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Das Schloß des Grafen von Tod

 

Harald Harst

 

Band: 359

 

Das Schloß des Grafen von Tod

 

 

Von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16

 

1. Kapitel

Die Nixe aus der Isar.

Der Mann blieb plötzlich stehen. Ganz vorsichtig stellte er die Spitze seines Bergstöckes in das Geröll des Uferweges und lauschte. Sein Gehör hatte ihn nicht getäuscht. Aus dem grünen Gebüsch ertönte das verzweifelte Schluchzen einer Frauenstimme.

Der Mann in dem derben Sportanzug und dem kecken Gebirgshut mit Spielhahnenfeder und Edelweiß verzog den Mund zu einem harten Lächeln.

Er wollte seinen Weg fortsetzen und blieb dann doch stehen. Er redete sich ein, daß nur das sanfte Murmeln und Schäumen und Quirlen der grünen Isar, die dort unten hinter dem dichten Gebüsch in ihrem felsigen Bett dahinschoß, seine Gedanken und seine Füße in Bann schlügen.

Aber er war zu ehrlich gegen sich selbst, solche Lügen zu dulden.

‚Es ist dein alter, nicht auszurottender Fehler!‛ dachte er noch ergrimmter über die eigene Schwäche. ‚Mitleid, Mitgefühl, – – immer noch die verdammte Weichherzigkeit! Und dabei hast doch gerade du, dummer Jochem, in der Beziehung genug Lehrgeld bezahlt!‛

Mit einem höhnischen Kichern, das nicht ganz echt klang, stieß er seinen Bergstock ins Geröll und pilgerte mit seinem schweren Rucksack, über den ein verschlossener Lodenmantel geschnallt war, landeinwärts den steilen Hang empor, dessen Spitze von einer Kulisse dunkler Tannen, heller Eichen und einem Gemäuer gekrönt war, das kaum mehr den Namen Ruine verdiente.

Der schmale Pfad, den er mit seinen genagelten Stiefeln kraftvoll und flink emporklomm, zeigte ihm dann, als er die halbe Höhe der Bergwand hinter sich hatte und zurückblickte, den großen Bogen der Isar, das malerische Dächergewirr der Stadt Tölz und droben die weiße Kalvarienkirche…

Die Mittagssonne des klaren Junitages lag grell über dem wundervollen Landschaftsbild, und dieses Bild brachte ein glückseliges Strahlen in seine grauen, meist etwas mißtrauisch-lauernd verkniffenen Augen.

Die Menschen galten ihm gar nichts mehr – – nichts! Nur die Natur liebte er, – seine Einsamkeit, sein mehr als bescheidenes, desto romantischeres Heim und seine Tiere.

Über ihm bellte ein Hund… Noch einer fiel ein, dann ein dritter, und das Bellen ging in ein langgezogenes Freudengeheul über.

Da lachte er geradezu sonnig, stürmte den Pfad hinan, und seine drei Rüden, sein Hühnervolk, seine Tauben und Hans, der zahme Rehbock, sowie die beiden dunkelbraunen, gemsenartigen Milchziegen umdrängten, umflatterten ihn, – es war ein Höllenlärm, und er lachte noch freier, noch glücklicher…

Zwischen den Tannen spitzte sich der flache Rand des Abhangs zu einer mäßigen Kuppe flechtenbewachsenen Urgesteins zu, und die kläglichen Reste des uralten Schlosses auf dieser Kuppe waren so vollständig von Rankengewächsen eingesponnen, daß man nur droben die zackigen Zinnen des kahlen Turmes und mehr unterhalb vier blanke kleine Fenster und eine dunkle, eichene, eisenbeschlagene Tür zu erkennen vermochte.

Etwas, das einmal eine Treppe mit Steingeländer gewesen, führte zum Eingang empor. Der Mann mit dem Rucksack schloß die Tür auf und durchschritt die kleine Vorhalle, in der es kräftig nach Stallduft roch. Rechts lagen die beiden Räume für sein Viehzeug, links seine beiden eigenen Zimmer, die einzigen, die noch den Namen Zimmer verdienten.

Während er nun seinen Rucksack in der winzigen Küche auspackte und die in Tölz erworbenen Vorräte verstaute, hob er plötzlich lauschend den Kopf… Sein feines Gehör hatte ihm, da alle Türen und Fenster offenstanden, vom Fluß her ein Geräusch vermittelt, daß in dieser Weltabgeschiedenheit zu ungewöhnlich war, als daß nicht sofort in seinem regen Geist eine Ideenverbindung wachgerufen wäre, die in seine Züge den Ausdruck des Unwillens und ärgerlicher Reue prägten.

„Narr, du hättest…“

Aber das leises vorwurfsvolles Selbstgespräch wurde durch seine drei Rüden unterbrochen, die wie toll herein gehetzt kamen, vor ihm halt machten und ihn mit steil emporgerichteten Ohren aus klugen Augen seltsam mahnend anstarrten.

Ein Mann, der so sehr wie er mit der Natur und seinen Tieren verwachsen war, begriff die stumme Sprache dieser Hundeaugen sofort.

Schnell griff er nach Filz und Bergstock.

„Hallo, Gondar, – mitkommen!!“

Der mächtige Schäferhund, zu dem der sanfte Name ‚Gondar‛ nicht recht paßte, eilte voraus den Abhang hinunter, und sein Herr folgte in weiten Sprüngen.

Etwas außer Atem erreichte er das Gestrüpp, nahm den Hund an die Leine und drang in die Büsche ein.

Da es seit Tagen nicht geregnet hatte, war das Wasser der Isar so klar und so durchsichtig grün, daß man die Forellen drunten um die im Flußbett liegenden Felsblöcke spielen sah.

Dort, wo das Gestrüpp mit seinen unterspülten Wurzeln in die kleinen Strudel der Isar hinabreichte, hing zwischen diesen daumdicken Wurzeln wie in einer beschädigten Hängematte der Körper einer Frau, den Kopf und die Arme schlaff in der grünen Flut…

Jochem Graf Todlaar war mit einem gewaltigen Satz in den Fluß gesprungen, packte die Frau und trug sie zart und behutsam auf eine grasbedeckte Uferstelle in den Schatten der Büsche. Das junge, nasse, totenbleiche Gesicht der fast elegant gekleideten Unbekannten rührte ihn. Obwohl noch andere Gründe vorlagen, sich zunächst um die Leblose zu bemühen, wandte er sich zögernd ab, ergriff die Lederleine Gondars, streichelte dem Hund aufmunternd den Kopf und befahl leise:

„Such’, mein guter Hund, – – such’!!“

Gondar war der klügste der drei Rüden des Eremiten der Ruine Todlaar, die im Volksmund nur ‚Schloß Tod‛ hieß. Aber auch das intelligente, auf freier Wildbahn vielseitig von seinem Herrn dressierte Tier vermochte hier nichts auszurichten. Nur Jo Todlaar, schon durch seine jahrelange innigste Naturverbundenheit ein heller Kopf auch für recht abwegige Künste, machte eine überraschende Entdeckung, die ihn nachher bestimmte, schnell zum Dorf Lengrieß hinabzuklettern und dort auf dem Postamt eine Depesche aufzugeben, deren sehr vorsichtig gehaltener Text ihm einige Kopfschmerzen bereit hatte. –

*

– Wenn der Mai vorüber ist, packt meinen Freund Harst regelmäßig eine ganz bestimmte Sehnsucht.

In diesem verflixten Frühjahr hatten nun die Reparatur des Daches unseres Häuschens in der Arnoldstraße Berlin W unsere Kasse derart erschöpft, daß es im Grunde ein Leichtsinn war, unser seit Jahren bevorzugtes Idyll in Bad Tölz aufzusuchen. –

Ich sage Idyll… Mit Überlegung. –

Harald lieb Tölz, ich liebe es noch mehr, und wir werden auch dort geliebt. Unsere Wirtsleute kennen uns, der ganze Kalvarienberg, an dessen Nordwestseite die Familie Grüttner wohnt, kennt uns, jeder grüßt uns, und niemand ahnt – das ist das Hübscheste bei alledem – daß sich hinter den Namen Harry Hirth und Melchior Schrock zwei bescheidene Berühmtheiten verbergen. Harst hat dieses Verschweigen und Verschleiern unserer Persönlichkeiten so fein eingefädelt, daß nur ein Zufall diesen Schwindel aufdecken könnte.

Der 14. Juni 192. war ein sehr heißer Tag gewesen. Abends gegen acht Uhr saßen wir auf der zu unserem Zimmer gehörigen Loggia, und Frau Schreinermeister Grüttner hatte uns soeben die große Kanne starken Kaffee gebracht, ohne den mein Freund nicht auskommen kann, – ich hatte alles für das Abendessen – selbst eingekauft – bereitgestellt, als es klopfte und der Herr Oberpostassistent Werkle – unser Vertrauter hier! – erschien und eine Depesche für Herrn Harry Hirth ablieferte, die uns nach dem Umweg über Berlin mit etwa vier Stunden Verspätung auf diese Weise doch erreichte.

Während Herr Werkle mit mir einen Plausch hielt und meinen Zigarren abermals lobte, vertiefte sich Harald in das Studium des Telegramms – und gleichzeitig in das eines saftigen Rettichs und tadellosen großlöcherigen Schweizerkäses.

Dann blickte er sinnend in das Abendrot der Bergkuppen und wandte sich nach einer Weile unseren Freund von der Post: „Lieber Werkle, Sie sind doch geborener Tölzer. Und was im Augenblick noch wichtiger: Sie sind ein guter Bergsteiger und – das wichtigste – ein verschwiegener Mann, dazu Junggeselle, also Herr über Ihre dienstfreie Zeit. Sie haben schon immer gewünscht, einmal an einem Kriminalfall als unser Helfer teilzunehmen. Die Gelegenheit dazu ist nun vorhanden.“

Er reichte mir die Depesche zu. „Den Inhalt kennen Sie ja, lesen Sie ihn aber bitte nochmals mit Detektivaugen.“

Werkle und ich lasen.

Da stand:

Hirth, Berlin W 69, Arnoldstraße 24, –

als Adresse. Wozu zu bemerken ist, daß unsere Hausdame daheim die Depesche in Empfang genommen und nach Änderung des Namens Harst in Hirth wieder abgeschickt hatte.

Würden mich verpflichten, wenn Sie mich sofort für einige Tage besuchen wollten. Honorar tausend Mark. Spesen extra. Gute Verpflegung, wundervollste Aussicht auf seltsamste Schönheiten, behagliches Zimmer. Bitte Drahtantwort. –

Graf Jo Todlaar,

Schloßruine Lengrieß-Tölz, Oberbayern.

Werkles braunes Wilderergesicht – zum ‚Postrat‛ war der sehnige Mann viel zu schade – lächelte verschmitzt.

„Ob ich den Inhalt kennen, Herr Hirth … nein, Herr Harst in diesem Fall!“ flüsterte er vorsichtig. „Möchte wissen, wo der Herr Graf Tod tausend Mark hernehmen will! Das war mein erster Gedanke beim Überfliegen des Telegramms. Der Jo Tod hat nämlich nix, gar nix, nur den Schloßturm und ein paar Ziegen und eine kleine Alm, wo er Kartoffeln bestellt… Seine Frau hat all sein Geld verjuxt, hat noch Schulden gemacht und ist ihm dann ausgerückt. Aber ein hochanständiger Kerl ist der Jo Tod, – die ganzen Schulden hat der bezahlt, hat das treffliche Palais in der Luitpoldstraße in München verkauft und wurd’ arm wie’n Kirchenmäusl, ernährt sich nun vom Forellenfang in der Isar und durch sein Federvieh und ist ein Menschenfeind worden… – Den Eremit von Schloß Tod nennen’s ihn hier. Drei Jahre haust er nun schon dort unterhalb der Benediktenwand. Aber wie gesagt: Tausend Mark?! Der Jo?! Der hat keine fünfzig in Säckel.“

„Glauben Sie, lieber Werkle!“ meinte Harald und erhob sich. „So, wie Sie den Herrn schildern, wird der uns nichts versprechen, wenn er es nicht auch halten kann. – Ich werde unserer braven Frau Grüttner Bescheid geben, daß wir für mehrere Tage eine Fußtour unternehmen. Schraut, pack unsere Rucksäcke. Und Sie sagen Schraut derweil Bescheid, lieber Werkle, wie man am schnellsten nach der Schloßruine Todlaar gelangt, die ich von Ansehen übrigens längst kannte. Nähere Instruktionen folgen später…“

 

 

2. Kapitel

Wir, die Nixe und ein Käuzchen…

Wir beide kannten die Eigentümlichkeiten der Eremitage und seines Besitzers doch nur recht wenig. In halber Höhe der Wand stießen wir auf ein Hindernis, das den Pfad völlig sperrte. Es war ein Rahmen von dicken Balken, der mit Stacheldrähten überzogen war. Zwei dünne Stahltrossen liefen von dieser Barrikade nach oben, an der ein Holzschild mit Leuchtaufschrift hing:

Betreten verboten!

Lebensgefahr!

Und dahinter war ein zackiger Blitz gemalt. Das hieß: Hochspannung!! –

Wer sich also nicht selbst elektrisch hinrichten wollte, oder wer nicht gerade Gummihandschuhe bei sich hatte wie wir – aus anderen Gründen – blieb dieser Absperrung besser fern. Daß diese Warnung kein Kinderschreck war wie etwa die bekannten Tafeln der Laubenkolonisten: ‚Vorsicht, Selbstschüsse!!‛ bewies uns der noch warme Kadaver einer Ratte, der unten zwischen den Drähten hing.

Harst horchte eine Weile. Bisher hatten uns die Hunde nicht gewittert. Dann holte ich aus seinem Rucksack die dicken Gummihandschuhe hervor, und wir schoben den ‚Spanischen Reiter‛ sehr behutsam beiseite, umgingen ihn und brachten ihn wieder in die alte Lage zurück.

Noch immer schlug keiner der Hunde an. Das war zumindest sonderbar. Werkle hatte uns erklärt, die drei Rüden seien sehr wachsam und sehr gefährliche Viecher… – ja, Viecher hatte er gesagt… ‚Fragen’s mal den blonden Sepp, Herr Harst… Was so der übelste Kumpan hier ist, – Dieb, Wildschütz und manches andere… Der Sepp hat drei Monate mit böse zugerichtetem Sitzpolstern im Krankenhaus auf dem Bauch liegen müssen… Der hat’ gedacht, dem Jo könnt’ man so mir nichts, dir nichts die Hühner wegstibitzen! Das war noch zu der Zeit, als der Graf mit seiner Frau im Palais in München zusammenwohnte und als er nur so zuweilen auf ein paar Tag’ hierher gekommen ist, um sein Unglück in unseren schönen Bergen zu vergessen! ’s hat ihm schon immer Spaß gemacht, hier so für Tag’ oder für Wochen Eremit zu spielen… Die verflixten Weibsleut’ sind ja halt stets an allem schuld!!‛

Da wir nicht Lust hatten, uns ebenfalls den Hosenboden oder gar noch edlere Teile beschädigen zu lassen, formte Harald die Hände zum Trichter und hatte auch bereits die Lungen zu einem kräftigen Jodler vollgepumpt, als über uns am Terrassenrand ganz überraschend im Licht des soeben hinter den Bergkuppen hervorlugenden Vollmondes eine schlanke Frauengestalt auftauchte. Neben sich hatte sie einen der Hunde, den sie am Halsband festhielt. In der halb erhobenen Rechten schimmerte bedrohlich eine moderne Pistole.

„Wer sind Sie?“ fragte sie scharf. „Was wollen Sie hier?! Graf Todlaar schläft!“

Ich muß hier bemerken, daß wir von der Vorgeschichte, von Jo’s schneller Rettungstat, bisher nichts wußten, also auch nichts von seinem geheimnisvollen Gast.

„Graf Todlaar hat uns depeschiert,“ erklärte Harst dieser Hüterin der Alm absichtlich etwas unklar. „Wahrscheinlich hängt seine Depesche mit Ihnen irgendwie zusammen, meine Gnädigste…“

„Leider!“ erklang es von oben ärgerlich zurück. „Der Graf hätte sich die Mühe sparen können… – Sie sind also mit dem Flugzeug gekommen, Herr Harst. Das ging ja sehr schnell.“

„Ja… Meine Gedanken fliegen noch schneller. Sie sind irgendwie gegen uns eingenommen…“

„Ich bin jedenfalls auf Ihre so frühe Ankunft gar nicht vorbereitet. Der Graf erwartete Sie morgen vormittag. Ich sagte schon, er schläft… Er braucht Ruhe. Er hat mit mir viel Mühe gehabt… Ich bin ihm dankbar.“

Ihre Ausdrucksweise deutete darauf hin, daß sie sich jetzt jedes Wort gründlichst überlegte.

„Wir nehmen vorläufig auch mit Ihnen fürlieb,“ sagte Harst halb scherzend. „Aber wir können doch nicht wieder umkehren und in Tölz übernachten und dadurch vielleicht den ganzen Erfolg unserer hiesigen Aktion in Frage stellen?!“

„An einem Erfolg liegt mir nichts!“ rief die Fremde jetzt etwas sehr vorschnell.

Zu spät wurde ihr bewußt, daß sie schon hierdurch zugegeben hatte, ihre Persönlichkeit und alles, was mit ihr in Zusammenhang stand, in Dunkel hüllen zu wollen. Sie suchte den Fehler schnell wieder wettzumachen, vergrößerte ihn jedoch nur. „Das heißt,“ sagte sie verlegen und auch wieder gereizt, „– ein Erfolg ist nach Lage der Sache ausgeschlossen… Der Schreck beim Sturz in den Fluß hat sehr nachteilige Folgen gehabt. Ich habe das Gedächtnis vollkommen eingebüßt…“

„Oh, das Erinnerungsvermögen findet sich bestimmt zurück… Ich bin auf gewissen Gebieten auch so ein wenig Arzt… – Dürfen wir nähertreten?“

„Gewiß… Ich kann Sie ja nicht abweisen, meine Herren. Kommen Sie nur…“

Nun standen wir der Unbekannten gegenüber. Der Hund neben ihr knurrte nicht einmal, beschnupperte uns nur und benahm sich unbedingt liebenswürdiger als die schlanke, etwas blasse Nixe mit den ‚Es war einmal – Augen‛…

Sie betrachtete uns prüfend. Über ihrem feinen Näschen lagen drei Stirnfalten. Sie hatte sich so gestellt, daß sie den Mond im Rücken hatte. Absicht‥! –

Für eine Dame mit Gedächtnisstörungen infolge eines Unfalls benahm sie sich allzu zweckmäßig: Ihr Gesicht lag im Schatten, wir standen im Mondlicht.

„Wie sind Sie an den Hochspannungsdrähten vorübergekommen?“ fragte sie schließlich mit einem Unterton in der Stimme, der ein ganz besonderes Interesse für die von uns benutzten Methoden verriet.

„Mit Gummihandschuhen!“ Harst sprach vollkommen sachlich-gleichgültig.

„Womit? – Gummihandschuhen?! Wußten Sie denn, daß Sie die hier brauchen würden?“

„Wir brauchen sie immer.“

Sie schaute nach unseren Händen. Aber die Handschuhe, die so sicher verräterische Fingerspuren verhüten, lagen bereits wieder in Haralds Rucksack.

Der forschende, sichtlich gespannte Blick der Fremden wanderte aufwärts und glitt über die Rucksäcke hin. Die Falten auf ihrer Stirn glätteten sich plötzlich.

Sie lächelte bezaubernd-kindlich. „Nun wollen wir aber wirklich in den Turm gehen… Ich bin eine sehr unaufmerksame Vertreterin des Hausherrn, der mir sein Arbeitszimmer liebenswürdigerweise abgetreten hat. Folgen Sie mir bitte. Ihre Rucksäcke können Sie ja in der Vorhalle ablegen… Graf Todlaar schläft oben in dem einzigen noch benutzbaren Stübchen der Turmruine.“

Sie stieg die Treppe hinab, und Harst meinte liebenswürdig: „Sie sind sehr aufmerksam … wirklich sehr…“

Sie drehte sich jäh herum und starrte ihn an. Jetzt war sie hell beleuchtet. Ihre eigenartige Schönheit mit dem frühreifen Leidenszug um den Mund entwaffnete mich trotzdem nur halb. Entzückende Hochstaplerinnen haben wir leider schon wiederholt kennengelernt.

Ihre Augen schlossen sich halb. Auch die feingeschwungenen Lippen kniff sie fest zusammen. Aber wortlos betrat sie dann die matt erleuchtete Vorhalle durch die offene, schwere, eisenbeschlagene Tür und deutete auf eine Bank, die freilich bei näherem Hinsehen sich als tief nachgedunkeltes, reichgeschnitztes altes Kirchengestühl entpuppte. „Dort können Sie Ihre Rucksäcke, Röcke und Hüte vorläufig niederlegen… Es riecht hier etwas ländlich, die Ställe dort sind…“

Sie schwieg jäh. –

Auch wir horchten.

Draußen in den Vorbergen rollte der Widerhall eines Gewehrschusses.

„War … das ein Schuß?!“ fragte sie matt und erschauerte. Sie war urplötzlich völlig verwandelt. All ihre Selbstsicherheit war zerronnen.

„Es war ein Schuß,“ nickte Harst ernst. „Es scheint nicht ratsam, außerhalb der Alm zu dieser nächtlichen Stunde sich zu zeigen… Wildschützen sind unangenehme Gesellen.“

Die Fremde, die ich auf etwa zwanzig schätzte, erschauerte von neuem, als ob die Hand des Todes sie gestreift hätte. Ihr überaus feines, schmales Antlitz verlor noch mehr an Farbe, und als nun gar in dieses beklemmende Schweigen irgendwoher die Töne eines Baumkäuzchens wie ein schrilles Hohnlachen hineinprallten und die grellen Schreie in einem dumpfen, klagenden Hu–u–u–hu erstarben, tastete das Mädchen mit vorgestreckten Händen ins Leere und sank mit halber Drehung vor der alten Kirchenbank in die Knie. Sie stützte Arme und Kopf wie eine betende Magdalena auf Harsts Rucksack und blieb minutenlang in dieser gebeugten Stellung.

Harst, der sonst Frauen gegenüber als freundlicher warmherziger Tröster stets schnell bei der Hand ist, benahm sich zumindest ebenso eigentümlich. Für die Unbekannte zeigte er keinerlei Teilnahme. Seine Aufmerksamkeit galt ausschließlich den Vorgängen dort draußen im Schlagschatten der Baumkulisse. Der Hund war sofort auf den Schuß hin mit leisem Winseln und eigentümlich schleichenden und doch schnellen Bewegungen die verfallene Treppe hinabgehuscht und verschwunden. Als der Schrei des Käuzchens ertönte, vernahm auch ich aus der Finsternis der von Unterholz durchwucherten Baumreihe das kurze drohende Knurren des Rüden.

Nun war alles wieder still.

Nur das Mädchen schluchzte leise.

Es blieb ohne jeden Eindruck auf Harst. Er war mir unverständlich wie so oft. Genau so lautlos wie vorhin der Wolfshund schlich er zur offenen Tür und streckte den Kopf ins Freie, drehte ihn etwas und legte noch die Hand als Schallfänger hinter die rechte Ohrmuschel.

Dann erklang abermals, jedoch ebenso unbestimmbar nah oder fern dasselbe Hohnlachen herüber, endete ebenso mit den dumpfen, klagenden, tiefen Tönen, und jetzt warf sich Harst auf dem rechten Absatz blitzschnell herum und schritt geräuschvoll und fest auftretend auf die Fremde zu.

„Geben Sie die Gummihandschuhe wieder heraus!“ sagte er so hart, daß das verängstigte Gesicht der Frau sich dunkler färbte. „Schraut hätte die Handschuhe sorgsamer verstauen sollen, zwei der Gummifinger blieben sichtbar. – Stehen Sie auf. Graf Todlaar wußte schon, weshalb er Ihnen jeden Fluchtweg verbaute. Sie wollten fliehen… Unsere, meine Fragen wären Ihnen lästig gewesen – – oder gefährlich… Das kann ich jetzt noch nicht entscheiden.“

Harst änderte sein Benehmen. Der Ausdruck von Verzweiflung und Schmerz im Antlitz der Unbekannten war so ergreifend, daß er schnell hinzufügte und ihr dabei die linke Hand leicht auf die Schulter legte: „Seien Sie nicht unglücklich, mein Kind, weil ich Sie wahrscheinlich vor einer sehr großen Torheit bewahrt habe.“ Ganz sacht zog er die unter dem zugeknüpften Regenmantel verborgenen Gummihandschuhe hervor. Sie ließ es ruhig geschehen, weinte nur stärker. Sie zwang sich nicht mehr dazu, die Tränen zurückzuhalten.

Harst neigte sich vor. Beim Herausziehen der Gummihandschuhe hatten sich die oberen Knöpfe des leichten Mantels der Fremden geöffnet, und links neben dem Herzen wurde so auf dem hellen Seidenstoff des Kleides ein rötlicher, verwaschener Fleck sichtbar.

Mein Freund hatte plötzlich seine Taschenlampe eingeschaltet und hielt sie dicht an diesen Fleck, da die Beleuchtung durch die Ampel zu ungenügend war.

„Oh, man hat auf Sie geschossen… Der faltige Stoff ist durchlöchert… Ihr Absturz in den Isar war also kein Unfall, sondern das gerade Gegenteil…“

Sie nickte matt. „Nur weil ich zusammengekauert dicht an der Uferböschung saß, und weil mein Brilliantanhänger mir in den Kleiderausschnitt gefallen und verrutscht war, kam ich mit einem bösen Prellschuß davon, wurde allerdings bewußtlos, fiel halb ins Wasser, den Kopf und die Arme nach unten, und lediglich die unterspülten Wurzeln hielten mich fest. Dann kam der Graf mir zu Hilfe, der den Schuß gehört hatte…“

Sie schwieg Sekunden, nachdem sie vorher immer klarer und selbstbewußter gesprochen hatte.

„Dies ist dasselbe, was dem Grafen bekannt ist. Mehr weiß ich nicht, und mehr will ich auch nicht wissen. Jede weitere Frage Ihrerseits, Herr Harst, wäre zwecklos.“

„Das sehe ich… Das höre ich. – Ich sah noch mehr, ich hörte noch mehr, ich werde noch mehr sehen und hören. – Mein Kind…“ – und wieder legte er ihr die Hand auf die Schulter – „ich bin im Vergleich zu Ihnen ein alter Mann, ein Greis an Erfahrungen, ein Mensch in der Blüte der Jahre an zielbewußten Einfällen, ein Jüngling fast an stürmischer, gesunder Energie, wenn ich mein Steckenpferd reite… Sie kennen es: Das Abenteuer in der Form eines Kriminalproblems! Detektivaufklärung, oder hilfsbereite Aufklärungsarbeit, – wie Sie’s nennen wollen…“

Er sprach wieder sehr nachsichtig und gütig… „Ich werde Sie nicht mit Fragen quälen. Nur eins müssen Sie mir unbedingt versprechen, selbst wenn das Käuzchen zum dritten Mal da draußen schreien sollte…“

Die Fremde wich etwas zurück. Ihr Blick wurde mißtrauisch-prüfend.

„Ja – zum dritten Mal schreien sollte, – – das Käuzchen‥!! Sie werden mir versprechen, nicht zu fliehen‥! Geben Sie mir Ihre Hand darauf… Bitte…“

„Niemals!!“

Ein bitterböser Zug trat in ihr Gesicht.

„Niemals!!“ wiederholte sie…

Sie fieberte vor Erregung und doch lag in ihren Augen ein hilfloser, um Schonung flehender Ausdruck: der eines todwunden Rehes… Diese Augen glitten durch die Halle, als erwarteten sie von irgendwo Unterstützung. Dann sprach sie weiter, – überraschend überlegt und im Ton vollster Aufrichtigkeit:

„Herr Harst, ich verspreche Ihnen, sofort zurückzukehren… Räumen Sie mir das Drahtgitter fort, und in einer Viertelstunde bin ich wieder bei Ihnen… Ich schwöre es Ihnen bei der Liebe zu meinen…“ – kurzes Stocken – „verblichenen Eltern! Nur eine Viertelstunde! Bitte – – bitte!“

Harald schaute sie mitleidig an. „Kind, das ist unmöglich… – aus verschiedenen Gründen… In einer Viertelstunde können Sie kaum zum Flußufer hinab und wieder nach oben zu uns…“

„Das – – genügte mir, Herr Harst…“

„Mir genügt das auch… Sie bleiben hier!“ entschied er mit aller Bestimmtheit, aber ohne jede Schärfe.

 

 

3. Kapitel

Graf Jo’s Kerker.

Dann saßen wir im Wohnzimmer des Besitzers der Ruine von Schloß Todlaar, in einem dunkel getäfelten Raum voller wertvoller alter Möbel, Waffen, Ahnenbilder und Photographien. Mochte diese Einrichtung auch noch so bunt zusammengewürfelt sein: Sie verriet Geschmack!

Die drei hohen Nürnberger Stühle mit der wundervollen Schnitzerei sollten uns nicht lange beherbergen. An der Wand mir gegenüber führte eine zweite Tür in des Grafen Schlafraum, eine dritte rechts neben dem Ofen in die Küche. Wir hatten in das Schlafzimmer und die Küche nur flüchtig hineingeschaut. Hauptsächlich deshalb, um uns zu vergewissern, daß es keine unvergitterten Ausgänge nach draußen gäbe. Nein, die gab es nicht.

Vom Schlafzimmer lief die uralte Wendeltreppe in das obere Turmstübchen, wo der Graf nun der Ruhe pflegte, nachdem er seinem Gast das Entwischen so gründlich verbaut hatte. –

Die mächtige Kuckucksuhr an der Wand, ein Prunkstück, schlug eins.

‚Ein Uhr morgens‥! Wie schnell doch die Zeit verrinnt!‛ dachte ich und schrieb in mein Büchlein:

Anhänger, talergroß, Silberfiligraneinfassung, grüner Mittelstein (unechter Smaragd), durch Kugel des unbekannten Schützen zersplittert.

2.) Die Fremde behauptet, den Schützen nicht gesehen zu haben und nicht zu wissen, wer es sein könnte. Bleibt dabei, Gedächtnis durch Schreck verloren zu haben, verweigert Angabe ihres Namens. –

Sie ist der Aussprache nach Norddeutsche. Wahrscheinlich verheiratet, da auf Ringfinger der rechten, leicht gebräunten Hand heller Streifen zu erkennen ist. Trägt sich immer noch mit Fluchtabsichten. Muß draußen Verbündete haben. Der nachgeahmte Käuzchenruf galt ihr. Sie behauptet, Graf Jo habe die beiden anderen Hunde mit nach oben in das Turmstübchen genommen. – Bisher völlig unklare Sache. Außerdem…

Ich hatte weiter noch schreiben wollen: Außerdem bleibt das Verhalten Jo Todlaars unverständlich. Harst zweifelt offenbar daran, daß der Graf sich daheim befindet…

Harald hatte seinen Zigarettenstummel weggelegt und war aufgestanden.

„Mein Alter, ich werde einmal nachschauen, wie es hier mit den Kellerräumen bestellt ist… Oder noch besser: Du begleitest mich, und auch Sie kommen mit, meine Gnädige… – – Bitte!“

Achselzuckend, gereizt und widerwillig gehorchte die Frau.

Die Kellertür lag in der Küche neben dem uralten, in einer Mauernische eingelassenen Küchenschrank.

Sie hatte sogar zwei Schlösser, ein Vorhänge- und ein ganz modernes Sicherheitsschloß. Da die elektrische Küchenlampe sehr hell brannte, steckte Harst seine kleine Laterne wieder in die Tasche und fingerte an den Schlössern herum, wobei er sich so gestellt hatte, daß die Frau nicht beobachten konnte, was er dort tat.

Ich behielt nur die Frau im Auge. Ich wußte, sie würde jede Gelegenheit benutzen, uns zu entwischen, obwohl ihr doch außerhalb der Alm Gefahr drohte, die selbst ihr heimlicher Verbündeter nicht abwenden konnte.

„Sonderbar, höchst sonderbar!“ sagte Harald, uns den Rücken nach wie vor zukehrend.

Dann schnappten Riegel, und die Kellertür schwang nach außen auf.

„Ist es Ihnen wirklich gelungen, Herr Harst?!“ rief die Fremde erstaunt und trat näher. „Haben Sie mit Nachschlüsseln gearbeitet?“

„Ja‥. Wie sonst?!“

Die Frau hielt die Gelegenheit für günstig. Wären wir so vertrauensvoll gewesen, nicht mit einem Angriff zu rechnen, würde ihr Plan geglückt sein, denn sie entwickelte eine überraschende Kraft und Gewandtheit. Urplötzlich versetzte sie mir einen wuchtigen Stoß in die Seite, ich flog auf Harald zu, warf mich jedoch sofort herum, und bevor unsere Gefangene noch die Küchentür erreicht hatte, riß ich sie etwas brutal zurück.

Totenblaß stand sie vor uns.

Harst schüttelte nur mißbilligend den Kopf.

„Wie töricht!! – Nun bleibt mir wirklich nichts anderes übrig, als Sie dort unten einzusperren. Bitte – gehen Sie voran!! – – Bitte‥!!“

In ihren Augen schimmerte es feucht.

„Oh, – – wenn Sie ahnen würden‥!!“ stammelte sie verzweifelt…

Doch dann gehorchte sie.

Harst hatte die Kellerbeleuchtung eingeschaltet. Zu unserem Erstaunen fanden wir in dem trockenen, luftigen Gewölbe, dessen dick vergitterte kleine Fenster von außen völlig von grünen Ranken verhüllt waren, und die ganz hoch unter der Decke lagen, zwei kleinere Räume vollkommen wohnlich eingerichtet. Die schlichten Möbel dieser mit dicken Eichentüren versehenen Zellen machten fast den Eindruck, als ob es sich wirklich um Gefängniszellen handelte.

Nichts fehlte hier. Die Fenster hatten sogar eiserne Innenladen, die sehr fest waren und nur kleine Luftschlitze aufwiesen. In einer Ecke stand auch ein elektrischer Herd und daneben ein Schrank voller Konserven, gefüllten Selterflaschen und Hartbrotpaketen. Beide Zellen hatten nur einen Zugang, und diese Tür wies außen nicht nur Riegel, sondern auch oben ein Guckloch und eine Alarmvorrichtung auf.

Harald musterte das alles sehr ernsten Gesichtes. Aber er sagte nur wieder „Sonderbar!!“, und dann wandte er sich an die schöne, blonde Frau, die offensichtlich verblüfft das Holzbett, die Kissen, Decken und Tisch und Stühle betrachtete. Auch mir war schon aufgefallen, daß hier nicht ein einziger Metallgegenstand vorhanden war, der etwa als Ausbruchswerkzeug hätte benutzt werden können.

„Bleiben Sie bitte hier, meine Gnädige,“ sagte Harst sehr bestimmt. „Es tut mir leid, – es muß sein!“

Sie senkte nur ergeben den Kopf.

„… Es fehlt Ihnen hier an nichts, wie ich sehe,“ fügte Harald hinzu. „Sogar ein tolles Bücherbrett ist da… Seltsame Auswahl von Lektüre für einen widerspenstigen Gast: Nur Erbauungsbücher! – – Sonderbar‥! – Also auf Wiedersehen…“

Er versperrte die Tür, ließ das Licht in Keller brennen und machte erst droben in der Küche halt und meinte nachdenklich: „Mein Alter, ich werde dir jetzt etwas zeigen, das sehr vielsagend ist.“

Er deutete auf die Schlösser der Kellertür und dann auf die in die Mauer eingelassene Krampe, die zu dem Vorhängeschloß gehörte. „Wenn dieses zweite Schloß versperrt ist, und es war versperrt, als wir hier in die Küche kamen, konnte niemand aus den Kellergewölben hinausgelangen.“

Ich verstand ihn nicht. „Es war doch niemand unten, Harald?!“

„Nein. Aber gesetzt den Fall, es wäre jemand unten gewesen, so hätte er nur hier in die Küche gelangen können, wenn die Krampe dieses Vorhängeschlosses sich vom Keller aus herausstoßen ließe. – Schau sie dir an. Sie sieht durchaus intakt aus, Sie ist mit Zement neuerdings eingegossen worden…“

„Und doch nicht fest?!“ fragte ich, immer noch nicht begreifend.

„Nein. Gib acht… Ein sehr einfacher Trick, ein elektrischer Auslöser!“ Er zog mich wieder in den kleinen Kellerraum hinein. „Hier ist der Knopf des Auslösers, in dieser Mauerritze!“

Sein Eifer berührte eigenartig.

„Nun paß auf‥! Ich drücke… Da, die Krampe läßt sich herausziehen – – bitte!“

„Allerdings, – sonderbar!“ nickte ich. „Weshalb hat Jo Todlar diese immerhin komplizierte Vorrichtung angelegt?!“

„Das wirst du sofort erkennen, mein Alter.“

Er versperrte jetzt die Kellertür ordnungsgemäß und betrat den ganz schmalen Flur zwischen den Zimmern und der Küche des viereckigen Turmes, besser der Turmruine.

Dieser Flur hatte nur drei Türen – für die beiden Zimmer und die Küche – und im äußersten Winkel vor dem langen engen Fenster eine leiterähnliche Holztreppe, die nach den Angaben unserer Gefangenen in einen als Heuboden benutzten Raum führte.

Harst stieg die Holztreppe leise empor, beleuchtete oben die geschlossene kleinen Luke und drückte sie schließlich auf.

„Folge mir!“

Von ‚Heuboden‛ war keine Rede! Es war das Stübchen, in dem angeblich Graf Jo jetzt schlafen sollte! Aber weder er noch die beiden Hunde waren hier!

„Begreifst du nun?“ meinte Harald sichtlich erregt. „Graf Jo hat seine Isar-Nixe beschwindelt. Er ließ ihr den Donar und eine Pistole zurück, andererseits sperrte er sie ein, da er mit Fluchtversuchen rechnete. Er selbst begab sich mit seinen beiden anderen Schäferhunden in die Vorberge, indem er die Kellergewölbe als Ausgang benutzte, die also eine Verbindung nach draußen haben müssen. Durch den elektrischen Auslöser ist ihm die Rückkehr in die Ruine jederzeit möglich, das Vorhängeschloß ist eben derart angebracht, daß es von beiden Seiten der Kellertür geschlossen und geöffnet werden kann. – Was tut er draußen? – Er jagt dem Schützen nach, der auf die Nixe gefeuert hat, und er sucht vielleicht auch den Mann zu erwischen, der hier ‚Käuzchen‛ spielte… Wenn du nun noch an den Schuß denkst, den wir hörten, und der den Hund Donar in so starke Erregung versetzt – genau wie die Nixe, dann dürfte meine Vermutung nicht ganz falsch sein, daß dort in den Vorbergen sehr bemerkenswerte Dinge sich ereignet haben können. Trotzdem werden wir demnächst dorthin uns begeben, wohin die unbekannte Frau durchaus ‚nur für eine Viertelstunde‛ entlassen zu werden bat. Für mich steht es fest, daß sie dort unten am Isarufer an der Stelle ihres Unfalles, besser des Mordversuchs, an zwei Plätzen Sachen versteckt hatte, bevor die Kugel ihren Anhänger traf.“

Er blickte mich forschend an.

Ich fragte denn auch prompt: „An zwei Plätzen?! An einem, – das würde mir einleuchten, denn sie wollte ja nur zum Ufer hinab, also wollte sie etwas dort Verstecktes holen. Aber an zwei Plätzen?!“

„Gehen wir‥! Wir nehmen Donar mit!“ erklärte er kurz. „Ich habe das Taschentüchlein der Frau heimlich zu mir gesteckt… Donar wird uns führen!“

 

 

4. Kapitel

Was die Fremde vernichten wollte.

Bevor wir den Abstieg begannen, suchte Harald noch nach dem Schalter für die elektrisch geladene Barrikade und fand ihn auch in einem Baumstumpf am Rande der Terrasse.

Wir beeilten uns. Der Hund wurde an die Leine genommen und kam willig mit. Der Mond schien sehr hell, und als wir das Gebüsch am Isarufer erreichten, hatte Donar längst an dem feinen Spitzentüchlein Witterung aufgenommen und zog uns mitten in das Gebüsch hinein, bis der von Silberglanz überstreute Fluß vor uns lag.

Hier erst ergänzte Harald seine Schlußfolgerungen.

„Ich sprach von zwei Verstecken… Das eine enthielt Geld und vielleicht einen Rucksack mit Kleidungsstücken…“

„Hm – eine sehr aus der Luft gegriffene Mutmaßung,“ zweifelte ich in aller Offenheit.

„So?! Glaubst du?! Überlege dir doch mal: Graf Jo ist arm! Sehr arm! Aber Graf Jo verheißt uns tausend Mark Honorar. Woher hat er plötzlich diese Summe?! – Hier gefunden, behaupte ich! Aber er entdeckte nur das eine Versteck. Das zweite dürfte die Papiere der Fremden enthalten, also wohl ihren Paß, und diese Papiere wollte sie in der Viertelstunde, um die sie bettelte, nicht holen, wie du vermutest, sondern vernichten, wie ich meine! Sie will eben ihre Person unbedingt in stärkstes Dunkel hüllen. Sie wird schon ihre Gründe dafür haben, genau wie Graf Jo wohl kaum ohne triftige Ursache die beiden Zellen im Keller hergerichtet haben wird. – Suchen wir!“

Ohne Donar und das Taschentuch hätten wir, ehrlich gesagt, nie Erfolg gehabt. Eine Hundenase findet alles, und die frische Witterung des Tüchleins spornte den Hund zu höchster Entfaltung seiner Fähigkeiten an. Zuerst entdeckten wir so unter flachen Geröllscheiben einen prall gefüllten Rucksack kleineren Formats. Er enthielt wirklich nur Wäsche, ein Sportkostüm, ein paar Schuhe, Toilettensachen und ein sehr elegantes Krokodillederhandtäschchen, das obenauf lag. In diesem Täschchen lag noch eine Silberbörse mit Kleingeld

„Das Papiergeld hat Jo in Verwahrung genommen, und es wird nicht wenig gewesen sein,“ äußerte sich Harald zu diesem Fund.

Dann hatte Donar an einer andern Stelle geschnüffelt, und hier steckte in dem Riß eines Felsstückes, der mit einem Stein sehr geschickt verkeilt war, eine Brieftasche aus Juchtenleder.

Harald triumphierte. „Sagte ich’s nicht!! Nun wird die Nixe ihren Namen wohl preisgeben müssen!“

… Bittere Enttäuschung: Die Brieftasche enthielt lediglich Zeitungsausschnitte und zwei Photographien älterer Herren. Die Bilder waren aufgeklebt und schief beschnitten.

„Damit können wir uns jetzt nicht aufhalten,“ brummte Harst etwas mißmutig. „Immerhin wollen wir zufrieden sein: Irgendwie müssen die Bilder und die Zeitungsausschnitte mit der unbekannten Frau zusammenhängen!“

Er steckte die Juchtentasche zu sich, schulterte den Damenrucksack und schlug die Richtung nach den Vorbergen der Benediktenwand ein.

„Wollen hören, was Freund Joseph Werkle gesehen und erlauscht hat, mein Alter. Wir müssen jetzt nur doppelt vorsichtig sein… Denke an den Schuß und an Donars seltsame Unruhe!“

Freund Werkle, alltags braver ‚Oberpostrat‛, in seinen Feierstunden begeisterter Bergkraxler, war von uns zur Überwachung des zweiten Zugangs zu Graf Jo’s Eremitage kommandiert worden.

Nachdem wir einige bewaldete Berglehnen und einen Wildbach passiert und eine kahle Wand emporgestiegen waren, mußten wir ungefähr dort angelangt sein, wo wir Werkle vermuten konnten. Harald hatte Donar an der Leine, und vor uns ragten die Baumkulisse und die Turmruine gegen den mondhellen Himmel in klaren Konturen empor. Eine steile Schlucht bildete hier ein anscheinend unüberwindliches Hindernis. Dichtes Gestrüpp wucherte am diesseitigen Rand, und bevor noch der Hund mahnend knurrte, rochen wir bereits Werkles Pfeifenknaster.

„Hallo, – – Werkle!“ rief Harald leise.

Eine lange, sehnige Gestalt mit Gamsbarthut stelzte auf uns zu.

„Harst, gesehn hab i nix, gor nix, aber gehört hab i den Knall und auch den Kerl, der das Käuzchen nachahmte.“

„So, wenigstens etwas‥! Wie viele Käuzchensignale vernahmen Sie?“

„Zwei…“

„Und wo fiel der Schuß?“

„Drüben nach der Waldherrnalm zu… Es ist ein beliebtes Wilddiebrevier dort, weil das Gelände ganz unübersichtlich ist.“

„Hm…“ Harald blickte auf seine Armbanduhr. „Schon zwei Uhr morgens… Es wird sehr bald hell. – Nun passen Sie einmal auf, lieber Werkle. Sie wollen doch bei uns so etwas in die Schule gehen – Schule der Detektive!“

Wir standen im Schutz mehrerer Krüppelkiefern, und Harst schilderte ganz kurz, was wir bisher erlebt hatten.

Werkle machte dazu Riesenaugen.

„Unglaublich!!“ meinte er… „Was will der Eremit mit den vorbereiteten Zellen?!“

„Natürlich will er jemanden dort einsperren, das ist wohl klar. Einen Feind, einen Menschen, den er haßt, den er … bestrafen will – ohne Richterkollegium. Er will sowohl Richter als auch Zuchthauswärter sein… Was sonst?! – Ich bin nun aber sehr in Sorge um ihn… Er ist mit seinen beiden andern Hunden heimlich hier irgendwo in den Bergen. – Wo aber?! Der Schuß kann ihm gegolten haben… Er kann verwundet sein… Schraut und ich werden ihn suchen, und Sie passen hier weiter auf.“

„Gern,“ beeilte sich Freund Werkle zu erklären. „Sehr gern… Aufgepaßt habe ich! Der Graf ist hier bestimmt nicht vorübergekommen. Ich habe Augen und Ohren wie ein Luchs. – Sakra, wenn man den Grafen wirklich abgeknallt haben sollte!! Möglich ist’s schon… Der blonde Sepp, der üble Bursche, hat den Grafen Tod längst auf dem Strich von wegen der ramponierten Kehrseite! Freilich, der Sepp ist wieder mal seit Wochen verschwunden, wahrscheinlich ist er mit seinen Zigeunerfreunden auf der Fahrt.“

Werkle schwieg plötzlich und kratzte sich erregt am Kinn. „Mir fällt da gerad was ein, Herr Harst… Der Jo besitzt ja noch drüben rechts von der Waldherrnalm ein Stück Weideland und eine uralte Sennhütte. Schon möglich, daß der Schuß dort gefallen ist…“

Harald überlegte.

„Ich bleibe hier,“ entschied er schließlich. „Aber ich warne euch! Seid vorsichtig! Diese ganze Geschichte mit dieser unbekannten Dame schaut mir sehr nach einem ebenso verzwickten wie gefährlichen Fall aus. Solltet ihr ihm verwundet auffinden, so transportiert ihr ihn entweder ganz unauffällig hierher oder einer von euch, Schraut am besten, bleibt bei ihm, während der andere mich benachrichtigt. Nun beeilt euch. Donar behalte ich hier. Ich will versuchen, den Zugang zu den Gewölben des Schlosses aufzuspüren. – Weidmanns Heil!“

So trennten wir uns. –

Freund Werkle legte ein Tempo vor, das ihm nichts weiter ausmachte – aber mir.

„Werkle, stoppen Sie ab!“ bat ich ihn schon nach fünf Minuten. „Ich bin kein trainierter Kraxler wie Sie!“

Unser detektivlüsterner Postrat drehte sich halb um, packte mich beim Kragen und riß mich in ein Distelgebüsch hinein.

„Mensch, sind Sie denn‥!!“ – wollte ich loswettern.

„Still!! Er kommt!“ zischte Joseph Werkle… „Da – hören Sie nicht die Steinchen rollen! Noch tiefer hinein ins Gestrüpp‥! Da, nehmen Sie diese Enzianblüte und zerreiben Sie sie, damit die Hunde uns nicht wittern! Los doch, Herr Schraut! Spüren uns die Köter auf, so wissen wir doch gar nicht recht, was wir dem Grafen mitteilen sollen und was nicht‥!“

Das Herabrieseln von Steinchen und Geröll verstärkte sich. Dann tauchte der Graf auf, stützte sich schwer auf seinen Bergstock und auf einen langen dicken Ast und schritt so mühsam dahin, daß es mir widerstrebte, denn doch offenbar Schwerverletzten ohne Hilfe den steilen Abstieg vollenden zu lassen. Hinter ihm trotteten mit hängenden Schweifen seine beiden Hunde her.

Graf Jo war trotz seiner Verwunderung – dem Hinken nach war’s die linke Hüfte – überaus mißtrauisch und gab auf das allergeringste verdächtige Anzeichen acht. Wie scharf seine Sinne und sein Beobachtungsvermögen waren, bewies uns sein jähes Herumschnellen und der Sprung hinter einen schützenden Stein, wobei er ein heiseres Stöhnen nicht unterdrücken konnte.

Ich rief ihm schleunigst zu, daß er nichts zu befürchten hätte, nannte auch meinen und Werkles Namen und erreichte dadurch, daß er die bereits bösartig knurrenden Rüden streng vermahnte. Wir kamen hervor, und als er merkte, daß er wirklich nichts zu befürchten hatte, legte er sich weiterhin keinen Zwang auf, sondern ließ sich in das Gras gleiten und erklärte unter erneutem tiefem Stöhnen: „Ich bin fertig … vollständig fertig. Ob ich allein imstande gewesen wäre, mein Heim noch zu erreichen, bezweifle ich.“

Dann sackte er völlig in sich zusammen und überließ es uns, wie wir ihn nach Hause schafften. Sein schmales Gesicht mit der kühnen Nase, das in allen Einzelzügen den verbitterten, menschenscheuen Sonderling verriet, war aschfahl vor Erschöpfung und troff von kaltem Schweiß. Trotzdem war es das Gesicht eines charakterfesten, ehrlichen Menschen, dem nur das Schicksal in Gestalt eines Weibes, seiner eigenen Frau, allzu hart zugesetzt hatte.

Werkle und ich stellten aus dem Bergstock, dem starken Ast und aus unseren Jacken und Westen schnell eine Tragbahre her. –

Wir wählten dann einen weiteren, aber bequemeren Weg und hatten den Grafen, gerade als es hell zu werden begann, glücklich bis vor die Eingangstür des Turmes gebracht. Er war inzwischen ohnmächtig geworden. Harst hatte uns kommen gehört, half uns, wir legten den Bewußtlosen auf das Bett, das eigentlich für die Fremde bestimmt gewesen. Wir entkleideten ihn, fanden die Schußverletzung am linken Beckenknochen vor, verbanden sie, und als Graf Jo dann noch ein kräftiger Schluck Kognak eingeflößt worden war, erwachte er sehr bald und erklärte, er fühle sich bereits wieder frisch genug, mit uns das Nötige zu besprechen. Wir wußten, bevor dies nicht geschehen, würde er doch nicht einschlafen können. Er verlangte sogar nach einem kräftigen Imbiß und lächelte dazu…

„Ich bin keiner von der verweichlichten Art, Herr Harst… Reichen Sie mir mal die Kognakflasche… Daß der Beckenknochen am Rande gestreift worden ist, hat mir nur höllische Schmerzen bereitet…“

Und dann fiel ihm erst der geheimnisvolle weibliche Gast im Haus ein. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich vollkommen.

„Wo … ist die Frau, Herr Harst? Etwa entflohen? Das würde mir alles, alles verderben, wenn die Unbekannte mir nicht…“ – und dann verstummte er, biß sich sogar in die Unterlippe, als ärgerte es ihn, bereits zu viel gesagt zu haben.

„Die Frau,“ erwiderte Harald mit aller Offenheit, „haben wir unten in den Kellern in die Zelle eingesperrt, die Sie, Graf Todlaar, für den Zerstörer Ihrer Ehe vorbereitet haben – – als lebenslänglichen Kerker, zur Strafe!“

Graf Tod setzte sich aufrecht… Sein Gesicht war verzerrt und bleich, seine Augen, weil aufgerissen, sprühten ein Feuer, als ob er meinem Freund an die Kehle wollte.

„Woher … wissen Sie das?!“ keuchte er. „Herr, – woher wissen Sie das?!“

„Ich hatte es vermutet. Jetzt weiß ich es, lieber Graf, jetzt, – Sie haben zugegeben, daß ich mir das Richtige zusammengereimt hatte.“

Todlaar sank wieder in die Kissen zurück.

Sein Antlitz entspannte sich. „Gut, es ist so,“ sagte er hart. „Kennen Sie etwa diesen Schurken, Herr Harst? Ich kenne ihn nämlich nicht – leider nicht! Ich habe nicht einmal die allergeringsten Anhaltspunkte dafür, wo ich den Burschen suchen könnte!“

„Und wer schoß Sie heute nacht nieder?“ fragte Harald ablenkend.

„Wer?! Denken Sie, diese Wilderer zeigen sich?! Ach nein! Der Schuß kam von einer Felszacke schräg über mir, und nicht einmal meine Hunde konnten dort hinauf. Es war ein Wilderer… Sekundenlang sah ich das geschwärzte Gesicht… – nichts weiter!“

Werkle war in die Küche gegangen und hatte etwas Eßbares herbeigeholt. Gleich darauf mußte er sich verabschieden, da er Frühdienst hatte. Er versprach strengste Verschwiegenheit, und daß er diese Zusage halten würde, wußten wir.

Um halb Fünf morgens waren wir mit Jochen Graf Todlaar in der Turmruine allein.

 

 

5. Kapitel

Zwei Photographien, Zeitungsausschnitte und … ein heller Kopf.

Graf Jo besaß wirklich eine Bärennatur. Er entwickelte einen allzu gesegneten Appetit. Harald mußte ihm den kalten Braten und die Kognakflasche wegnehmen, nur eine Zigarre bewilligte er ihm noch als Nachtisch. Auch wir rauchten, die Fenster standen offen, ebenso die Türen, draußen im Frühsonnenschein schliefen die prächtigen Rüden, und Harald verschwand nur einige Minuten, um nach unserer Gefangenen zu sehen. Er kehrte sehr bald zurück.

„Sie schläft und hat das Licht brennen lassen,“ meldete er. „Wir können also beginnen, lieber Graf. Gehen wir Punkt für Punkt durch. Erzählen Sie zunächst, wie Sie die Fremde retteten.“

Hierüber erfuhren wir nichts Neues. Jedenfalls hatte die Frau auch Todlaar gegenüber nichts über ihre Persönlichkeit verraten.

„… Und Sie fanden dann den Damenrucksack mit dem Handtäschchen und mit dem Geld,“ ermunterte Harald den Grafen zum Weitersprechen. „Wieviel Geld fanden Sie in Banknoten vor?“

Jo Todlaar blinzelte halb belustigt. „Sie werden staunen, Herr Harst… Über vierzigtausend Mark, davon dreißigtausend in Devisen!“

„Nachher merkten Sie also, daß die Frau flüchten wollte… Sie verrammelten beide Zugänge zu Ihrer Alm, – nein, nur zwei, denn von dem dritten Ausgang konnte die Fremde nichts ahnen. Ich habe ihn mit Donars Hilfe entdeckt. – Weshalb verließen Sie später heimlich die Schloßruine? Hörten Sie Käuzchenrufe?“

Todlaar nickte eifrig, aber mit finsteren Falten auf der Stirn. „Diese nachgeahmten Käuzchenrufe kenne ich … seit Jahren,“ preßte er bitter hervor. „Wahrscheinlich hat Ihnen Werkle verraten, wie meine Ehe endete: Meine Frau hat mich ruiniert, hat mich mit größtem Raffinement betrogen und entfloh dann. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. Sie muß irgendwohin ins Ausland gegangen sein.“

Er starrte auf die Bettdecke und rauchte mit krampfhafter Hast.

„Mithin,“ sagte Harald nach einer Weile, „haben Sie auch bereits im Park Ihres Palastes in München seinerzeit diese Käuzchenrufe vernommen.“

„Ja, wiederholt… Ihre Bedeutung wurde mir erst später klar, als meine Frau entflohen war und mein ganzes restliches Bankguthaben mitgenommen hatte… Da erst gingen mir die Augen auf, da erst nahm ich mir meine Dienerschaft vor und erfuhr so, daß meine Frau – wir waren uns schon nach halbjähriger Ehe völlig entfremdet und wohnten in verschiedenen Stockwerken – sehr selten eine Nacht im Haus zugebracht oder aber … unbekannten Besuch dort empfangen hatte.“

Er machte eine unwillig abwehrende Handbewegung. „Sie können sich denken, wie ungern ich über diese Dinge rede, und ebenso gut werden Sie sich vorstellen können, wie ich gerade emporfuhr, als ich draußen die Käuzchenrufe nun auch hier vernahm. Es war bereits dunkel, und mich trieb’s nun eiligst hinaus, zumal ich ja merkte, daß die Fremde angstvoll zusammenzuckte, – auch sie hatte die nachgeahmte Vogelstimme gehört. Sie, so hoffte ich, wurde mir nun vielleicht diesen Vernichter meines Lebens in die Hände spielen – irgendwie! Und deshalb wäre es für mich ein böser Schlag gewesen, wenn die Frau entflohen wäre.“

„Allerdings, lieber Graf… – Nun gestatten Sie mir wohl einige mehr ins Einzelne gehende Fragen. Zunächst, Graf Todlaar, das Wichtigste. Bemerkten Sie auf der Isar ein Faltboot oder ein Floß, von dem aus der Schuß hätte abgegeben worden sein können, der die Fremde töten sollte?“

„Nein, nichts. Natürlich habe ich Ausschau gehalten. Ich entdeckte nichts…“

„Gut. – Sie fanden, wie ich schon erwähnte, nur den Rucksack der Fremden in dem einen Versteck. Ich fand die Juchtenbrieftasche mit den beiden Photos älterer Herren und acht Zeitungsausschnitten. Allerdings helfen uns auch diese scheinbar nicht weiter.“

Er rückte seinen Stuhl näher an das Bett heran und reichte Todlaar die Bilder und die bedruckten schmalen Spalten, die offenbar aus verschiedenen Zeitungen herrührten.

Er winkte mir. „Setz dich zu unserem Patienten auf den Bettrand, mein Alter, und betrachtete dir die Bilder und die Ausschnitte gleichfalls recht genau.“

Eine geraume Weile blieb es nun still.

Graf Jo erklärte, er begriffe nicht, weshalb die Fremde diese Zeitungsausschnitte so sorgfältig verwahrt habe. Auch an den Bildern fände er nichts Besonderes.

Ich konnte ihm nur beipflichten. –

Die Bilder stellten ältere, bärtige Herren dar, die den reicheren Kreisen angehören mußten, die Zeitungsausschnitte handelten sämtlich von Hoteldieben und von Hochstaplern, deren Täter unentdeckt geblieben.

Harald hüllte sich in Schweigen, obwohl Todlaar bereits ungeduldig wurde. „So reden Sie doch endlich, Herr Harst! Es muß doch zwischen diesen Bildern, den Zeitungsausschnitten und der Unbekannten einen Zusammenhang geben!“

„Unbedingt, lieber Graf. – Eine weitere Frage. Ihr Ehedrama liegt etwa drei Jahre zurück, – verzeihen Sie, daß ich auf diese unerquicklichen Dinge nochmals zu sprechen komme. Werkle erzählte uns, Sie hätten Ihre Gattin vor etwa sechs Jahren in Wien kennengelernt, und sie sei Kammersängerin gewesen und sehr schön…“

Graf Jo nickte mit einem harten Lächeln. „Ja, zu schön, um eine Seele zu haben! Sie täuschte den tiefen inneren Gehalt nur vor. Es wurde eine Tragödie – nach wenigen Monaten schon. Die Frau war ausgesprochen verbrecherisch veranlagt. Sogar meine Unterschrift auf Schecks und Wechseln hat sie gefälscht. – Sie hat mich in München unmöglich gemacht.“ Er sagte das alles in so eisigem Ton, daß jeder herausgefühlt hätte, wie vollkommen fertig er mit diesem Weib und diesem Abschnitt seiner Vergangenheit war.

Mein Freund blickte ihn etwas überrascht an. „Also auch offenkundige Fälschungen… Besitzen Sie noch einige dieser Papiere?“

„Vielleicht…“ Graf Jo sprach etwas gereizt. Ihm erschienen diese ihn quälenden Fragen überflüssig.

Er kannte Harst nicht. Harald wühlt nicht unnötig im Schmutz.

„Mir kommt es in der Hauptsache darauf an,“ sagte er nun in herzlichstem Ton, „die Schuld Ihrer verschwundenen Gattin vielleicht in ein milderes Licht zu rücken.“

„Unnötig!“ warf Jo unnachsichtig ein. „Brigitta ist für mich abgetan. Nur … ihr Liebhaber nicht. Jetzt erst recht nicht. Er wird mir ins Garn gehen und dann – wehe ihm!“

„Gut, Ihre Gattin mag möglichst aus dem Spiel bleiben,“ fuhr Harald geduldig und ebenso hartnäckig fort. „Sie haben Ihr Personal verhört, wie Sie vorhin erwähnten…“

„Oh, auch die Polizei hat es.“

„Stellte sich nun bei diesen Vernehmungen heraus, daß der Freund Ihrer Gattin zeitweise ausblieb? Verstehen Sie mich richtig: Gab es in diesen zwei und ein halb Jahren dieser Beziehung längere Pausen, wo Ihre Frau sich Ihnen vielleicht mehr widmete als üblich?“

Jo Todlaar hob etwas den Kopf und schaute Harst erstaunt an. „Sie sind ja beinahe Gedankenleser, Verehrtester! Soeben dachte ich daran, daß Brigitta einmal den schüchternen Versuch wagte, sich mir wieder zu nähern, obwohl die Entfremdung bereits vollkommen war. Sie setzte diese Versuche etwa drei Monaten fort…“

„Wann war das? Besinnen Sie sich noch?“ fragte Harst gespannt.

„Wann?! – Hm, – richtig, das war im Herbst 192. – – Ja, bestimmt!“

„Danke. Immerhin ein Hinweis.“

„Worauf?“

„Daß der Mann, der Freund, damals aus dem Gesichtskreis Ihrer Gattin verschwunden war. – Lassen wir das. Kehren wir zu den Bildern und den acht Zeitungsausschnitten zurück. Zuerst die so unsauber beschnittenen Photographien… Ich wundere mich, daß Schraut das übersehen hat. Betrachten Sie mal die Bilder mit meinen Augen. Diese Photos stellen scheinbar zwei verschiedene ältere Herren von vornehmem Äußeren dar. Der eine trägt Brille, Vollbart, Künstlermähne, der andere einen Scheitel, Spitzbart und Monokel. Trotzdem ist es derselbe Mann.“

Ich hatte mich weit vorgebeugt. „Stimmt!“ rief ich nach kurzer Prüfung der Photographien. „Die Stirnbildung, die Augenpartie, Nase und Ohren sind dieselben! Es ist derselbe Mann, nur gut verkleidet.“

Auch Graf Jo bestätigte dies. „Weiß Gott, lieber Harst, Sie haben recht. Der Kerl mag viel jünger sein!“

„Ohne Zweifel. Der Mann ist … das Käuzchen.“

Todlaar und ich vergaßen jetzt alles andere.

„Wie kommst du denn darauf?!“ meinte ich verblüfft.

„Dreh bitte die Zeitungsausschnitte gefälligst um, obwohl auf der anderen Seite nur zumeist Annoncen oder Teile davon stehen. Wer als Detektiv arbeitet, muß sorgfältig sein. Nur in einem Punkt darf er diese minutiöse Genauigkeit außer acht lassen: Sobald er die Gedanken schweifen läßt, um die fehlenden Glieder einer Kette zu ersetzen. Dann muß die Phantasie mitarbeiten. Dann darf er auch den klaren Weg der Logik meiden. Das Unlogische wird dann plötzlich logisch. – Was seht ihr also auf der Rückseite der Ausschnitte? – Winzige Bleistiftnotizen, lediglich Namen und Daten. Gestattet mal… Hier zum Beispiel auf diesem Ausschnitt, der einen Hoteldiebstahl betrifft, ist geschrieben: ‚Berliner Hof, 18. 2. 192.‛, also ein Tag im Februar dieses Jahres. Der Diebstahl wurde in ‚einem bekannten Hotel‛ verübt – die Zeitungen bringen ja nie die Hotelnamen! –, aber unsere schöne Gefangene mit dem Gedächtnisschwund kennt das Hotel: Berliner Hof! Die Handschrift ist die einer Frau… Unsere Fremde hat’s geschrieben. Mithin ist die Verbindung zwischen ihr und dem nie zu fassenden Gauner, Edelgauner, gegeben. Sie verbarg die Juchtentasche, sie wollte sie vernichten, weil sie fürchtete, diese Bilder und diese Notizen könnten ihre Identität herausbringen. Der Mann auf den Photographien ist der große Hochstapler, ist zugleich auch das Käuzchen, ist das fast schon sagenhafte Chamäleon.“

 

 

6. Kapitel

Das sagenhafte Chamäleon.

Für mich war Chamäleon das Stichwort, das sofort in mir sehr unangenehme Erinnerungen wachrief, die auch für Harald nicht ruhmreich gewesen waren.

Im kosmopolitischen Getriebe der Weltstädte sind immer wieder Hochstapler aufgetaucht, als deren Vorläufer man die halb politischen Betrüger wie den berüchtigten Grafen Saint Germain, den Marquis d’Eon – von dem noch heute nicht feststeht, ob er Mann oder Weib gewesen! – und andere ähnliche schlaue Köpfe betrachten darf. Die moderne Zeit hat als ihren Hauptvertreter dieser ‚einnehmenden‛ Kavaliere einen Manolescu alias Fürst Lahovari aufzuweisen.

Manolescu wurde abgefaßt und eingesperrt.

Nie abgefaßt wurde der Mann, der zunächst als Prinz Leon Chamä die Reichen schröpfter. Schon dieser Name Leon Chamä – also Chamäleon – verriet Witz und verhöhnte die Polizei.

Sechs Jahre etwa war es her, als wir zum ersten Mal von einem wutschnaubenden Amerikaner, der die deutsche Polizei für klägliche Stümper erklärte, gebeten wurden, diesen Herrn auszukundschaften.

Ehrlich: Es war uns nie gelungen. Der Bursche war zu gerissen. Fünfmal bemühten wir uns um ihn – umsonst.

Und jetzt hatte Harald den für uns so blamablen Namen so nebenher ins Gespräch geworfen: Chamäleon – – die Farben wechselnde Eidechse!

Die Erinnerungen rissen mich hoch. –

Ich sprang auf. „Harald, glaubst du etwa, daß das Käuzchen und der Prinz Leon Chamä ein und dieselbe Person sein könnten?!“

„Es ist möglich,“ nickte mein Freund kühl. „Wir werden es feststellen. Zunächst möchte ich euch beiden den Beweis liefern, daß das ‚Käuzchen‛ nicht der Schütze gewesen sein kann, der auf den Grafen feuerte. – Ruf dir die Szene ins Gedächtnis zurück, mein Alter, als wir in Gegenwart der Fremden den Schuß vernahmen und Minuten später den ersten Käuzchenruf hörten. Der Schuß fiel in weiter Entfernung und hallte nur sehr stark in den Bergen wider, der Käuzchenschrei ertönte in der Nähe, mithin kann der Schütze, der etwa eine halbe Stunde von hier entfernt auf den Grafen feuerte, nicht das Käuzchen gewesen sein.“

„Das sehe ich ein,“ erklärte Graf Jo etwas müde und gähnte. „Aber hilft uns das weiter, lieber Harst? Wir drehen uns im Kreis, finde ich.“

„Irrtum! Wir gehen sehr direkt auf das Ziel zu. Das werden Sie sehr bald erkennen.“ Dann lächelte er herzlich und stand auf. „Wenn sich jetzt einer drehen muß, sind Sie’s, – nämlich nach der Wand zu! Schlafen sollen Sie! Wie auch wir Schlaf brauchen! Draußen unter den Bäumen ist’s schattig und kühl. Wir nehmen ein paar Decken und Kissen mit… – Gute Nacht, Graf Jo! Sie brauchen Ruhe!“

Er zog die Fenstervorhänge zu, und dann lagen wir draußen im Gras – und ich schlief im Augenblick ein.

Ich erwachte… Die Hunde bellten wie toll. Eine brummige Stimme brüllte vom Bergpfad her: „Sperren Sie die verdammten Köter ein, Herr Graf! Hier Polizei!!“

Ich rieb mir die Augen… Harsts Lager war leer. Ich ging zum Rand der Terrasse und blickte hinab. Auf halber Höhe des Pfades standen drei Herren in Zivil: Kriminalbeamte! Aus München, wie ich dann erfuhr, nachdem ich die Rüden in den Stall gebracht hatte.

„Kommissar Obermüller,“ sagte der eine barsch. „Sind Sie Herr Schraut?“

„Ja … Max Schraut.“

„Was tun Sie hier?“

„Ich bin Gast des Grafen Todlaar…“ – Ich konnte ihm doch nicht sagen, daß wir hier eine Fremde eingesperrt hielten. Mir wurde schwül zu Mute. Auf Freiheitsberaubung steht Gefängnis. Aber woher wußte der dicke Obermüller überhaupt, daß ich Schraut sein könnte? –

Ein unbestimmter Verdacht kam mir.

Obermüller schaute sich suchend auf der Terrasse um.

„Wo ist Harst?!“

Herr Harst ist … beschäftigt, Herr Kommissar.“

„Womit?“

„Er denkt nach…“

Da ging Obermüller urplötzlich die Erkenntnis auf, daß sein Ton doch wohl zwei Oktaven zu dienstlich sei. Er lachte breit und gemütlich. „Herr Schraut, wir sind telephonisch vor Ihnen gewarnt worden, – das ist’s! Und Herr Harst soll hier eine Frau gefangen halten. Die Meldung erstattete ein Herr Leon Chamä unter Angabe so seltsamer Einzelheiten, daß die Geschichte recht glaubhaft klang. Ich bin im Auto gekommen, und… – Ah, das ist wohl Herr Harst…“

Ja, das war Harald, Zigarette im Mund, Hände in den Hosentaschen… Er stand oben in der offenen Tür der Schloßruine.

„Treten Sie doch näher, meine Herren…“ rief er uns zu. „Aber bitte leise, – der Graf schläft… Allerdings unten in den Gewölben in seinem kühlen Sommergemach. Trotzdem wollen wir ihn nicht wecken. Er ist verwundet…“

Obermüller, zweifellos Stammgast im ‚Hofbräu‛, war ein geriebener Fuchs. „In den Gewölben schläft er? – Das muß ich sehen!“

Harald hatte offenbar die Beamten rechtzeitig entdeckt und die Fremde verschwinden lassen. Ich atmete auf.

„Bitte…“

Er führte uns durch die Küche in die luftigen Keller und ließ Obermüller durch das Guckloch der Zellentür blicken. Auch ich schaute hinein. Graf Jo schnarchte sehr vernehmlich. Aber der Münchner war wie gesagt ‚helle‛.

„Durchsucht die übrigen Räume,“ befahl er seinen beiden Männern.

Nachher saßen wir in des Grafen Arbeitszimmer, und Obermüller trug nochmals vor, was Herr Leon Chamä telephonisch gemeldet hatte, – er habe spät abends einen Spaziergang an der Isar entlang gemacht und sei Zeuge geworden, wie Harst und ich die Frau in die Schloßruine geschleppt hätten, und eine Brieftasche mit annähernd fünfzigtausend Mark wäre gleichfalls von uns mitgenommen worden.

Harald pfiff sehr gedehnt durch die Zähne. „Nettes Märchen!! – Wo wohnt dieser Leon Chamä? Gab er seine Adresse an?“

„Natürlich‥: Pensionat ‚Isarlust‛ Zimmer 14. – Ich rief den Wirt der ‚Isarlust‛ an, und der bestätigte, daß Herr Chamä bei ihm seit drei Wochen wohne. Erst dann fuhr ich hierher.“

Harst blies drei wunderbare Rauchringe. „Herr Obermüller, wetten, daß Chamä inzwischen abgereist ist? Leon Chamä ist ein vielgesuchter Schwindler.“ Er erinnerte Obermüller an den berüchtigten Prinzen und Hoteldieb, und der Kommissar bekam böse Augen. „So ein Lump‥!! So ein Lumpaz!! Aufgesessen bin ich dem Halodri! – Aber sagen’s, Herr Harst, weshalb hat der Kerl mich so genasführt?! Mir kam’s ja gleich etwas unglaubwürdig vor, daß ausgerechnet Sie und Ihr Freund so faule Geschichten machen sollten! Zu meiner Entschuldigung darf ich anführen, daß einem Engländer vorgestern im Bahnhofshotel in München gerade so an die fünfzigtausend Mark in deutschen und ausländischen Banknoten gestohlen worden sind, und daß…“

„Verstehe, Herr Obermüller… – Von dem Dieb fehlt jede Spur?“

„Aber nein doch!“ ereiferte sich Obermüller noch mehr! Das ist’s ja eben! Neben dem Engländer wohnte eine Frau Ella von Meier mit ‚ei‛, und die … ist ausgekniffen – – futsch!“

Harald setzte sich kerzengerade aufrecht.

„Ohne ihr Gepäck entflohen, Herr Kommissar?“

„Ja, und ohne ihren Mann, den sie in München erwartete … angeblich…“

„Wann ist sie entflohen?“ fragte Harst, plötzlich wieder vollkommen gleichgültig.

„Gestern früh… Nur mit ihrem Rucksack.“

„Und woher stammte sie? Heimatsort?“

„Berlin…. Die Straßenangabe ist auf dem Anmeldeschein nicht zu entziffern… Es steht da nur ‚Berlin, ?????straße‛. Damit kann man nichts anfangen. Hier ist übrigens der Anmeldeschein, – bitte… Können Sie die Straße entziffern?!“

Harald warf nur einen flüchtigen Blick auf das ausgefüllte Formular und reichte es dann mir.

„Auch ich kann’s nicht,“ sagte er dabei achselzuckend.

Ich hatte die Schrift kaum sekundenlang vor Augen, als ich auch schon wußte: Ella von Meier war unsere Gefangene! Die Buchstaben waren dieselben wie auf den Zeitungsausschnitten! Und auch die übrigen Begleitumstände stimmten.

Obermüller verabschiedete sich äußerst liebenswürdig. „Ich werde doch noch nach dem Pensionat ‚Isarlust‛ fahren,“ erklärte er unter derben Händedrücken. „Vielleicht erwische ich den Burschen doch noch!!“

„Sind Sie ein Optimist!!“ und Harst lachte herzlich.

Die drei Beamten kraxelten abwärts, wir winkten dem Kommissar noch nach, und dann legte Harald mir die Hand schwer auf die Schulter: „Die arme, arme Frau, mein Alter‥! Die Entdeckung muß furchtbar für sie gewesen sein. Einen Verbrecher geheiratet zu haben, – – entsetzlich!! Vielleicht anderthalb Jahre des Glaubens gewesen zu sein, einen sehr fleißigen, immer rührigen reisenden Kaufmann als Gatten zu besitzen, und dann so jäh die Erkenntnis: Er ist ein Hoteldieb!!! – – grauenhaft!! Begreifst du nun den Ausdruck im Gesicht und in den Augen des armen Weibes, als sie erst den Schuß und dann den Käuzchenruf vernahm!

Da wußte sie: Er war draußen, er, ihr Mörder, ihr Verfolger! – Und er rief sie!! Er war ihr gefolgt, als sie mit seiner Beute, von Grauen gepackt, aus München flüchtete, er schoß hier auf sie, hätte sie getötet – ja, er wollte sie töten‥! Das ist nicht mehr der harmlose Hochstapler Prince Leon Chamä, das ist eine Bestie, die ausgetilgt werden muß, dazu noch eine täppische, freche, dumme Bestie, die aus blindem Haß der Polizei gegenüber Denunziant spielte und die Unverfrorenheit aufbrachte, uns des Diebstahls zu beschuldigen! Welche Kurzsichtigkeit und doch, – welches Sicherheitsgefühl sprechen daraus! Wenn Graf Todlaar ahnen würde, wie nahe ihm der Verführer, der Entführer und vielleicht gleichzeitig auch der Mörder seiner Frau ist, würde ihn nichts länger im Bett festhalten!“

Ich fühlte, daß ich vor Erregung die Farbe wechselte.

Unwillkürlich schlüpfte mir doch die entscheidende Frage über die Lippen…

„Harald, – sind das Käuzchen des Grafen Jo und dieser angebliche Geschäftsreisende von Meier, Berlin, ein und dieselbe Person?“

Er nickte kurz. „Füge noch den Prinzen Leon Chamä hinzu, und es stimmt!“

„Und – wer ist der Mann in Wahrheit?“ forschte ich mit verhaltenem Atem.

Plötzlich glitt ein humorvolles Lächeln um Haralds Mund. „Mein lieber Alter, wenn ich dir meinen Verdacht schon jetzt mitteilen wollte, würdest du dir nicht die Stirn, sondern das unterste Ende des Rückens reiben und denken, ich sei gänzlich übergeschnappt!“

Nach diesen vielsagenden Sätzen, deren tiefere Bedeutung mir erst später klar wurde, schritt er in die Vorhalle hinein, ließ die Rüden wieder frei und winkte mir energisch zu.

 

 

7. Kapitel

Die Hexe vom Kalvarienberg.

Graf Todlaar erwartete uns bereits im Vorkeller. „Ist der Obermüller abgezogen, lieber Harst? – Ja?! – Bitte unterschätzen Sie ihn nicht, ich kenne ihn von München her, wo er damals vor drei Jahren mir meine Frau suchen half. Wie mir nun eingefallen ist, redete er schon damals etwas über das Chamäleon, aber nur so nebenher.“

Harald hob schnell den Kopf. „So?! Vom Chamäleon redete er?! Schau’ einer an! Dann hat er vorhin geschwindelt. Da werden wir uns im acht nehmen müssen.“

Er berichtete uns ganz kurz über Obermüllers Äußerungen. Den Hauptpunkt verschwieg er aber.

Der Graf war dennoch ehrlich entsetzt. „Wollen Sie nun diese Frau von Meier ins Gebet nehmen?“ fragte er in einem Ton, der stark ablehnend klang.

„Ich denke nicht daran! Wir werden sie aus dem alten gemauerten Gang hervorholen und zusammen speisen. Nachmittags wollen Schraut und ich nach Tölz wandern. Ohne unsere Rucksäcke…“

„Zur ‚Isarlust‛?“

Graf Jo humpelte uns auf seinen Stöcken voraus in den entlegensten Winkel der Gewölbe, wo alte verrostete Rüstungen, uralte Eichensärge und ein kleiner Altar in einer Art Grabkapelle aufgestellt waren. Der Altar ließ sich von der Mauer wegschieben und gab ein Loch und eine Steintreppe frei, die den Zugang zu dem Stollen bildete, der bis zu der Schlucht auf der Südseite der Todlaar-Alm hinlief. Hier hatte Harald die ‚Fremde‛, die nun keine Fremde mehr war, für die Dauer des unerwünschten Besuches Obermüllers untergebracht und sich auf die Festigkeit der Schlösser der versteckten Tür am Stollenausgang verlassen.

Es handelte sich um Vorlegeschlösser. Die Krampen waren mit Hilfe einer altertümlichen Streitaxt zerschlagen worden. Frau Ella, unser blondes Sorgenkind, war nun doch entflohen. –

– Wer jemals im Vorsommer oder im Herbst an einem warmen Tag unter dem dichten Blätterdach der Kastanien und Linden des Gartens des Pensionats und Kaffees ‚Isarlust‛ dicht an der Brüstung gesessen hat, unter sich die schäumende, grüne Isar, vor sich die Brücke über den oft so wütend dahinrasenden Strom und die Fähre und die Villen des Badteiles, – wer wie wir den aufgewichsten Klimbim der ‚feinen‛ Gaststätten so gründlich meidet aus tiefinnerster Freude an der Natur, der – – kommt immer wieder‥! –

Wir waren schon um halb vier gekommen, hatten noch einen Tisch an der Brüstung erwischt, hatten mit dem Wirt uns unterhalten, hatten die Anni und die Theres begrüßt, und hatten so auf Umwegen nach Herrn Leon Chamä gefragt.

Gestutzt hatte der Herr Wirt … sehr gestutzt.

„Der Kommissar Obermüller… usw. …“, berichtete er. – –

Der Leser kann sich denken, wie dieses ‚usw.‛ ergänzt werden muß. „… Abgereist ist der Herr Chamä, – sehr schad’,“ hatte er hinzugefügt. „Heut’ in aller Früh. Käfersammler war er, und manchmal ganze Tage im Gebirge…

– Wie er ausgeschaut hat? So wie’n alter Professor… Die Anni hat ihn photographiert.

– Gewiß können’s das Bild sehen, Herr Hirth –“ – Hier waren wir eben nur Hirth und Schrock, Rentner aus Berlin. „Der Obermüller hat auch eins von den Bildern mitgenommen. – Unter uns gesagt, Herr Hirth: So ganz sauber war’s mit dem alten buckligen Käferonkel nicht! Ach nein! Er hat merkwürdige Freunderl g’habt. Aber das hab’ ich dem Obermüller nicht erzählt… Bei Ihnen ist’s was anderes, Sie sa’n halt Privatleut’…“

Das Bild wurde geholt, beschaut, und Harst hatte sofort gemeint: „Er ist’s, trotz der dicken Nase!“

Dann riefen wir die Theres herbei, zahlten, sagten auf Wiedersehen und bestiegen das Fährboot, um in den Badteil hineinzugelangen. Harald war sehr still. Ich auch… Wir sorgten uns um Frau Ellas Verbleib. Wir hatten Gondar auf ihre Fährte gelegt, aber der Hund versagte in einem Wildbach.

Nun wanderten wir durch die stillen neuen Straßen des Badteiles dem Park der Trinkhalle zu, neben dem die Feudalpension ‚Monopolis‛ liegt, ein Prunkbau, dem Stil nach ein verhunztes Gebilde, aber: Preise, – – Preise!! Und Gäste, die zahlen können!! – Hauptsache!

Der Park war leer. Wir setzten uns in der Nähe der Wandelhalle auf eine Bank und behielten die Terrasse vom ‚Monopolis‛ unauffällig im Auge. Zigeuner spielten dort wilde Csardas und schmelzende Schmalzwalzer.

Wir hatten allen Grund, auch das zu ertragen. Der Wirt vom ‚Isarlust‛ hatte uns ja geheimnisvoll zugeraunt, daß der elegante Geschäftsführer vom ‚Monopolis‛ eines nachts heimlich zu dem Käferonkel gekommen sei, – Geschäftsführer – hm – das sei zu viel gesagt… Reklamechef und Einkäufer träfe mehr zu, hatte der Wirt gemeint und betont, daß er mit dem Herrn Amalon auch schon Geschäfte gemacht habe, billige Einkaufsquellen habe der, – – zum Staunen!

Wir mochten so eine halbe Stunde gewartet haben, als Harald mir zuraunte: „Achtung, – – Gott sei Dank, wir haben sie, bevor sie Dummheiten machen konnte!“ Er deutete nach einer entfernten Bank, wo soeben eine Dame in tiefer Trauer Platz nahm. Harst erhob sich.

Dann standen wir vor der Verschleierten. „Weshalb sind Sie entflohen?!“ begrüßte Harst sie vorwurfsvoll. „Sie hatten also doch noch Geld bei sich und haben im Stadtteil sich anders eingekleidet. – Liebe gnädige Frau, Sie werden jetzt gehorchen… Wir werden Sie zu einem Bekannten bringen, und der führt Sie zum Grafen Jo zurück.“

Dann nahm er ohne weiteres ihr großes schwarzes Handtäschchen und öffnete es, schüttelte ärgerlich den Kopf und steckte die kleine waffenscheinfreie neue Pistole schnell zu sich.

„Frau von Meier,“ sagte er ernst, „ein wahres Glück, daß wir diese Torheit verhindern konnten! Gehen Sie voraus zur Autotaxenhaltestelle vor der Wandelhalle – – bitte!“

Sie schluchzte nur leise, sprach kein Wort. –

Freund Werkle wohnte in einem der uralten Häuschen unterhalb des Kalvarienberges dicht an der berühmten Steintreppe, von der links ein Gang abzweigt, der weder Straße noch Gasse, sondern nur ‚Gang‛ ist und beinahe an Bozens romantische Gäßchen erinnert.

Werkle war soeben vom Dienst heimgekehrt.

„Grüß’ Gott, wen haben’s denn da als Gast mitgebracht, Herr Harst?!“

„Eine alte liebe Bekannte, bester Werkle… Sie werden die Dame sofort ganz unauffällig zum Grafen Jo zurückbringen und… – Hallo, es läutet an Ihrer Haustür… Da – – wieder!! Sollte etwa der Obermüller… – Warten Sie…“ Er schlich auf den winzigen Balkon hinaus, lugte hinab und kehrte sofort zurück.

„Gnädige Frau, es sind Münchner Kriminalbeamte…“ sagte er zu der Dame, die stumm an der Wand lehnte. „Falls Werkle uns nicht irgendwie zur Flucht verhilft, ist…“

Der Herr Postrat lachte dröhnend. Anders konnte er überhaupt nicht lachen. „Mögen’s die nur da unten an der Glocke reißen!! Ich schlaf’!! – Kommen’s nur… Von hier können Sie ganz leicht über die Dächer entwischen…“

Er führte uns in ein Hinterstübchen, wir stiegen durch das Fenster, halfen der Frau von Meier und standen schon auf einem sanft ansteigenden Pappdach, das eine bequeme Verbindung zu ein paar Giebelfenstern eines schmalen turmartigen Gebäudes bildete.

„Also da drüben wohnt der blonde Sepp, der Wildschütz, der infame, Herr Harst!“ instruierte uns Werkle noch genauer. „Der Halodri ist nicht daheim, der alte Kasten von Turmhaus gehört ihm… War früher mal ein Wachturm oder was Ähnliches… Die zumeist mit Papier verklebten Fenster werden’s schon aufkriegen, ebenso die Haustür… Wir treffen uns nachher auf der kleinen Brücke hinter der Pfarrkirche… Gott befohlen! Beeilen’s sich, der Obermüller ist ein gerissener Hund, – ich kenn’ ihn! – Halt, noch was! Der Sepp hat da eine Verwandte bei sich, ein altes dreckiges, schlampiges Weib… Aber sie ist halb taub und meist besoffen… Nun aber fix!! Der Obermüller reißt mir ja die Haustürglocke ab!“

Harald hatte das eine Fenster sehr bald offen, wir kletterten in das Stübchen hinein, – nein, nicht Stübchen, sondern stinkende Rumpelkammer, und dann ging’s die ausgetretene knarrende Stiege hinab. –

Harst machte plötzlich Halt. Vor uns auf dem Treppenabsatz saß das schlampige Frauenzimmer, wie eine Zigeunerin in ein grellbuntes, zerrissenes Tuch gehüllt, in dem schmierigen grauen Haar ein paar Glasperlenketten, in den schmutzigen Händen eine Schnapsflasche, neben sich eine gelbe Katze, die infolge Räude handgroße kahle Stellen auf dem Rücken hatte. Ein Ohr fehlte ihr gänzlich.

Die Katze hatte uns längst gehört und den Kopf zurückgedreht. Die Alte achtete nicht darauf. Sie stierte regungslos die Treppe hinab, wo auf dem Hof Hühner und Tauben eifrig Haferkörner aufpickten. Die Tür unten stand weit offen, und die letzten Sonnenstrahlen fielen auf das holprige Pflaster des Hofraumes.

Mit einem Mal begann die Alte zu plappern. Ihr zunächst unverständliches Gemurmel wurde lauter und klarer, nur der weinerlich-blöde und heisere Ton blieb.

Ich hielt den Atem an… Ich warf einen scheuen Blick auf Frau Ella. Sie hatte den Schleier hochgeschlagen, und ihr bleiches Gesicht hatte einen angstvoll gespannten Ausdruck.

„… Sepp ist noch schlimmer als er!“ greinte die Alte unter uns. „Sepp ist der Hölle entstiegen – – wie er! Der Kümmel schmeckt so bitter… Und mein Kopf ist so wirr … so … so benommen… Es gab einmal irgendwie eine schönere Zeit für mich… Ich möchte diese Erinnerungen wieder einfangen… Sie sind … zerronnen – – wie ein schillerndes Eisstück in den Gluten dieser Hölle hier…“

Harald flüsterte hastig: „Schraut, du bringst Frau Ella nach der Pfarrbrücke… Ich bleibe hier.“

Seine Stimme klang rauh und unnatürlich fremd. Dann stieg er die Stufen hinab, die abscheuliche Katze fauchte ihn an und machte einen Buckel. Da drehte das Weib sich um.

Nun sah ich das Gesicht von vorn.

Mein Entsetzen ward zum Grauen…

Haarzotteln, in die Glasperlen eingeflochten waren, umrahmten diese gelbbraune Fratze, die mich sofort an die Bilder uralter Indianerweiber erinnerte. Schwarze Schmutzstreifen, vielleicht Ofenruß, gaben diesem verheerten Säufergesicht etwas Groteskes. Der magere Hals war mit einem Seidenband aus einem alten Kehrichteimer umwickelt, die grüne Bluse bildete eine Reihe von Rissen und Fettflecken.

Langsam erhob sich das Weib. Sie grinste dabei Harst wie verschämt an und entblößte prachtvolle tadellos gepflegte Zähne und zwei schimmernde Goldzähne.

Harald packte die Alte am Arm und schob sie schnell in die nächste Stube. Die Katze folgte.

Die Tür fiel zu…

Ein gräßlicher Spuk war beendet.

 

 

8. Kapitel

Herr Armand Amalon, Reklamechef.

Frau Ella umklammerte meine Hand. Ihre Augen schwammen in Tränen. Sie war noch bleicher geworden.

„Herr Schraut, – – wer kann die Unglückliche sein?!“

Ich zuckte nur mechanisch die Achseln. „Beeilen wir uns… Hier ersticke ich…“

Wir liefen in den Hof hinab, fanden die Pforte, und eine Viertelstunde drauf trafen wir mit dem vergnügt schmunzelnden Werkle zusammen.

„Der Obermüller kann mir was!! Angegrobst hat er mich! Ich wurde noch gröber. Geschlafen hab’ ich, – – und er glaubte es schließlich. Er war sich seiner Sache doch nicht ganz sicher, welches Haus der Kalvariengasse Sie betreten hatten. Aber gefolgt ist er Ihnen vom Brunnenpark an bestimmt…“

Ich verabschiedete mich. Die Pfarrkirchenuhr schlug gerade halb acht. Die anderen Turmuhren folgten, und gerade diese verschieden klingenden Uhrschläge haben mich in so mancher stillen Nacht in Tölz geradezu zur Arbeit angeregt.

Ich eilte durch die winkligen Gassen des romantischen Städtchens dem Sepp-Haus wieder zu und fand Harald und die Alte droben in der kleinen Stube auf ein paar morschen Stühlen sitzend vor. Der Raum stank nach Verwahrlosung, – was an Möbeln vorhanden, kaum noch Heizmaterial… Armut, Laster und moralischer Tiefstand ohne gleichen grinsten mich aus allen Winkeln an.

Harald rauchte. Die Alte hatte das Kinn in beide Fäuste gestützt und blinzelte mir aus verquollenen Augen vertraulich zu. „Ihr Freund hat mir aus der Apotheke etwas sehr Schönes geholt,“ röchelte sie beglückt. „Mir ist schon klar im Kopf… Aber der Sepp, diese Gestalt aus dem Inferno, erfährt nichts davon… Er ist schlimmer als der andere, und der Schnaps wird immer schlechter…“

Inferno?! – Dieser Ausdruck für Unterwelt, für Hölle, aus diesem Mund mit dem gepflegten Gebiß und den Goldzähnen?!

Die Wahrheit stellte ja eine geradezu unfaßbare bestialische Brutalität dar. Wenn Frau Ella geahnt hätte, welche Schicksale ihrer gewartet haben würde, wenn der Prinz Leon Chamä sie in seine Gewalt bekommen hätte, würde sie eine Gefängniszelle mit Recht der Zukunft vorgezogen haben.

Harald erhob sich.

„Sie werden also schweigen!“ sagte er nochmals zu der grauhaarigen Unglücklichen, die für gewissenlosen Treubruch so bitter hatte büßen müssen. „Ich habe Ihre Flasche mit gutem Likör gefüllt, der nicht durch Opium und Hyacin vergiftet ist. Nachher nehmen Sie noch zwei Tabletten. –

Leben Sie wohl…“ – Pause – „auf Wiedersehen – – Frau Brigitta Gräfin Todlaar.“

Die Frau lächelte schmerzlich…

„Ich werde gehorchen, Herr Harst… Lassen Sie mich nicht im Stich!“

Dann weinte sie, und wir flüchteten eiligst, denn dieses jammervolle Schluchzen war selbst für uns zu viel. –

– Der Reklamechef vom ‚Monopolis‛, Herr Armand Amalon, saß in seinem großen Souterrainzimmer, das nach dem Garagenhof hinauslag, und ordnete jetzt um Mitternacht an seinem großen Schreibtisch Papiere und brachte die Bücher in Ordnung. Die vergitterten Fenster waren dicht verhangen, die Doppeltür versperrt, und Amalon fühlte sich in seinem Schlupfwinkel durchaus sicher. Er hatte diese Stellung mit Hilfe gefälschter Papiere und Zeugnisse erst vor ein paar Wochen angetreten, und er weilte sehr häufig auswärts, reiste hierhin und dorthin, und der Besitzer vom ‚Monopolis‛ war glücklich, diese Perle engagiert zu haben: Amalon kaufte alles Nötige zu halben Preisen ein! Es war einfach verblüffend.

Er war ein schlanker Mann mit einem bartlosen Charakterkopf, dünnem, schwarzem, glatt zurückgestrichenem Haar und äußerst elastischen Bewegungen. Er trug einen gutsitzenden Frack, darunter eine diskret gestreifte Seidenweste, die seine Stellung als Angestellter von ‚Monopolis‛ nur andeuten sollte. Der weibliche Teil der Gäste schwärmte für ihn. Er besaß eine Art, mit dieser Spezies von Töchtern von Eliteschiebern zu verkehren, die den mondänen Herzchen dieser Jounesse dorée den Atem verschlug. Der männliche Teil holte sich bei Herrn Amalon Rat. Es hatte sich bald herumgesprochen, daß Amalon alle möglichen Devisen hintenherum besorgen könnte. Das Geschäft blühte.

Das Souterrainzimmer war sehr wohnlich ausgestattet. Nachdem Amalon dreimal den Raum tief in Gedanken durchmessen hatte, öffnete sich, als er vor dem großen Kleiderschrank kehrtmachte, lautlos dessen Tür und zwei Gestalten schlüpften heraus, die vor den Gesichtern dunkle Stoffmasken trugen.

Mit einer Geschicklichkeit, die auf Übung schließen ließ, packten sie Amalon von hinten, der eine hielt ihm den Mund zu, der andere riß ihm die Arme auf den Rücken und band die Handgelenke mit einem Strick zusammen. Ebenso fix wurde ihm ein Knebel in den Mund gezwängt und eine Serviette um den unteren Teil des Gesichtes geknotet.

Amalon war sekundenlang vor Schreck gelähmt.

„Verhalten Sie sich still!“ zischte der eine Mann. „Setzen Sie sich!“

Der andere begann, das Zimmer flüchtig zu durchsuchen. Dann fesselten sie Amalon auf dem Schreibsessel fest und entfernten sich wortlos durch die Tür, nachdem sie das Licht ausgedreht hatten.

Es war jetzt genau ein Uhr morgens.

Amalon oder Prinz Leon Chamä glaubte zu wissen, wer die zwei gewesen, die sich hier eingeschlichen und sein Erscheinen abgewartet hatten. Natürlich war er von Ella verraten worden! Es war ja auch unglaublich leichtfertig von ihm gewesen, Ella den Koffer mit dem Geheimfach zu überlassen. Sicherlich hatte sie dort irgendeinen Wisch gefunden, der ihr offenbart hatte, daß er hier im ‚Monopolis‛ eine Anstellung gefunden.

Er verwünschte seine Unvorsichtigkeit. Ella mochte seit langem Verdacht geschöpft haben, seine kurzen Gastspielrollen als Ehemann von Meier dort in Berlin waren eben zu kurz gewesen.

Und das Schlimmste: Ella hatte auch die letzte Beute entdeckt und mit sich genommen. Sie war nach Tölz gereist, um ihn zur Rede zu stellen! Bei alledem noch das verwünschte Pech, daß sie am Isarufer lebend davongekommen war. Ausgerechnet Graf Jo hatte sie retten müssen – ausgerechnet der!

Prinz Chamä war kein Mann der Untätigkeit. Er konnte fast alles… In fünf Minuten hatte er seine Fesseln abgestreift, nur die Handfesseln und das Tuch um den Mund ließ er unberührt, – es war besser so… Er überlegte alles, alles. Er war ein Verbrecher ganz großen Formats, und darauf war er stolz.

Minuten später schlich er dem Seitenausgang zu, der in den Brunnenpark führte uns regelmäßig bis zwei Uhr offen blieb. Die kleine Vorhalle war leer. Ihm lag daran, nicht gerade auf alltägliche Art zu entschlüpfen. Es hatte schon seine Gründe dafür.

Er hoffte bereits, die Freiheit wiedererlangt zu haben, als er gleichzeitig zweierlei wahrnahm.

Er trat schnell zurück. Im erleuchteten Park befanden sich zwei der Aufseher, und der einer hatte ihn vielleicht bemerkt. Außerdem hörte er rechts vom Flur her eine Stimme, die er genau kannte: Das war dieser Harst, der ihm nun bereits viele Jahre vergeblich nachspürte.

Prinz Chamä glitt die Treppe in die Souterrainräume wieder hinab und grinste dabei höhnisch.

In seinem Zimmer versperrte er die Tür, streifte die Handfesseln ab, nahm einen Lodenmantel und Gebirgsfilz, fingerte im Dunkeln am Gitter des einen Fensters herum, kroch in den Garagenhof und verschwand hinter dem großen Auto, das die Gäste vom Bahnhof abgeholte oder zur Bahn brachte. –

– Eine Autotaxe sauste zur selben Zeit zur Stadt. Obermüller, der neben Harald saß, brummte wütend: „Ihre Faxen versteh’ der Deubel, Herr Harst. Nachdem ich Sie und Schraut abends doch im ‚Klammerbreu‛ abgefaßt und wir uns friedlich geeinigt hatten, habe ich alles getan, was Sie vorschlugen… Dies aber geht halt über meinen Horizont!!“

„Wenn ich’s nur begreife!!“ meinte Harald sehr ernst und ebenso begütigend.

Droben am Markt hielt die Taxe.

„Warten Sie hier!“ befahl Harst dem Chauffeur.

Wir gingen eilends in Richtung der Kalvariengasse weiter. „Herr Obermüller,“ erklärte mein Freund gedämpft, „ich habe durch Ihre beiden Männer den Prinzen überfallen lassen und dafür gesorgt, daß er dann wieder in sein Zimmer zurückgescheucht wurde. Ich ahnte, daß das Fenstergitter sich öffnen ließe. Sie sahen den Burschen davonschleichen. Jetzt wird er sich mit seinem Intimus Sepp beraten und dann, – – warten wir ab!“

„Himmel Sakra, – weshalb stecken wir den Kerl nicht gleich ins Loch?!“ fluchte Obermüller.

„Weil uns sonst Sepp entgeht…“

Minuten darauf hockten wir hinter alten Kisten in dem Stübchen neben dem Schlafraum einer unseligen, unglücklichen Frau.

 

 

9. Kapitel

Das Käuzchen schreit zum letzten Mal.

Es ist für den Chronisten Harst’scher Entwirrungskünste oft nicht ganz einfach, das menschlich Häßliche und Verderbte irgendwie soweit abzuschwächen, daß der Gesamteindruck schließlich doch befriedigend und versöhnlich wirkt. Nicht immer hat man als Chronist eines bestimmten Problems das Glück, auf Charaktere zu stoßen, die erheblich dazu beitragen, einen Ausgleich gegenüber den rein verbrecherischen Naturen zu schaffen.

Daß der bierfrohe, recht korpulente Obermüller, in dem engen, muffigen Versteck auf den harten Dielen sitzend lediglich durch wiederholtes schwaches Grunzen seiner üblen Laune Ausdruck verlieh, war ihm hoch anzurechnen. Und daß er nachher, als auch ich die ersten Flohstiche merkte und kaum noch daran zu zweifeln war, daß wir hier in einen förmlichen Flohbrutkasten geraten waren, sich trotz dieses Massenangriffs auf die eine wutheisere Äußerung beschränkte: ‚Wenn der Prinz Chamä nicht bald erscheinen, drehe ich Ihnen das Genick um, Harst!‛ stellte entschieden eine Mäßigung dar, die angesichts der ungeklärten Sachlage ein noch größeres Lob verdiente.

Denn, – auf wen warteten wir hier eigentlich?! Selbst ich wußte es nicht. –

Gut, es lag natürlich nahe, daß Sepp erscheinen würde. Es war jedoch auch möglich, daß Herr Amalon auftauchen und seinem Opfer, dessen tiefe Atemzüge durch die offene Tür in dieser Finsternis und Stille deutlich zu hören waren, einige Befehle für Sepp übermittelte, wie dies schon häufiger geschehen war.

Diese Ungewißheit währte eine volle halbe Stunde. Obermüller kratzte sich andauernd. Ich auch. Dann blitzte ganz unerwartet drüben vor dem armseligen Bett der Frau ein dünner, greller Lichtfaden auf, der immerhin genügend Helle spendete, um einen Menschen zu erkennen, der auf dem zottigen blonden Schädel einen verbeulten Gebirgshut mit schlapper langer Vorderkrempe und um den Hals ein giftgrünes Seidentuch trug. Der wüste, blonde Vollbart, die braunrote-bläuliche dicke Nase und die abgewetzte, blanke Lederjacke, in der oben links griffbereit ein großer Nicker steckte, hätten den Wilderer-Maler Defregger für dieses waschechte Modell begeistern müssen.

Er reckte nun, eng am Boden liegend, die Hand aus, rüttelte Frau Brigitta wach und zischelte ihr wütend zu: „Mach’ dich munter, du‥!! Schnell!! Hast deine fünf Sinne leidlich beieinander, du?! Kann man mit dir vernünftig reden? – – Na, gut, – winsele nicht wieder!! Also du verstehst mich… Antworte schnell! War heut’ abend oder nachmittags jemand hier? Fremde? Haben sie dich ausgehorcht?“

Die Ärmste hatte sich auf ihrem dürftigen Lager aufgerichtet. „Wenn Sie mich nicht wieder schlagen, Sepp, will ich die Wahrheit erzählen…“ stammelte sie angstvoll. „Ja, – beim Werkle nebenan waren die Polizei und zwei Berliner Herren… Ich hatte mich in Werkles Wohnung geschlichen, weil … mein Schnaps verbraucht war… – Aber nicht wieder schlagen, Sepp, nicht wieder schlagen!!“

„Halt’s Maul… Ich tu dir nichts…“

Des Wilderers tiefer Baß klang erregt. „Was hast du belauscht? Schnell, – – nur schnell‥!“

„Nicht viel, Sepp… Eine Frau haben sie beim Werkle verhaftet, eine Dame… Einen Engländer soll sie in München bestohlener haben… Und das Geld hat sie, so meinte der eine Berliner, wahrscheinlich nach ihrem Sturz in die Isar droben auf der Todlaar-Alm im Schreibtisch versteckt… Und der Kommissar behauptete, sie hätte den Grafen niedergeschossen, und heute nacht wollen sie alle mit Hilfe der Hunde die Umgebung der Sennhütte des Grafen an der Benediktenwand nach Ihnen absuchen… – Mehr hörte ich nicht…“

„Und der Graf?“ fragte der Sepp überhastig.

„Ist in aller Stille ins Krankenhaus geschafft worden…“

„Schau’ an, – – das trifft sich ja fein!“ kicherte der Wilderer brutal. „Schlaf’ nun weiter… Hast deine Sache gut gemacht…“

Der Lichtkegel erlosch, eine Diele knarrte, – unten quietschte eine Tür, und Harald huschte auf das Bett zu.

„Frau von Todlaar, ich bin mit Ihnen sehr zufrieden,“ flüsterte er. „Sie haben Ihre Rolle nach meinen Angaben vortrefflich gespielt… Ich werde dafür sorgen, daß Sie außer strafrechtlicher Verfolgung bleiben. – Wir sehen uns wieder. Schlafen Sie nun einem besseren Morgen entgegen.“

„Das werde ich!!“ erwiderte die Ärmste ungewöhnlich klar und hart. „Auf … Wiedersehen!“

– Unsere Taxe rollte mit beängstigender Geschwindigkeit gen Lengrieß. Unterwegs meinte Obermüller, sich noch immer wütend kratzend: „Eine feine Falle für die beiden Kerle!! Natürlich werden sie jetzt nach dem Geld suchen. Wir brauchen uns nur auf der Todlaar-Alm auf die Lauer zu legen, und wir haben die Brüder!! Na, die sollen’s mal gut haben, die Sappermenter!!“

Die Taxe hielt, kehrte dann um, und wir eilten den schmalen Pfad zur Schloßruine empor. Oben empfingen uns bereits Graf Jo, Freund Werkle und Frau Ella in der Vorhalle. Nirgends brannte Licht. Die Rüden waren eingesperrt worden. Selbst der Mond war heute durch Wolken verschleiert, und wir durften mithin auf vollen Erfolg rechnen.

Mein Freund hatte im übrigen Obermüller und mir strengstens anbefohlen, Todlaar gegenüber auch jetzt noch nicht die körperlich und seelisch so brutal vernichtete Frau Brigitta zu erwähnen, da dies eine Angelegenheit sei, die mit allergrößter Vorsicht behandelt werden müßte. –

Wir verteilten uns dann am Rande der Alm nach dem Isar zu. Graf Jo hatte den anderen Zugang von der Seite der Benediktenwand wieder durch Starkstrom gesichert. Immerhin lagen wir in der warmen Juninacht doch so nahe beieinander, daß wir uns flüsternd verständigen konnten.

Eine schwarze Wolkenbank segelte von Südwest herauf, verschluckte Mond und Sterne und verbreitete eine unangenehme Finsternis. Wir mußten uns völlig auf unser Gehör verlassen. Einmal glaubten wir, unten auf dem Pfad das Herabrieseln von Geröll zu hören, das Geräusch erstarb jedoch wieder, die Wolke segelte vorüber, und es wurde heller. Von der Straße her erklang das Surren eines Motorrades, verstummte, und Minuten drauf gewahrten wir undeutlich eine einzelne Männergestalt, die lautlos und flink den Pfad emporklomm.

„Doch nur einer!“ flüsterte Obermüller enttäuscht.

„Nein, zwei – – beide!“ verbesserte Harald mit größter Bestimmtheit.

Dort, wo bei unserem ersten Besuch der Alm das Drahtgitter gestanden hatte, machte der Pfad eine Biegung, und neben dieser Krümmung wuchs etwas oberhalb einiges Gestrüpp. Die Gestalt näherte sich diesem Punkt, blieb dann stehen und horchte abermals. Da sie jetzt als Hintergrund den schillernden Streifen der Isar hatte, erkannte ich den Mann: Es war der ‚Prinz‛ Leon Chamä! Er trug Lederkappe, Lederrock, er war der Motorradler gewesen.

Irgend etwas mußte seinen Verdacht erregt haben. Er trat mehr zurück, bog den Kopf nach hinten und musterte argwöhnisch den Terrassenrand.

Gerade in diesem Augenblick ertönte dicht neben ihm aus dem Gestrüpp urplötzlich der heisere Schrei des Käuzchens.

Der Mann mit den vielen Namen fuhr erschrocken zurück, verlor das Gleichgewicht, warf sich nach vorn, um irgendwo im Gestein einen Halt zu finden, – – da schrie das Käuzchen zum zweiten Mal… Und als der Körper unten schwer aufschlug, erklang das Hohngelächter der nachgeahmten Vogelstimmen zum dritten Mal, aus dem Gestrüpp schoß ein Mensch hervor, stürmte den Pfad abwärts und entschwand, obwohl Obermüller mehrere Schüsse abgab.

Wir alle standen dann um den Sterbenden herum. Leon Chamä lebte noch, war sogar bei Bewußtsein. Aber es ging zu Ende. Harst kniete neben ihm. Im Geröll blinkte seine brennende Laterne.

„Sepp Unterwurzer,“ sagte er eindringlich, „in kurzem werden Sie vor einem Richter stehen, der denen, die bereuen, seine Gnade nicht verschließt.“

Sepp Unterwurzer?! – –

Frau Ella lehnte sich schwer auf meinen Arm. Keiner von uns hatte geahnt, daß der Wilddieb Sepp und der elegante Hochstapler ein und dieselbe Person sein könnten.

„Geben Sie zu,“ fuhr Harald fort, „hier in Tölz seit acht Jahren nur den Wildschützen, Dieb und Hausierer Sepp gespielt zu haben, um ein ganz sicheres Versteck zu besitzen, wenn die Polizei dem Prinzen Chamäleon zu dicht auf den Fersen war? – Wie heißen Sie in Wirklichkeit?“

Der Sterbende lächelte stolz.

„Mein wahrer Name? Niemals!!“ –

Das Sprechen fiel ihm schwer. „Begrabt mich als den großen Unbekannten. Acht Jahre fast trieb ich mein Gewerbe unentdeckt… Meine größte Torheit war die flüchtige Neigung zu Ella… Ich heiratete sie als … ‚von Meier‛, Geschäftsreisender…“

Seine bereits glanzlosen Augen richteten sich auf die zitternde Frau. „Du hast mein Geheimnis entdeckt und … mich verraten… Wir alle, die wir Außenseiter des Lebens sind, gehen am Weib zu Grunde… Verzeih mir, – – ich wollte dich töten, ja, – – die Strafe folgte, ich werde nie mehr den Käuzchenruf vernehmen, – – die andere war hier das Käuzchen … die…“

Harst fiel ihm rasch ins Wort… „Namen erübrigen sich, Prinz Chamä‥!“

Der Verscheidende hob mühsam die Hand. „Graf Todlaar, verzeihen auch Sie mir‥! Ich war der böse Geist Ihrer Frau… Ich … habe…“ – – es folgte nur noch ein unverständliches Gestammel, dann bäumte sich der Körper ein letztes Mal auf… – –

Wer Prinz Leon Chamä alias Sepp Unterwurzer alias Armand Amalon alias von Meier gewesen, hat nie festgestellt werden können.

 

 

10. Kapitel

Aus Schloß Tod wird Schloß Leben.

Wir trugen den Toten nach oben in die Halle der Ruine und bedeckten ihn. Als wir Jo’s Arbeitszimmer betraten, fanden wir den Schreibtisch erbrochen vor, Papiere lagen auf dem Teppich zerstreut, und das ganze Geld, das der ‚Prinz‛ als letzte Beute dem Engländer abgenommen hatte, war verschwunden.

Harst blieb davon unberührt. „Der Engländer kann’s verschmerzen, Graf Todlaar, und Ihrer Frau wird es dabei helfen, ein neues Leben zu beginnen…“

Jo Todlaar schaute zu der blonden Frau Ella hinüber. „Harst, aus Frauenmund klingen selbst die entsetzlichsten Dinge milder. Frau Ella hat mir alles gestanden – gegen Ihren Willen, lieber Harst. Ich weiß, daß dieser nunmehr ausgelöschte Mann Brigitta willentlich sowohl körperlich als geistig vernichten wollte. – Diese Vergangenheit existiert für mich nicht mehr, ich – – habe wieder glauben gelernt an die Güte der Frauenseele… Und das ist ein Gewinn, der höher steht als das niederdrückende Einst.“

Wir saßen im Kreis um den großen Ecktisch. Die Lampe beschien ernste, nachdenkliche Gesichter.

Obermüller paßte diese trübselige Stimmung nicht.

„Harst,“ fragte er unnötig laut, „also ist Frau Brigitta, als wir bei dem Sterbenden weilten, wieder hier nach oben geschlichen und hat…“

Harald winkte etwas müde ab. „Ja… Es war dies wohl die annehmbarste Lösung… Ich selbst deutete Brigitta an, wo das Geld läge. Sie war durch die Tabletten sehr rasch wieder genesen, sie hat die Gelegenheit doppelt genutzt: Sich gerächt und … sich entfernt – für immer! – Ich glaube kaum, daß Sie sie finden werden, Obermüller. Sie war tatsächlich auch das ‚Käuzchen‛, das hier in der Nähe schrie, als Sepp auf den Grafen weiter oben feuerte. Sie hat gelitten und gebüßt… Gönnen wir ihr den Frieden ehrlicher Reue…“

Obermüller hustete verlegen. „Ein schwerer Konflikt für mich‥! Ich möchte den Grafen nicht nochmals in einen öffentlichen Skandal hineinziehen. Aber…“

Harald warf sehr kühl ein: „Ich betone, es ist nur eine Vermutung meinerseits, daß Sepps ‚Verwandte‛ Frau Brigitta Gräfin Todlaar gewesen ist. Meine Annahme kann falsch sein. Direkt zugegeben hat die Frau es mir gegenüber nicht.“

„Na also!“ rief Obermüller erleichtert. „Dann wird sie eben als ‚Unbekannt‛ rubriziert[1]… – Und nun ein letztes, bester Harst: Wann fanden Sie heraus, daß Sepp und der Prinz Chamäleon miteinander identisch waren?“

„Wann? – Nun, Werkle erzählte uns, Sepp habe drei Monate mit schweren Bißwunden durch die Schäferrüden hier im Krankenhaus gelegen und gab uns auch die Zeit an, wann dies geschehen. Graf Jo wieder berichtete, daß die Käuzchenrufe in seinem Münchner Park monatelang verstummt waren und gab uns gleichfalls diesen Zeitraum an. Der fiel exakt mit Sepps Aufenthalt im Krankenhaus zusammen. Sepp konnte als Kranker nicht nach München, und somit war der erste Anhaltspunkt dafür gegeben, daß der Wildschütz und der berüchtigte Hochstapler ein und dieselbe Person sein könnten. – Ich denke, wir beenden diese Erörterungen… Man soll das Unerquickliche nicht zu breit ausspinnen… Während Graf Jo und Frau Ella uns vielleicht liebenswürdigerweise in der Küche eine Tasse Kaffee zubereiten, können wir die letzten Spuren der Vergangenheit tilgen… – Steigen wir zur Isar hinab.“

Der Mond schien blank und hell. Sepps Motorrad war nicht mehr zu finden, aber unten in der grünen Isar blinkten die Metallteile eines Fahrrades…

„Damit kam sie hierher und spielte zum letzten Mal Käuzchen,“ sagte Harald nur. –

Ein Bauernwagen schaffte den toten Sepp nach Tölz… –

– Als ich vierzehn Tage später an derselben Uferstelle, wo Frau Ella der tödlichen Kugel nur durch ihren Schmuckanhänger entgangen war, fünf große Forellen mit der ‚Fliege‛ geangelt hatte, hörte ich hinter mir die Büsche rauschen und vernahm des Grafen Jo glückliche Stimme:

„Wenn du Schloßherrin einer Turmruine werden willst, süße kleine Ella, dann… – mehr kann ich dir freilich neben einer ehrlichen Liebe nicht bieten‥!“

Was Ella erwiderte, hörte ich nicht mehr…

Ich schlich eilends davon…

Ich wußte, – in das Schloß des Grafen von Tod würde nun wieder frohes Leben einziehen…

 

 

Fußnote:

[1] eingeordnet, eingestuft