Harald Harst
Band: 349
Von
Max Schraut
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16
1. Kapitel
Der vielbegehrte Jimmy.
Die näheren Umstände des Verschwindens des amerikanischen Millionärs und Junggesellen Thomas Barding aus dem Atlantik-Hotel in Berlin schienen niemals mehr aufgeklärt werden zu können.
Wenn nach einem Vorfall, der die Kriminalpolizei und die Presse aufs eifrigste beschäftigte, drei Wochen verstrichen sind, pflegt bei stetigen Mißerfolgen der Ermittlungen regelmäßig eine gewisse Müdigkeit und Gleichgültigkeit einzutreten.
So auch hier.
Mein Freund und ich hatten den Fall Barding von Anfang an verfolgt, allerdings waren die ersten Nachrichten darüber auch bis zu uns verspätet vorgedrungen…
Die Polizei hatte ihre Gründe gehabt, tagelang zu schweigen.
Die allgemeine Ansicht des Publikums ging schließlich dahin, daß Thomas Barding, nachdem er von der Bank eine größere Summe abgehoben gehabt hatte, in eine Falle gelockt und beseitigt worden sei.
Auch die Zeitungen bekannten sich zu dieser Lösung, obwohl gewisse Umstände sehr widerspruchsvoll erschienen.
Harst hatte schon letztens einmal geäußert, es sei sehr bequem, ein Kapitalverbrechen als Lösung zu servieren, dazu gehöre nicht viel Erfindungsgabe. Es sei dies eben ein fauler Ausweg… —
Inzwischen war der Frühling siegreich in Berlin eingezogen, und die warmen, sonnigen Maitage füllten die Terrasse des Hotelparkes jeden Nachmittag mit einer erlesenen, buntgemischten Gesellschaft.
In der Vorhalle des Atlantik saßen zwei Herren, die erst gestern von auswärts eingetroffen waren und nun den Strom der einziehenden Nachmittagsgäste an sich vorüberfluten ließen.
Wir beide waren von Berlin abgereist, um sofort wieder nach Berlin zurückzukehren. Weshalb mein Freund so urplötzlich den Fall Barding dergestalt als neue Aufgabe für uns erwählt hatte, wußte ich nicht. Er hatte nur gemeint, nun sei es Zeit, einzugreifen.
Drüben im Hintergrunde der Halle arbeitete der Liftboy Jimmy Parson flott und gewandt, fuhr die Hotelgäste in die oberen Stockwerke, erschien wieder und lehnte müde und nachdenklich an der geöffneten Fahrstuhltür.
Er war der einzig wirklich wichtige Zeuge für die geheimnisvollen Nebenumstände des Barding-Problems.
Der Fall war ein Problem. Nicht jede Kriminalaffäre verdient diese Bezeichnung.
„Um sechs wird Jimmy abgelöst“, sagte Harst zu mir und betrachtete weiterhin das Profil der jungen Dame, die einige Meter weiter in einem Klubsessel ihre Zigarette rauchte und mit dem Gesicht nach Jimmy hin saß.
Um uns kümmerte sie sich nicht.
Die Dame hatte nichts irgendwie Auffälliges an sich. Vielleicht war sie zu raffiniert schlicht-elegant gekleidet. Auch hierbei gibt es Übertreibungen.
Ihr Profil war von klassischem Schnitt, die Mundpartie verriet Energie, aber um die Mundwinkel lagerte ein schwermütiger, bitterer Zug.
Jim Parson wurde um sechs Uhr wirklich abgelöst. Als sein ebenso jugendlicher Kollege den Dienst übernommen hatte, erhob sich die dunkelblonde Fremde, schritt auf die Straße hinaus und bog nach rechts in die schmale Seitengasse ein, wo jener Nebenausgang des Riesenhotels lag, den Jimmy stets benutzte.
In einer Autotaxe, deren Chauffeur bereits instruiert war, warteten wir beide die weitere Entwicklung der Dinge ab. Ich merkte, daß Harst sowohl die junge Dame als auch Jim Parson bereits vom Sehen kannte und allerlei über sie wußte. Wahrscheinlich hatte er wieder einmal ohne mich die Vorarbeiten erledigt.
Jim, jetzt in ‚Zivil‘ recht keck aussehend, trat aus der Tür, erblickte die Dame und schnitt sofort ein sehr finsteres Gesicht.
Als sie fast flehend auf ihn einsprach, schüttelte er wiederholt den Kopf, ließ die Fremde schließlich recht unliebenswürdig einfach stehen und schlenderte zur nächsten Autobushaltestelle.
Jetzt wurde die Sache erst spannend, denn das junge Mädchen mit dem klassischen Profil nahm eine Taxe und folgte dem Autobus, der den halbwüchsigen Jungen offenbar heimwärts bringen sollte. Zwischen der Taxe der Dame und der unseren konnten wir sehr bald einen Privatwagen, gesteuert von einem einzelnen Herrn, feststellen.
Wir waren also nicht die einzigen Beobachter Jims und der fremden Schönheit.
Harst schien durch diese Tatsache sehr befriedigt zu sein, zündete sich mit leisem Schmunzeln eine Zigarette an und meinte erläuternd:
„Die Dame ist eine Miß Honoria Webbs und war Bardings Privatsekretärin. Sie wohnt noch im Atlantik, und vorgestern wurde ich ähnlich wie wir heute Zeuge, wie Jim sie mit ihren Fragen schroff abwies. Jimmy Parson ist übrigens das einzige Kind einer Witwe, die sich im Stadtteil Moabit als Besitzerin eines kleinen Konfitürengeschäfts schlecht und recht durchschlägt. Ihr Mann war Deutschamerikaner, daher der Vorname Jimmy. Wer der zweite Verfolger Jims da vor uns ist, weiß ich nicht. Der Mann ist eine Neuerscheinung. Beachte, daß sein Auto ganz neu ist, merke dir die Nummer 131 311, also dreizehn, dreizehn, elf, und vergiß nicht, daß der Herr, soweit ich ihn halb von hinten bisher taxieren konnte, mit seinem Spitzbart einem Seemann gleicht, — auch das sonngebräunte Gesicht spricht dafür.“
Ich merkte mir das alles.
Die Dinge nahmen erst in Moabit am Ende der Turmstraße eine entscheidende Wendung an.
Jim Parson mußte geahnt haben, daß er verfolgt wurde. Er fuhr — Harst machte mich darauf aufmerksam — über sein Ziel hinaus und verschwand blitzschnell in einem Eckhause, wobei er den Seitenaufgang benutzte.
Unsere Taxe hielt, wir stiegen aus, schlenderten auf der anderen Straßenseite weiter und bekamen nun den ‚Seemann‘ auch von vorn zu Gesicht. Der Unbekannte hatte sehr scharfe Züge, trug Ledermantel und Lederkappe und hatte nur Augen für Miß Honoria Webbs, die sichtlich enttäuscht umkehrte und denselben Weg zurückfuhr.
Wir beide standen nun gegenüber dem Eckhause, links von uns hielt etwa dreißig Meter entfernt das Auto des Fremden, eine Anschlagsäule bot uns Deckung, und noch weiter zurück hielt unsere jetzt leere Taxe mit dem eingeweihten, zuverlässigen Chauffeur.
Als fünf Minuten verstrichen waren, verriet mein Freund, daß er ungeduldig und wohl auch besorgt wurde.
„Unbegreiflich!“, murmelte er. „Vorgestern begab sich Jim doch direkt nach Hause. Was gestern allerdings vorgefallen ist, kann ich nicht sagen. Es war ein Fehler von mir, die Beobachtung einen Tag einzustellen. Ich glaubte, ich wüßte genug. Man sieht, wie leicht man Fehler begeht und wie sich solche Unterlassungssünden rächen.“
Das Eckhaus war ein sehr altes Gebäude und hatte auch eine Toreinfahrt, die weit offenstand. Wir konnten so in den Hof irgendeiner kleinen Fabrik hineinschauen, wo drei Lastautos, Berge von Kisten und Fässern und zwei kleinere Lieferwagen den beengten Raum fast völlig ausfüllten.
Plötzlich erschienen dann zwei Arbeiter aus der Tür der Fabrik, gleichzeitig gab der Mann im Auto 131311 mit seiner Hupe ein besonderes Signal, die Arbeiter traten in den Fabriksaal zurück, nachdem sie zweifellos dem Signale gelauscht hatten und erschienen von neuem mit einer großen Kiste, die sie in den einen Lieferwagen stellten. Hierauf fuhren sie langsam mit dem Lieferauto auf die Straße hinaus.
Harst pfiff leise durch die Zähne.
„Sehr unbequem für den armen Jungen!“, sagte er mit eigentümlicher Betonung.
„Er steckt in der Kiste?“
„Natürlich…! — Der ‚Seemann‘ geht weit schärfer ins Zeug als Miß Webbs. — Schnell, — zu unserer Taxe! Die Geschichte kommt in Fluß!“
Die Geschichte kam sogar an den Fluß, nicht nur in Fluß.
Weit voraus fuhr der Lieferwagen, als zweiter folgte der ‚Seemann‘, als drittes Gefährt unsere Taxe.
Wenn man vom Stadtteil Moabit an die Havel will, muß man einen Teil Charlottenburgs durchqueren, gelangt auf die berühmte Heerstraße und sieht dann links den Fluß eingebettet in Grün herüberschimmern.
Ich möchte dem Leser Einzelheiten ersparen. Das Endergebnis war: Die Kiste wurde auf eine große Motorjacht geschafft und mit einem Segel zugedeckt, Der Lieferwagen fuhr zurück, der ‚Seemann‘ stellte sein Auto in einem nahen Restaurant unter und wir beide lohnten unsere Taxe ab und benutzten die günstigste Gelegenheit, uns auf die Jacht zu schleichen.
Es war jetzt bereits dämmerig, und unbemerkt und unangehalten gelangten wir in die Kajüte der Jacht. Es befand sich außer dem armen Jim und uns minutenlang niemand an Bord.
Das große Preisrätsel war nun, wo wir uns hier verbergen sollten. Eine Flußjacht bietet wenig Verstecke. Außerdem kam es darauf an, den ‚Seemann‘ zu belauschen, der doch offenbar den Liftboy gründlichst und mit sanftem Zwang ins Verhör nehmen wollte.
Es blieb uns nichts anderes übrig, als durch die zweite Tür die winzige Kajüte zu betreten. Wurden wir entdeckt, war auch noch nichts verloren. Die Trümpfe hatten wir in Händen.
Alles ging gut. Vorläufig wenigstens… Zunächst hörten wir die Schritte eines einzelnen Mannes über uns, dann folgte ein zweiter, und nun wurde die Jacht losgemacht, der Motor schnurrte und wir gondelten ins Ungewisse hinein.
Mittlerweile mußte es draußen völlig dunkel geworden sein.
Nach zehn Minuten Fahrt hörten wir das Schilf am Ufer rauschen, die Jacht stoppte, zwei Anker platschten ins Wasser, und dann kam für uns die ungeahnte Überraschung dieses an Verwicklungen überreichen Falles…
2. Kapitel
Was Mr. Abermay wissen wollte.
… Schritte polterten auf der Treppe…
„Setz dich, Boy“, sagte eine tiefe, ruhige Stimme, „Du bist hier vor Miß Webbs sicher…“
Der Mann sprach mit unverkennbar englischem Beiklang.
Jim lachte.
„Herr, das war ein feiner Spaß! Die Webbs fürchte ich nicht, aber ihre Spione…“
Die Kajüte hatte elektrische Beleuchtung, und wir konnten durch die fingerbreite Türspalte sowohl den Fremden als auch Jimmy beobachten.
Sie hatten sich rechts auf das Wandsofa gesetzt, der Fremde schob Jim einen Zigarettenkasten hin und rauchte auch selbst eine sehr süßlich-fade duftende Zigarette.
„Herr, ich habe nicht lange Zeit“, meinte Jim ohne alle Scheu. „Mutter wird sich ängstigen, wenn ich zu spät heimkehre…“
Unser ‚Seemann‘ hatte sich inzwischen merklich verändert. Der Bart war verschwunden, dafür trug er eine Hornbrille und einen kurzen Schnurrbart. Aber er war es. Die scharfen Züge ließen sich nicht wegzaubern und verrieten ihn.
„Hier ist zunächst das Geld“, sagte der Fremde ganz geschäftsmäßig. „Wir haben gestern tausend Mark vereinbart… Da — zähle die Banknoten durch, es stimmt.“
Jim, der als Großstadtkind und als Liftboy weit über seine Jahre hinaus reif sein mochte, prüfte jede Banknote und steckte das Bündel dann in seine Tasche.
„Geht in Ordnung, Herr…“, schmunzelte er. „Nun fragen Sie, was Sie wissen wollen.“
„Ich will nur das erfahren, was du der Polizei verschwiegen hast“, erwiderte der Herr mit Betonung.
Jim, der neugierig die Kajüte betrachtet hatte, warf den Kopf in den Nacken.
„Ah, ich ahnte es! — Wie sind Sie dahinter gekommen, Herr… Herr… richtig, Abermay war Ihr Name… Leicht zu merken! Aber May!!… Abermay… !“
„Das muß dir gleichgültig sein, wie… — Ich weiß es. Du hast vieles verschwiegen. Erzähle alles, aber kurz. Beginne mit meines Freundes Thomas Bardings Einzug in das Hotel…“
„Gut, — kurz und klar, Herr Abermay… Also Herr Barding stieg vor etwa fünf Wochen bei uns ab und belegte eins der Luxusappartements im zweiten. Stock, vier Zimmer mit allem Komfort. Er hatte nur seine Sekretärin bei sich, und er war geizig wie alle Amerikaner — entschuldigen Sie… Er gab mir einen Pfennig Trinkgeld, der alte… Mister Dollarmacher, aber zu seiner Sekretärin war er sehr liebenswürdig, fast wie ein Vater…“
„Nannte er sie ‚du‘, — redete er sie im Fahrstuhl vielleicht mit ‚du‘ an?“, fragte Mr. Abermay schnell.
„Und ob! Das habe ich häufig gehört… Soviel Englisch kann ich wirklich schon… Außerdem sprachen sie manchmal auch französisch miteinander…“
Abermay blickte den Jungen von der Seite forschend an.
„Warum hast du dies alles der Polizei vorenthalten?!“
„Weil wir Hotelangestellte über Dinge, die wir über unsere Gäste zufällig erfahren, nicht reden sollen, Herr Abermay“.
„Gut… Weiter… Nannte ihn Miß Webbs auch in vertraulicher Weise ‚du‘ oder benutzte sie sonst eine Anrede, die dir auffiel?“
Jim feixte arglos.
„Onkel nannte sie ihn, — Onkel Tom…“
„War er zärtlich zu ihr?“
Da wurde der Junge ernst und schaute seinen Nachbar fast böse an.
„Zärtlich? — Ja. Aber nicht so, wie Sie vielleicht denken, — nein, — genau so zärtlich nur, wie meine Mutter es zuweilen ist,… wenn sie ihre Sorgen vergißt. Nun, wenn ich ihr die tausend Mark jetzt gebe, ist Mutter fein heraus. Für mich will ich das Geld nicht haben, nein, Herr Abermay, — Mutter ist gut zu mir, und…“
„Worin bestanden diese Zärtlichkeiten?“, fragte der Amerikaner kühl-ablehnend. — Frau Parsons Herzensgüte war ihm gleichgültig.
„In einem Lächeln, in einem warmen Blick… Manchmal in einem leichten Schlag auf die Schulter.“
„Das Verhältnis zwischen meinem Freunde Barding und Miß Webbs, die er erst hier in Deutschland engagiert haben kann, begreife ich nicht“, sagte Abermay nach einer Pause. „Er hat keinerlei Verwandte, er lebte ganz zurückgezogen und…“ — Abermay unterbrach sich, da Jim auf seine billige Armbanduhr geblickt hatte. „Schon gut, — du hast Eile… — Was beobachtetest du am 15. April, also am Tage des Verschwindens meines Freundes? Erzähle nur das, was die Polizei nicht weiß.“
Jim rieb sich kräftig die Nase.
„Es war so gegen zehn Uhr vormittags, Herr Abermay, als Miß Webbs sehr hastig das Hotel verließ… Dann — und dies hatte ich verschwiegen — kehrte sie nach fünf Minuten zurück und sagte zu mir ganz aufgeregt, — sie hatte schon häufiger mit mir gesprochen, und sie redet fließend deutsch: „Jim, sollte jemand Herrn Barding besuchen wollen, so rufe sofort folgende Nummer an… sofort“, — Und dann gab sie mir einen Zettel, auf den sie mit Bleistift die Nummer und noch ein paar Sätze gekritzelt hatte, die ich dem sich am Apparat meldenden Herrn mitteilen sollte.“
Abermay rückte näher an Jim heran.
„Wo ist der Zettel?“
„Den habe ich verloren…“
„Du hast ihn aber doch gelesen… Besinne dich ganz genau, — weißt du die Nummer und das Amt noch? Und was stand sonst noch auf dem Zettel?“
Jim zuckte die Achseln.
„Es war das Amt Uhland… Aber die Nummer — keinen Schimmer mehr! Und das, was ich dem Herrn bestellen sollte, war auch ohne Bedeutung und lautete etwa: „Eilen Sie sofort zu Herrn Thomas Barding, Atlantik-Hotel, und dringen sie in sein Zimmer ein, wenn Sie einen neuen aussichtsreichen Fall sich nicht entgehen lassen wollen“, — so ähnlich war es, und das Letzte stimmt Wort für Wort, denn es erinnerte mich sofort an Kriminalromane…“
Abermay schien durch diese Angaben Jims zuerst etwas außer Fassung geraten zu sein. Er stützte die Stirn in die Hand und fragte erst nach einer Weile:
„Kam denn jemand zu meinem Freunde Barding?“
„Nein, keine Seele… Aber als Miß Webbs um zwölf zurückkehrte, war Herr Barding nirgends mehr zu finden, bis heute nicht, — das wird Ihnen bekannt sein, Herr Abermay… Ein Stubenmädchen will ihm gegen elf Uhr mit Hut und Mantel und auf der Treppe zum Wirtschaftsflügel begegnet sein — allein! Er muß sich durch den Wirtschaftsausgang entfernt haben. Die Polizei hat gerade mich immer wieder verhört, und ich konnte als einziger mit Bestimmtheit bekunden, daß Herr Barding nicht den Hauptausgang benutzt hat…“
Jims letzte Sätze wurden von Abermay unbeachtet gelassen. Vielleicht fügte der Junge deshalb weit eindringlicher hinzu:
„Es kam auch wirklich niemand zu Herrn Barding… Ich habe wie ein Lux aufgepaßt… Miß Webbs hatte mir ja fünf Mark geschenkt… Ich hätte freilich auch ohne die fünf Mark achtgegeben…“
Abermay machte eine fast heftige Handbewegung.
„Sonst noch etwas, Boy?“
„Dja, — — sonst noch?! Eigentlich nein…“
„Eigentlich?!“ Der Amerikaner lachte. „Dieses deutsche Wort ‚eigentlich‘ ist die großartigste Erfindung zur Verhüllung der vollen Wahrheit. Du weißt also doch noch etwas, Junge.“
„Es ist unwichtig, Herr Abermay. Nur Mutter und der tausend Mark wegen sollen Sie auch das erfahren. Herr Barding begab sich doch an jenem Unglückstag auf die Bank und hob 180000 Mark ab. Er verließ das Hotel um Neun und kehrte um halb Zwölf zurück. Das Geld muß er bei sich gehabt haben. Es verschwand zugleich mit ihm.“
„Das ist mir bekannt…“ Abermay wurde etwas ungeduldig.
Jim nickte. „Aber was Ihnen nicht bekannt ist“, meinte er geheimnisvoll, „das ist folgendes. Als Ihr Freund Barding um halb Zehn von der Bank zurückkehrte, trug er die 180000 Mark — es sollen zumeist Hundertmarkscheine und Fünfziger gewesen sein — als flaches Päckchen in der linken Hand. Das Päckchen war zugeklebt, und als Miß Honoria Webbs um zehn das Hotel verließ, hatte sie dasselbe Päckchen bei sich…“
Jims Worte kamen immer zögernder über die Lippen…
„… Es war unrecht von mir, der Polizei hiervon nichts mitzuteilen, aber Miß Webbs war immer zu mir sehr nett gewesen, deshalb behielt ich diese Einzelheit für mich, und als ich später merkte, daß sie von mir allehand herauslocken wollte und daß mir ihre Spione auf Schritt und Tritt auf den Fersen waren, da durfte ich der Polizei nichts mehr von diesen verheimlichten Nebenumständen berichten, — es war leider zu spät dazu, man hätte mir es falsch auslegen können.“
Der Mann, der sich Abermay nannte, musterte Jim flüchtig von der Seite und gab dann seinen Gedanken genau Ausdruck, wie ich es getan hätte.
„Du drückst dich recht gewandt aus, Jim… Und daß sich dein Gewissen regt, gefällt mir gleichfalls an dir. Was wollte die Webbs heute von dir erfahren, als sie dich vor dem Seitenausgang des Hotels anhielt?“
Jimmy Parson mochte durch Herrn Abermays etwas unvorsichtige Bemerkung über des klugen Bürschleins Gewissen erst so recht eingesehen haben, daß er hier eine etwas zweideutige Rolle spielte.
Er zeigte sich plötzlich wenig geneigt, dem Amerikaner zu antworten, sein frisches, etwas sommersprossiges Gesicht wurde verschlossen und finster, und als Abermay nun die Maske fallen ließ und sein Handgelenk packte und ihn recht grob anfauchte, schoß der Junge plötzlich von seinem Sitze hoch, riß sich los, warf das Paket Banknoten auf den Tisch und rief mit ehrlichem Widerwillen:
„Nein, — das alles ist zu unsauber, das würde Mutter niemals gutheißen…! Ich mache nicht mehr mit!“
Nun erst lieferte er den eindrucksvollsten Beweis, daß er kein zu verachtender Gegner war.
Wie ein losgeschnellter Pfeil flog er die Kajüttreppe empor, — wir hörten draußen den unterdrückten Fluch eines Mannes mit einer tiefen Baßstimme, dann vernahmen wir einen lauten Platsch im Wasser, das stärkere Knistern und Rauschen im Röhricht und auch Abermays Stimme, der dem Flüchtling nach oben gefolgt war:
„Bill, das Beiboot loswerfen — — schnell! Der Bengel kann uns eine nette Geschichte einrühren!!“
Ruderdollen quietschen, — dann wurde es still.
Wir waren allein an Deck.
Harst sagte nur, ohne die Stimme zu dämpfen:
„Der Junge hat auch bereits eine nette Geschichte eingerührt!!“
Er betrat die Kajüte, — auf dem Sofa lag noch Abermays Mantel. Er faßte in die Innentasche und holte des Amerikaners schönen Spitzbart sowie ein paar zerknüllte Briefe hervor. Die übrigen Taschen waren leer.
„So, mein Alter, nun wollen wir uns schleunigst empfehlen… Es wird zwar nasse Beine geben, aber ich möchte mich Herrn Abermay erst später vorstellen…“
Als wir an Deck kamen, war es völlig dunkel.
Unbemerkt wateten wir ans Ufer und fanden auch die Hauptchaussee und durch einen Zufall eine leere Taxe, die uns dorthin zurückbrachte, wo Abermay die Holzkiste mit dem braven Jim hatte an Bord bringen lassen und wo er sein Auto untergestellt hatte.
Gegen zehn Uhr abends wußten wir, daß ‚Herr Abermay‘ unweit des Atlantik in einem Pensionat für Ausländer im ersten Stockwerk zwei Zimmer bewohnte und dort als ‚Oberst Stuart Wellesby‘ abgestiegen war.
Daß wir ihn bis zu seinem Pensionat verfolgt hatten, brauche ich kaum zu erwähnen.
‚Bill‘, der Bootsmann mit dem Kellerbaß, war als des Obersten Diener Bill Sauter, zur Zeit im selben Pensionat wohnhaft, gemeldet worden.
3. Kapitel
„Hilfe, — Miß Webbs…!“
An demselben Abend gegen elf Uhr saßen wir in unserem bescheidenen Büro, das zugleich Wohnzimmer und Bibliothek vorstellte, nach einem kräftigen Imbiß bei einer Tasse Mokka beieinander und besprachen den Fall Barding mit jener Gründlichkeit, die mir, der zumeist Zuhörer spielt, mehr Genuß bereitet als irgend eine grobe Sensation.
Harst hatte mir inzwischen die drei zerknitterten Briefe zu lesen gegeben, die er samt den Umschlägen aus ‚Abermays‘ Mantel herausgefischt hatte.
Wenn ich sage ‚zu lesen gegeben‘, so ist das eine Übertreibung. Die Briefe waren an Oberst Stuart Wellesby, Berlin, Parkallee 16, Pensionat Morch, adressiert und stammten aus London. Die Briefbogen, dünnes Überseepapier, enthielten nur Zahlen, also Chiffreschrift. — Harst erklärte hierzu sofort, daß es ein sehr kompliziertes Chiffresystem sei und daß ohne den Chiffreschlüssel eine Dechiffrierung kaum glücken dürfte.
Er saß in seiner Sofaecke, hatte die Füße auf den nächsten Klubsessel gelegt und begann nun sein kurzes Referat mit der einleitenden Bemerkung: die sympathischste Figur in diesem trügerischen Spiel ist Jim Parson.“
„Unbedingt — ein prächtiger Junge!“, pflichtete ich bei.
„Über Thomas Barding, den Verschwundenen, läßt sich wenig sagen. Am 15. April hat er seinen schwarzen Tag und — — ward nicht mehr gesehen. Er holt 180000 Mark von der Bank, kehrt um halb Zehn zurück, um Zehn verläßt seine Sekretärin, die ihn insgeheim Onkel Tom nennt, das Hotel mit dem Geldpäckchen, wie wir nun wissen… Das Übrige setze ich als bekannt voraus. — Zwei Fragen drängen sich jedem Denkenden aus dem scheinbar einfachen Tatbestand sofort auf. Erstens Barding hat Honoria Webbs erst in Deutschland, engagiert — und den Polizei— und Presseberichten wo er sie ‚zufällig‘ kennenlernte. Dies hat Honoria Webbs erklärt, — Es ist Lüge.“
„Allerdings. Die beiden kannten sich längst.“
„Gewiß, mein Alter. — Nun Frage Zwei: Wen sollte unser Freund Jim anrufen, falls Barding während Miß Honorias Abwesenheit Besuch erhielt? — Diese Frage ist fast noch wichtiger als die erste.“
Er schaute mich durch die Rauchwölkchen forschend an, aber ich wußte nichts zu erwidern.
„Rufe dir genau ins Gedächtnis zurück“, meinte Harst bedächtig, „was Honoria dem braven Liftboy auftrug und was auf dem leider verloren gegangenen Zettel gekritzelt war: „Eilen Sie sofort zu Herrn Thomas Barding, Atlantik-Hotel, und dringen Sie in sein Zimmer ein, wenn Sie einen neuen aussichtsreichen Fall sich nicht entgehen lassen wollen…“ — Und der, der angerufen werden sollte, muß hiernach wohl Beamter oder Privatdetektiv gewesen sein, und…“
… Die übliche Kunstpause…
„… und wir haben Amt Uhland, mein Alter… und eine Nummer von Uhland sollte angerufen werden…“
Ich richtete mich mit einem Ruck kerzengerade auf.
„Wir also!“, rief ich atemlos.
„Ja, wir!“, nickte Harst. „Ohne Zweifel wir.“
„Bist du davon wirklich so vollkommen überzeugt?!“, meinte ich nach einer Weile, als in mir doch so allerlei Bedenken hinsichtlich dieser kühnen Schlußfolgerung aufstiegen.
„Restlos überzeugt“, betonte mein Freund ganz schlicht, erhob sich und holte eine unserer Zeitungsausschnittmappen herbei.
„Da, — hier hast du vier Ausschnitte aus der ‚Berliner Morgenschau‘ vom 8., 9., 10., 11 April des Jahres. Thomas Barding ließ sich dieses Blatt jeden Morgen bringen, wie bekannt. Er las Deutsch und sprach Deutsch genau wie die Webbs. In diesen vier Artikeln von vier aufeinanderfolgenden Tagen sind wir genannt. Es handelt sich um den Fall des Getreidespeichers der Morton-Bande…“
„Ja, — ich will diesen Fall demnächst zu Papier bringen, begonnen habe ich bereits.“
„Honoria Webbs wird sich nun“, fuhr Harst ebenso überlegt und sachlich fort, „aus bestimmten Gründen für Kriminalfälle interesssiert und aus diesen Artikeln unsere Namen sich eingeprägt haben, falls sie sie noch nicht kannte. An jenem entscheidenden 15. April erinnerte sie sich, noch rechtzeitig an uns, kehrte schnell um und gab Jim den Zettel…“
Wieder schaute er mich fragend an.
Er erwartete eine Gegenäußerung.
„Honoria wußte, daß Barding in Gefahr war“, erklärte ich zögernd.
„Mag sein, mein Alter… Oder besser, ich will ehrlich sein, sie wußte es ganz genau.“
„Weil sie eben mitschuldig an dem Verschwinden Bardings ist“, behauptete ich etwas kühn.
„Beweise?“
„Mein Gefühl und…“
Harst lächelte und wehrte mit einer tadelnden Handbewegung ab.
„Gefühle schalte aus, mein Alter. Nur klare Tatsachen nützen uns. — Ja, sie ist Mitschuldige, das behaupte ich auch, Sie ist eine äußerst raffinierte Person, diese Honoria, obwohl ihr Gesicht Spuren von Schwermut zeigt.“
Er nahm eine neue Zigarette und beugte sich etwas vor, blickte mich sehr scharf an und erreichte auch, daß ich meine Gedanken nur auf den einen Punkt konzentrierte.
„Als sie um Zehn das Hotel mit 180000 Mark verließ“, sagte er leise, doch um so eindringlicher, „war längst beschlossen, daß Barding verschwinden sollte. Die Webbs wollte das Geld irgendwie in Sicherheit bringen, aber unterwegs fiel ihr ein, daß man sie verdächtigen könnte, sie kehrte um und wagte einen kühnen Schwindel mit Freund Jim, dem Liftboy, indem sie ihm den Zettel und die Anweisung gab, Uhland Nr. 19223 anzurufen, falls jemand Barding besuchte. Das war ihre Rückendeckung, ihre Rückversicherung. — — Du verstehst: Wäre Verdacht auf sie gefallen, hätte sie sich auf Jim und auf den Zettel berufen können. — Aber die Polizei ließ sich durch Honorias klassisches Profil täuschen, und außerdem schwieg Jim über den Zettel und den Auftrag.“
„Ich verstehe“, erklärte ich etwas kleinlaut.
„Doch wohl nicht ganz“, meinte Harst. „Hinterher war es Honoria sehr lieb, daß Jim nichts verraten hatte. Sie hätte ja sonst begründen müssen, woher sie eine Gefahr für Barding hatte voraussehen können. Eine Lüge wird sie sich schon zurechtgelegt haben, aber Lügen müssen schon sehr geschickt aufgebaut sein, wenn sie der sehr findigen Polizei trotzen wollen, die sehr tiefgründige Fragen stellt. — Auch Oberst Wellesby stellte an Jim Fragen, die dieser nicht mehr beantworten wollte, weil ihm das Gewissen schlug. Der Junge hatte erkannt, daß er ein doppeltes und dreifaches Spiel spielte, ihm war dies zuwider, und Oberst Wellesby verlor die Partie: Jim entfloh und warf ihm das Sündengeld vor die Füße!“
„Vor… die… Füße…“
Mit einem blitzschnellen Jongleurgriff hatte Harst in die Außentasche seiner Hausjacke gepackt uns mit ebenso blitzschneller Bewegung ein Bündel Banknoten vor sich auf den Teppich geworfen.
Der Wurf war so kräftig gewesen, daß die Geldscheine auseinanderflatterten und in weitem Umkreis vor meinem Sessel verstreut wurden.
Ich war etwas erschrocken zurückgefahren.
„Bücke dich!“, sagte Harst eigentümlich heftigen Tones. „Bücke dich und beschaue dir eine der Visitenkarten des Mr. Abermay alias Oberst Stuart Wellesby!“
Ich tat es…
Ich prüfte den Hundertmarkschein… Ich nahm mein Federmesser und radierte auf der einen Stelle…
„Falsch!“, sagte ich verdutzt.
Harst lachte.
„Natürlich falsch! Aber tadellos gefälscht. Die Polizei sucht schon monatelang diesen geschickten Herrn, der… — hallo, Telefon…“
Ich saß dem Schreibtisch am nächsten, hob den Hörer ab und meldete mich:
„Uhland 19223…“
Ich hörte durch den Draht drüben einen tiefen Seufzer.
Dann wurde abgehängt…
Nicht ein Wort hatte der Anrufende gesprochen.
Und doch wußte ich, wer es gewesen.
Um hierüber volle Gewißheit zu erlangen, rief ich sofort das Amt an.
„Fräulein, mit wem war ich soeben verbunden?
„Mit Moabit 1318…“
„Danke…“
Harst stand neben mir und hatte mitgehört.
„Also Freund Jim“, sagte er. „Entweder hat er den Zettel gefunden oder sich auf die Nummer besonnen. Ersteres halte ich für wahrscheinlicher.“
„Hörtest du auch seinen tiefen Seufzer?“
„Ja. Dieser besondere Laut kann verschiedene Ursachen haben… — Ah — — schon wieder… — jetzt werde ich mich melden…“
Er hob den Hörer ab und bückte sich, damit ich alles mit verstehen könnte…
Ein einziger schriller Ruf kam durch die Leitung:
„Hilfe…!! Miß Webbs!!“
Dann folgte ein schwacher Knall, und drüben wurde abgehängt.
Ich fuhr empor. „Harald, das war ebenfalls Jim! Wir müssen sofort…“
„… Ruhe!!“
Er legte den Hörer weg. „Ja, es war der brave Junge. Aber ob wir noch zur Zeit kommen, das zu verhindern, was Miß Webbs plante, bezweifele ich. Vergiß nie, daß ich dir durch die falschen Banknoten den Beweis lieferte daß der ‚Oberst Wellesby‘ ein ebenso fragwürdiger Charakter ist wie diese Honoria.“
„Nun — und?!“, fragte ich verwirrt, denn für Harsts Gedankengänge eine Brücke zu bauen ist sehr schwer.
„Oberst Wellesby“, erklärte er bereitwilligst, „ist der Mitschuldige der Honoria Webbs, und Wellesby-Abermays heutige ‚Entführung‘ Jims war ein abgekartetes Spiel zwischen zwei raffinierten Verbrechern, um aus Jim das herauszulocken, was er Honoria nicht mitteilen wollte.“
4. Kapitel
Die tote gelbe Katze.
Ich ließ mich in meinen Sessel zurückfallen.
Auf alles Mögliche war ich gefaßt gewesen; — nicht hierauf!
Und doch konnte Harst sehr wohl auch in diesem Punkte das Richtige erraten haben.
Er nickte mir lächelnd zu.
„Ich will es dir beweisen… — Ich werde das Atlantik und das Pensionat Morch anrufen, und man wird mir antworten, daß sowohl Miß Webbs als auch der Oberst mit seinem Diener Bill Sauter abgereist sind. Mit dieser allgemeinen Panik habe ich gerechnet und vorgebeugt. Als wir nach Hause kamen und du in deinem Zimmer warst, verständigte ich ‚Lux‘, und Lux hat so etwa zwölf tadellose Spürnasen, die gern für uns arbeiten… Es war doch im Grunde selbstverständlich, daß der famose Herr Oberst, als er nach der vergeblichen Hatz auf Jim auf die Jacht zurückkehrte und die Banknoten und die drei Briefe vermißte, sich sagen mußte, er sei belauscht worden… Und von mir aus sollte er auch auskneifen… Er wird ja beobachtet und Honoria desgleichen. Jetzt rufe ich an…“
Seine Voraussage traf ein.
Miß Webbs hatte sich für einige Zeit mit nur zwei Koffern zur Erholung nach Sellin auf Rügen begeben, und Oberst Wellesby nebst Diener waren nach England abgereist.
Harst schmunzelte…
„Ich glaube, Rügen-Sellin liegt diesmal dicht bei Berlin, und auch England dürfte auf der Landkarte verrutscht sein… — Glaubst du, daß wir unter diesen Umständen wirklich sofort nach Moabit, Turmstraße, zu dem bedrohten Jim aufbrechen müssen?! Wohl kaum. — Setze dich bequemer zurecht… Schenke mir Mokka ein, nimm eine Zigarre und spiele Rentner… Ruhe dich aus… Diese Nacht kann trotzdem noch sehr lebhaft werden…“
Harst hatte gut reden: Sich ausruhen!
Man muß schon seine Patentnerven haben, die angesichts einer solchen Sachlage gleichgültig bleiben.
Ich wußte, er rechnete damit, daß die Angestellten der Detektei Lux rechtzeitig eingegriffen und Jim vor diesem Verbrecherkonsortium geschützt haben würden.
Und wenn er sich hierin täuschte?!
Aber er vertraute den Leuten, die schon so und so oft die gröbste Arbeit unseres freiwilligen Berufes erledigt hatten.
Er saß in seiner Sofaecke, ein Bild behaglicher Abgeklärtheit. Er hatte die Banknoten vom Teppich aufgelesen und in den Tresor eingeschlossen.
Doch diese Abgeklärtheit war ein wenig Pose.
Er schwieg beharrlich, und je mehr die Zeit endlos langsam vorwärtsschlich, desto stärker markierten sich die drei Falten auf seiner Stirn.
Die Standuhr schlug Eins…
Ein Uhr morgens…
Weshalb erstattete keiner der Argus-Leute telefonische Meldung?!
Weshalb saßen wir hier und fieberten innerlich und spielten die Gleichgültigen?!
Das war Unnatur.
Das war eine fade Komödie.
Ich sprang auf.
„Du gestattest, Harald…“
„Bitte… — Du willst Jim anrufen…“
Er hatte meine Gedanken wieder einmal erraten.
Ich rief an…
„Bitte Moabit 1318…“
Ich wartete…
Endlich eine verschlafene Stimme: „Hier Konfitürengeschäft Anna Parson…“
Es war Jim.
Was sollte ich sagen, — sollte ich wieder abhängen?
Eine Hand griff mir über die Schulter,
„Gestatte mal…“, flüsterte Harst.
„Hier Harst… — Jimmy, bitte, jetzt keine Lügereien mehr, mein Junge! Wir werden dich nicht verraten… Du hast vorhin bei uns angerufen…“
„Ja…“
„Hast du den Zettel der Miß Webbs wiedergefunden?“
„Ja… In meiner alten Jacke zwischen Stoff und Futter…“
„Und du hast dann bei der Auskunft angefragt, wer die Nummer Uhland 19223 hat? — Da hast du wohl einen schönen Schreck bekommen…“
„Einen Mordsschreck, Herr Harst!!“
„Riefst du uns noch ein zweites Mal an?“
„Nein… Ich hätte mich gehütet!“
Harst blinzelte mir ernst zu.
„Wo schläfst du, Jim?“
„In dem kleinen Flur zwischen dem Laden und Mutters Zimmer, — der Einbrecher. wegen. Ich habe keine Angst.“
„Hast du die Tür zum Laden immer nachts nur angelehnt?“
„Ja.“
„Und du bist nach deinem Anruf bei uns bald eingeschlafen?“
„Sofort, Herr Harst… Ich, war ja so hundemüde… Ich hatte nachmittags… gebadet… und…“
„In der Havel, am Ufer, — ich weiß… Wo steht euer Telefon?“
„Im Laden, Herr Harst…“
„Fühlst du dich sehr schlaftrunken, mein Junge? Deine Stimme klingt so matt.“
„Ich… ich… bin ganz benommen, Herr Harst. Ich weiß gar nicht recht, was mit mir los ist, — die Beine zittern mir, und…“
„Schon gut… Dann lege dich wieder ins Bett, aber berühre um keinen Preis das Schloß der Ladentür… Hast du mich verstanden — um keinen Preis, mag geschehen, was da will…! Kümmere dich um nichts, auch wenn geklopft wird…, In einer halben Stunde sind wir in der Turmstraße… Wenn ich klopfe, so geschieht es fünfmal, — dreimal kurz hintereinander, dann Pause, dann noch zweimal… Wenn du es fertigbringst, bleibe munter… — Und nun noch ein Letztes: Sieh nach, ob du den Zettel noch hast… Ich warte… Lasse dir Zeit… Wo hattest du ihn hingelegt?“
„Auf den Stuhl neben meinem Bett… Ich werde sofort nachsahen, Herr Harst… Herr Harst, — — der Zettel ist verschwunden… Mir ist jetzt auch so schlecht im Magen… ich…“
„… Trinke kalten Tee oder kalten Kaffee in ganz kleinen Schlucken… — Wir kommen… Wiedersehen! Nicht das Ladentürschloß berühren!! Dort lauert Todesgefahr.“ —
Harst und ich sausten in einer Taxe gen Moabit.
„Dieser Oberst Wellesby ist ein ganz gefährlicher Schurke, mein Alter“, sagte mein Freund nach einer Weile verbissenen Schweigens. „Außerdem ist der Bursche schlau… Er ist den Lux-Leuten entwischt, ebenso diese Honoria, sonst hätten wir längst eine Meldung erhalten. Ich kann mir die Sache nur so erklären, daß die Detektive sich zu lange Zeit gelassen haben. Die Nester werden bereits leer gewesen sein.“
Die Taxe hielt, wir stiegen aus und schlenderten zu Fuß weiter.
Der kleine Konfitürenladen der Frau Anna Parson lag in einem alten schmalen Hause. Zu der vertieften Ladentür führten fünf Stufen empor. Die Türnische war völlig dunkel, da die gegenüberstehende Laterne nur ganz matt brannte.
Harst schaute sich um.
Die Straße war leer… Dann zog er seine Taschenlampe heraus, und als deren weißer Lichtkegel die Dunkelheit zerschnitt, erblickten wir in der Türnische auf der Schwelle eine tote gelbgefleckte Katze.
Harst schaltete die Lampe schnell wieder aus.
Es nahten zwei nächtliche Spaziergänger, und wir schlenderten quer über die Straße, um nicht aufzufallen.
Es half uns nichts.
Auch die beiden Herren schwenkten herum, und dann rief uns der eine an.
„Hallo, Harst…“
Nur halblaut…
Die Stimme kannten wir nur zu gut.
Es war der dicke, stets so gemütlich tuende Kommissar Bechert vom Falschgelddezernat, und sein Begleiter — ich staunte über das unverhoffte Wiedersehen nach mehr als zwei Jahren — war Oberinspektor Tim Rabblay, London, gleichfalls von der internationalen Abteilung zur Bekämpfung der Falschgeldmünzerei.
Rabblay, im Gegensatz zu Fritz Bechert eine dürre Hopfenstange, war durch dreierlei berühmt: Durch seine Findigkeit, durch seine Grobheit und durch seine geradezu schwärmerische Liebe zu seinem einzigen Kinde, der Hinterlassenschaft seiner längst dahingegangenen Frau.
Jedermann, der Rabblay näher kannte, kannte auch die Tragik seines Lebens. Als er vor zehn Jahren die weltberüchtigte Murfison-Happard-Bande ausgehoben hatte, entflohen drei Mitglieder, erschossen aus Rache seine Frau und hätten beinahe noch die kleine, damals zehnjährige Daisy Rabblay entführt. Seitdem wagt es der Oberinspektor nicht mehr, sein Kind zu sich ins Haus zu nehmen. Niemand wußte, wo Daisy wohnte und lebte, — nur er kannte ihren Decknamen, ihren Aufenthaltsort, er besuchte sie heimlich unter den allergrößten Vorsichtsmaßregeln, zumal inzwischen noch zwei weitere Mitglieder der Murfison-Happard-Bande, darunter Happard selbst, aus dem Zuchthaus ausgebrochen waren.
Rabblays Angst um seine einzige Tochter mochte vielleicht übertrieben, fast krankhaft erscheinen. Aber Peter Happard war sein Todfeind, und der so überaus geschickte Falschmünzer und Bandenführer war dafür bekannt, niemals ein Menschenleben zu schonen, das ihm im Wege stand. Als früherer Chemiker — Happard besaß sogar den Doktor-Titel — verfügte er über genügend Kenntnisse, seine Morde zu begehen, daß er nie zu überführen war.
Als Rabblay uns die Hand drückte und dabei keine Miene verzog und kein Wort äußerte, meinte Bechert etwas verlegen: —
„Ihr dürft ihm seine schlechte Laune nicht übelnehmen… Er glaubte, eine Spur von Peter Happard entdeckt zu haben… Es war ein Irrtum.“
„Ich habe Rabblay noch nie in guter Laune gesehen“, sagte Harald. „Vielleicht lächelt er jetzt, wenn ich ihm eine tote Katze zeige…“
5. Kapitel
Die falschen Banknoten.
Während wir auf die Ladentürnische der Frau Parson zuschritten, erklärte Bechert, daß sein englischer Spezialkollege sich seit drei Tagen in Berlin befinde und daß er ihm heute Nacht die verrufenen Viertel von Moabit habe zeigen wollen.
„Wohl auf Rabblays Wunsch?“, fragte Harst so nebenher.
Bechert bejahte.
Der Oberinspektor, der mit mir zuerst an der Tür anlangte, nahm seine Taschenlampe und beleuchtete den Tierkadaver.
„Halten Sie sich in respektvoller Entfernung, Rabblay“, warnte Harst nachdrücklich. „Ich habe mit Katzen, die zu Attentaten benutzt wurden, schon die unangenehmsten Erfahrungen gemacht.“
„Ich auch“, erwiderte der wortkarge Engländer. „Vergiftete Krallen, mit Bazillen infiziertes Haar und sogar einmal eine Sprengkapsel im zugenähten Bauch. Hätte ich das Vieh am Schwanz emporgehoben, wäre ich in Stücke gerissen worden. Peter Happard war der Erfinder dieser mit Dynamit geladenen Katze.“
„Hier dürfte es sich um einen neuartigen Anschlag handeln“, sagte Harst und musterte die Türschwelle. „Die Dinge liegen so, daß gewisse Leute Schraut und mich auslöschen wollen.“
„Also der Fall Barding“, warf Bechert kurz ein. „Ich bin im Bilde. Seit wann haben Sie die Sache in Arbeit genommen, Harst?“
„Vor einigen Tagen…“ Das klang ebenso ausweichend wie zerstreut.
Er trat zur Seite, bückte sich und leuchtete in den freien Raum unter der kleinen Treppe hinein.
Dieser Raum, angefüllt mit Schmutz, Schutt und Papierfetzen, war ursprünglich durch eine dünne Ziegelschicht abgeschlossen gewesen. Die Ziegel fehlten jedoch zum größten Teil, und dies hatte der findige ‚Oberst‘ und Miß Webbs sehr schlau ausgenutzt.
Harst schob sich langsam in dem unbehaglichen Durchlaß vorwärts, legte behutsam drei Drähte los, die fast unsichtbar zur Schwelle emporliefen. Unter einem Berg Papier lagen ein mittelgroßer Sprengkörper und eine elektrische Batterie.
Harst knipste die richtigen Drähte mit der Schere durch, kam wieder zum Vorschein und meinte erläuternd:
„Jetzt können wir die Katze anrühren… Geben Sie mal Ihren Spazierstock her, Rabblay…“
Oberinspektor Rabblays Stock war aus Nilpferdhaut geschnitten und hatte einen vergoldeten Bleiknopf, stellte also eine furchtbare Waffe dar.
Als Harst die gelbe Katze in eine Ecke geschoben hatte, sahen wir dort, wo sie bisher gelegen hatte, drei in das Holz getriebene kleine Kupfernägel, und als Bechert den Kadaver drehte, bemerkten wir an der uns bisher unsichtbar gebliebenen Bauchseite drei Metallplättchen, die mit ganz dünnen Drähten befestigt waren.
Würde jemand die Katze auch nur um ein Geringes aus ihrer ursprünglichen Lage gerückt haben, wäre die Explosion erfolgt.
„Sehr nett ausgedacht“, meinte Harst drohend… „Ich rechnete mit einem elektrisch geladenen Türdrücker und Türschloß, aber der Oberst Wellesby wollte mit neuen Einfällen prunken. — Kennen Sie Wellesby, lieber Rabblay?“
„Ja. Ich trage stets zu liebe Andenken an ihn mit mir herum, zwei Schußnarben“, brummte der Oberinspektor.
„Also ist Wellesby mit Happard identisch…“
„Leider…“
Eine Polizeipatrouille nahte, und Bechert schickte einen der Beamten zur Revierwache, damit die Höllenmaschine sachkundig entfernt würde.
Dann klopfte Harst an die Ladentür und Jim öffnete.
Wir traten ein.
Der Liftboy war völlig angekleidet, hatte tiefe Schatten um die Augen und sah sehr matt aus.
„Mutter schläft, — — leise, meine Herren!“, bat er und brachte Stühle herbei.
Wir setzten uns.
Wir haben bisher noch nie in einer Umgebung, wie diese es war, eine so ernste Beratung abgehalten.
Die Luft im Laden war erfüllt von den Düften der ausgestellten süßen Waren, und da der etwas sehr verlegene Jim uns nichts anderes anzubieten hatte, hielt er uns ein paar Tafeln Schokolade hin.
Rabblay nahm dankend an, betrachtete den Jungen eingehend und hörte schweigend zu, als Harst nun die bisherigen Vorfälle in übersichtlicher Weise darstellte und dabei seine eigenen Schlußfolgerungen mit einflocht.
Zuweilen ließ er sich Einzelheiten von Jim bestätigen, der sehr bald alle Scheu überwunden hatte und ganz offen und ehrlich eingestand, was er der Polizei verschwiegen hatte.
Der Oberinspektor, der übrigens ganz fließend Deutsch sprach, beschränkte sich nur auf einige Zwischenfragen, so zum Schluß:
„Und was wollte nun eigentlich Miß Webbs von dir, mein Junge?“
„Sie fragte mich immer wieder, ob ich nicht wüßte, wo der Zettel geblieben sei, den sie mir damals gegeben hatte… Ich sollte nach dem Zettel suchen, ich würde dafür viel Geld bekommen… — Das war alles, Herr Oberinspektor. Sie schien jedenfalls furchtbare Angst zu haben, daß der Zettel in fremde Hände geriete…“
„Ja — die Handschrift!“, nickte Rabblay grübelnd…
Harst überließ jetzt dem Engländer die Führung der Aussprache und schien über andere Dinge nachzudenken.
„Du wirst natürlich alles das, was du hier gehört hast, für dich behalten, Junge“, warnte Rabblay ernst. „Herr Harst hat dir schon mitgeteilt, daß jemand in den Laden mit Nachschlüsseln eingedrungen ist, dich im Schlaf halb betäubt hat und den Zettel mitnahm und nachher die Höllenmaschine anbrachte…“
„Ich schweige wie das Grab!“, versicherte Jim eifrig. „Ich habe auch eine Wut gegen diesen Mister Abermay alias Wellesby alias Happard im Leibe, daß ich fast platze! Der Kerl hat mich im Einverständnis mit der ebenso niederträchtigen Miß Webbs fein hineingelegt! Falsche Banknoten mir anzubieten!! Das hätte eine nette Bescherung geben können, wenn ich das Geld behalten und Mutter es gegeben hätte!“
„Allerdings, Boy, — eine böse Bescherung, — doch nicht für lange“, meinte Rabblay und faßte dann in die Brusttasche. „Deine Mutter hat Schulden?“
„Mietrückstände…“
„Wieviel?“
„Etwa vierhundert Mark…“
„Dann hast du hier fünfhundert echte Mark, Boy. Nimm sie nur. Du hast mir einen großen Dienst erwiesen…“
Jim zögerte noch. „Herr Oberinspektor, eigentlich fühle ich mich schuldig, ich habe doch…“
„Unsinn, — da ist das Geld, keinen Dank. Sage deiner Mutter, ein reicher Engländer sei der Wohltäter… Abgemacht. — Und jetzt gehe wieder schlafen…“
Wir verließen den Laden, Jim schloß wieder ab, und vor der Haustür fragte Harst, indem er sich eine Zigarette anzündete, ob Rabblay wüßte, wer diese Honoria Webbs sei…
„Ist sie ein Mitglied der Murfison-Happard-Bande?“
Rabblay hob die eckigen mageren Schultern.
„Mag sein… — Harst, wie denken Sie sich die Fortsetzung?“
„Im Bett zunächst — also ausschlafen, bester Rabblay. Vormittags elf Uhr können wir weiter beraten, vielleicht bei mir. Inzwischen wird Bechert das Nötige zur Aufspürung des edlen Paares in die Wege leiten. — Gute Nacht… Taxe, halt…“
Wir fuhren heim.
Unterwegs machte mein Freund nur eine einzige Bemerkung. Aber die gab mir genug zu denken.
„Mein Alter, dieser Fall Barding, der nun zu einer großen Treibjagd auf Falschmünzer auswächst, ist in seiner Art das sonderbarste Problem, das wir je lösen durften.“
„Das klingt fast, als hättest du es bereits gelöst“, sagte ich überrascht.
Ich erhielt keine Antwort.
6. Kapitel
Der Gefangene unter der Garage.
Wollte ich den Fall Barding auf der mir zur Verfügung stehenden knappen Seitenzahl so schildern, wie er nunmehr sich weiter fortspann, würde ich eine Überfülle von rein theoretischen Erörterungen bringen müssen, die selbst bei noch so scharfer Herausarbeitung des Wichtigsten nur langweilen dürften.
Packen wir die Sache also wieder einmal anders an. — —
Unweit der Turmstraße, jenseits der Stadtbahnbrücke, liegt die Strafanstalt Plötzensee, liegt aber auch ein neu entstandenes großes Wohnviertel, während am nahen Kanal die ältesten Häuschen, Zeugen einer abgestorbenen Vergangenheit, unter alten Bäumen friedvoll und einsam dahinträumen.
Eines dieser uralten Grundstücke, ehemals Bauernhof, schob seinen verwitterten Stall bis zur Straße vor, das Wohnhaus aber stand weiter zurück und gehörte der fast neunzigjährigen, aber immer noch sehr rüstigen Witwe Emilie Lorm, die man nie anders als mit Hornbrille, schwarzer Haube, Hörrohr und buntem Umschlagetuch sah.
Mutter Lorm war seit Jahren so gut wie taub. Arm war sie auch, und die Steuern aufzubringen bereitete ihr immer mehr Schwierigkeiten.
Möblierte Zimmer zu vermieten, — die Hoffnung hatte Mutter Lorm fast schon aufgegeben.
Monatelang hing die Papptafel schon draußen am Zaun. Wenn wirklich jemand die Stube besichtigte, machte er sofort kehrt. Alles war zu ärmlich…
Und den ersten besten wollte Mutter Lorm auch nicht in ihrem Häuschen dulden, Sie kannte die Schlechtigkeit der Welt.
Dann war Anfang März ein Herr bei ihr erschienen, der einen äußerst vertrauenswürdigen Eindruck machte, ein Maler, ein Ausländer.
William Hunter nannte er sich, wies auch einwandfreie Papiere vor und mietete das ganze Erdgeschoß und den Stall, bezahlte für drei Monate im voraus und hatte nur die Bedingung gestellt, den Stall als Garage benutzen zu dürfen, die nötigen baulichen Veränderungen würde er bezahlen.
So zog denn Mutter Lorm, die nur noch entfernte Angehörige hatte, in die Giebelstübchen ein und war froh, endlich wieder ein wenig Geld in den Fingern zu haben.
Zu Mutter Lorms dauernd gleichbleibenden ‚Ausrüstungsstücken‘ muß man auch ihre Katze ‚Mieze‘ rechnen. Wo Mutter Lorm war, da war auch Mieze.
Mr. William Hunter erwies sich übrigens als ein sehr angenehmer Mieter. Er saß oft am Kanal und malte, oft verreiste er, dann blieb nur sein schweigsamer Mieter zurück.
Wie gesagt, Mutter Lorm war fast Neunzig und so gut wie taub, ging um Acht zu Bett, stand um Sieben Uhr morgens auf und wurde um ihren Mieter allgemein beneidet.
Die Umbauten im Stalle hatten nur kurze Zeit in Anspruch genommen, und Hunters Auto stand inmitten zementierter Wände, wie dies Vorschrift war.
Unterhalb der Garage befand sich ein zweiter zementierter Raum für die Benzinvorräte. Im Zementboden der eigentlichen Garage gab es eine Falltür, die kaum sichtbar war.
Im unteren Verließ aber hauste seit einiger Zeit ein Mann, der, obwohl seine Wächter ihn gut verpflegten und ihm alles lieferten, was er zu seiner Zerstreuung wünschte, das Herz voller Haß und Wut gegen seinen Entführer hatte und nur darauf bedacht war, irgendwie ins Freie zu gelangen.
Der Gefangene, der bis dahin sorglos dahingelebt hatte, erinnerte sich schon in den ersten Tagen seiner Haft jener Zeiten, als er mit eiserner Energie sich vom kleinen Schlosser zum Fabrikherrn emporgearbeitet hatte und sann beständig auf Flucht.
Sein Kerker, nur drei mal drei Meter breit und lang und etwa ebenso hoch, war nachträglich mit Ventilationslöchern versehen worden. Bett, Tisch, Schrank, Waschtisch und anderes hatten nur zerlegt hinabgeschafft werden können.
Der Gefangene, ein älterer, überaus kräftiger Mann, hatte nun bereits seit Wochen mit zähester Ausdauer hinter dem Schrank mit ganz ungenügenden Werkzeugen eine kleine Öffnung hergestellt. Dann brach er einen der Füße des eisernen Bettes ab und ersetzte diesen, damit das Fehlen nicht auffiele, durch eine dunkle Holzleiste des Schrankes.
Da sein schweigsamer Wächter, den er nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte, nur zuweilen am Tage bei ihm erschien, brauchte er Überraschungen wenig zu fürchten.
Die eiserne Ersatzbrechstange bewährte sich, zumal der Zement sehr schlecht war und leicht bröckelte. Die losgewuchteten Stücke zerkleinerte der Gefangene und warf sie in den Eimer, den der Wächter jeden Abend leerte.
Wochenlang mühte der Häftling sich ab.
Endlich war die Mauer bewältigt, und die Erde dahinter beseitigte er auf dieselbe Art. Sie war feucht und dicht von dünnen Baumwurzeln durchsetzt, die ein Nachstürzen des Erdreichs verhinderten.
Der schweigsame Wächter ahnte nichts, da der Gefangene äußerst vorsichtig blieb und nur immer zu lesen schien.
Außerdem hielten die Leute, die den Ärmsten hier eingekerkert hatten, einen Ausbruch aus dem Zementgelaß für unmöglich.
Während all dieser endlosen Wochen hatte der Gefangene nur ein einziges Mal droben an der Falltür ein anderes Gesicht bemerkt, das einer jungen Frau. Sie trug jedoch eine Halbmaske und betrachtete auch nur wenige Minuten den Häftling und die Kerkereinrichtung. Trotzdem hatte ihr Erscheinen gewisse angenehme Folgen: Am nächsten Tage erhielt der Gefangene zur Zerstreuung einen Radioapparat, ferner Kissen für seinen Stuhl und fortan auch guten Rotwein. —
Auch Mutter Lorm ahnte von alledem nichts. Wie sollte sie auch?! Die Garage. war stets verschlossen, sie wollte auch niemals hinein, all das hatte kein Interesse für sie.
Plötzlich änderte sich dies.
Eines Abends verschwand Mutter Lorms vielgeliebte Mieze, und obwohl die Stubentür offen geblieben, fand die Katze sich nicht wieder ein, die ja des öfteren kurze Streifzüge unternahm.
Mutter Lorm war verzweifelt.
Der Diener des Malers, Mac Orby, tröstete sie. Mieze würde schon zurückkehren.
Die Greisin hielt nun die billigste der Berliner Zeitungen, das Volksblatt. Die Romane darin gefielen ihr, zum Schluß gab es immer eine Verlobung. Waren es zwei oder drei glückliche Paare, lobte Mutter Lorm den Roman über den grünen Klee.
Im übrigen las sie die Zeitung von vorn bis hinten stets ganz genau, auch die Anzeigen.
Wiederholt hatte sie nun Anzeigen gefunden, in denen Hunde oder Katzen, die sich verlaufen hatten, entweder dem Verlierer gemeldet oder vom Besitzer gesucht wurden.
Die Greisin war schon infolge ihres Gehörleidens eine sehr verschlossene Natur.
Als Mieze bis zum Mittag des nächsten Tages nicht erschien, faßte Mutter Lorm einen heroischen Entschluß — trotz der Geldkosten und trotz der mühseligen Fahrt in die Stadt.
7. Kapitel
Rabblays große Sorgen.
Zu derselben Zeit etwa, als die alte Frau sich zum Ausgehen fertig machte, saßen in unserem ‚Büro‘ vier Herren um den Sofatisch, rauchten und überlegten und sprachen wenig.
Bechert wandte sich an Harst.
„Was versprechen Sie sich davon, — die Geschichte kostet doch eine Menge Geld, und Katze bleibt Katze.“
Mein Freund erwiderte nur: „Es ist ein Versuch… Ich habe die Anzeige bereits aufgegeben.“
Oberinspektor Rabblay, der heute noch schlechterer Laune war als sonst, erklärte wortkarg:
„Ich verstehe Ihren Gedankengang, Harst… Sie nehmen an, die gelbe Katze könnte dort in der Nähe gestohlen und getötet sein, wo die Bande ihren Schlupfwinkel hat.“
Ja, das nehme ich an… Wo bekam der Oberst so schnell eine Katze her?! Ich behaupte, der Schlupfwinkel Peter Happards und seiner Spießgesellen liegt irgendwo dicht bei Berlin in einer noch halb ländlichen Gegend. Da die Angestellten der Detektei Lux ebenso versagt haben wie Ihre Beamten, Bechert, müssen wir nach jedem Strohhalm greifen.“
Rabblay nickte und starrte finster vor sich hin.
„Lesen Sie mir den Wortlaut der Anzeige vor“, bat er mürrisch.
„Gern… Die Anzeige ist so aufgesetzt, daß wir nach allen Seiten hin gesichert sind.“
Gelbe Katze gefunden. Gutgepflegte kräftige gelbgefleckte Katze mit schwärzlichen Kopf- und Brustflecken zugelaufen. Gegen Ersatz der Futterkosten und der Anzeigenkosten abzuholen von der Tierhandlung Berlin W, Nürnberger Straße 201. Unbedingt hierüber Schweigen bewahren.
„Den Besitzer der Tierhandlung kennen wir nämlich sehr genau“, erläuterte Harst. „Ich habe ihn bereits eingeweiht und ihm genaue Verhaltungsmaßregeln erteilt.“
Bechert lächelte zweifelnd. „Die Anzeige könnte nur Erfolg haben, wenn die Katze sehr geliebt wurde.“
„Gewiß, — die Erfolgsaussichten stehen fünf zu eins“, nickte Harst. „Immerhin, — — wer rastet, der rostet.“
Rabblay kaute versonnen an seiner Zigarre. Er hatte heute einen geradezu sorgenvollen Zug um den Mund.
„Woran denken Sie, Rabblay?“, fragte Harst unvermittelt und sehr laut,
Der Oberinspektor fuhr leicht zusammen.
„Ich… fürchte etwas“, erwiderte er bedrückt. „Ich wollte nur noch Peter Happard und die übrigen entsprungenen Mitglieder der Murfison-Happard-Bande für immer kaltstellen und damit die frechsten und geschicktesten Banknotenfälscher und Gauner, die je die Welt gesehen hat! Dann gedachte ich in Pension zu gehen und… und…“
„… mit Ihrem Kinde irgendwo in Frieden zu leben und endlich einmal nur noch liebender Vater zu sein“, vollendete Harst sichtlich bewegt. „Und jetzt ist eben alles anders gekommen, der Oberst ist Ihnen entschlüpft und Sie hegen Zweifel, ihn je wiederzufinden.“
„Ja, der Mann ist schlau…“, bestätigte Rabblay. „Ich wußte, daß er im Pensionat Morch wohnte, ich kannte seine Beziehungen zu Honoria Webbs, und ich hätte vielleicht früher zupacken sollen… Gestern ging eben alles verkehrt, alles…!“
Bechert verabschiedete sich, da er im Präsidium dienstlich zu tun hatte. Als er gegangen, trat Harst neben Rabblays Sessel und legte dem Oberinspektor schwer die Hand auf die Schulter.
„Rabblay, wir sind alte Bekannte… Ich glaube, Sie haben sich bei der Verfolgung Peter Happards zu weit vorgewagt und zu viel gewagt!“
Der Oberinspektor blickte unangenehm überrascht zu ihm auf.
„Ich… verstehe Sie nicht ganz, Harst.“
Mein Freund spürte genau wie ich, daß Rabblay nur Ausflüchte machte.
„Sind in London falsche Banknoten aufgetaucht?“ fragte Harst erbarmungslos weiter.
„Ja denn, — unheimlich viel sogar, — und wenn ich Happard, der zweifellos der Hersteller ist, nicht fange, jagt man mich zum Teufel, weil ich als anständiger Kerl schließlich doch die Wahrheit sagen muß — alles, — — und das bricht mir das Genick!“
„Alles!“, wiederholte Harst. „Also doch! — — Armer Rabblay, ich werde Ihnen helfen. Bisher kennen nur Sie und ich den wahren Sachverhalt, und…“
Der Oberinspektor packte Harsts Handgelenk.
„Mann, — — Sie auch?! Woher?! Das ist ja unmöglich! Der Fall Barding liegt ja so verzwickt, daß…“
„Er lag verzwickt. Ich wiederhole, Freund Rabblay: Sie haben zu viel gewagt! Wenn die Anzeige keinen Erfolg hat, werde ich ein zweites Mittel ersinnen, wie Sie und jemand anderes heil aus dieser Sache herauskommen kann.“
Rabblay stöhnte wie ein verwundetes Tier. Er war völlig niedergebrochen.
„Ja, helfen Sie mir! Der unglückselige Zettel!! Aber Happard ist eben ein schlauer Teufel, und…“
Ich hatte den steinharten Rabblay noch nie weinen gesehen. Jetzt rannen ihm plötzlich die Tränen über die zerfurchten Wangen.
Diese seelische Depression währte freilich nur kurze Zeit. Hinterher war der Oberinspektor noch verschlossener und gröber als sonst, und beim Abschied sagte er finster zu Harst:
„Verdammt, — Sie haben mir mein Geheimnis entlockt! Das war nicht recht von Ihnen!“
„Ich wollte nur die Bestätigung einer fast unsinnigen Schlußfolgerung haben“, meinte Harst herzlich und geleitete den Oberinspektor hinaus.
Ich selbst verstand von alledem sehr wenig oder besser gesagt gar nichts.
Die Fragen, die ich an meinen Freund richtete, blieben unbeantwortet.
„Störe mich nicht“, sagte er schroff. „Es geht hier um viel mehr als nur um die neue Happard-Bande oder um Thomas Barding. Du wirst das später begreifen.“
An diesem Tage war er ungenießbar.
Abends läutete Bechert an und meldete, daß die Polizei auch jetzt noch nichts ausgerichtet habe.
„Das konnte ich mir denken, Bechert, — Wiedersehen, — — ich auch nicht!“ — und dann hängte er ab.
8. Kapitel
Jim liest einen Roman.
Wenn Jimmy Parson nach sechs Uhr abends mit dem Autobus heimwärts fuhr, las er regelmäßig den Roman aus der Abendausgabe des Volksblattes, und da jetzt gerade ein Kriminalroman veröffentlicht wurde, konnte Jimmy seiner Verachtung über die mangelhafte Phantasie des Verfassers und über den ganzen auf Effekthascherei und Tränendrüsen eingestellten Inhalt wiederholt durch halblaute kritische Bemerkungen Ausdruck verleihen.
Da war der übliche geniale höhere Kriminalbeamte, der sich natürlich in die Tochter des zweiten Chefs der Verbrecherbande verliebt hat, die, ein Musterexemplar von Tugend, Fleiß und Witz, schließlich von den Banditen mit Zustimmung ihres Vaters entführt wird, um den Herrn Kommissar zu zwingen, die Verfolgung der Bande einzustellen.
„Zu dämlich!!“, murmelte Jim und las trotzdem weiter.
Aber nach einigen Zeilen wurde ihm die Geschichte denn doch zu bunt und blechern.
Die Bände hatte die Entführte in den Keller eines einsamen Hauses gebracht und bewachte sie dort, obwohl das Gebäude bewohnt war.
„Blödsinn!!“, knurrte Jim und widmete sich den Tagesnachrichten.
Da stieß er auf eine Meldung aus der Provinz, daß ein entmenschtes Ehepaar den eigenen Vater des Ehemannes über fünf Jahre heimlich im Keller eingekerkert gehalten hatte und daß der Greis von den beiden längst totgesagt worden war. Nur ein Zufall hatte zur Befreiung des Unglücklichen geführt.
Jim wurde etwas nachdenklich.
Er erkannte, daß das Leben tatsächlich die unglaublichsten Verwicklungen schuf und daß gerade er, der jetzt selbst mitten in eine geheimnisvolle Kriminalaffäre hineingeraten war, den allergeringsten Grund hätte, Vorkommnisse wie die im Roman geschilderten, anzuzweifeln.
So nahm er denn den Kriminalroman von neuem vor, urteilte weniger scharf und fand die Handlung nun doch ganz erträglich.
Kurz bevor er aussteigen mußte, widmete er sich noch — auch eine Liebhaberei von ihm — dem Anzeigenteil.
Plötzlich stutzte er.
Eine große Anzeige unter ‚Verloren, verlaufen‘ war ihm aufgefallen.
Als Überschrift stand da:
Gelbschwarze Katze gesucht!
Aus dem weiteren Wortlaut ersah er, daß die Katze ‚Mieze‘ seit gestern abend ‚abgängig‘ war und daß sie einer Frau Emilie Lorm, Plötzensee, Kanalweg 12, gehöre. Für die Wiederbringung Miezes waren zehn Mark Belohnung ausgesetzt.
Jim besann sich nun recht gut darauf, daß die Herren in der verflossenen Nacht von einer gelben Katze mit schwärzlichen Flecken gesprochen hatten, und da er ein schneller Denker war, hielt er es nicht für ausgeschlossen, daß die tote Katze die der Frau Lorm gewesen sei. Zu weiteren Schlußfolgerungen freilich war sein Hirn doch zu wenig geschult.
Nachdem er zu Hause schnell sein verspätetes Mittagessen hinabgeschlungen hatte, erklärte er seiner Mutter, er wolle noch an den Kanal angeln gehen. — Diese kleine Lüge klang umso glaubwürdiger, als Jim tatsächlich in seiner Freizeit gern dem Angelsport huldigte und sogar zuweilen ein paar Fischlein mit heimbrachte. Seine Angelrute und alles Übrige hatte er im Gebüsch unweit des Kanals schon vorige Woche verborgen. Eine Angelkarte besaß er nicht.
Schleunigst warf er sich in sein Räuberzivil, gab der Mutter noch einen flüchtigen Kuß und trabte von dannen. Wenn er der Frau Lorm die Katze auch nicht wiederbringen konnte, so war er doch wenigstens imstande, ihr mitzuteilen, daß Mieze tot sei. Einzelheiten wollte er nicht verraten. Vielleicht schenkte ihm Frau Lorm für die Nachricht zwei oder drei Mark, und tat sie es nicht, mußte er sich auch damit abfinden.
Jim war eben ein Großstadtkind und nahm jede Verdienstmöglichkeit wahr.
Er kannte die alten Häuser am Kanal sehr gut, und da die gelbe Katze nun einmal zu einem gefährlichen Attentatsversuch benutzt worden war, schien ihm eine gewisse Vorsicht geboten.
Er näherte sich daher dem Lorm'schen Gehöft von der Seite auf einem wenig begangenen Fußpfad und hielt die Augen gut offen.
Als er etwa mit dem alten Stallgebäude, das bis zur Straße vorsprang und vergitterte Fensteröffnungen hatte, in einer Höhe angelangt war, blieb er plötzlich stehen.
Hinter den Gitterstäben des einen Fensters des verfallenen langen Stalles bewegte sich etwas.
Jim schaute schärfer hin.
Die Gestalt dort hinter den verrosteten Eisenstäben wagte sich weiter vor und packte zwei Stäbe, als müßte sie sich festhalten.
Die langentbehrte frische Luft erzeugte bei dem Gefangenen einen Schwindelanfall.
Auch seine Augen zwinkerten und tränten. Sie waren an das Tageslicht nicht mehr gewöhnt.
Jim erkannte den Mann nun.
Schreck und Freude benahmen ihm den Atem.
Sekundenlang vermochte er keinen klaren Gedanken zu fassen.
Aber dieser kräftige, unverdorbene Junge, der all den vielfachen Verführungen der Weltstadt aus Liebe zur Mutter widerstanden hatte, bewies auch hier seine Geistesgegenwart, seine rasche Auffassungsfähigkeit und sein folgerichtiges Denken durch sein ferneres Verhalten.
Das Geräusch eines Autos, das weit von ihm, in eine Staubwolke gehüllt, die schlecht gepflegte Straße hinabsauste und sich ihm näherte, weckte ihn aus dieser halben Schrecklähmung.
Er hatte bereits vorher bemerkt, daß zahlreiche Autoräderspuren in den Hof des Grundstückes der Frau Lorm hineinführten.
Zweifellos wollte dieser rasche Wagen dort einbiegen.
Jimmy Parson trat schnell ein paar Schritte zurück, wandte das Gesicht zur Seite, um nicht erkannt zu werden, und machte dann gleichzeitig mit dem geheimnisvollen Gefangenen, der sich mehr in den dunklen Hintergrund zurückgezogen hatte, eine überraschende Entdeckung.
Freilich, für ihn kam diese Entdeckung doch nicht so ganz unerwartet. Der Mann am Steuer des Autos konnte nach all dem, was diesen entscheidenden Minuten vorausgegangen war, nur eine ganz bestimmte Persönlichkeit sein.
Nur eins wunderte Jim: Die Unverfrorenheit, mit der dieser Mensch im Vertrauen auf sein verändertes Aussehen hier durch diese Gegend fuhr, die doch der Turmstraße so nahe lag.
In kurzem Bogen war der Wagen in den Hof eingebogen und stoppte.
Der Mann hinter den Gitterstäben verschwand, und auch Jim setzte sich in Trab und lief keuchend bis zur nächsten öffentlichen Fernsprechstelle.
Gerade als für Jim die gewünschte Verbindung hergestellt worden war, spielte sich in Mutter Lorms Giebelstübchen eine in ihrer Art rührende Szene ohne alle Zuschauer ab.
Mutter Lorm hatte den Anzeigenteil des Volksblattes etwas genauer studiert, als es Jim droben auf dem Autobus möglich gewesen war.
Was der Junge übersehen hatte, war Harsts Anzeige, die allerdings weiter unten stand.
Emilie Lorm zitterte vor Erregung.
Ihr längst zahnloser Mund bewegte sich vor Erregung, und ihre trüben Augen füllten sich mit Tränen.
Mutter Lorm liebte ihre Mieze, und diese Liebe, die vielleicht schon ein wenig greisenhaft-überschwenglich war, schärfte ihre Gedanken und ließ den letzten Satz der Anzeige auch für sie in anderem Lichte erscheinen.
Dieser Satz klang wie eine Warnung, Mutter Lorms Geist war noch frisch genug, aus diesem Schlußsatz noch mehr herauszulesen. Wie die meisten Schwerhörigen war sie äußerst mißtrauisch. Vielleicht sagte ihr mehr ein unbestimmtes Gefühl, daß sich hinter Miezes Verschwinden mehr verbarg, als sie ahnte.
Zugleich mit dieser Vermutung erneuerte sich auch ihre Angst, Mieze könnte krank, verletzt oder gar tot sein.
Wie kam Mieze bis in den Berliner Westen an das andere Ende der Millionenstadt?!
Die alte Frau erhob sich, machte sich zum Ausgehen fertig und steckte genügend Geld zu sich.
Auf ihren weichen bequemen Schuhen tastete sie sich die Treppe hinab und gewahrte unten im Flur den Diener Mac Orby, einen, vierschrötigen Burschen, der zu ihrem Erstaunen mit einem Tablett voller Speisen zur Kellertreppe abbog.
Er hatte sie nicht gesehen.
Sie aber sah alles.
Sie war verblüfft, als Mac Orby in den Keller hinabstieg, den sie dem Maler Hunter gleichfalls vermietet hatte.
Kopfschüttelnd schlurfte sie weiter, krampfhaft ihr Hörrohr gegen die eingesunkene Brust pressend.
Ihr war ganz wirr im Kopfe…
Vorhin hatte sie die Romanfortsetzung aus dem Volksblatt gelesen, und die Erinnerung an die von der Verbrecherbande eingesperrte schöne und unschuldige Tochter des einen Mitgliedes der häßlichen Schurken weckte in der alten Frau allerlei schreckliche Vorstellungen.
Weshalb trug Mac Orby ein Tablett in den Keller, auf dem auch drei Bücher gelegen hatten?!
Sollte etwa…
Ihr blieb der Atem weg bei diesem jagenden Gedanken, die ihr die schrecklichsten Möglichkeiten vorgaukelten.
Hatte sie etwa an Vorbrecher ihr Haus vermietet?! Hatte nicht dieser Hunter, der so selten zu sehen war, sofort einen allzu hohen Mietpreis geboten? Wußte sie denn, was die Leute hier auf ihrem Besitz trieben? Sie ging ja so früh zu Bett, und sie war so schwerhörig…
Die alte Frau hastete auf die Straße. Sie sagte sich mit Recht, daß die Tierhandlung bereits geschlossen sein würde, aber sie wollte unbedingt die Adresse der Privatwohnung des Tierhändlers erfahren… Sie würde ein Auto nehmen… eine Autotaxe… Sie war in ihrem ganzen Leben noch nicht Auto gefahren. Miezes wegen würde sie es tun…
Sie war jedoch erst bis zur nächsten Quergasse gelangt, als hinter ihr ein Junge dahergetrabt kam…
Jim Parson hatte seine genauen Anweisungen erhalten, und die eine hatte gelautet: „Sollte Frau Lorm ihr Gehöft verlassen, so folge ihr und führe sie zu irgendeiner Bank in den Anlagen…“
Der Liftboy vom Atlantik pflanzte sich mit hochroten Wangen vor der Greisin auf.
Eine Verständigung war schwer. Trotzdem gelang sie…
„Und meine Mieze?“, fragte Emilie Lorm angstvoll…
Jim zögerte.
Die Greisin tat ihm leid.
Dann kam ihm ein glänzender Gedanke. Fromme Lügen sind gestattet.
„Mieze ist in ein Tierasyl gebracht worden, Frau Lorm“, rief er in das Hörrohr hinein. „Dort gibt es eine Unmenge Katzen, und einige sehen davon genau so aus wie Ihre Mieze.“
Frau Lorm lächelte glücklich, und Jim schämte sich. Trotz der frommen Lüge.
Aber er würde Herrn Harst bitten, daß dieser einen möglichst ähnlichen Ersatz für Mieze beschaffte.
Er hatte ein grenzenloses Vertrauen zu Harst. —
Ich will hier gleich einflechten, daß Mutter Lorm nie die Wahrheit erfuhr und in dem Glauben gelassen wurde, Mieze sei im Tierasyl verwechselt worden. Sie war mit der neuen Mieze sehr zufrieden, und sie glaubte ganz fest daran, ihre alte Mieze sei zu tierliebenden Leuten ‚nach auswärts‘ gekommen.
Als Jim die Greisin zu einer windgeschützten Bank in den Anlagen geführt hatte, bezog er wieder seinen Beobachtungsposten vor dem Gehöft, nachdem er nochmals die bewußte Nummer ‚Uhland‘ angerufen hatte.
9. Kapitel
Thomas Barding schlägt zu.
Als damals abends bei uns das Telefon Sturm läutete und sich dann Jimmy meldete und stotternd vor Aufregung Bericht erstattete, hatten wir gerade aufbrechen wollen.
Auch wir waren auf Mutter Lorms Anzeige gestoßen, und mein Freund hatte sofort Bechert und Rabblay verständigt, so daß die Einkreisung des Gehöfts in spätestens einer Stunde vollendet sein konnte.
Harst machte von diesem schnellen glänzenden Erfolg seines glücklichen Einfalles, die Annonce gerade mit dem Wortlaut einzurücken, keinerlei Aufhebens.
„Wir haben aber Glück gehabt, mein Alter“, sagte er nur. „Frau Lorm verdanken wir alles, — seien wir gerecht!“
„Und wenn sie in ihrer Freude gerade denen, die nichts von der Anzeige wissen dürfen, die Geschichte erzählt hätte, wäre alles verdorben gewesen“, warf ich ein…
„Dann wäre immer noch Jim zur Stelle gewesen“, meinte Harst und schlüpfte in den Mantel und schob die Pistole in die Tasche. — —
Der Gefangene, der sofort wieder in seinen Kerker zurückgekehrt war, nachdem er am Steuer des Autos den Mann wiedererkannt hatte, der sich in Hamburg ihm als Landsmann so freundschaftlich genähert und sich sehr bald als heimtückischer Verbrecher entpuppt hatte, saß jetzt wie immer an seinem Tischchen und las und rauchte, als Mac Orby droben die Falltür öffnete und den Korb mit dem Essen an einem Strick herabließ…
„Haben Sie noch Wünsche?“, fragte er mürrisch wie stets.
„Nein…!“
Orby lachte hämisch.
„Und wenn Sie Wünsche gehabt hätten, würden Sie nichts mehr erhalten haben… Die guten Tage sind vorbei… Nur das verfl… Weibsbild war so weichherzig. Sehr bald werden sie gar nichts mehr brauchen!“
Der Gefangene blickte gleichgültig zu ihm empor.
„So, — gar nichts mehr brauchen?!“, meinte er ruhig. „Das heißt also, ihr wollt mich ermorden…! Ich verstehe.“
Er packte den Korb aus, in dem auch eine halbe Flasche Rotwein lag.
Mac Orby fauchte böse:
„Verdammt, — wer redet denn von Ermorden? Das ist ja Unsinn… Eine solche Henne mit so viel goldenen, Eiern würgt man nicht ab.“
„Allerdings, das wäre eine Dummheit“, sagte der Gefangene gelassen. „Inzwischen werdet ihr wohl all das Geld, das hier auf deutschen Banken durch meine Kreditbriefe zu ergaunern war, abgehoben haben. Sagt mir nun endlich den Preis für meine endgültige Freilassung.“
Jedes Wort, das der Eingekerkerte sprach, war sorgfältig überlegt.
Mac Orby erwiderte kurz:
„Morgen reden wir darüber… Gute Nacht…“
Er zog den Korb empor.
Er hatte dem Gefangenen noch nie gute Nacht gewünscht, und der Eingekerkerte lächelte unmerklich.
Als droben die Falltür herniedersank und wie stets durch Gewichte beschwert wurde, wartete der Gefangene noch eine Weile und betrachtete dann die Flasche Rotwein mit spöttischem Mundverziehen.
Er nahm einen Korkenzieher, öffnete sie und füllte das Glas und roch an dem Wein, indem er ihn hin und her schüttelte,
„Die guten Tage sind vorbei… !!“, murmelte er ironisch. „Und dann spenden die Schurken mir trotzdem noch Rotwein?! Welche Narren!! Für wie dumm halten sie mich doch!“
Er stellte das Weinglas beiseite.
Der Wein roch etwas nach Bittermandelöl.
„Giftmischer!“, sagte der Eingekerkerte in ganz anderem Tone und erhob sich.
Dann wurde er wieder nachdenklich.
„Das Mädchen ist das große Rätsel“, flüsterte er kopfschüttelnd. „Sie kann nicht ganz schlecht sein, diese angebliche Miß Webbs… Der Kerl nennt sie jetzt Weibsbild… Ob die Schufte ihr etwas angetan haben?!“
Er spann sich immer tiefer in diese Gedanken ein.
„Schon in Hamburg benahm sie sich seltsam… Zuweilen machte es den Eindruck, als wollte sie mich warnen. Aber dann trat wieder dieser harte, entschlossene Zug in ihr hübsches Gesicht, und als die Schufte mich im Auto wegschafften, verlangte sie sehr energisch, daß ich nicht betäubt würde…“
Dann schob er all diese trüben Erinnerungen mit einer kraftvollen Handbewegung von sich…
„… Ich werde nun sehr bald wissen, wo ich mich befinde, und mich auch um das Mädchen kümmern… Die Kerle mögen sie gleichfalls eingesperrt haben. Sie sollen sich hüten! Ich bin nicht mehr derselbe Thomas Barding, den sie einkerkerten und ausplünderten… Das ruhige Leben als Rentner und Millionär hatte mich verweichlicht. Ich bin nun wieder der Barding von einst!“
Er schaute auf seine Uhr, horchte, rückte den Schrank wieder von der Wand und nahm die kleine Petroleumlampe mit sich.
Wie ein Maulwurf mußte er sich durch die enge Röhre nach oben arbeiten.
Als er sich im alten, unbenutzten Stallgebäude befand, löschte er die Lampe schnell aus und horchte wieder.
Vorsichtig schlich er zu einem der Fenster, die auf den Hof hinausgingen.
Es war nicht vergittert und hatte nur noch einige Scheibenreste im Rahmen, die verstaubt und von Spinngeweben überzogen waren.
Draußen war es fast dunkel.
Von Westen her sah er eine pechschwarze Gewitterwand herausziehen, über die zuweilen ein heller Schein hinwegflog: Wetterleuchten!
Die Finsternis wuchs…
Die ersten Regentropfen fielen…
Thomas Barding fühlte nach seiner unter der Jacke verborgenen Waffe, dem Eisenstab, zog den Hut fester über das weiße Haar und kletterte geschickt ins Freie.
Er freute sich seiner Kräfte und seiner körperlichen und geistigen Frische. Seine Gefangenschaft hatte all seine Muskeln wieder gestählt. Die unendlich mühsame Arbeit des Herstellens des engen Tunnels war für ihn zur Quelle der Verjüngung geworden.
Er huschte tief geduckt an der Stallwand entlang, näherte sich durch den Garten dem Wohngebäude, dessen Fenster erleuchtet waren.
Er wußte immer noch nicht, welche Stadt, welcher Ort dies sein mochte.
Wie sollte er auch?!
Er blickte durch die schlecht schließenden Fenstervorhänge. Dieses Zimmer war leer. Auch das zweite.
Er sah einfache, uralte Möbel.
Ähnlichen Hausrat hatten seine Eltern besessen, bevor er nach Amerika auswanderte und dann ganz Amerikaner wurde. Von seinen Angehörigen lebte niemand mehr. Seine große Reise war zugleich ein halber Abschied für immer gewesen, allen Ernstes hatte er sich mit der Absicht getragen, in Deutschland zu bleiben und sich hier eine schöne Besitzung zu erwerben. Die Sehnsucht nach der alten Heimat war urplötzlich in ihm erwacht gewesen, und. er folgte diesem Sehnen, reich mit Geld versehen, und lief in Hamburg diesem Webbs und der schönen Nichte in die Arme, — ahnungslos, daß er es mit Verbrechern zu tun hätte.
Er schlich zu den anderen Fenstern.
Die waren dunkel.
Dann begab er sich zur Rückseite des Gebäudes und legte die Hand auf den Drücker der Hintertür.
Sie war verschlossen.
Der Gefangene lächelte überlegen.
Er war ja Schlosser von Beruf.
Er faßte in die Tasche und zog ein Stück Draht hervor, bog es zurecht und benutzte es als Dietrich.
Nun befand er sich im Hinterflur.
Draußen prasselte Hagel hernieder…
Es war pechfinster ringsum…
Er lauschte und hielt seine Waffe bereit…
„Giftmörder!“, murmelte er drohend.
Plötzlich glomm in der Dunkelheit vor ihm, aber in der Tiefe, Laternenschein auf.
Er erkannte, daß er vor einer offenen Kellertür stand und daß ein einzelner Mann die Kellertreppe emporkam. Es war Mac Orby.
Thomas Barding, der schon vorhin seine Schuhe abgestreift hatte, vernahm gleichzeitig aus dem Keller das gleichmäßige Arbeiten irgend einer Maschine.
Er sah auch, daß Mac Orby in der Linken ein dickes Bündel Banknoten trug.
Er trat zur Seite, wartete…
Als Mac Orby um die Ecke bog, schlug Barding rücksichtslos zu und fing den Umsinkenden auf und packte noch rechtzeitig die Laterne.
Die falschen Geldscheine fielen zu Boden und flatterten hierhin und dorthin.
Er trug den Bewußtlosen zur Hintertür, wo an der Wand ein großer bunter Bauernschrank stand, und legte Mac Orby auf die rissigen Dielen, befühlte die Taschen und fand eine Pistole und ein Dolchmesser.
Dann öffnete er den Schrank, der nur etwas Wäsche enthielt, und verstaute seinen Wächter in dem altertümlichen Riesenschrank und schloß die Tür wieder zu…
Als er sich nun umwandte, fiel das Licht seiner erbeuteten Laterne auf einen schlanken Herrn im triefenden Gummimantel.
Barding erschrak und verwünschte seinen Leichtsinn…
In der erhobenen Hand des Fremden schimmerte matt eine Repetierpistole.
Da der Herr jedoch unmerklich lächelte, und da er außerdem ein Gesicht hatte, dessen faltige, scharfe Züge, graue Augen und kräftige Kinnpartie gerade durch diesen Anflug von Lächeln etwas überaus Liebenswürdiges bekamen, wandelte sich Bardings erster Schreck sehr bald zu einem befreienden Gefühl der Sicherheit.
„Wer sind Sie?!“, flüsterte er hastig.
Jetzt erst bemerkte er hinter dem Schlanken im Dunkel des Flurs noch ein paar Gestalten, darunter auch einen halbwüchsigen Burschen mit kecker Sportmütze.
„Harst“, flüsterte der Herr zurück.
Barding klang der Name bekannt.
Dann erinnerte er sich.
„Der Liebhaberdetektiv Harst?!“
Mein Freund verzog schmerzlich die Mundwinkel.
„Wenn Sie mich jetzt noch den deutschen Sherlock Holmes nennen, werde ich böse, Mr. Barding… Detektiv ist ein scheußliches Wort. Ich bin Harald Harst, das genügt durchaus, denke ich…“
Er ließ die Waffe sinken.
Barding trat auf ihn zu.
„Wollten Sie mich befreien?“
„Ja. Sie haben selbst den Weg zum Licht gefunden, Mr, Barding. Es muß eine mühsame Arbeit gewesen sein.“
„Hoffentlich trank niemand von Ihnen von dem Rotwein in meiner Zelle?“, fragte der Millionär angstvoll.
„Nein, seien Sie ganz beruhigt. Ich ahnte, daß man Sie… auslöschen wollte, nachdem Miß Webbs sich durch einen Zettel verraten hatte…“
Jetzt sah Barding noch mehr Leute, die alle in den geräumigen Keller hinabstiegen.
„Kriminalpolizei, Mr. Harst?“
„Gewiß… — Sie gestatten, daß ich vorstelle: Mein Freund Schraut, — und dies ist die Hauptperson, der Liftboy Jim Parson, ein sehr braver und kluger Junge, dem wir unendlich viel zu verdanken haben. Die anderen, so Oberinspektor Rabblay und Kommissar Bechert, haben sich mit in die Keller hinabbegeben.“
Barding deutete auf die umhergestreuten Banknoten.
„Falschgeld, Herr Harst?“, fragte er, jetzt seine Muttersprache benutzend.
„Ja, — englische Fünfpfundnoten… Prima Arbeit. Doch darüber reden wir nachher. — Schraut, wir wollen dem Mann dort im Schrank für alle Fälle Handschellen anlegen. Mac Orby dürfte einen harten Schädel haben, obwohl Sie sehr kräftig zuschlugen, Herr Barding…“
10. Kapitel
Wer war Miß Webbs?!
Wir setzten uns dann in das Wohnzimmer, jedoch brauchten wir nicht mehr lange zu warten.
Die Tür flog auf, und Rabblay schob den ‚Oberst Stuart Wellesby‘ als ersten ins Zimmer.
„Bitte, — hier sehen Sie den berüchtigten Peter Happard!“, rief der Oberinspektor strahlend. „Wir haben nun endlich die ganze Bande erwischt, acht Mann…“
„Nein“, verbesserte Harst. „Die Webbs gehört mit dazu!“
Er tauschte mit Rabblay einen eigentümlichen Blick aus.
Die Kriminalbeamten führten auch die übrigen Gefesselten herein, und als letzte Honoria Webbs, die mit tief gesenktem Kopfe stehen blieb.
„Harst, die Webbs war wirklich eingesperrt“, erklärte Bechert genau so strahlend wie Rabblay. „Wir haben drei Druckpressen gefunden, unheimliche Vorräte an Falschgeld, dazu die ganze Korrespondenz der Bande, so daß wir auch die Verteiler überall verhaften lassen können. Nun wird die Welt wohl eine Weile Ruhe haben, denn eine zweite Bande wie die Peter Happards wird es kaum mehr geben.“
„Das war ja auch der Zweck der Übung“, meinte der dürre Rabblay ernst. „Ich wollte all die Kerle abfassen, alle, — es sollte ein Hauptschlag werden, — den Ruhm ernten Sie, Herr Harst, durch Ihre Katzenanzeige. Das klingt wie ein schlechter Witz und ist doch wahr.“
„Den Ruhm“, lehnte Harst ebenso ernst ab, „teile ich mit Jim Parson, mit Ihnen, lieber Rabblay und mit Freund Bechert.“
Er blickte zu Honoria Webbs hinüber.
„Bevor ich jetzt einige letzte Erläuterungen gebe, möchte ich Miß Webbs anderswo unterbringen… Es ist besser, sie hört nicht zu… — Sie gestatten doch, Bechert…“
„Aber bitte…“
Trotzdem machte Bechert ein sehr erstauntes Gesicht.
Harst nahm die Webbs etwas rücksichtslos beim Arm, führte sie in den Flur und schlug die Tür hinter sich zu.
Peter Happard hatte ihr noch höhnisch nachgerufen:
„Nehmen Sie sich vor der in acht!! Das ist unser Oberhaupt gewesen!“
Rabblay betrachtete den großen Verbrecher sehr geringschätzig:
„Sie lügen ja, Happard!!“
„So?! Lügen?! Es ist meine Nichte, Mr. Rabblay. Ich werde wohl am besten wissen, was ich von ihr zu halten habe.“
„Das bezweifele ich“, brummte der Oberinspektor. „Ist mir auch gleichgültig… Sie werden ebenfalls gehenkt, Happard… In London… Wer auf Polizeibeamte im Dienst schießt und trifft, ist reif für die Hanfkrawatte…“
Peter Happard wurde erdfahl.
Aber er biß die Zähne zusammen und schwieg.
Dann kehrte Harst sehr übereilt zurück. Er stürzte geradezu ins Zimmer und war ganz außer Atem…
„Die Webbs ist entflohen!! Sie wollte nur ihren Mantel und Hut holen und festere Schuhe anziehen, — ich ließ sie allein, — durch das Fenster ist sie entkommen… Leider hatten Sie ihre Wache auf dem Hofe und auf der Straße bereits eingezogen, Bechert. Ich befahl einem Ihrer Leute, sofort alle Bahnhöfe und so weiter sperren zu lassen… — Ich bedauere mein Pech außerordentlich… Hoffentlich erwischen wir sie noch… Übrigens habe ich soeben mit Frau Lorm gesprochen, — — aber das ist ja nebensächlich.“
Er nahm Platz und wandte sich an Barding.
„Wir wollen alles recht kurz erledigen… Wo wurden Sie von Happard, der sich wahrscheinlich Webbs nannte, in eine Falle gelockt und verschleppt?“
„In Hamburg“, erklärte Barding und gab noch einige Einzelheiten an.
Bechert blickte den Millionär ungläubig an.
„Wirklich in Hamburg?! Und hier in Berlin im Atlantik haben Sie nie gewohnt?“
„Nie!“
„Das verstehe ein anderer!“, rief Bechert noch immer zweifelnd. „Und wer war der hiesige Barding, Harst?!“
„Der Barding, der hier im Atlantik mit seiner hübschen Sekretärin abstieg, war der da!“ Harst deutete auf einen der Verhafteten, der einige Ähnlichkeit mit dem Millionär hatte. „Der echte Barding wurde also bereits in Hamburg entführt und hier in die neue Garage gebracht. Der falsche Barding wohnte im Atlantik und hob alles Geld ab, das vom echten Barding zu ergaunern war: Gefälschte Unterschriften! — Als die Bande die letzten 180000 Mark eingesäckelt hatten, war es für den falschen Barding Zeit zum Verschwinden, und da verschwand er eben… Wenn ich hier erörtern sollte, wie ich diesen Schwindel herausgemerkt habe, müßte ich stundenlang reden. Es genügt: Barding bestätigt, daß er vom Hamburg aus verschleppt wurde.“
„Das stimmt“, nickte der Millionär.
Bechert schüttelte immer wieder den Kopf.
„Harst, das müssen Sie später ganz genau auseinandersetzen… Ihre Schlußfolgerungen interessieren mich.“
„Ja, später…“, versprach Harst.
Rabblay zeigte eine Gleichgültigkeit, die mich staunen ließ.
Er sprach überhaupt nichts. —
Gegen elf Uhr nachts fuhren Rabblay, Jim und wir beide in die Stadt zurück.
Das Gewitter war längst vorübergezogen. Freund Jim stieg an der Turmstraße aus.
„Junge“, sagte Rabblay herzlich und drückte ihm die Hand, „du bist zum Liftboy zu schade. Du wirst durch diesen Kriminalfall mehr Geld verdienen, als du jetzt ahnst. Dann kann deine Mutter etwas für dich tun… Harst wird sich deiner annehmen. Die englische Regierung hat für die Ergreifung der Happard-Bande 25000 Pfund Belohnung ausgesetzt, davon bekommst du 5000 Pfund mindestens, — so wahr ich Rabblay heiße! — Gute Nacht, Junge…“
Der Oberinspektor folgte Harsts Einladung zu einem verspäteten Imbiß bei uns, und als wir daheim angelangt waren, schob mein Freund unseren Gast in unser Büro, in dem Licht brannte, und machte rasch die Tür wieder zu.
„Was soll das, Harald?!“, fragte ich mißtrauisch.
„Rabblay soll Miß Webbs allein begrüßen…“
„Wen…?! Miß Webbs…?!“
„Du… — Nun besorge alles Nötige, auch ein paar Flaschen Sekt… Ich helfe dir…“
Ich faßte ihn beim Rockaufschlag.
„Du, — — wer ist Miß Webbs?!“
Ich ahnte so allerlei…
Er lachte… „Bist du aber begriffsstutzig!! Wer soll es denn sein? Natürlich Rabblays Tochter Daisy, ein echtes Kind ihres Vaters, die ihm ebenso half, die Happard-Bande aufzuspüren, die sich mit Happard anfreundete und…“
„Nun begreife ich!!“, meinte ich, tief Atem holend.
„Das hat aber verflucht lange gedauert, mein Alter!!“ —
Rabblay war in Gegenwart seines einzigen Kindes ein völlig anderer.
„Meine lieben deutschen Freunde“, sagte er munter, „Art läßt nicht von Art. Es muß bei Daisy wohl im Blut liegen, jedenfalls bestürmte sie mich mit Bitten, mir helfen zu dürfen, und betonte dabei, daß ja niemand wüßte, daß sie meine Tochter sei. Ich lehnte kurz ab. Und was tat sie?! Sie setzte ihren Kopf dennoch durch und fuhr als Miß Webbs nach Hamburg. Leider hatte ich ihr erzählt, daß ich meine Nachforschungen dort beginnen würde, und daß Peter Happard sich dort verborgen hielte. Sie hatte nun auch Papiere für einen Mr. Webbs bei sich, die sie mir ehrlich gestanden insgeheim weggenommen hatte. — Mag sie Ihnen ihre Erlebnisse nun selbst erzählen. Ich will nur noch bemerken, daß mich fast der Schlag traf, als ich mein Mädel hier in Berlin als Sekretärin des unechten Barding im Atlantik vorfand, der inzwischen auch bereits ‚verschwunden‘ war. Fortan blieb ich mit Daisy beständig in Verbindung, bis der mißtrauische Happard, der ihr nie das Versteck der Bande bei Mutter Lorm verraten hatte, durch den Zettel mit Ihrer Telefonnummer seinen Argwohn bestätigt fand… — Jetzt werden Sie, lieber Schraut, auch meine Angst um mein Kind und meine Sorge um den Verlust meiner Stellung verstehen, die Harst sehr richtig herausgefühlt hat. Ich hatte eben alles auf eine Karte gesetzt. Beinahe hätte ich verspielt — — beinahe!! Die Katzenanzeige hat, mich herausgehauen… Ihre Anzeige, Herr Harst! Ich liebe jetzt Katzen mit gelblichem Fell und schwärzlichen Flecken… Du darfst mir eine zum Geburtstag schenken, Daisy-Liebling, aber eine ausgestopfte, und möglichst ohne Füllung… Du verstehst…“
„Ich verstehe, Vater“, lächelte ‚Miß Webbs‘ übermütig. „Herr Harst, seit der Arzt Vater ein Katzenfell gegen Rheuma verordnet hat, haßt er Katzen! Er will ja nie krank sein… Er behauptet, seine Schmerzen rührten von den beiden Kugeln her, die Happard ihm in das Muskelfleisch schoß…“
Plötzlich schnurrte das Telefon auf dem Schreibtisch. Harst meldete sich… Wir verhielten uns ganz still. Jedes Wort war zu verstehen.
„Ja… hier ist Jim Parson, Herr Harst… Mir ist noch etwas eingefallen… Mutter hat ja morgen Geburtstag, und ich möchte ihr doch recht was Schönes schenken… Kann ich vielleicht von Mr, Rabblay einen kleinen Vorschuß bekommen?“
„Ja!“, brüllte Rabblay… „Ich schicke dir telegrafisch vorläufig dreihundert Mark. — Junge, aus dir wird mal ein erstklassiger Detektiv werden. Ich habe als junger Mensch auch immer Vorschuß erbeten. — Gute Nacht…“
„… Gute Nacht…“
Nächster Band:
Der Getreidespeicher der Morton-Bande.