Harald Harst
Band: 362
Von
Max Schraut
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16
1. Kapitel
Die Verführten.
Wenn der kalte Oktobersturm die Regenschauer wie die Strahlen aus zahllosen Spritzenschläuchen knatternd gegen die bemoosten Ziegel des schrägen Daches jagte und dann gleichzeitig die Zinkrinne unter dem Anprall der Tropfen wie eine schlechte Trommel seltsame Wirbel hören ließ, dann kauerten sich die beiden Männer, die da im Schutz des dicken Schornsteins hockten, noch enger aneinander und schoben die Ferngläser schnell unter die dicken Gummimäntel, bis das Unwetter sich wieder beruhigt hatte.
„Ich sage dir, die Sache ist nicht sauber,“ raunte der eine dem anderen jetzt zu und hob sein Glas abermals an die Augen.
Unterhalb des Daches, auf dem die beiden heute nun zum dritten Mal die Arbeit des Wachsmodelleurs in dem alten Atelierhaus jenseits der engen Gasse beobachteten, reckten ein paar Kastanienbäume ihre längst kahlen Äste und Zweige mürrisch gen Himmel.
Der Gefährte dessen, der die ‚Sache’ nicht für ganz sauber hielt, erwiderte vor Kälte zitternd im Ton höchsten Unwillens:
„Was schert uns das Privatvergnügen des Doktors! Möchte wissen, was daran verwunderlich sein sollte?! Beeilen wir uns lieber, daß wir mit unserem Geschäft fertig werden! Unangenehm genug ist dieser Auftrag! Man trägt die Haut dabei zu Markte! Klettern wir hinab! Eine günstigere Nacht finden wir nicht so leicht wieder.“
Der andere steckte sein Fernglas in die Manteltasche. „Meinetwegen! Auch ich wünschte, wir hätten es erst hinter uns! Also dann dort an der linken Kastanie hinab auf den kleinen Balkon‥!“ –
In dem altertümlichen Haus saß in einem hochlehnigen Ohrensessel im Balkonzimmer vor dem warmen Kachelofen regungslos eine Frauengestalt. Der große Raum war nicht beleuchtet, lediglich aus der offenen Ofentür fielen einige rötliche Strahlen auf den kostbaren Perserteppich und weiter auf die Tür eines reichgeschnitzten Glasschrankes, in dem wertvolle antike Geräte aus Edelmetallen das rote Ofenlicht vielfach zurückwarfen.
Die Frau verhielt sich vollkommen regungslos und horchte nur mit äußerster Aufmerksamkeit auf das Toben des Unwetters und auf die vielfachen Nebengeräusche, die der Oktobersturm zur Folge hatte.
Als sie nun in einer der langen Sturmpausen das Fenster der Balkontür verdächtig knistern und splittern hörte, schob sie ihren Sessel unmerklich noch weiter aus dem schwachen Lichtbereich der Ofentür in die Finsternis hinein und umklammerte mit der rechten Hand krampfhaft den Kolben der Pistole, von der sie nötigenfalls rücksichtslos Gebrauch machen wollte.
Sie war ja gewarnt worden, und daß der geheimnisvolle Warner in nichts übertrieben hatte, davon hatte sie sich bereits überzeugen können.
Als jetzt die innere Balkontür lautlos aufging und zwei schattenhafte Gestalten hereinhuschten, hob die Frau gleichzeitig beide Hände, und ein scharfes, etwas schrilles „Halt!!“ tönte den Einbrechern entgegen, während die Taschenlampe der Frau die beiden Maskierten grell beleuchtete.
War es Schreck oder Absicht, – der eine der Diebe warf gleichfalls den Armen empor, ein dumpfes, abgehacktes ‚Plomb’ mischte sich in die wilde Sinfonie des erneut losbrechenden Unwetters, und bevor die Frau nun zusammenknickte und lang auf den Teppich schlug, spie auch ihre Waffe einen kurzen Blitz aus, und der eine der Eindringlinge schrie leise auf und sank seinem Gefährten schlaff in die Arme.
Hiermit nicht genug: Irgendwo über einem der Glasschränke puffte jetzt ein blendendes Licht auf, erleuchtete den Raum stärker als das grellste Sonnenlicht und erlosch wieder…
Die Balkontür klirrte…
Ein letztes Ächzen ertönte…
Dann Stille…
Nur der Herbstorkan ließ noch seine Stimme vernehmen, und der Regen flog vom pechschwarzen Nachthimmel herab wie dereinst die biblische Sintflut.
Tot, still, dunkel lag das alte Gebäude wieder da.
Wie tot lag die Frau auf dem Teppich…
Im Zimmer dunstete es nach Magnesiumsqualm.
– Eine halbe Stunde mochte vergangen sein.
Wieder klirrte die Balkontür, und wieder schob sich eine regennasse Gestalt mit triefendem Turban in den Lichtkreis des warmen Ofens.
Das braune Gesicht, der schwarze Bart des neuen Eindringlings wurden noch deutlicher erkennbar, als der Fremde eine kleine Blendlaterne einschaltete und sich im Hause wohl fünf Minuten lang mit allerlei seltsamen Verrichtungen zu schaffen machte.
Dann verschwand auch er. Behutsam schloß er die Balkontür, behutsam entfernte er die eingedrückte Scheibe und alle Glassplitter und zeigte sich fernerhin als flinker, geschickter Glasermeister. Er war eben auf alles vorbereitet gewesen. –
– Dies geschah am 28. Oktober. Am 1. November abends gegen zehn Uhr stand eine armselige Gestalt in einem zerschlissenen Gummimantel am Geländer der Hallenseer Brücke und betrachtete mit bitterem Gefühl die eleganten Autos, die den Kurfürstendamm hinauf- und hinabrollten.
Als die Uhr des Ringbahnhofs Halensee ein halb Elf zeigte, verließ der Mann seinen Platz und gab das Warten endgültig auf.
Müde und hungrig, verzweifelt und voller ohnmächtiger Wut auf den betrügerischen Unbekannten schritt Erwin Tobeck denn nahen kläglichen Heim zu, kletterte im Hofgebäude der Mietskaserne fünf Treppen empor und öffnete die Flurtür der armseligen, fast unmöblierten Zweizimmerwohnung‥
Im Wohnungsflur zündete er eine Kerze an und legte dann Mantel und Hut auf eine mit trockenen Kiefernästen gefüllte Kiste, neben der noch eine mit ähnlichen Aststücken vollgepropfter Rucksack lag. Dieses Brennmaterial hatte Tobeck nachmittags eigenhändig im nahe Grunewald gesammelt.
Er stieß eine Tür auf, hielt das Licht ganz hoch und sagte:
„Fritz, ich bin’s… – Wieder nichts!!“
Das Zimmer enthielt an Möbeln außer einem eisernen Bett nur noch zwei Stühle und ein wackeliges Tischchen. Vor dem Fenster hing als Vorhang eine alte Wolldecke.
Fritz Halling richtete sich im Bett auf.
„Armer Kerl, da bin ich glücklicher gewesen,“ meinte er freudig. „Es gibt wirklich noch stille Wohltäter… – Da … was ist das?!… Ein Brief!! Der wurde um zehn Uhr sehr geräuschlos durch den Briefschlitz geworfen. Ich krabbelte aus Neugier aus dem Bett heraus, und – – was fand ich in dem Brief? – Rate mal!“
Tobeck setzte sich auf den Bettrand.
„Natürlich Geld,“ sagte er mürrisch. „Vielleicht zehn Mark, von dem getuschten Fräulein aus dem Vorderhaus mit der Fünfzimmerwohnung gespendet!“
Aber Halling ließ sich die Freude über diesen jähen Glückszufall nicht verderben.
„Irrtum, du junger Menschenfeind!! Es sind ganze dreihundert Mark, und das bedeutet für uns nach diesem kläglichen Abstieg den Wiederaufstieg, das bedeutet gleichzeitig ein zweites, diesmal angenehmes Geheimnis.“
Er hatte trotz der krankhaften Blässe seine schmalen, von blonden Bartstoppeln verunzierten Gesichts bisher mit einer übermütigen, lebensbejahenden Frische gesprochen. Jetzt wurde er ernst. Schon das Wort ‚Geheimnis’, das er soeben ausgesprochen hatte, erinnerte ihn an die aufregendste und traurigste Stunde seines zuletzt so wechselvollen Daseins, und gerade Fritz Halling war bei all seiner heiteren, großzügigen Lebensauffassung keineswegs leichtfertig oder oberflächlich veranlagt.
Erwin Tobeck, schon äußerlich das gerade Gegenteil des Freundes, griff nun doch nach dem Brief und las zunächst die getippte Anschrift:
An die
Herren E. Tobeck und F. Halling
Dann zog er einen gefalteten Briefbogen aus dem Umschlag, in dem sechs Fünfzigmarkscheine lagen. Auf dem Briefblatt stand in roter Maschinenschrift:
Meine Herren, ein Menschenkenner, der Ihren heroischen Existenzkampf voll aufrichtiger Teilnahme zuletzt verfolgt hat, gestattet sich, Ihnen diese Gabe aus dritter Hand zu überreichen. Wundern Sie sich bitte nicht, wenn in nächster Zeit mancherlei geschieht, was Sie nicht beunruhigen darf.
Tobeck, dessen verkniffenes Gesicht bei aller Häßlichkeit einen Charakterkopf darstellte, glättete nach alter Gewohnheit seinen etwas wirren Scheitel und meinte nachdenklich mißtrauisch: „Du bist und bleibst ein Kindskopf, Fritz! Bei all deiner geistigen Regsamkeit ist dir vollkommen entgangen, daß dieses Schreiben zwei Andeutungen enthält, die mich beunruhigen. Da heißt es ‚… aus dritter Hand…’ – Der Spender des Geldes und der Briefschreiber sind also nicht ein und dieselbe Person. Dies mag noch hingehen. Aber dann Punkt zwei: die Schlußsätze ‚wundern Sie sich nicht…’ und so weiter. Das kann nur heißen: der Briefschreiber kennt unsere unseligen Beziehungen zu dem wortbrüchigen Fremden und unsere nächtlichen Abenteuer! Überlege dir mal: ‚In nächster Zeit mancherlei geschieht, was uns nicht beunruhigen darf, so kann ich diese Sätze nur dahin auslegen, daß irgend jemand entweder ein teilnahmsvolles Interesse für unser Geschick heuchelt, und dann ist der Geldspender eben gleich dem großen Unbekannten, oder irgend jemand hat uns beide damals nachts beobachtet und will vielleicht aus Sensationshunger als Amateurdetektiv jene dunklen Dinge aufklären. Der erste Fall, daß der Geldspender der große Unbekannte ist, wäre ungefährlich, denn der Mann wird sich hüten, und zu verraten. Er ist dann auch Geldspender und Briefschreiber in einer Person.
Der zweite Fall – Amateurdetektiv! – liegt weit ernster. Sind wir beobachtet worden, so kann aus dieser Tätigkeit eines höchst unerwünschten Spürhundes für uns ein sehr, sehr böses Endergebnis herauskommen, denn das eine dürfen wir nicht vergessen, Fritz: du hast die Frau getroffen, wenn auch nicht getötet! – Der Schuft, der uns die Pistole gab, hat uns niederträchtig hinters Licht geführt. Die Patronen hatten nur Holzstöpsel statt Nickelmantelgeschosse, aber – daß erkannten wir zu spät! – in diese Holzstöpsel war Blei eingegossen worden! An der Tatsache ist leider nichts zu ändern: Kommt die Wahrheit an den Tag, dann sind wir beide geliefert! Daß die bitterste Not uns dazu gezwungen hatte, auf die Vorschläge dieses Schurken einzugehen, der natürlich seine körperlichen Gebrechen nur vorgetäuscht hat, würde vor Gericht kaum ein Milderungsgrund sein, zumal wir keinerlei Beweis dafür besitzen, daß wir die Verführten waren und der bucklige, lahme Mensch wirklich existiert.“
Fritz Halling hatte sich bei diesen eisig kalten, unbestechlich nüchtern sachlichen Schlußfolgerungen des Freundes wieder matt in die Kissen zurücksinken lassen. Der Rippenstreifschuß, der kaum erst zu verheilen begonnen, hatte ihn infolge des starken Blutverlustes weit mehr geschwächt, als er bei seiner kerngesunden Natur anfänglich gefürchtet hatte.
Mit erschreckender Klarheit erkannte er nun, daß Erwin Tobeck in allen Punkten vollkommen recht hatte und daß die Gefahr einer Einmischung der Polizei weit näher lag als in jener Unglücksnacht, die nun vielleicht sein Dasein völlig vernichten würde.
Dicke Schweißperlen traten ihm auf die bleiche Stirn. Er kämpfte gegen ein Ohnmachtsgefühl an, das sprühende Funkengarben vor seinen Augen auftauchen ließ.
Dann sah er undeutlich, daß sein Freund lauschend den Kopf vorreckte und eine hastige, schweigengebietende Handbewegung machte.
Im Nu hatte er die Schwächeanwandlung überwunden.
Auch er horchte mit angespannten Sinnen…
Draußen fiel die Gußeisenklappe des Briefkastens der Flurtür lärmend zu…
2. Kapitel
Die Briefschlitzklappe.
Erwin Tobeck war an diesem Abend nicht der einzige gewesen, der wartend auf der Halenseer Brücke gestanden hatte.
Dort, wo am Westende der Hängebrücke, unter der andauernd eilige Stadtbahnzüge vorüberglitten oder endlose Frachtzüge dahinratterten, das kleine Zigarrenhäuschen stand, hatte im Schatten des Anbaus dieses gefälligen Kiosks zwei Männer sich postiert, die den Hauseingang der Freunde abwechselnd andauernd bewachten und dann der dürftigen Gestalt Tobecks sich an die Fersen geheftet hatten.
Die beiden geduldigen Späher trennten sich, als Tobeck enttäuscht und voller Wut heimwärts schritt. Der eine bestieg eine Taxe, die in einer Seitenstraße bereitgestanden hatte, der andere blieb unauffällig hinter Erwin Tobeck her.
Tobecks Verfolger war ein schlanker Mann mit dünnem blonden Vollbart und dunkler Hornbrille. Seine Bewegungen waren überaus geschmeidig, verrieten aber auch eine gewisse Unregelmäßigkeit, die zumeist Menschen eigen ist, deren Ideengänge sprunghaft sich mit verwickelten Problemen beschäftigen und deren rege Geistigkeit sich unwillkürlich auch auf das Körperliche überträgt.
Nachdem Tobeck im Eingang der Mietskaserne der stillen Joachim Friedrich-Str. 5 verschwunden war, stellte sich der gutgekleidete Herr in die Haustürnische des gegenüberliegenden Gebäudes und zündete sich eine Zigarette an, deren Rauch etwas süßlich roch, ähnlich dem verschiedener englischer Zigarettensorten.
Der Mann hatte noch keine fünf Minuten gewartet, als von der Ringbahnstation her eine Taxe sich näherte, sechs Häuser weiter anhielt und ein einzelner Fahrgast ausstieg, der nun in dieselbe Haustürnische schlüpfte, wo bereits der schlanke Raucher die dritte Zigarette, fortwährend über dieselben unklaren Zusammenhänge nachgrübelnd, mit der Gier des an Nikotin Gewöhnten genoß.
„Natürlich wieder nichts?“ fragte er kurz den Ankömmling.
„Leider nein, und nicht meine Schuld. Der Bursche ist verteufelt schlau. Daß er eine Taxe nahm, war Bluff. Hundert Meter weiter vor dem Luna-Park stand seine Limousine.“
Der Raucher überlegte. „Es kann nichts schaden,“ meinte er schließlich. „Du wirst zugeben, daß es, falls meine Vermutung stimmt, von dem Mann die größte Torheit wäre, seine Werkzeuge nicht zu bezahlen, denn dann müßte er damit rechnen, daß sie ihm schon aus Rache eifrigst nachspüren. Bei seiner überaus großen Vorsicht ist andererseits wahrscheinlich, daß er den Weg einer Geldsendung durch die Post vermeidet und abermals in anderer Gestalt jetzt nachts genau wie ich vorhin einen Brief mit Einlage durch den Briefschlitz wirft. Daß er von uns beobachtet wird weiß er nicht. Helfershelfer besitzt er nicht. Bisher trat er stets allein auf. Ich werde mein ursprüngliches Vorhaben also für alle Fälle durchführen. Der Farbstoff ist sehr schwer von der Haut zu entfernen. Warte hier.“
Er schritt über die Straße, blickte sich mehrmals um, öffnete dann die Haustür mit einem Dietrich, betrat im Dunkeln das Gartenhaus, stieg die Treppen empor, schaltete erst ganz oben seine Taschenlampe ein, kniete auf der Fußmatte vor der rechten Flurtür nieder und machte sich an der Klappe des Briefschlitzes zu schaffen, entfernte sich wieder und gesellte sich seinem Helfer in der Türnische zu.
„Erledigt,“ sagte er. „Nun heißt es Geduld haben. Unter Umständen warten wir auch ganz umsonst, und der Mann läßt es darauf ankommen, ob die beiden ihn aufzuspüren suchen oder nicht. Das wäre ein Beweis sehr großen Sicherheitsgefühls.“
Der andere erwiderte nur: „Und wenn die Verkleidung so gut gewählt ist, daß wir ihn nicht erkennen?! Das heißt: falls er erscheint, woran ich zweifle.“
„Ich erkenne ihn,“ beruhigte der eifrige Zigarettenraucher sehr bestimmt. „So, wie ich ihn einschätze, wird er zunächst die Straße revidieren. Unser Platz hier wäre dann ungenügend sicher. Im Vorgarten nebenan gibt es einen Erdgeschoßbalkon. Wir sind dort völlig gedeckt. Laß uns den Platz wechseln.“
Ein Windstoß, der vom Bahnhof Halensee her die Straße hinabfegte, wirbelte große Mengen welker Blätter auf und fauchte und jaulte in den spitzen Giebeln der Prunkfassaden der eleganten Mietskasernen. Inmitten dieser hin und her flatternden Wolke toter Blätter tauchte eine gutgekleidete grauhaarige Frau auf, die mit aufgespanntem Regenschirm die herbstliche Windsbraut abzuwehren suchte und langsam auf der Straßenseite gegenüber von Nr. 5 dahinschritt.
Die beiden Späher hinter der Balkonbrüstung schauten ihr gespannt nach. Sehr bald machte sie kehrt, kam nochmals an dem Balkon vorüber, überquerte dann die Straße und verschwand im Hausflur von Nr. 5.
„Das war er,“ erklärte der Raucher. „Stehen die beiden Taxen bereit?“
Der andere bejahte.
Sie verließen ihr Versteck und trennten sich.
Aber selbst diese Maßnahme, den Mann mit Hilfe zweier Taxen im Auge zu behalten, erwies sich als erfolglos, da der Verkleidete hinterher in einem Eckhaus, das zwei Eingänge hatte, untertauchte und nicht wieder zum Vorschein kam. Seine beiden Verfolger stellten später fest, daß sich an dieses Gebäude ein Garagenhof anschloß, dessen Haupteingang auf eine andere Straße mündete.
Während die Freunde, die die Schlauheit und Vorsicht des Mannes wiederum unterschätzt hatten, sich heimwärts begaben, da in dieser Nacht doch nichts mehr auszurichten war, hatte in dem Krankenstübchen im Gartenhaus von Nr. 5 zwischen Erwin Tobeck und Fritz Halling eine recht erregte Debatte stattgefunden.
Anlaß dazu gab zweierlei: Erstens der zweite Brief, der mit einer Einlage von fünfhundert Mark durch den Briefschlitz geworfen worden war, und hauptsächlich die frischen hellblauen Farbflecken, die der Umschlag dieses Briefes aufwies.
Tobecks häßlich interessantes Gesicht hatte sich vor Ärger gerötet, als er die gußeiserne Klappe des Briefschlitzes mit einem Lappen von der auf der Unterseite angebrachten frischen Farbschicht gesäubert und sich dabei die Finger noch weit mehr beschmutzt hatte. Die Farbe widerstand allen Versuchen, sie irgendwie von der Haut zu entfernen.
Fritz Halling nahm die Sache entsprechend seinem Temperament mehr von der humorvollen Seite.
„Ich bitte dich, Erwin, – weshalb erregst du dich darüber?! Der erste Geldgeber hat uns doch auf allerlei seltsames vorbereitet!“
Tobeck blieb gereizt und beunruhigt.
„Ich wünschte, ich besäße deine optimistische Lebensauffassung!“ erklärte er, nunmehr mit einem mit Spiritus getränkten Lappen an seinen Fingern herumreibend, wodurch das Übel jedoch nur noch schlimmer wurde. „Du vergißt vollkommen, daß diese fünfhundert Mark bestimmt von dem unbekannten Schurken herrühren und daß mithin meine Annahme, irgendein Amateurdetektiv beschäftige sich mit uns und unserem verwünschten Erlebnis, durchaus zutrifft. Mag sein, daß dieser Zufallsamateur es ehrlich und gut mit uns meint und uns nicht verrät. Mag sein, daß er die Briefklappe mit Farbe beschmierte, um den Schuft zu zeichnen, der uns in diese Patsche brachte. Trotzdem droht uns Gefahr. Am liebsten würde ich Berlin heimlich verlassen. Dies ist deines Zustandes wegen aber ausgeschlossen.“
Er setzte sich wieder auf den Bettrand und starrtet sinnend in das flackernde Kerzenlicht.
Fritz Halling beobachtete ihn still. Auch ihm war das Herz schwer geworden. Wenn er an das behagliche Leben zurückdachte, das er noch vor Monaten geführt hatte, erschien ihm diese trübe Gegenwart und die unsichere Zukunft wie ein böser Spuk.
„Woran denkst du, Erwin?“ fragte er nach geraumer Weile recht zaghaft.
Tobeck drehte den befleckten Briefumschlag, der keinerlei Aufschrift trug, zwischen den Fingern hin und her. Trotz seiner erst dreißig Jahre hatten seine Züge sehr scharfe Falten und Fältchen, und es war äußerst schwer, sein Alter auch nur annähernd zu schätzen.
„Ich wüßte einen Weg, wie wir uns vielleicht Ungelegenheiten fernhalten könnten, lieber Fritz.“ Seine harte, scharfe Stimme, die jedes Wort kurz abgerissen hervorstieß, klang etwas weicher. Sein offener, aber eigentümlich durchdringender Blick streifte des Freundes blasses Gesicht voller Teilnahme. „Hier in Berlin hausen zwei Leute, die für die Nöte ihrer Mitmenschen ein stets mitfühlendes Herz haben…“
Halling setzte sich aufrecht. Seine Hand tastete nach der des anderen. „Erwin, Gott sei Dank, daß du selbst mit diesem Vorschlag herausrückst. Ich habe schon lange an die beiden gedacht. Ich fürchtete nur, bei dir auf schroffe Ablehnung zu stoßen.“
Tobeck lachte bitter. „Auch du scheinst wie deine Eltern allzu viel Scheu vor meiner Offenheit zu empfinden! Wer den Menschen die Wahrheit sagt, hat verspielt! Schäm dich, Fritz! Du warst auf dem besten Weg zu … verlumpten! Den Sohn reicher Eltern kann jeder spielen, aber nicht jeder besteht im Daseinskampf. Meine Kur war hart, ich selbst litt dabei. Du hast nun mal des Daseins Kehrseite kennengelernt. – Also abgemacht, mein Junge, morgen Vormittag gehe ich zu Harst. Er wohnt jetzt nicht allzu weit von hier. Einst war er Liebhaberdetektiv, nun betreibt er seinen gefährlichen Sport von einst als Beruf. Übrigens begreife ich diese seine Leidenschaft vollkommen. Ich hatte ja als Gerichtsreporter in Danzig oft genug Gelegenheit, auf Kriminalfälle zu stoßen, deren Hintergründe bei der Überlastung der Justiz nur ungenügend geklärt worden waren. Allerdings geht mir die Fähigkeit ab, lockere kriminelle Zusammenhänge durch das Hilfsmittel einer reichen Phantasie miteinander zu verknüpfen, schließlich die falschen Verbindungen abzutrennen, dem richtigen Strang zu folgen und so die Lösung zu finden.“
Fritz Hallig klopfte dem Freund derb auf die Schulter.
„Du stellst dein Licht unter den Scheffel! Du bist doch Detektiv, denn auch du besitzt Einbildungskraft, Menschenkenntnis, blitzschnelle Auffassungsgabe und…“
Tobeck wandte rasch den Kopf zur Seite.
„Laß das!“ meinte er rauh. „Vielleicht wäre ich ein ganz großer Verbrecher geworden, wenn nicht… Sprechen wir von anderen Dingen, oder noch besser: Ich gehe ebenfalls schlafen! Jedenfalls suche ich morgen Harst auf. Ich bin gespannt, welchen Eindruck er auf mich macht. Viele behaupten, seine Arbeitsmethoden seien sehr wechselvoll, er soll ein großer Stimmungsmensch sein.“
„Psychoanalytiker oder Seelenzerfaserer,“ warf Halling eigentümlich ernst ein.
Tobeck erhob sich jäh vom Bettrand und trat näher in den Schatten. Seine Stimme hatte einen besonderen Klang, als er gereizt entgegnete:
„Die ganze Psychoanalyse, wie sie Siegmund Freud mit dem überspitzen Intellektualismus des heimatlosen Kosmopoliten aufgebaut hat, ist keine Wissenschaft, sondern nur eine Krankheit gesteigerte Aufblähung der schöpferischen Gedanken weit größerer Männer: Goethe, Schopenhauer und Nietzsche. Letzterer zum Beispiel sagt: ‚Alle Triebe, die sich nicht nach außen entladen können, wenden sich nach innen.’ – Wie recht hat Nietzsche! Ich weiß das am allerbesten.“
Du‥?!“ fragte Fritz Halling etwas ängstlich.
„Ja – – ich!! – Gute Nacht‥! – Entschuldige, ich bin an Dinge erinnert wurde, die… – – Also gute Nacht!“
Er betrat das dunkle Nebenzimmer, daß genau so erbärmlich ausgestattet war wie das andere Stübchen, tastete sich bis zum Fenster hin, schlug die auch hier als Vorhang benutzte Wolldecke zurück und blickte über den Hof hinweg auf die Hinterfront des Vorderhauses mit ihren hellen Fensterreihen, ihren seidenen Vorhängen, ihrer Lichtverschwendung und auf die Schatten sorgloser, reicher Menschen, die dort hausen durften ohne die niederdrückenden Kümmernisse der Armen, der Geächteten.
Tobeck seufzte leise.
Dort drüben wohnte auch das geschminkte Lärfchen: Eva Altstetten! Und ihre halb gelähmte Mutter, die Frau Geheimrat Altstetten…
Eva!! – – Und er selbst, Erwin Tobeck?! Er, ein Hungerleider, ein erwerbsloser Journalist und‥!
Alle Triebe, die sich nicht nach außen entladen können, wenden sich nach innen!!
Tobeck preßte die Lippen fest zusammen, um ein tierhaftes Stöhnen hinabzuwürgen.
3. Kapitel
Weshalb kam Tobeck nach Berlin?!
Am 2. November leistete sich der unberechenbare Wettergott den Scherz, nochmals mit fünfzehn Grad Wärme, klar blauem Himmel und ganz sanftem Wind aufzuwarten.
Wir hatten in unserem sogenannten Büro beide Fenster geöffnet, wir waren erst gegen elf Uhr vormittags vom Frühstückstisch aufgestanden, – jetzt begann der Dienst.
Wir setzten uns an den großen Doppelschreibtisch, Harst griff nach einer Zigarette, reichte mir Feuer für meine Zigarre und holte nochmals den Brief hervor, der uns auf das etwas merkwürdige Freundespaar Tobeck-Halling und auch so manches andere aufmerksam gemacht hatte.
„Es wird Zeit,“ meinte Harald, „das Vorspiel nochmals zu überprüfen, da wir nunmehr bereits bei der Tragödie selbst angelangt sind. Ich werde den Brief vorlesen:
Sehr geehrter Herr Harst,
die Sorge um meinen einzigen Sohn veranlaßt mich, Ihre Hilfe in dieser ebenso diskreten wie undurchsichtigen Angelegenheit in Anspruch zu nehmen. Mein Sohn Fritz Halling, der ursprünglich Jurist war, jedoch zweimal im großen Staatsexamen versagte, hatte gegen meinen Willen mit einem gewissen Erwin Tobeck, Journalist, engere Freundschaft geschlossen. Tobeck ist der typische Bohemien, dabei eine äußerst rechthaberische und anmaßende Natur. Vor sechs Monaten wußte dieser Tobeck meinen Sohn zu bestimmen, mit ihm nach Berlin überzusiedeln, um dort, wo Tobeck vorgab, ‚ein Leben der Arbeit zu beginnen’.
Gewiß, ich gebe zu, daß mein Sohn, der sehr lebenslustig ist vielleicht allzu sehr auf den väterlichen Reichtum baute und das Dasein zu leicht nahm. Andererseits war die Idee, die jener Tobeck (übrigens ein uneheliches Kind unklarer Herkunft) meinem Jungen suggeriert hatte, von vornherein ein Wahnwitz. Mein Sohn erklärte mir, er sehe selbst ein, daß er dem Verbummeln nahe sei, daß er nur hundert Mark nach Berlin mitnehme und versuchen würde, dort Arbeit zu finden.
Ich selbst, Herr Harst, bin recht wohlhabend, unser Junge war mein ganzer Stolz, er ist ein liebenswürdiger Mensch von sympathischer Erscheinung, Tobecks schlechter Einfluß machte ihn sogar gegen uns, seine Eltern, aufsässig. Jedenfalls begab er sich mit Tobeck nach Berlin und bezog mit ihm im Vorort Halensee, Joachim Friedrichstraße 5, Gartenhaus vier Treppen, eine kleine Wohnung und schrieb an uns stets sehr zufrieden klingende Briefe, behauptete, bei einer Annoncenexpedition eine Anstellung gefunden zu haben – und so weiter.
Ich traute diesen Berichten nicht und ließ unlängst durch die Auskunftei Lux in aller Stille Erkundigungen einziehen. Das Ergebnis war niederschmetternd. Weder Tobeck noch mein Sohn hatten eine auskömmliche Beschäftigung, beide ernährten sich durch Adressenschreiben, beide leben mehr als armselig!
Sehr geehrter Herr Harst, daß ich unter diesen Umständen Ihre Hilfe erbitte, werden Sie begreifen. Der Verdacht liegt nahe, daß dieser Tobeck mit seiner angeblichen ‚Besserungskur’ unlautere Ziele verfolgt. Ich füge einen Scheck über tausend Mark als vorläufiges Honorar bei und bitte Sie, umgehend von sich aus das Nötige in die Wege zu leiten, um über Tobecks Absichten Klarheit zu schaffen. Mein Sohn Fritz weiß nichts von diesem Schreiben an Sie, ich habe ihn auch in dem Glauben belassen, die Berichte über sein ‚arbeitsfrohes’ neues Leben nicht anzuzweifeln.
Hochachtungsvoll
Karl Theodor Halling
Generaldirektor
Harst legte den Brief, den er einem Aktenumschlag entnommen hatte, beiseite und verlas seine erste Antwort an den besorgten Vater.
Sehr geehrter Herr Generaldirektor,
Ihr Schreiben sowie Scheck über tausend Mark habe ich erhalten. Ihrem Auftrag gemäß habe ich die Ermittlungen sofort aufgenommen und glaube Sie schon jetzt in dem einen Punkt beruhigen zu können: Erwin Tobeck dürfte keinerlei Ihrem Sohn nachteilige Ziele verfolgen. –
Es trifft zu, daß Ihr Sohn und Tobeck sehr dürftig leben und durch Adressenschreiben kaum das Notwendigste verdienen. Trotzdem bitte ich Sie, Ihrem Sohn kein Geld zu senden und alles weitere mir zu überlassen. Sie können in aller Ruhe dem Abschluß der Angelegenheit entgegensehen.
Hochachtungsvoll
Unterschrift
Jetzt kam als drittes Schriftstück des Falles ‚Fritz Halling’ eine ganz knappe, von meinem Freund verfaßte Übersicht der von uns beobachteten Ereignisse zur Verlesung.
1. Beobachtung der Freunde. – Nächtliche Zusammenkunft mit einem lahmen Buckligen.
2. Folgende Nächte: Versuche der Freunde, in eine einsamen Villa in der Schliepergasse, Grenze der Vorort Halensee-Grunewald, einzudringen. Villa gehört einem reichen Sonderling namens Olaf Sieberssen.
3. verflossene Nacht, 28. Oktober. – Es ist inzwischen so gut wie erwiesen, daß der Bucklige, der sich jeder Verfolgung zu entziehen weiß, den Freunden den Auftrag erteilt hat, in die Villa einzudringen. Die Zwei mögen aus Not auf die unlauteren Vorschläge des Fremden eingegangen sein. –
Positive Feststellung der verfl. Nacht: die Freunde, von uns heimlich beobachtet, kauern zunächst hinter Villenschornstein, dringen über Balkon ein, Schüsse fallen, Magnesiumslicht blitzt auf, Tobeck schleppt den verwundeten Halling nach Hause. Später erscheint ein als Inder (verkleideter?!) kenntlicher Fremder, dringt gleichfalls ein und entwischt uns.
Nach ergebnisloser Verfolgung durchsuchen wir die ganze Villa, finden nur Spuren des Bewohntseins, jedoch keine lebende Seele vor, obwohl Olaf Sieberssen, früherer Schiffskapitän, außer einer schielenden Haushälterin namens Therese Bartz, deren Gesicht stets einen merkwürdig verängstigten Ausdruck hat (wir sahen sie zweimal bei Einkäufen) noch eine Köchin namens Minna Gustke beschäftigt.
4. wichtigste Feststellung: wir entdeckten vor dem Ofen auf dem Teppich und den Dielen nasse Flecken. Eine spätere Analyse dieser Feuchtigkeit ergibt, daß man Blutflecke weggewaschen hat, (Menschenblut). Ebenso sind vor der Balkontür ähnliche Flecke zu bemerken. Auch Menschenblut. –
Vorläufige Schlußfolgerungen: die beiden Freunde sind von der Haushälterin überrascht worden. (Vergleiche spätere Feststellungen). Gegenseitige Schüsse und Verwundungen. Vielleicht ist die Haushälterin in eine Klinik geschafft worden, obwohl Verschiedenes dagegen spricht. Die beobachtete Magnesiumsflamme, Blitzlicht, kann nur dem Zweck gegolten haben, die Einbrecher zu photographieren. Die Person des Buckligen und die des Inders stehen in allerengsten Beziehungen zueinander. Vielleicht handelt es sich um ein und denselben Mann.
Ergebnis der Ermittlungen nach der Nacht vom 28. zum 29. Oktober: Fritz Halling liegt krank in der Wohnung der Freunde. Versuche, Halling und Tobeck zu belauschen, gelingen zum Teil. Die zwei unterhalten sich über nächtliches Abenteuer und erwähnen, daß Halling im ersten Schreck auf die schielende Haushälterin mit angeblicher Platzpatrone in Pistole abgedrückt und getroffen hat. Auch die anderen angeblichen Platzpatronen (Holzstöpsel) hatten Bleifüllung, wie Tobeck hinterher feststellte.
Vorläufige Schlußfolgerungen hieraus: der Bucklige übergab den Freunden die Pistole samt angeblich harmlosen Patronen in Patronenrahmen. In Wahrheit Bleigeschosse. Mithin Absicht des Buckligen, die Therese Bartz, Haushälterin, durch die Freunde verwunden oder töten zu lassen. –
Im übrigen liegt der Fall noch völlig dunkel.
Ich als Chronist unserer Abenteuer würde nun den Lesern dadurch geradezu ein geistiges Armutszeugnis ausstellen, wenn ich etwa hier noch die Vorgänge der letzten Nacht, insbesondere den Briefschlitztrick, näher erörtern wollte.
Harst streifte diese Dinge am heutigen Vormittag nur mit ein paar Sätzen. Wir hätten auch kaum Zeit gefunden, dies im einzelnen zu besprechen, da für uns ganz unerwartet Erwin Tobeck erschien.
Der erste Eindruck seiner Persönlichkeit war ungünstig. Ein kantiges, faltiges Gesicht, die eigentümlich behutsamen Blicke und die noch behutsamere Ausdrucksweise erweckten den Anschein, daß Tobeck vieles zu verbergen hätte.
Nachdem er uns gegenüber am Schreibtisch mit dem Gesicht nach dem Fenster hin Platz genommen hatte, brachte er sein Anliegen sehr zögernd vor. Er begann mit der Reise der Freunde nach Berlin und mit der Schilderung ihrer Mißerfolge, sich eine gesicherte Existenz zu schaffen.
„… Wir haben zuweilen gehungert, Herr Harst, und es gab Stunden, in denen ich recht verzweifelt war, weil mein sehr verwöhnter Freund Fritz Halling außerordentlich unter diesen Entbehrungen litt. Vor zehn Tagen erhielt ich dann ein getipptes Schreiben von einem Unbekannten, der uns auf die Halenseer Brücke zu einer Besprechung über einen lohnenden Erwerb bestellte. Wir fanden uns pünktlich um ein Uhr morgens ein, und ein lahmer, bärtiger Buckliger unterbreitete uns sein sonderbares Angebot, das darauf hinauslief, in ein Haus, das er später nennen würde, über den Balkon einzudringen und in dem dahinter liegenden Zimmer lediglich festzustellen, ob sich in einem der Glasschränke ein antiker Goldpokal von bestimmter beschriebener Form befände.“
Harst, der bisher Tobeck durch keine Frage unterbrochen hatte, warf jetzt in höflicher Sachlichkeit ein: „Wir wollen uns kürzer fassen, Herr Tobeck. Vieles von dem, was Sie berichten wollten, ist Schraut und mir bereits bekannt.“
Diese Erklärung hätte bei jedem anderen Verblüffung ausgelöst. Tobeck senkte nur den Kopf, verfärbte sich etwas und schwieg.
Harald fuhr fort: „Wir kommen rascher vorwärts, wenn ich Fragen stelle. Zunächst: Sie baten sich Bedenkzeit über den Vorschlag des Buckligen aus? – Ja? Das nahm ich an… – Weiter also. Zahlte der Mann Ihnen Vorschuß?“
Ein ebenso leises „Nein“ war die Antwort. „Er gab uns lediglich Werkzeuge für den Einbruch und die Pistole.“
„Nun schildern Sie bitte Ihre Versuche, in die Villa Sieberssen einzudringen.“
Tobeck tat’s. Den Kopf behielt er gesenkt.
„… Die ersten Versuche scheiterten… Wir gelangten bis auf das Dach, aber im Haus blieb es allzu lebhaft. Trotzdem…“
„Eine Zwischenfrage: Was verstehen Sie unter ‚lebhaft’?“
„Es wurde andauernd gesprochen und gelacht, und die Fenster blieben hell.“
„Bitte weiter…“
„Trotzdem langweilten wir uns nicht, denn gegenüber der alten Villa liegt ein noch älteres Atelierhaus, und der Besitzer, dessen Namen ich später ermittelte, ein Arzt und Chemiker Doktor Hugo Merzel, beschäftigte sich droben in seinem Laboratorium mit allerlei Experimenten. Wir beobachteten ihn durch unsere Ferngläser. – So auch in der Nacht vom 30. zum 31. Oktober. Er modellierte Wachsköpfe und…“
„Halt!“ Harst hatte sich vorgebeugt. „Wachsköpfe? Tatsächlich?!“
„Gewiß. Finden Sie dabei etwas Besonderes, Herr Harst?“
„Nein, durchaus nicht,“ entgegnete Harald achselzuckend. „Das, was Sie für Wachsköpfe hielten, werden Modelle anatomischer Präparate gewesen sein.“
Erwin Tobeck schüttelte energisch den Kopf.
„Nein, Herr Harst. Es waren Wachsköpfe, die er mit Perücken versah und möglichst naturgetreu überpinselte.“
„Nun gut, meinetwegen. Es ist ja gleichgültig… Bitte fahren Sie fort…“
Ich lasse all das, was dem Leser bekannt ist, weg.
„Natürlich war ich begierig festzustellen, ob mein Freund Fritz etwa die schielende Frau ernstlich verwundet hätte. Am übernächsten Vormittag schlenderte ich an der Villa Sieberssen vorüber und war froh, als ich die Haushälterin und den Kapitän am Fenster sitzen sah…“
Harald lehnte sich zurück.
„Da haben Sie Glück gehabt, Herr Tobeck.“ Er fächelte den Rauch seiner Zigarette mit der Hand beiseite und fügte hinzu: „Schraut und ich haben von den Bewohnern der Villa niemanden zu Gesicht bekommen…“
„Die Köchin Minna Gustke ist entlassen,“ meinte Tobeck so nebenher.
Harst hustete… „Hm, vorher wissen Sie das?!“
„Durch den Kaufmann an der nächsten Ecke. Dr. Merzel hat es dort erzählt. Merzel ist der einzige Mensch, mit dem der schrullenhafte Kapitän verkehrt.“
„So so… Immerhin verkehrt Sieberssen doch mit jemandem. – Noch ein anderes Thema. Hat der Bucklige Ihnen das versprochene Honorar bezahlt?“
„Ja. In der verflossenen Nacht. Vorher haben Sie wohl den Brief mit Geld durch den später mit Farbe beschmierten Briefschlitz geworfen?“
Tobecks Augen hatten jetzt etwas ausgesprochen Lauerndes.
Harst übersah das und nickte nur, so daß unser Klient von selbst weitersprach.
„Ihre Gründe für den Farbenanstrich unsere Briefschlitzklappe kenne ich nicht, Herr Harst. Meines Erachtens werden Sie damit nicht viel erreichen, es sei denn, Sie hegten bereits einen bestimmten Verdacht, wer der heimtückische Bucklige sein könnte…“
Auf diese vorsichtige Anzapfung hin erfolgte keine Antwort.
„… Außer dem Geldbetrag schickte uns der Bucklige heute früh noch einen Rohrpostbrief, Herr Harst. Hier ist das Schreiben. Ich bin mir bewußt, daß Fritz und ich uns durch diesen meinen Besuch bei Ihnen der größten Gefahr aussetzen. Ich habe mich daher auch bemüht, jeden Spion von meiner Fährte abzulenken, als ich mich hier zu Ihnen begab. Darf ich den Brief – er ist wieder mit Maschine geschrieben – vorlesen?“
„Bitte.“
Harald schien nur mäßig interessiert, oder aber – er ahnte den Inhalt voraus.
Der Brief lautete (er liegt zur Zeit hier neben mir als eines der wichtigsten Dokumente des Falles Doktor Merzel):
Ich warne Sie beide, mir irgendwie nachzuspüren. Ich habe mir die Blitzlichtaufnahmen von Ihnen beiden vor der Balkontür zu verschaffen gewußt. Falls ich merke, daß Sie fernerhin auch nur in der Nähe der Villa Sieberssen auftauchen, denunziere ich Sie bei der Polizei wegen Diebstahls eines goldenen Pokals, dessen von Ihnen gewähltes Versteck ich kenne.
Tobecks Stimme verriet seine nur mühsam beherrschte Erregung.
„Herr Harst, ich übergebe Ihnen dieses schändliche Schreiben… Wir haben keinen Goldpokal gestohlen. Wirklich nicht.“
„Oh, ich glaube Ihnen, Herr Tobeck,“ meinte Harald in seiner begütigendsten Art. „Sie sind doch Gerichtsreporter gewesen, mithin halber Kriminalist. Was halten Sie eigentlich von der ganzen Sache?“
Tobecks Blick zeigte vollste Offenheit, als er ohne Zögern erwiderte: „Natürlich ist der ganze sogenannte Auftrag des Buckligen plumper Schwindel. Dem Mann lag lediglich daran, die Haushälterin Therese Bartz durch Fritz oder mich erschießen zu lassen. Die schielende Frau saß ja mit der Waffe in der Hand im Dunkeln und erwartete uns.“
„Ja, – weil der Bucklige sie gewarnt haben wird – auch anonym. – Fällt Ihnen hierbei nichts auf, Herr Tobeck?“
Der Mann überlegte. „Nein, ich wüßte nicht…“
„Fällt Ihnen nicht auf,“ erklärte Harald mit allem Nachdruck, „daß ausgerechnet die Haushälterin und nicht der rüstige Kapitän a.D. Sieberssen die Einbrecher gebührend empfangen wollte?!“
„Allerdings…“
„Und dann noch eins, Herr Tobeck… Und das betrifft Ihre Person,“ Harst hatte die Stimme gedämpft, aber trotzdem klang sie ungewöhnlich scharf.
„Herr Tobeck, Ihr starker Einfluß auf Fritz Halling ist erwiesen. Halling hat zweifellos nicht die Entscheidung über die Frage gefällt, ob Sie beide den Auftrag des Buckligen annehmen sollten. Den Ausschlag dabei gaben Sie! – Erklären Sie mir, weshalb Sie sich auf dieses unsaubere Geschichte überhaupt einließen, gerade Sie, ein Mensch mit vielfachen Lebenserfahrungen, der die strafrechtlichen Folgen, falls Sie abgefaßt worden wären, sehr wohl überschauen konnte! – Bitte Antwort, – – keine Ausrede!!“
Wieder wechselte Tobeck die Farbe, wieder senkte er den Kopf und schwieg sehr lange.
Seine Gesichtszüge zuckten dabei wie im Krampf. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn…
Doch er … schwieg
4. Kapitel
Doktor Merzels Schönheitspillen.
Und als er antwortete, als er dabei den Kopf hob, blickten wir in ein von Seelenqualen zerwühltes Antlitz.
„Darüber … kann ich nicht sprechen, Herr Harst, unter keinen Umständen‥! – Belügen möchte ich Sie nicht.“
Harald zerdrückte seinen Zigarettenrest in der Ascheschale. „Mithin,“ sagte er bedächtig, „sind sie nicht nur deshalb nach Berlin gekommen, um ihren Freund Fritz zu … kurieren. Mithin führte Sie noch ein Nebengedanke in die Reichshauptstadt. – Doch lassen wir das. Und überlassen Sie mir alles weitere. Nur – – seien Sie vorsichtig! Der Bucklige ist ein Gegner, der weder Sie noch Halling schonen wird. – Sie glauben also, Ihnen ist niemand bis hierher heimlich gefolgt?“
„Ja, das war ausgeschlossen‥!“
„Hoffen wir es‥!“
Gleich darauf war Tobeck in liebenswürdigster Form von Harald verabschiedet worden, nachdem ich vorher den üblichen Wink erhalten hatte, Tobeck unbemerkt auf dem Heimweg zu beobachten. Ich hatte das Büro unter einem Vorwand verlassen und war auf die Straße hinausgetreten. –
– Langsam, tief in Gedanken schlenderte Tobeck vor mir her und wählte den kürzesten Weg nach dem Fehrbelliner Platz.
Er schaute nicht ein einziges Mal zurück. Er hätte es tun sollen, denn dann wäre ihm die dunkle Limousine nicht entgangen, die stets in einiger Entfernung hinter ihm und vor mir blieb. Zuweilen stoppte sie, glitt wieder weiter, und endlich erwischte ich eine Taxe und gab dem Chauffeur die nötigen Anweisungen.
Wir überholten die Limousine. Zu meinem Erstaunen saß am Steuer des sonst leeren eleganten Wagens eine junge Dame im Pelzmantel.
Ich sah Eva Altstetten an diesen warmen, sonnigen 2. November nicht zum ersten Mal. Sie war uns bereits bei der Beobachtung des Hauses Joachim Friedrichstraße 5 aufgefallen. Ich hatte mich sofort gewundert, wie eine junge Frau von so pikanter Schönheit den Ungeschmack des Schminkens und Puderns derart ins Groteske übertreiben konnte. Sie schien es geradezu darauf anzulegen, irgendwie aufzufallen und ihre Gesichtszüge zu verunstalten.
Es war Eva Altstetten.
Harald hatte sämtliche Bewohner der feudalen Mietskaserne (vorn feudal, hinten ärmlich und häßlich) längs in einer genauen Liste zusammengefaßt.
Inzwischen hatte sich Erwin Tobeck in den Anlagen auf eine Bank gesetzt und rauchte eine Zigarette, für ihn vielleicht eine lange entbehrter Genuß.
Eva Altstetten hielt an, verschloß ihre Limousine und näherte sich zögernd auf Umwegen dem Platz Tobecks, mit dem sie bereits einige Male in Halensee zusammen durch die Straßen geschlendert war. –
Wie er sie kennen gelernt hatte, will ich hier gleich vorausschicken: Sie hatte ihn im Flur der Mietskaserne angesprochen und ihn als Hausgenossen gebeten, auf ihren Wagen ein paar Minuten achtzugeben. Hieraus entwickelte sich eine flüchtige, sehr flüchtige Bekanntschaft, der von Seiten Tobecks durch bewußte Ungezogenheit ein jähes Ende bereitet worden war.
Eva Altstetten blieb wiederholt stehen. Sie schien irgendwie ein Anliegen an Tobeck zu haben, aber sie wagte es nicht, ihn so ohne weiteres anzusprechen. Ich behielt nicht nur sie und Erwin Tobeck, sondern auch die Umgebung im Auge. Ich wußte ja, daß Harsts mahnende Worte an den einstigen Gerichtsreporter bestimmt ihre triftigen Gründe hatten. Der geheimnisvolle Bucklige, ein Mensch von verbrecherischer Schlauheit, Niedertracht und Vorsicht, trat zweifellos in den verschiedensten Masken auf. Ich entdeckte nichts Verdächtiges und wandte so meine volle Aufmerksamkeit wieder dem jungen Paar zu.
Eva stand vor Tobeck, der sich erhoben und sehr knapp den Hut gelüftet hatte. Seine Gesichtszüge verrieten, daß er ihr eine schroffe, ablehnende Antwort erteilte. Bestürzt und verletzt trat sie zurück und hob die Hand zu einer außerordentlich eindrucksvollen Geste. Vielleicht wollte sie damit ihrer Worte unterstreichen, und die konnten eine Warnung gewesen sein.
Nun schritt sie davon, sehr hastig, sicher erregt.
Ich überlegte, kam sofort zu einem entscheidenden Entschluß, folgte ihr und sprach sie an.
„Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein, – mein Name ist Schraut…“ Ich hatte absichtlich recht undeutlich gesprochen. „Ich bin ein naher Bekannter Erwin Tobecks und war soeben zufällig Zeuge Ihrer kurzen Unterredung mit ihm. Ich bedauere es sehr, daß zwischen Ihnen und Tobeck irgendein Mißverständnis obzuwalten scheint.“
Das so auffällig geschminkte Mädchen starrte mich aus dunklen Augen eigentümlich feindselig an. Ja, es war Feinseligkeit. Meine Einmischung kam ihr nicht erwünscht.
„Herr Schraut?“ fragte sie eisig.
Also hatte sie meinen Namen doch verstanden.
„Ja – Schraut…–Verzeihung, stört Sie die Tatsache, daß ich Harsts Freund bin?“
Ich wollte Klarheit haben. Ihre kühle Ablehnung berechtigte zu der Annahme, daß meine oder unsere Einmischung ihr zumindest mißfiel. War dem so, dann hatte auch sie irgend etwas zu verbergen, genau wie Tobeck. Harmlose Mitmenschen pflegen bei der Erwähnung des Namens Harst sich nicht in ihr schützendes Schneckengehäuse zurückzuziehen. Nur die Rechtsdreher und jene Leute, die daheim ein Skelett im Schrank haben, wie die Redensart für das Vorhandensein unklarer Familienverhältnisse lautet, fürchten diesen Namen.
Eva Altstetten mochte erst durch meine etwas scharfe Frage darauf aufmerksam gemacht worden sein, daß sie sich hier zumindest unrichtig benommen hatte.
Sie lächelte plötzlich. Dieses Lächeln sollte schalkhaft sein, aber ihr geschminktes Lärfchen verzerrte sich nur. Hinter dieser Schmink- und Puderschicht verbarg sich – – Angst!
„Weshalb sollte es mich stören?“ meinte sie mit einem leichten Achselzucken. „Herr Tobeck ist mir so gut wie fremd, und…“
Sie schwieg jäh. Ein alter, gebeugter, sehr ärmlich gekleidete Mann mit einem Hausiererkasten war auf uns zugetreten.
Meine Augen weiteten sich für Sekunden, schlossen sich wieder. – Ich wartete ab…
„Fräulein, kaufen Sie mir doch etwas ab,“ winselte der verkappte Bettler, kramte in seinem Kasten und brachte ein Glasbüchschen zum Vorschein. „Hier habe ich auch die berühmten Schönheitspillen des Doktor Merzel, – sehr zu empfehlen… Bitte, nur dreißig Pfennig…“
Ich sah Eva Altstetten zusammenzucken und erbleichen, soweit dies bei ihrem getuschten Frätzchen möglich war. Sie entnahmen ihrem Geldtäschchen mit zitternden Fingern eine Münze und behielt das Glasbüchschen in der Hand.
Ihre Stimme klang völlig verändert, als sie mich kurz entließ.
„Herr Schraut, ich habe es eilig‥!“
Im Nu saß sie am Steuer ihres Wagens und fuhr davon.
Gedankenvoll kehrte ich in einer Taxe heim, da auch Tobeck sich inzwischen entfernt hatte. Harst befand sich in seinem Schlafzimmer und wechselte gerade die Kleidung. Auch er mußte eine Taxe benutzt haben.
„Weshalb?“ fragte ich nur, mich seiner knappen Ausdrucksweise anpassend.
„Weil ich vermute, daß das Fräulein Altstetten Doktor Merzel kennt, mein Alter.“
Ich war erstaunt. „Und Merzel interessiert dich?“
„Allerdings. Wir sind erst heute durch Tobeck auf ihn aufmerksam geworden, leider erst heute.“
„Nun ja… Aber Merzel ist Arzt und Chemiker und lediglich ein Bekannter Kapitän Sieberssens. Beargwöhnst du Merzel?“
„Etwas… Mir ist eins aufgefallen: Merzel hat nach Tobecks Angaben dem Kaufmann an der Ecke erzählt, daß die Köchin Minna Gustke entlassen sei.“
Ich begriff noch immer nicht. Ich schüttelte den Kopf. „Deine Gedankengänge bleiben mir unklar. Was befand sich in dem Glasbüchschen, das du Fräulein Eva in die Hand spieltest?“
„Ein Zettel … getippt, Aufschrift: ‚Heute elf Uhr Halenseer Brücke’. – Weiter nichts…“
„Und der Zweck?“
„Festzustellen, ob meine Schlußfolgerung, daß Eva Altstetten zu Merzel Beziehungen unterhält, zutrifft.“
„Ach so! Und worauf stützt du deinen Verdacht, die beiden könnten unter einer Decke stecken?“
„Auf die Tatsache, daß Eva in recht zudringlicher Art Tobecks Bekanntschaft suchte und daß Tobeck die junge Frau später brüsk abschüttelte, was ich beobachtet habe.“
Schlag auf Schlag folgte dieses weit ausholende Frage- und Antwortspiel.
Urplötzlich wurde dadurch die Person Doktor Merzels, die bisher vollkommen im Dunkeln geblieben war, in den grellbeleuchteten Vordergrund gerückt. Mit Recht darf ich den Fall Halling erst jetzt als ‚Problem Merzel’ bezeichnen. Und doch blieben in Harsts sprunghaften Kombinationen große Lücken. Er, der jeden Kriminalfall selbst bei noch so geringen Anhaltspunkten zumeist mit Hilfe seiner unerschöpflichen Phantasie gleichsam als Fiktion, als ausgeklügelte Kette von Ereignissen, zurechtschmiedete und dann hinterher das Unrichtige korrigierte, je nachdem die Ermittlungen Teile seiner Fiktion umwarfen, – er konnte sich derartige geistige Saltos wohl leisten, – – nicht ich!!
„Nun gut,“ sagte ich etwas zögernd, „und wenn Eva Altstetten auf den Zettel anbeißt und sich auf der Brücke einfindet, – – was dann?“
„Dann werde ich den Doktor Merzel spielen.“
„Und wenn Sie sich inzwischen irgendwie mit diesem Merzel in Verbindung setzt und dein feiner Schwindel herauskommt?“
Er lachte mich siegessicher an.
„Das wird nicht geschehen!“ Sein Lachen ging in ein geheimnisvolles Schmunzeln und Augenzwinkern über. „Glaubst du, mein Alter, ich fände nicht auch Mittel und Wege, Telephonleitungen jäh zu unterbrechen und sogar dafür zu sorgen, daß Merzel daheim bleibt?! – Die Sache ist die: als ich Tobeck und dir vorhin folgte – für die Maske des Haustieres brauchte ich genau anderthalb Minuten, für den Zettel an Eva Altstetten fünfzehn Sekunden –, und als ich sah, daß diese Eva, die aus dem Paradies bereits vertrieben ist und die Röte der Paradiesäpfel auf ihre Wangen gezaubert hat, Tobeck ansprechen wollte…“
„Halt!“ fiel ich ein. „Wie konntest du den Zettel hier daheim tippen, wo du doch gar nicht wußtest, daß dir eine Eva über den Weg laufen würde?!“
Er legte mir mit Nachdruck die Hand auf die Schulter. „Du irrst. Ich wußte es. Ich lehnte mich zum Fenster hinaus und sah die Rückseite der Limousine Eva Altstettens, mithin auch die Autonummer, die wir ja kennen, wenigstens ich kannte sie…“
Ich senkte beschämt den Kopf und schwieg.
„… Als ich also merkte, daß Eva mit Tobeck sprechen wollte, eilte ich zum nahen Telefonautomaten und rief Doktor Merzel an, nannte meinen Namen und meldete uns noch für diesen Vormittag bei ihm an – in ganz dringender Angelegenheit. Dann ließ ich mich sofort mit Freund Bechert vom Präsidium verbinden und bat ihn, er solle sofort unter einem Vorwand bis heute um Mitternacht Merzels Telephon sperren lassen. Angeblich Kurzschluß in dem betreffenden Leitungsstrang, sollte das Amt ihm vor der Sperrung mitteilen. Bechert weiß, daß ich ein derartiges Ansinnen nicht ohne schwerwiegenden Anlaß stelle. Jedenfalls: Merzel erwartet uns jede Minute, er kann sich also nicht aus dem Haus wegrühren. Daß etwa Eva Altstetten bei ihm durch Rohrpostbrief oder durch Boten anfragt, ob es mit dem Rendezvous um elf seine Richtigkeit habe, halte ich für ausgeschlossen. Sie wird überhaupt kein Mißtrauen gegen den ‚Hausierer’ hegen. Sie kennt Merzel, kennt ihn nicht nur in Verkleidungen, – das beweisen ihr Erbleichen und ihr Händezittern. – So, nun also hin zu ihm! Ich bin auf diesen Mann außerordentlich gespannt.“
„Bitte, – noch eine Frage,“ sagte ich schnell. „Ist der Bucklige mit Merzel identisch?“
Harst blickte mich merkwürdig an.
„Eine Antwort ist überflüssig, glaube ich‥!“
Dann verließen wir unser Heim.
5. Kapitel
Dr. Merzels weiße Hände.
Wir fanden bei dem schönen Wetter unschwer eine Taxe mit aufgeklapptem Verdeck. Harald legte Wert darauf. Dann instruierte er den Chauffeur in der Weise, daß wir dreimal an Merzels altem Atelierhaus vorüberfahren sollten, bevor wir davor hielten.
Als wir uns der engen Gasse mit den entlaubten Vorgärten und den beiden gegenüberliegenden Häusern näherten, sagte Harald leise: „Behalte die Fenster der Villa des Kapitäns scharf im Auge, jedoch nicht auffällig.“
Die Taxe rumpelte über das berüchtigt schlechte Pflaster nur langsam dahin. Ich hatte Zeit und Gelegenheit festzustellen, daß der Kapitän und die schielende Haushälterin wieder am Fenster saßen. Die Vorhänge verdeckten ihre Gesichter nur halb.
Die Taxe wendete, und abermals kamen wir an der Villa und an Merzels Atelierhaus vorüber, – der Kapitän hatte seine Pfeife im Mund, und Therese Bartz schien ihm aus der Zeitung vorzulesen.
Wieder wendete die Taxe, – – wieder dasselbe Bild, und erst beim vierten Mal stoppte unser Chauffeur vor Merzels Heim. Harald bezahlte ihn reichlich. „Warten Sie dort an der Straßenecke,“ befahl er. „Sollten wir in einer Stunde nicht wieder bei Ihnen sein, rufen Sie das Polizeipräsidium an, Kriminalkommissar Bechert, Zimmer 113, und bestellen ihm, wo wir stecken.“
„Wird gemacht, Herr Harst,“ flüsterte der helle Berliner zurück. „Hals- und Beinbruch also, Herr Harst!“
„Und Ihrerseits Mund halten!!“
„Und ob!“
Harald läutete. Der Vorgarten war genau so verwildert wie das Haus verwahrlost aussah. An der altertümlichen Haustür war ein Messingschild befestigt.
Dr. med. u. chem. Hugo Merzel
chemisches Laboratorium
Analysen aller Art
Ärztl. Sprechst. 9-11, 4 -6
Erst nach geraumer Weile wurde uns geöffnet.
Vor und stand ein Mann von vielleicht vierzig Jahren mit dunkelblondem, vollem Haar, dünnem Spitzbart und sympathischem, durchgeistigtem Gesicht. Er trug nur ein weißes seidenes, in Kragenform geschlungenes Halstuch und über dem Anzug einen Mantel aus abwaschbarem Gummistoff, der sehr befleckt war.
„Merzel,“ stellte er sich mit angenehmer, tiefer, fast melodischer Stimme vor. „Bitte, treten Sie näher, meine Herren… Sie müssen mein Arbeitshabit und meine Gummihandschuhe…“ – er hob lächelnd die Hände – „schon entschuldigen. Ich bin sehr beschäftigt.
Bitte – hier hinein… Die anderen Zimmer sind noch nicht aufgeräumt. Meine Aufwärterin hat mich heute im Stich gelassen, und Dienstboten halte ich mir nicht. Ich traue niemandem.“
Das Zimmer, in das er uns geführt hatte, war sein Behandlungsraum und lag nach dem Hintergarten hinaus. Es enthielt allerlei Apparate, Schränke mit Flaschen und Präparaten in Spiritus und einige Klubsessel.
„Nehmen Sie Platz… – So, bitte, – ganz zwanglos, – – Zigarette oder Zigarre gefällig? – Ich freue mich aufrichtig, Sie beide einmal kennenzulernen, meine Herren… Hier ist Feuer…“
Er gab sich vollkommen unbefangen, er hatte sogar recht heitere, übermütig-ironische Augen, und der Gedanke, dieser Mann sollte die Niederträchtigkeit besessen haben, als Buckliger dem Freundespaar Tobeck-Halling Platzpatronen mit Bleifüllung in die Hände gespielt zu haben, erschien mir völlig absurd.
Merzel war Weltmann, heiter, liebenswürdig, und nicht das Allergeringste ließ den Verdacht aufkommen, er könnte nebenbei ein Verbrecher mit sehr dunklen Zielen sein.
Nach einigen allgemeinen Redensarten fragte er dann geradezu:
„Hat man mich Ihnen als Gerichtschemiker für schwierige Analysen empfohlen, Herr Harst? Oder was führt Sie sonst zu mir?“
Langsam streifte er jetzt die Gummihandschuhe ab und entblößte seine frauenhaft weißen, schlanken und fleckenlosen Hände.
Sie waren ohne jeden bläulichen Fleck.
Ich hütete mich, diese Hände allzu eingehend zu mustern.
Harst, weit zurückgelehnt sehr behaglich rauchend, betrachtete das Zimmer und die Schränke mit den scheußlichen Präparaten und erwiderte leichthin:
„Um eine Analyse handelt es sich nicht. Vielmehr um eine simple Auskunft.“
Ich horchte sehr genau hin.
Was würde mein Freund als Vorwand wohl bringen?!
„Ihnen gegenüber, Herr Doktor, wohnt der frühere Schiffskapitän und Sonderling Olaf Sieberssen. Er beschäftigte bis vor anderthalb Wochen eine Köchin namens Minna Gustke, deren Eltern in Eberswalde wohnen. Der Vater dieser Minna Gustke schrieb mir, seine Tochter habe ihn schriftlich mitgeteilt, daß sie plötzlich entlassen sei und am 20. Oktober daheim eintreffen würde. Da dies nicht geschah, wandte sich ihr Vater an den Kapitän, und Sieberssen antwortete ihm postlagern, Minna sei mit ihrem Koffer am 19. Oktober abends zum Stettiner Bahnhof gefahren. Da inzwischen fünf Tage verstrichen waren, bekam der alte Gustke es mit der Angst und meldete Minnas Verschwinden der hiesigen Polizei, die sehr bald feststellte, daß sie tatsächlich am 19. abends ihren Koffer auf dem Stettiner Bahnhof einem Dienstmann übergeben hatte. Sie wäre dabei sehr aufgeregt gewesen, hätte auf die Undankbarkeit der Herrschaft geschimpft und sich zum Neun-Uhr-Zug wieder einfinden wollen. Sie holte den Koffer jedoch nicht ab, erschien überhaupt nicht mehr. Die Polizei öffnete nun den Koffer, fand alle Sachen der Gustke darin und setzte die Nachforschungen ergebnislos fort. Dann wandte sich Gustke Vater wie gesagt an mich. Ich wollte Sieberssen, den früheren Dienstherrn der Frau, aufsuchen, doch der fertigte mich grob auf der Schwelle ab, – die Gustke habe wie ein Rabe gestohlen, – und schlug mir die Tür vor der Nase zu. Mit dem Stehlen stimmte es leider: die Polizei hat in dem Koffer der Gustke in der Unterwäsche versteckt verschiedene indische Goldmünzen gefunden… Sieberssen erhielt sie zurück.“
Dr. Merzel lachte herzlich.
„Ja, ich war dabei, als er den Kriminalbeamten ebenfalls an der Tür abfertigte! Die Grobheit ist ihm angeboren. Aber sie wird durch einen treffenden Witz gemildert.“
Ich war nicht weiter erstaunt, daß Harald mir wieder einmal einiges von dem Vorspiel des jetzigen Problems verheimlicht hatte.
Harst lachte gleichfalls. „Weiß Gott, Doktor, – von Witz habe ich nichts gemerkt, nur saugrob war der alte Herr! – Wie dem nun auch sei: ich hörte, daß Sie mit Sieberssen als einziger befreundet sind. Wissen Sie etwas über die Minna Gustke?“
Merzel nahm eine neue Zigarette. „Ja. Sie stahl. Zuweilen half sie meiner alten erprobten Aufwärterin. Und dann fehlten stets silberne Löffel, obwohl doch das Wegzaubern von Silberzeug ausschließlich das Vorrecht der feinen Kreise bleiben sollte,“ fügte er bissig hinzu. „Mehr kann ich Ihnen über diese Perle von Küchenfee nicht mitteilen, höchstens noch daß eine, daß Sieberssen sehr froh ist, seine Goldmünzen zurückerhalten zu haben.“
„Das glaube ich,“ nickte Harald amüsiert. Er wurde jedoch sofort wieder ernst. „Was soll ich jetzt nur dem alten Herrn Gustke nach Eberswalde schreiben?! Er ist ein pensionierter Beamter vom alten Schlag. Er wird es kaum überstehen, wenn er hört, daß seine Tochter eine Diebin ist – – oder war, denn man muß jetzt ja leider mit der Möglichkeit rechnen, daß sie beseitigt worden ist. Vielleicht hat sie einen Komplizen und Bräutigam gehabt, vielleicht fehlt auch den Kapitän weit mehr von seinen Goldsachen, als er im Augenblick feststellen kann. Ich werde nachher doch noch einmal bei ihm vorsprechen. – Darf ich einmal Ihr Telephon benutzen, Doktor? Ich möchte meinem Freund Bechert vom Polizeipräsidium einen Wink geben, wie er die weiteren Nachforschungen nach Minna Gustke anpacken soll.“
Merzel zuckte ärgerlich die Achseln. „Telephonieren? Geht nicht, Herr Harst. Leitungsstörung, meldete das Amt‥!“
Er trommelte mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte, und wieder fiel es mir auf, wie schneeweiß die Haut seiner Hände war. Auf dem Handrücken fehlte jede Spur von Haarwuchs. Die Behaarung begann erst oberhalb des Handgelenks und war ab da sehr dicht.
Merzel erklärte noch, Sieberssen würde uns jetzt um die Mittagszeit kaum einlassen. „Sie können’s immerhin versuchen… Machen Sie sich aber auf recht saftige Grobheiten gefaßt.“
Dann verabschiedeten wir uns ganz freundschaftlich mit kräftigem Händedruck.
6. Kapitel
Ein verhindertes Attentat.
Das also war Merzel! Ich hatte mit Ausnahme einer einzigen, vielleicht auch noch unwesentlichen Beobachtung nichts Verdachtbegründendes an ihm wahrnehmen können.
Wir schritten über die Straße. Harst sagte sehr leise:
„Nun, mein Alter, was hältst du von Merzels mit Säure behandelten Händen?! So hat er die Haut gebleicht und dabei alle Haare auf dem Handrücken weggebeizt. Ja, die Farbe von der Briefklappe war eben schwer zu entfernen.
Merzel ist der Bucklige und ein Schurke ungewöhnlichen Ausmaßes! Er selbst hat Minna Gustke beseitigt, und dies ganz offensichtlich auf eine genau so raffinierte Art, wie er durch das Freundespaar Tobeck-Hallig die Haushälterin hat verschwinden lassen wollen.“
Wir standen bereits auf der Türschwelle der Villa Sieberssen.
„Still jetzt!!“ befahl Harald. Dann läutete er. Läutete nochmals, bis hinter der Haustür eine barsche, knarrende Stimme fragte:
„Was wollen Sie schon wieder hier?!“
„Nur eine Auskunft, Herr Sieberssen…“
„Scheren Sie sich zum Teufel!! Kommen Sie morgen mittag halb eins wieder.“
Einiges war mir aufgefallen, aber ich schwieg. Als wir unsere Taxe erreicht hatten, bat Harst den Chauffeur, zu Fuß nach der Villa Sieberssen zu gehen und dort Einlaß zu begehren…“
„Merken Sie sich genau, was Kapitän Sieberssen Ihnen zuruft!“
„Wird gemacht, Herr Harst.“
Als der Chauffeur wieder bei uns war, grinste er und schüttelte den Kopf.
„Ein komischer Kauz, der Kapitän… Er rief mir durch die Tür zu: ‚Was wollen Sie schon wieder hier?!’ Und nach einer Pause fügte er hinzu: ‚Scheren Sie sich zum Teufel, kommen Sie morgen mittag halb eins wieder.’ Da bin ich dann eben weggegangen.“
„Ich hatte nichts anderes erwartet,“ meinte Harald gleichmütig. „Das ist nun einmal so – – leider!“
Das ist nun einmal so?! – Ich stutzte. Dieser Nachsatz klang zu eigentümlich.
Wir stiegen ein. Harald warf einen prüfenden Blick die enge, von Vorgärten und Wohnlauben eingefaßte Straße hinab. Sie war leer. Nur ein paar Krähen, die bereits von den abgeernteten Feldern her die Vorstädte als winterlich Tummelplatz aufgesucht hatten, lärmten in den alten Kastanien des geheimnisvollen Villengrundstücks des reichen Kapitäns Sieberssen. –
Der Rest des Tages bis zum abendlichen, freilich noch fraglichen Zusammentreffen mit Eva Altstetten verlief für mich völlig ereignislos. Gleich nach der Mittagsmahlzeit hatte mein Freund sich entfernt und kehrte erst um neun Uhr abends bei leichtem Regen zurück. Das Wetter war umgeschlagen. Auf den warmen Tag folgte eine kühle, wolkige und stürmischen Nacht.
„Wo warst du eigentlich?“ fragte ich Harst, von meiner Schreiberei aufblickend.
Er warf sich mir gegenüber in den zweiten Sessel an Mitteltisch und erwiderte nur: „Ich habe Merzel kontrolliert. Ein langweiliges Geschäft. Er rührte sich nicht aus dem Bau. Nur seinen Privatfriedhof besuchte er zweimal nach Eintritt der Dunkelheit.“
Ich überlegte.
„Also hat er Minna Gustke bei sich verscharrt?“
„Nein. Drüben bei Sieberssen in der Müllgrube.“
Zuweilen erfordert es Nerven, gegenüber Harsts Neuigkeiten Ruhe zu bewahren.
„Eine Frechheit!“ war das einzige, was ich zu entgegnen wußte.
„Frechheit?!“ korrigierte er gedehnt. „Kaum! Nur eine leidlich raffinierte Art, jeden Verdacht von sich zu weisen.“
Dann läutete er, und unsere Hausdame trug das Abendessen auf.
Die Zeit schlich. Ich war begierig festzustellen, ob Eva erscheinen und wie diese Begegnung auslaufen würde. Um zehn erteilte Harst mir seine Instruktionen. Ich war enttäuscht, ich sollte daheim bleiben. „Wahrscheinlich werde ich Eva mitbringen, mein Alter… Sie wird dann sehr erschöpft sein. Stell einige Erfrischungen, insbesondere Wein, Likör und vielleicht auch Medikamente, eine Nervenkrise zu beheben, bereit.“
Ich verstand ihn wieder einmal nicht ganz.
„Ist denn Eva Altstetten die Helfershelferin des Buckligen, Harald?“
„Nur in demselben Sinn, wie er andere schamlos als Werkzeug benutzt hat. – Jetzt werde ich mich für das Rendezvous herausstaffieren… Du weißt ja Bescheid.“
Die Tür klappte zu. Er war in sein Schlafzimmer gegangen.
Ich bekam ihn nicht eher wieder zu Gesicht, bis ich, diesmal ein ganz ungehorsamer Mitarbeiter, zehn Minuten vor elf über die Halenseer Brücke schlurfte. Ich war einer inneren Eingebung gefolgt, hatte mich so herausstaffiert, daß selbst Harst mich nie erkannt hätte, und bezog meinen Beobachtungsposten hinter dem kleinen Zigarrenkiosk am Südende der Brücke.
Der Himmel hatte sich wieder aufgeklärt. Wer die Halenseer Brücke kennt und einmal in einer klaren Nacht auf die weiten Bahnhofsanlagen mit ihren unzähligen farbigen Lämpchen hinabgeschaut hat, wird unwillkürlich an einen nächtlichen illuminierten riesigen Festplatz erinnert worden sein.
Heute hatte dieses anziehende Bild keinerlei Reize für mich. Drüben unter dem Kandelaber stand am Brückengeländer ein buckliger, ärmlich gekleideter Mensch: Harst! –
Ich ließ kein Auge von ihm und der näheren Umgebung, empfand das Vorgefühl, daß etwas Unerwartetes geschehen würde, und dieses Empfinden steigerte sich bis zur Gewißheit, als der Lieferwagen einer Glanzplätterei ausgerechnet mitten auf der Brücke scheinbar einen Defekt hatte, anhielt, der Chauffeur die Haube des Motors aufklappte und nun mit allerlei Werkzeugen herumhantierte. Der Mann hatte einen fuchsigen Bart, eine verräterische rote Nase und einem ansehnlichen Bauch.
Der Lieferwagen war nur klein, und die Aufschrift auf dem Lastkasten zeigte den Namen einer sehr bekannten Firma, die meines Wissens zumeist riesige Autos in ihrem Betrieb benutzte. Der Bauart nach war das Autochen recht veraltet und konnte von einer Autoabwrackerei billig gekauft worden sein. Den Anstrich aufzufrischen, war nicht schwer. Derartige Lieferwagen kannten wir aus Erfahrung. Wo solch ein Ding auftauchte, wurde ich mißtrauisch.
Harst hatte das Auto nicht beobachten können. Eine dicht verschleierte Frauengestalt war auf ihn zugekommen, hatte sich neben ihn gestellt, und beide drehten dem zweifellos verdächtigen Wagen den Rücken zu.
Ich verließ schleunigst mein Versteck. Der fuchsige Chauffeur kniete neben dem Auto. Ich war überzeugt, Merzel abermals in anderer Maske vor mir zu haben.
Der Verkehr auf der Brücke war noch sehr lebhaft. Straßenbahnen, Omnibusse, Taxen und Privatautos rollten beständig den Kurfürstendamm hinauf und hinab.
Die Brücke mit ihren breiten Eisenpfeilern bot mir genügend Deckung. Des Schofförs Interesse für den buckligen Harst und für das verschleierte Mädchen war so offenkundig, daß ich mich zum Eingreifen bereit hielt. Ich sah voraus, was kommen würde. Der Fuchsige legte soeben einen Schraubenschlüssel weg, klappte die Motorhaube zu, schwang sich auf den Sitz und griff mit der rechten Hand nach unten.
Ich stand schräg hinter dem Lieferwagen, wich mit einem Satz einem Privatauto aus und schnellte vorwärts, denn das, was der Fuchsige nun in Anschlag brachte, war eine jener niederträchtigen geräuschlosen, mehrschüssigen Luftpistolen, die die Entente für Patrouillengänger konstruieren ließ und die leider noch heute als ‚Zimmerwaffen’ im Handel zu haben sind.
Ich sprang zu, – ein Fausthieb traf den erhobenen Ellbogen des Fuchsigen, ein zweiter sollte ihn kampfunfähig machen, – – sollte! Der Mann war flinker, behender und geistesgegenwärtiger als ich. Er warf sich herum, der Pistolenkolben traf meine Mütze, ich taumelte zurück, blitzartig schoß er über die Straße, hakte den Eisenhaken einer bereitgehaltenen Leine in das Geländer und daran auf die Bahnanlagen hinab, schwang sich auf den Wagen eines gerade vorüberkommenden Güterzuges und verschwand.
Bei dem zu dieser Stunde herrschenden geringen Verkehr war der Vorfall unbemerkt geblieben. Auch Harst und Eva Altstetten waren nicht mehr zu sehen. So bestieg ich den zurückgelassenen Lieferwagen und fuhr heim. Ich lenkte das Fahrzeug in unseren Hof und brachte ihn in den größten Raum des Stallgebäudes. Die Luftpistole hatte ich leider nicht erbeutet. Als ich dann, nachdem ich mich in unserem Zimmer umgezogen hatte, unser Büro betrat, lag Eva Altstetten totenbleich auf dem Sofa und Harst flößte ihr Kognak ein.
Er warf mir einen prüfenden Blick zu.
„Attentat?“ fragte er ganz leise.
„Ja … Luftpistole…“
„Ich danke dir… – Wo blieb er?“
Ich berichtete kurz.
Sein Gesicht wurde hart. „Der Mann ist reif,“ meinte er drohend.
Eva schlug die Augen auf und blickte verwirrt um sich…
7. Kapitel
Eine Tochter und eine kranke Mutter.
Ich möchte hier nicht im einzelnen wiedergeben, auf welche Weise Harst Eva Altstetten zu einem offenen Geständnisses bewog.
Ich will nur bemerken, daß er sich ihr auf der Brücke zu erkennen gegeben und verlangt hatte, sie solle ihn begleiten. Bei uns im Büro angelangt, war er, um alle Ableugnungsversuche von vornherein zu hintertreiben, rücksichtslos energisch geworden. „Sie habe auf Merzels Befehl auf dem Stettiner Bahnhof Minna Gustke gespielt!“ hatte er ihr erklärt.
Da war die Ärmste ohnmächtig geworden. –
Und nun in knappen Zügen ihrer Lebensgeschichte.
Die Geheimrätin Altstetten, Evas Mutter, war sehr wohlhabend und ertrug ihr schweres Leiden – Rückenmarkschwindsucht – mit größter Geduld. Vor einem Jahr hatte Eva dann bei Bekannten den Arzt und Chemiker Doktor Hugo Merzel kennengelernt.
Er machte bei der verwitweten Geheimrätin Besuch und bewarb sich um Eva, die sofort ein nicht näher zu begründendes Vorurteil gegen ihn gefaßt hatte. Im Gegensatz zu Eva fand die Geheimrätin an dem gewandten klugen Weltmann Merzel das größte Gefallen. Eva merkte bald, daß der Doktor mit ihrer Mutter allerlei Heimlichkeiten hatte. Erst nach Monaten, als sie die Kranke in Tränen aufgelöst vorfand, erfuhr sie die niederschmetternde Wahrheit.
Frau Altstetten, geistig noch sehr rührig und stets bemüht, ihr Vermögen zu vermehren, hatte Merzel zu ihrem Vertrauten gemacht und ihn gebeten, ihr Vermögen günstiger anzulegen. Sie hatte ihm auch Vollmacht erteilt, und in dieser Urkunde hatte Merzel den Passus aufnehmen lassen, daß es Frau Altstettens ausdrücklicher Wunsch gewesen sei, dem Doktor ihre Vermögensangelegenheiten zu übertragen und daß er seinerseits ebenso ausdrücklich jede Verantwortung für Fehlschläge bei Spekulationen ablehne.
Es kam, wie vorauszusehen gewesen: Merzel hatte ausgesprochenes Pech, das ganze Vermögen der Geheimrätin ging verloren, ebenso Evas Anteil, die noch nicht volljährig war.
Die kranke Frau brach völlig zusammen, entzweite sich mit Merzel, obwohl dieser ihr scheinbar nachwies, daß auch er sehr große Verluste erlitten hatte.
Mutter und Tochter, sehr verwöhnt, standen nun buchstäblich vor dem Nichts, verkaufen Schmuck und Gemälde, bis Eva – –, – doch hier möchte ich wörtlich folgen lassen, was ich von ihrem Bericht damals mitstenographiert habe.
… Ich hielt diese Zustände nicht länger aus, ich wollte verhüten, daß die Not uns alles Wertvolle nahm. Meine Bemühungen, eine Stellung zu finden, die entsprechend meinen Sprachkenntnissen gut bezahlt wurde, waren ergebnislos. Da kam ich auf den Ausweg, in einer Bar in der City, wo nur bestimmte zweifelhafte Kreise verkehrten, Bardame zu spielen. Diese Stellung bedeutete für mich ein ungeheures Opfer an Selbstverleugnung. Immerhin verdiente ich so viel, daß ich uns über Wasser hielt. In der Bar, wo ich stets stark geschminkt meinen Dienst versah, hörte ich aus den Gesprächen der feineren Unterweltler heraus, daß es in Berlin einen Mann gäbe, den man allgemein nur ‚den Buckligen’ nannte und der als Geldgeber für aussichtsreiche Beutezüge bekannt war. Sein Einfluß mußte sehr groß und weitgehend sein.
Eines Tages wurde ich kurzer Hand entlassen. Am folgenden Morgen erhielt ich einen getippten anonymen Brief, der mich für ein Uhr abends auf die Halenseer Brücke bestellte. Dem Schreiben lagen dreihundert Mark bei. Der Spender wollte mir ein außerordentlich günstiges Angebot unterbreiten.
Ich ging hin und lernte einen lahmen, buckligen Menschen kennen, der mich mit heiserer Stimme genau ausfragte. Dann rückte er mit seinem ‚Angebot’ heraus.
‚Sie sind sportgeübt und energisch,’ erklärte er, ‚mein Leiden macht es mir unmöglich, selbst nachzuprüfen, ob Kapitän Sieberssen einen gewissen alten Goldpokal, der aus einem Museum verschwunden ist, irrtümlich angekauft und seinen Sammlungen einverleibt hat…’
Bisher hatte Harald sich schweigsam verhalten. Jetzt fiel er Eva Altstetten ins Wort. „Sie brauchen mir nichts weiter zu erzählen, Sie Ärmste… Ich kenne den Ausgang dieses Ihres ersten Abenteuers.“
„Das ist unmöglich!“ rief sie entsetzt. „Oder aber – – Merzel hat mich verraten!“ Sie drohte abermals ohnmächtig zu werden, und nur ihre Willensstärke überwand diesen Schwächeanfall. Trotzdem lehnte sie so totenbleich in der Sofaecke, daß ich unendliches Mitleid mit ihr empfand.
Harst nahm Rücksicht auf ihre schwer erschütterten Nerven und faßte sich ganz kurz. „Der Bucklige gab Ihnen eine mit Platzpatronen geladene Pistole und dazu genaue Anweisungen. Sie drangen in die Villa Sieberssen über den Balkon ein und wurden überraschend angerufen, feuerten, Blitzlicht flammte auf, und Sie entflohen…“
Eva preßte die Hände vor das Gesicht.
„Es – – war grauenvoll… Der Mann fiel wie tot um…“ stöhnte sie. „Hat Merzel etwa…“
„Beruhigen Sie sich doch, Sie sind ja völlig schuldlos,“ tröstete Harald die Bedauernswerte. „Was zahlte der Bucklige Ihnen und wo blieb die Pistole, die er Ihnen aushändigte?“
„Dreitausend Mark… Die Waffe forderte er zurück…“
„So … so, – also vorsichtiger als in dem Parallelfall benahm er sich! – Einige Zeit darauf bestellte er sich abermals auf die Brücke und fügte der anonymen Aufforderung eine der Blitzlichtaufnahmen bei – als Drohung. Sie mußten also gehorchen, sie mußten auf dem Stettiner Bahnhof als entlassene Köchin Minna Gustke einem Dienstmann einen Koffer übergeben und dabei den Namen Gustke nennen…“
„Ja,“ hauchte Eva Altstetten zitternd. Ihre Augen hingen bang fragend an Haralds Gesicht. „Woher wissen Sie das alles?!“
„Ich weiß es – durch sehr einfache Schlußfolgerungen, liebes Fräulein Altstetten. Was zahlte der Bucklige Ihnen für diesen Dienst und wie bekamen Sie heraus, daß der lahme Krüppel mit Merzel identisch war?“
„Ich … erkannte ihn schließlich doch an der Stimme, außerdem folgte ich ihm in meiner Limousine. Er betrat Sieberssens Haus, verließ es jedoch sehr bald wieder und schlüpfte in sein eigenes. Ich erhielt von ihm … viertausend Mark Sündengeld… – – Entsetzliche Erinnerungen! Wenn ich nicht eine kranke Mutter hätte, lebte ich nicht mehr…“
„Näherte sich Merzel Ihnen noch fernerhin als Bewerber?“
„Nein…“
„Und weshalb interessierten Sie sich für Erwin Tobeck? Weshalb wollten Sie ihn heute ansprechen?“
Eva bat zunächst um ein Glas Wein. Sie trank hastig. Ihre Wangen röteten sich. Etwas verlegen erwiderte sie: „Mein Interesse für Tobeck, das ich nicht leugne, wurde zuerst dadurch geweckt, daß ich feststellte, wie häufig ihm der Bucklige nachschlich. Ich wollte Tobeck warnen und suchte seine persönliche Bekanntschaft. Doch dann benahm er sich so ungezogen, und dies muß bei ihm volle Absicht gewesen sein, daß er mich zwang, ihn fernerhin zu übersehen.“
Harst, der seinen Sessel dicht an das Sofa gerückt hatte, griff nach ihrer Hand. „Fräulein Eva, Tobeck wird schon einen Grund für sein Benehmen gehabt haben. Er muß irgendwie Ihre dunklen Beziehungen zu dem Buckligen aufgespürt haben. – Wissen Sie, daß Tobecks Freund Halling verwundet in der armseligen Wohnung liegt?“
Sie nickte nur.
„Und ahnen Sie, wer Fritz Hallig verwundete?“
„Ja. Vielleicht Kapitän Sieberssen…“ – Sie errötete wieder. „Ich schäme mich fast, aber ich habe die Freunde … regelrecht … beobachtet… Ich stand in einem der Laubengärten unweit der Villa des Kapitäns, als das Magnesiumslicht aufflammte und als Tobeck hinterher den armen Halling heimwärts schleppte…“ Dann flammte ihr Antlitz in leidenschaftlichem Haß auf… „Dieser Merzel ist ein Verbrecher!! Sie sollten ihn unschädlich machen, Herr Harst.“
„Das ist schon geschehen,“ erwiderte Harald sehr bestimmt. „Merzel wird sich nur noch wenige Stunden der Freiheit erfreuen.“
Wir drei schraken leicht zusammen. Draußen hatte es ungestüm geläutet…
8. Kapitel
Merzel ändert das Haupt.
Ich ging öffnen. Vor mir stand der regennasse Tobeck.
„Entschuldigen Sie, Herr Schraut, daß ich so spät noch störe… Ist Fräulein Altstetten hier?“
Seine Worte überstürzten sich… Tiefste Sorge klang deutlich aus seiner letzten Frage heraus.
Harald erschien im Flur.
„Ah, – Herr Tobeck‥! Sie kommen wie gerufen. Können Sie chauffieren?“
„Ja, natürlich…“
„Legen Sie ab… – Fräulein Eva wird sich freuen, lieber Tobeck, Sie hier begrüßen zu können.“
Und ob sie sich freute! Erst war sie etwas verwirrt und befangen. Es gehörte wirklich nicht viel Menschenkenntnis dazu, die Empfindungen der beiden für einander herauszumerken. Auch Tobeck war etwas unsicher, als er sein spätes Erscheinen begründete.
„Ich sah Sie gegen halb elf ausgehen, gnädiges Fräulein, und da Sie nicht heimkehrten und mir auch aus den Augen kamen, wurde ich ein wenig besorgt…“
„Sehr besorgt!“ verbesserte Harald.
Eva Altstetten streckte Tobeck die Hand hin. „Ich danke Ihnen, mein lieber Freund‥!“ Der Blick, den sie ihm schenkte, drückte mehr als Dank aus.
Harald bereitete diesem lyrischen Intermezzo schnell ein Ende. „Sie beide haben mit Doktor Merzel eine Rechnung auszugleichen, die nicht gering ist. Ich will Ihnen dazu Gelegenheit geben. Hören Sie genau zu…“ – – –
Zum Schluß seiner Ausführungen machte er Tobeck darauf aufmerksam, daß dieser im Stall Pinsel und Farbtöpfe finden würde. Aber seine allerletzten Sätze lauteten:
„Und nun noch eins, lieber Tobeck. Sie haben bereits indirekt zugegeben, daß nicht lediglich der Wunsch, Ihren Freund Halling einer besonderen Energiekur zu unterwerfen, Sie nach Berlin geführt hat. Wollen Sie nicht offen erklären, welche Beziehungen zwischen Ihnen und Kapitän Sieberssen insgeheim bestehen? Sie würden mir dadurch das Endglied zu einer Kette von Kombinationen liefern, das mir noch fehlt.“
Tobeck schaute Harald offen und freimütig an. „Es tut mir leid, Herr Harst… Ich kann es nicht, ich darf es nicht. – Wirklich nicht.“
Wenige Minuten später ließen wir das verliebte Paar allein, nachdem Harald sowohl Eva als auch Tobeck eine Schußwaffe übergeben hatte. –
– Etwa um dieselbe Zeit arbeitete Doktor Hugo Merzel wieder einmal in seinem Dachlaboratorium bei dicht geschlossenen Vorhängen. Er trug seine Gummischürze, rauchte Zigaretten und krempelte nun die Ärmel auf, um an einem Wachskopf einige Veränderungen vorzunehmen. Nichts an ihm verriet den großen Verbrecher. Er glich mehr einem Künstler, er war es auch auf vielen Gebieten.
Der Frauenwachskopf, den er unlängst hergestellt hatte, war ihm tadellos gelungen. Voller Befriedigung musterte er das schielende Haupt, dessen Gesichtsausdruck eine lähmende Furcht verriet.
‚Es ist zu naturgetreu,’ dachte Merzel mit einem sanften Lächeln. Nur in seinen Augen flackerte triumphierender Hohn. ‚Auch die Frisur muß anders werden. Man könnte Anstoß daran nehmen. Ich hätte mich nicht zu eng an das – hm ja – lebende Modell halten sollen…’
Er setzte sich, griff nach allerlei Instrumenten und verlieh dem abscheulichen Haupt ein anderes Aussehen.
Dabei pfiff er zuweilen einige Tangotakte oder ging zu leisen Selbstgesprächen über.
Draußen herrschte jetzt Nebel. Grau und dick kingen die Herbstschwaden zwischen den hohen Linden des Vorgartens…
Die Straßenlaternen waren nur matte Lampions, und die hellen Fenster der Villen glotzten durch die grauen Schwaden wie die Augen vorsintflutlichen Ungetüme…
Alle Geräusche erstarben in diesem Gebräu zu ungewissen Akkorden gedämpfter Jazzmusik…
Die Weltstadt schien dahinzuwelken wie ein bleichsüchtiges Fabelwesen…
Es war so recht eine Nacht für das Ungewöhnliche, Abenteuerliche und … für Überraschungen…
Es war eine jener Nächte, in denen das Unheil umherzuschleichen scheint wie ein Gespenst mit mordgierigen Krallenhänden… –
Lautlos näherten sich zwei Gestalten dem Haus des Doktor Merzel, lautlos lauterten sie, lüstern auf Erfolg, geduldig auf ihre Stunde des Sieges…
Der Kampf war noch nicht vorüber…
Der eingekreiste Gegner war kein Feind von nur Durchschnittsmaß. Das wußten die beiden, die nun den Vorgartenzaun Eisenstab um Eisenstab abtasteten, – die mit Alarmvorrichtungen rechneten und sich nicht vorzeitig verraten wollten.
Der Feind war schlau, überschlau.
Welche unendliche Mühe mochte es ihm bereitet haben, all diese Gitterstäbe beweglich zu machen, so daß sie durch eine bestimmte Belastung millimeterweit herabglitten und einen Klingelkontakt schlossen‥!
Aber die beiden, die nun trotzdem diesen ‚Alarmzaun’ überstiegen, waren erprobte Kämpen gegen die Welt der Rechtsbrecher.
Ein Doktor Merzel müßte noch geschickter sein … noch klüger…
Die dicke Linde, die da unweit des Zaunes wie ein Riese mit tausend Armen in Nebel trutzig emporragte, war den beiden eine bequeme Leiter.
Und doch blieben sie vorsichtig…
Mehr als vorsichtig…
Selbst die Linde hatte ihre Tücken…
Feine Drähte…
So fein wie Frauenhaar…
„Eine moderne Verbrecherburg!“ flüsterte der eine…
„Eine Hölle, die ein Teufel hütet!“ hauchte der andere zurück…
Grau wie riesige Fledermäuse kletterten sie von Ast zu Ast…
Die Äste ragten über das Glasdach des einstigen Ateliers hinweg…
Unter den beiden grauen Schatten lag nun die eisenumrandete Luftscheibe vom Laboratorium des Doktor Merzel.
Minuten verstrichen… –
Merzel arbeitete und pfiff… Pfiff Walzer, Tangos, lächelte…
Das Lächeln derer, die erhaben sind über Gut und Böse…
In Merzels Schoß ruhte der wächserne Frauenkopf. Eine Spiritusflamme brannte und zischte…
Als Merzel den Wachskopf stellenweise erhitzt hatte, wobei etwas Qualm entstanden war, öffnete er die Scheibe mit Hilfe einer Zugschnur.
Er fühlte sich vollkommen sicher, selbst den Mann fürchtete er nicht, der sich zuweilen als Zauberkünstler im Lösen von Problemen aufzuspielen beliebte. Das müßte ja gerade schon ein Übergenie sein, das ihm, Doktor Hugo Merzel, auf die Spur und hinter die Schliche kommen wollte!
Er lachte herzlich…
Harst!! Nur eine komische Figur!
Was hatte es schon auf sich, daß dieser Schnüffler samt seinem Freund heute bei ihm gewesen war?! Was hatte es auf sich, daß der Anschlag auf das Mädchen und seinen Doppelgänger heute abend mißglückte?!
Seine Fäden waren zu fein gesponnen, so fein – daß sie unsichtbar blieben.
Er pfiff, pinselte, prüfte sein Werk, wieder und wieder.
Dann nahm er eine neue Zigarette, schaltete das Licht aus und schritt mit dem schielenden Haupt in der Hand die matt erleuchtete Treppe hinab.
Die ‚Fledermäuse’ regten sich…
Harst flüsterte mir zu: „Nun wird es sich herausstellen, ob meine Kombinationen bis ins einzelne zutreffen.“
„Willst du durch das Luftfenster einsteigen?“
„Nein… Ich möchte noch einige Zeit leben. Glaubst du, daß ein Satansgenie wie Merzel sein Haus nicht mit teuflischen Einrichtungen gespickt hat‥?! Er hat’s! Klettern wir hinab, was ich aus der Nähe sehen wollte, habe ich gesehen: den Wachskopf der schielenden Haushälterin Therese Bartz!“
Die Bäume troffen vor Nässe… Gegenüber im Erdgeschoß des Kapitäns waren zwei Fenster hell erleuchtet. Wir kauerten nun an der Gartenpforte, bemerkten auf einem der geschlossenen Vorhänge den Schatten des Kopfes Sieberssens, der sich zuweilen bewegte, der eine kurze Pfeife rauchte und wahrscheinlich mit Therese Bartz sich unterhielt. Vorhin, als wir die Linde erkletterten, hatte der Kapitän völlig regungslos dagesessen. Jetzt tauchte auch die Haushälterin auf, verschwommen nur, sie setzte sich, hielt mit beiden Händen eine Zeitung…
Nachtspuk war’s…
Gespenster gingen um…
Ich fror – nicht vor Kälte… Ein Grauen kroch mir über den Rücken…
Gespenster gingen um… – Ich ahnte die Wahrheit, aber die Zusammenhänge kannte ich nicht.
Weshalb hockten wir hier in Nebel?! – –
Zehn Minuten vergingen… Dann stand Sieberssen auf, das Licht erlosch, und auch das Nebenzimmer wurde dunkel.
„Los!!“ kommandierte Harald, als etwa fünf Minuten verstrichen waren…
Er war mit einem Satz über den Zaun hinweg, dann läutete er… Läutete bei Kapitän Sieberssen, bei einem Gespenst…
Als er auf den Knopf gedrückt hatte, wußte ich nunmehr genau, was geschehen würde.
Und es geschah! Eine heisere, knarrende Stimme rief uns durch die Tür zu: „Was wollen Sie schon wieder hier?! – – Scheren Sie sich zum Teufel!! Kommen Sie morgen mittag halb Eins wieder!“
Nachtspuk war’s… Gespenster gingen um…
9. Kapitel
Merzels Patienten.
Harst wählte dann eins der Kellerfenster zum Eindringen in die Villa. Ich kann mich hier nicht mit Einzelheiten aufhalten. Wir entdeckten acht Alarmanlagen, machten sie unschädlich und standen im vorderen Flur. In der Diele unweit der Haustür war auf einem Wandbrett ein kleines chinesisches Lackschränkchen aufgestellt, in Wahrheit ein Lautsprecher mit besonderen Vorrichtungen. Als Harald die richtigen Drähte gefunden hatte, ertönte die knarrende, heisere Stimme von neuem und sprach genau dieselben groben Sätze.
Nur mit unseren halb verdeckten Taschenlampen durchsuchten wir die Erdgeschoßräume. Vor Sieberssens Schlafzimmertür spürten wir Brandgeruch. Wir drangen ein, dünne Schwaden von gelbem Rauch durchzogen den Raum, die Holztäfelung schwelte, und dicht daneben standen Packkisten, mit Holzwolle gefüllt. Die Verbindungstür zum Zimmer der Haushälterin war weit geöffnet. Auch dort fanden wir einen Brandherd: Brandstiftung!
Still und verbissen schauten wir in die Gesichter der in ihren Betten liegenden beiden Bewohner der Villa. Kapitän Sieberssen und Therese Bartz waren tot, die Leichen noch warm… Sie zeigten keinerlei äußere Verletzungen.
Wieder lief mir ein Frosthauch über den Rücken hin. Harald ergriff eine Wasserkaraffe, löschte die Glut und führte mich zum Kellereingang zurück. Er sprach kein Wort. Sein Gesicht war wie versteinert. Nicht einmal den überreichen, wertvollen Sammlungen des menschenscheuen Millionärs hatte er einen Blick geschenkt.
Ich war froh, als wir die qualmerfüllten Räume verlassen hatten und wieder draußen im Nebel standen.
Über Harsts weitere Absichten blieb ich völlig im Unklaren. Nur eins fiel mir auf, hinter einem der Vorgartenbäume stand ein Mann im dunklen Wettermantel, der uns leise zuraunte:
„Bechert!! – Alles zur Stelle, Harst!“
Also Kriminalpolizei‥! Auch davon hatte ich nichts geahnt.
Harald raunte dem Kommissar hastig zu: „Auf keinen Fall greifen Sie ohne mein Signal ein, Bechert! Die Dinge haben sich zwar eiliger zur Endkatastrophe entwickelt, als ich es voraussehen konnte, aber die Dispositionen bleiben dieselben. – Wiedersehen…“
Ein Auto kam die einsame Gasse langsam und dauernd hupend entlang. Es war ein kleiner Lieferwagen. In Leuchtfarbe trug er die Reklameaufschrift einer Wurstfabrik.
Dann stoppte das Auto unweit der Gartenpforte des toten Kapitäns, der Chauffeur und sein Begleiter, beide offenbar stark angetrunken, sprangen fluchen ab und öffneten die Motorhaube, beschimpften sich gegenseitig, lachten, vollführten allerlei Unfug und ließen eine umfangreiche Flasche von Mund zu Mund gehen.
Letztlich flog drüben bei Merzel ein Erdgeschoßfenster auf. Der Doktor im Schlafanzug beugte sich heraus und beleuchtete die Angetrunkenen mit einer grellen Karbiblaterne.
„Was soll der Lärm?! Unerhört!! Mitten in der Nacht!! Ich verbiete mir diesen Unfug!“
Die Antwort, die er erhielt, ist im Druck nicht recht wiederzugeben… „… Männeken, sei friedlich‥! Wir haben den Motor schon wieder im Ordnung… Wir ruhen uns nur’n bißken aus… Der vafluchte Nebel! Verirrt haben wir uns! Müßten längst in der Garage sein!“
Harald lief über die Straße, ich dicht hinter ihm.
„Dr. Merzel!! Hier Harst!!“
Merzels große Laterne schwenkte herum.
„Wie?! Sie hier?!“ rief er uns zu. „Was gibt’s?“
Seine Stimme klang unsicher und unfreundlich.
„Ich wollte nur fragen, wie es Ihren beiden Patienten geht, Doktor,“ erklärte Harald und nahm hinter einem Baum Deckung. „Mir ist bekannt geworden, daß die Köchin Minna Gustke von Kapitän Sieberssen ermordet und in der Abfallgrube verscharrt wurde – und daß Sieberssen und seine Haushälterin vorher von Einbrechern angeschossen und von Ihnen heimlich in Ihrem Haus seit einiger Zeit behandelt werden. Öffnen Sie uns! Ich möchte mich von dem Zustand Ihrer Patienten überzeugen, oder – – ich rufe die Kriminalpolizei herbei, die ganz in der Nähe im Laubengelände eine Razzia vornimmt. Wenn Sie sich von dem Verdacht reinigen können, die Einbrecher gedungen und bewaffnet zu haben, würde es mich freuen.“
Krach!! – Das Fenster war zugeflogen, – die Vorhänge fielen zusammen, das Licht erlosch…
Harst donnerte gegen die Haustür…
„Öffnen Sie!! – – Öffnen Sie, oder…“
Er brüllte… Urplötzlich schwieg er.
„Nun ist der bereits unten… – – Nun eilt er unten in die Villa Sieberssen hinein,“ meinte er leise… „Nun müssen wir verschwinden… Er wird uns beobachten…“
Wir liefen die Gasse hinauf… Harald brüllte von neuem:
„Polizei – – Polizei!!“
Aus Sieberssens Garten schlüpfte eine Gestalt auf den Lieferwagen zu. Der Fahrer und sein Begleiter standen einige Schritte entfernt. Der Mann schwang sich auf den Vordersitz, der Motor sprang an, das Auto sauste von dannen… –
– Eine Viertelstunde später warf sich ein bleicher, erschöpfter Mann in einer eleganten Junggesellenwohnung am Fehrbelliner Platz in einen Klubsessel und tastete mit zitternder Hand nach einem Likörglas.
Dr. Hugo Merzel beruhigte sich allmählich. Nur eine wilde, unsinnige Wut gegen diesen Harst blieb in ihm lebendig und äußerte sich in gelegentlichen Flüchen.
Trotzdem: Hier war er geborgen! Hier kannte man keinen Doktor Merzel, der Mieter hieß M. Hugo und war Chemiker…
Merzel lachte… Er hatte zwar die Hauptpartie verloren, aber auch Harst konnte ihm nun nachpfeifen‥! Den Lieferwagen der Wurstfabrik, der ihm so überaus gelegen gekommen war, hatte er drüben am Hohenzollerndamm einfach stehen lassen. Nun mochten sie Merzel nur suchen!! Die Geheimrätin Altstetten hatte er gründlich ausgeplündert. Die Beute war in bar vorhanden‥!
Wieder lächelte er… Trank von neuem…
Dann ging er in sein Schlafzimmer, färbte sich den Bart und ordnete sein Haar anders, setzte eine Hornbrille auf und kam nach längerem Überlegen doch zu dem Entschluß, Berlin zu verlassen…
Aus allen möglichen Verstecken suchte er sein Geld zusammen, ein großes ergaunertes Vermögen…
Als er nun die Haustür aufschloß und mit seinem kleinen Koffer auf die Straße trat, sprangen ein paar Gestalten zu…
„Hier Kriminalpolizei!“
Handschellen knackten…
„Pech!!“ sagte Merzel nur achselzuckend mit eherner Ruhe. Als er den Kopf wandte, gewahrte er Eva Altstetten und Erwin Tobeck.
„Fräulein Eva und ich saßen nämlich im Wagenkasten Ihres ungetauften Lieferwagens und folgten Ihnen, Sie…“
„Bitte, bleiben wir höflich,“ fiel Merzel ihm fast liebenswürdig ins Wort. „Ich habe die Partie endgültig verloren… Aber ob Sie dabei etwas gewinnen, hängt von mir ab.“
10. Kapitel
Der Erbe des Kapitäns.
Die Villa Sieberssen war hell erleuchtet. Kriminalbeamte eilten hin und her… Nur im Balkonzimmer droben, mit dem ich dieses Abenteuer eingeleitet habe, saßen ernste Herren, ein junges Mädchen und ein Gefesselter, der verbindlichst alles zugab, was Harst ihm vorhielt.
„Herr Polizeipräsident,“ begann Harald in seiner knappen, präzisen Art, „Merzel gehört zu jenen verbrecherischen Naturen, denen jede Schätzung für Gut und Böse fehlt. Seit langem beherrschte er als ‚der Bucklige’ die hiesige Unterwelt. Ganze Legenden haben sich um seine Person gesponnen. Als er hörte, wie reich der Sonderling Sieberssen war, faste er einen teuflischen Plan, sich dessen Vermögen zu verschaffen. Als Arzt schlich er sich in das Vertrauen des menschenscheuen Mannes ein, und sehr bald…“
„Es war nicht leicht,“ warf Merzel mit Nachdruck ein. „Sieberssen war außerordentlich argwöhnisch.“
„Das glaube ich. Ihnen gelang es trotzdem. Dann begannen Sie mit Ihren fein ausgeklügelten Ränken. Zunächst sorgten Sie dafür, daß die Köchin entlassen wurde. Wir fanden sie ermordet und hinten in der Zementgrube verscharrt. Welche Rolle Sie Fräulein Eva dabei spielen ließen, werden Sie kaum ableugnen.“
„Bewahre!!“ Merzel verneigte sich leicht.
„Dann gingen Sie einen Schritt weiter: Sie ließen bei Sieberssen durch Fräulein Eva einbrechen, warnten jedoch den Kapitän vorher anonym. So kam es, daß Fräulein Eva den Kapitän niederschoß.“
„Es war nur eine leichte Schulterverletzung,“ erklärte Merzel voller Genugtuung. „Sie genügte gerade, den Kapitän zu veranlassen, heimlich sich von mir gesund pflegen zu lassen.“
„Und die Drohbriefe an ihn?“ fragte Harst gespannt. „Nur durch Drohbriefe können Sie ihn dazu bewogen haben, sich bei Ihnen zu verbergen und das Spiel mit der Männerpuppe mit Sieberssens Wachskopf der Haushälterin als notwendig hinzustellen.“
„Natürlich,“ nickte Merzel. „So war’s. Es ging sehr leicht. Der Kapitän hatte erbitterte Feinde von seiner Seemannslaufbahn her.“
„Jedenfalls hatten Sie ihn nun insgeheim bei sich im Haus. – Es wiederholte sich ein ähnlich niederträchtiges Spiel…“
„Verzeihung, – ein sehr geschicktes Spiel,“ korrigierte der Doktor bereits. „Ich mußte die Gustke töten, damit nachher, wenn die Villa niedergebrannt war und die Reste Sieberssens und der Theresa Schwarz gefunden würden, Sieberssen selbst als nicht einwandfreier Charakter erschien, der eben die Diebin Minna – in Wahrheit hat Sie nie gestohlen, sondern ich – aus Wut und Rache beseitigt hatte. War das nicht ein geschicktes Spiel?“
„Ich sage: Ein niederträchtiges Spiel mit Tobeck und Halling! Diesmal galt es der in der Villa allein zurückgebliebenen Haushälterin. Bemerken möchte ich noch, daß Sie inzwischen unter Benutzung uralter Keller eine heimliche Verbindung unter der Gasse hinweg zwischen beiden Häusern hergestellt hatten. Als Tobeck und Halling hier in das Balkonzimmer eindrangen, hatten Sie der Therese Bartz eine Pistole übergeben und hofften, daß die Bartz vielleicht Tobeck erschießen würde. Denn – Tobeck ist ein uneheliches Kind des Kapitäns…“
Merzel blickte Harald überrascht an. „Erstaunlich! Auch das haben Sie erraten?!“
„Wie Sie sehen und hören – ja! – Als Therese Bartz nun ebenfalls bei Ihnen als Patientin weilte, begann das tragische Kasperletheater mit den Wachsköpfen und den menschlichen Puppen, die am Fenster saßen, und mit dem ‚groben’ Lautsprecher. – In dieser Nacht ermordeten Sie schließlich den Kapitän, der Sie zum Erben eingesetzt hatte, durch Gift, ebenso die arme Haushälterin und wollten die Villa in Brand gesteckt und Tod der beiden durch Verbrennen vortäuschen…“
„Was mir auch gelungen wäre,“ schaltete der Doktor bedauernd ein. „Sie verdarben mir alles… Tobeck sollte sterben, auch das stimmt, denn Sieberssens Testament setzte mich nur zur Hälfte als Erben ein, falls sein Sohn gefunden würde…“
Harald wandte sich angewidert ab.
„Lieber Tobeck, nun zu Ihnen… Sie kannten Ihren Vater, aber Ihr Vater Sieberssen wußte nicht, wo sein Kind geblieben war. Sie kamen nach Berlin, um mit Sieberssen irgendwie die Verbindung aufzunehmen und festzustellen, ob er für Sie etwa an Vatergefühl empfände… – Ich kondoliere und gratuliere Ihnen gleichzeitig. Meine Schuld ist es nicht, daß die Dinge in dieser Nacht so einen tragischen Ausgang nahmen. Ich glaubte, Merzel würde Ihren Vater völlig gesund pflegen und dann einen Mörder wählen, der als Einbrecher ganze Arbeiter tat… Erst heute entnahm ich Ihrer erneuten Weigerung, die wahren Gründe Ihrer Reise nach Berlin zu nennen, daß Sie Sieberssens Sohn sein könnten. An eine so abgrundtiefe Verruchtheit Merzels hätte ich nie geglaubt, denn…“
Trotz seiner Fesselung war der Doktor aufgesprungen.
„Gestatten Sie mal, Herr Harst: Verruchtheit?! Was ist das für ein häßliches Wort! Ich bitte doch, daß Sie in allererster Linie mein Genie anerkennen!“
Seine Augen flackerten. Er war vor Empörung fast weiß im Gesicht geworden.
Harald warf dem Polizeiarzt einen langen Blick zu. Der nickte ernst zurück.
– Merzel kam in eine Irrenanstalt zur Beobachtung und verstarb dort nach einem Jahr an Paralyse. –
(*)
– Wintermärchen…
Berlin lag unter Schnee begraben… An einem Frostklaren Dezembertag fuhr der Dampfer ‚Wintermärchen’, ein großer Glaskasten, die Spree entlang und durch die Seenkette mit ihren weißgepuderten Uferwäldern.
An einem großen Tisch saß in der behaglichen Kajüte eine frohe Gesellschaft bei einer Punschbowle beieinander: Fritz Halling, dessen Eltern, das Brautpaar Eva und Erwin, die Geheimrätin und wir beide…
Berlins wundervolle Umgebung zeigte uns all ihre Reize im weißen Schmuck des Frostes vom ‚Wintermärchen’ aus…
Nur ein einziges Mal streifte das Gespräch die jüngste, traurige Vergangenheit: als Eva Harald fragte, was eigentlich aus den beiden Wachsköpfen geworden sei.
„Fragen Sie Schraut… Er verwaltet unser Museum,“ erwiderte Harst ebenso leise.
Das häßliche Stück, zugleich das tragischste, in diesem Museum ist das schielende Haupt der armen Theresa Bartz. Wenn ich es anschaue, fröstelt’s mich. –
Harst hatte sein Glas ergriffen, und wir tranken auf das Wohl des glücklichen Brautpaares, das sich auf so wunderbare Art gefunden hatte…
Der Punsch war übrigens sehr gut… Der alte Herr Halling verstand sich aufs Punschbrauen…
Und das ‚Wintermärchen’ glitt weiter durch ein echtes Wintermärchen…
Nächster Band:
Harst, der Geistersucher
Das Problem der 3x3