Lottinelle wohnte…“

Geheimrat Gerd griff erst mit zitternder Hand nach seinem Rotweinglas und leerte es auf einen Zug… Dann streckte er Harst die Hand über den Tisch hin und flüsterte gequält:

„Ich … ich habe nur eins zu meiner Entschuldigung anzuführen: Die Gerd-Werke sind ruiniert, selbst Gerdas Privatvermögen ist verloren gegangen, und die Verzweiflung und Kopflosigkeit ließen mich nach einem Strohhalm greifen… Und dieser Strohhalm war eine giftige Viper – war Lottinelle…“

Harst behielt Gerds Hand in den Fingern…

„Herr Geheimrat,“ sagte er warm, „Malissons Erfindung wird die Gerd-Werke wieder in die Höhe bringen‥! Die kommende Nacht wird vieles ändern…“

 

 

10. Kapitel

Kapitän Hugo Wattersens Geheimnis.

Gerda fand sich bereits vor elf Uhr bei uns ein.

Sie war blaß, hatte umschattete Augen und starrte mutlos vor sich hin.

Wir ahnten, daß etwas ganz anderes sie so stark niederdrückte. Eine Frau, die liebt und die den Mann ihrer Neigung in seinem Tun nicht begreift, wird über diese dunklen Seiten seines Charakters nur hinwegkommen, wenn sie sehr oberflächlich ist.

Gerda war das gerade Gegenteil: Zu ernst veranlagt, zu reif, zu rein im Denken und Fühlen.

Draußen peitschte der Regen in plötzlichem Guß gegen die Fensterläden. Die Bäume im Vorgarten ächzten und knarrten unter dem Anprall der Windstöße, und Gerda duckte sich fröstelnd noch scheuer zusammen und seufzte leise und verzagt.

„Wir wollen warten, bis sich das Unwetter verzogen hat,“ sagte Harald und blickte Gerda aufmunternd an. „Jeder Sturm reinigt die Luft… Auch wir Menschen wären ohne bewegte, erregende, beängstigende Stunden nur stumpfsinnige Wanderer, die dem Endziel, dem Grab, entgegenschleichen. Nur das aufgepeitschende Erlebnis gibt uns den inneren Auftrieb zur Überwindung dessen, was man Philisterbehaglichkeit nennen könnte, oder…“ – er machte eine kurze Pause – „in unserer Vergangenheit schlummern dunkle Begebenheiten, die uns zwingen, unser Leben nach anderen Grundsätzen aufzubauen. Die wenigsten Menschen zum Beispiel wissen, daß ich seinerzeit meine Braut durch Mörderhand verlor und daß ich damals den Entschluß faßte, das Verbrechen durch meine eigenen Methoden zu bekämpfen. Man kann dies auf sehr verschiedener Art. Es gab eine Zeit, in der mir unbeschränkte Geldmittel zur Verfügung standen und ich mich daher auch an die kostspieligsten Probleme heranwagen durfte. Zeit und Unkosten spielten keine Rolle. Ich habe die Verbrecher, an denen offensichtlich nichts mehr zu bessern war, rücksichtslos der strafenden Gerechtigkeit ausgeliefert. Aber selbst damals, als ich noch vielfacher Millionär war, kam ich nie auf den Gedanken, daß es noch bessere Methoden geben könnte, das Verbrechertum auszurotten. – Ich bekenne, daß mich in dem Punkt ein seltener Charakter übertrumpft hat, ein Mann, der Mitleid und höchste Anerkennung verdient.“

Gerda fragte schnell:

„Wen meinen Sie?!“

„Später‥!“ lächelte Harst voller Herzlichkeit. „Ich habe heute abend sehr viel sorgfältige Nachforschungen anstellen müssen, nachdem für mich zwei Persönlichkeiten zu einer einzigen zusammengeschmolzen waren – endgültig! Ich grub dunkle Punkte der Vergangenheit aus, und in mir wuchsen die Bewunderung und das Mitleid für einen Menschen, der seltsame Wege wählte, das Einst – für das er nicht verantwortlich – auszutilgen…“

„Malisson?!“ meinte Gerda verständnislos.

Harst schüttelte den Kopf.

„Keine Namen! – Ich habe dann, als dieser Vergangenheit klar vor mir lag, den Mann gefragt, ob er uns empfangen wolle. Er lehnte zunächst ab. Es ist ja nicht ganz leicht, ein sorgsam gehütetes Geheimnis preiszugeben und das Risiko zu wagen, nicht verstanden zu werden, besonders wenn man liebt…“

Gerda sprang auf.

„Quälen Sie mich doch nicht, Herr Harst! Auf wen zielen all diese Andeutungen hin?!“

„Ich habe Diskretion zugesagt, Fräulein Gerda. Ich habe kein Recht, die Wahrheit zu enthüllen. Das Recht hat nur der, der Sie über alles liebt…“

Gerda errötete.

„Also doch Malisson‥!“ flüsterte sie bekümmert. „Malisson, der … Fassadenkletterer, der Dieb und der…“

Sie schwieg. Sie horchte…

Regen und Sturm waren abgeflaut.

„Brechen wir auf, Herr Harst‥! Ich bin dieser Ungewißheit nicht mehr gewachsen…“ bat sie flehentlich und unterdrückte ein leidenschaftliches Schluchzen.

„Wissen Sie denn, wohin es geht?“ fragte mein Freund und erhob sich gleichfalls.

„Ich glaube ja,“ erwiderte sie zaghaft. „Nur dem alten Wattersen kann der Besuch zu dieser Stunde gelten… – Ich fürchte mich… Ich ahne irgend eine Entscheidung, die mir … vielleicht alles nimmt… Den Vater hatte ich verloren gehabt, wir waren uns fremd geworden… Ich habe ihn wiedergefunden, soweit … ich vergessen kann. Aber Arthur Malisson wird in der beschämenden Situation, die so eindeutig war, nie aus meinem Gedächtnis schwinden… Er als…“ – sie brach jäh ab, hauchte nur den Nachsatz: „Freilich, – – tat ich etwas anderes als er?! – Nein!! Vielleicht war ich sogar feiger und raffinierter, als ich Lottinelle veranlaßte, mich in seine Hotelräume zu führen…“

Harst nahm ihre schlaff herabhängende Hand.

„Fahren wir zum alten Wattersen‥! Und Kopf hoch, sie braves Mädel! Ich habe uns angemeldet.“ –

Wie einst gelangten wir an dem villenartigen Gebäude vorüber an den Fluß. Und doch war alles so anders … so ganz, ganz anders. Wir sahen nichts von argwöhnischen Wachen, wir mußten uns allein den Weg suchen, wir rochen wieder den Dunst erhitzten Metalls, und dann nahmen wir in dem denkwürdigen Lehrsaal der Einbrecherschule unbeachtet ganz hinten Platz.

Niemand kümmerte sich um uns. –

In den unteren Räumen der ‚Spreenixe‛ herrschte wieder einmal Hochbetrieb. Der Lehrsaal duftete nach heißem Metall, nach verbranntem Öl, nach Zigarren und Zigaretten.

Kapitän Wattersen, der merkwürdige weißbärtige Patriarch in ölbeflecktem Schlafrock, zeigte einem Dutzend junger Burschen die Technik des Aufschweißens einer Tresortür. Er hatte inzwischen eine neue, ganz moderne Stahltür aufgestellt, und die arbeitsscheuen, durch die Notzeiten Deutschlands des inneren Haltes beraubten jungen Leute bekamen abermals eine ‚Vorlesung‛ zu hören, deren Inhalt auch Gerda Gerd, die mit uns beiden mehr im Hintergrund saß, und ebenso mich selbst immer verwunderter aufhorchen ließ.

Die tiefe, überaus kräftige Stimme des Greises, rief zwei der Schüler zu eigenen praktischen Versuchen zu sich. Das helle Zischen des Gebläses und die ihm ausstrahlende Hitze steigerte die Temperatur hier im Laderaum bis zur Grenze des Erträglichen.

Den beiden Burschen, die mit aufgekrempelten Ärmeln arbeiteten, lief der Schweiß in Bächen über das Gesicht.

Kapitän Wattersen lachte dumpf, als der eine zur Seite taumelte und keuchend hervorstieß: „Ich kann nicht mehr, der Teufel hole dieses Handwerk!“

Wattersen stellte das Gebläse ab und wandte sich der Gesamtheit zu.

„Ich habe euch nur bewiesen, wie unendlich mühsam dieses unehrliche Gewerbe ist, ich habe euch in den letzten Unterrichtsstunden auf die Gefahr hingewiesen, die euch vor fremden Tresoren drohen, ich habe euch vorgehalten, wie oft eine Geldschrankknackerkolonne hunderte von Mark zwecklos opfert, da der aufgeschweißte Schrank nachher vielleicht nur Geschäftsbücher und etwas Wechselgeld enthält, denn die großen Firmen pflegen keine größeren Summen in ihren Stahlschränken zu belassen… Ich habe euch immer wieder auf die harten Strafen aufmerksam gemacht, die euch drohen, wenn ihr abgefaßt werdet. Und genau so, wie dieser Spezialberuf des Geldschrankknackers nur ganz selten einem einzelnen vielleicht zu einer großen Beute verhilft, nicht anders ist es mit den Erfolgen gewöhnlichen Diebstahls, Taschendiebstahls und Betruges bestellt. Es kann kein Segen auf unehrlicher Tätigkeit ruhen, das habe ich den vier vorher ausgebildeten Kursen eingehämmert, deshalb wiederhole ich hier nochmals vor euch, den Teilnehmern des fünften Kurses, Handwerk und ehrliches Schaffen haben einzig und allein goldenen Boden!“

Er schwieg. – Die zwölf jungen Burschen saßen mit hängenden Köpfen da. –

„Wer gibt uns denn Arbeit?! Wovon sollen wir leben?!“ murmelte der eine mehr verzweifelt als in offener Widerspenstigkeit.

Wattersen sprach weiter. „Meine jungen Freunde, als ihr hier zu mir kamt, fest entschlossen, gewerbsmäßige Verbrecher zu werden, ahntet ihr nicht, daß ihr nicht eine Ganovenschule, sondern eine Schule der Erkenntnis und Läuterung besucht.

Diejenigen, die moralisch nicht mehr zu retten war, habe ich ausgemerzt. Den anderen gab ich Unterkunft, Verpflegung und auch Arbeit. Ein Menschenfreund stellte mir dazu die Mittel zur Verfügung. Drüben am Ufer die große Villa wird vorläufig euer Heim sein, bis ihr auf einem Gut untergebracht werdet, wo ihr allmählich wieder an geregelte Tätig–keit euch gewöhnen könnt. – Ich frage euch, – wer lehnt meinen Vorschlag ab?“

Nicht einer tat es. Kapitän Wattersens Bekehrungsmethoden mußten außerordentlich eindrucksvoll gewesen sein. –

Wir drei hatten heute eine kleine Probe seines Unterrichts miterlebt, und Gerda und ich saßen wie benommen da. All dies war uns zu ungeahnt, zu unvermittelt offenbart worden.

Harst lächelte nur still vor sich hin.

„Geht nun gegenüber zu dem Heim für Erwerbslose,“ fügte Wattersen freundlich hinzu. „Meldet euch bei dem Hausmeister, meidet fortan jeden zweifelhaften Verkehr und werdet ehrlich…“

Die zwölf entfernten sich etwa scheu und verlegen. Einige drückten Wattersen stumm die Hand.

Als sie gegangen waren, trat Harst auf den alten Mann zu,

„Doktor Malisson,“ meinte er herzlich, „ich hatte Sie gebeten, uns dreien zu gestatten, einer Ihrer hiesigen Vorlesungen beiwohnen zu dürfen. Ich teilte Ihnen auch mit, daß ich Ihr Geheimnis kenne.“

Malisson?! Es erschien undenkbar, daß dieser ölbefleckte schmierige Greis der kluge, stets so diskret elegante Privatdozent sein könnte.

Gerda Gerd war mit raschen Schritten auf ihn zugegangen.

„Wirklich, – – Sie sind Malisson?“ flüsterte sie ungläubig.

Er lächelte etwas bitter.

„Was Harst behauptet, stimmt gewöhnlich… – Ich will mich nur umziehen und säubern, bitte nehmen Sie derweil in der Kajüte droben Platz.“

Zehn Minuten später saß Arthur Malisson vor uns…

„Ich möchte Ihnen die Aufklärungen, die für Fräulein Gerd und für Schraut noch notwendig erscheinen, erleichtern, Doktor,“ begann Harst in ernstem, aber desto wärmerem Ton. „Ich gebe zu, daß ich zunächst nicht ahnte, daß Wattersen und Sie selbst ein und dieselbe Persönlichkeit seien. Als Sie mich damals als Wattersen baten, Ihren angeblich unbekannten Schüler zu ermitteln, wollten Sie mich, wie ich nun weiß, lediglich von Ihrer Spur ablenken: Der Dieb der nie etwas stahl, sollte seiner Person nach noch in tieferes Dunkel gehüllt werden. – Es kam anders. – Den Ausschlag gab der heutigen Nachmittag. Der alte vornehme Herr Wattersen hatte im Hotel ‚Splendide‛ Wohnung genommen, und aus Wattersens Fenster kletterte Doktor Malisson in den Park hinab. Also waren Wattersen und Malisson identisch, – mir war ein Licht aufgegangen!

Die Zeit bis zum Eintreffen Fräulein Gerdas bei uns benutzte ich dazu, über Wattersen Erkundigungen einzuziehen…“

Malisson hatte die Hand erhoben, und Harst schwieg.

„Diese Dinge muß ich selbst berichten,“ sagte Malisson mit demselben trüben Lächeln wie vorhin. „Ich will mich ganz kurz fassen…

Erst als Neunzehnjähriger erfuhr ich, daß mein Vater im Zuchthaus verstorben war. Er war einer der berüchtigsten Einbrecher gewesen. Sein Bruder Hugo Wattersen – und mein richtiger Name ist Wattersen – war ein braver Schiffskapitän, der mir kurz vor seinem Tod die volle Wahrheit gestand. Mein Vater hatte mich über alles geliebt und ließ mich von einem Ehepaar Malisson erziehen, das mir später sein Vermögen vermachte…“

Er blickte eine Weile sinnend vor sich hin.

„Sehr oft habe ich darüber nachgegrübelt, wie mein Vater so schwer hat entgleisen können, denn im Grunde muß er ein guter Mensch gewesen sein. Mein Onkel Hugo konnte mir diese Widersprüche im Charakter meines Vaters auch nicht erklären. Ich kam schließlich zu der Annahme, die wohl zutreffen dürfte, daß meine Großeltern daran die Schuld trügen. Mein Vater hatte Ingenieur werden wollen… Sie zwangen ihn in einen anderen Beruf hinein. Der Kontorschemel war der unrichtige Platz für diesen Feuergeist, der mir so viel Liebe entgegenbrachte. Er mag zunächst insgeheim mit technischen Experimenten sich beschäftigt haben und geriet schließlich auf Abwege, – er sah vielleicht in seiner Einbrechertätigkeit eine Kunst… – Wer will die Rätsel so komplizierter Naturen lösen?! – Ich bedaure meinen Vater… Sein Leben war verpfuscht.“

Und nach kurzer Pause sprach er energischer weiter:

„Ich gedachte nun das, was mein Vater einst gefehlt hatte, wieder gutzumachen, und wählte schließlich die ungewöhnliche, aber erfolgreiche Methode der Ganovenschule zur Besserung junger Leute, die völlig zu entgleisen drohten. Meine Erfindungen brachten mir viel Geld ein, und auf meinem Landgut und drüben in der Villa, wo mein Onkel den Hausmeister spielt, vollendete ich diese Art Erziehungsarbeit. Dann strengsten die Gerd-Werke den Prozeß gegen mich an. Ich sollte um die Früchte jahrelanger Arbeit betrogen werden, und ich ahnte auch, daß meine neueste Erfindung dem Ausland zugute kommen würde. Ich wollte dies verhindern, – nur die deutsche Industrie sollte die Vorteile meiner Mühen genießen, – – so wurde ich, um den Prozeß zu gewinnen, der Dieb, der nie etwas stahl… – Das wäre in kurzem meine Geschichte, die in vielem seltsam anmuten mag, und die doch nur deshalb so ungewöhnlich sich gestaltete, weil die Verhältnisse und Umstände es erforderten. Ich bin das einzige Kind eines Zuchthäuslers… Das war und ist die Tragik meines Lebens. Nun mag die Öffentlichkeit die Wahrheit erfahren… Ich habe heute die Beweise aus Lottinelles Koffer an mich gebracht, daß…“

Harst fiel ihm schnell ins Wort. „Lottinelle ist tot… Die Gerd-Werke werden die Klage zurückziehen… Die Welt wird die volle Wahrheit nie erfahren, und auch Ihre Vergangenheit nicht, lieber Malisson… – Alles übrige besprechen Sie mit Fräulein Gerda, deren Vater Sie als Generaldirektor einzustellen wünscht… – Gute Nacht… Wir sind hier überflüssig…“ – –

Daß die Wahrheit zum größten Teil doch durchgesickert ist, lag nicht an uns. Aber die zumeist so pharisäerhafte öffentliche Meinung trat für Malisson ein…

Heute schildere ich hier Dinge, wie sie sich wirklich abgespielt haben. Ich darf es, denn Frau Gerda Malisson und ihr uns eng befreundeter Gatte haben mir dazu die Erlaubnis erteilt.

Ich glaube kaum, daß jemals wieder eine Ganovenschule gegründet werden wird, die so sehr moralische Erziehungsanstalt ist wie die Arthur Malissons, des Diebes, der nie etwas stahl…