Sie sind hier

Die roten Pantöffelchen

 

Harald Harst

 

Band: 357

 

Die roten Pantöffelchen

 

 

Von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16

 

1. Kapitel

Der Fischer und die erste Spur.

Die Umrisse des Kutters mit dem braunen, hin und her schlappenden Großsegel verschmolzen an diesem regnerischen schwülen Spätsommerabend mit der düsteren Umgebung der leise plätschernden See und mit den träge dahinziehenden Nebelfetzen oft genug zu einem ungewissen dunklen Fleck.

Die an Bord brennenden Laternen beleuchteten trübe das scharf geschnittene Gesicht eines jüngeren Fischers, der mit Hilfe eines betagten Mannes das durch Stangen mit daran gebundenen Strohwischen kenntlich gemachte große Netz schleunigst einzog. Vor zwei Stunden hatte der Sender Stettin eine Sturmwarnung bekannt gegeben, und die beiden Kutterinsassen hatten sich daraufhin schleunigst aufgemacht, ihr neues wertvolles Netz zu bergen, obwohl es erst nachmittags mühselig ausgeworfen worden war.

„Fertig, Jochem!“ rief der Jüngere nun und richtete sich halb auf. Sein Ölmantel und sein Südwester troffen vor Nässe, und zu seinen Füßen schnellten sich Dorsche, Steinbutten und Flundern freiheitslüstern immer wieder empor.

„Wirf also den Motor an!“ fügte er etwas leiser hinzu und drehte lauschend den Kopf. „Hallo, Jochem, – hörst du was?!“ fragte er lebhafter. „Mir war es, als quietschten da vor uns Bootsdollen. –

Wahrhaftig, – – ein Ruderboot! Wer treibt sich denn um Mitternacht hier auf dem Greifswalder Bodden so weit ab von Land noch umher?!“

Er hob die Hände zum Mund, formte sie zum Schalltrichter, ließ sie aber wieder sinken. Das Ruderboot, in dem nur eine einzelne Person zu erkennen war, näherte sich schnell, und der Fischer sah zu seinem Erstaunen, daß er ein jüngeres Weib vor sich hatte. Er bückte sich, griff nach einer der Laternen und beleuchtete die Fremde, unter deren roter Ölkappe blonde Löckchen und ein blasses, zartes Gesichtchen mit übergroßen, verängstigten Augen sichtbar wurden.

Die beiden Fahrzeuge schrammten aneinander vorbei, der ältere Fischer beugte sich rasch über Bord und packte den Bootsrand der winzigen Nußschale, während der andere eilends das Bündel aufnahm, das ihm die Blonde entgegenstreckte.

„Bitte, – – behüten Sie es und schweigen Sie!“ stieß sie nach Atem ringend hervor. „Und wenn es Ihnen möglich wäre…“ – das folgende verstand der Fischer nur halb, da das Großsegel in der jäh aufkommenden Brise allzu laut klatschte, sich dann bauschte und den Kutter so plötzlich zur Seite riß, daß der ältere der Männer den Bootsrand loslassen und zum Steuer springen mußte.

Ein starker Regenguß trug mit dazu bei, daß das Ruderboot völlig außer Sicht kam. Da der Jüngeren nun auch das gleichmäßige Rattern eines Jachtmotors hörte und die grelle Lichtflut eines kleinen Scheinwerfers wahrnahm, trug er das Bündelchen schleunigst in die Kajüte hinab, kehrte wieder an Deck zurück und verhandelte mit den Leuten der Jacht, von denen insbesondere eine weißhaarige Dame im Sportdreß immer wieder fragte, ob der Fischer nicht ein Ruderboot bemerkt hätte.

Der Jüngeren verneinte kurz und erklärte im echten pommerschen Platt, sie hätten Eile heimzukommen, in kurzem sei der Sturm da… –

Die Dame drüben auf der Motorjacht war überrascht. „Sturm?!“ fragte sie mit einer so seltsamen Betonung, als freue sie sich darüber, daß ein Unwetter heraufzöge. „Oh – dann wollen wir Sie nicht weiter belästigen…“

Worauf die Jacht in voller Fahrt davonsauste…

Monate brauchte der jungen Fischer dazu, bis er endlich festgestellt hatte, wem die Jacht gehörte und woher sie gekommen war. Sein bis dahin recht eintöniges Dasein nahm von nun ab eine andere Wendung…

*

Sehr geehrter Herr Harst, ich lebe leider in so bescheidenen Verhältnissen, daß es mir nicht möglich ist, Sie für Ihre Mühewaltung zu entschädigen. Ich möchte Ihre Aufmerksamkeit jedoch auf eine Frau Gisela von Rockner lenken, die zweifellos in sehr anrüchige Geschichten verwickelt ist. Ich werde Ihnen meinen Namen bekannt geben, sofern es mir selbst nicht gelingen sollte, gewisse dunkle Dinge aufzuklären. –

B. G.

Diesen Brief, der in Stralsund aufgegeben worden war, bekam ich erst zu Gesicht, nachdem mein Freund schon längere Zeit ganz insgeheim eine bestimmte Villa und deren Besitzerin und deren Gäste beobachtet hatte.

Es war an einem kalten, stürmischen Dezembertag, als Harst mir gegen neun Uhr abends einen ausführlichen Vortrag über die Erfolge seiner Ermittlungen hielt und mir den Brief des Unbekannten zeigte.

Ich war zunächst völlig sprachlos über das soeben gehörte, traute jedoch meinen Ohren nicht, als er hinzufügte:

„Den Mann muß ich persönlich sprechen! Eine geeignetere Nacht wie diese finden wir kaum. Brechen wir also schleunigst auf.“

In einem Mietauto, dessen Besitzer uns schon häufiger sehr nützlich gewesen, fuhren wir gegen zehn aus unserer stillen Arnoldstraße ab und erreichten gegen elf das Wäldchen, das Harald als Ausgangspunkt unseres gewagten Unternehmens vorgesehen hatte.

Wir wanderten über Sturzacker auf den großen düsteren Gebäudekomplex zu, und nachdem wir die hohe Mauer überklettert hatten, klommen wir an einer Feuerleiter empor, sägten ein Gitter mit einer Stahlsäge heraus, bohrten die eisernen Innenläden des Fensters an und waren um zwei Uhr morgens zu dritt wieder daheim.

Robert Wernicke, der Befreite, war noch immer völlig benommen von dieser erlösenden Wendung seines traurigen Schicksals. Nach dem dritten Glas Grog taute er jedoch auf und erklärte ingrimmig: „Herr Harst, ich habe meine gesunden fünf Sinne genau so gut beieinander wie einst. Es war eine ungeheure Gemeinheit, mir erst den Diebstahl in die Schuhe zu schieben und mich dann – Paragraph 51!! – einzusperren! Wer mir das angetan hat, weiß ich nicht.“

Harald lag weit zurückgelehnt im Sessel vor dem warmen Kachelofen, aus dessen Feuerungstür der rötliche Schein der flammenden Buchenklötze sein hageres Gesicht umspielte.

„Aber ich weiß es, Herr Wernicke,“ sagte er zu dem rotbärtigen ehemaligen Gärtner und Parkwächter. „Ihre frühere Herrin, die nur zum Schein so warm für Sie eintrat, hat Ihnen diesen Streich gespielt.“

Wernicke starrte Harald ungläubig an. „Die?! Die?!“ meinte er kopfschüttelnd. Dann aber sprang er empor. „Verdammt, Sie könnten recht haben, Herr Harst!“ Sein Gesicht verzerrte sich vor maßlosem Grimm. „Ich blinder Narr, ich hätte doch auch von mir aus durch die vielen Fragen nach so etwas Merkwürdigem stutzig werden müssen!!“

„Und wonach fragte Frau Rockner, und wann begann sie mit diesen merkwürdigen Fragen?“

Wernicke setzte sich wieder.

„Wonach?! Sie werden staunen, Herr Harst‥!“ knurrte er bissig. „Sie fragte mich immerfort, ob der Geheimrat mir gegenüber nie… – passen Sie auf!! – nie … rote Pantöffelchen erwähnt hätte. –

Tatsache: Rote Pantöffelchen! – Ich verneinte. Erst später fiel mir mal ein, daß mein seliger gnädiger Herr in seinem Schreibtisch, nein, in seinem Tresor wirklich so ein paar lütte feine rote Schuhchen stehen gehabt hatte, wie ich ganz zufällig eines Tages bemerkt hatte. Und als mir dies eingefallen war, da mußte mich der Teufel reiten, und als Frau von Rockner wieder einmal fragte, antwortete ich ihr, mit aus Stolz darauf, daß der Herr Geheimrat mir stets sein volles Vertrauen geschenkt hatte: ‚Darüber rede ich nicht!!‛ – Ja, und drei Tage darauf saß ich in Untersuchungshaft…“

Harst sog noch nachdenklicher an seiner Zigarette. „Wann also begannen diese Fragen, lieber Wernicke?“

„Hm, das war Ende Juli etwa… – Ja, bestimmt Ende Juli, denn Ende August unternahm Frau von Rockner die Tour nach Rügen, wobei sie fast ertrunken wäre… Und als sie von Rügen zurückkehrte, fragte sie noch häufiger. Na, und dann wurde ich eben verhaftet! Gemeinheit!! Einen gesunden Menschen in eine Idiotenanstalt einzusperren!“

„Allerdings,“ nickte Harald sehr ernst. „Ein Gemeinheit und zugleich ein Beweis dafür, daß mit diesen roten Pantöffelchen irgendwie ein für Frau von Rockner sehr gefährliches Geheimnis zusammenhängt. Die Frau fürchtete, Sie könnten über dieses Pantoffel-Geheimnis doch noch mehr wissen, deshalb sperrte man Sie weg, lieber Wernicke.“

„Herr Gott, aber ich weiß ja nichts, ich weiß gar nichts! Wirklich nichts, Herr Harst!“

„Ich glaube Ihnen. Wir werden dann also diese Dinge gründlichst untersuchen müssen. – Noch einen Grog gefällig, lieber Wernicke? Trinken Sie nur. Hier bei uns sind Sie vollkommen sicher.“

 

 

2. Kapitel

Konkurrenten vor dem Geldschrank.

Bodo Gestermär lehnte an der hohen, wundervoll geschnitzten Vitrine und beobachtete still und unauffällig die im blauen Salon Frau von Rockners in Gruppen beieinanderstehenden Gäste und hatte seine Freude an dem lautlosen, gewandten Benehmen der Dienerschaft, die den Tee in hauchdünnen Täßchen, dazu Liköre, Zigarren und Zigaretten anboten.

Die Empfangsnachmittage Frau Giselas zeichneten sich durch jenen scheinbar intimen Reiz aus, der nur für ein so urgesundes, heimatverwurzeltes Empfinden wie das Gestermärs alle die unmerklichen Spuren eines überspitzten mondänen Intellektualismus aufwiesen, der schließlich zur bewußten oder unbewußten Künstelei und Unnatur führt.

Gestermär, den zur Zeit besondere Geschäfte in Berlin festhielten, war nicht durch Zufall in diesen ihm wesensfremden Kreis geraten. Mit seiner sehnigen, aufrechten Gestalt, dem trotz der Wintermonate gebräunten scharf ausgeprägten Herrenmenschengesicht, dem nie ein Zug kühlster, spöttischer Überlegenheit fehlte, paßte er ohnedies in diese von Überbewertung des Geistigen angekränkelten Gesellschaft nicht hinein. Ein Studienfreund, den er in diesem Punkte kalt berechnend für seine Zwecke ausgenutzt hatte, war der Vermittler der Bekanntschaft mit der weißhaarigen, äußerst klugen und vornehmen Frau von Rockner gewesen.

Obwohl der Besitzer der Insel Gestermär daheim das mühselige Leben eines kleinen Landwirtes und Fischers führte, hatte er niemals den Kontakt mit seinen Standesgenossen und erst recht nicht mit der sogenannten großen Welt verloren. Er, der letzte der verarmten Grafen Gestermär, hatte sich innerlich vollständig umgestellt, und den allerletzten Anstoß hierzu hatte jenes merkwürdige Abenteuer gegeben, dessen geheimsten Ursprungsfäden er nun bis zur endgültigen Klärung mit seiner zähen, rücksichtslosen Energie nachspüren wollte.

Gestermär vernahm nebenan im Musiksalon die ersten Takte einer Arie aus einer Oper, sah mit stiller Befriedigung die Gäste Frau von Rockners durch die geöffnete Schiebetür mit musikbegeistertem Übereifer verschwinden und war gleichfalls im Umsehen durch die Portieren der nahen Tür geschlüpft, freilich nach der anderen Seite hin.

Er kannte die Lage der Räume der Villa der Witwe des bekannten Großindustriellen genau so gut wie jeden Fußbreit Bodens seines kleinen Inselreiches. Er weilte heute ja zum vierten Mal in diesem Haus, und seine Gewissensbedenken gegen seine Tätigkeit als Spion waren gegenüber der unzweideutigen Feststellung, daß ein Teil der Gäste Frau Giselas nebenher innigste Beziehungen zu Verbrecherkreisen pflegte, längst dahingeschwunden.

Gestermär fand die Bibliothek nebenan, einen langgestreckten Saal, völlig leer, und benutzte nun die von hier in den Oberstock führende Wendeltreppe, um in die Privatgemächer der Hausherrin zu gelangen. Die Treppe mündete droben auf einen in völliger Dunkelheit daliegenden Flur, dessen eines Fenster zugleich die Tür zu einem der kleinen Balkons darstellte. Der schlanke Mann in dem tadellosen Smoking hatte schnell aus seiner Brusttasche ein schwarzes dünnes Seidentuch hervorgeholt und es vor der allzu verräterischen weißen Hemdbrust mit einer Gummischnur prall befestigt. Er stand nun, mit der Finsternis völlig in eins verschmelzend, regungslos vor der Flügeltür zu Frau von Rockners Schlafzimmer. Nur seine muskulösen, langen, schmalen Hände betasteten das Türschloß und schoben lautlos eine Dietrich hinein, den er nach dem letzten mißglückten Versuch, das Kunstschloß zu öffnen, recht mühsam selbst nach einem Wachsabdruck zurechtgefeilt hatte.

Ein kalter Lufthauch, der von der Balkontür sein Gesicht streifte, veranlaßte ihn, sich erst einmal zu vergewissern, ob jene Tür etwa offenstünde. Er fand sie nur angelehnt vor, und der feine Schneestaub des draußen herabwirbelnden Wintergestöbers hatte den Flurläufer bereits keilförmig durch die fingerbreite Türspalte weiß überpudert. Gestermär als alter Jäger und äußerst praktisch veranlagt und geistig noch rühriger Mensch wurde mißtrauisch. Eine Nachlässigkeit der zahlreichen Dienerschaft konnte doch wohl hier kaum vorliegen. Er nahm seine Taschenlampe, beleuchtete für Sekunden die Tür und trat mit verkniffenen Lippen wieder zurück. Er hatte gesehen, daß zwischen Tür und Schwelle ein flaches Holzstückchen festgeklemmt war. Einbrecher hatten sich so eine ungehinderte Rückzugslinie geschaffen. –

Gestermär lächelte sarkastisch. Im Grunde war er ja nichts anderes als ein Kollege dieser oder dieses Eindringlings. Wer ihm vor Monaten prophezeit hätte, er, Bodo Graf Gestermär, würde einmal so dunkle, unerlaubte Wege wandeln, den hätte er ausgelacht. Aber das Leben hätte ihm – wenigstens sein Leben – längst lehren müssen, daß auf dieser Welt nichts unmöglich ist, gar nichts‥!

Er legte nun die Hand fest um den Türdrücker, und auch diese seine Vermutung traf zu: Der Türflügel öffnete sich, und Gestermär hatte einen Dietrich nicht mehr nötig, sah allerdings sofort auch, daß er zunächst den ihm hier sehr unliebsamen Kollegen, der dort vor dem in die Wand halb eingelassenen modernen Tresor stand, nötigenfalls gewaltsam entfernen müsse, obwohl er dem Einbrecher eigentlich zu Dank verpflichtet war, da der Mann auch den Tresor bereits bezwungen hatte. Dessen Tür stand weit offen.

Der Einbrecher war ein buckliger Kerl, trug einen dunklen, schneefeuchten Wollsweater, eine Schiffermütze, unter der brandrote Haarbüschel hervorquollen, hatte einen roten, ungepflegten Vollbart und eine blaurote dicke Nase. Neben ihm lag ein geöffneter Rucksack mit allerlei Werkzeugen.

Der Mann blätterte in den Geschäftsbüchern, kramte in Kästen und Schatullen und steckte dann blitzschnell etwas in die Beinkleidtasche, drehte sich, nachdem er den Tresor geschlossen hatte, langsam um und blickte in eine Pistolenmündung, die genau auf seine Stirn gerichtet war.

Bodo Gestermär wollte sicher gehen. Man konnte ja nie wissen, ob diese Sorte Kollege nicht irgendwie zu Torheiten sich hinreißen ließ. Aber er senkte die Waffe sehr bald, denn der Genosse lachte so unverhohlen amüsiert, daß der Dilettant Gestermär etwas die Fassung verlor.

„Herr Jraf,“ sagte der schäbige Rothaarige dann mit einer verblüffend hohen Fistelstimme, „ich habe Sie schon letztens hier bei Ihren Versuchen, mir Konkurrenz zu machen, beobachtet. Ich stehe ganz zu Diensten. Wir sind ja Kollegen, nur daß Sie offenbar auf andere Dinge aus sind als ich. Ihr Schießeisen steckten Sie ruhig ein… Wir sind nämlich unserer drei, und der Brillen-Meier haut eine Handschrift in Blaugrün mit Zahnlockerung, die die richtige Keilschrift – ‚Keil-Schrift‛ – ist… – Er steht neben Ihnen, erschrecken Sie nicht. Und was den Dritten betrifft, den kennen Sie schon von Ihrem Kutter her, Herr Jraf…“

Gestermär warf nur einen einzigen Blick zur Seite. Hinter dem Kaminschirm stand da allerdings noch ein Kerl ähnlichen Kalibers, aber der ließ ihn vollkommen kalt. Nur der allerletzte Satz des Buckligen hatte ihn nicht gerade erstreckt, aber derart verblüfft, daß ihm ungewollt die Frage entschlüpfte: „Woher kennen Sie denn die junge Dame?!“

Der andere grinste, wobei sich der linke Mundwinkel infolge einer zackigen Narbe besonders stark emporzog.

„Darüber darf ich Ihnen als Kavalier keine Auskunft erteilen,“ erwiderte er geradezu stolz. „Und wenn Sie mir selbst tausend Mark anbieten würden!“ fügte er hinzu. „Ich weiß nämlich, daß Sie keine tausend Mark besitzen, Herr Jraf. Unsereiner erkundigt sich doch immer rechtzeitig nach den Verhältnissen eines Konkurrenten. Ich bin Ihnen eben letztens nachgeschlichen, als der feine Rummel hier im Haus beendet war und Sie mit Ihrem Freund Grün – wie kann ein erwachsener Mensch nur gerade Grün und mit Vornamen August heißen!! – nach dessen Junggesellenwohnung pilgerten.“

Es lag so viel trockener Humor in des Einbrechers ehrlichem Geständnis, daß Gestermär lächeln mußte.

„Na, da haben Sie aber so allerhand riskiert!“ meinte er kopfschüttelnd. „Der Gustl Grün ist immerhin Kriminalkommissar und somit von Berufs wegen Ihr Gegner.“

„Und was für einer!!“ Unendliche Verachtung ließ die hohen Fistelstimme zum Baß herabsinken. „Ja – was für einer!! Wenn man dem Schädel von dem Gustl mit einem Stahlbohrer einer Abflußöffnung beibringt, fließt nur Schlamm heraus, milde ausgedrückt.“

Bodo Gestermär war abermals infolge der durchaus zutreffenden Charakteristik seines ‚Freundes‛ Grün mehr als verdutzt. –

Dieser Gauner hatte fraglos den großen Vorzug einer unverfrorenen Aufrichtigkeit.

„Mann, Sie gefallen mir,“ sagte Gestermär genau so ehrlich, jedoch merklich zerstreut. Seine Gedanken galten hauptsächlich der jungen Dame und den Dingen, die er in dem Geldschrank vermutete. „Sie äußerten vorhin, daß Sie mir gern zu Diensten sein wollten. Öffnen Sie mir bitte nochmals den Tresor. Ich will lediglich nach ganz wertlosen –“ – er überlegte und entschied sich für den Ausdruck ‚Andenken‛ –„… wertlosen Andenken suchen.“

Der Einbrecher kniff das eine Auge pfiffig zu.

„He – nach roten Pantöffelchen?!“

Diesmal war Gestermär kaum mehr erstaunt über des seltsamen Rotkopfes verblüffende Kenntnis der geheimnisvollen Umstände eines nunmehr fast vier Monate zurückliegenden nächtlichen Abenteuers.

„Ja, es handelt sich um rote Pantöffelchen,“ gestand er widerwillig.

Aber der Gauner schüttelte energisch den Kopf. „Die werden Sie umsonst suchen, Herr Jraf. Ik rate Ihnen auch, sich hier nicht länger der Gefahr auszusetzen, von irgend jemandem abjefaßt zu werden. Unser Geschäft hier ist jedenfalls erledigt. Wenn es Ihnen recht ist, treffen wir uns nachher ganz hinten im Park in der Blockhütte. Ihren Freund Grün werden Sie ja abschütteln können…“ Er gab ihm noch nähere Anweisungen, wie er die Blockhütte am bequemsten erreichen könnte, ohne verräterische Spuren im Schnee zu hinterlassen, und Gestermär stimmte bereitwilligst zu. Er sah ein, daß ein längeres Verhandeln mit den Einbrechern hier in Frau Rockners Schlafzimmer doch zu gewagt sei.

Nur einen Punkt wollte er noch aufklären. „Wird die junge Dame mit dabei sein?“ fragte er sehr gespannt.

„Die junge Dame?!“ echote der Rotfuchs kopfschlackernd. „Ach so, Sie meinen, weil ich vorhin andeutete, wir wären unserer drei. Nein, Herr Jraf, da haben Sie mich mißverstanden. Wenn ich wüßte, wo die Dame steckt, würde ich Ihnen von mir aus gern tausend Mark zahlen. Soviel ist das Preisrätsel mindestens wert.“

Er sagte das in so feierlichem Ton, daß Gestermär nun wieder vollkommen verwirrt wurde. Aber die beiden fragwürdigen Kollegen, auch der hinter dem Kaminschirm, hatten es mit einem Mal sehr eilig und verabschiedeten sich mit knappsten Worten. Der Rotfuchs packte sein Schränkzeug zusammen, schulterte den Rucksack, ließ Gestermär in den Flur eintreten, verschloß die Schlafzimmertür mit einem eigentümlichen Dietrich, winkte dem Herrn der einsamen Insel nochmals zu und verschwand mit seinem Gefährten über den Balkon in den Park.

 

 

3. Kapitel

Um ein Brillantarmband.

Inzwischen hatte unten im Musiksalon die durch Zeitungsreklame zur gefeierten Diva emporbelobte Opernsängerin unter ganz verzücktem Schweigen einer Musikverständnis heuchelnden Zuhörerschaft sich zu einer weiteren Zugabe gern bereit erklärt und erfüllte nun den diskret abgedämpften Raum mit dem zotigen Text und den kreischenden Dissonanzen eines Machwerks von Komposition, die lediglich als gröbste Geschmacksverirrung gelten konnte.

Frau Gisela von Rockner fand dabei Gelegenheit, ihre Intimsten heimlich in ihr Allerheiligstes zu beordern. In dem sogenannten Arbeitszimmer der vielbeschäftigten, äußerlich so vornehmen Frau erschienen nacheinander Kommissar Gustl Grün, Baron von Kitzeritz und der Direktor der städtischen Anstalt ‚Sanitas‛, Doktor honoris causa Emil Knepke.

Die Beratung wurde trotz der gepolsterten Türen in allervorsichtigstem Flüsterton geführt, und eine vielverheißende Mitteilung des mehrfach vorbestraften Herrn von Kitzeritz, der wie alle Hochstapler äußerst feudal und äußerst harmlos ausschaute und geradezu kindlich-naiv blaue Augen besaß, bewirkte sofort, daß die anfänglich etwas gedrückte Stimmung völlig umschlug und daß man sich gegenseitig mit wärmsten Händedrücken zu diesem Erfolg gratulierte. Man traf dann noch allerlei Vorbereitungen, die in noch behutsamerem Ton erörtert wurden, und begab sich wieder in den Musiksalon.

Kaum hatten die vier Verschworenen das stilvolle Arbeitszimmer verlassen, als hinter einem Ecksofa ein greller Lichtkegel hervorblitzte, und ein Mann, der dem Rotfuchs aufs Haar glich, sich langsam aus seinem Versteck hervorschob, sich aufrichtete, leise die anstoßende Bibliothek betrat und die Wendeltreppe emporhuschte. Droben im Flur horchte er einige Zeit an der Schlafzimmertür, bückte sich auch, schaute durch das Schlüsselloch und entfernte sich nicht etwa über den Balkon, sondern nahm seinen Weg durch den unbewohnten Flügel der großen Villa, der noch heute genau in denselben Zustand erhalten geblieben wie zur Zeit des Ablebens des Generaldirektors und Großindustriellen Geheimrats Alexander von Rockner.

Frau Gisela hatte pietätvollst, wie sie nun einmal war, nicht das geringste in diesen Räumen ihres heißgeliebten Gatten verändert. So erzählte man sich wenigstens in ihren Bekanntenkreisen, und wenn man darüber tuschelte, lächelte man allseits verständnisvoll-niederträchtig.

Der Rotfuchs gelangte über verstaubte Flure und Treppen zu einem Seitenausgang, schloß auf, trat in das winterliche Schneegestöber hinaus und schritt eilends dem entfernten Winkel des Riesenparkes zu, der, für diesen westlichen Vororte Berlins eine Sehenswürdigkeit, ein ganzes Straßenquadrat einnahm. Er erreichte die unter Schneemassen halb begrabene Blockhütte, in der einst der Parkwächter gewohnt hatte, öffnete die schwere Tür, stellte seine Laterne in dem behaglich warmen Wohnstübchen auf den Tisch und entzündete eine Petroleumlampe, rieb sich dann die frosterstarrten Hände, bürstete den Schnee von seinem Sweater und setzte den auf dem eisernen Ofen leise summenden Wasserkessel neben Teekanne, Rumflasche und Zuckerdose auf dem ovalen Tisch vor dem altehrwürdigen Ripssofa[1] auf eine Asbestunterlage.

Nachdenklich starrte er vor sich hin, strich sich tief in Gedanken den fuchsigen Bart und blickte bekümmert auf eine große gerahmte Kreidezeichnung, die einem älteren Herrn mit Spitzbart und intelligenten, ernsten Zügen darstellte. Von dem Bild wanderten seine trüben entzündeten Augen hinüber zu den dicht verhängten und von außen noch durch Laden verschlossenen Fenstern. Er hatte alles getan, was der freundliche Unbekannte angeordnet hatte, der ihm vor Wochen zur Flucht aus der Anstalt verholfen und für ihn auch ein sicheres Unterkommen besorgt hatte. Daß der Herr bei alledem nicht ganz selbstlos gewesen war, hatte sich allerdings sehr bald gezeigt. Trotzdem wäre Robert Wernicke für diesen Mann blindlings durchs Feuer gegangen, und auch in dieser Nacht hatte er die erhaltenen Befehle in gläubigstem Vertrauen auf die Gerechtigkeit der Sache, für die er nur mitkämpfte, wortwörtlich ausgeführt.

Ein leises Pochen an dem einen Fensterladen entriß ihn seinen Grübeleien, er ging eilends in den kleinen Flur und schob die Türriegel zurück.

Wir traten ein, schüttelten den Schnee von Hüten und Mänteln und machten es uns dann auf dem Sofa behaglich. Wernicke sorgte für einen steifen Grog, blieb stumm wie ein Fisch und musterte uns nur immer wieder mit fragenden, verwunderten Blicken.

Schließlich konnte er doch nicht mehr an sich halten.

„Herr Harst, waren Sie im Schlafzimmer? Als ich auf dem Rückweg an der Tür vorüberkam, schaute ich durch das Schlüsselloch, konnte aber nur den Rücken des Grafen und einen Teil des Kopfes eines zweiten Mannes erkennen, der mir aufs Haar glich…“

Mein Freund, der genau wie ich einen soliden winterlichen Sportanzug trug, nickte unserem heimlichen Gast und treuen Verbündeten freundlich zu. „Das stimmt, Wernicke. Ich glich Ihnen von der roten Perücke bis zu den derben Stiefeln. Wenn nachher der Graf erscheint, bleiben Sie möglichst stumm und lassen mich reden. Dieser Gestermär wird wohl nur durch List sich die volle Wahrheit entlocken lassen.“

Wernicke trank einen langen Schluck.

„Eine tolle Geschichte!“ murmelte er dann mißvergnügt. „Wo ist da Anfang und Ende, Herr Harst?!“

„Oh, sagen Sie das nicht,“ tröstete Harald ihn aufmunternd und knipste sein Zigarettenetui auf. „Der Anfang ist vorhanden, wir sind sogar schon bis zur Mitte vorgedrungen, und – – das Ende?! Wir finden er schon, dann ist der Ring geschlossen, oder das Netz, oder die Falle, wie Sie es nennen wollen. Die heutige Nacht hat uns einen ganz bedeutenden Schritt vorwärts gebracht. Gestermär ist auf meine Anzapfung hereingefallen und hat zugegeben, daß eine junge Dame oder Frau mit im Spiel ist, die er selbst nicht kennt und von deren Verbleib er nichts weiß. Sie muß ihm irgendwie und irgendwo das bewußte Etwas,“ – er lächelte dabei halb gerührt – „übergeben haben…“

„Auch das ‚Etwas‛ hilft uns nicht weiter,“ murmelte Wernicke zweifelnd.

Harst rauchte bedächtig.

„Kein Baum fällt auf die ersten Hieb, und erst recht kein Giftbaum … wie dieser! Schraut und ich sind sehr geduldige, bescheidene Leute. – Was haben Sie erlauscht, Wernicke?“

Der einstige Parkwächter und Gärtner trank einen Schluck Grog und wischte sich den roten Bart trocken.

„Nicht viel, Herr Harst… Die Bande flüsterte zu leise. Nur der Kitzeritz näselte so einiges über den Grafen.“

Harald beugte sich schnell über den Tisch.

„Was?“ fragte er ebenso gespannt wie beunruhigt.

„Alles verstand ich nicht… Aber mir scheint, sie trauen ihm nicht mehr.“

Harst preßte die Lippen zusammen.

„So?! Woraus entnehmen Sie das, Wernicke?“

„Weil der Kitzeritz den Jochem Pösel gesehen hat.“

„Also wiedererkannt hat?“

„Ja… – Jochems Schnut ist zu eigenartig.“

„Das stimmt,“ nickte Harst. „Eine böse Geschichte, fürchte ich…“

Er streichelte nachdenklich seine messerscharfe Hakennase.

„Wernicke, trinken Sie schleunigst Ihren Grog aus und verschwinden Sie,“ entschied er dann. „Ihnen droht Gefahr, und uns mit… Also – – Abmarsch, Wernicke!“

Nachdem der Rotfuchs noch einige Anweisungen betreffs Jochem Pösel erhalten hatte und dann gegangen war und Harst die Tür wieder verriegelt hatte, meinte er, indem er Wernickes Tasse ausspülte und in den Schrank stellte:

„Mein lieber Alter, ich bleibe mit dir absichtlich hier… Mag die Sache irgendwie zum Klappen kommen. Wenn die Verschworenen Gestermär nachschleichen, kann es hier eine höchst interessante Aussprache geben. Und sie werden dem Grafen folgen. Allerdings fragt es sich, ob er bei dem Schneetreiben genau zu beobachten ist. Vielleicht entschlüpft er ihnen.“

„Und wir?!“ meinte ich etwas befangen. „Bei der Suche nach Gestermär kann man uns hier entdecken, und…“

Ich verstummte jäh.

Es klopfte, – nein, – es donnerte gegen die Fensterläden und die Tür.

Harald zog die Augenbrauen ganz hoch.

„Schraut, – – oberfaul!! Schrautchen, das sind Polizeifäuste! – Öffnen wir.“

Eine weiß beschneite Menschenwoge quoll in den Flur. Voran Gustl Grün, etwas fett, etwas kurzatmig vom guten Leben und von dem ‚bescheidenen‛ Festessen seine Chefs. Hinter ihm her Kriminalbeamte, der Baron und der Doktor h.c. und Direktor Emil Knepke.

Als Gustl uns erkannte, blieb er stehen. Sein schwammiges Gesicht verfärbte sich.

Sie hier‥?!“ keuchte er heiser.

Harald war die Liebenswürdigkeit selbst.

„Ich muß vielmals um Verzeihung bitten, daß wir hier, als uns das Unwetter überraschte, Unterschlupf suchten. Die nahe Parkgittertür war offen, ebenso hier die Haustür, und wir erlaubten uns, den Ofen zu heizen und unsere erstarrten Glieder zu wärmen…“

Gustl Grün kaute die etwas wulstige Unterlippe.

„Sind Sie allein hier?“

Harald spielte den Erstaunten.

„Natürlich!“

Gustl Grün hatte die in die Stube führende Tür geöffnet und mißtrauisch hineingespäht.

Er gab seinen Leuten einen Wink. „Durchsucht das Haus!“ – und zu uns gewandt – „Ich habe mit Ihnen zu sprechen, Herr Harst… Bitte!!“

Sehr hoheitsvoll deutete er auf die Tür. „Treten Sie ein!“

Er blähte sich förmlich auf vor Amtswürde. „Setzen Sie sich! – – So … Kitzeritz, schließen Sie die Tür!“

Der Sekretär Dr. h.c. Emil Knepke kicherte schadenfroh. „Mir bereitet dieser Fang viel Vergnügen.“

Aber ihn verging das Kichern, als mein Freund ihn von den spiegelblanken Lackschuhen bis hinauf zur ebenso spiegelblanken Glatze mit einem geradezu eisig-vernichtenden Blick musterte und dann fragte:

„Man hat mir anonym nahegelegt, mich um ein gewisses Konto Emilio Carlo Knepke bei einer Bank in Genf zu kümmern. Ich gebe jedoch nichts auf Denunziationen…“

Knepke schnappte nach Luft. Aber das ‚Unerhört!‛ klang so kleinlaut, daß Baron Hello von Kitzeritz schadenfroh feixte und Gustl Grün verlegen zur Seite schaute.

„Oh, – – Sie hassen mich!“ ermannte sich Knepke dann zu einer wirkungsvolleren Verteidigung.

Harst kann, wenn er will, unglaublich hochmütig dreinschauen. „Hassen?! Ich – – Sie?! Nein, Herr Knepke, Haß setzt stets eine gewisse – ich betone, eine gewisse Gleichwertigkeit der Charaktere voraus. Wo diese gewisse Gleichwertigkeit fehlt, tritt an die Stelle von Haß tiefste Verachtung. Hierfür besitzen allerdings nur Leute das nötige feine Unterscheidungsvermögen, die sowohl im privaten wie im öffentlichen Leben die jedem Menschen anhaftende Selbstsucht bis auf jenes Maß herabschrauben, das sie … vor dem Strafrichter bewahrt.“

Knepke glotzke Harst aus weit aufgerissenen Augen heimtückisch forschend und giftig an. „Ich habe den Strafrichter nicht zu fürchten!“ sprudelte er hervor.

Der Baron feixte noch eindeutiger.

Harst sagte eisig: „Noch nicht, – – noch nicht, – – hoffentlich! Aber lassen Sie diese zwecklosen Erörterungen, ich werde Sie nicht ändern, höchstens wird sich vieles ändern. Sie sprachen vorhin davon, daß dieser ‚Fang‛ Ihnen Vergnügen bereite. Ihr Freund Grün ist sicherlich in der Lage, darüber Auskunft zu geben.“

Ernstl Grün hustete anhaltend. Er überlegte sich seine Antwort sehr gründlich.

„Knepke hat Unsinn geredet,“ meinte er dann sehr behutsam. „Von einem Fang habe ich nichts erwähnt. Wir suchen jemanden, der heute bei Frau von Rockner ein Diamantenarmband gestohlen und dann vorzeitig unter einem Vorwand die Villa verlassen hat. Zum Glück wurde der Diebstahl schon vorher entdeckt, und ich beorderte einige Kriminalbeamte hierher. Das wäre alles, Herr Harst,“ schloß Herr Grün seine vielsagenden Erklärungen.

Mein Freund, der in seiner Sofaecke bedächtig zugehört hatte, fragte mit verfänglicher Liebenswürdigkeit: „Dürfte ich erfahren, wer der in Verdacht Geratene ist?!“ –

Er vermied den Ausdruck ‚Dieb‛. Wir kannten ja Robert Wernickes tragische Geschichte, und daß hier Graf Bodo Gestermär in ähnlicher Weise abgetan werden sollte, war mir vollkommen klar. Harald erst recht. Nachdem die Verschworenen Jochem Pösel als den älteren Fischer aus dem Kutter erkannt hatten, wußten sie natürlich auch, weshalb sich Gestermär durch Gustl Grün bei Frau von Rockner hatte einführen lassen.

Grün zauderte auffällig mit der Antwort. Sein unsicherer Blick tastete förmlich Harsts Gesicht ab. Er mochte ahnen, daß unsere Anwesenheit hier andere Ursachen und Gründe hatte, und er fühlte sich beklommen, weil er meinen Freund als Gegner fürchtete. Dann sagte er mit ölig-schleimiger Liebenswürdigkeit: „Oh, Ihnen darf ich es wohl verraten, Herr Harst, Sie kennen den Herrn wohl kaum, er ist ein heruntergekommener Schulfreund von mir, ein gewisser Gestermär…“

Harald schüttelte leicht den Kopf. „Gestermär?! Gestermär?! – Warten Sie, mein Gedächtnis läßt mich im Stich… Halt, nun habe ich es… Einem Grafen Bodo Gestermär gehört eine Insel unweit der Südspitze von Rügen. Ich war unlängst einer anderen Sache wegen in dieser Gegend, und dabei kam ich auch nach dem Inselchen, fuhr jedoch sofort wieder weiter…“

„Welcher Sache wegen?“ fragte Grün allzu interessiert.

Harst zuckte die Achseln. „Die Geschichte kennen Sie ja… Sie stand in allen Zeitungen. Im Dorf Gester gegenüber der Insel Gestermär wohnte als Sommergast eine geheimnisvolle Frau, die urplötzlich verschwand, offenbar nachts in einem Boot davongerudert war. Das Boot wurde von einem Sturm leer an Land getrieben. Die Polizei in Stralsund stellte Ermittlungen an, und diese ergaben, daß die Unbekannte und nun zweifellos Ertrunkene ihren Wirtsleuten einen falschen Namen genannt hatte. Niemand wußte, wer sie gewesen, und da der Fall einige merkwürdige Einzelheiten aufwies, begab ich mich nach Gester, konnte jedoch nichts ausrichten.“

„Gar nichts?“ forschte Grün gespannt.

„Nein. Ich habe die Sache auch längst beiseite gelegt. Nun erinnerte mich der Name Gestermär wieder daran. Halten Sie diesen Grafen für einen berufsmäßigen Dieb und Hochstapler, der etwa aus Armut vom Pfad der Tugend abgewichen ist?“

„Unbedingt – – unbedingt!“ erklärte Grün eifrigst. „Ein Jammer, daß er uns entwischt ist… Aber seinen Helfershelfer werden wir bestimmt abfassen, einem gewissen Jochem Pösel… – – Hallo, was ist denn geschehen?!“

Die Tür zum Flur war aufgeflogen. Auf der Schwelle stand im langen bescheidenen Pelzmantel Frau Gisela von Rockner. Ihre bleichen Wangen zuckten vor Erregung, ihre seltsam verstörten Augen überflogen die Stube und blieben schließlich auf Harst haften. Sie fuhr zusammen, ihre Lippen öffneten sich, schlossen sich wieder. Dann hatte sie sich erstaunlich schnell gefaßt und neigte grüßend den Kopf, obwohl weder Harst noch ich es für nötig befunden hatten, uns bei ihrem Eintritt aus unseren Sofaecken zu erheben.

„Herr Harst, wenn ich mich nicht irre…“ sagte sie scheinbar erfreut. „Das erleichtert mir vieles… Sie werden mir helfen, Herr Harst, so hoffe ich.“

Mit größter Ruhe zog sie die Tür hinter sich zu und trat näher an den Tisch heran. „Kommissar Grün dürfte Ihnen bereits mitgeteilt haben, daß ich bestohlen worden bin. Wer hätte diesem Gestermär zugetraut, daß er Brilliantarmbänder verschwinden läßt?!“

„Allerdings, eine sehr bedauerliche Entgleisung,“ meinte Harst doppeldeutig, jedoch nur für mich verständlich. Trotzdem griff der Kommissar nun schleunigst ein. Er mochte fürchten, daß Frau Gisela sich eine Blöße gäbe.

Für mich stand es fest, daß Frau von Rockner inzwischen herausgefunden hatte, was aus dem Tresor verschwunden war.

 

 

4. Kapitel

Herr Grün verfärbt sich.

Kommissar Grün hatte mit scharfer Betonung erklärt:

„Gestermär muß der Dieb sein. Unsere verehrte Freundin hatte das Armband vor den Musikvorträgen im Salon auf ein Tischchen gelegt, weil das Schloß nicht mehr hielt. Nachher war das Schmuckstück verschwunden, und Gestermär verabschiedete sich eiligst als erster und floh vor meinen Beamten, die ihn im Park stellen wollten. Mir genügen die Beweise.“

„Mir auch!“ sagte Harst doppelsinnig wie zuvor. „Ich werde helfen, verlassen Sie sich darauf, gnädige Frau.“ –

Wem er helfen wollte, die Frage ließ er offen.

Frau von Rockner hatte derweil ebenfalls Platz genommen. Der Baron von Kitzeritz, der schon verschiedentlich Pech gehabt hatte, weil seine geschäftlichen Transaktionen nicht ganz den Beifall der Strafkammer gefunden hatten, war in diesem erlesenen Vierklee trotzdem mit das interessanteste Blatt. Ich wußte nicht recht, wie ich seine offenkundige Schadenfreunde über Direktor Knepkes böse Abfuhr deuten sollte.

Grüns Beamte traten ein. Sie hatten nichts gefunden, und der Kommissar schickte sie mißvergnügt nach Hause. Das Gespräch streifte nochmals Jochem Pösel und dann schlief die Unterhaltung allmählich ein.

Harst tat nichts, diese lähmende Stille zu unterbrechen. Er qualmte eine Zigarette, blickte zur verräucherten Balkendecke empor und spielte den Unbeteiligten, der getrost abwarten kann.

Gisela von Rockner mit ihrem weißen Haar und immer noch anziehendem Gesicht mochte an die roten Pantöffelchen denken. Diese Dame der großen Welt kämpfte mit ihren Verbündeten für eine sehr faule Sache, aber – – wofür?! Sie war reich, sogar sehr reich. Ich konnte nicht annehmen, daß es bei alledem um Geld ging. Auch Harst hatte diese Vermutung abgelehnt. Und doch: Worum handelt es sich sonst wohl?! Wir kannten ja die mysteriöse Vorgeschichte. Meines Freundes Reisen nach Rügen hatten alle Einzelheiten enthüllt.

Rote Pantöffelchen‥!!

Ich hatte sie gesehen. Sie waren eigentlich sehr elegante, wenn auch abgenutzte rote Morgenschuhchen einer erwachsenen Frau, – feinstes Leder, nach türkischer Art mit Goldstickerei versehen, mit großen roten Pon-Pons, ganz flache Absätze, und sie entstammten einer verflossenen Modeepoche.

Weshalb, grübelte ich weiter, hatten die Verschworenen den alten Rotfuchs Wernicke in der Nervenheilanstalt mundtot gemacht, als er so unklug gewesen, auch nur den Anschein zu erwecken, er wüßte etwas über diese Pantöffelchen?!

Dann räusperte sich Gustl Grün sehr laut. „Herr Harst, Sie versprachen zu helfen, und wir sitzen hier völlig untätig,“ mahnte er.

„Untätig?! Der Herr Direktor Knepke sprach von einem ‚Fang‛, und meinte uns damit, Schraut und mich. Ich zermartere mir den Kopf, ob Schraut und ich etwas verübt haben könnten, das den Ausdruck ‚Fang‛ rechtfertigt.“ Er lächelte dabei, und der arme Knepke schnellte empor und rief zitternd vor ohnmächtiger Wut: „Sie beide haben wahrscheinlich den Wer…“

„Knepke!!“ Die Stimme der weißhaarigen Frau ließ den kleinen Direktor eingeschüchtert auf seinen Stuhl zurücksinken.

Immerhin: Nun wußten wir wenigstens, daß Knepke sofort eine Ideeverbindung zwischen Wernickes auch in der Presse erörterten Flucht ‚mit Hilfe von außen‛ und uns hergestellt hatte.

Harald sagte sehr anzüglich: „Denken Sie an den anonymen Brief, den ich über Ihre ‚Verdienste‛ erhielt und über Ihre Verbindung mit Schweizer Banken. Ich bestehe darauf,“ wandte er sich an Grün, „daß Herr Knepke hier sofort eindeutig erklärt, was er uns vorzuwerfen hat.“

– Man vergegenwärtigte sich hierzu folgendes, und ich muß darauf hinweisen, denn eine Detektiverzählung darf nicht auf eine straffe Charakteristik der handelnden Personen verzichten.

Da war Gisela von Rockner, Witwe eines der bekanntesten Großindustriellen Deutschlands, tonangebende große Dame in den ‚Oberen Zehntausend‛ von Berlin, Millionärin, geistvolle Förderin aller modernen Frauenfragen, wie der überspitzte Intellekt dieser volksfremden Kosmopoliten sie auffaßte.

Da war ein Mann vom Schlage August Gustav Siegfried Grüns, ein allzeit willfähriges Instrument seiner hohen und höchsten Vorgesetzten, ein Spieler, Schürzenjäger und Börsenspekulant… Und da saßen schließlich noch Herr Knepke und der vorbestrafte Baron, die bereits genügend gekennzeichnet sind, wobei nur noch über Hello von Kitzeritz zu bemerken wäre, daß seine Vorstrafen in diesem Kreis und in der Öffentlichkeit durch eine rückgratlose Presse zu infamen Intrigen persönlicher Gegner frisiert worden waren…

So sah dieses Vierklee aus!

Und dieses Vierklee zeigte nun gleichmäßig alle unverkennbaren Merkmale einer angstvollen Verlegenheit. Natürlich wußten sie alle vier, was Knepke uns hatte vorwerfen wollen: Beihilfe zur Befreiung eines angeblich – gemeingefährlichen –Geisteskranken‥!

Immerhin, – einer fand einen rettenden Ausweg: Der noch immer rätselvoll grinsende elegante Kitzeritz!

„Was hilft es, – sagen wir Herrn Harst die Wahrheit. Wir hatten vorhin noch gerade über Sie in der Villa gesprochen, und Freund Knepke meinte, Sie könnten Robert Wernicke zur Flucht verholfen haben…“

Ich glaubte zunächst, ich hätte mich verhört. Diese Aufrichtigkeit des Barons war ja auch unbegreiflich. Anderseits stellte sie bei näherer Prüfung einen sehr feinen Schachzug dar.

„… Selbstredend haben wir drei diese unsinnige Vermutung energisch verworfen,“ fügte er mit dem harmlosen Kinderlächeln des gewiegten Hochstaplers hinzu…

Und Harst?! – –

Harst betrachtete diesen für den Völkerbund unbedingt geeigneten Diplomaten Kitzeritz mit ernsten, nachdenklichen Augen und erklärte dann ohne jede Empfindlichkeit in fast herzlichem Ton: „Oh das wäre sehr aufschlußreich, Herr Baron… Ich danke Ihnen. Überlegen wir nun, wie wir den Grafen Gestermär zur Herausgabe des Schmuckstücks veranlassen können. Ich schlage vor, Sie überlassen Schraut und mir das weitere. Ich habe bereits eine Idee, Sie gestatten, daß wir uns verabschieden… Es eilt…“

Kommissar Grün wurde urplötzlich sehr redselig… „Wissen Sie denn, wo Gestermär wohnt?“ fragte er den Erstaunten markierend. „Ich kann mir kein rechtes Bild von Ihrem Vorhaben machen, Herr Harst.“

„Natürlich nicht,“ meinte Harald und erhob sich. „Begleiten Sie uns also. Auf die hiesige Wohnung Gestermärs und Jochem Pösels kommt es nicht an. – Gnädige Frau, Sie entschuldigen uns also…“

Gleich darauf traten wir mit hochgeschlagenem Mantelkragen und tief in die Stirn gezogenen Mützen in das noch immer unvermindert heftig anhaltende Schneetreiben hinaus. Die Schneeflocken fielen so dicht, daß wir drei, obwohl wir im Gänsemarsch dicht hintereinander dahinschritten, uns oft genug aus den Augen verloren. Zuweilen stolperten wir über hohe Schneewehen, zuweilen traf uns der Sturm mit aller Macht, und wir mußten uns mühsam vorwärtsarbeiten.

Kommissar Grün fluchte und rief immer wieder Harsts Namen.

„Sie führen uns ja ausgerechnet über die offenen Rasenflächen!“ grollte er.

Er ging in der Mitte, und seine Vorwürfe waren berechtigt. Daß Harst wohl absichtlich im Kreis ging, merkte Gustl Grün zum Glück nicht. Einmal traf uns der Sturm von dieser Seite, dann wieder von hinten oder vorn, und schließlich machte Harald halt und erklärte kleinlaut: „Ich wollte den Weg zum Parktor abkürzen, nun habe ich mich verlaufen. Sie, Herr Grün, wissen wir ja besser Bescheid… Gehen Sie voran.“

Grüns Geduld war erschöpft. „Zum Teufel mit Ihrer Selbstherrlichkeit,“ fauchte er wütend. „Gut, ich werde vorangehen… Dort muß die Villa liegen!“

Er stapfte müde und fröstelnd an Harst vorüber und war urplötzlich verschwunden. Ich hörte noch einen halb erstickten Schrei, dann packte mich eine derbe Hand, und Harald zog mich mit sich im Trab nach links hinüber, und wir standen vor dem verschneiten riesigen Holzkasten, der eine der Marmorgruppen des Parkes bedeckte.

„Wo blieb Grün?“ fragte ich besorgt.

Harald lachte hart. „Er ist im leeren Bassin der großen Fontäne gut aufgehoben… – Verdienen diese Leute etwa Schonung?! Ich glaube kaum. – Hilf mir!“

Ich hatte ihm schon einmal geholfen, als wir vor etwa anderthalb Stunden den Holzkasten gelüftet hatten. Wir schlüpften hinein, Harsts Taschenlampe funkte auf, und unter den Sockel der ‚kämpfenden Zentauren‛ holte mein Freund aus dem von ihm vorbereiteten Erdloch unseren Rucksack hervor, der auch die roten Pantöffelchen aus Frau Giselas Tresor enthielt.

„Nach Hause nun!“ befahl er kurz.

Wir fanden eine Taxe, und als wir unser bescheidenes Heim im alten Westen Berlins in der Arnoldstraße betraten, kam uns Sonnenscheinchen entgegen.

„Endlich!“ sagte sie und atmete erleichtert auf. „Wernicke ist vor fünf Minuten mit zwei Personen eingetroffen, lieber Herr Harst. – Ihr Beruf ist schrecklich!“

„Kleine Inge,“ meinte Harald vorwurfsvoll, „Sie sollten längst im Bett liegen – und sollten auch nicht meinen Beruf schelten.“

Sonnenscheinchen öffnete die Tür zu unserem Allerweltsbüro. Der Kachelofen fauchte, der Sofatisch war gedeckt, die Teemaschine dampfte, und Ingeborg Menzel, die meinen Freunden und Lesern keine Fremden mehr ist, erklärte ganz stolz: „Sie haben mir meinen Vater zurückgegeben, lieber Herr Harst. Und da sollte ich nicht einmal für Sie ein paar Nachtstunden opfern?! Sieht der Imbiß dort nicht wirklich appetitlich aus?“

Harald drückte ihr zärtlich die Hand, schnürte den Rucksack auf und entnahm ihm die roten Morgenschuhchen.

„Inge, sehr bald dürfte hier die Polizei erscheinen und Haussuchung halten. Nehmen Sie diese roten gestickten Schuhchen und verbergen Sie sie an Ihrem Körper und – – schweigen Sie! Ich will Ihnen nun berichten, was für einer Bewandtnis es damit hat.“ –

Als Kommissar Grün um drei Uhr morgens mit zehn Beamten unser Häuschen überfiel und mit höhnischem Triumph verlangte, Harst sollte auch den Geldschrank öffnen, wurde sein Gesicht sehr bald lang und länger.

Wonach er suchte, sagte er nicht. Nur eins konnte er sich nicht verkneifen.

„Halten Sie mich für dumm?!“ grobste er uns an. „Sie haben mich in das Fontänenbassin gelockt, um Vorsprung zu gewinnen! Sie treiben hier ein ganz gefährliches Doppelspiel, Herr Harst!“

Als er dann nach einer vollen Stunde mit seinen Beamten wieder abzog, sprach er kein Wort. Harst geleitete ihn bis zur Haustür. „Herr Grün,“ sagte er nur, „Ihr Durchsuchungsbefehl stützte sich auf den Verdacht, wir hätten Wernicke befreit. Wernicke ist nicht hier. Hoffentlich finden Sie ihn auch nicht, denn in dem anonymen Brief, den ich über Knepkes Beziehungen erhielt, stand etwas, das ich mir nicht erklären konnte – – über rote Pantöffelchen, und der Schlußsatz lautete: ‚Wenn Sie diesen roten Schuhchen je begegnen, Herr Harst, werden Sie den gemeinsten Schurkenstreich enthüllen können, der je verübt wurde.‛ – So hieß es in dem anonymen Schreiben. Bisher gab ich nichts darauf, jetzt aber werde ich diesen roten Pantöffelchen nachspüren, Herr Grün.“

Ich sah, daß Grün sich verfärbte und dann die Tür krachend zuwarf.

Der anonyme Brief hatte nie existiert. Er war eine Erfindung Haralds.

 

 

5. Kapitel

Sifr – Leer, – ein neues Rätsel.

An den Hof unseres kleinen Grundstückes in der Arnoldstraße stößt die Rückseite der Schuppen, Ställe und Baulichkeiten einer verkrachten Möbeltransportfirma. Verwitterte Möbelwagen stehen dort. Niemand kümmert sich mehr um diese Stätte des Verfalls, die für uns einen sehr willkommenen Durchschlupf zur Parallelstraße darstellte.

Etwa um dieselbe Zeit, als Kommissar Grün bei uns mit seiner Eskorte aufgetaucht war, erschien im Schneegestöber des lang gestreckten Hofraumes dieser sanft entschlafenen Firma ein flinker Schatten und nahm mit größter Sicherheit seinen Weg zu einem der Schuppen, öffnete die nur eingeklinkte Tür und tastete sich behutsam zu einem Möbelwagen hin, der links in einer Ecke stand. Der Mann in dem kurzen Sportpelz und den derben Kniehosen, festen Stiefeln und Schnallengamaschen kannte sich auch hier sehr gut aus, pochte nun in bestimmtem Rhythmus gegen die Wagenwand und wartete, bis der am Wagenboden unten zwischen den Rädern angebrachte große Bilderkasten sich öffnete und im Schein einer Karbidlaternen ein struppiger, gebräunter Schädel mit kurzem, weißgrauem Schifferbart und einer rotblauen Knollennase von ungeheuren Dimensionen sichtbar wurde.

Jochem Pösel, den Rotbart Wernicke hierher geholt hatte, glotzte den Mann mit der langen schwarzen Seidenmaske vor dem Gesicht mißtrauisch an.

„Herr Harst?!“ knurrte er drohend…

„Im Gegenteil,“ flüsterte der Maskierte hastig. „Ich wollte Sie nur warmen… Grün wird auch dieses Grundstück durchsuchen lassen. Verhalten Sie sich ganz ruhig.“

„Zum Deibel, wer sind Sie?! Herr Schraut etwa‥?!“

Der Maskierte lachte.

„Nein, einer, der auch hinter den roten Pantöffelchen her ist … jedenfalls kein Feind. – Auf Wiedersehen. Sie sind nun gewarnt.“

Damit zog er sich eilends zurück.

Pösel kehrte durch die Falltür im Boden des Möbelwagens, die neu angelegt war, zu seinen beiden Gefährten zurück und erzählte seine kurze Begegnung mit dem Fremden.

Das Innere des dicken gepolsterten Wagens enthielt außer einem kleinen eisernen Ofen, ein paar Schemel, ein Tischchen, ein eisernes Klappbett mit Wolldecken und Kissen, Konservenbüchsen und Küchengerät. Die Seite nach dem Hinterende des Wagens hin, wo die großen Flügeltüren sich befanden, war durch Büromöbel und Kisten dicht verstellt und verbaut, und hinter dieser Kulisse von unauffälligen Dingen, die den Wagen bis zu den Türen vollgepropft erscheinen ließen, hingen mehrere große Wolldecken übereinander.

Von der Decke pendelte an einem Eisendraht eine größere Karbiblaterne herab und beleuchtete den Kopf des Rotfuchses Wernicke. Ihm gegenüber saß Graf Gestermär und rauchte nachdenklich eine Zigarre.

„Ein Maskierter?!“ meinte Wernicke beunruhigt.

Gestermär sagte leise: „Ich erzählte Ihnen bereits, Herr Wernicke, daß auch die blonde Frau im Ruderboot damals im Nebel andeutete, ein Maskierter habe sie noch rechtzeitig vor der Jacht gewarnt…“

„Ach so, – richtig!“ nickte Wernicke. „Seltsamerweise ist nämlich auch Herr Harst dem Mann einmal begegnet, als er sich nachts in der Villa Rockner umschaute…“

„Sprechen Sie leiser!“ warnte Gestermär. „Der Maskierte lügt nicht… Ich denke, wir löschen besser die Lampe aus und lüften noch schnell unseren Schlupfwinkel. Jochems Pfeifentabak ist auf Kilometer zu riechen.“

Kaum fünf Minuten später wurde es auf dem Hof sehr lebendig. Ein Dutzend Kriminalbeamte mit Handscheinwerfern durchsuchten alle Gebäude, und drei der Männer gelangten schließlich auch in den Schuppen und vor die Flügeltür des Möbelwagens, an der die Krampe vorgelegt und mit einem Vorlegeschloß gesichert war.

„Auch hier ist niemand,“ sagte der eine der Beamten ärgerlich. „Der Grün hetzt uns ganz zwecklos nachts aus den Betten‥!“

Und abermals geraume Zeit später huschten zwei Männer in den Schuppen, pochten gegen die Barackenwand und krochen dann etwas unbequem durch den Bilderkasten in den Schlupfwinkel der drei Flüchtlinge hinein.

Gestermär schüttelte uns herzlich die Hand.

„Herr Harst, Sie sind also erst auf meinen Brief hin nach Rügen gefahren… Übrigens war Ihre Maske vor dem Tresor der Frau von Rockner tadellos…“

Dann erzählte er uns alle Einzelheiten seiner Begegnung mit der blonden Frau in jener nebligen Nacht, erwähnte das ‚Bündel‛ jedoch nur ganz kurz.

„Die Frau war sehr erregt und sehr in Angst,“ betonte er. „Aus ihren wirren Reden war sehr schwer klug zu werden. Ich entnahm ihren Sätzen lediglich, daß für sie von ein paar roten Pantöffelchen, die sich im Besitz ihrer ‚Freundin‛ befänden, unendlich viel abhinge.

Harald lächelte Gestermär vielsagend zu. „Und das geheimnisvolle Bündelchen? Wollten Sie mir das vorenthalten?! – Herr Graf, es war ein Säugling, ein Knäblein… Auch das war nicht schwer herauszubringen. Das Kind haben Sie Jochem Pösels Enkelin in Pflege gegeben.“

Sein Lächeln erstarb wieder.

Sehr ernst ergänzte er: „Das Kind ist in Gefahr, wir müssen sofort Berlin verlassen. Ich habe bereits eine große Limousine bestellt, die uns alle nach Gester oder doch zumindest nach Stralsund bringt.“

Als wir dann in dem behaglich warmen Automobil Berlin verließen, hatte sich das Schneetreiben gelegt, und der Wintermorgen zog langsam herauf.

Kurz vor der Stadt Eberswalde überholte uns ein Motorradler mit einer sehr großen starken Maschine. Der vermummte Fahrer machte vor uns halt, sprang ab, befestigte blitzschnell an einem Chausseebaum einen Zettel mit zwei Reißzwecken und sauste weiter. Als Harald das Papier herabgenommen und im Wagen überflogen hatte, sagte er nur: „Der Maskierte war es. Doch seine Botschaft bleibt zum Teil unverständlich…“

Auf dem Zettel stand in Maschinenschrift:

Vorsicht in Stralsund! Beachten Sie

Sifr gleich Leer.

„Das geht weit über mein Verständnis hinaus,“ meinte Gestermär sehr ehrlich. „Was ist Sifr?!

„Ein arabisches Wort,“ erklärte Harald geistesabwesend. „Sifr bedeutet ‚leer‛…“

„Nun – – und?! Dieses ‚Leer‛ muß doch irgendwie zu unserem mysteriösen Fall in Verbindung stehen!“

„Zweifellos! Darüber grüble ich gerade nach… Stören Sie mich bitte nicht, – entschuldigen Sie schon!“

Als wir gegen zehn Uhr vormittags bei mattem Sonnenschein und zwölf Grad Kälte in Stralsund anlangten, war der Sund zwischen Pommern und Rügen zugefroren, und ein Kollege Pösels erklärte uns, daß die Eisdecke für Segelschlitten bis zur Insel Gestermär seit gestern durchaus tragfähig sei. Er selbst besaß einen solchen Segelschlitten primitivster Bauart, und da der Nordwestwind recht kräftig wehte, flog der von Jochem gesteuerte Schlitten auf seinen drei säbelförmigen Kufen unter dem Druck des großen Segels mit wahrer Eilzuggeschwindigkeit dahin. Wollene Decken, Stroh und Pelze schützten uns im Schlittenkasten vor der eisigen Kälte.

Drüben auf der Rügenseite waren die Eisverhältnisse weit besser, und wir durften hoffen, noch vor den Verschworenen das Dorf Gester zu erreichen und eine Entführung des Kindes – denn dies befürchtete Harald – zu verhindern.

Jochem Pösel steuerte vor dem Dorf in eine bewaldete Bucht hinein. Wir stiegen aus, und Harst, Gestermär und ich eilten zu Fuß dem Häuschen der Enkelin Jochem Pösels zu, die mit dem Dorfschmied Kröhnke verheiratet war.

 

 

6. Kapitel

Kitzeritz am Telephon.

Vor einer Stunde etwa, so teilte uns das verstörte Ehepaar dann mit, war ein Herr erschienen, der sich als Berliner Kriminalkommissar – den Namen hatten die Kröhnkes vergessen, aber es war nicht Gustl Grün gewesen – ausgewiesen, die Herausgabe des Knaben verlangt und das Kind sofort mitgenommen hatte.

Der Dorfschmied lieferte uns eine Beschreibung des Beamten, die weder auf Gustl Grün noch auf den vorbestraften Baron oder Direktor Knepke paßte. Der Herr hatte ein kleines, geschlossenes Auto benutzt, dessen Vorhänge zugezogen waren. Er hatte es selbst gesteuert und war sehr schnell davongefahren.

Frau Kröhnkes reichliche Tränen änderten leider nichts an der Tatsache, daß uns die Verschworenen auch hier zuvorgekommen waren.

Während wir noch im Wohnzimmer der Kröhnkes diese Dinge erörterten, fuhr draußen eine große elegante Limousine vor.

Harst sprang sofort auf.

„Herr Kröhnke, verbergen Sie uns drei irgendwo. Es ist Frau von Rockner. Die Sache liegt doch so, wie ich gleich annahm. Sagen Sie der Dame die Wahrheit, wer das Kind abgeholt hat.“

Hier in der Wohnstube stand ein riesiger alter Bauernschrank mit bunt bemalten Türen. Wir drei hatten gerade hinter den im Schrank hängenden Kleidern Platz gefunden, als auch schon Frau Gisela und Grün eintraten, und wir so jedes Wort der erregten Unterhaltung mit anhören konnten. Frau Kröhnke weinte wieder, und das, was sie schluchzend über den Raub des Knaben berichtete, trug so vollkommen den Stempel der Wahrheit, daß August Gustav Grün vor Enttäuschung und Wut sich zu der Bemerkung hinreißen ließ, nur Harst, der verdammte Harst, könne dieser falsche Kommissar gewesen sein…

„Kommen Sie, teuerste Freundin,“ das galt Frau von Rockner – „den Herrn werden wir sehr bald haben. Ich lasse telephonisch alle Wege sperren…“

Dann wurde es still, eine Tür knallte zu, und der Schmied Kröhnke öffnete den Kleiderschrank.

„Die Herrschaften sind davongefahren,“ meinte er bedrückt. „Wer war nun der Mann, der den Jungen mit sich nahm?!“

„Das … war der Maskierte,“ sagte Harald mit größter Bestimmtheit.

Gestermär schüttelte dazu den Kopf. „Aber Herr Harst, – der Maskierte?! Weshalb gerade der?! Der fuhr doch auf einem Motorrad.“

„Das wohl. Ein Auto ist schnell geliehen, bester Graf. – Herr Kröhnke, bitte fragen Sie doch mal im Dorfwirtshaus nach, ob dort nicht jemand ein Kleinauto untergestellt und ein Motorrad im Auto mit sich geführt hatte.“

Kröhnke war schon nach einer halben Stunde wieder zurück und meldete, daß Harald in allen Punkten das Richtige vermutet hatte. „Das Kleinauto wird von einer Stralsunder Verleihfirma abgeholt werden, und der betreffende Herr fuhr mit einem großen Rucksack davon, in dem wahrscheinlich unser Junge steckte…“

„Dann ist das namenlose Kind gut aufgehoben,“ meinte Harst sehr befriedigt und zog eine Karte von Rügen aus der Tasche. „Die nächste Station der Hauptlinie Altefähr-Saßnitz wäre Samters. Besorgen Sie uns einen Schlitten, Herr Kröhnke. Inzwischen holen wir unsere Koffer, und Jochem und Wernicke nehmen Sie bitte bei sich auf. Kommissar Grün wird uns im Schlitten nicht vermuten.“

Als wir drei kurz vor sieben Uhr abends in Samters anlangten – wir hatten uns äußerlich sehr verändert – begab sich Harald zunächst allein nach dem Bahnhof. Der D-Zug nach Saßnitz mußte in einer halben Stunde einlaufen, und als Harst uns holte, meldete er nur sehr einsilbig und gedankenvoll:

„Der Maskierte und das Kind weilen im Wartesaal. Der Mann mit dem dunklen Spitzbart und der Brille hat Fahrkarten bis Trelleborg gelöst.“

Trelleborg ist so etwa das reizloseste Hafennest, das ich kenne. Wer mit dem Trajekt nach Schweden übersetzt und hofft, sofort in Trelleborg eine nordische Landschaft vorzufinden, wird bitter enttäuscht. Die Küste ist flach, ohne größere Waldbestände, die Hafenstadt ist uralt und verschlafen, und nur nach Westen zu gibt es einige Berge mit kräftigen Baumbeständen…

Inmitten dieser Anhöhen liegt das verwitterte Stammschloß jener vielverzweigten adligen Familie Wrangel, von denen viele unter preußischen Fahnen gefochten haben. Der berühmteste ist ‚Papa Wrangel‛, der Feldmarschall aus dem Krieg mit Dänemark.

Wir hatten auf dem Trajekt den Maskierten vorsichtig gemieden, waren ihm dann in Trelleborg ebenso vorsichtig auf den Spuren geblieben und sahen ihn in einem Schlitten gen Westen davonfahren.

Es war eine bitter kalte, wolkige Nacht, als wir drei ohne größere Schwierigkeiten in das Wrangel-Schloß eindrangen und schließlich in einen Saal gelangten, neben dem das Arbeitszimmer des Schloßbesitzers, eines gelehrten Sonderlings, lag und hell erleuchtet war.

Leider war die Tür jedoch so dick, daß wir von dem Gespräch zwischen dem Maskierten und dem Grafen Elimar Wrangel nichts erlauschen konnten – gar nichts!

Der Saal war geheizt, in Kamin glühten dicke Buchenklötze und gaben genügend Licht, die Ahnenbilder an den Wänden und die alten Rüstungen und Waffen unklar erkennen zu lassen. Zwischen zwei der hohen Fenster hing an der Wand ein Telephon. Außerdem enthielt der Saal Bücherschränke, geschnitzte Truhen und einen langen, mit Zeitschriften und Zeitungen bedeckten Mitteltisch, dessen türkische Decke fast bis zum Parkettboden hinabreichte.

Während wir drei noch enttäuscht vor der dunklen Eichentür standen, jedoch nur Stimmengemurmel vernahmen, wurde plötzlich der bronzene Türdrücker herabgedrückten, und wir hatten gerade noch Zeit, unter den Mitteltisch zu flüchten.

Jemand trat ein und rief den Grafen Elimar noch, bevor er die Tür hinter sich schloß, zu:

„Es ist wirklich besser, Elimar, du hörtest das Telephongespräch nicht mit an… Die Geschichte kann dich in Teufels Küche bringen…“

Beim Klang dieser Stimme horchte ich auf. Das war so unverkennbar das etwas näselnde Organ des Barons Hello von Kitzeritz, daß ich Harald einen leichten Stoß versetzte. Auch Gestermär preßte vielsagend meinen Arm. Dann hatte Kitzeritz bereits den Hörer abgenommen und eine Nummer in Trelleborg verlangt. Er ahnte nicht, daß trotz seiner Vorsicht sein Gespräch belauscht wurde, das er in deutscher Sprache führte.

Hatte mich schon seine Stimme verblüfft, so tat es der Inhalt diese Unterredung noch weit mehr.

„Entschuldigen Sie die nächtliche Störung, gnädige Frau… Ich habe Ihnen jedoch etwas außerordentlich Wichtiges mitzuteilen. Meine Stimme kennen Sie. Meinen Namen muß ich auch jetzt noch verschweigen, ich bleibe für Sie vorläufig noch Herr Zeritz, in jedem Fall Ihr ehrlicher Freund…“

Pause… –

Was die Unbekannte antwortete, hörten wir nicht.

„Wie, – – Sie zweifeln plötzlich an meiner Aufrichtigkeit?!“ rief der Baron dann mit so unverkennbarer Bitterkeit, daß ich von diesem überlegenen, faden Hochstapler urplötzlich ein ganz anderes Bild erhielt.

„War ich es nicht, der Ihnen die erste geheime Nachricht über die gewissen Dinge gab?! Überlegen Sie sich: Hätten Sie je geahnt, daß Ihnen so ernste Gefahren drohten, wenn ich nicht gewesen wäre!“

Pause… –

Die Frau am anderen Ende des Drahtes erwiderte etwas, und Kitzeritz erklärte mit eindrucksvoller Feierlichkeit:

„Das Kind?! Habe ich Ihnen nicht wiederholt vorgehalten, daß ich nichts über den Verbleib des Knaben wüßte und Sie auch immer wieder durch meinen Freund bitten lasse, uns gegenüber vollkommen ehrlich zu sein?! Welche ungeheuere und überflüssige Mühe haben Sie mir dadurch schon bereitet, die zeitraubendsten und unverständlichsten Nachforschungen anzustellen!“

Pause… –

Offenbar verteidigte sich die Frau gegen diese Vorwürfe und mit Erfolg, denn der Baron erklärte nun mit einer so warmen Herzlichkeit, daß ich vollständig in seinem Charakterbild irre wurde.

„Das konnte ich bei Gott nicht ahnen, daß Sie den Namen des Kutterbesitzers nicht wüßten! Ich glaubte, Sie täuschten uns und heuchelten nur Ihre Angst und Sorge um Ihr Kind. Verzeihen Sie mir bitte. Der ganze Fall liegt ja so tragisch-geheimnisvoll, daß er wahrscheinlich nie geklärt werden dürfte. Aber eine freudige Botschaft kann ich Ihnen jetzt übermitteln: Ihr kleiner Sohn ist gefunden, ist hier! – – Bitte, bleiben Sie ruhig, gnädige Frau‥! Ich höre ja Ihr Weinen und Schluchzen ganz deutlich… Vergessen Sie nie, daß Ihre Feinde unermüdlich sind, und daß Sie alles vermeiden müssen, irgendwie Verdacht zu erregen! – – Gewiß, Sie dürfen kommen… Wir erwarten Sie. Was Ihr kleiner Alexander zur Zeit tut: Er ist satt und schläft und … lutscht am linken Daumen! – Vergessen Sie die Tauben nicht!!“

Der Baron lachte leise und glücklich.

Dann hängte er den Hörer an und verließ elastischen Schrittes den großen Ahnensaal.

 

 

7. Kapitel

Der Hohlweg und die Tauben.

Wir drei, die wir unter dem großen Mitteltisch hockten, rührten uns minutenlang nicht. Dann flüsterte Gestermär Harald zu: „Nun begreife ich überhaupt nichts mehr von der ganzen Geschichte, Herr Harst! Kitzeritz ist der Feind der Frau von Rockner?! Ahnten Sie dies?“

„Ich wußte es bereits gestern nacht im Blockhaus des Parkes der Villa Rockner. Sie waren bei der denkwürdigen Unterredung nicht dabei. Wenn Sie des Barons Lächeln hätten beobachten können, würden Sie auch stutzig geworden seien. Als wir dann nach Hause kamen und unser Sonnenscheinchen uns mit dem appetitlichen Nachtessen empfangen hatte, blätterte ich schnell noch in den alten Zeitungmappen und informierte mich über des Geheimrats von Rockner nähere Verhältnisse. – Sein Tod liegt über drei Jahre zurück. Unter den Trauergästen bei der Einäscherung befand sich auch, wie besonders in einer alten Zeitung betont wird, der ehemalige Privatsekretär des durch Unfall Verschiedenen, Baron von Kitzeritz…“

Harald schwieg für Sekunden. „Wir wollen das Schloß nun wieder verlassen und für alle Fälle draußen den Weg von Trelleborg hierher beobachten. Man kann nie wissen, was geschieht. Es beunruhigt mich plötzlich, daß Emil Knepke nicht mit der Rockner und Gustl Grün zusammen im Dorf Gester bei dem Ehepaar Kröhnke auftauchte. Auch Knepke darf man nicht unterschätzen. Ich werde den Verdacht nicht los, daß er hier im Trüben fischt und seine Verbündeten schädigen möchte. Der Chefarzt der ‚Sanitas‛ und noch ein paar Beamte des Instituts sind seine willenlosen und ebenso skrupellosen Kreaturen. Beeilen wir uns also.“

– So lange wir uns noch im Schutz des Waldes befanden, trabten wir schon der Kühle wegen flott dahin. Wir kamen schließlich auf eine Anhöhe, wo die Straße mindestens hundert Meter weiter unter uns in einem Hohlweg dahinlief.

Hier gab Harst uns ein Zeichen. Sofort folgten wir seinem Beispiel und warfen uns in den nicht allzu tiefen Schnee, schoben uns dann bis zum Rand des Hohlweges vorwärts, dessen Wände mit hohem Brombeergestrüpp bewachsen waren, und gewahrten nun ebenfalls drei Gestalten, die an Wegrand hinter den Büschen lagen und genau wie wir mit Ferngläsern einem einspännigen kleinen Schlitten entgegenschauten, der von Trelleborg her mit hellen Laternen in flotter Fahrt sich näherte.

In dem Schlitten saß nur eine einzelne in einen Pelz gehüllte Person.

Harst raunte uns beiden zu:

„Wir greifen nur im äußersten Notfall ein… Ich rechne damit, daß die Tauben ihre Schuldigkeit tun werden. Sollte ich mich irren, genügen ein paar Steinwürfe… Ich liege hier gerade auf einem Haufen von Feldsteinen. Bitte, versorgt euch mit Wurfgeschossen…“

Wir taten es…

Unweit von uns stand eine der Holzstangen der nach Schloß Wrangel führenden Telephonleitung.

Als der Graf jetzt Harald fragte, wie die drei dort unten von der nächtlichen Fahrt der Frau zum Schloß Kenntnis erhalten haben könnten, erwiderte mein Freund in sehr knappen Worten, Gestermär möge sich doch einmal den nahen Telephonmast genau ansehen.

„… Ich wurde ja auch nur durch den in den Hohlweg hinablaufenden Draht aufmerksam, lieber Graf. Die Kerle haben die Leitung angezapft und hofften, so etwas abhören zu können, und sie hatten Glück. Kitzeritz’ Gespräch mit der Frau ist ihnen bekannt. Es sind Knepkes Kreaturen und keine Dummköpfe, – leider! Die Burschen müssen uns seit Stralsund unbemerkt verfolgt haben… – Achtung, die kritischen Minuten sind da!“

Zwei der Männer hinter dem Gestrüpp erhoben sich halb, und als der Schlitten dicht vor ihnen war, sprangen sie dem Pferd in den Weg, der eine packte die Zügel und der andere rief der Frau drohend zu: „Leisten Sie keinen Widerstand! Ihnen wird nichts geschehen! Meine Jacht ankert drüben in der Bucht! Sie werden uns folgen!“

Wenn ich schon vollkommen verblüfft gewesen war, als ich vorhin im Ahnensaal des Barons Stimme erkannt hatte, – hier war ich vollständig wie vor den Kopf geschlagen. Der Wegelagerer dort unten war Emil Knepke! Allerdings mit einem riesigen falschen Bart vor dem feisten Gesicht.

Was dann geschah, spielte sich in Sekunden ab.

Nie und nimmer war ich auf diese Art von Abwehr der Frau im Schlitten gefaßt gewesen.

Sie hatte die Zügel fallen lassen, hatte sich gebückt, und urplötzlich flatterten etwa ein Dutzend Brieftauben empor, fast gleichzeitig feuerte die Frau kurz hintereinander zwei Schüsse aus einer doppelläufigen Signalpistole ab, zwei blendend helle Leuchtkugeln stiegen auf, und während der kleine Taubenschwarm nach dem Schloß zu verschwand, stürmte auch Knepke mit seinen Spießgesellen in toller Flucht davon.

Die Frau, die über recht robuste Nerven verfügen mußte, trieb das Pferd zu allergrößter Eile an und verschwand schnell hinter einer Wegbiegung.

Beim Aufleuchten der beiden grellen Kugeln der Signalpistole hatte ich ihr Gesicht deutlich sehen können. Es war ein schmales, feines Gesicht mit großen, ernsten und in der Erregung äußerst lebhaft schillernden Augen.

Auch Gestermär hatte nun seine ‚Märchenfee‛, wie er sie gern nannte, in dieser Frau wiedererkannt.

Mein Freund schlug bereits die Richtung nach dem Wrangel-Schloß ein.

„Trab!!“ kommandierte er. „Schärfsten Trab! Wir werden nicht müßig bleiben, Gestermär. Vorhin bemerkte ich auf dem Stallgebäude den turmartigen Taubenschlag. Auf den habe ich es nun abgesehen…“

„Die Tauben?!“ meinte Gestermär verwundert. „Was sollen die Tauben?! Ist das nicht Zeitverschwendung?! Wäre es nicht richtiger, wir vertrauten uns dem Grafen und dem Baron an? Der ganze Fall liegt doch so sonderbar und so überaus verzwickt, daß…“

Harst unterbrach ihn. „Der Fall lag verzwickt – lag!!“ verbesserte er. „Der Fall bietet nur noch zwei Schwierigkeiten: das ‚Sifr‛ richtig zu deuten und mit den roten türkischen Pantöffelchen in Einklang zu bringen, und zweitens, Frau von Rockner trotz Ihrer hochgestellten Beschützer als schamlose habgierige Intrigantin zu entlarven. – Halt, dort ist die Parkmauer… – Wartet hier auf mich… Ich hoffe, noch vor dem Grafen Wrangel den Taubenschlag zu erreichen…“

Er kletterte über die alte brüchige Mauer und sprang in den Schnee des Parkes hinab.

Wir standen hinter einer dicken Eiche hinter Gestrüpp, das bis zu den Spitzen mit verdorrten Hopfenranken umschlungen war.

Bodo Gestermär meinte etwas unwirsch: „Harst hüllt sich, auch Ihnen gegenüber, Schraut, betreffs der Hauptpunkte in Schweigen. Geht es doch um Geld?“

„Es scheint so… Obwohl ich nicht begreife, wie etwa mit der Person der namenlosen Frau geldliche Vorteile für die Rockner verknüpft sein könnten. Ich äußerte Harald gegenüber gelegentlich den Verdacht, diese Frau mit dem Kind könnte etwa eine Tochter der Rockner sein – vor ihrer Heirat mit dem Großindustriellen Alexander von Rockner. Harst wies diese Vermutung zurück.“

Harald tauchte auf. Er strahlte…

„Geglückt!! Sagte ich es nicht, – dieser Kitzeritz ist ein Genie, ist der schneidigste Amateurdetektiv, den man sich irgendwie vorstellen kann. – Jetzt nach Trelleborg zurück… Sie erklärten doch, Gestermär, daß Sie hier einen Fischer kennen, der einen Hochseekutter besitzt. Ob der Mann uns nach Rügen bringen würde und verschwiegen ist?“

„Unbedingt. – Wollen Sie etwa nach Berlin zurück?“

„Ja. Nachdem wir Wernicke und Jochem abgeholt haben. In Berlin sind wir am sichersten.“

„Und was taten Sie im Taubenschlag?“

Harald lächelte. „Ich stahl photographische Apparate und ließ dafür einen Zettel zurück.“

Gestermär und ich waren sprachlos.

„Apparate?! – Und der Zettel?!“

„Ich scherze nicht,“ beteuerte mein Freund nachdrücklich. „Auf den Zettel schrieb ich:

Baron, finden Sie sich des Sifr wegen übermorgen abend bei mir ein.

Er wird kommen, und dann werden die roten Pantöffelchen ihr Geheimnis preisgeben.“

 

 

8. Kapitel

Kitzeritz wird an allem irre…

Wir saßen in der behaglich warmen Heckkajüte des Hochseekutters des Trelleborgers, und Harst entnahm der Innentasche seines Sportpelzes sehr behutsam zwölf geradezu winzige photographische Apparate.

„Fünfzig Gramm Nutzlast ist das Höchste, was eine Brieftaube mit sich zu führen vermag,“ erklärte er sehr sachlich. „Man hat für die Heeresbrieftauben vor zwei Jahren diese winzigen Kameras mit einem besonderen Auslöser konstruiert. Der Apparat wird der Taube vor die Brust gebunden, und die Miniaturkamera liefert äußerst scharfe Bilder des Geländes, das man aufnehmen möchte. – Jetzt wollen wir aber endlich ein paar Stunden schlafen… Ihr Freund wird uns wecken, falls etwa Knepkes Jacht Pirat spielen will.“

Der Wind hatte morgens nach Süd gedreht, die Witterung war umgeschlagen, und die warme Luft hatte leichte Nebelbildung hervorgerufen.

Stunden waren vergangen.

Jemand rüttelte mich. Schlaftrunken blinzelte ich Harald an.

„Was gibt es?!“

Auch Gestermär stand neben ihm.

„Eine neue Gemeinheit Knepkes‥! Wir befinden uns etwa auf der Höhe von Saßnitz… Ein Lotsendampfer ist hinter uns her, zum Glück ist der Nebel hier so dick, daß wir Aussicht haben, den Beamten zu entwischen.“

„Wie kommst du auf Knepke?“ fragte ich, in die Jacke schlüpfend.

„Wer sollte sonst wohl die Hafenpolizei mobil gemacht haben, mein Alter?! Natürlich wird Knepke sich gehütet haben, seinen Namen zu nennen. Aber auch ein anonymer Wisch genügt. – Schlimmstenfalls verschwinden wir im Beiboot des Kutters. Wir wollen unsere Koffer nach oben tragen.“

Als wir an Deck erschienen, hörten wir durch die dichten Nebelschwaden noch die Signale eines zweiten Dampfers und die gellende Hupe einer Motorbarkasse.

Der Trelleborger und seine beiden Söhne berieten mit uns. Gestermär, der ja auf See zu Hause war, meinte energisch, wir täten am klügsten, unser Schiffchen zu verlassen.

Der große Kutter taumelte träge hin und her.

Es war eine ganz verwünschte Situation, die an den Nerven zerrte… Harald hatte sich lauschend vorgebeugt. Die Sirenen klangen entfernter. Gestermär sagte freudig: „Da ist leichtes Brandungsgeräusch, das kann nur eine Molenspitze des Hafens von Saßnitz sein‥!“

„Dasselbe hoffe ich,“ nickte Harst und winkte uns, ganz still zu sein.

„Es ist die Mole,“ flüsterte mein Freund aufatmend. „Ins Boot also! Wir schleichen über die Mole ans Ufer!“

Einer der Söhne des Fischers ruderte. Die Bordwand stieß sehr bald gegen die dicken Pfähle, und wir kletterten auf die feuchten Balken. Das Boot kehrte um. Minutenlang regten wir uns nicht. Es war eine der Holzmolen des Hafens, und die Gefahr, hier Bekannten zu begegnen, war nicht gering. Dann schritt Harst mit seinem Koffer voraus.

Plötzlich Stimmen…

Gustl Grüns schleimiges Organ klang sehr erregt. „Wir müssen die Kerle fangen… Ich habe Haftbefehl gegen sie…“

„Kehrt!!“ flüsterte Harst…

Wir liefen auf Zehenspitzen… Dann wuchs aus dem Nebel eine einzelne Gestalt heraus.

„Stopp!!“

Wir stutzten…

Baron Kitzeritz lachte still.

„Schnell, – – hinab in mein Boot… Dort‥! Außenseite der Mole‥!“

Kräftige Fäuste griffen die Koffer und halfen uns. Und schon stieß das hochbordige, fein lackierte Boot ab, glitt davon, ohne daß die Ruder zunächst eingetaucht wurden, und die mittelgroße Motorjacht, die uns in nächster Nähe erwartete, vermittelte uns die Bekanntschaft des intimsten Freundes dieses selben Hochstaplers.

Graf Ellinor Wrangel war ein blonder Hüne mit einem durchgeistigten Gelehrtengesicht. Er hatte sich als Altertumsforscher einen Namen gemacht und war Ehrenmitglied zahlloser wissenschaftlicher Vereine auch des Auslandes. In der schlicht und gediegen eingerichteten Kajüte war eine Frühstückstafel gedeckt, die schon durch das gefällige Bild den Appetit anregte. Graf Wrangel freute sich offenbar sehr, uns und besonders Harst kennenzulernen. Er gab sich sehr zwanglos, und hierin wurde er noch von Kitzeritz überrumpelt, der mit einem Mal gar nicht mehr näselte, sondern nur sein wahres Gesicht zeigte, das eines Mannes von unermüdlicher, fast brutaler Energie und überragender Klugheit.

Nach den ersten unvermeidlichen allgemeinen Redensarten meinte Kitzeritz, indem er Harst belustigt zuzwinkerte: „Ich danke Ihnen für Ihren im Taubenschlag zurückgelassenen Zettel. Auch ohne diesen hätte ich gewußt, wer die kleinen Momentkameras entführt hatte, und wäre Ihnen auf den Fersen geblieben.“

Harald lächelte, hob sein Weinglas und entgegnete ehrlich anerkennend: „Ich bewundere Sie, Baron. Ein Mann, der sich absichtlich einsperren läßt, nur um moralisch dem engeren Freundeskreis der Frau von Rockner gleichwertig zu erscheinen und um desto ungestörter seine Pläne verfolgen zu können, hat dadurch eine Selbstlosigkeit gegenüber dem verstorbenen Geheimrat bewiesen, wie sie kaum größer sein kann.“

Graf Wrangel meinte kopfschüttelnd: „Denken Sie, Herr Harst, sogar mich hat dieser unglaubliche Mensch geblufft, und ich hatte alle Beziehungen zu ihm abgebrochen, bis er plötzlich vor Monaten nachts bei mir erschien und mir die Leidensgeschichte der namenlosen Dame mit dem Kind erzählte und mich dazu bewog, die bewußte Dame in meinem Stadthaus in Trelleborg zu verbergen, was ich unter den Umständen sehr gern tat. – Aber im übrigen bin ich in den Kern der Sache genau so wenig eingeweiht wie Sie.“

Gestermär fragte ungeduldig:

„Wer ist diese Dame eigentlich?!“

„Eine Witwe,“ erklärte Harst kurz.

Inzwischen war die Jacht mit voller Motorenkraft gen Südost aus dem Bereich der Polizeischiffe entflohen.

„Also eine Witwe – sehr jung…“ meinte Gestermär mit allen Zeichen einer inneren Freude, die äußerst vielsagend war.

„Und der Name?“ fragte er dann vorsichtig. „Der Name, Baron?“

Kitzeritz überlegte. „Der Name, – gut, ich will ihn nennen: Hella Köster!“

„Und der kleine Bursche, ihr Kind, das berühmte ‚Bündel‛, heißt Alexander Köster,“ ergänzte Harst mit eigentümlicher Betonung. „Alexander Köster, obwohl erst ein Jahr alt, gab mir den Hinweis auf Vorgänge, die weit in die Vergangenheit hineinreichen… – Wie kamen Sie der Sache auf die Spur, Herr von Kitzeritz?“

Kitzeritz starrte mit halb geschlossenen Augen vor sich hin. „Brauche ich Ihnen das wirklich auseinanderzusetzen, Herr Harst? Sie haben doch zweifellos die näheren Umstände des Todes meines gütigen Chefs, des Geheimrats, bereits irgendwo nachgelesen…“

„Das stimmt. Gründlichkeit ist die Vorbedingung jeglichen Erfolges. Sie hatten als Privatsekretär das benachbarte Schlafwagenabteil inne… Die damalige D-Zugkatastrophe forderte zehn Todesopfer. Ihr Abteil kam noch glimpflich davon, aber Ihr Chef, den Sie nicht bergen konnten, da er zwischen den Trümmern eingeklemmt war, verstarb noch vor dem Eintreffen der Rettungsmannschaften. Ich nehme an, er hat Ihnen, bevor er verschied, noch etwas mitgeteilt, das sich auf diese Frau Hella Köster bezog. Aber diese Mitteilungen waren wohl genau so lückenhaft wie die, denen Graf Gestermär seine Beteiligung an dem Fall ‚Rote Pantöffelchen‛ zu danken hat.

Hätten Sie damals von dem sterbenden Geheimrat ganz Bestimmtes erfahren, Baron, würden Sie es nicht nötig gehabt haben, auf so umständliche und für Sie zum Teil doch demütigende Art das Vertrauen Frau von Rockners zu erschleichen, die Sie anfänglich für gefährlich hielt, weil Sie mit dem Toten sehr gut gestanden hatten. Natürlich vermag ich auf Grund der mir bisher bekannt gewordenen Tatsachen keine absolut sicheren Behauptungen über das aufstellen, was Alexander von Rockner Ihnen als geheime Mission mit allerletzter Kraft ans Herz legte. Zweifellos erwähnte er bruchstückweise Dinge aus der Vergangenheit, ferner die Wichtigkeit der roten Pantöffelchen und die des Wortes Sifr, und er mag zugegeben haben, daß er selbst erst vor kurzem, also vor Antritt der Reise mit Ihnen, gewisse Einzelheiten erfahren hatte, die eben zweifellos mit den roten Pantöffelchen zusammenhingen.“

Kitzeritz nickte schmerzlich. „Sein Tod war entsetzlich… Der Unterleib war völlig zerquetscht,“ meinte er leise. „Was Sie soeben als Schlußfolgerungen entwickelten, trifft alles zu, Herr Harst. Die wahnwitzigen Schmerzen des Sterbenden, sein Stöhnen und Wimmern raubten auch mir die klare Überlegung. Ringsum war das Abteil nur zersplittertes Holz, verbogenes Eisen…

Meine Taschenlampe beleuchtete in der grauenvollen Finsternis das fahlgelben Antlitz des zwischen den Trümmern Eingeklemmten. Es war grauenhaft… Er wollte sich verständlich machen, er wollte zusammenhängend sprechen… – Ich mußte mir das meiste ergänzen…“

Kitzeritz war bleich geworden. Die Erinnerung an jene Szene der Schreckensnacht überwältigte ihn.

„Frau Hella Köster war des Geheimrats Geliebte,“ flüsterte er zögernd.

„Allerdings nannte er sie immer seine Gattin und sprach auch von einem ehelichen Kind, also von dem kleinen Burschen, dem … Bündel… Ich verstehe das noch heute nicht, da ja Frau Hella Köster hartnäckig schweigt, weil sie mir nicht traut, wie ich in der verflossenen Nacht wieder gemerkt habe…“

Harst entgegnete mit erhobener Stimme: „Frau Hella Köster ist niemals des Geheimrats Gattin oder Geliebte gewesen, niemals. Alexander von Rockner war dreiundsechzig, als er starb, Frau Kösters Alter schätze ich auf zweiundzwanzig…“

„Dreiundzwanzig,“ verbesserte Kitzeritz mit starker Stimme und richtete sich in seinem Kajütsessel kerzengerade auf. „Herr Harst, – – wer ist dann diese Frau Köster?! Weshalb zweifeln Sie an des Geheimrats allerletztem Geständnis?! Ein Sterbender lügt nicht!“

„Sie haben nur diese lückenhafte Beichte falsch verstanden, Baron. Die roten Pantöffelchen sind einmal vor dreißig Jahren Mode gewesen… Rockner bewahrte sie als teures Andenken auf. Ich betone: Vor etwa dreißig Jahren! Damals lebte Hella Köster noch nicht… – Bitte, fragen Sie nichts mehr. Die Wahrheit, meine Freunde, sollen Sie in Gegenwart der Verschworenen erfahren. Es ist nun einmal meine Eigentümlichkeit und Schwäche, jedem Problem, und dies ist ein Problem, einen dramatischen, überraschenden Ausklang zu geben… – Reden wir von anderen Dingen…“

 

 

9. Kapitel

Vorbereitungen zum Richtfest.

Der robuste Möbelwagen im Schuppen des Nachbargrundstückes hatte wieder Gäste bekommen.

Wir waren um Mitternacht in Berlin eingetroffen, nun war es wieder Nachmittag geworden, und wir saßen um den eisernen Ofen beieinander und hörten draußen nach dem jäh eingetretenen Tauwetter den Regen herabplätschern.

Sonnenscheinchen hatte soeben eine Unmenge Kaffeetassen, drei große Teller mit Kuchen und die neuesten Abendzeitungen herbeigeschleppt, die in Berlin bekanntlich schon um fünf Uhr ausgeliefert werden. Kitzeritz und ich brühten Kaffee auf, Graf Elimar Wrangel scherzte mit der schlagfertigen Inge, Jochem und Wernicke spielten in einer Ecke Schafskopf, und Harst und Graf Gestermär, der Armbanddieb, lasen die frischgedruckten neuesten Nachrichten…

Gestermär rief plötzlich: „Achtung, – das geht uns an!!“

Dann las er vor:

Die polizeilichen Ermittlungen über den flüchtigen Dieb des Brillantarmbandes der bekannten Wohltäterin v. R. haben zu überraschenden Feststellungen geführt. Zunächst ist zu erwähnen, daß der mehrfach vorbestraften Baron von Kitzeritz die Unverfrorenheit besessen hat, sich bei Frau v. R. einzudrängen und mit dem Dieb gemeinsame Sache zu machen. Weiter hat die Kriminalpolizei ermittelt, daß unverständlicherweise der stets auf eine recht wirksame Reklame bedachte Privatdetektiv H. H. den Grafen Bodo Gestermär zu schützen sucht und dadurch selbst straffällig geworden ist. Die Fäden dieser dunklen, unliebsamen Angelegenheit ziehen sich bis nach Schweden hinüber, wie der Direktor Doktor Knepke feststellen konnte, der auch seinerseits als Bekannter der Frau v. R. nichts unterlassen hat, den Dieben auf der Spur zu bleiben.

„Ah,“ meinte Harald hier belustigt, „der gute Knepke, den wir nun samt seinen Kreaturen auf den photographischen Vergrößerungen der Tauben-Aufnahmen festgenagelt haben, scheint auf seine eigenmächtigen Pläne verzichtet zu haben! Der Schreck im Hohlweg ist ihm zu sehr in die Knochen gefahren! – Weiter, Gestermär…“

Es berührt sehr sonderbar, daß der in der Nähe von Trelleborg beheimatete Graf Elimar Wrangel dieser seltsamen Gaunerbande offenbar seine Jacht zur Verfügung gestellt hat, die nun in Stralsund ankert. Noch sonderbarer bleibt es, daß die schwedische Polizei das telegraphische Ersuchen der hiesigen Behörden, Schloß Wrangel zu durchsuchen, kurz abgelehnt und geantwortet hat, das Schloß wurde auf Antrag des Besitzers polizeilich bewacht…

„Ja, Frau Hella Köster und ihr Kind befinden sich dort in vollster Sicherheit,“ sagte Graf Wrangel bissig. „Unsere Polizei traut mir mehr als diesem Gustl Grün…“

Gestermär warf Wrangel einen dankbaren Blick zu. Dann las er den Schluß dieses von Verdrehungen strotzenden Artikels vor:

Unsere Polizei nimmt an, daß die all die zweifelhaften Herrschaften sich jetzt irgendwo in Berlin verborgen halten. Wir weisen nochmals darauf hin, daß Frau v. R. für die Wiederherbeischaffung des Armbandes fünftausend Mark Belohnung ausgesetzt hat. Sachdienliche Angaben nimmt Kriminalkommissar Grün, Polizeipräsidium, Zimmer 112, entgegen. Die Hälfte der Belohnung soll auch dem zufallen, der das Versteck der gesuchten Personen ermittelt.

Unser Sonnenscheinchen lachte übermütig und schadenfroh.

„Gustl war heute schon zweimal drüben im Harsthaus und zog beide Male mit ungeheuer langer Nase ab‥!“

„Ein Beweis, wie unsicher sich die Verschworenen fühlen, in deren Haut ich nicht stecken möchte! Wenn sie uns fangen könnten, wäre ihnen wohler zu Mute!“ Harst sprach mit beißender Ironie. „Mein gutes Herz duldet es nicht, diese Ärmsten noch länger zappeln zu lassen. Ich habe daher vorhin, als ich die photographischen Vergrößerungen hergestellt hatte, noch zweierlei getan. Erstens schickte ich dem Kriminalrat Penz, einem so ehrlichen Mann, daß sich niemand an ihn herangetraut, einen Rohrpostbrief, und zweitens habe ich Gustl Grün angerufen und mich ihm als Bewerber der fünftausend Mark vorgestellt, einen x-beliebigen Namen genannt und erklärt, ich würde ihm nur in Gegenwart Frau von Rockners und Knepkes heute abend sieben Uhr in der Villa Rockner meine ‚Beobachtungen‛ mitteilen, die zweifellos eine Verhaftung der ‚Bande‛ ermöglichen würden. – Welcher Bande, sagte ich nicht. – Gustl war natürlich begeistert… Nach sieben Uhr wird er weniger begeistert sein. Sollte er die Villa etwa von Beamten insgeheim umstellen lassen wollen, dürfte ihm der saugrobe, hochanständige Penz eine dicken Strich durch die Rechnung machen… Um halb sieben brechen wir alle zum Richtfest auf… Es wird ein etwas eigentümliches Richtfest werden, bei dem ein schamloses Gebäude von Intrigen zusammenbrechen und nicht etwa eingeweiht wird. Gustl Grün mag noch so viel Rückhalt von oben haben, und die Rockner mag noch so überaus eng mit der heutigen Haute volee verbrüdert sein: Penz kennt kein Erbarmen, und Penz fürchtet man, er weiß zu viel üble Geschichten. Der Schlußakt der Tragödie ‚Rote Pantöffelchen‛ beginnt um sieben… Wir alle nehmen daran teil. Nur Sie, Sonnenscheinchen, müssen daheim bleiben. Für Ihr braves Herzchen wäre das nichts…“

Graf Wrangel sagte über eifrig:

„Trösten Sie sich, Fräulein Inge, ich erzähle Ihnen alles nachher ganz genau‥!“

Harald sah Inges flüchtiges Erröten genau so gut wie ich.

Er beugte sich zu mir hinab und flüsterte seufzend: „Mein lieber Alter, ich fürchte, wir werden Inge verlieren… Wir können uns wieder nach einer neuen Hausdame umsehen! Schrecklich, – – wenn Inge nur nicht so hübsch wäre!!“ – –

– Im Salon Frau von Rockners saßen bei fest verschlossenen Türen die Dame des Hauses und ihre beiden Vertrauten in einer behaglichen Ecke sehr unbehaglich beieinander.

„Lieber Grün,“ sagte die weißhaarige Frau mit den strengen, kalten Zügen zu dem übernervösen Gustl, „ich teile Ihren blinden Optimismus keineswegs… Seit dem Verschwinden der Pantöffelchen aus meinem Tresor, wo ich die Schuhchen in dem als Versteck hergerichteten Kontobuch so gut geborgen glaubte, und seit Harsts Auftauchen im Blockhaus und besonders nun noch Kitzeritz’ Abschwenken zur Gegenpartei werde ich das Gefühl nicht los, daß sich ein Unwetter zusammenballt.“

Ein eisiger Blick streifte den kleinen dicken Knepke, der wie ein geprügelter Hund in seinem Sessel kauerte. „Und auf Sie ist auch kein Verlaß, mein Lieber! Ihr Unternehmen dort in Trelleborg wirft ein eigentümliches Licht auf Sie‥!“

Knepke kaute an seiner Unterlippe. Es klang sehr hämisch, als er erwiderte: „Man erlebt doch immer wieder dasselbe. Sobald ein Schwindlerkonzern wie der unsrige zu wackeln beginnt, traut einer dem anderen nicht mehr, und jeder wird verdächtigt. – Was soll uns dreien denn passieren?!“ suchte er schnell wieder einzulenken, als Gustl Grün drohend hustete. „Wer wird dem vorbestraften Kitzeritz Glauben schenken? Niemand! Ja, wenn wir drei so unvorsichtig gewesen wären, ihn in die Testamentsgeschichte einzuweihen! Er weiß ja noch nicht einmal, wo das Armband geblieben ist. Ich habe ihm nie getraut…“

Die hagere, hochmütige Frau, für die es nur einen Lebensinhalt gab: Eine Rolle zu spielen und von sich reden zu machen, – diese kaltherzige Komödiantin sagte nun zaghaft und tastend: „Und wo ist es geblieben, Knepke?! In dem Versteck hinter der Kaminkachel liegt es nicht mehr. Ich … bin sehr beunruhigt.“

Knepkes und Grüns recht dünn beharrte Köpfe fuhren gleichzeitig hoch.

„Wie, soll ich es etwa an mich gebracht haben?!“ schrie Knepke blaurot vor Wut.

Und Gustl Grün äußerte sich ähnlich empört.

Unweigerlich wäre es jetzt zu einem offenen Bruch zwischen den Verschworenen gekommen, wenn nicht ein Diener geklopft und dann gemeldet hätte:

„Herr Harst und mehrere andere Herren bitten um eine entscheidende Unterhaltung…“

Drei bleiche Gesichter stierten den Diener an.

Der Mann wurde plötzlich zur Seite geschoben, und wir traten ein.

Drei Menschen flogen von ihren Sitzen hoch, drei Augenpaare musterten unsere Übermacht mit unverhohlenem Entsetzen und hafteten dann auf dem grob gemeißelten, harten und klugen Gesicht des Kriminalrates Penz.

„Setzen Sie sich wieder!“ kommandierte Penz sehr rücksichtslos. „Auch wir werden Platz nehmen, Frau von Rockner… Jetzt spiele ich hier den Hausherrn. – So… Und nun legen Sie los, Harst, kurz und bündig‥!“

 

 

10. Kapitel

Sifr und die Goldstickerei.

Der geneigte Leser, der etwas Phantasie besitzt, kann sich unschwer die hier herrschende Stimmung ausmalen. –

Auch ich will mich kurz fassen.

„Sie gestatten eine Vorbemerkung, Herr Rat,“ sagte Kitzeritz mit einem sehr überlegenen Salonlächeln. „Ich möchte nur der gnädigen Frau gegenüber meinen Anspruch auf die fünftausend Mark Belohnung anmelden. Bitte, hier ist das Armband… Und dort ist die Kaminkachel, hinter der Sie es verbargen, zweifellos aus Zerstreutheit, sonst hätten Sie doch den Grafen Gestermär nicht beschuldigen können… – Sie sehen, lieber Harst, auch ich reserviere mir gern eine kleine Überraschung für ganz zuletzt.“

„Das sehe ich, und damit ich dabei nicht ganz ins Hintertreffen gerate, will ich nun ebenfalls sofort meinen Fund vorweisen, lieber Kitzeritz, nach dem Sie vergebens gesucht haben. Er lag in einem alten, dicken, ausgehöhlten Kontobuch. Bitte – – die roten Pantöffelchen!“

„Einbrecher – – Dieb!!“ kreischte die vornehme Dame vom Haus, die urplötzlich zur Megäre geworden.

„Testamentsvernichterin!“ gab Harst den Vorwurf mit aller Schärfe zurück, indem er die roten Schühchen in seinen Schoß legte. „Ich werde beweisen, daß Sie das Testament Ihres Gatten vernichtet haben. Aber es existiert zweifellos noch ein zweites Testament – und ich werde es finden.“

„Lächerlich! Ich war meines Mannes einzige gesetzliche Erbin, er hatte keinerlei Verwandte. Was soll das alles?!“

„Das werden Sie hören. – Wie es kam, daß ich mich mit Ihnen beschäftigen mußte, möchte ich nachher auseinandersetzen. Der Inhalt des Testaments dürfte mir viele Worte ersparen. Ich gebe zu, daß ich aus Ihrem Tresor die roten Pantöffelchen sowie dies hier an mich genommen habe, daß Sie für genau so bedenkenlos wie die Schuhchen hielten.“

Er zog ein kleines flaches Päckchen aus der Tasche, in dem sich goldene Stickfäden befanden.

„Sie mögen eine intelligente Frau sein… Seltsam, daß Ihnen die Übereinstimmung dieser Stickfäden mit der Goldstickerei der Schuhchen nicht auffiel! Sie haben die Schuhchen natürlich auf das allergenaueste untersucht, ob sie nicht etwa ein Schriftstück enthielten. Doch daß die ursprüngliche Stickerei entfernt und durch eine neue durch Ihres Gatten Hand ersetzt war, entging Ihnen. Mir nicht! Mir entging ebensowenig, daß die neue Stickerei nur aus ovalen, aus länglichen Schleifen sich zusammensetzte, und daß die verschiedenen großen Schleifen eine Schrift darstellten…“

Frau von Rockner wollte aufspringen und nach den Pantöffelchen greifen. Kriminalrat Penz drückte sie auf ihren Sitz zurück.

„Stören Sie nicht! Dazu ist die Sache viel zu interessant!“

„Im Altertum,“ fuhr Harald fort, „kannte man keine Null in der Zahlenreihe. Erst als von Indien her die Null als Zahl den arabischen Zahlen zugefügt wurde, gelangte sie auch nach Deutschland, und mit ihr der Ausdruck ‚Ziffern‛ für alle Zahlen, obwohl der Name ‚Ziffer‛, von dem arabischen Sifr gleich ‚Leer‛ oder ‚Null‛ stammend, nur der Null gebührt. – Als Ihr Gatte in Gegenwart des Barons, eines hochehrenwerten Mannes, verstarb, vertraute er ihm Verschiedenes an, darunter auch die Wichtigkeit der roten Pantöffelchen für sein Kind und die Bedeutung von Sifr gleich Null. Aber Kitzeritz konnte aus dem Todesgestammel des Verscheidenden nur wenig Positives entnehmen.

Zweifellos hat Ihr Gatte kurz vor jener verhängnisvollen D-Zugfahrt die Gewißheit erhalten, daß aus seiner geheimgehaltenen ersten Ehe noch seine Tochter lebte und verheiratet war. Vor der Reise, die ihn wahrscheinlich nach Rostock, dem Wohnsitz seines Kindes führen sollte, errichtete er als vorsichtiger Mann zwei Testamente. Das eine verbarg er sehr sorgfältig, und dieses Versteck steht mit den roten Schuhchen in engster Verbindung. Das zweite legte er in seinen Tresor. Sie, Frau von Rockner, haben nun irgendwie gemerkt, daß Ihr Gatte vor Ihnen Geheimnisse hatte. Er selbst traute Ihnen nicht. Auf die Nachricht seines Todes hin öffneten sie den Tresor, fanden das Testament und vernichteten es, da es zu Ihren Ungunsten abgefaßt war. In dem vernichteten Testament müssen irgendwie die roten Pantöffelchen erwähnt gewesen sein, die Ihr Gatte als kostbare Erinnerung an seine erste kurze und sicherlich sehr glückliche Ehe sorgfältig aufbewahrt hatte. Deshalb bestürmten Sie auch den alten treuen Wernicke mit Fragen über die Bedeutung der Pantöffelchen und ließen ihn hinterher als geisteskrank einsperren…“

„Alles Lügen … Lügen!“ hauchte die bleiche Frau, aber es klang sehr matt.

„Keine Lügen!!“ Harst wurde erregt. „Sie wagen es, noch von Lügen zu reden, wo ich Sie sofort überführen kann, Sie und Ihre Verbündeten, die mithelfen sollten, Ihnen das Millionenvermögen zu sichern?! – Hier sind die roten Pantöffelchen mit den zahllosen eingestickten Nullen, und hier ist meine Lösung der gestickten Sifr-Schrift, Herr Kriminalrat! Das andere Testament liegt hinter dem eingerahmten Bild von Rostock in des Geheimrats Arbeitszimmer. – Wernicke und Jochen, holen Sie es, und Sie, Graf Wrangel, begleiten die beiden als unparteiischer Zeuge.“

Frau von Rockner lag halb ohnmächtig mit geschlossenen Augen im Sessel.

Gustl Grün und Direktor Doktor Knepke glichen grüngelben Leichen.

Kriminalrat Penz holte sehr ungeniert eine Zigarre hervor, begann wie ein Schlot zu qualmen und sagte drohend: „Das kann ja nett werden, Herr Kommissar!!“

Sehr bald erschienen die drei Abgesandten mit einem versiegelten Umschlag, den Penz dann feierlich aufschnitt. Mit knarrender Stimme las er vor:

 

Berlin, den 2. Juli 192.

Mein Testament

Ich, der endunterzeichnende Geheimrat Alexander von Rockner, bestimmt hiermit für den Fall meines Todes folgendes:

Da meine jetzige zweite Ehe mich schwer enttäuscht hat, setze ich als meine alleinige Erbin meine Tochter Hella und deren Nachkommen ein.

Meine Tochter Hella von Rockner, jetzt verehelichte Köster, lebt in Rostock, Schweriner Straße 34. Meine erste Ehe, aus der dieses mein einziges Kind hervorging, wurde insgeheim auf einem Dampfer geschlossen. Alle diesbezüglichen Papiere befinden sich bei der Reederei Thomasen in Stralsund.

Ich mußte diese Ehe vor meinen damals noch lebenden Eltern geheim halten, weil diese meine Heirat mit der Tochter eines einfachen Steuermannes nie gebilligt hätten. Der Name meiner Frau lautete Hella, geborene Johannsen, gebürtig aus Stralsund.

Da ich annahm, daß meine Frau und mein Kind beim Untergang des Dampfers ‚Poseidon‛, Stralsund, beide umgekommen wären, und da ich erst vor kurzem zufällig in Erfahrung brachte, daß meine Tochter noch lebt und mit dem Ingenieur Fritz Köster verheiratet ist, vermache ich ihr bzw. ihren Nachkommen mein ganzes Vermögen und setze meine jetzige Frau Gisela auf den Pflichtteil.

Ich bin im Begriff, zu meinem Kind zu reisen, und habe ein zweites Testament ohne nähere Angaben in meinen Tresor gelegt. Ich fürchte die Neugier und die Intrigen meiner jetzigen Frau.

Alexander von Rockner

Penz hustete kräftig.

„Armer Geheimrat, – er wollte zu seinem Kind und fand den Tod! Tragisch, sehr tragisch. Aber dieses eigenhändige Testament ist unbedingt rechtsgültig, und so, wie die Dinge jetzt liegen, werden Sie nicht einmal den Pflichtteil wegen Erbunwürdigkeit erhalten, Frau von Rockner. Im Gegenteil, Sie und Ihre beiden Helfershelfer wandern ins Gefängnis. Dafür werde ich sorgen! Und nicht zu knapp!!“

Knepke schnellte empor.

Er schwitzte ganze Bäche vor Angst.

„Herr Rat, – ich will alles eingestehen, alles‥!“ keuchte er jammervoll kläglich.

„Sie?! Sie werden noch härter herangenommen werden, Sie Betrüger! Denken Sie an die Sanitas-Gründung!!“

Knepke sank stöhnend zurück.

„Immerhin,“ meinte Penz, „eine Frage bliebe noch zu klären… – Wie haben Sie Frau Köster im Dorf Gester aufgestöbert?“

Knepke rief sofort: „Frau von Rockner hat durch Gustl Grün in Rostock heimlich nachforschen lassen… So entdeckte sie, daß dort eine jung verwitwete Frau Köster, geborene von Rockner, gewohnt hatte… Inzwischen hatte aber Frau Hella Köster gemerkt, daß ihr jemand nachspionierte, und deshalb mietete sie sich in Gester ein… In jener neblig Nacht wollten wir die Frau und das Kind entführen…“

„Ja, – und da habe ich Frau Köster gewarnt,“ fiel der Baron bissig ein. „Und nachher habe ich Frau Köster gefunden und zu Freund Wrangel gebracht…“

Penz stand auf, öffnete wortlos die Tür zum Flur und winkte ein paar Beamte herein.

„Die drei dort sind verhaftet. Nehmt Sie mit… – Ja, auch den Herrn Grün!!“

– „Harst,“ sagte Penz nachher zu meinem Freund, „die Geschichte mit den goldenen Stickfäden, mit Sifr und den Pantöffelchen haben Sie glänzend gelöst!“

Er schüttelte ihm derb die Hand, aber Harald machte dazu ein sehr mißvergnügtes Gesicht.

„Glänzend gelöst?! Das glauben Sie!! Ich bin der Verlierer bei alledem, denn gerade Wrangel hat mir bereits gestanden, daß er Schraut und mir unser Sonnenscheinchen entführen will!“

Aber dann lächelte Harst trotz alledem…

„Gegen die Liebe ist kein Kraut gewachsen! Gestermär, wenn Sie nun Ihre Frau Hella auf Schloß Wrangel besuchen, dann nehmen Sie ihr als Andenken die Vergrößerungen der Tauben-Photographien Knepkes mit und grüßen Sie sie herzlich von uns, auch den kleinen Alexander… Der Vorname des Kindes lieferte mir die Gewißheit, daß ich auf der richtigen Fährte war…“

Gestermär wandte sich an seinen Freund Elimar: „Du, – wann brechen wir auf?“

„Wenn Sonnenscheinchen und Harst und Schraut mitkommen, – – sofort!!“ erklärte Wrangel schmunzelnd…

Wir alle schmunzelten…

Es war ein hübscher Ausklang für das Problem ‚Rote Pantöffelchen‛…

 

 

Fußnote:

[1] Rips (engl.) geripptes Gewebe