Harald Harst
Band: 360
Von
Max Schraut
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16
Vorspiel
Die Leuchtkugel.
Draußen regnete es. Auf den warmen Vorfrühlingstag war ein stürmischer, kalter, unfreundlicher Abend gefolgt.
Die Straßen der westlichen Stadtteile Berlins waren bei diesem Wetter wie leer gefegt.
Eine Autotaxe bog aus der Augustastraße in den Fehrbelliner Platz ein, hielt in den Anlagen, und zwei Männer in dunklen Gummimänteln und mit Ledermützen mit großen Schirmen stiegen aus, zahlten und verschwanden in den sturmgepeitschten Promenadenwegen. Ihr vorläufiges Ziel war ein älteres Mietshaus am Fehrbelliner Platz, in dessem zweiten Stock die Witwe des Bildhauers Prof. Bendler mit ihren beiden unglücklichen Kindern wohnte.
Es mochte halb zwölf sein, als der größere der beiden vermummten Männer die Haustür mit einem Dietrich öffnete, mit seinem Gefährten in den Flur huschte, wieder abschloß und nachher den Hof betrat.
Die beiden warnen äußerst vorsichtig und mißtrauisch, hatten sich schon draußen auf dem Fehrbelliner Platz immer wieder umgedreht und nach heimlichen Verfolgern ausgespäht. Sie kannten das Haus, in das sie jetzt eingedrungen waren, recht gut, und ohne Zaudern und mit größter Selbstverständlichkeit, dabei auch mit erstaunlicher Gewandtheit erklommen sie jetzt eine Feuerleiter an der Rückseite des Gebäudes und stiegen schließlich durch das nur angelehnte und mit Bindfaden befestigte Fenster der Speisekammer in die fremde Wohnung ein, blieben in der dunklen Küche lauschend stehen und wurden plötzlich auf einen grellen, kurzen Lichtblitz aufmerksam, der nur von einer sekundenlang eingeschalteten Taschenlampe herrühren konnte. Der Lichtschein hatte auch das Küchenfenster getroffen, und der eine der Eindringlinge flüsterte hastig:
„Das kam von der Feuerleiter her. Ich werde einmal hinausschauen.“
Er öffnete leise das Küchenfenster und blickte nach links, beugte sich noch weiter hinaus, und da es gerade jetzt im Seitenflügel hinter zwei Fenstern hell wurde, konnte er trotz der Finsternis einen Mann erkennen, der sehr eilig die Leiter abwärtsglitt und dann unten die Hoftür öffnete und verschwand.
Der Beobachter schloß das Küchenfenster. Er war jetzt nachdenklich geworden. „Weißt du,“ raunte er dem andern ins Ohr, „die Geschichte gefällt mir gar nicht. Vielleicht kommen wir zu spät… Er kann es gewesen sein. Das Gondellied hat ihn ja vormittags gewarnt, und daß er auch noch eine weitere Warnung und neue Verhaltensmaßregeln empfangen hat, mag schon möglich sein. Jedenfalls trug der, der soeben über die Feuerleiter entwischte, einen Vollbart, der beim Theaterfriseur bezogen worden ist. Trotzdem müssen wir unser Vorhaben zu Ende führen, es kann ja auch ein anderer Mitspieler gewesen sein.“
Sie betraten nun die Diele, horchten wieder und vernahmen irgendwo sanftes Schnarchen.
„Das ist die Frau Professor,“ meinte der einer der Männer. „Die Ärmste hat es tagsüber schwer genug. Zwei kranke Kinder, und nur vormittags eine Aufwärterin, die als Fürstin an solche Arbeit wahrlich nicht gewöhnt ist! – Nun, dies hier ist Bendlers Zimmer. Jetzt wird es sich zeigen, ob wir ihn sanft oder unsanft überreden können, uns zu begleiten.“
In dem schmalen, einfenstrigen Raum brannte ein Nachtlämpchen. Die Verbindungstür nach Bendlers Arbeitszimmer, wo jetzt seine Mutter schlief, war nur angelehnt, damit er sie sofort herbeirufen könnte, falls er ihrer bedurfte.
Der erste Mann drückte diese Tür lautlos zu, horchte und wandte sich halb um. Bendler saß jetzt aufrecht im Bett, über den Augen einen breiten Mullverband, vor ihm stand der Kleinere der Eindringlinge, und der flüsterte nochmals und noch drohender: „Wenn Sie schreien, stoße ich zu! Mein Freund will Sie nur in Sicherheit bringen. Machen Sie also keine Dummheiten!“
Er hielt in der rechten Hand eine kleine Injektionsspritze, deren haarfeine Spitze er dem Halbblinden auf den Handrücken gelegt hatte. Die Spritze enthielt eine bestimmte Mischung, die fast augenblicklich gewirkt hätte.
Bendler vernahm nun auch die etwas hellere Stimme des anderen.
„Herr Bendler, wir haben erfahren, daß die Polizei Sie nun doch verhaften will. Heute vormittag war eine gewisse junge Dame bei uns und bat uns um Hilfe. Sie wissen, wen ich meine. Die Dame ist von Ihrer Schuldlosigkeit fest überzeugt, und sie bewog mich dazu, einige Nachforschungen anzustellen, die ich ohne jede Voreingenommenheit mit meinem Freund durchführte. Daß dabei ein Bild, eine Fürstin und ein italienisches Gondellied eine Rolle spielten, mag man Ihnen bereits warnend mitgeteilt haben. Hätte ich geahnt, daß die Kriminalpolizei dieses Haus beobachtet, würde ich vorsichtiger gewesen sein.“ –
Dies letzte und der Rest waren freie Erfindung des zweifelhaften Helfers.
„Abends kam jedenfalls der Kriminalkommissar Taubeck zu mir und verlangte Auskunft, die ich ihm verweigerte. Nun sind wir für morgen als Zeugen vor den Untersuchungsrichter geladen, wo wir alles bekennen müssen, und danach wird man Sie bestimmt verhaften.“
Bendler, dessen Hände nervös auf der Bettdecke umhertasteten, fragte unsicher: „Wohin wollen Sie mich bringen?“
„Zu einem Bekannten, wo niemand Sie suchen wird. Ich habe einen Zettel für Ihre Frau Mutter vorbereitet, der diese vollkommen beruhigen wird. Wollen Sie gehorchen, sich ankleiden lassen und uns folgen? Wenn nicht, müssen wir Sie betäuben und trotzdem mitnehmen. Ich habe es der Dame versprochen, die sehr selbstlos handelt.“
Der Mann mit den verbundenen Augen überlegte eine Weile. „Sind Sie beide wirklich die, die vormittags hier waren?“ fragte er dann mißtrauisch.
„Wer sonst wohl?! Stellen Sie keine unnötigen Fragen. Ich will diesen Fall klären, was immer dabei herauskommen mag. Entscheiden Sie sich‥!“
„Ich gehorche,“ flüsterte Bendler kleinlaut.
Fünf Minuten später schritten wir drei die Vordertreppe hinab, gelangten unbehelligt auf die Straße, und hier gab der einer der beiden Entführer mit seiner Taschenlampe gewisse Signale, auf die hin eine Limousine heranrollte, hielt, die drei aufnahm und sofort weiterfuhr.
Bendler fragte ängstlich:
„Ist es eine Taxe?“
Der Hauptsprecher lachte leise. „Nein, es ist ein Privatwagen, und am Steuer sitzt der beste Chauffeur, den es geben kann, ein Angestellter der Detektei ‚Lux‛.“
Bendler schwieg und drückte sich tiefer in die Polsterecke. –
„Könnte ich eine Zigarette haben,“ bat er nach einer Weile.
„Gewiß… Bitte…“ Die Zigarette wurde ihm zwischen die Lippen geschoben, und ein Feuerzeug sprühte auf. Er rauchte minutenlang und sagte dann wieder: „Können Sie nicht ein Fenster öffnen… Die Luft ist hier sehr schlecht.“
„Gern. Sofort…“
Ein frischer kühler Luftzug traf Bendlers etwas blasses Gesicht. Draußen regnete es weniger heftig. Im Wagen wars völlig dunkel
Bendler tastete nach seiner Westentasche, entnahm ihr eine etwas dicke Zigarette, zündete diese äußerst geschickt an der anderen, brennenden an und tat drei Züge. Dann wollte er sie zum offenen Fenster hinauswerfen.
Eine Hand packte zu, die Zigarette fiel dem einen Mann in den Schoß, explodierte mit leisem Knall, und eine kleine Leuchtkugel schlug zischend gegen die Vorderscheibe der Limousine… – –
1. Kapitel
Die Braut Doktor Bendlers.
Obwohl mein Freund Harst kein Gesellschaftsmensch ist, waren wir doch halb gegen unseren Willen in den äußerst exklusiven Klub ‚Germania 1924‛ hineingeraten…
Am 18. März 192. erhielten wir Einladungen zur Generalversammlung:
Punkt 2 der Tagesordnung: Antrag auf Ausschluß des Herrn Dr. Arthur Bendler wegen ehrenrührigen Verhaltens.
Der Präsident
v. Ruvensen
Exzellenz, Ritter, höchster Ordnung
„Bendler?!“ meinte ich erstaunt. „Das ist ja der nette Kerl, der niemals irgendwie aufgewichst tut. Was hat denn der berissen?!“
„Keinen Schimmer‥!“ Harald blätterte in den Morgenzeitungen. „Vielleicht macht man ihm zum Vorwurf, daß er sich ganz natürlich gibt, kein Monokel trägt, vor dem Vorstand nicht in Ehrfurcht erstirbt und die olle Exzellenz von Ruvensen hartnäckig nur mit Herr von Ruvensen statt mit Euer Exzellenz anredet. Jedenfalls werde ich mal den Schriftführer, den Herrn von Rodelstein, anrufen und diesen bescheidenen, ehrenamtlich tätigen Mann, der regelmäßig jährlich achttausend Mark in Anerkennung seiner unerhörten Verdienste um den Klub als Gratifikation erhält, sehr ergebenst fragen, was gegen Bendler eigentlich
vorliegt. – Hallo, was gibt’s?“
Diese Geschichte spielt zu einer Zeit, als wir noch unser Sonnenscheinchen als Empfangsdame im Hause hatten.
Die junge Frau wirbelte ins Zimmer wie ein taufrisches Rosenblatt. Sie wirbelte überhaupt nur. Sie hatte Augen wie echter Frühlingssonnenschein und ein Herzchen von Gold. Später hat sie – natürlich – geheiratet.
Wir legten damals Trauer an, schwarzseidene Hemden.
„Herr Harst, ein junges Mädchen ist draußen… Sie tut sehr geheimnisvoll,“ flüsterte Sonnenscheinchen mitfühlend. „Und sie hat Tränen in den Wimpern… Sie ist so – – so unglücklich, man sieht’s ihr an. Seien Sie lieb zu ihr, bitte, bitte…“
Harald lächelte. „Rein mit der frühen Klientin! – Wie heißt sie denn?“
„Traude Markert… – Traude ist ein süßer Name…“
„Und Sie sind ein kleiner Racker, Ingeborg! Ich finde Inge noch viel schöner.“
„Danke … zu lieb!!“ Sie faßte ihre große Wirtschaftsschürze mit beiden Händen, machte uns einen gro-Kurknix und entschwand. –
– Am 2. Februar nachts gegen halb zwölf fegte ein böser Schneesturm die von Wannsee nach Berlin führende Chaussee entlang.
Dr. Arthur Bendler steuerte daher auch die mittelgroße Limousine mit allergrößter Vorsicht durch die gefährliche weiße Finsternis und fuhr in einem wahren Schneckentempo dahin.
Ihn galt keine Schuld, daß ein Motorradler, aus der entgegengesetzten Richtung kommend, gegen seinen Kühler raste und samt dem Rad seitwärts in eine Schneeschanze geschleudert wurde.
Er hielt sofort an, ließ die Scheinwerfer eingeschaltet und beugte sich über den offenbar Schwerverletzten, der unter seinem Motorrad im Schnee lag.
Plötzlich explodierte der Benzinbehälter der Maschine, eine sengend heiße Lohe umspielte Bendler, er flog rückwärts, versank in einer anderen Schneewehe und verlor das Bewußtsein.
Ein Zufall wollte es, daß Exzellenz von Ruvensen zusammen mit dem Polizeioberst Alsenkapp Minuten später ebenfalls von Potsdam kommend die Unfallstelle erreichte. Der Kriminalassistent Oberscheibler, der Alsenkapps Wagen steuerte, nahm sofort an Ort und Stelle eine Untersuchung der Angelegenheit vor, während die beiden Herren, die in Potsdam einen Regimentsabend mitgemacht hatten, den besinnungslosen Bendler in das nächste Krankenhaus schafften. Der Motorradler war bei dem Zusammenstoß ums Leben gekommen.
Im Krankenhaus stellten die Ärzte fest, daß Bendler im Gesicht nur leichte Brandwunden erlitten hatte, daß aber das Augenlicht stark gefährdet war.
Bendler wurde erst nach drei Wochen aus der Klinik entlassen, mußte jedoch weiterhin ständig einen festen Augenverband tragen. Da er gegen Unfall hoch versichert war, hatte er inzwischen durch einen Anwalt, der ihm befreundet war, die Versicherungsgesellschaft zur Zahlung eines Teilbetrages von zehntausend Mark auffordern lassen. Diese weigerte sich jedoch und machte geltend, daß verschiedene Einzelheiten dafür sprächen, Bendler hätte den Unfall absichtlich herbeigeführt.
Sie berief sich hierbei auf die Ergebnisse der Untersuchung des Kriminalbeamten Oberscheidler und auf den Obduktionsbefund der Leiche des Motorradlers Fritz Garlandi, der bestimmt schwer betrunken gewesen war und außerdem den allerschlechtesten Ruf besaß. Als der Rechtsanwalt mit Klage drohte, leitete die Staatsanwaltschaft gegen Bendler die Voruntersuchung wegen Versicherungsbetruges und Totschlags ein. Lediglich Arthur Bendlers makellosem Vorleben war es zuzuschreiben, daß von einer Verhaftung abgesehen wurde. Der Angeschuldigte, seelisch vollständig gebrochen, leugnete hartnäckig, zeigte aber andererseits ein so seltsames Benehmen, daß sogar seine Freunde sich von ihm zurückzogen und schließlich auch seine Braut Traude Markert auf energisches Drängen ihrer Eltern die Verlobung löste. –
Traude Markert saß uns in unserem Büro an diesem sonnigen Märzvormittag gegenüber und berichtete, was ich vorstehend in aller Knappheit wiedergegeben habe.
„Herr Harst, helfen Sie‥!“ schluchzte sie zum Schluß. „Obwohl Arthur, den ich von Herzen liebe, auch mir gegenüber in seiner verständlichen Verbitterung immer kühler und ablehnender wurde, halte ich nach wie vor treu zu ihm und betrachte mich auch fernerhin als seine Verlobte.“
Das junge Mädchen gefiel mir. Sie gab sich schlich und natürlich, und sie besaß zweifellos auch ein hohes Maß von Tatkraft. Ihre Gesichtszüge waren vielleicht etwas herb, ihnen fehlte die weiche Linie, aber es war bestimmt das Gesicht eines ausgereiften Charakters und eines klugen, innerlich vornehmen Menschen. Das Traude Markert trotzdem dem Verlangen ihrer Eltern stattgegeben und Arthur Bendler den Ring zurückgeschickt hatte, durfte man ihr nicht als Schwäche auslegen, wie ihre nächsten Sätze bewiesen.
„Herr Harst,“ erklärte sie freimütig und trocknete die letzten Tränen, „ich muß hier vor Ihnen mit aller Offenheit sprechen, wenn Sie mir helfen sollen.“
„Das will ich,“ sagte mein Freund einfach. „Zumal ich schon jetzt den Eindruck gewonnen habe, daß die ganze Sachlage weit verzwickter ist, als selbst Sie es ahnen. Also bitte … ohne Scheu! Teilen Sie uns alles mit.“
Sie streckte ihm impulsiv die Hand hin.
„Ich wußte, daß mein Gang hierher nicht umsonst sein würde. Also hören Sie… – Meine Eltern haben sich aus den einfachsten Verhältnissen emporgearbeitet, heute ist Vater der Alleininhaber der Werkzeugfabrik ‚Montana‛, und Arthur, bekanntlich Diplom-Kaufmann und Doktor der Rechte, hat als sein zweiter Prokurist den Auslandsvertrieb organisiert, da die ‚Montana‛ zumeist patentierte Spezialwerkzeuge herstellt. Der Aufschwung der Fabrik ist in der Hauptsache Arthur zuzuschreiben. – Leider hat das Vater niemals anerkannt. Später, als ich die Verlobung mit Arthur erzwungen hatte, sagte er mir gelegentlich, diese Abneigung Vaters gegen ihn hätte schon ihre Gründe, die Arthur jedoch nicht näher ausführte und mit einer sehr schroffen Handbewegung abtat. Leider muß ich zugeben, so unkindlich das für die einzige Erbin der ‚Montana‛ auch klingen mag, daß meine Eltern einem zweckbewußten Materialismus huldigen, der Hand in Hand mit einer leider heimlich oft belächelten Geltungssucht geht, – Beweis hierfür ist die Tatsache, daß ich den Regierungsrat von Ruvensen heiraten sollte und daß Arthur, obwohl wir ein halbes Jahr verlobt sind, nie zu uns eingeladen wird. Wir treffen uns stets am dritten Ort. Vater behauptet, für seinen Umgangskreis sei Arthur mit seiner vorlauten Art unmöglich, – ein Urteil über Arthurs Persönlichkeit, das vollkommen falsch ist.“
Harald, der mit größter Aufmerksamkeit zugehört hatte, nickte bestätigend. „Es scheint so, Fräulein Markert… Sie haben manches angedeutet, das sehr der Nachprüfung bedarf. Sie haben Ihre Eltern nicht zu sehr bloßstellen wollen, – verständlich! Trotzdem glaube ich das richtige Bild gewonnen zu haben. Einige von Ihren Angaben war mir nicht neu. Wir kennen Bendler vom Klub her, und wir schätzen ihn als aufrechte Persönlichkeit. Ich glaube, er hat Ihren Vater irgendwie in der Hand, und nun die Rücksicht auf Sie ließ ihn vorläufig seine Waffen zurücklegen. Doch wir wollen nicht unnötig mit Vermutungen operieren, liebes Fräulein Markert. Sie selbst als unsere Verbündete sind als Tochter und einziges Kind Ihres Vaters nur beschränkt … aktionsfähig. Sie verstehen mich. Ich will daher nur zwei Fragen an Sie richten. Erstens: Wie stellen Sie sich zu einem immerhin möglichen Ergebnis meiner Ermittlungen, das Ihren Vater belasten würde? Sie könnten so in einen bösen Gewissenskonflikt geraten. Würden Sie Ihren Auftrag an uns dann zurückziehen?“
Sie blickte Harald ruhig und fest an.
„Niemals!“ sagte sie hart. „Recht muß Recht bleiben! So traurig es ist: Meine Eltern sind mir innerlich fremd. Vater haßt Arthur insgeheim, das Gefühl werde ich nicht los. Er bezahlte ihn schlecht… Er nutzte ihn aus. Jetzt hat er ihm sogar von dem Gehalt, das er ihm noch auszahlen mußte, die Reparaturkosten der Limousine, die der Firma gehört, abgezogen. Ich war empört.“
„Gut, darüber wären wir also einig,“ meinte Harald herzlich. Das Mädchen tat ihm fraglos ebenso leid wie mir. Ihr Elternhaus mußte für sie alles andere als ein wahres Heim sein.
„Nun meine zweite Frage, genau so wichtig,“ fügte mein Freund hinzu. „Wie konnte es geschehen, daß die Zeitungen bisher über den Fall ‚Bendler‛ so gar nichts berichteten?! Schraut und ich verfolgen doch jede Kleinigkeit in der Presse sehr genau und sammeln Zeitungsausschnitte in dicken Bänden nach bestimmten Stichworten.“
Traudes frisches Gesicht färbte sich dunkel, und für Sekunden blickte sie zur Seite. Dann warf sie den Kopf zurück, schaute Harst voll an und erwiderte eigentümlich gereizt: „Vater hat Beziehungen bis zu den höchsten Stellen. Er wünscht nicht, daß die ‚Montana‛ durch Arthur angeblich bloßgestellt wird.“
„Ach so!!“ nickte Harald nur.
2. Kapitel
Arthurs Schwester und eine Fürstin.
Harst blickte durch das Fenster der Davonschreitenden nach, griff nach einer Zigarette und fragte sehr gedehnten Tones: „Na, mein Alter, was hältst du von der Geschichte?!“
Das war, sowie die Dinge lagen, eine kitzliche Prüfung. Wie sollte ich ein Urteil abgeben, da doch der Fall sich erst im Anfangsstadium befand?!
„Natürlich ist es der helle Unsinn, daß Arthur Bendler den Benzinbehälter des Motorrades absichtlich zur Explosion gebracht haben soll,“ erklärte ich, die Hauptbeschuldigung herausgreifend. „Nur ein Geistesgestörter würde sich einer so offenbaren Lebensgefahr ausgesetzt haben.“
Harald korrigierte mich sofort. „Oberscheibler und auch die Staatsanwaltschaft nehmen an, Bendler hätte diese Explosion äußerst vorsichtig verursacht, damit ihm nicht allzu viel geschehen könnte, und der Befund an Tatort spräche auch hierfür, betonte Traude etwas beklommen. Du darfst auch nicht übersehen, daß Bendler, wie durch Zeugen bestätigt ist, insgeheim mit dem getöteten Motorradler Garlandi mehrere Zusammenkünfte gehabt hat, was er nun hartnäckig abstreitet. Der Verdacht, daß Bendler an jener Stelle der Chaussee mit Garlandi ein Zusammentreffen verabredet hatte und ihn dann einfach überfuhr, ist durchaus nicht von der Hand zu weisen. Gewiß, das Schneetreiben macht es der Polizei unmöglich, aus den Radeindrücken des Rades im Schnee dies mit Bestimmtheit zu beweisen. – Wir wollen uns vor einseitiger Stellungnahme hüten, mein Alter. Wenn je, dann brauchen wir hier einen ungetrübten, überparteilichen Blick. – Ich möchte jetzt einmal die Familie Bendler kennenlernen. Arthur wohnt bei seiner Mutter, seine Schwester liegt, wie Traude uns mitteilte, seit Wochen nach schwerer Grippe gelähmt zu Bett. Nach diesem Besuch werde ich einen Schlachtplan entwerfen. Vorher nicht.“
– Gerda Bendler lag im Eßzimmer auf dem Diwan, in das Anschauen einer etwas zerknitterten Photographie vertieft. Ihr blasses, zartes Gesichtchen, dessen Schönheit durch den Leidenszug um den kleinen Mund noch unterstrichen wurde, zeigte jetzt einen schwer zu enträtselnden fremden Ausdruck. Das Verhältnis zwischen den Kindern und der vielgeplagten Mutter war überaus herzlich, und nur die letzten Wochen hatten auch hierin eine Änderung gebracht.
In der bescheidenen Vierzimmerwohnung war’s um diese Vormittagsstunde sehr still. Frau Bendler war bei dem warmen, sonnigen Wetter mit ihrem Sohn hinab in die weiten Anlagen des Fehrbelliner Platzes gegangen, und nur die Aufwärterin, die die gröbsten Arbeiten besorgte, wirtschaftete etwas lärmend in der Küche umher.
Als jetzt die Flurglocke anschlug, eilte Minna Perßke, deren einziger Vorzug in ihrer Billigkeit bestand, auf weichen Filzschuhen zur Tür und öffnete. –
Zwei Herren standen draußen. Minna Perßke lächelte süßlich, obwohl ihr keineswegs behaglich zumute war. Das Flackern in ihren Augen verriet sie.
Die Perßke bat uns in die Diele. Die Küchentür stand weit offen. Auf einem Stuhl vor dieser Tür lagen zwei Emailletopfdeckel, mit denen die sehr adrette und beinahe hübsche Aufwärterin soeben noch eiligste Tätigkeit vorgetäuscht hatte. Aber sie war etwas unvorsichtig gewesen, und auch Harst schätzt in gewissen Fällen Schlüssellöcher als Sehschlitze.
Gerda Bendler verfärbte sich, als die billige Minna mit süßer Stimme die Namen der Besucher flötete.
„Harst‥?!“…
Das junge Mädchen rang nach Atem.
Schon als Minna angeklopft hatte, war das zerknitterte Bild, das Gerda so eingehend betrachtet hatte, blitzschnell in dem weiten Blusenausschnitt verschwunden, – zu schnell…
Minna Perßkes Mäuseäuglein, die gewohnt waren, alles zu sehen, und ihr vielfach geschulter Verstand erfaßten die Situation in Sekunden.
„Ich werde das Fräulein mit der Seidendecke zudecken… Das sieht netter aus,“ flüsterte sie. „Herrn Harst dürfen Sie nicht abweisen, Fräulein, er kommt doch sicherlich im Interesse Ihres armen Bruders…“
Minna strich die Decke glatt, schob die Kissen bequemer zurecht und angelte dabei mit der linken Hand ganz unauffällig nach dem heißbegehrten Bild. Dann betrat sie wieder die Diele.
„Das gnädige Fräulein läßt bitten,“ flötete sie knixend und fügte devot hinzu: „Wollen die Herren nicht ablegen?“
Harst schaute sie kopfschüttelnd an. „Mit der Überraschung hatten Sie wohl nicht gerechnet!“ sagte er leise, aber desto schärferen Tones. „Sie sind ja eine wahre Zauberkünstlerin… Geben Sie das Bild heraus! Sofort!! Ich habe durch zwei Schlüssellöcher alles gesehen! Ich kenne Sie! Wie heißen Sie jetzt? Vor Jahren, als Sie der Garlandi-Bande angehörten, nannten Sie sich Fürstin Provetti.“
Harald wußte schon, wie er seine ‚Freunde‛ anzupacken hatte. Die einstige Fürstin Provetti stand bleich und stieren Blickes vor ihm.
„Minna … Perßke…“ hauchte sie tonlos… „Aufwärterin hier bei Frau Prof. Bendler…“
„Seit wann?“
„Seit dem ersten März…“
„In wessen Auftrag? – Reden Sie! Keine Ausflüchte!!“
„Aus eigenem Antrieb… Ich habe Fritz Garlandi geliebt, und Arthur Bendler hat ihn totgefahren. Ich wollte mich rächen… Irgendwie!“
Ihr Gesicht hatte wieder Farbe bekommen. Sie hielt die Augen gesenkt. Die letzte Antwort gab sie in überraschend sicherem Ton ohne jedes Zögern. Sie log zweifellos.
„Also deshalb, – sehr verständlich!“ meinte Harald harmlos. Natürlich glaubte er ihr kein Wort von den Racheplänen. „So, und nun das Bild! Ich möchte nicht Gewalt anwenden, Minna Perßke! Also‥!!“
Sie faßte unter die Schürze und brachte die Hand wieder zum Vorschein.
Mein Freund hatte mit allem gerechnet, – mit der Unverfrorenheit niemals!
Die Perßke war flinker und geschickter als vorhin Gerda Bendler. Das zerknüllte Etwas verschwand in ihrem Mund, gleichzeitig sprang sie rückwärts, die Küchentür schlug hinter ihr zu und ein Riegel wurde von innen vorgeschoben.
Harst hob die Schultern. „Ein Reinfall, mein Alter! Du wirst jetzt allein das Zimmer dort betreten und mich vorläufig bei Fräulein Bendler entschuldigen, – ich hätte noch eine wichtige Abhaltung, und das stimmt sogar. Klopfe an und tritt ein… Beeile dich! Aber kein Wort über das Bild oder die Minna!“
Fräulein Bendler schien sehr enttäuscht, als nur ich ihr meine Aufwartung machte. Trotzdem bot sie mir liebenswürdigst einen Stuhl an und fragte dann so nebenher: „Ihr Freund war aber doch bereits in der Diele… Ist ihm urplötzlich etwas so Wichtiges eingefallen, daß er kehrt machte?“
„Ja, – er ist überhaupt sehr unberechenbar in allem,“ redete ich mich heraus. – Mir fiel nichts Besseres ein. Ich hatte auch wirklich an andere Dinge zu denken. Mir war der lauernde Ausdruck in Fräulein Gerdas Augen ebenso wenig entgangen wie ihre schlecht verhehlte Nervosität. Eine innere Stimme mahnte mich zur Vorsicht.
Gerda lag aufgestützt da und betrachtete mich prüfend. „Sie kommen Arthurs wegen, Herr Schraut… War etwa Traude Markert bei Ihnen?“
Ich spürte die leise Abneigung, die durch die letzte Frage als Unterton mitschwang. Ich fühlte immer klarer, auf welch gefährlichem Boden ich mich hier bewegte. Jedes unrichtige Wort konnte unendlich viel verderben.
„Sie war bei uns,“ erwiderte ich nur.
Gerdas Stirn bekam scharfe Falten. „Unerhört!“ stieß sie beinahe haßerfüllt hervor. „Diese Einmischung sieht ihr ganz ähnlich. Erst schickt sie Arthur den Ring zurück, dann belästigt sie aus Sensationslust Ihren Freund!“
Ich war geradezu sprachlos. Nie und nimmer hatte ich hier diese haßerfüllte Atmosphäre gegen ein Mädchen vorzufinden geglaubt, das auf mich den allerbesten Eindruck gemacht hatte. Ich war von Traude Markerts ehrlicher Liebe zu Arthur Bendler fest überzeugt, genau so wie ich den Verdacht nicht los wurde, daß Bendlers Schwester Gerda auch vor mir aus noch undurchsichtigen Gründen Komödie spielen könnte. Ich beobachtete sie unausgesetzt, und obwohl ich mich hütete, meine geheimsten Gedanken etwa durch mein Mienenspiel zu verraten, bemerkte ich nun doch in ihren sanft geröteten Zügen eine geringe Spur von Unsicher- ja Verlegenheit.
Was ging hier vor? Wie sollte ich mir all das deuten?! War diese Kranke die Mitwisserin ihres Bruders?! Sollten etwa die Arztkosten für Gerda die ganzen Ersparnisse der Familie Bendler aufgezehrt und den jungen Prokuristen aus Geldnot auf Abwege geführt haben?
Ich mußte Klarheit schaffen. Zunächst mußte ich aber Gerdas Angriffe auf Traudes Charakter abschwächen. Hätte ich dazu geschwiegen, dann würde Gerda ihrerseits argwöhnisch geworden sein.
„Tun Sie Fräulein Markert, die ich für Ihre Freundin hielt, nicht bitter unrecht?!“ sagte ich im Tone milden Vorwurfs zu der Kranken, die jetzt übernervös mit der Quaste eines der Diwankissen spielte.
„Ich?! Unrecht?!“ fuhr sie sofort wieder gereizt auf. „Ich hätte gewünscht, auch Ihrem Freund sofort die wahre Sachlage klarstellen zu können. Weder Arthur noch ich nehmen von Traude Gefälligkeiten hin. Wir können einen Privatdetektiv nicht bezahlen, und wir wünschen daher Ihre Einmischung nicht! Auf keinen Fall! Bestellen Sie das gefälligst auch Traude! – Im übrigen, Herr Schraut, regt mich Ihr Besuch zu sehr auf… Verzeihen Sie, ich will nicht unhöflich erscheinen, aber es ist wirklich besser, Sie verabschieden sich. Schlagen Sie sich die ganze Sache aus dem Kopf. Arthur wird seine Angelegenheit mit Hilfe des Justizrats Sauerbier, des alten Freundes meines verstorbenen Vaters, schon allein durchfechten. Er ist unschuldig, und selbst Herrn Markerts erstklassige Beziehungen zu höchsten Regierungsstellen werden diesmal das Recht nicht beugen!“
Nun wußte ich ja, wie die Dinge lagen.
Wir kamen hier sehr ungelegen. Man fürchtete uns. Bendler war das, was sein Name als Umstellrätsel ergab:
Ein Blender!!
3. Kapitel
Das Gondellied und die Photographie.
Als ich die Treppen des Mietshauses hinabgestiegen war, stand unten im Flur mein Freund Harst im Gespräch mit dem alten Hausportier, dem er gerade diskret zehn Mark in die Hand drückte.
„Ich danke Ihnen,“ sagte er… „Also fünf Jahre… Und vorher?“
„Vorher wohnte die Frau Professor draußen im Vorort Karolinenhof am Wannsee… Die Villa hat sie vermieten müssen, der Freund ihres Mannes lebt jetzt dort, der alte Justizrat Sauerbier, der nur noch gelegentlich Praxis ausübt…“
„Also dann, – schweigen Sie, Herr Krause! Es soll Ihr Schaden nicht sein… Ihr Enkel trifft uns daheim an: Arnoldstraße 24… – Auf Wiedersehen.“
Krause verbeugte sich tief, und wir traten auf die Straße hinaus. Ich berichtete in aller Kürze.
Harst pfiff dazu ganz pianissimo einen Walzer.
Er führte mich durch die Anlagen bis zu einer Stelle, wo wir seitwärts ein paar Bänke überblicken konnten. Die Sonne schien so warm, daß die Plätze dicht besetzt waren. Ich sah Arthur Bendler mit dem Augenverband neben seiner Mutter sitzen, die seine Hände in ihrem Schoß hielt und mit traurigen Blicken ins Leere starrte.
Die Witwe des Bildhauers Bendler war eine schlichte, vornehme Erscheinung. Der Schmerz in ihren Zügen rührte tief an mein mitfühlendes Herz, und als Harald mich mit den Worten weiterzog: „Alles nur Schwindel!!“ fand ich dieses harte Urteil zumindest der Frau Professor gegenüber höchst ungerecht.
Verärgert und schweigend schritten wir heim, – das heißt, verärgert war nur ich, und meine Laune sank bis zum Gefrierpunkt, da Harald andauernd aus Rigoletto die bekannten Takte pfiff: ‚Ach, wie so trügerisch sind Frauenherzen…‛
Er war mir unverständlicher denn je.
Wir hatten dann daheim kaum erst unser Büro betreten, als es läutete.
„Es wird Emil Krause sein, mein Aushilfsspion, ein kerngesundes Berliner Früchtchen… Öffne nur.“
Ein hagerer, kräftiger Junge erstattete, atemlos vor Eifer, einem Harst dienen zu können, Bericht…
„Also, Herr Harst, – stellen Sie sich bitte vor, – die Minna Perßke muß übergeschnappt sein…“
„Was du nicht sagst! – Inwiefern denn?“
„Na, ein vernünftiger Mensch macht doch nicht so blödsinnige Sachen! Sie kam gleich hinter Ihnen die Treppe hinabgelaufen. Das haben Sie ja noch aus Großvaters Fenster beobachtet. Sie sahen auch, daß die Perßke sich im Hausflur ihren Hut ausspülte, den Mantel anzog und dann im Galoppschritte nach den Anlagen zu verschwand…“
„Ja. Das sah ich. Sie glaubte, ich wäre oben bei Fräulein Bendler im Eßzimmer. Sie hatte die Küche hinter sich abgeschlossen, kletterte die Feuerleiter hinab und öffnete das eine Fenster des Treppenflurs, – auch das sah ich, bevor ich dir den Auftrag gab, sie zu verfolgen.“
Emil Krause schnappte vor Erregung nach Luft…
„Herr Harst, – – richtig wie in einem Detektivfilm!!“
„Keineswegs!“ lenkte Harald das überhitzte Jungengemüt wieder in vernünftige Bahnen. „Detektivfilme sind der Handlung nach fein ausgeklügelte, auf Publikumswirkung zugeschnittene Phantasieprodukte. In unserem Fall, mein Sohn, beweist das wirkliche Leben nur wieder, daß es der erfindungsreichere Dichter ist. Du wirst das später einsehen, wenn das Problem Arthur Bendler abgeschlossen ist. – Was tat die Perßke weiter? Ich kann mir allerdings ungefähr zusammenreimen, was sie unternommen hat, – du bezeichnetest das als blödsinnige Sachen… Wahrscheinlich hat sie sich hinter die Bank geschlichen, auf der Frau Bendler und Arthur saßen, und dort irgend etwas Besonderes getan…“
Emil Krause feixte. „Gesungen hat sie, – oder geträllert, – – ein Lied, aber kein deutsches, es kann ein italienisches gewesen sein, denn dreimal verstand ich das Wort ‚Venezia‛, und das heißt doch Venedig…“
Harst nickte. „Das paßt zu der Fürstin Emanuela Provetti… – Und dann? Wo blieb sie nachher?“
„Sie eilte in die nahe Augustastraße in einen kleinen Südfrüchteladen, Haus Nr. 156, der einem Italiener Luigi Battista gehört. Sie blieb aber nicht im Laden, sondern betrat hinten die Privaträume, und der Battista folgte ihr, nachdem er sie sehr bedienert hatte. Ich werde aus alledem nicht klug…“
Harald lächelte. „Das ist auch nicht nötig, mein Junge. Vergiß das Ganze, schweige und schlage dir alle Gedanken an Detektivarbeit aus dem Kopf. In deinem Alter soll man zunächst daran denken, ein nützliches Glied des Staates als fleißiger Werktätiger zu werden. Dein Großvater ist Schumacher… Also kehre zu deinen Leisten zurück. Hier sind zwanzig Mark. Du wirst ja wohl eine Sparbüchse besitzen. – Und – – das andere, mein Junge? Hast du gut aufgepaßt?“
„Und ob!! Und ob!!“ Er holte sein keineswegs sauberes Taschentuch hervor und legte es auf eine Zeitung. „Da ist ‚es‛ drin… Sehr appetitlich ist’s nicht. Entschuldigen Sie den Ausdruck, Herr Harst! Gerade in einen Haufen trockenen Laubes hat sie’s hineingespukt! Es war nur eine nasse Papierkugel. – Was wollen Sie eigentlich damit, Herr Harst?“
„Das laß nur meine Sorge sein! Und nun – – adieu, mein Junge, und nochmals: Lerne Stiefel besohlen! Das Handwerk ist sauberer als mein Beruf, glaube es mir!“
Emil seufzte, und die Tür fiel zu.
Harst zog dünne Gummihandschuhe über, setzte sich an den Schreibtisch, nahm zwei Pinzetten und begann mit Engelsgeduld die Papierkugel auseinanderzufalten. Es waren nur noch Fetzen, die er auf eine Glasplatte legte.
Er war so vertieft in seiner Arbeit, daß er kein Wort sprach. Ich schaute interessiert zu. Ich sah, daß das Bild, offenbar eine Amateuraufnahme, die auf einen dünnen Karton geklebt war, eine Veranda und ein paar Personen darauf dargestellt haben mußte. Einzelheiten waren nicht mehr zu erkennen, wenigstens vorläufig nicht. Möglich, daß nachher, wenn die Fetzen getrocknet, geglättet und in richtiger Reihenfolge frisch aufgeklebt waren, einzelne Gesichter deutlicher sich zeigen würden, obwohl auch dies zweifelhaft blieb.
Als mein Freund mit seiner Arbeit fertig war, die Glasplatte weggeschlossen und sich die Hände gesäubert hatte, nahm er in der Sofaecke Platz und erklärte in seiner wortkargen, präzisen Art:
„Rufen wir uns die Vorgänge ins Gedächtnis zurück, mein Alter. – Traude Markert erscheint. Wir begeben uns dann zu Bendler. Vor der Bendler’schen Flurtür schaue ich durch das Schlüsselloch in die Diele hinein und sehe Minna Perßke gebückt vor der Eßzimmertür stehen und durch das Schlüsselloch die Kranke beobachten, indem sie mit den Topfdeckeln einigen Lärm verursacht. Nachher, als sie uns bei Fräulein Gerda anmeldet, beobachte ich durch das Schlüsselloch, wie die Perßke das Bild sich aneignet.
Später steckt sie es hastig in den Mund, schließt sich in die Küche ein, ich rüttele etwas am Schloß, hänge meinen Hut über das Schlüsselloch, horche und höre ein Fenster klirren. Die Perßke flieht. Ich eile zum Portier hinab, – das weitere ist dir bekannt. – Hauptfrage: Welchen Wert hat das Bild für Gerda Bendler – und für die Perßke? – Nebenfrage: Weshalb warnt die Perßke Arthur Bendler durch das italienische Gondellied?“ –
Meine Antworten lauten: Bendler ist schuldig, Gerda weiß dies, Gerda lehnt daher unsere Einmischung ab. Das Bild würde den Beweis für Bendlers Schuld liefern. Die Perßke ist, ohne daß Gerda dies weiß, mit Bendler verbündet. Sie hat die Stellung bei Frau Bendler erst kurze Zeit inne. Sie spielt die Rolle einer Spionin und Warnerin. – – Was tun wir nun gegenüber diesem Tatbestand, der, das betone ich, immer noch höchst unklar und zweideutig ist? – Nur ein Gewaltstreich kann Klarheit schaffen. Ich bin dazu fest entschlossen. Das Belastungsmaterial gegen Bendler ist durch unsere Beobachtungen und Feststellungen lawinenartig angeschwollen. Unterbreiten wir es der Polizei, was unsere Pflicht wäre, so wird Bendler verhaftet. Das will ich nicht… Aus sehr triftigen Gründen… Ich habe mich für eine andere Art der vorläufigen Lösung entschieden… Und die lautet…“
Was er weiter sagte, entsetzte mich geradezu.
„Aber Harald, dadurch können wir in Teufels Küche kommen!!“ warnte ich.
„Und es bleibt bei meinem Abendprogramm, – abgemacht! Frage nichts mehr, rede nichts mehr. Außerdem bringt Sonnenscheinchen das Mittagessen. – Hallo, Kind, was gibt’s denn heute Schönes?!“
Aber Inge Menzel hatte andere Gedanken im Kopf. „Lieber Herr Harst, wie steht’s mit dem Fall Bendler? Werden Sie der armen Traude Markert helfen können?“
„Ich hoffe, Sonnenscheinchen! Arthur Bendler wird rein wie ein Engel aus der verzwickten Geschichte hervorgehen! Weiter sage ich nichts!“
Er meinte das offenbar vollkommen ehrlich und ernst, denn er nickte unserer Kleinen aufmunternd lächelnd zu.
Ich war starr. So ganz allmählich stieg mir da die Gewißheit auf, daß das Problem ‚Bendler‛ denn doch etwas anders läge, als mein Durchschnittsverstand es bisher aufgefaßt hatte.
Zuweilen faßt man sogar daneben.
Nachmittags verschwand Harald für volle vier Stunden. Dann beschäftigte er sich mit den inzwischen getrockneten Fetzen der Photographie und zeigte mir seinen ‚Erfolg‛.
Das rekonstruierte Bild stellte eine Veranda dar, vor der fünf Personen standen. Bei zwei der Personen fehlten die Köpfe. Auch die Gesichtszüge der anderen waren unkenntlich.
„Wer ist das, Harald?“ fragte ich enttäuscht.
„Bekannte sind das… Die Veranda gehört zur Villa Bendler in Karolinenhof, wo jetzt der Justizrat Dr. Julius Sauerbier wohnt. Ich war bei ihm. Hoffentlich bin ich nicht verfolgt und beobachtet worden, denn das könnte für den alten Herrn sehr üble Folgen haben. Für alle Fälle habe ich ihn gewarnt…“
(Vorspiel). Draußen regnete es. Auf den warmen Vorfrühlingstag war ein stürmischer, kalter, unfreundlicher Abend gefolgt.
Die Straßen der westlichen Stadtteile Berlins waren bei diesem Wetter wie leer gefegt.
4. Kapitel
Volenti non fit injuria.
Bendler hätte seinen Zigarrentrick geschickter ausführen sollen.
Nachdem die kleine grelle Leuchtkugel erloschen war, sagte Harst vorwurfsvoll: „Falls Sie mir in meinen Gummimantel ein Loch eingebrannt haben, Herr Bendler, werden Sie mir den Mantel ersetzen müssen. Sie sind ja ohne Zweifel sehr gut ausgerüstet, trotzdem klappte die Sache nicht recht.
Die Limousine läuft notfalls hundertzwanzig Kilometer, und der Südfruchthändler, der sich Luigi Battista nennt und in Wahrheit Louis Bastide heißt und einst mit zu der Garlandi-Bande gehörte, hat mit seinem Motorrad nebst Beiwagen und Sozius schon vor zehn Minuten Pech gehabt. Die Teppichnägel, die unser Chauffeur hier auf dem Stückchen Landstraße ausstreute, haben Monsieur Batistes Reifen geschadet, ich hörte den einen knallen, und mit Ihrem Bundesgenossen sieht es mithin oberfaul aus. Entschuldigen Sie die etwas volkstümliche Ausdrucksweise, Herr Bendler. Aber mitunter läuft mir die Galle über, besonders dann, wenn ich weiß, daß Monsieur Batiste Besitzer einer Maschinenpistole ist. Rechnen Sie auch nicht damit, daß Ihre Komplizen aus unserer Fahrtrichtung entnehmen könnten, wohin wir Sie bringen. Rechnen Sie erst recht nicht auf ein Eingreifen der Polizei, denn ich habe Sie beschwindelt, wir sind nicht vor den Untersuchungsrichter geladen worden.
Aber ich habe mir nun einmal in den Kopf gesetzt, diesen Versicherungsbetrug restlos bis zu den geheimsten Seitenwurzeln hin zu enthüllen, und das führe ich auch durch. Sie haben bisher alle Welt bis auf ganz wenige Personen an der Nase herumgeführt. Damit ist’s nun Schluß. Das Mädchen, das Dr. Arthur Bendler liebt, soll erkennen, was an ihm daran ist, und auch Ihre arme gelähmte Schwester, die sich abmüht, die Schande vor ihrer beider Mutter zu verheimlichen, werde ich schonen.“
Jeder dieser Sätze, die zuletzt immer schärfer klangen, bildete im Grunde einen Widerspruch in sich und auch gegenüber Haralds früheren Äußerungen.
Später, als die entscheidende Stunde kam und alles, aber auch alles restlos geklärt war, habe ich meine eigene Begriffstutzigkeit verwünscht. Hätte ich von vornherein Augen und Ohren gründlich aufgesperrt, würde ich selbst die Lösung gefunden haben.
Der Mann mit den verbundenen Augen saß jetzt regungslos in seiner Ecke, hatte die Zigarette in den Wandaschbecher geworfen und sprach nicht ein Wort mehr.
Harst, der neben ihm saß, beleuchtete mit der Taschenlampe lediglich die Hände Bendlers und blieb nun ebenfalls eine Weile stumm. Dann folgte etwas ganz Eigentümliches. Er sagte plötzlich:
„Übrigens, was meinen vielleicht verbrannten Mantel betrifft: Sie sind ja auch sicherlich im bürgerlichen Gesetzbuch so weit beschlagen, daß Sie den Paragraph 823 kennen…“
„Allerdings. Was soll das?!“ meinte Bendler mit vor ohnmächtigem Grimm völlig heiserer Stimme.
„Wissen Sie den Wortlaut?“ fragte Harst sanft gähnend.
„Ungefähr. Lassen Sie mich aber gefälligst mit dem Unsinn in Ruhe. Ich hätte Ihnen niemals zugetraut, so gemein an mir zu handeln. Was haben Sie mit mir eigentlich vor?! Ihre Redensarten, Sie wollten Traude Markert beispringen, sind doch eitel Schaumschlägerei!“
„Auf mein Wort – nein!“ erwiderte Harald gelassen. „Augenblicklich reden wir aber über den Paragraph 823 und über meinen Mantel. Wie stellen Sie sich zu der Rechtsfrage: Volenti non fit injuria? Sie ist allerdings kaum umstritten.“
„Was soll das?!“ rief Bendler noch wütender. „Den ganzen Kram von meiner Doktorprüfung her habe ich längst vergessen‥!“
„Falls Sie überhaupt je irgendwo zum Doktor promoviert haben! Jeder Student im zweiten Semester kennt den altrömischen Rechtssatz, den ich soeben zitierte: ‚Dem Wollenden geschieht kein Unrecht‛, das heißt also, ein Schadensersatz wegen unerlaubter Handlungen ist ausgeschlossen, wenn der Geschädigte bei der Schadensursache mitgewirkt oder sie geduldet hat. In unserem Fall könnte ich also keinen Schadensersatzanspruch erheben, denn ich selbst packte Ihre Hand, und nur dadurch fiel mir Ihre Leuchtkugelzigarette in den Schoß… – Von der Juristerei haben Sie wenig Ahnung, und Ihr Doktortitel wird wohl genau so zweifelhaft sein wie Ihre Augenverletzung durch die Benzinexplosion… – Sie sind ein Schwindler, und deshalb will ich Ihnen nun auch sagen, was ich mit Ihnen vorhabe: Ich werde Sie so lange einsperren, bis Sie die volle Wahrheit gestehen, aber ich werde Ihren Kerker auch so herrichten, daß Ihr Geständnis nicht allzulange auf sich warten läßt.“
Der Mann mit den verbundenen Augen drehte jäh den Kopf. „Auf Freiheitsberaubung steht Gefängnis, und…“
„Allerdings… Und auf Mord Todesstrafe! Sie haben Garlandi ermordet. Für mich unterliegt das keinen Zweifel. Sie haben ihn betrunken gemacht und zwar so betrunken gemacht, daß Sie und Ihre Verbündeten ihn auf das Motorrad heben mußten, mit dem er dann gegen die Limousine der Firma ‚Markert‛ sauste, weil Sie es so eingerichtet hatten… Fünfzigtausend Mark sind eine Menge Geld, und die Versicherungsgesellschaft hätte bluten müssen, wenn Sie es geschickter angefangen hätten… – Können Sie unter diesen Umständen von mir verlangen, daß ich Sie schone? Wohl kaum!“
Bendler versuchte es mit einem ironischen Auflachen.
Harst schwieg. Ich selbst ahnte nicht, was er eigentlich vor hatte. Unser Fahrziel kannte ich. Das war aber auch alles. Unser Auto hatte weite Umwege gemacht, jetzt blitzten Bogenlampe auf, Straßenkandelaber…
Bendler hatte den Kopf wieder nach links gedreht. Aber abgesehen davon, daß er einen Augenverband trug, hätte er infolge der Regentropfen an den Fenstern und infolge des Unwetters niemals feststellen können, wo wir uns eigentlich befanden. Das Auto war längst in eine dunkle Allee eingebogen und hielt urplötzlich. Der Ruck war so stark, daß Bendler nach vorn flog. Draußen ertönte ein heller Schrei – kurz, abgerissen, dann huschte eine Gestalt dicht an der Limousine vorüber, und Harst stieß die Tür auf…
„Fessele Bendler‥! Worch hilft dir!“
Und schon war er verschwunden.
Bendler leistete keinen Widerstand. Der Privatdetektiv Worch, unser Chauffeur, war ein äußerst kräftiger und intelligenter junger Mann. Er war die letzten zwanzig Meter mit abgeblendeten Scheinwerfern gefahren und raunte mir nun zu, daß er nur deshalb so scharf gebremst hätte, um nicht den Mann anzurempeln, der so jäh an der Biegung der Allee aufgetaucht wäre.
„Die Geschichte hier behagt mir nicht,“ fügte er sehr ehrlich hinzu. „Das Gartentor stand offen, es ist dies bestimmt das Bendlersche Grundstück… Dort liegt die Villa, Herr Schraut. Sie sehen das matte Blinken der Verandafenster. Sonst ist alles dunkel… – Herr Harst sagte doch, wir würden von dem Justizrat Sauerbier erwartet. Davon ist nicht viel zu merken.“
Bendler saß in seiner Wagenecke. Wir hatten ihm die Hände vorn an die Klapplehne des einen Reservesitzes gefesselt. Wir beide standen neben dem Wagen im strömenden Regen. Vom nahen Wannsee her ertönte die Sirene eines Schleppdampfers. Der Sturm peitschte die Parkbäume, Äste prasselten herab, und – – dann packte Worch meinen Unterarm:
„Da – – zwei helle Fenster jetzt‥! Soeben ist das Licht eingeschaltet worden!“
Wir hielten kaum zwanzig Meter vor der Villa. Die geschlossenen Vorhänge der beiden sehr grell beleuchteten Fenster zeigten uns einen Schatten, der allmählich deutlicher wurde, sich teilte und die Silhouetten zweier Personen scharf auf dem einen Vorhang erscheinen ließ.
Es waren Harst und eine Frau im Hut und Mantel. Harst hielt die Frau unverkennbar an der Schulter fest und deutete mit der anderen Hand nach unten.
Diese Geste war so ausdrucksvoll, so anklagend fast, daß mich ein heißer Schreck durchzuckte.
Dann glitt die Frau mehr zur Seite, das Bild wurde undeutlicher, und auch Harst verschwand.
„Worch,“ flüsterte ich atemlos, „was halten Sie davon?!“
„Ich?!“ Worch besaß eine beneidenswerte Ruhe. „Ich fürchte, daß dort irgend etwas ganz Böses geschehen ist… Herrn Harsts Handbewegung… Ah, da kommt er ja… Sehr eilig hat er’s… Das sieht schlimm aus!“
Harald stand vor uns.
„Ich habe meinen ursprünglichen Plan ändern müssen,“ erklärte er eigentümlich geistesabwesend. „Ja – ändern müssen… – Hören Sie jetzt genau zu, lieber Worch. Sie tragen fernerhin eine große Verantwortung. Zunächst muß Bendler so sicher gefesselt werden, daß er Ihnen unterwegs nicht entschlüpfen kann. Schraut bleibt hier. Sie fahren Bendler nach dem Fehrbelliner Platz zurück, halten vor einem Telephonautomaten, rufen die nächste Polizeiwache an und melden, ohne Ihren Namen anzugeben, daß Bendler Anstalten zur Flucht aus der Wohnung seiner Mutter träfe. Dann bringen Sie Bendler bis vor das Haus, führen ihn gefesselt in den Flur und schließen ihn dort ein, nachdem Sie ihm erklärt haben, falls er etwas von seinem heutigen nächtlichen Abenteuer verriete, auch sein Doktorgrad genauestens nachgeprüft werden würde. Hierauf verschwinden Sie… Die Polizei wird sehr bald im Haus sein und Bendler finden. Daß er uns verrät, glaube ich nicht. Er hat von Juristerei und Staatswissenschaften keine blasse Ahnung. – Haben Sie alles begriffen?“
„Ja, Herr Harst. Nur noch eine Frage: Ist der Justizrat ermordet worden?“
Harald nickte. „Leider… Vor kaum einer halben Stunde: Kopfschuß! –
Ihr habt wohl unsere Silhouetten gesehen?!“
„Und wer war die Frau, Harald?“ flüsterte ich vollkommen verwirrt.
„Das – – bleibt mein Geheimnis… – Nun vorwärts, Worch‥! Und benehmen Sie sich klug, mein Lieber… Halten Sie auch die Augen offen! Wir spielen ein gewagtes Spiel… Den armen Justizrat haben die Kerle bereits erwischt. Wer weiß, wann die Reihe an uns ist!“
5. Kapitel
Wer war der Blonde?
Harald schritt schweigend vor mir her. Wir betraten die Villa, die Haustür war nur angelehnt. In der Vorhalle brannte eine matte gelbe Ampel, die einen hellen Kreis auf den dunkelroten Afghan zeichnete. Auch eine Tür linker Hand stand halb offen. Ich blickte in das helle Arbeitszimmer des alten Juristen hinein und konnte seine über den Schreibtisch gebeugte Gestalt sehen. Der Kopf ruhte auf der blutbefleckten Löschblattunterlage, und die Arme hingen schlaff, aber gekrümmt herab, da die Mittelschieblade halb herausgezogen war.
„Bitte!“ Harald stieß die Tür vollends auf.
Jetzt erst bemerkte ich an der Rückwand des Zimmers auf einem altmodischen Sofa zwei Menschen, die uns totenbleich entgegenstarrten. Der eine war der Regierungsrat von Ruvensen, dessen kaltes, in Hochmut und Dünkelhaftigkeit erstarrtes Gesicht sogar in der größten Volksmenge bei feierlichen Umzügen des Klubs ‚Germania 1924‛ unweigerlich unangenehm auffiel. –
Heute dagegen?! Dieser Vertreter der Zunft der ‚Ewig Gestrigen‛, der uns beiden im Klub stets mit herablassendstem Lächeln nur von weitem unmerklich zunickte, hatte ein blödes Grinsen um die dünnen Lippen und in den Augen einen Ausdruck unbeherrschter Angst. Seine Stirn glänzte von dicken Schweißperlen, – er hatte Grund dazu.
In der anderen Sofaecke saß der Goldkäfer, um den er sich so übereifrig bemüht hatte: Traude Markert, zwar sehr blaß, aber vollkommen ruhig. Ihre im Schoß ruhende rechte Hand hielt eine kleine Pistole. Sie bewachte Adolar von Ruvensen. Die Situation war eindeutig.
Ich trat noch drei Schritte vor, verbeugte mich, und hinter mir verschloß Harald die Zimmertür.
Ruvensen rief mit belegter Stimme: „Herr Harst, ich versichere nochmals auf mein Ehrenwort, daß ich lediglich deshalb Fräulein Markert insgeheim beobachtet habe und ihr heute bis hierher gefolgt bin, weil ich die junge Dame schützen wollte. Nächtliche Ausflüge sind nichts für…“
„… sind nichts, was Sie angeht,“ vollendeter Harald scharf. „Fräulein Markert sagte dies bereits vorhin. – Bitte stören Sie nicht!“
Mein Blick überflog nochmals das Zimmer, den Toten, die auf dem Teppich zerstreuten Papiere und Akten, ein paar zertrümmerte Bilderrahmen und die geöffneten Schränke und Schiebladen.
„In den anderen Erdgeschoßräumen sieht’s ähnlich aus,“ meinte Harst leise. „Der Oberstock ist unbewohnt, das Personal schläft im Seitenflügel. Hier sind mehrere an der Arbeit gewesen.“
Er zog mich in den Nebenraum, eine nur mit Bücherschränken gefüllte Bibliothek. Hier erklärte er lebhafter: „Beachte, daß auch hier die Bilder von den Wänden genommen und wahllos, scheinbar wahllos zertrümmert worden sind. Die Verschworenen hat nach den Vorgängen des Vormittags, insbesondere nach meiner kurzen Aussprache mit der Minna Perßke, eine wahre Panik ergriffen. Die führte zu diesem Mord und zu der Durchsuchung der Behältnisse.“
„Und was suchte man?“ Ich trocknete mir die Stirn. Es war hier unerträglich heiß. Die Villa hatte Ofenheizung, und besonders dieser Ofen hier glühte förmlich.
Harst öffnete die Ofentüren. In dem Feuerungsloch glühenden dicht gestopfte Papiermassen. Ein Dunst von Petroleum drang mir in die Nase. Die glühenden Papiere flammten infolge der Zugluft noch heller auf, und Harald schlug die Tür schnell wieder zu.
„Akten und Bilder,“ erklärte er kurz. „Dort ist die Tür zum Badezimmer, mein Alter. Mach dich nützlich und versuche die Flammen mit Wasser zu ersticken, obwohl ich weiß, was dort verbrannt worden ist. Aber die Polizei wünscht handgreiflichere Beweise, als meiner oft belächelten Schlußfolgerungen.“
Ich beeilte mich, ich war froh, daß ich zunächst noch eine Ablenkung hatte, und es gelang mir auch, in kurzem die Glut im Ofen zu ersticken. Allerdings schwamm dasselbe Zimmer hinterher vor Nässe, und der Petroleumgestank war noch bedrückender geworden. Man hatte mit seiner Hilfe die Papiere schnellstens und restlos vernichten wollen.
Etwas beschmutzt betrat ich wieder das Herrenzimmer. Harst telephonierte gerade, sprach mit dem Berliner Präsidium.
„Es tut mir leid, Herr Sterlett, daß gerade Sie Dienst haben. Kommen Sie bitte sofort heraus. Das Verbrechen weiß einige besondere Merkmale auf. Falls möglich, bringen Sie Oberscheibler mit, der ja damals die ersten Ermittlungen im Fall Bendler anstellte. – Wie bitte? – Das ist mir allerdings neu, daß Oberscheibler befördert und – nach Tilsit versetzt worden ist. Tilsit, – – etwas sehr weit ab von Berlin, na ja … und so… – Also – Wiedersehen.“
Er winkte ab. Ich stand neben ihm. Er blickte mich an, und seine Augen wanderten zur einem leeren Weinglas hin, das auf dem Schreibtisch neben dem Tintenfaß stand. In dem Glas befand sich nur noch ein Rest Rotwein. Die dazugehörige Flasche bemerkte ich auf dem Aktenregal.
Harsts Augen streiften auch diese Flasche, glitten zur Seite und am Fenster empor und wiesen mir so den Weg zu dem Spalt in den Vorhängen und zu dem Kugelloch in der Scheibe, das dicht am Fensterkreuz, dicht am Rand des Glases zu sehen war.
„Von der Veranda aus erschossen,“ flüsterte er. „Vorher aber betäubt‥: Der Rotwein!! – Es müssen sich in dieser Nacht die verschiedensten Leute hier eingefunden haben.“
Harst wandte sich an Traude. „Fräulein Markert, ich überraschte Sie und Ruvensen nebenan in der Bibliothek. Sie waren durch das Fenster eingedrungen, und Sie fanden Herrn von Ruvensen bereits vor.“
„Ja, so war’s…“
„Was tat er?“
„Er wühlte mit dem Schürhaken im Ofen…“
„Jedenfalls war er schon vor Ihnen in die Villa eingedrungen. – Herr von Ruvensen, möchten Sie Ihre Angaben nicht etwas korrigieren?!“
Der so direkt Angesprochene schwieg und starrte zu Boden.
„Und wem folgten Sie, Fräulein Markert?“ fragte Harst sehr höflich weiter. „Ich glaube es zu wissen … Sie brauchen nur zu nicken.“
Seine Augen hielten sie in Bann. Sie wurde sehr rot. Dann nickte sie energisch und meinte: „Die Wahrheit wird sich ja doch nicht verheimlichen lassen!“ Sie drehte langsam den Kopf. Ein feindseliger Zug erschien um ihren Mund.
„Herr von Ruvensen, Sie haben nicht geradezu gelogen. Sie folgten jemandem, dem auch ich folgte.“
Ruvensen atmete hastiger. Er schaute jetzt Traude an.
„Sie benehmen sich als einziges Kind Ihrer Eltern unbegreiflich!“ sagte er dann mit süßlichem Vorwurf.
„Mein Benehmen richtet sich nach meinen moralischen Anschauungen,“ wehrte sie kühl ab.
Ruvensen verlor die Gewalt über seine Nerven. Er, der ein Muster jener temperamentlosen Selbstbeherrschung war, die irrigerweise so oft für vornehm gehalten wird, rief noch heiserer:
„Mein Benehmen gleichfalls! Ich hätte Ihren Vater nie verraten!“
„Aber Sie beobachteten ihn seit Wochen!“ sagte Traude verächtlich.
„In seinem Interesse – nur das! Hätte ich nur schneller eingegriffen, dann wäre dieser Mord unterblieben!“
Traude beugte sich ruckartig vor und kniff die Augen klein. „Wollen Sie meinen Vater etwa beschuldigen?! Er ist niemals der Mörder. Ich sah den Täter doch noch. Es war ein schlanker Mann mit blondem Vollbart. Vater ist sehr korpulent und kaum mittelgroß. Was Vater hier gewollt haben sollte, wüßte ich nicht. Aber weshalb Sie ihm nachspionieren, ist unschwer zu erraten.“
Sie sprach leise, aber jedes Wort war ein Keulenhieb. „Sie wollten mich heiraten oder besser – mein Geld, Sie wollten Vater irgendwie in Ihre Gewalt bekommen und mich dann zwingen, Arthur Bendler aufzugeben. Ich habe Sie längst durchschaut. Die sogenannten Ehrbegriffe Ihrer Kreise kapitulieren vor Beträgen von einer halben Million aufwärts! Ich würde hier angesichts des Toten dort, der auch mir ein Freund gewesen, diese Dinge aus Ehrfurcht vor dem Tod nicht vorbringen, wenn der arme Justizrat mich nicht selbst vor Ihnen, Herr von Ruvensen, gewarnt hätte. Sie sind dreimal hier bei ihm gewesen und haben sich nach den Einzelheiten des Prozesses gegen die Garlandi-Bande erkundigt, bei dem Sauerbier die Verteidigung übernommen hatte.“
Schweigen trat ein… Ein qualvolles Schweigen.
Ich grübelte und grübelte… Ein schlanker Mann mit einem blonden Vollbart hatte Sauerbier erschossen? War’s etwa der Mann gewesen, den wir auf der Feuerleiter des Bendler’schen Hauses bemerkt hatten?!
6. Kapitel
Ein ‚gemeiner‛ Streich.
Die Mordkommission war eingetroffen. Kommissar Sterlett, ein hervorragender Beamter, der nie befördert wurde, weil er jedem zu offen seine Meinung sagte, den man aber andererseits nicht entbehren oder hinausekeln konnte, nahm uns beide in die Vorhalle.
„Herr Harst, was wissen Sie? Weshalb kamen Sie hierher? Bitte – keine Ausflüchte oder Verdrehungen. Wir kennen uns und schätzen uns gegenseitig. Ich kann schweigen, wenn es sein muß.“
„Es muß sein, Sterlett, oder – – auch Sie werden nach Tilsit versetzt!“
Der Kommissar blickte Harst forschend an. „Ah, verstehe… – Also los!“
Mein Freund teilte dem Beamten, einem schlanken, frischen Mann von sehr sympathischem Äußeren, alles mit. Er verschwieg nichts.
„… Ich war nachmittags hier bei Sauerbier. Wir vereinbarten, daß ich Bendler hierher bringen sollte, wir wollten ihm ein Geständnis abpressen.“
„Wie?“
„Das möchte ich doch besser für mich behalten… Jedenfalls: Er hätte gestanden!“
Sterlett schüttelte den Kopf. „Harst, das begreife ich nicht, wozu derartige Zwangsmittel?! Jetzt ist Bendler doch vollkommen überführt!“
„Es fehlt noch einiges an dem ‚vollkommen‛, glauben Sie mir!“
„Es fehlt nichts! Ich erzähle nachher – aber weiter!“
„… Als die Gestalt an unserer Limousine vorüberhuschte, und ich die Verfolgung aufgeben mußte und die beiden Fenster hell worden, eilte ich in die Villa, die Tür stand offen, und in der Bibliothek fand ich Fräulein Markert und Adolar von Ruvensen…“
„Wer hatte das Licht eingeschaltet?“
„Traude Markert. Sie hat bereits zugegeben, daß sie ihrem Vater heimlich gefolgt war, und Ruvensen war ihm gleichfalls nachgeschlichen…“
„Eine ganz verrückte Geschichte!“ murmelte Sterlett ärgerlich.
„Keineswegs,“ meinte Harald ernst. „Alles greift sehr logisch ineinander. Markert dürfte ein Interesse an der Vernichtung der Handakten Sauerbiers über den Garlandi-Prozeß, der über fünf Jahre zurückliegt, gehabt haben. Er kam heute nacht zu Sauerbier, sie unterhielten sich, Markert tat in Sauerbiers Rotweinglas eine Schlaftablette oder dergleichen. Der Justizrat wurde betäubt, Markert verbrannte die Akten im Ofen nachdem er sie vorher mit Petroleum übergossener hatte. Dann hörte er den dumpfen Knall des Schusses, sah, was geschehen, entfloh. Und die andern drangen ein und vernichteten die Bilder an den Wänden…“
„Wozu? Suchten sie einen Wandtresor?“
„Nein. Diese anderen sind die Überbleibsel der Garlandi-Bande. Sie durchwühlten auch die Schiebladen und Schränke und entfernten sich dann. Sowohl Traude als auch Ruvensen müssen die Kerle gesehen haben. Vielleicht war es auch nur der blondbärtige Mörder. Traude Markert gestand bereits ein, ihn beobachtet zu haben.“
„Blondbärtig?“ fragte Sterlett schnell und faßte in die Tasche. „Bitte, hier ist der Bart!!“
Ich war unfähig, irgendwie auch nur Überraschung zu zeigen, ich war vollständig benommen, denn Harald hatte sofort hinzugefügt:
„Fräulein Gerda Bendlers Maskerade also! Ich habe es befürchtet, daß man sie abfassen würde, als sie heimkehrte.“
Sterlett lachte bitter. „Weiß Gott, Harst, Ihnen mit einer schier unglaublichen Neuigkeit je zu imponieren, ist unmöglich. Und ich hatte mich so sehr darauf gefreut. – Das Mädel ist keine Spur gelähmt, und als die Beamten, die durch ihren Chauffeur Worch zu Bendlers geschickt waren, Bendler im Bett vorfanden und nur zwei zur Bewachung des Hauses zurückblieben, da faßten sie eben Gerda Bendler ab, – was mir sofort gemeldet wurde. Und dies ist der Bart, den sie außer der Männerkleidung trug. Sollte sie wirklich den Justizrat erschossen haben?!“
Harst schüttelte energisch den Kopf. „Keine Rede!! Haben Sie sie gesehen?“
„Ja. Ich war wenige Minuten bei Bendlers. Die Frau Professor war noch vollkommen zerstört, Bendler selbst schwieg hartnäckig, und seine Schwester wandte dieselbe Taktik an. Sie ist sehr schön und sanft und sie tröstete ihre Mutter in äußerst herzlicher Art und erklärte nur, es sei noch nicht an der Zeit, die Wahrheit zu enthüllen. – Sie hat mir sehr gefallen.“
„Mir auch, obwohl ich sie nur durch das Schlüsselloch sah. Ich – – sah zuviel. Sie bewegte nämlich die Füße, Sterlett, und da wußte ich: Die Lähmung wurde nur vorgetäuscht. Im übrigen hat sie ganz recht: Es ist noch nicht an der Zeit, die Wahrheit zu enthüllen, deshalb werden sie auch Bendler auf keinen Fall verhaften, sonst setzen Sie noch ein Menschenleben aufs Spiel! Das ist mein voller Ernst, Sterlett. – Ich riet Ihnen vorhin am Telephon, gewisse Leute zu verhaften, darunter auch die Minna Perßke…“
„Die Betreffende werden verhaftet werden, doch jetzt will ich Fräulein Markert und Ruvensen ins Gebet nehmen. Vielleicht trifft Ihre Konstruktion der Vorgänge hier doch nicht ganz das Richtige.“
„Ich glaube doch,“ meinte Harst sehr siegesgewiß.
Und er behielt recht. –
Am nächsten Mittag – wir hatten uns gerade von Tisch erhoben, meldete uns Sonnenscheinchen den äußerst rührigen und leider viel zu draufgängerischen Erwin Sterlett. Wir hatten uns schon gewundert, daß der Kommissar uns nicht um Elf wie vereinbart angerufen hatte, um uns das Ergebnis der Verhaftung Karl Markerts mitzuteilen.
„Nun, Herr Kommissar, wie schaut’s,“ begrüßte Harald den unangenehm mürrisch dreinschauenden netten Beamten.
Sterlett blieb an der Tür stehen.
„Bitte – Kriminalinspektor!“ sagte er dumpf. „Verflucht, Ihre Ahnungen trügen nie, bester Harst. Kriminalinspektor unter sofortiger Enthebung von meinem bisherigen Posten unter Versetzung nach Pillkallen zur Zollfahndungs-Grenzstelle.“
Sterlett setzte sich und fügte hinzu: „Ich habe meinen Abschied eingereicht, und in das Gesuch habe ich hineingeschrieben – wörtlich: ‚Ich kann zur Zeit den an mich gestellten Anforderungen nicht genügen.‛ – Ich hoffe, man wird das verstanden haben.“
„Natürlich steckt Markert dahinter,“ meinte Harald mit aller Selbstverständlichkeit.
„Ja, Markert steckt in einem Sanatorium!“ Und der Inspektor biß seiner Zigarre grimmig die Spitze ab…
„Und Ruvensen?“ fragte Harald. „Ist Herr von Ruvensen auch plötzlich unpäßlich geworden?“
„Weiß ich nicht. Ist mir auch gleichgültig. Genau so gleichgültig ist mir, ob man die Verbündeten Bendlers fängt. Bisher hat man sie nicht erwischt. Ärgern tut mich nur eins: Daß ich Fräulein Gerda Bendlers Person nicht unterschlagen konnte und daß jetzt vielleicht ein Haftbefehl die Quittung für des Mädels Verkleidungskünste und vorgetäuschte Krankheit sein wird. Ich habe alles getan, was ich irgend konnte, um den durch das Zeugenprotokoll gegen sie aufgetauchten unsinnigen Mordverdacht abzuschwächen. – Ich bin überhaupt noch nicht ins Bett gekommen, nur rasiert habe ich mich und ein Bad genommen…“
Er streichelte ärgerlich sein Kinn, er hatte sich in einen Groll hineingeredet, von dem man noch nicht recht wußte, wem er galt… Aber er sah frisch und rosig aus, und weshalb er jetzt Harst so gereizt anstarrte, war zunächst nicht recht klar.
„Sie natürlich haben auf Ihren Lorbeeren ausgeruht und gründlichst ausgeschlafen!! Nur ich habe mir den Kopf zergrübelt, wie man dem armen Mädel helfen könnte! Entsetzliche Lage für das hübsche Kind, ebenso für die wirklich schlicht-vornehme Mutter! – Donnerwetter, und dazu lachen Sie, Harst! Haben Sie denn einen Stein in der Brust, der…“
„Pardon, – ich lächelte nur… Und im Bett bin ich auch nicht gewesen, wie Sonnenscheinchen bezeugen kann, die mich vor anderthalb Stunden heimkommen sah und mich mit Vorwürfen überhäufte… Und was gar die entsetzliche Lage Fräulein Gerdas anbetrifft, lieber Sterlett, – halten Sie mich für so kaltschnäuzig, daß ich das … hübsche Kind seinem Schicksal überlasse?!“
Sterlett hätte mich nur anzusehen brauchen, dann hätte er gewußt, daß ich über Harsts morgendliche Tätigkeit genau so wenig unterrichtet war wie der Inspektor selbst, der nun atemlos fragte: „Was haben Sie denn unternommen?!“
„Ich habe einen ganz gemeinen Streich begangen,“ erwiderte Harald schmunzelnd. „Zuerst habe ich Schraut ins Bett geschickt, und dann wartete ich zehn Minuten und verließ unser Heim von neuem. Es war gerade halb sechs. Ich fuhr mit Peter Worch am Steuer, den ich telephonisch mit der Limousine hier in die Nähe beordert hatte, zum Fehrbelliner Platz, wo mich Gerda bereits in der Nähe der Moschee erwartete…“
„Was?! Wie?! Erwartete?!“
Es kommt nicht oft vor, daß ein trotz seiner erst dreißig Jahre so gewiegte Kriminalist vor Staunen den Mund aufsperrt. Hier war es der Fall.
„Wie?“ meinte Harald gemütlich. „Sehr einfach. Ich hatte Bendlers angerufen, nachdem Worch von mir instruiert war. Gerda meldete sich. Ich sagte ihr: ‚Süßes Kind, ich habe bei Krauses unten einen Brief abgegeben, hole ihn recht bald ab, hier ist dein Schatz Haha – H.H.‛ –
Sie verstand sofort…“
„Eine Frechheit!“ rief Sterlett. „Süßes Kind … und Schatz?! Unerhört! Einer jungen Dame gegenüber!!“
In Harsts Augen glitzerte der Schalk. „Das war doch nur für das Telephonfräulein bestimmt, Sterlett! Die Leitung wir doch sicherlich überwach. Jedenfalls sagte ich weiter: ‚Also recht recht bald… Gute Nacht, mein Liebling. Ich habe es eilig: Dienst an der Moschee vor dem Krematorium!‛ –
Und sie entgegnete:
‚Gut, sehr bald, mein Einziger… Gute Nacht!‛ –
Sodann schlich ich über fünf Dächer bis zum Bendler’schen Haus, drang dort vom Dach ein, weckte den Pförtner Krause und seinen Enkel, einen pfiffigen Burschen, kehrte um und überließ es Emil Krause, Gerda über die Dächer zu geleiten, was ich für sicherer hielt…“
„Warum?!“ platzte Sterlett heraus.
„Ja – – warum wohl?!“ Harst wurde sehr ernst. „Weil oben dort auf den Dächern hinter einem Schornstein ein Fassadenkletterer gehockt hatte, der mir nicht ganz geheuer vorkam, und weil ich dem Herrn erst meine Visitenkarte überreichen wollte, bevor Gerda erschien. Das bei dieser Überreichung meine Hand etwas derb vorschnellte, bedauerte ich hinterher keineswegs, denn der Dachspion war… – Na raten Sie mal, Sterlett!“
„Unsinn – raten! Also wer war’s?!“
„Herr Karl Markert‥!!“
Der so jäh beförderte Inspektor schnellte noch jäher hoch. „Markert?! Unmöglich! Der fette, faule Markert mit dem süßlichen, von Wohlwollen überfließenden Grinsen?! – Herr Gott, nun verstehe ich auch, weshalb er so eilig in einem Sanatorium sich für den schützenden § 51 vorbereiten wollte!! Hatte er eine Waffe bei sich?“
„Nein…. Nur ein Fernglas… Ich konnte mich leider nicht mit ihm unterhalten, da er augenblicklich etwas … geistesabwesend war und nicht einmal merkte, daß ich ihn durch eine Bodenluke irgendwohin hinabbeförderte… – Wie gesagt, es war ein gemeiner Streich!“
„Und wo befindet sich Fräulein Gerda jetzt?“
„Bei Ihnen!“
Erwin Sterlett zwinkerte mit den Augen… „Habe begriffen!! Glänzende Idee!! Nur etwas kühl wird es dort anfangs gewesen sein. Fanden Sie die Briketts? Wollen wir nicht hinausfahren und…“
„Fahren Sie, Sie verliebter Stint!! Wir haben wirklich Besseres zu tun, als dort in Ihrem Sommerhäuschen zu spielen!“
Erwin Sterlett verabschiedete sich ebenso hastig wie verlegen.
7. Kapitel
Das große Geheimnis.
Und dann, es war genau halb Zwei, erschien ein Bote mit einem äußerlich sehr feinen Schreiben des Herrn Klubpräsidenten Exzellenz von Ruvensen, an uns beide gerichtet, – gegen Empfangsbescheinigung auszuhändigen.
Exzellenz beliebte folgendes mitzuteilen:
In Anbetracht der außerordentlich zu bedauerndem Tatsache, daß Ihre Stellungnahme, meine Herren, (das waren wir!!) gegenüber dem nun bereits überführten Versicherungschwindler Dr. Arthur Bendler höchst zweideutig erscheint, hat der Vorstand beschlossen, die für den 22. d. M. angesetzte Generalversammlung bereits auf morgen acht Uhr abends vorzuverlegen und Punkt 2 der Tagesordnung dahin zu ergänzen: Das ehrengerichtliche Verfahren wird auch auf die Klubkameraden Harald Harst und Mark Schraut ausgedehnt. Beide sowie Dr. Arthur Bendler gelten von sofort als Mitglieder für suspendiert. Sollten die Herren Harst und Schraut nicht erscheinen, gilt dies als Eingeständnis ihres ehrenwidrigen Eintretens für Dr. Bendler, und es erfolgt endgültiger Ausschluß aus dem Klub.
Indem ich Ihnen, meine Herren, dies hiermit zur Kenntnis bringe, zeichne ich
Odoaker von Ruvensen
Exzellenz, Ritter höchster Ordnung
– Harst grinste verstohlen und gab dem Boten folgende Antwort mit:
Herrn Odoaker von Ruvensen, Präsident des Klubs ‚Germania 1924‛. – Sehr geehrter Herr! Auf Ihr heutiges Schreiben erklären wir, daß wir bestimmt erscheinen und auch veranlassen werden, das Dr. Arthur Bendler sich einfinden kann. Wir betonen, daß wir nicht den geringsten Wert mehr darauf legen, Mitglied Ihrer Fürsorgeanstalt über sogenannte verschämte arme Patrioten zu bleiben. Sie selbst sitzen in acht Aufsichtsratsstellen, darunter der ‚Montana-GmbH‛, Ihre Tochter bezieht als Sekretärin des Klubs bei fünfstündiger Arbeitszeit dreihundert Mark monatlich, das letzte Fest des Klubs im Marmorsaal des Zoologischen Gartens mit seiner verschwenderischen Tombola war lediglich auch Geltungsbedürfnis des Vorstandes zugeschnitten (vergleiche die Photographien des Vorstandstisches für die Presse) – kurz, der Klub ist in ein Fahrwasser geraten, in dem wir nicht weiter mitschwimmen. – Wir beantragen hiermit folgendes: 1.) Ausschluß der Mitglieder: Karl Markert, Generaldirektor der ‚Montana‛, und Regierungsrat Adolar von Ruvensen, wegen ehrenrührigen Verhaltens. 2.) Strengste Durchführung einer genau zu kontrollierenden Wohltätigkeit im Sinne der Klubstatuten 3.) Erlaß eines Verbotes für Mitglieder, die nebenher und Pensionen beziehen, Aufsichtsratsposten zu übernehmen 4.) Im Anschluß an meine zweifelsfreie Beweisführung vor der Generalversammlung über die volle Schuldlosigkeit Dr. Arthur Bendlers eine öffentliche Ehrenerklärung in der Presse für Dr. Bendler. – Sollte diesen Anträgen nicht stattgegeben werden, dürfte der Klub auffliegen. – Indem wir Ihnen, Herr von Ruvensen, dies hiermit zur Kenntnis bringen, zeichnen wir… Unterschriften…
Als ich diese Antwort las, bevor ich sie unterschrieb, fragte ich mit allem Nachdruck (der Bote wartete im Flur): „Harald, du kannst wirklich die Beweise für Bendlers Unschuld bis morgen abend beibringen?!“
Er ging auf und ab, rauchte und erwiderte, indem er die Stimme dämpfte: „Ja. Ich könnte es jetzt schon. Es fehlt mir nur noch der Hauptzeuge. – Mein Alter, du hast wohl schon gemerkt, daß bei diesem Problem des Mannes mit den verbundenen Augen ein großes Geheimnis mitspielt. Gerda Bendler, der arme Justizrat Sauerbier, noch einige Leute und ich kenne oder kannten dieses Geheimnis, in dessen Mittelpunkt die bewußte Photographie steht, die von Minna Perßke zerkaut wurde. – Es gab noch mehrere ähnliche Bilder, sie sind verbrannt worden. Dr. Arthur Bendler wird sich dagegen sträuben, daß ich ihn öffentlich reinwaschen, aber – – es muß sein. Nichts ist mir verhaßter als eine Clique von aufgeblasenen Neureichen und ewig Gestrigen, die alle … Dreck am Stecken haben! In solchen Fällen kenne ich kein Erbarmen. Diese Sorte von Kreaturen, nach außen hin stets wohlwollende Menschenbeglücker, sind Leichenfledderer, Hyänen des Schlachtfeldes der entsetzliche Not unseres Volkes. Sie anzuprangern, ihnen die Biedermannslarven von dem schamlos selbstsüchtigen Fratzen zu reißen ist Pflicht.“
Er sprach auch das ohne jeden Haß in der Stimme. Er brachte nur jener eisige Verachtung zum Ausdruck, die all denen gebührt, die ihre schrankenlose Selbstsucht entweder hinter den hirnumnebelnden Phrasen eines Asphaltsliteratentums oder, was noch verwerflicher, hinter dem Lockruf von Hurra-Kameradschaft verbergen.
Aber all dies ließ mich im Augenblick kalt. Für mich existierte nur der Kriminalfall des Mannes mit den verbundenen Augen. Daß dabei der Bandenführer Fritz Garlandi und der betagte Justizrat ums Leben gekommen waren, trat völlig hinter dem ‚großen Geheimnis‛ zurück, wie Harst es benannt hatte, und mein Freund meidet klingende Ausdrücke. Wenn er betonte, es spräche bei alledem ein schier unlösbares Rätsel mit – und nur so war das ‚große Geheimnis‛ aufzufassen, dann ließ sich daran nicht mehr deuteln.
Ich unterschrieb den Brief, Harald übergab das versiegelte Schreiben dem Boten, und dann setzte er seinen rastlosen Spaziergang durch unser Büro wieder fort.
Er sprach weiter – ohne meine Aufforderung:
„Der Ausgangspunkt des Falles ‚Bendler‛ ist jene Autofahrt Dr. Bendlers von Potsdam nach Berlin im Schneegestöber. Es folgte der Zusammenstoß mit dem Motorradler Garlandi, dann erschien das zweite Auto mit Exzellenz Ruvensen, dem Polizeioberst Alsenkapp und dem jetzigen Kommissar Oberscheibler an der Unfallstelle. – Hiermit begann das Drama, das einzelne Züge erschütternder Kindesliebe aufweist.“
Ich horchte gespannt auf jedes Wort, warf nun schnell ein: „Bendler brauchte Geld für seine kranke Schwester, für die abgehetzte Mutter, deshalb hat er…“
„Stopp, du verlierst dich schon wieder in diesem Irrgarten, mein Alter. Ich habe durch die Befragung des Pförtners Krause festgestellt, daß Gerda Bendler bereits so gut wie genesen war, als ihr Bruder mit den schwer beschädigten Augen in die Klinik geschafft wurde, wo sie ihn zusammen mit ihrer Mutter mehrmals besucht hat. Die Lähmung täuschte sie erst vor, als Bendler aus der Klinik nach Hause entlassen war, und zu derselben Zeit etwa kam auch die Fürstin Emanuela Provetti alias Minna Perßke als billige Aufwärterin zu Bendlers. Auf diesem Zeitpunkt der vorgespiegelten Lähmung wollte ich dich ganz besonders aufmerksam machen für später.“
Ich nickte nur. Worauf diese Sätze abzielten, wußte ich nicht. Aber mir war etwas anderes eingefallen.
„Harald, wird Frau Bendler sich nicht sehr über das Verschwinden Gerdas ängstigen?“ fragte ich mit einiger Berechtigung.
„Nein, der alte Krause hat ihr ein Brieflein von mir zugestellt. Nun hat die Frau Professor bereits zwei Zettel von mir erhalten, den einen, als wir Bendler holten und leider wieder durch Worch zurückbringen lassen mußten, den zweiten heute früh. Hoffentlich entflieht Gerda nicht. Sie brächte es fertig. Daher ist es mir sehr lieb, daß Erwin Sterlett hinausgefahren ist… Sein Sommerhäuschen liegt an der Südecke des Kleinen Wannsees, und…“
Rr … rrr … rrr‥: Telephon!!!
Harald hob den Hörer ab.
Unser Apparat spricht sehr laut an.
„Hier ist Worch… Ja… Worch, zum Glück noch leidlich lebendig… Kommen Sie sofort nach Wannsee in das Bahnhofsrestaurant, Herr Harst… Aber Vorsicht! Sie werden bestimmt beobachtet, oder die Kerle planen noch Ärgeres. Mehr kann ich Ihnen am Apparat nicht sagen.“
8. Kapitel
Eine zweite Prüfung.
Eine Taxe brachte uns an diesem überraschend warmen Märztag zunächst bis zum Fehrbelliner Platz. Der Motorradler, der sich an unsere Fersen geheftet hatte und der hinter sich auf dem Soziussitz noch einen genau so vermummten Kollegen mit sich führte – es mochten dieselben Helden sein, denen die Teppichnägel den Spaß schon einmal verdorben hatten! –, mußte dicht vor dem Westeingang der U-Bahnstation einer zweiten, ihm entgegenkommenden Taxe, die plötzlich ins Schleudern geriet, so eiligst ausweichen, daß die Maschine auf den Bürgersteig geriet. Wir sahen noch, wie drei Zivilisten zusprangen, wie ein Polizeiauto das Motorrad samt Besitzer und Soziussitzer nach Nummer Sicher brachte.
Harst meinte zu diesem erhebenden Schauspiel:
„Zwei der Bande säßen nun fest!! Was alles doch ein paar telephonische Instruktionen erreichen!! Die Revierwache hat sehr prompt gearbeitet.“
Er steckte sein Taschentuch wieder ein, daß er zum Fenster heraus hatte flattern lassen, und fügte hinzu: „Natürlich wird man auch uns nun polizeilicherseits beschatten, aber das macht nichts aus. Der Hauptmann der Revierwache heißt Siebert und ist schon dreimal strafversetzt, weil er ‚oben‛ Anstoß erregt. Mit dem werden wir schon einig.“
Unsere Taxe gondelte gen Wannsee. Zunächst merkten wir nichts von Beschattung, aber als wir die freie Chaussee erreicht hatten, sahen wir einen kleinen Lieferwagen hinter uns und wußten Bescheid.
Worch saß mit bepflastertem Kopf im Bahnhofsrestaurant und etwas sehr blaß um die Mundpartie.
„Herr Harst,“ begann er flüsternd, „– eine nette Bescherung: Ich habe einen Kerl erschossen – und Fräulein Gerda ist mir ausgedrückt. – Die Sache spielte sich folgendermaßen ab. Es war noch dunkel, als ich in der Nähe des Ufergrundstückes den Wagen im Wald stehen ließ und mit dem jungen Mädchen die letzte Strecke zu Fuß zurücklegte. Als ich der Schloß des Häuschens mit einem Dietrich öffnen wollte, flog die Tür auf und jemand schlug mir mit einem Sandsack über das Haupt. Zum Glück gleich mein Schädeldach einer Granitbüste, was die Härte betrifft. Ich taumelte nur zurück, riß die Waffe heraus und feuerte auf den Burschen, der abermals auf mich eindrang. Er knickte zusammen, doch plötzlich sprangen aus der Tür noch mehr Gestalten hervor. Ich hörte Fräulein Gerda aufschreien, erhielt noch einen Hieb, rollte dann die Uferböschung hinab und wurde ohnmächtig. Als ich erwachte, war es heller Tag. Mühsam erreichte ich die Limousine, fuhr zu einem Arzt, ließ mich verbinden und rief Sie telephonisch an.“
„Und Sie haben das Sommerhäuschen nicht durchsucht, Sie armer Kerl?“
„Nein, ich war schlapp wie eine Fliege im Winter … und froh, daß ich die Kraft fand, den Wagen zu steuern… Ich bitte Sie: zwei Hiebe über den Schädel!! Der Doktor meinte, ich besäße eine beneidenswerte Hirnschale und… – Herr Gott, das ist doch Hauptmann Siebert vom Fehrbelliner Revier in Zivil!! Nun wird’s oberfaul!!“
Siebert, ein großer, schlanker blonder Mann mit scharfen Zügen und eigentümlich übermütigen Augen, hatte noch zwei Zivilisten bei sich.
Harst machte die Sache sehr kurz ab. „Kommen Sie mit, Herr Hauptmann… Fragen Sie nicht. Ich glaube, Sie werden übergenug zu sehen bekommen und nachher noch übergenug Fragen stellen.“
Sterletts Sommerhäuschen war ein ganz schlichter doppelwandiger Holzbau mit Veranda, zwei Stübchen und Küche. Sterlett als Angler hatte für sein Sommerheim ein ganz abgelegenes Plätzchen gewählt. Wir fanden die Tür nur eingeklinkt, im ersten Raum lag ein Mann mit blondem Vollbart auf den bloßen Dielen: Stirnschuß – tot! –
Harald bückte sich, entfernte Bart und Perücke und sagte leise:
„Herr Hauptmann, dies ist Justizrat Sauerbiers Mörderin, die bekannte Hochstaplerin Minna Perßke alias Fürstin Emanuela Provetti, eine frühere Choristin, ein Hauptmitglied der Garlandi-Bande. Worch erschoß sie in Notwehr, als er hier für mich einige Feststellungen treffen sollte. – Sehen wir uns die übrigen Räume an…“
Diese Besichtigung bewies, daß hier insgeheim seit Wochen mehrere Leute gehaust hatten.
Harst hatte es nun sehr eilig, wieder nach Hause zu kommen. Bevor wir uns von Siebert verabschiedeten, raunte er Worch noch zu:
„Keine Silbe von Gerda!!“
Harald und ich beide schritten dem Bahnhof Wannsee wieder zu. Als wir in den Hochwald einbogen, löste sich hinter einer dicken Kiefer Freund Sterlett hervor. „Tag, – Friede Ihrer Asche,“ sagte er kurz. „Ich habe das Häuschen besichtigt, und ich glaube nun das Geheimnis des Mannes mit den verbundenen Augen zu kennen.“
„So?! Glauben Sie?! Ich habe für Sie eine Mission, mein Lieber, die sehr viel Takt erfordert. Hören Sie zu…“
Als der Inspektor vernahm, wen er besuchen sollte, war er Feuer und Flamme für seinen Auftrag.
– Frau Professor Bendler saß im Eßzimmer am Fenster und starrte trübe und in ernste Gedanken versunken über den weiten Fehrbelliner Platz, der bereits in den rötlichen Glanz der sinkenden Sonne getaucht war. Vormittags waren zweimal Kriminalbeamte erschienen und hatten nach Gerda gefragt. Frau Bendler hatte sich nicht anders zu helfen gewußt und schließlich Harsts Zettel vorgezeigt: „Er hat sie mitgenommen, ich weiß nicht, wo mein Kind sich befindet…“ –
Worauf der eine Beamte drohend erklärt hatte, das Haus würde nun noch schärfer bewacht werden…
Jetzt läutete es abermals Frau Bendler zuckte angstvoll zusammen und ging öffnen. „Kriminalinspektor Sterlett,“ stellte sich der überaus liebenswürdige Herr hier vor. „Erschrecken Sie nicht, gnädige Frau, ich komme nur als Privatmann im Auftrag Herrn Harsts.“
Frau Bendler atmete erleichtert auf. „Bitte treten Sie näher, Herr Inspektor. Ich bin bereits halb krank vor Aufregung…“
„Aber dazu liegt doch gar kein Grund vor, gnädige Frau.“ –
Sie nahmen im Wohnzimmer Platz. „Wir wissen genau, daß Fräulein Gerda wieder daheim ist… – Weshalb die Tränen und die Verlegenheit, liebe gnädige Frau?! Wir stehen doch vollkommen auf Ihrer Seite.“
„Das … hilft mir sehr wenig,“ schluchzte die Frau Professor.
„Oh, – warten Sie doch ab… Zunächst möchte ich Ihren Sohn sprechen, in Ihrer Gegenwart, ganz zwanglos. Ich soll nur ein paar juristische Fragen an ihn richten, nichts weiter. Ich will auch ganz ehrlich sein, mir ist schleierhaft, aus welchem Grund ich das tun soll, ebenso dem netten, dicken Schraut, dem Freund Harsts. Vielleicht holen Sie ihn, – ganz zwanglos, betone ich nochmals, liebe gnädige Frau.“
Die Professorin war etwas blaß geworden.
„Gut, – – ich hole ihn,“ flüsterte sie scheu.
Sterlett hielt sich genauestens an die Instruktionen. Um die Begegnung mit Bendler wirklich ganz zwanglos zu gestalten, setzte er sich halb auf ein Schränkchen, horchte jedoch auf jedes Geräusch in der Wohnung. So hörte er denn, daß im Flur eine Trittleiter aufgeklappt wurde und daß jemand offenbar von Hängeboden vorsichtig herabkletterte.
Dann führte Frau Bendler ihren Sohn herein, Sterlett begrüßte ihn durch Handschlag und fragte sofort: „Herr Doktor, nur zwei Kleinigkeiten… Wie übersetzen Sie den altrömischen Rechtssatz ‚Volenti non fit injuria‛? Bitte…“
Arthur Bendler stutzte. „Was soll das, Herr Inspektor? Herr Harst ist doch selbst Jurist gewesen. Aber meinetwegen: ‚Dem Wollenden geschieht kein Unrecht,‛ oder: ‚Wer einen Schaden duldet, kann keinen Ersatz des Schadens beanspruchen’.“
„Danke. Dann: Welcher Unterschied besteht zwischen Einwilligung und Genehmigung?“
Bendler wurde jetzt ärgerlich. „Nach dem bürgerlichen Gesetz ist Einwilligung die vorherige, Genehmigung die nachträgliche Zustimmung zu einem Rechtsgeschäft. Das steht etwa in den § 180 und folgende, genau weiß ich das nicht, und nachlesen kann ich’s nicht. Ich bin fast blind,“ versicherte er nachdrücklichst. –
Aber sein Geheimnis war längst enthüllt, obwohl auch Sterlett nicht einmal die Hälfte davon kannte. Er verabschiedete sich nun schleunigst und bat nur, nachher wiederkommen zu dürfen, um mit Fräulein Gerda ein wenig zu plaudern…
9. Kapitel
Jemand stürzt ab…
„Also um elf Uhr, Sie verliebter Stint‥!“ sagte Harald zu Erwin Sterlett. „Und wehe Ihnen, wenn Sie nicht pünktlich sind, und etwa bei Gerda sich festplaudern! Im übrigen: § 180 und folgende liefern den ausschlaggebenden Beweis!“ –
– Elf Uhr dreißig Minuten… Es regnet sacht… Die Dächer am Fehrbelliner Platz schimmert wie poliert vor Nässe im Vollmondlicht.
Langsam hebt sich die Dachluke des Bendler’schen Hauses, eine Gestalt mit Schlapphut und Rucksack gleitet ins Innere, hinter ihr ertönt ein leiser Zuruf: „Du hast es wahrlich nicht verdient!! Auf Nimmerwiedersehen!!“ Die Stimme klingt hart, die Luke schließt sich, die Gestalt huscht davon. Ihre Bewegungen sind flink und sicher, wie eine Katze klettert sie auf das nächste Dach, – es ist derselbe Weg, den heute früh Gerda Bendler zurückgelegt.
Es ist ein Mann, der da entlangschleicht, der unbedingt die Freiheit gewinnen will, der im Ausland Schutz suchen möchte… Soeben schreitet er den nassen Plankenpfad eines spitzen Ziegeldaches dahin… Er hofft… Seine verbrecherischen Instinkte frohlocken… Schon in der Schule war er ein Tunichtgut, stahl, kam in Fürsorgeerziehung, verschwand, tauchte scheinbar gebessert nach Jahren wieder auf, spielte eine Doppelrolle, war Mitglied der Garlandi-Bande, entwischte…
Jetzt triumphiert er. Für ihn gibt es keinerlei Ideale mehr. Volk, Vaterland, Familie, Treue, Dankbarkeit, Gottesfurcht: für ihn nur Pfaffengeschwätz! Er kennt nur einen Götzen: Geld, Genuß, sich Ausleben im Nichtstun!!
Urplötzlich blitzt da vor ihm eine grelle Lichtflut auf … umspielt ihn … sein bärtiges Gesicht mit der großen Brille…
„Halt – – Kriminalpolizei!!“
Er taumelt zurück, gleitet auf den schlüpfrigen Planken aus, rutscht das Ziegeldach abwärts, verschwindet in dem finsteren Schlund des Hofraumes, auf dem alte Autos abgewrackt werden…
Ein dumpfer Krach, – ein kurzer Schrei, – – und Stille.
In der Ferne bimmelt eine Straßenbahn…
Sterbeglöcklein…
Armsündergeläut…
In dem Hof regt es sich nach Minuten. Drei Gestalten huschen hin und her, bis sie in der Finsternis das Auto gefunden haben, dessen Dach der schwere Körper glatt durchschlagen hat. Eine Taschenlampe beleuchtet das bis zur Unkenntlichkeit zerkratzte und entstellte Gesicht des Toten.
Harst flüstert: „Nur den Rucksack und die Papiere nehme ich mit mir… – Schweigen Sie, Sterlett! Ich – – – kenne den Mann nicht… Und morgen abend finden Sie sich in den Klubräumen ein und bringen Fräulein Gerda und Traude Markert mit…“
Die Gestalten verschwinden…
Wieder Stille…
Einsam liegt der Tote da…
Nur in der Ferne bimmelt eine Straßenbahn…
10. Kapitel
Eine denkwürdige Klubsitzungen.
Exzellenz tragen Frack … viele Orden. Die klimpern, als Exzellenz sich vorbeugt und die lange Tafel entlangschaut.
„Es ist zwar ganz ungewöhnlich, Herr Harst,“ näselt Exzellenz sehr nervös. „Aber weil Sie es sind – – bitte.“
Mein Freund holt Sterlett und die beiden jungen Mädchen in den pompösen Saal.
Er geht nochmals hinaus und kehrt mit dem Mann mit den verbundenen Augen zurück, den er freundschaftlich untergefaßt hat und zu einem Sessel führt.
„Nehmen Sie das letzte Mal hier Platz,“ sagt er unmißverständlich laut.
Exzellenz hüstelt… Die Orden klimpern… Exzellenz suchen Haltung zu bewahren. Aber Karl Markerts bleiches Gesicht nehmen Exzellenz allen Mut. Viel war es eh nicht. –
„Ich erteile also Herrn Harst das Wort…“ – – und Harald erhebt sich. Siebzig Augenpaare hängen an ihm… Das sind über die Hälfte der Mitglieder, die den bisherigen Kurs nur aus Feigheit duldeten – aus jener Feigheit, die vor einem Titel und einem hochmütig versteinerten Gesicht katzbuckelt.
„Hochansehnliche Trauerversammlung,“ beginnt der eine Mann, der diese Marionetten des Lebens geringschätzig belächelt. –
Schon diese Anrede ist eine offene Kampfansage.
„Ich stehe hier als Ankläger, zugleich als Verteidiger. Der Vorstand will Doktor Arthur Bendler aus dem Klub ausschließen. – Dieser Vorstand setzt sich – noch – aus Herrn von Ruvensen, Herrn Markert, Herr Oberst Alsenkapp und Herrn von Rodelstein zusammen, die sämtlich mehrere Aufsichtsratsposten innehaben, auch solche bei der ‚Montana-GmbH‛. – Wie bitte?!“
„Oh – nichts… Ich hüstelte nur…“ klingt eine blecherne Stimme durch den Raum.
Harst fährt fort: „Vor etwa sechs Jahren wurde die Garlandi-Bande abgefaßt… Nur einer entkam. Die anderen wanderten ins Zuchthaus, wo Garlandi beim Fußballspiel neue Pläne entwarf. Unter anderen hatte die Bande auch in Herrn Markerts Villa zuletzt den Tresor geknackt und dabei Papiere erwischt, die das Mitglied, das der Polizei entging, an sich genommen hatte. Nennen wir ihn ‚Herrn X‛. Als dieser mit den Papieren davonschlich, lief er Doktor Bendler in die Arme, der ihn kannte und der ihm die Papiere, die den Beweis für Steuerhinterziehungen und Kapitalverschiebungen ins Ausland enthielten, abnahm, und ihn dann laufen ließ. Doktor Bendler hätte nun, zumal ihn Herr Markert schamlos ausnutzte und einfach niederträchtig behandelte, sich unschwer rächen können. Er tat es nicht, denn er liebte schon damals die heranwachsende Traude Markert. Jahre vergingen, Doktor Bendler verlobte sich mit Traude. Die Garlandi-Bande war wieder frei, und da ihr das Geld knapp geworden war, beschloß sie, mit Hilfe des Herrn X, ihres alten Komplizen, sich sowohl an Bendler für die Wegnahme der Papiere zu rächen, als auch einen Versicherungsschwindel zu inszenieren. Außerdem hatte Herr von Ruvensen Ihnen viel Geld für die Wiederherbeischaffung der Papiere geboten, natürlich in Einverständnis mit den anderen gefährdeten Aufsichtsräten…“
„Beweisen Sie das!“ kreischte die blecherne Stimme dazwischen.
Da erhob sich Doktor Bendler und erklärte seltsam heiser: „Herr X hat es zugegeben, und Herr Harst hatte es vermutet…“
Er setzte sich wieder. –
Unendlich langsam, aber wie Hammerschläge, fielen Harst folgende Sätze in die Totenstille hinein:
„Herr X, der Garlandi beseitigen wollte, um selbst die Führung der Bande zu übernehmen, machte Garlandi betrunken, der dann auch wie geplant bei dem Zusammenstoß den Tod fand. Als Doktor Bendler nach dem Unfall die Limousine gebremst hatte und ausgestiegen war, wurde er von den bereitstehenden anderen Banditen überwältigt und verschleppt, während ‚Herr X‛ seine Stelle einnahm und den Benzintank des Motorrades zur Explosion brachte – ohne dabei Schaden zu erleiden. Die Augenverletzungen und Verbrennungen X’s waren vorher unter Mitwirkung eines verkommenen Arztes künstlich hergestellt worden. Daß die Limousine mit Ruvensen, Alsenkapp und Oberscheibler sofort am Tatort erschien, war kein Zufall. X hatte Ruvensen dorthin bestellt, angeblich, um ihm die Papiere auszuhändigen. X ohne Maske besaß sehr große Ähnlichkeit mit Doktor Bendler. Die gefährdeten Aufsichtsräte glaubten in dem Mann, der durch die Benzinexplosion halb blind im Schnee lag, Doktor Bendler vor sich zu haben. Aber ihre Versuche, den verletzten X zur Herausgabe der Papiere zu bewegen, mußten fehlschlagen, denn X wußte nicht, wo Dr. Bendler die Papiere verborgen hielt.“
Harst schaute zu der abseits sitzenden Gruppe hinüber, zu Sterlett und den zwei jungen Mädchen, die beide Schleier trugen.
„Bevor ich weitersprechen, möchte ich von Ihnen allen die ehrenwörtliche Zusage haben, über diese Dinge zu schweigen und ferner die, daß die Steuergelder bezahlt und das verschobene Kapital nachträglich gemeldet wird. Geschieht dies nicht, so trete ich mit dem Fall Bendler vor die Öffentlichkeit, und niemand wird die Schuldigen dann noch schützen können, dafür werde ich sorgen. – Also … bitte!! Und schriftlich, meine Herren, – – bitte!!“
Wie ein Orkan erhob es sich im Saal. Die anständigen Mitglieder des Klubs sprangen auf, die übrigen duckten sich zwar scheu zusammen, aber in ihren Augen flackerte jener durch nichts begründete Haß weiter, der nur denen galt, die kein dreifaches, vierfaches Einkommen zu verteidigen hatten: Der Haß der Entlarvten – aber Einsichtslosen!
– Ich übergehe diese Szene. Es kommt mir nicht darauf an, den Klub bloßzustellen. Es ist überhaupt kein Klub, ich habe ihn hier nur so benannt, die Vereinigung heißt ganz anders. Es war jedoch unmöglich, das Problem Bendler dem Leser ohne diesen Rahmen der Zeitströmungen von moralischen Zersetzungserscheinungen folgerichtig zu entwickeln
Jedenfalls: Die schriftlichen Erklärungen wurden abgegeben, obwohl Karl Markert wiederholt stöhnte, er sei ruiniert, und obwohl Herr Alsenkapp allerlei Drohungen vor sich hinmurmelte, die aber nur noch lächerlich wirkten.
Harst kam zu den entscheidenden Schlußausführungen, und er fand dabei eine immer gespannter lauschende Zuhörerschaft.
„Meine Herren, als Fräulein Markert meine Hilfe erbat, stieß mir sofort auf, daß in den Zeitungen über den ‚Fall Bendler‛ gar nichts gebracht wurde. Es mußten hier also höhere Einflüsse mitspielen. –Ich kannte nun Doktor Bendler hier vom Klub her sehr gut. Es erschien mir ausgeschlossen, daß dieser Mann ein Schwindler und ein Genosse der Garlandi-Bande sein sollte. Eine ganz bestimmte Vermutung stieg in mir auf. Ich wollte ihre Richtigkeit nachprüfen. Schraut und ich begaben uns zu Bendlers, wo ich in der Aufwärterin Perßke die Hochstaplerin Fürstin Provetti wiedererkannte. – Sie ließ ein Bild verschwinden, zerkaute es, flüchtete…“ (Hier ging er mehr ins einzelne).
„… Ausschlaggebend für die Beurteilung der Sachlage war dann das Gondellied, das die Perßke als Signal für den Herrn X trällerte, der bei Bendler den Doktor Arthur Bendler spielte. Dieses Lied bewies mir, daß die Perßke mit dem X unter einer Decke steckte, daß also dieser Doktor Bendler überhaupt – nicht Arthur Bendler war sondern eben Herr X. Trotzdem wollte ich ganz sicher gehen: Wir entführten diesen Mann, der mit Doktor Bendler eine verblüffende Ähnlichkeit selbst in Sprache und Gesten hatte. Ich stellte mit dem Entführten ein Examen an. Er bestand es nicht. Er hatte von Jurisprudenz keine Ahnung – denn er war nicht Doktor Bendler, sondern – – sein von Jugend an verderbter und verbrecherisch veranlagter Zwillingsbruder Adolf. Diesen Adolf hatte die Familie seit vielen Jahren ängstlich totgeschwiegen. Adolf Bendler war Herr X, ein krankes Reis an einem gesunden Stamm! Das von der Perßke zerkaute Bild lieferte mir den ersten Hinweis auf Adolf Bendler. Die Photographie zeigte fünf Personen vor der Villa Bendler, darunter zwei junge Leute, die sich verblüffend ähnlich sahen, nämlich die Zwillinge. Es war eben die Familie Bendler. Ich kratzte die Gesichter der Brüder auf dem Bild weg und behielt mein Wissen erst einmal für mich…“ Er schilderte nun die nächtlichen Vorgänge in der Villa Bendler.
„… In der Villa fiel mir auf, daß alle Bilder zerstört waren. Adolf Bendler hatte dies der Perßke befohlen. Ein Teil von ihnen hatte aus Photographien der Familie Bendler bestanden, und ‚Herr X‛ wollte verhüten, daß ich durch diese Bilder auf die Existenz der Zwillinge aufmerksam würde und dadurch auf die Verschleppung Doktor Bendlers durch seinen Bruder. Justizrat Sauerbier wurde von der Perßke aus demselben Grund erschossen, und Karl Markert verbrannte die Akten aus ähnlichen Gründen. – Hiermit komme ich auch zu der Person der tapferen, opferfreudigen Gerda Bendler. Sie hatte, als Adolf Bendler aus der Klinik als Arthur nach Hause entlassen wurde, genau so wie Sauerbier bemerkt, daß es Adolf, nicht Arthur war. Sie täuschte die Lähmung vor, um nachts unbelästigt und ohne Verdacht zu erregen als blondbärtiger Unbekannter sich mit Sauerbier zu beraten, wie man Arthur auffinden und vor der Mutter das neue Verbrechen Adolfs verheimlichen könnte. Um sie dann vor der Polizei zu schützen, ließ ich sie durch einen Bekannten nach Inspektor Sterletts Häuschen bringen. Hier wurde mein Gehilfe Worch niedergeschlagen, erschoß dabei in der Notwehr die Perßke, und Arthur, der dort gefangen gehalten worden, entfloh zusammen mit seiner Schwester. Bei Frau Bendler befanden sich nun also die Zwillinge und Gerda. Sterlett lieferte mir den Beweis dafür. Der, den er auf meine Veranlassung examinierte, war der echte Doktor Bendler. Adolf wurde auf dem Hängeboden in einer Kammer versteckt. – Ich wußte, daß Adolf Bendler versuchen würde, ins Ausland zu entkommen. Nun – er stürzte bei diesem Versuch vom Dach. Die unkenntliche Leiche, die heute früh in einem Auto aufgefunden wurde, war ‚Herr X‛. – – Hiermit wäre der Fall Bendler erledigt. Gestatten Sie mir noch einige kurze Bemerkungen. Arthur Bendler und Gerda liebten ihre Mutter über alles. Arthur schloß für alle Fälle, da er der Ernährer der Familie war, die hohe Unfall- und Lebensversicherung als Rückendeckung für Mutter und Schwester ab und lebte äußerst bescheiden, nur um die Prämien bezahlen zu können. Dieselbe selbstlose Liebe und Opferfreudigkeit finden Sie bei seiner Schwester Gerda. Ihre nächtlichen Streifzüge galten der Entdeckung des Verbleibs Arthurs, und hierin liegt ein heroischer Zug von Selbstverleugnung, der besonders betont sei. Nicht anders zeigt sich uns Fräulein Markerts Charakter. Sie wünschte von mir eine Aufklärung der Dinge ohne jede Rücksicht auf das, was diese Enthüllungen bringen könnten, – sie wünschte eben nur Recht – Gerechtigkeit! – Ich bin fertig, meine Herren. Hier sind Arthur Bendlers, Schrauts und meine Austrittserklärungen aus dem Klub. – Wir verabschieden uns…“ –
– Der Klub flog zur Hälfte auf. Hiermit schließe ich das Kapitel ‚Klub 1924‛. Wenden wir uns erfreulicheren Dingen zu. An demselben Abend bewirteten wir eine Anzahl Gäste, und Sonnenscheinchen spielte die Hausfrau. Frau Bendler war ebenfalls zugegen, und die Freude über ihre Kinder Arthur und Gerda und ihr Schwiegertöchterchen Traude bannte rasch die schmerzlichen Gedanken über den jähen Tod des mißratenen Sohnes. Auch Erwin Sterlett und Worch befanden sich unter den Gästen, und als die Zeit vorrückte und der Rotwein die Herzen und Lippen öffnete, waren sowohl das Brautpaar Arthur-Traude als auch Gerda und Erwin, der verliebte Stint, plötzlich verschwunden.
„Sie besichtigen das Haus…“ erklärte unser Sonnenscheinchen augenzwinkernd.
Frau Professor Bendler lächelte verträumt. Sie sahen eine zweite Verlobung voraus, und sie behielt recht. –
Wenn nun meine Leser und Freunde nochmals alle Einzelheiten des Falles Bendler nachprüfen wollen, werden sie feststellen können, daß dieses so verzwickte Problem in jedem Punkt der allmählichen Entwicklung genau der an sich einfachen Endlösung entspricht.
… Womit ich mich für heute verabschiede.