Sie sind hier

Die Fremde aus der Kakadu-Bar

 

Harald Harst

 

Band: 351

 

Die Fremde aus der Kakadu-Bar

 

Von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 16,
Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1933 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16

 

 

1. Kapitel

Der Absturz des D. O. II.

Die Männer hockten stumpf und in ihr ungewisses Schicksal widerstandslos ergeben um das qualmend Feuer.

Der eisige Novemberwind fuhr in sausenden Stößen über die hügelige Steppe und fachte zuweilen die knisternde Glut zu hohen roten Zungen an, die wie aus dem Rachen eines Untiers das fliegende Gewölk begeifern wollten.

Unweit der Talmulde, in der drei der Überlebenden des D. O. II. sich erschöpft und verzweifelt niedergelassen hatten, lagen die Reste des zertrümmerten Großflugzeuges.

Eingeklemmt in die Trümmer harrten dort auch die drei Toten auf das Erscheinen der Gerichtskommission aus der nächsten Stadt.

Der Bordfunker Hartwick kaute an einem Zigarettenstummel und sagte müde und ohne innere Überzeugung:

„Nein, das ging nicht mit rechten Dingen zu, Gelderfrett, — rede nicht viel — ich kenne Flugzeugkapitän Lorm seit vier Jahren… Lorm schläft nicht ein…“

Der Steward und Koch Gelderfrett massierte seine zerschundene, verstauchte Hand.

„Das Frauenzimmer etwa?!“ knurrte er unwillig wie ein bissiger Hund.

„Einer der beiden überlebenden Passagiere, ein gutgekleideter Mann mit sehr scharfen Zügen, der vorhin erst aus tiefer Ohnmacht erwacht, jedoch ohne ernstere Verletzungen weggekommen war, stocherte mit einem Kiefernknüttel in der Glut und betrachtete zuweilen seine Gefährten etwas gedankenverloren und meinte nun nach längerer Pause:

„Sie hätten die Frau nicht weglassen sollen, Herr Hartwick. Es ist doch immerhin auffallend, daß sie sich derart energisch bereiterklärte, über die Heide allein zur Stadt zu wandern.“

Der Funker zuckte nur die Achseln.

Aber Gelderfrett gröbste den Passagier unnötig scharf an.

„Herr Baron, das schert Sie den Deubel was…! Verstehen Sie!! Die Dame ist mir als häufiger Fluggast längst bekannt, und…“

Der Funker hob schnell den Kopf.

„Still, — — ein Auto…! Nein, zwei… Die Herren aus der Stadt.“

Baron Löwenheet blieb sitzen, während Hartwick und der dünne, überbewegliche Steward der Kommission entgegeneilten.

Der Funker sah sofort, daß die Frau nicht mit zurückgekehrt war.

„Wo ist die Fürstin Uwalow?“, fragte er den alten Landgerichtsrat etwas gereizt.

Die Herren staunten…

„Fürstin?! Welche Fürstin?!“

Gelderfrett lachte nervös.

„Na, die Dame, die den Absturz gemeldet hat, Herr Landgerichtsrat…!“

Der Kriminalinspektor drängte sich vor.

„Eine Dame rief mich an, das stimmt… Ihren Namen nannte sie nicht… Sie sprach von einem Telefonautomaten aus und schien sehr erschöpft…“

Hektor Löwenheet hatte sich der Gruppe zugesellt.

„Gestatten, Baron Löwenheet“, stellte er sich vor. „Herr Landgerichtsrat, ich möchte Ihnen gewisse Verdachtsmomente sofort mitteilen, die auf diese angebliche Fürstin ein recht eigentümliches Licht werfen…“ — —

Kriminalinspektor Dreßler sauste in dem einen Auto zur Stadt zurück. Nachdem er die nötigen Befehle ausgegeben hatte, die der Fürstin ein Verschwinden in dem nur eine Stunde entfernten Ameisenhaufen Berlin unmöglich machen sollten, lehnte er sich in seinen Schreibsessel zurück und blätterte in seinem abgegriffenen Notizbuch.

Er fand die betreffende Telefonnummer, bekam sofort Anschluß und war froh, als eine klare, ruhige Stimme nähere Einzelheiten verlangte. —

In derselben Nacht — unser Abenteuer spielte sich in der Zeit kurz nach der Inflation ab — gegen halb Zwölf weckte mich Harst und teilte mir mit, wir müßten sofort aufbrechen.

„Ein Auto habe ich bereits bestellt, mein Alter… Unter den Toten der Flugzeugkatastrophe befindet sich der holländische Großindustrielle Pieter van Lion, auf den in den letzten Monaten vier Attentate versucht wurden. Das fünfte ist geglückt. Jetzt ist er tot.“

Als wir nach einer Fahrt in allerschärfstem Tempo die Stelle des Absturzes erreicht hatten, an der ein wenig benutzter, jetzt hartgefrorener Heideweg vorüberführte, stoppte unser Chauffeur und rief seinen Kollegen von den beiden Dienstautos der Kommission wie ahnungslos die Frage zu, was hier denn geschehen sei…

Auch das war Absicht und mit unserem Chauffeur vereinbart.

Der behäbige Kriminalinspektor Dreßler, gleichfalls völlig im Bilde, spielte sehr geschickt den Überraschten, als Harst dann seinen Namen nannte und hinzufügte, wir seien nach Mecklenburg unterwegs… Immerhin eile unsere dortige Angelegenheit nicht so sehr, daß er nicht hier einen kleinen Aufenthalt einschieben könnte.

All das sah durchaus harmlos aus, und mein Freund besichtigte die Unglücksstätte und die Toten ebenfalls nur ganz flüchtig, so daß außer Dreßler niemand auf den Gedanken kommen konnte, hier läge ein abgekartetes Spiel zwischen dem Kriminalinspektor und uns vor.

Der Polizeiarzt und der Landgerichtsrat schienen über unsere Einmischung übrigens wenig erbaut zu sein. Die nahe Stadt, ein bekannter Erholungsort für die Berliner, konnte einen „Kriminalfall“ schon ihres unantastbaren Rufes als friedvolles Spießbürgernest wegen in keiner Weise gebrauchen, und die hohen Herren von den Behörden waren sichtlich empört darüber, vom Stammtisch weg in diese rauhe Novembernacht hinausgetrieben worden zu sein, jedenfalls, viel Entgegenkommen fanden wir nicht, und Harst verabschiedete sich dann auch nach kaum zehn Minuten, bat sehr höflich und sehr ironisch der Störung wegen um Entschuldigung und meinte zum Schluß mit gewohnter Doppeldeutigkeit:

„Ich bin überzeugt, daß Sie, Herr Baron, die Fürstin Uwalow zu Unrecht beargwöhnen. Das Risiko, einen Absturz absichtlich herbeizuführen, ist denn doch zu groß, oder aber man selbst wäre lebensüberdrüssig. Gute Nacht, meine Herren, wünsche wohl zu ruhen.“

Wir stiegen ein, der Motor schnurrte, und die stille Heide nahm uns wieder auf.

Unser Chauffeur (dasselbe Leihauto hatte uns schon öfter gedient) erreichte ein größeres Waldstück unweit der Chaussee, lenkte geschickt in eine Schonung ein und hielt an…

„Recht so, Herr Harst?“

„Sehr gut so, lieber Mielke… — Reichen Sie mal den Koffer vom Gepäckhalter in den Wagen…“

Eine halbe Stunde darauf, als Kriminalinspektor Dreßler, der keinen Stammtisch und erst recht keinen Skat liebte und in dem behaglichen Spießernest zu versauern fürchtete, ganz allein neben den Flugzeugtrümmern und den drei Toten an einem helllodernden Feuer Wache hielt und das Eintreffen des Leichenautos abwartete, gesellten sich zwei Stromer zu ihm, die er im ersten Augenblick höchst argwöhnisch musterte.

Dann lachte er leise…

„Die Maskierung ging ja überraschend fix, Herr Harst…“

Mein Freund wurde ungehalten.

„Leiser, bitte…! Wir werden auch sofort wieder verschwinden… Wir sahen die beiden Autos der hohen Kommissare davonfahren… Tun Sie, als wären Sie eingeschlafen… Legen Sie sich lang hin und schnarchen Sie.“

Dreßler schaute Harst verständnislos an.

Mein Freund fügte nur noch hinzu:

„Natürlich liegt ein Verbrechen vor… Das konnte ein Blinder mit dem Krückstock fühlen… Tun Sie, wie ich es befahl… Wir bleiben in der Nähe… Für alle Fälle, — jagen Sie uns weg, werden Sie grob, brüllen Sie meinetwegen… Womöglich ist der Jemand bereits in Sichtweite…“

Dreßler verstand plötzlich, worauf es ankam.

Er wurde grob, und die beiden Stromer schlichen eilends davon.

Kaum zehn Minuten später, als des Kriminalinspektors Schnarchkonzert sogar die fauchenden Windstöße übertönte, löste sich aus einem dunklen Fichtenstreifen, der von verdorrtem Unkraut umwuchert war, ein vorsichtiger Schatten heraus und kroch lautlos auf die Trümmer der großen Maschine zu, die eine der ersten des neuen Großtyps gewesen war.

Harst, der mit dem Fernglas vor den Augen neben mir im Heidekraut lag, flüsterte enttäuscht:

„Ein Mann! Ein Kollege! Ein echter Stromer! — Das ist niemals die Fürstin…“

Der Wind führte den Benzingeruch des ausgelaufenen Tanks bis zu uns herüber.

Mein Freund legte plötzlich das Glas weg und schnellte geduckt in langen Sätzen vorwärts.

Ich sah nur, daß der Kollege ein Zündholz angerieben hatte, daß er nun eine Zündschnur hervorholte, — dann hatte Harst ihn am Kragen…

„Hallo, Penner, — — hier wird nicht geklaut!“

Dreßler fuhr hoch, und gleich darauf hockte der armselige Wicht mit gebundenen Händen am Feuer und brachte stotternd sein Geständnis vor.

Er log nicht.

Irgend jemand hatte ihn vorhin unweit der Stadt in einer leeren Scheune aufgestöbert und ihm dreihundert Mark gegeben, mit dem Befehl, die Flugzeugreste in Brand zu stecken.

„War es eine Frau?“, fragte Dreßler sehr kurz angebunden.

„Nein… Ein Herr… Ich sah ihn nur im Dunkeln“, erklärte der Strolch zitternd vor Kälte und Angst.

Da mein Freund unsere fernere Anwesenheit für überflüssig hielt, gab er Dreßler insgeheim einen Wink, und der Kriminalinspektor jagte uns davon…

„Schert euch zum Teufel… Hier habt ihr drei Mark… Ich kann mir hier nicht drei Strolche auf den Hals laden!“

Wir trollten uns…

Der echte Kollege blickte uns traurig nach…

Er verwünschte den Fremden…

Versuchte Brandstiftung, — — das kostete mindestens ein Jahr… — —

So begann der denkwürdige Kriminalfall, der sich um den Tod des Großindustriellen van Lion drehte, dem ein losgesprungenes Stück des einen Propellers wie ein Dolch die Brust durchbohrt hatte.

 

 

2. Kapitel

Harsts Ratschläge.

Unser Chauffeur Mielke, der mit unseren Gewohnheiten genau vertraut war, hatte derweil dem Reisekoffer alles Nötige entnommen und empfing uns in der dichten Schonung mit einem Aluminiumkännchen frisch aufgebrühten Kaffees.

Wir setzten uns in das Auto, tranken und wechselten knappe Bemerkungen über das Geschehene.

Bald darauf fand sich auch Dreßler ein, Er berichtete, daß der verhaftete Vagabund durch seine Beamten nach der Stadt gebracht worden sei… „Ich habe angedeutet, daß ich einmal die Umgebung absuchen wollte. Wie denken Sie über die Sache, Herr Harst?“

„Mord!“, meinte Harst sehr bestimmt. „Ich rate Ihnen das Propellerstück, das van Lions Tod verschuldet hat, daraufhin untersuchen zu lassen, ob sich an dem oberen dickeren Teil des dolchförmigen Stückes nicht feine Teilchen von Wildlederhandschuhen fest stellen lassen. Die Fürstin trug helle Wildlederhandschuhe, bekundete der Funker, der Steward und der Baron Löwenheet gleichmäßig. Ferner muß genau geprüft werden, ob das losgesprungene Propellerstück zu einem der zersplitterten Propeller paßt. Es wird nicht passen, das behaupte ich schon jetzt. Der Stromer sollte die Flugzeugreste nur in Brand stecken, um diesen Nachweis unmöglich zu machen. Deshalb rechnete ich auch mit dem Versuch einer derartigen Brandstiftung. Ich habe recht behalten. Die als Mann verkleidete Fürstin Uwalow kann somit die Mörderin sein.“

Das Deckenlicht in unserer Limousine brannte, und Dreßler machte sich eifrig Notizen.

Mein Freund, tief in seiner Polsterecke zurückgelehnt und zerstreut an seiner erloschenen Zigarette saugend, fuhr in seiner geistesabwesenden Art fort:

„Dann wäre es nötig, die Reste des kalten Tees zu untersuchen, den Flugzeugkapitän Lorm in einer Feldflasche neben dem Führersitz griffbereit hatte… Wahrscheinlich wird der Inhalt der Flasche mit einem starken Schlaf oder Betäubungsmittel durchsetzt sein. Erinnern Sie sich an Baron Löwenheets Andeutungen. Auch er beargwöhnt die Fürstin. Als er erwachte, als die Maschine sehr schief lag, stand die Fürstin in der geöffneten Tür des Führerstandes und huschte sofort durch die Sitzreihen nach hinten. Der Baron war noch halb schlaftrunken, als das Flugzeug aufprallte. Trotzdem gewann er den Eindruck, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Peter Lorm soll völlig zusammengesunken auf seinem Sitz gesessen haben. Von einer Schrecklähmung kann keine Rede sein. Lorm war alter Kampfflieger.“

Dreßlers Bleistift flog über das Papier.

„Ein Glück, daß ich Sie herbeirief, Herr Harst“, murmelte er,

„Glück?! Warten Sie ab, Herr Dreßler… Ich sehe böse Scherereien voraus…“

Der Kriminalinspektor blickte überrascht auf.

„Scherereien?!“

„Ja, van Lion war Präsident eines neugegründeten internationalen Syndikats, und ob den deutschen Mitgliedern des Syndikats ein allzu energisches Hineinleuchten in die Einzelheiten dieser Katastrophe angenehm sein wird, bleibt zweifelhaft. Wir leben in einer Zeit des Absinkens aller Moralbegriffe.“

Dreßler nickte mit ärgerlichem Auflachen,

„Stimmt, — deshalb sitze ich jetzt in einem Provinznest! — Noch etwas, Herr Harst?“

Mielke, der draußen Wache hielt, öffnete die eine Tür. Der Wind wehte die Vorhänge zur Seite und schlug den Türfenstervorhang dem Chauffeur ins Gesicht…

„Herr Harst, mir war es soeben so, als ob eine Gestalt durch die Schonung huschte…“, meldete er etwas erregt.

„Mielke, wer auf Posten raucht wie Sie, verscheucht jeden Spion“, meinte Harst vorwurfsvoll… „An der Sache ist nun leider nichts mehr zu ändern. Ihnen, Herr Dreßler, gebe ich den guten Rat, den Rückzug mit entsicherter Pistole zurückzulegen. Die Fürstin Uwalow kann genau berechnet haben, wo etwa das Flugzeug abstürzen würde und kann Helfershelfer in der Nähe gehabt haben. Seien Sie vorsichtig. Ich würde Ihre Notizen auch lieber verbrennen. Geschriebenes kann viel Unheil anrichten. Weiter hätte ich Ihnen nichts mitzuteilen, vorläufig…“

Der Inspektor, ein großer, stattlicher Mann, der trotz seiner Körperfülle äußerst beweglich war, drückte uns zum Abschied die Hand und entfernte sich. Seine Notizen hatte er Harst übergeben.

Kaum war Dreßler außer Sicht, als mein Freund mir zuwinkte. Wir liefen im Bogen durch die Schonung und erreichten vor Dreßler die offene Heide, duckten uns hinter einige Krüppelkiefern und suchten mit den Ferngläsern die Umgebung ab.

Der scharfe Wind hatte die Wolkendecke soeben zerrissen, und minutenlang leuchtete der fast volle Mond vom Himmel freundlich geheimnisvoll herab.

Jetzt erschien Dreßler.

Er ging sehr schnell, und auffallenderweise im Zickzack, tat zuweilen auch kurze Sprünge, warf sich plötzlich zu Boden und wurde für uns unsichtbar.

Harst flüsterte gleichmütig:

„Man hat bereits auf ihn geschossen, und tat es soeben von neuem…“

„Mit Schalldämpfer?“

„Ja… — Auch wir werden uns etwas vorsichtiger bewegen müssen… — Ah, — — da taucht Dreßler hundert Meter weiter wieder auf, und er läuft, sehr verständig… — Kehren wir um, mein Alter. Diese Nacht ist noch jung, und ich kenne eine gewisse Bar, die bis zum Morgen erlesene Gäste beherbergt. Die Skandalchronik Neuberlins ist mir nicht fremd.“

Er ging voran.

Jeder Förster, der uns beobachtet hätte, würde uns für Wilddiebe gehalten haben.

Es geschah nichts.

Es war nur eine kleine Nervenprobe.

„Mielke, nach Berlin zurück, — aber Tempo!!“

„Wird gemacht, Herr Harst…“

Als wir die Hälfte des Weges hinter uns hatten, bemerkte der äußerst mißtrauische Harst hinter uns auf der Hauptchaussee ein Auto, das sogar noch schneller als wir dahinsauste und rasch aufholte.

„Hm, — — hallo, Mielke, — biegen Sie rechts ab, vor uns führt eine Kreischaussee nach Westen…“ Und zu mir gewandt sehr trocken und bissig: „Weshalb sollen wir uns die Limousine durchlöchern lassen?!“

Mielke schwenkte rechts ab, und ich sah genau, daß der fremde Wagen langsamer fuhr, dann aber von neuem in derselben Richtung davonflog. Es mußte eine ungewöhnlich starke Maschine sein.

Mein Freund lachte leise.

„Merktest du, — die Herrschaften wußten nicht recht, ob sie uns wirklich vor sich hätten. Jedenfalls ist unser ‚zufälliges‘ Auftauchen dort in der Heide kein Geheimnis mehr. — — Mielke, sobald wir die ersten Vororte erreicht haben, fahren Sie auf Seitenstraßen weiter. Die Herrschaften dürften Posten aufstellen, ohne Zigarren, lieber Mielke…“

„Danke, — — weiß schon“, brummte Mielke sehr geknickt.

Bei geschlossenen Fenstervorhängen kleideten wir uns im Wagen von neuem um. Es war etwas unbequem, aber es mußte sein. „Wir haben keine Zeit zu verlieren“, betonte Harst mit allem Nachdruck.

 

 

3. Kapitel.

In der Kakadu-Bar.

Eine jener Lasterstätten, in denen die neuen Herren Deutschlands mit Vorliebe ihre weißen Frackbrüste und manikürten Händchen zeigen, will ich hier Kakadu Bar nennen. Der Name tut ja nichts zur Sache.

In derselben Nacht, als den D. O. II fernab von dem Lärm der Jazzkapelle in einsamer Heide das Schicksal ereilt hatte, saßen im ersten Stock der Kakadu Bar in einem der intimen Zimmer ein paar Damen und Herren in großer Abendtoilette beieinander und tranken französischen Sekt, erfrischten sich an englischen Austern und flüsterten in sehr behutsamer Art über Dinge, die nicht für uneingeweihte Ohren bestimmt waren.

Das äußere Gehabe dieser Leute zeigte mit wenig Ausnahme jene versteckt freche Großspurigkeit, die von diesen durch die Schlammflut des unseligen Kriegsausganges emporgespülten neuen Größen irrigerweise für vornehm modern, also mondän, gehalten wurde.

Mitten zwischen ihnen saß eine blasse, nervöse Frau mit seltsam flirrenden Augen, die einzige der Damen, die wirklich Dame war oder es doch zumeist bis vor kurzem gewesen war.

Frau Gilda Lorm, erst zwei Jahre verheiratet, entstammte einer uralten preußischen Beamtenfamilie, deren letzter Sproß, Gildas Vater, zu Beginn des Krieges an der Westfront gefallen war.

Die verwitwete Geheimrätin Dagna Schelling, ihre Mutter, ursprünglich Ausländerin, hatte sowohl ihr Vermögen wie ihren heimlichen Haß gegen Deutschland selbst über Inflation und deutschen Niedergang in zäher Skrupellosigkeit bewahrt und spielte nun in den völlig umgeformten ‚Oberen Zehntausend‘ Berlins endlich die Rolle, die ihr bis dahin versagt gewesen.

Sie saß ihrer Tochter schräg gegenüber, und diese stattliche, weißhaarige Frau mit dem hochmütigen, starren Gesicht beobachtete mit eisiger Gleichgültigkeit, wie man hier ihrem Kinde auf zudringlichste Art den Hof machte,

Als Gilda die Heirat mit Peter Lorm, dem früheren Fliegeroffizier und jetzigen Flugkapitän, einfach ertrotzt hatte, waren zwischen Mutter und Kind auch die letzten dünnen Fäden eines Gemeinschaftsgefühls zerrissen.

Frau Dagna hatte mit Gilda andere Pläne gehabt. Gildas von der Geheimrätin bevorzugter Bewerber war einer jener anpassungsfähigen Adligen, der als aussichtsreichster Anwärter für den wichtigsten Ministerposten galt. —

All diese Dinge waren uns bekannt.

Es gab noch immer einige Zeitungen in Berlin, die der neuen Epoche bewußter Vergiftung der Seelen kühn den Kampf ansagten. Zumeist waren sie verboten, galten als Skandalblättchen und wurden von den neuen Herren mit einem Naserümpfen belächelt.

Mein Freund, von jeher politischen Umtrieben gegenüber vollkommen gleichgültig, interessierte sich für diese mit Politik eng verquickten Verfallserscheinungen gerade nur soweit, als sie irgendwie seinen selbstgewählten, fanatisch geliebten Beruf angingen,

Er wußte in der Chronique skandaleuse Berlins besser Bescheid als die, die in diese Skandale und Skandälchen mit hineinverwickelt waren. Außerdem besaßen wir in allen Schichten der Bevölkerung sehr zuverlässige Freunde und sehr um ihr Wohl besorgte Klienten.

Jedenfalls betraten gegen halb zwei Uhr morgens zwei Herren das gerade frei gewordene intime Gemach neben dem größeren Zimmer, wo soeben die Geheimrätin Schelling ganz unauffällig von einem ihrer Gönner von dem Tode Peter Lorms verständigt worden war.

Der Kellner, der hier bediente und ein fürstliches Einkommen hatte, war sehr peinlich überrascht gewesen, als wir, oder besser Harst, ihm vertraulich auf die Schulter geklopft und gedämpft erklärt hatte:

„N‘ Abend, Brettschneider… Wir waren schon letztens einmal in einer anderen Sache hier, freilich verkleidet… Halten Sie also gefälligst den Mund… — „Wo ist das Guckloch?“

Emil Brettschneider, der vor dem Kriege Dauergast auf der Anklagebank gewesen, nun aber infolge bester Beziehungen die Ehre hatte, in diesen Prunkräumen Sekt, Austern, Kaviar und gepfefferte Witze zu servieren, hatte vor Harst eine Heidenangst. Es gab da eine gewisse dunkle Geschichte, an die Brettschneider nicht gern erinnert sein mochte.

Kurz und gut: In der vornehmen Wandtäfelung war wirklich ein Guckloch vorhanden, und nachdem mein Freund dort einen kleinen Apparat mit vier Ohrschläuchen eingefügt hatte, wurden wir auch Ohrenzeugen einer vielleicht sehr aufschlußreichen Szene im Zimmer nebenan.

Zunächst vernahmen wir einen leisen Aufschrei, dann das Splittern von Glas und eine schrille Frauenstimme:

„Und das sagst du mir erst jetzt und mit solcher Gleichgültigkeit, Mama?! Ist Peter wirklich nur schwer verletzt oder gar schon tot? Ich will die Wahrheit wissen!“

Das für die Ohren so unangenehme erste Kreischen des hellen Organs war sehr bald wieder in die gewohnte Sprechweise der erregten Gattin des Flugkapitäns übergegangen, und der letzte Satz klang lediglich scharf und befehlend und keineswegs mehr abstoßend.

Sekundenlang folgte drüben eine peinvolle Stille, die lediglich durch das verlegene Husten des einen höheren Beamten, dem vorhin die Nachricht vom Tode Lorms telefonisch durchgegeben worden war, unterbrochen wurde.

Wir vernahmen sodann einen tiefen Alt den der Geheimrätin Schelling. Umsonst bemühte sich diese ehrgeizige, in tausend Intrigen verstrickte Frau etwas Wärme in ihre Stimme zu legen.

„Meine liebe Gilda, selbst das jähe Ende eines Mannes, der dir nahestand, darf niemals die großen Pläne irgendwie stören, sie auch deine Billigung gefunden haben und die…“

Ein warnendes Räuspern, und die Geheimrätin schwieg.

„Also… tot…“, ließ sich die in dieser Nacht so urplötzlich zur Witwe gewordene Frau Gilda Lorm mit unnatürlich erscheinender Ruhe vernehmen.

Dann wurde ein Stuhl mit viel Geräusch zurück gerückt, und dieselbe selbstbewußt sichere Stimme fügte hinzu: „Ich werde sofort zur Unglücksstelle hinausfahren… Was die großen Pläne betrifft, die ich gebilligt haben soll, so möchte ich hier nur nochmals hervorheben, daß man mir als Köder das Versprechen hinwarf, meinen Mann zum Direktor des Flughafens Tempelhof-Berlin zu ernennen und daß ich…“

„Bitte leiser!!“, fiel eine ängstliche Herrenstimme ein. „Meine verehrteste gnädige Frau, vergessen Sie nie, daß das Staatswohl von uns allen Opfer fordert, die…“

Ein Auslachen, scharf und ironisch, zerschnitt die billige Phrasenkette.

„Diese Opfer kenne ich, Herr Kommandeur…! Das erste Opfer ist mein Mann, fürchte ich! Ich warne Sie! Sie alle für mich gibt es keine Rücksichten, wenn ich je entdecken sollte, daß Peter etwa…“

„Welch ein unsinniger Argwohn!“, meldete sich der kalte Alt der Geheimrätin mit Respekt erheischender, schlecht gespielter Mütterlichkeit. „Mein liebes Kind, du wirst…, — — halten Sie sie fest, Baron, — — sie darf nicht hinaus, — — ah, recht so, sperren Sie die Tür ab, — — Gilda, du bleibst, du hast…“

Ein Stuhl polterte zu Boden, ein dumpfer Schlag ertönte, und dann keuchte eine etwas näselnde Männerstimme:

„Gott sei Dank. — sie ist ohnmächtig geworden. — Doktor, heute die doppelte Dosis, — — nur schnell… Der Tod van Lions kann uns in Teufels Küche bringen, wenn man bei ihm irgend etwas Belastendes gefunden hat! Ausgerechnet muß da in diesem Provinznest dieser von uns hier weggelobte, so überaus unbequeme Kriminalinspektor Dreßler bei der Untersuchung der Absturzursache mit dabei gewesen sein…! Dem Mann ist jede Dummheit zuzutrauen, seine Ehrpusseligkeit grenzt schon an Demagogie, und… — — recht so, Doktor… Nachher dürfte Ihr Sanatorium der geeignetste Aufenthaltsort für diese bedauernswerte Frau sein, die den wahren Sinn der neuen Zeit noch immer nicht begriffen hat… Ich bitte die anderen Herrschaften, sich unauffällig zu entfernen, damit…“

Mein Freund nahm schnell die Ohrstöpsel der Schläuche aus den Ohren, montierte den Schallverstärker eiligst ab und winkte mir, ihm zu folgen.

Der Flur war leer. Emil Brettschneider lehnte mit sorgenvollem Gesicht hinter der Biegung des Korridors und nickte nur widerwillig, als Harst ihm zuraunte:

„Ein Wort des Verrats, und Sie sind geliefert! Verstanden?!“

Dann holte wir unsere Mäntel aus der Garderobe und gelangten unbeachtet auf die stille Seitenstraße des Kurfürstendamms, wo unser Leihauto abseits von den anderen parkte.

„Mielke, Kaiserallee 17“, rief Harst unserem vertrauten Chauffeur zu.

Kaiserallee 25 wohnte die Geheimrätin Schelling in einer der wenigen Privatvillen, die diese breite Straße des vornehmen Westens Berlins noch heute aufweist.

Als wir beide die letzte Strecke Wegs zu Fuß zurücklegten, sagte Harst aus tiefem Nachdenken heraus:

„Unser Beruf, mein Alter, stellt uns leider oft mit Einbrechern fast auf dieselbe Stufe. Diese stehlen Wertsachen, wir stehlen Geheimnisse. Unmoralisch ist beides. In diesem Falle allerdings meldet sich mein Gewissen nur sehr schwach… Wir sind hier auf ein Hornissennest gestoßen, dessen Bewohner zehntausende von Stacheln gegen uns anwenden können. Da muß uns jedes Mittel recht sein…“

 

 

4. Kapitel.

Seltsame Klienten.

Frau Dagna Schelling liebte es nicht, daß ihre Dienstboten ihr Kommen und Gehen irgendwie kontrollieren könnten. Aus demselben Grunde hielt sie sich auch keine Hunde.

Als sie gegen halb vier morgens in Begleitung des Freiherrn Tasso von Weichert heimkehrte und im ersten Stock im ‚Blauen Salon‘ dem Baron noch eine Tasse Tee eigenhändig zubereitete und mit ihm über die Katastrophe des D. O. II unter vier Augen sprach, würde sie zweifellos die moderne Herrichtung der übereleganten Räume und insbesonders die fehlenden Türen und die dicken echten Teppiche und die Vorhänge vor den Türöffnungen bitter verwünscht haben, wenn sie auch nur im entferntesten hätte ahnen können, daß in der Zimmerflucht zwei lautlose Schatten sich bewegten und jedes Wort auffingen, das bei dem spätnächtlichen Teestündchen gewechselt wurde.

Die weißhaarige, gewissenlose und in allem kalt berechnende Frau erklärte dem Baron nach einem kurzen einleitenden Vorpostengeplänkel ganz unverblümt, sie hielte ihn für den geistigen Urheber des Absturzes des neuesten Typs des Großflugzeuges und damit auch für mitschuldig an dem Tode ihres Schwiegersohnes Peter Lorm.

Tasso von Weichert hatte diesen Angriff erwartet.

Er lächelte dazu.

Er war ein schlanker, gut aussehender Mann mit aristokratischen Zügen und von eisernen Nerven.

Seine politische Überzeugung wechselte er je nach Bedarf wie Handschuhe.

„Das ist wieder einmal so eine echte Probe von Frauenlogik“, erwiderte er achselzuckend. „Vorhin äußerte jemand unseres engeren Kreises, daß Pieter van Lions Tod uns in Teufels Küche bringen könnte, und jetzt nehmen Sie an, ich hätte Peter Lorm zu einem jähen Ende aus… Eifersucht verholfen. Nein, meine verehrteste Frau Dagna, derartige Torheiten begehe ich einer Frau wegen nicht, auch wenn sie als Mädchen Gilda Schelling hieß, blendend schön war und mich als Weib reizte. Heute?! Ich bitte Sie…!! Heute ist Frau Gilda Lorm Morphinistin, ist ein kleines Rad in einem großen Uhrwerk, ein abgenutztes Rädchen ohne jeden Wert… für mich als Mann. Sie als Mutter, verzeihen Sie, legen den Dingen einen zu hohen Taxwert Frau Gildas zu Grunde, — Verargen Sie mir diese Offenheit nicht, verehrteste Freundin. Liebe und Politik und Geschäft, oder genauer gesagt persönliche Empfindungen und geschäftstüchtige Politik habe ich stets streng voneinander geschieden. Napoleon wäre nicht auf St. Helena als ausgeschwemmter Wichtigtuer gestorben, wenn er die Weiber völlig ausgeschaltet hätte.“

Frau Dagna war unter Schminke und Puder bleich geworden.

Sie fand nicht sofort eine treffende Erwiderung. Sie fühlte nur, daß ihr unter der jäh aufsteigenden Empörung und Wut über diesen aalglatten, ihr geistig weit überlegenen Weichert die Kehle wie zugeschnürt war. All ihre Hoffnungen, all ihre ehrgeizigen Pläne stürzten genau so jäh zusammen, wie vor Stunden das Großflugzeug offenbar bei einer versuchten Notlandung in Trümmer gegangen war.

Ihr Gesicht verfiel, ihre Züge wurden schlaff, nur in den dunklen lebhaften Augen flackerte ein bedrohliches Glitzern.

Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.

„Mangelhafte Logik“, meinte sie leichthin. „Das stimmt… Ich habe es im Grunde längst geahnt, Baron, daß Gilda für Sie nur mehr Werkzeug sein sollte, — ein Rädchen ohne Wert, wie Sie sich ausdrückten. Immerhin, Ihre Ehrlichkeit überraschte mich…“

Sie führte die Hand an den Mund und gähnte.

Weichert hatte das unbehagliche Gefühl, hier doch ein wenig unvorsichtig gewesen zu sein. Seine Versuche, seine Äußerungen von vorhin abzuschwächen, tat die Geheimrätin mit einem scheinbar gleichgültigen „Bemühen Sie sich nicht weiter, mein Lieber…“ sehr kurz ab, und dem Baron blieb nichts anderes übrig, als sich mit einem Handkuß zu entfernen.

Frau Dagna öffnete ihm die Haustür und die Vorgartenpforte, und als sie nun abermals den blauen Salon betrat, eilte sie sofort zu dem kleinen, kostbaren Schreibtisch, blätterte überstürzt im Fernsprechverzeichnis und verlangte dann die Nummer Uhland 19223, — unsere Nummer.

Es meldete sich niemand, aber kaum eine Viertelstunde später, als die Geheimrätin noch immer grübelnd im Sessel des blauen Salons saß, schnurrte der Apparat auf dem Schreibtisch ganz diskret, und mein Freund erklärte der etwas seltsamen Mandantin, sie sei ihm jederzeit willkommen.

„Woher wissen Sie, Herr Harst, daß ich Sie angerufen hatte?!“, lautete die mißtrauische Gegenfrage. „Ich erhielt ja bei Ihnen keinen Anschluß…“

„Scheinbar, gnädige Frau… Vergessen Sie nicht daß ich, den die große Menge als Liebhaberdetektiv bezeichnet, zumindest das Absonderliche liebe und meine eigenen Methoden habe. — Worum handelt es sich?“

„Das kann ich Ihnen nur unter vier Augen mitteilen… Darf ich sofort kommen?“

„Gewiß. Tag und Nacht sind für meinen Freund und für mich dasselbe. Unsere Art Beruf fordert oft genug Verzicht auf Bettruhe. Also bitte, wir erwarten Sie…“

„In zehn Minuten bin ich bei Ihnen…“ —

In zehn Minuten kann sehr viel geschehen.

In diesem Fall überstürzten sich die Ereignisse.

Harst hatte den Telefonhörer kaum erst auf die Gabel zurückgelegt, als unsere Flurglocke schrillte.

Den Herrn, den ich einließ, kannten wir bereits flüchtig.

Der Baron Hektor Löwenheet, alles in allem eine ganz sympathische Erscheinung, mußte in Harsts Schlafzimmer ablegen.

„Wir erwarten noch anderen Besuch“, erklärte mein Freund dem Holländer, der den D. O. II gleichfalls von Amsterdam aus benutzt hatte. „Es ist nicht gerade nötig, daß Ihre Anwesenheit bei uns bekannt wird, obwohl ich fürchte, daß mein Haus bereits unter Bewachung steht. Sie haben also Kriminalinspektor Dreßlers kleinen Täuschungsversuch durchschaut und wußten, daß wir nicht nach Mecklenburg weitergefahren waren. — Bitte, nehmen Sie Platz.“

Löwenheet erwiderte sehr ernst: „Ich ahnte es, Herr Harst. Ich muß Ihnen auch etwas anvertrauen, das ich der Untersuchungskommission gegenüber verschwieg. Pieter van Lion war mein persönlicher Feind. Ich spreche ganz offen im Vertrauen auf Ihre Verschwiegenheit: Die Attentate auf van Lion, bisher vier, gingen von mir aus, waren jedoch nicht ernst gemeint. Van Lion, ein erbärmlicher Feigling, sollte dorthin flüchten, wo eine Bekannte von mir durch seine Schuld weilt: In die sicheren Mauern einer Privatirrenanstalt. — Er war einem Nervenzusammenbruch bereits sehr nahe. Ich bedauere, daß er tot ist. Der Tod ist keine Sühne für das, was er beging…“

Löwenheet sprach völlig leidenschaftslos.

In seinen Augen, die wenig zu seinen scharfen Zügen paßten, lag ein Ausdruck tiefer Trauer.

„Lion ahnte nicht, Herr Harst, daß die Sängerin, die mir heimlich sehr nahestand, die Ursache meines kalten Hasses war. Er ahnte auch nichts von diesem Haß. Ich kannte den Mann einfach nicht. Sein Ruf in Amsterdam ist derart, daß jeder aus meiner Gesellschaftsschicht den Burschen beneidet oder schnitt, — er ist ja tot.“

Löwenheet spielte mit seiner Zigarre, ohne zu rauchen. „Ich behaupte, Herr Harst, van Lion ist auf sehr raffinierte Weise ermordet worden, — — genau wie er es mit der Frau tat, die leider vier Monate ohne meinen Schutz blieb. Ich war nach den Kolonien gereist und kehrte erst vor drei Wochen heim. Ich fand Wilma Högerleef in einer Anstalt wieder, nur noch ein Schatten ihrer selbst… Es war… entsetzlich.“

„Morphium?“, warf Harst fragend ein.

„Ja… Sie sind rasch im Bilde, Herr Harst…“

„Und Sie wissen, daß van Lion Fräulein Högerleef derart ruiniert hat? Weshalb?“

„Ich weiß es. Nur den Grund kenne ich nicht. Wilma war als Sängerin kein Star, als Weib ein feiner, blendender Stern. Ich wollte sie heiraten. Wir waren heimlich verlobt. Nach meiner Rückkehr von Sumatra und nach dem furchtbaren Schlag, den ich durch Wilmas hoffnungslosen Zustand erhielt, tat ich nichts anderes, als vorsichtige Erkundigungen einzuziehen. Sie ergaben van Lions Schuld…“

Die Einzelheiten, die er berichtete, kann ich über gehen.

Ein Punkt blieb ungeklärt: Weshalb hatte der sogenannte Großindustrielle und Großfinanzier Pieter van Lion die harmlose junge Sängerin so raffiniert an immer größere Dosen Morphium gewöhnt und ihr das Gift dann plötzlich entzogen, so daß sie körperlich und geistig in wenigen Tagen hinsiechen mußte?!“

Harst schien über diese Lage angestrengt nachzudenken.

In die lastende Stille hinein erscholl das abermalige Anschlagen der Flurglocke.

Löwenbeet verschwand im Schlafzimmer.

Der neue Gast war der Steward Karl Gelderfrett, der seine verstauchte Hand in einer Schlinge und dick verbunden trug.

Er entschuldigte sich, zu so früher Stunde bei uns vorgesprochen zu haben, und erklärte weiter. er hätte uns beiden im Vertrauen einiges mitzuteilen. was sich auf die Person der Fürstin Uwalow bezöge. Sie habe die Fluglinie Berlin Amsterdam und zurück recht häufig benutzt, und ihm sei aufgefallen, daß sie des öfteren sich die Haare färben ließe… „Einmal war sie hellblond, dann wieder rotblond, dann wieder Kastanienbraun… Ich habe sie auch fast nie in denselben Kleidungsstücken gesehen, jedoch stets verschleiert.“

„Kannte sie van Lion?“, fragte Harst gleichgültig.

„Das glaube ich nicht, Herr Harst…“

Nach kurzer Pause stellte mein Freund eine Frage, die mir weit mehr aufstieß als Gelderfrett. „War das Gepäck der Fürstin mit Krone und Namenszug versehen?“

„Nein, bestimmt nicht. Es hingen nur die üblichen Ledertäfelchen daran mit weißer Kartoneinlage und dem mit Tinte geschriebenen Namen ‚P. Uwalow‘, Pawlowna Uwalow“.

Abermals schlief die Unterredung für kurze Zeit ein.

Mein Freund betrachtete gedankenverloren des Stewards bandagierten Arm.

„Als das Unglück geschah, schliefen Sie und der Funker hinten in der kleinen Kabine?“, begann er von neuem.

„Ja. Das heißt, nur der Funker schlief ganz fest. Ich erwachte halb, da ich infolge der ungewöhnlich steilen Lage der Maschine auf meinem Sitz verrutschte.“

„Können Sie mir vielleicht mit der linken Hand flüchtig aufzeichnen, wo die Passagiere saßen, also welche Plätze sie innehatten?“

„Gern, Herr Harst… Wenn Sie mir ein Stück Papier und Bleistift geben würden… — So, danke. — — Hier ist eine Skizze, die genügen dürfte… — Daß die Fenster sämtlich gesprungen waren, haben Sie ja selbst an Ort und Stelle gesehen… Nur so war es ja auch möglich, daß das große Propellerstück in die große Kabine hineinsauste und Herrn van Lion tödlich traf…“

Aus der Zeichnung ersahen wir, daß die Plätze, vom Führerraum aus gesehen, folgendermaßen besetzt waren: Auf der rechten Seite Lions Privaksekretär, Baron Löwenheet, und als dritter van Lion. Auf der linken Seite zwei leere Plätze und auf dem dritten die Fürstin.

„Eine eigentümliche Platzverteilung“, meinte Harst. „Links alle drei Sessel besetzt, rechts nur einer…!“

„Bei so großen Maschinen spielt die Gewichtsverteilung keine Rolle“, klärte der Steward uns auf. „Außerdem haben die Fluggäste, die häufiger fahren, alle ihre Schrullen, Herr Harst, wobei der Aberglaube mitspielt.“

„Teilen Sie Baron Lowenheets Argwohn gegen die Fürstin?“, wollte mein Freund abschließend wissen…

Karl Gelderfrett verneinte.

„Das wäre genau so unsinnig, Herr Harst, wie des Funkers leichtfertige Redensarten, Flugkapitän Lorm könnte eingenickt sein und so das Unheil verschuldet haben… Die Maschine ist eben in ein sogenanntes Luftloch geraten, abgesackt, und Herr Lorm hat sie nicht mehr abfangen können… Die Sachkommission wird genau dasselbe Urteil abgeben. Immerhin räume ich ein, daß die Flucht der Fürstin auch mir zu denken gibt. Nur deshalb bin ich zu Ihnen gekommen, Herr Harst.“

Gleich darauf verabschiedete er sich, und Baron Löwenheet nahm wieder seinen Platz im Klubsessel ein.

Die Geheimrätin Schelling war noch immer nicht erschienen, obwohl inzwischen nun mindestens zwanzig Minuten verstrichen waren.

 

 

5. Kapitel.

Brettschneider zahlt ab…

Hektor Löwenheet, von Harst in die Angaben des Stewards über die Fürstin eingeweiht, betonte seinerseits mit allem Nachdruck, daß er während der Beobachtung van Lions in Amsterdam, die er mit Hilfe eines gutrenommierten Detektivinstituts durchgeführt habe, niemals auf die Person dieser Pawlowna Uwalow gestoßen sei. Sie sei ihm völlig fremd gewesen, und er habe mit ihr auch im D. O. II nur wenige Worte gewechselt, ebenso van Lion.

Mein Freund nahm diese ergänzenden Mitteilungen ohne viel Interesse hin und erklärte nur, er sei nunmehr der Überzeugung, daß bei dem Unfall des Großflugzeuges und bei dem Tode van Lions zwei verschiedene Triebkräfte mitgewirkt hätten, die anscheinend parallel zueinander und ohne gegenseitige Kenntnis gearbeitet haben dürften, die jedoch trotzdem einen unsichtbaren Vereinigungs- und Ausgangspunkt haben müßten: Die Person dieser stark geheimnisvollen Fürstin Pawlowna Uwalow, von der er selbst noch nie etwas gehört hätte.

Harst vermied es geflissentlich, Löwenheet vollkommen mit den Ergebnissen unserer bisherigen Ermittlungen vertraut zu machen. Ob er gegen ihn in Verdacht hegte, konnte ich schwer entscheiden. Anlaß zum Mißtrauen war ja zweifellos gegeben.

Auch der Baron empfahl sich dann und tat dies mit einer so weltmännischen, harmlosen Sicherheit, daß meine persönliche Sympathie vollständig ihm gehörte.

Inzwischen war es fast halb sechs morgens geworden. Ich hatte Löwenheet bis zur Vorgartenpforte begleitet und beeilte mich, wieder in das warme Zimmer zu gelangen. Der eisige kalte Novemberwind fegte auch hier die Straße entlang und pflückte die letzten toten Blätter von den Bäumen.

Als ich die Flurtür abschloß, vernahm ich aus Harsts Zimmer (die Tür war nur angelehnt) meines Freundes tiefe, ruhige Stimme.

Er stand am Schreibtisch und telefonierte…

„… Dürfte ich vielleicht erfahren, unter welcher Anschuldigung die Verhaftung erfolgte?“

Er blickte mich an und machte eine ärgerliche Kopfbewegung.

„Verzeihen Sie, Herr Kommissar… Natürlich Dienstgeheimnis, — ich verstehe… Die Dame wollte mich aufsuchen. Ich kann mir unschwer zusammenreimen, daß die Geheimrätin direkt vor meiner Tür abgefangen wurde. — Gute Nacht.“

Ich war im ersten Moment vollkommen sprachlos…

„Frau Schelling verhaftet, Harald?!“

Er lächelte bitter. „Allerdings… — Die Tochter steckt man in ein Sanatorium, und die Mutter läßt der Freiherr von Weichert beobachten und greift zu, als die enttäuschte Intrigantin uns zu Rate ziehen will. Sagte ich auch nur ein Wort zu viel, als ich von einem Hornissennest sprach?! Ich bin nur begierig, wann wir diese giftigen Stacheln zu spüren bekommen. Wenn die Leute konsequent sind, verhaften sie uns auch, bevor wir etwa diese ‚Fürstin‘ entdeckt haben.“

Er sprach dies in so eigentümlichem Tone, daß ich ihn forschend anschaute.

„Verschwinden?“, fragte ich ohne Umschweife.

„Ja, wenn es noch möglich ist…“

Gleich darauf erlosch das Licht in seinem Zimmer, und zwei Männer mit prall gefüllten Rucksäcken stiegen zur Dachluke empor.

Der scharfe Wind hatte eine neue Wolkenwand herbeigeführt, der Mond war verdeckt, dünne Schneeflocken tanzten herab, und die beiden Männer, die durch die Äste der uralten Kastanie in den Nachbargarten kletterten und nochmals drei Höfe passierten, bevor sie sich auf die Straße wagten, segneten dieses erste leichte Schneegestöber und bestiegen schließlich eine Taxe, die sie hinaus an den Rand der westlichen Vororte Berlins brachte, wo zwischen den verfallenen Baulichkeiten eines früheren Bauerngehöfts ein Schausteller seinen Wohn- und seine beiden Gerätewagen für billiges Geld untergebracht hatte.

Wir hatten die Taxe weit vor dem Ziel halten lassen, wir mochten unsere Freunde nicht allzu früh aus den Betten scheuchen, und als wir nun über den Zaun des Grundstückes blickten, waren wir erstaunt, daß aus dem Schornstein des Wohnwagens bereits Rauch emporwirbelte und im Winde schnell zerstob.

Die Zaunpforte war offen, und als erster begrüßte uns des „weltberühmten Zauberkünstlers und Hundedresseurs Alfredo Sorani“ (in Wahrheit Alfred Mielke, Vater „unseres“ Chauffeurs Mielke) vielseitiger Pudel „Karlchen“, auf dessen Kläffen hin nun auch Vater Sorani persönlich erschien.

Er musterte uns stumm, dann grinste er verständnisvoll, schüttelte uns immer wieder die Hände und redete in einem Atem von dem Dank, den er uns schulde, von den schlechten Zeiten für Schausteller und — — von Emil Brettschneider, dem Kellner aus der Kakadu Bar…

„Denken Sie sich, Herr Harst, dem Brettschneider muß plötzlich jemand sehr nachdrücklich das Gewissen geweckt haben… Vor zehn Minuten verließ er mich, nachdem er runde fünfhundert Mark abgeladen hatte. Aber das muß ich Ihnen genauer erzählen… Treten Sie näher… Meine Frau ist gerade mit dem Frühstück fertig…“

Alfred Mielke nebst Frau saßen uns an dem peinlich sauber gedeckten Tische gegenüber. In dem eisernen Ofen bullerte ein behagliches Feuer, und unser einstiger Klient, der heute mit allerhand Sorgen zu kämpfen hatte, berichtete nun eingehender über Brettschneiders urplötzliche Anwandlung von Reue.

Harst lächelte still. — Der Fall ‚Brettschneider — Sorani‘ lag Jahre zurück. Brettschneider hatte sich damals mit Hilfe falscher Papiere bei Sorani als Gehilfe eingeschlichen und seinen Chef nachher nicht nur empfindlich bestohlen, sondern ihn auch in eine anfangs sehr zweifelhaft erscheinende Falschmünzergeschichte mit hineingezogen. Meinem Freunde gelang es, Soranis Schuldlosigkeit zu beweisen, und da der Schausteller durch die häufigen Vernehmungen vor Gericht nur noch weiteren Schaden erlitten hätte, zog er die Anzeige gegen Brettschneider zurück, — Das war die Geschichte, an die der vornehme Kellner ‚Emil‘ aus der Kakadu-Bar nicht gern erinnert sein mochte.

Jedenfalls: Brettschneider hatte heute in aller Herrgottsfrühe reuezerknirscht ganze fünfhundert Mark ‚abgezahlt‘ und hoch und heilig versprochen, sehr bald weitere fünfhundert herbeizuschaffen.

Und Harst — — lächelte dazu, streichelte Karlchen, dem Pudel, den Kopf und fragte so beiläufig: „Erwähnte Emil uns beide, lieber Sorani?“

„Mit keiner Silbe!“

Aber Schausteller sind Menschenkenner und müssen es sein.

„Haben Sie ihm etwa einen zarten Wink gegeben, Herr Harst, endlich seine Schuld zu tilgen?“

„Vielleicht… — Erzählte Emil, was er jetzt treibt?“

„Seine Frau vermietet Zimmer, sagte er, auch tageweise, und er hätte da eine Ausländerin als gute Stammkundin, die sehr reich sei, behauptete er. Eine Russin.“

Mein Freund, der seine Kaffeetasse gerade zum Munde führen wollte, setzte sie rasch wieder auf die Untertasse zurück.

„Russin, Sorani? Nannte er den Namen dieser Geldquelle?“

„Ja… Hugalow oder Ugalow oder so ähnlich… Eine Artistin übrigens…“

„Lautete der Name nicht Uwalow?“

Da mischte sich die korpulente Frau Sorani ein

„Nein, Brettschneider sagte Hugerlow, Herr Harst, Hu-ger-low, ganz bestimmt.“

„Seltsam!“, 'murmelte mein Freund mehr für sich. „Diese Russin Hugerlow werde ich mir ansehen. Sogar sehr genau…“

Soranis fragten nichts weiter.

Eine halbe Stunde darauf lagen wir in schmalen Betten und schliefen fernab dem eigenen Heim bei unseren Freunden erst einmal gründlich aus.

 

 

6. Kapitel.

Neben der Anschlagsäule.

Mit knalligen Sensationen habe ich bisher nicht aufwarten können. Der Fall van Lion gehört zu jenen Kriminalfällen, die ich zu Papier brachte und dann notgedrungen weglegte. Schon bei der Niederschrift erkannte ich, daß gewisse notwendige Milieu und Typenschilderungen noch verfänglicher waren als unsere heimliche Flucht zu Soranis. —

Mittags zwölf Uhr saßen wir dann wieder mit dem Ehepaar Sorani und der achtköpfigen, vierfüßigen Künstlerbande, den dressierten Hunden, ausgeruht und geistig sehr frisch beim Frühstück.

Vater Sorani Mielke hatte eine Mittagszeitung besorgt, und die ganze erste Seite des Hauptblattes war angefüllt von der Katastrophe des D. O, II und von der Verhaftung der Geheimrätin Schelling wegen… Zollhinterziehung!!… Weiter nichts: Zollhinterziehung, — Punktum, — den Rest konnte sich das Publikum selbst zusammenreimen oder nicht.

Und dann stand da noch unten recht dünn und unauffällig gedruckt, daß die Behörden sich gezwungen sähen, in der Angelegenheit Schelling mit aller Schärfe vorzugehen und daß erwiesen sei, die Geheimrätin habe sich bei dem durch sein eigenmächtiges Auftreten der Polizei höchst unbequemen Herrn Harst, Privatdetektiv, irgendwie Rat holen wollen, und daß dieser Herr Harst samt seinem Freunde sich einer polizeilichen Vernehmung durch schleunigste Abreise unbekannt wohin entzogen habe.

‚Dieser‘ Harst pfiff hierzu leise durch die Zähne.

„Also doch!!“, meinte er nur. „Vernehmung ist eine nette Umschreibung für Kaltstellung durch Verhaftung.“

„Bei uns sind Sie beide sicher“, meinte Frau Sorani mit ehrlicher Herzlichkeit.

„Hoffen wir es…“ — Harst schien hiervon nicht so ganz fest überzeugt. „Wir hätten die Taxe schon früher entlassen sollen, Nun, warten wir ab… Jetzt kommt Frau Brettschneiders Geldquelle, das Pensionat, an die Reihe.“

Freund Sorani begab sich auf die Straße hinaus, kehrte sehr bald mit der Meidung zurück, daß weit und breit nichts Verdächtiges zu bemerken sei, und dann verließen zwei unauffällige Herren den einstigen Bauernhof und fuhren mit U-Bahn und Straßenbahn nach Moabit-Berlin, wo schräg gegenüber dem Kriminalgericht unten an einer Haustür ein großes Schild angebracht war: ‚Pensionat Brettschneider.‘

Vor demselben Hause hielt eine Limousine, deren gestreckte Bauart, Firmenmarke und Größe meinen Freund zu der Bemerkung veranlaßte, dieser schnittige Wagen käme ihm sehr bekannt vor. „Es dürfte derselbe sein, mein Alter, der es nachts auf der Chaussee auf uns abgesehen hatte.“

Am Steuer saß ein sehr dekorativer Chauffeur, und an den Türen prunkten ein Wappen und ein Namenszug: T. v. W.

„Tasso von Weichert, — schau‘ an, eine neue Fährte“, erklärte mein Freund sehr befriedigt und wählte eine leere Taxe, der er einige Schnelligkeit zutraute, gab dem Chauffeur zehn Mark und erteilte ihm bestimmte Anweisungen.

Wir warteten eine halbe Stunde, dann erschien vor der Haustür eine verschleierte schlanke Dame im Pelz und blickte sich rasch nach allen Seiten um und schlüpfte noch rascher in die Limousine,

Die Fahrt und die Verfolgung ging durch den Tiergarten und endete in der Gegend des Kurfürstendamms vor der Kakadu-Bar, wo die Dame genau so flink dem Auto entschlüpfte und in dem Privateingang des Hauses verschwand, zu dem sie einen Schlüssel besaß.

Unsere Taxe hielt etwa dreißig Meter entfernt an der Bordschwelle. Harst, der zum Fenster hinausgeschaut hatte, ließ plötzlich wieder in seine Polsterecke fallen und meinte halb belustigt und halb ärgerlich:

„Beinahe hätte er mich erwischt, der Herr Baron Weichert!! Der Mann ist ungeheuer unternehmungslustig! Muß der ein schlechtes Gewissen haben!! — — Chauffeur, wenden Sie und fahren Sie langsam zurück, ganz langsam.“

Hinter uns, sah ich nun, hielt ein Sportzweisitzer mit hochgeklapptem Verdeck, und am Steuer saß, trotz der Autobrille gut zu erkennen, der Freiherr Tasso von Weichert und neben ihm einer der Herren des intimen Kreises aus der Kakadu-Bar.

Und abermals zehn Meter weiter bemerkten wir eine Taxe und hinter dem Türfenster den Kopf des holländischen Barons Löwenheet.

Wir glitten vorüber.

„Stoppen!“, befahl Harst. Und zu mir gewandt:

„Das ist eine allerliebste Prozession…! Ob Löwenheet uns wirklich alles gesagt hat, was er weiß?! Wohl kaum!“

Die Dinge spitzten sich jetzt dramatisch zu.

Weichert und sein Begleiter stiegen aus und gingen schnell auf Löwenheets Taxe zu.

Auch wir verließen im Vertrauen auf unsere unauffälligen Masken unseren Wagen und blieben an einer Anschlagsäule stehen. Der lebhafte Verkehr in der Straße erleichterte uns unser Vorhaben.

Weicherts Begleiter öffnete die Tür der Taxe und sagte gedämpft, aber schärfsten Tones:

„Hier Kriminalpolizei… — Baron Hektor Löwenheet, nicht wahr? Folgen Sie mir… Kein Aufsehen!“

Der Holländer stieg gelassen aus, bezahlte seinen Chauffeur, hatte aber ein sehr unangenehmes Lächeln um die harte Mundpartie.

„So, — was wünschen Sie?“, wandte er sich an den Kriminalbeamten. „Ihr Gesicht ist mir nicht fremd. Heute in aller Frühe bemerkte ich Sie in nächster Nähe des Hauses von Herrn Harst, und der Herr da“ — er wies auf Weichert „war ebenfalls dabei. Ich möchte Ihnen beiden nun zunächst in aller Höflichkeit erklären, daß ich der hiesigen holländischen Gesandtschaft als Legationsrat zugewiesen bin. Hier mein Ausweis… Sie würden also Ihre Befugnisse weit überschreiten, wenn Sie mich zwingen wollten, Ihnen zu folgen. Als Mitglied der Gesandtschaft bin ich exterritorial… Außerdem läge es in Ihrem Interesse, Herr von Weichert, gewisse Beziehungen zu einer Fürstin Uwalow nicht gerade publik werden zu lassen. — So, — wünschen Sie noch etwas, meine Herren?!“

Das waren eiskalter Hohn und offene Drohung.

Weichert hatte die Farbe gewechselt.

Sein Begleiter zuckte ratlos die Achseln.

Aber Löwenheet ging noch einen Schritt weiter.

„Übrigens war es mir fabelhaft interessant, in den Mittagsblättern zu lesen, daß eine Frau Geheimrat Dagna Schelling wegen Zollhinterziehung verhaftet worden ist, während ihre Tochter, die Witwe des armen Flugkapitäns Lorm, in ein Sanatorium gebracht werden mußte… Ich glaube, die deutschen Zollbehörden sind weit weniger geschädigt worden als die meiner Heimat, — was noch nachzuprüfen wäre. — Wünschen Sie wirklich noch etwas von mir, Baron Weichert?!“

Der große, schlanke Aristokrat, dessen Blässe sich bereits wieder verloren hatte, beschränkte sich auf eine stumme Verneigung, winkte seinem Begleiter und begab sich wieder zu seinem Wogen zurück.

Wir studierten noch immer die Theaterzettel der Anschlagsäule.

Löwenbeet stand keine zwei Schritt entfernt und zündete sich scheinbar in aller Gemütsruhe eine Zigarre an.

Aber in seinen Augen, die dem Freiherrn von Weichert folgten, lag ein Ausdruck, der dem schlanken Aristokraten wohl sehr unruhige Stunden bereitet hätte, wenn er diese finstere, verbissene Energie im Blick des anderen bemerkt haben würde.

Der Sportzweisitzer ruckte an und rollte davon.

Löwenbeet drehte sich langsam um, trat neben uns und sagte gedämpft:

„Meine Herren, Sie haben Glück gehabt… Ich habe Weicherts Aufmerksamkeit absichtlich auf mich gelenkt. Sie beiden besitzen keinen Diplomatenpaß wie ich, und…“

Harst fiel ihm genau so leise ins Wort:

„… und Sie haben uns die Unwahrheit gesagt, Baron, Sie kennen diese Fürstin Uwalow.“

Der Holländer nickte schmerzlich.

„Leider! Und leider habe ich alle Veranlassung, die Frau zu decken, so gut es geht, bis… vielleicht die Vorsehung irgendwie eingreift. Im übrigen wohne ich im Hotel Bristol… wie stets, Auf Wiedersehen, meine Herren…“

Er fuhr in einer Taxe davon, und die tiefe Melancholie, die sein ganzes Wesen beherrschte, war niemals deutlicher hervorgetreten als bei diesem müden hoffnungslosen ‚Auf Wiedersehen‘…

„Armer Kerl!“, meinte Harst, „Diese holländischen Aristokraten nehmen das vielgestaltige, bunte Leben viel zu schwer… Und die Liebe viel zu ernst. Er muß unglaublich gelitten haben und noch leiden… — — Jetzt möchte ich den Steward Gelderfrett aufsuchen… Seine Adresse haben wir ja. Ich will ihn nur fragen, ob er bereits mehrere Flugzeugunfälle miterlebt hat.“

 

 

7. Kapitel.

Frau Gelderfrett und ein Telefongespräch.

Golderfrett wohnte drunten in Neu-Tempelholf unweit des Flughafens in einem jener Reihenhäuser, deren Hellhörigkeit eheliche Szenen von selbst verbietet. Oder man muß geradezu den Lautsprecher gleichzeitig fortissimo trompetent lassen.

Harst nennt diese indiskreten Häuser stets nur Radaukisten.

Wir läuteten, und eine blasse, hübsche, junge Frau mit eigentümlich ruhelosen Augen öffnete uns die Flurtür…

„Wir kommen des Unfalls wegen“, erklärte Harst etwas amtlichen Tones.

„Mein Mann ist beim Arzt“, erwiderte das nette Frauchen überstürzt. „Wenn er heimkommt, weiß er nicht…“

„Schade…“ Harst betrachtete dies Frau scheinbar mit dem Wohlgefallen eines für weibliche Reize sehr empfänglichen Mannes. „Es war doch nicht der erste Absturz, den Ihr Gatte miterlebte?“

„Nein…“

Frau Gelderfretts Nerven schienen nicht recht in Ordnung zu sein, Sie hatte nicht nur tiefe Schatten um die Augen, sondern litt auch an nervösem Lidzucken.

„Ich glaube, auch Sie sollten zum Arzt gehen“, sagte Harst mitfühlend.

Die blasse, gelbliche Gesichtsfarbe der jungen Frau färbte sich tiefrot.

„Weshalb denn?“, fragte sie völlig verwirrt.

„Ihre Nerven sind nicht recht in Ordnung, Frau Gelderfrett“, meinte Harst ohne besondere Betonung, damit er keinen Argwohn errege.

Die Frau seufzte.

„Unsereiner schwebt ja immerfort in Todesangst. Flugzeugsteward ist ein schrecklicher Beruf… Weiß man denn, ob man nicht urplötzlich Witwe wird?! Diesmal ist mein Karl ja noch mit dem Leben davongekommen, aber wie die Sache endet, das…“

Sie unterbrach sich plötzlich.

„Ich meine“, verbesserte sie sich schnell, „man kann doch nie voraussagen, wie solch eine Verletzung heilt.“

„Das stimmt“, nickte Harst sehr ernst. „Die Sache kann sehr böse werden…“

Die Frau bekam vor Schreck ganz große Augen.

Aber ich merkte sehr wohl, daß dieses Empfinden ernstester Sorge noch ein anderes, weit stärkeres Gefühl enthielt, konnte mir jedoch nicht sofort klar darüber werden, worum es sich dabei handelte.

„Glauben Sie, es könnte gefährlich werden?“, flüsterte Frau Gelderfrett mit eigentümlich starrem Blick.

„Ja — — Es könnte… Aber wir wollen hoffen, daß alles gut geht… Sie sind übrigens sehr hübsch eingerichtet, Frau Gelderfrett… Neue, gute Möbel, ganz modern…“

„Ich habe in der Lotterie gewonnen“, stieß die Frau seltsam gequält hervor.

Sie log natürlich.

Man sah es ihr am Gesicht an.

Wie zahllose Leute gewonnen in der ‚Lotterie‘…!!

Ich kannte diese Lebenslotterie, diese Schicksalslose, die stets gewannen.

Der Losinhaber druckte sie sich selbst, indem er alles aus seinem Gewissen ausschaltete, was irgendwie schnellem, mühelosen Verdienst hinderlich sein könnte.

Ich bin nie blind durch das Leben gegangen.

Ich sehe um mich her die Menschen faul und morsch werden. Man predigt ihnen täglich, sie hätten ein Recht auf einen verbesserten Lebensstandard, man gewöhnt sich an Ansprüche, die in einem Lande, das einen Krieg nicht verlor, sondern verlieren sollte, hellster Wahnsinn sind, zumal diese Ansprüche durch Verschacherung von Staatseigentum und durch eine raffinierte Pumpwirtschaft ‚gedeckt‘ werden…

Ich sehe vor mir diese Frau Gelderfrett, herausgerissen aus der ihr gebührenden Umwelt, — — kein Regierungsrat einer ehrlichen Zeit besaß eine derart eingerichtete Wohnung! Mit Schaudern fragte ich mich: Wohin soll das alles führen?!

Und ich sehe meines Freundes Blicke an der gegenüberliegenden Wand dieses Zimmers hängen, wo geschmackvoll einige Andenken an Gelderfretts Beruf gruppiert sind…

Alles Dinge, die zur Fliegerei gehören.

Auch ein eleganter Glaskasten mit Holzsplittern ist darunter… —

Harst wendet den Kopf wieder der Frau zu, die immer nervöser geworden ist.

Sie verbirgt ihre Hände im Schoße…

Aber ich habe längst die beiden wertvollen Brillantringe gesehen…

Gewiß, weiße Saphire können sehr leicht wasserklare Diamanten vortäuschen.

Nur eins fehlte den Saphiren, falls sie nicht gerade mit Gold ‚unterlegt‘ sind: Das Farbenspiel!

Dann sagte Harst leise und mit jener zarten Rücksicht, die man nie an ihm vermißt, wo sie am Platze ist:

„Frau Gelderfrett, packen Sie immer selbst Ihres Mannes Sachen, bevor er eine neue Fahrt antritt?“

… Sie wird totenblaß, feuerrot, — wieder totenblaß…

In ihre Augen tritt ein fremder Ausdruck: Heimtücke, Haß, Trotz…

Sie springt auf…

„Herr, das geht Sie gar nichts an“, schreit sie vollkommen unbeherrscht…

Dann ringt sie nach Atem…

„Dort… dort ist die Tür…! Gehen Sie!! Sie sind Spione, Sie sind…“

Und rennt zur Tür, reißt sie auf…

Urplötzlich nur noch eine wirklich gefährliche Katze.

„Bei mir haben Sie kein Glück!“, zischt sie uns an. „Schon mancher hat mich aushorchen wollen… Ich habe in der Lotterie gewonnen!! Hinaus mit Ihnen!!“

Wir schritten die Treppe wieder hinab.

Ich war durch die letzte, geradezu abstoßende Szene wie vor den Kopf geschlagen. Daß Frau Gelderfrett ein böses Geheimnis zu hüten hatte, wußte ich nun.

Welches aber?!…

Unten im Flur war die Frau des Hauswarts damit beschäftigt, den Läufer mit dem Staubsauger zu reinigen.

„Wohnen Gelderfretts schon lange hier?“, fragte Harst.

„Vom ersten Oktober… Die haben es gut… Der Mann muß viel Geld verdienen“, erklärte die Hausbesorgerin mit etwas boshaft schillernden Augen. „Drei Zimmer, Küche, Bad, Zentralheizung und Warmwasser, — — und dann die feinen Kleider, wenn er unterwegs ist…! Na — man will sich ja nicht den Mund verbrennen…!!“

„Nein, tun Sie das nicht, liebe Frau“, nickte Harst warnend. „Reden Sie nicht zu viel, eine Beleidigungsklage ist bald zusammengebraut… Guten Morgen…“

Die Frau blickte uns etwas verdutzt nach.

Als wir wieder in der Taxe saßen, bot mir Harst eine Zigarette an…

„Du denkst vielleicht, dieser Besuch sei ziemlich zwecklos gewesen, mein Alter. Gewiß. ich hätte noch fragen können, ob Karl Gelderfrett sich von seinen früheren Flugzeugunfällen her irgendwie ein Andenken aufbewahrt hat…“

Plötzlich glaubte ich meinen Freund nun endlich zu verstehen.

„Du hältst Gelderfrett für van Lions Mörder“, fragte ich etwas zweifelnd.

„Ich halte ihn nicht dafür, — er ist der Mörder…“

„Und das Motiv der Tat?“, platzte ich noch ungläubiger heraus.

„Liegt etwa auf derselben Linie wie Baron Löwenheets Attentate gegen Lion.“

„Entschuldige, das ist mir unverständlich“ erklärte ich ehrlich. „Nach deiner Theorie müßte ja Lion auch Frau Gelderfrett zum…“

Ich brach jäh ab und starrte meinen Freund entsetzt an.

„Harald, weshalb machte Lion auch diese Ärmste zur Morphinistin?“, stieß ich heiser hervor. „Woher stammen Frau Gelderfretts große Geldeinnahmen…? Hängt das irgendwie mit Zollhinterziehung zusammen?“

„Ja, sogar auf das allerengste… Es fügt sich nur langsam ein Steinchen zum andern, ein kleiner Beweis zum andern, und doch muß man, wie ich schon andeutete, zwei Beweisgruppen für zwei voneinander unabhängige Verbrechen scharf auseinanderhalten, die nur in der Person der ‚Fürstin‘ zusammenlaufen, sich vereinigen und dadurch erst verständlich werden. — Chauffeur, halten Sie am nächsten Fernsprechautomaten… Du kannst mit in die Zelle kommen. Ich will unseren Vertrauten, den Kriminalinspektor Dreßler, anrufen. Er wird die nötigen Untersuchungen, zu denen ich ihn riet, bereits vorgenommen haben. Ich kann dir jetzt schon sagen, daß er uns folgendes mitteilen wird: An dem dicken Ende des dolchartigen Propellerstücks, das van Lions Tod herbeiführte, wird man nicht Teilchen von Wildlederhandschuhen, wie ich zuerst annahm, gefunden haben, sondern Hautfetzen von einer Männerhand und vielleicht Blutspuren, die dadurch hervorgerufen wurden, daß Gelderfrett sich beim Zustoßen die Innenhand verletzte… — Zweitens: Der Tee in Flugkapitän Lorms Feldflasche wird ein Betäubungsmittel enthalten. Die ‚Fürstin‘ betäubte Lorm, steuerte die Maschine dann selbst und brachte sie zum Absturz, wobei sie ganz genau wußte, daß sie nicht verletzt werden würde, wenn sie sich nur hinter ihrem Sessel zusammenkauerte und sich festhielt, um den ersten Anprall abzufangen. — — So, steigen wir aus… Dort ist ein Telefonautomat…“

Wir mußten einige Zeit warten, bis die Verbindung hergestellt war.

Inzwischen überlegte ich mir Harsts Eröffnungen ganz gründlich, stieß dabei aber auf so zahlreiche Widersprüche und Ungereimtheiten, daß ich unmöglich ein klares Bild der Vorgänge gewinnen konnte.

Endlich war die Verbindung da.

Harsts Voraussage traf Wort für Wort ein… Dreßler teilte uns zunächst mit, daß die Regierungsorgane ein sehr auffälliges Interesse für die Katastrophe des D. O.II bekundeten und daß er, gewitzigt durch frühere Erfahrungen, die nötigen Untersuchungen persönlich vorgenommen und deren Ergebnis bisher verschwiegen habe.

„Gott sei Dank!“, bemerkte Harst, sichtlich erleichtert aufatmend.

Dreßler berichtete weiter, daß das Propellerstück aus van Lions Brustwunde bestimmt nicht zu den zersplitterten Propellern der abgestürzten Maschine gehöre. Er hatte insgeheim die gesammelten Splitter zusammengesetzt und es fehlte kein Stück von der Größe und Form der eigentümlichen Mordwaffe.

Im übrigen, so betonte er, träfen Harsts Vermutungen nicht ganz zu, da an der Mordwaffe Hautfetzen und etwas Blut am dicken Griffende und nicht Lederteilchen Festzustellen gewesen seien. — Flugkapitän Lorms Feldflasche allerdings enthielte Tee, der mit einem Betäubungsmittel vermischt sei.

Mein Freund gab Dreßler den Rat, auch fernerhin über diese Ergebnisse zu schweigen.

Hiermit hatte dieses entscheidende Telefongespräch ein Ende.

 

 

8. Kapitel.

Der Pudel Karlchen.

Wenn ein schwarzer, sogenannter Schnürenpudel nicht nach Löwenart geschoren ist, wenn sein Fell etwas verstaubt und die ungeschorenen Beine dick und steif erscheinen, kann er, so zur Winterszeit, recht unscheinbar aussehen und sogar einem grauschwarzen Hammel gleichen.

Ich will den Pudel Karlchen unseres Freundes Sorani wahrhaftig nicht beleidigen, ich will überhaupt keinen Menschen verletzen, ich bin lediglich Chronist, der sich verpflichtet fühlt, sowohl ‚Milieu‘ wie Einzelerscheinungen ungeschminkt zu schildern. Daß so manches ‚Milieu‘ nur unter Puder und Schminke, also zum Beispiel im Spiegel einer gleichgesinnten Presse, erträglich erscheint, ist nicht meine Schuld.

Unsere Arbeit in der Stadt war nun zunächst erledigt. Wir fuhren in einer Taxe zu Freund Soranis Winterlager hinaus, und gerade dort, wo die vornehme Allee des Vorortes stark ländlich zu werden beginnt und der vernachlässigte Weg zum verfallenen Bauerngehöft abbiegt, klopfte Harst plötzlich sehr energisch gegen die Scheibe und befahl dem Chauffeur zu halten. Wir zahlten, stiegen aus, und mein Freund deutete, als das Benzinvehikel verschwunden war, auf eine dicke Pappel weit vor uns, neben der ein winterlich rauhbeiniger Pudel neben einem verbeulten Filzhut saß, den selbst ein Lumpensammler nicht aufgehoben hätte.

„Karlchen neben meinem Stromerhut!“, sagte Harst etwas gedehnt. „Das bedeutet nichts Gutes.“

Der Pudel begrüßte uns mit mäßiger Freude. Wie lange er hier bereits bei dem kalten Wetter gesessen hatte, ging aus Soranis Zettel nicht hervor, den wir unter Karlchens Halsband fanden:

„Ich habe gut aufgepaßt. Drei verdächtige Burschen tünchen die Steine an der Seite des Weges. Karlchen bleibt bei Ihrem Hut sitzen. Hoffentlich übersehen Sie ihn nicht. Die Rückseite des Gehöfts ist unbewacht, und durch den dünnen Waldstreifen können Sie bis zu dem einen Stall gelangen. S.“

Schausteller sind eben nicht nur Menschenkenner, sondern auch sonst pfiffige Köpfe.

Wir kehrten um, nahmen Karlchen und den Hut mit und pirschten uns von Süden her an die Gebäude heran. Da es inzwischen bereits dämmerig geworden, durften wir annehmen, der Ehrenwache, die Herr von Weichert uns fürsorglich gestellt hatte, zu entgehen.

Harst war mit Karlchen stets fünf Meter vor mir und hatte mir dringend nahegelegt, diesen Zwischenraum genau einzuhalten.

„… Ich traue Weichert alles zu… Nimm also deine Pistole getrost in die Manteltasche.“

Das Waldstück, das wir zu passieren hatten, war einerseits zum Anschleichen des Unterholzes wegen sehr günstig, andererseits bot es zu viele Verstecke für Herrschaften, die uns vielleicht mit Hilfe von drei Zoll Kalteisen die nähere Beschäftigung mit dem famosen Baron Weichert gründlich versalzen wollten.

Wie überall in den Vororten, wo etwa noch unbebautes Gelände vorhanden, hatten auch hier die Anwohner ihre verwanzten Bettmatratzen, alten Eimer zerschlagenes Geschirr fragwürdigster Art und manches andere ‚abgelegt‘…

Zwischen diesen unsauberen Ruinen wucherten hohe Disteln, — — seltsam, daß auf derartigen Trümmern vergangener Herrlichkeit und Sauberkeit gerade die Distel so prächtig gedeiht, nebenher die Brennnessel und der giftige Nachtschatten.

Aber unverständlich, daß die Anwohner, doch zumeist Villenbesitzer, nicht so viel Reinlichkeitsempfinden aufbringen, ein Stück Natur wie diesen Kiefernwald und diese alten prächtigen Eichen wirklich als Naturdenkmal zu behandeln…

Nun, daran war nichts zu ändern.

Das sind eben kleine Schönheitsfehler des Sinnes für Natur und Sauberkeit, die nicht jeder fühlt.

Für uns allerdings sollten diese Ruinen einige peinliche Minuten heraufbeschwören. —

Karlchen, seines Zeichens dressierter Pudel von fabelhaften Fähigkeiten, war als Künstler, sogar im Rechnen, unzweifelhaft ein Star.

Er hätte vielleicht sogar manchem Bankdirektor bei der Frisierung der Bilanz helfen können.

Für eine Wurst vielleicht…

Aber als Polizeihund war er weniger brauchbar. Der stete nahe Umgang mit Menschen, die er nur als Publikum schätzte, hatte seine Sinne abgestumpft. Er war ja nicht mehr Hund, sondern Künstler, Akrobat, — — ein Star!

Harst mochte sich denn auch von Karlchens Fähigkeiten zum rechtzeitigen Warner nicht allzuviel versprechen. Ich merkte dies an der Art, wie mein Freund sich vorwärts bewegte und wie er den Pudel mehr als Zierstück am Halsband führte.

Plötzlich blieb er stehen.

Er hatte gerade eine Stelle erreicht, wo eine förmliche Barrikade von Matratzen, alten Sofas und Scherbenbergen nur einen schmalen Durchschlupf dicht am Fuße einer Eiche zeigte.

Auch ich machte halt.

Da wir uns nur schrittweise mit häufigen Pausen vorwärts bewegt hatten, war es mittlerweile recht dunkel geworden.

Harst drehte sich um und winkte.

Ich schlich näher, und als ich angelangt war, sagte er ironisch:

„Der Freiherr von Weichert ist ein feiner Kopf! Kein Strohkopf! Bekanntlich kommt es auf den Inhalt der Köpfe, nicht auf den Kopf selbst an…“

Ich versuchte in dem Durchschlupf der Barrikade etwas Verdächtiges zu finden.

Ich fand nichts.

„Weichert läßt die Chausseesteine drüben von drei Kerlen tünchen — — abends!! Nach Feierabend also, — Natürlich muß das auffallen, — so spekulierte er. Natürlich wird Sorani uns warnen und raten, diesen Weg zu wählen, — so spekulierte er weiter… Und deshalb hat er hier etwas aufgebaut…“

„Aufgebaut?!“

„Ja… — Sieh‘ mal, mein Alter, uns etwa durch ein paar bezahlte Halunken überfallen zu lassen, bleibt ein Risiko… Wir könnten einen der Kerle anschrammen, und dann käme Weichert in Teufels Küche trotz aller erstklassigen Beziehungen… — So was macht man als ‚Kopf‘schlauer…“

Er deutete auf den Engpaß.

„Da stehen ganz steil zwei Sprungfedermatratzen wie Schildwachen… Die roten Bezüge sind gerissen, die Spitzen der Sprungfedern sind sichtbar…“

„Du meinst, daß…“

„… Ich meine, daß das Brett dort im Engpaß so gelegt ist, daß es als Hebel wirkt und die Matratzen nach innen kippen läßt, sobald jemand auf das Brett tritt… Und ich wette, daß die Spitzen der Sprungfedern von jemand spitz gefeilt und mit einem angeblichen Lack bestrichen sind…“

Er lachte leise…

„Weichert tüncht Steine und lackiert Metallspitzen mit Gift… — Ein Kopf — — ein genialer Kopf…!“

Dann bückte er sich, hob ein schweres Porzellanstück eines nicht mehr benutzten W. C.-Beckens auf und warf es auf das Brett…

Krach…

Beide Matratzen kippten um…

„Fein, nicht wahr?! Wenn Leute vom Bildungsgrad eines Weichert Verbrecher werden, dann kann man sich so auf allerhand gefaßt machen… ! — Herr Baron, es hat nicht geklappt…! Man soll derartige Mordfallen nicht so auffällig hinstellen…!!“

Dann kletterte er über einen Schutthaufen und sagte dabei zu Pudel Karlchen:

„Mein Sohn, du siehst im Winterpelz wie ein Schafbock aus… Du bist auch ein Schaf. Du darfst darüber nicht traurig sein, du teilst diese Eigenschaft mit vielen einseitigen Berühmtheiten… Im übrigen ist Schaf ja auch ein relativer Begriff… Siehe Relativitätslehre…“

Zuweilen kann Harst sehr bissig werden.

Besonders wenn es um Leute gebt, deren ‚Ruhm‘ künstlich aufgepumpt worden ist…

Vergleiche Kinderspielzeug aus Gummi: das sterbende Schweinchen!

… Der Stall kam in Sicht. Er hatte verschiedene unnötige Luftlöcher, und hier erwartete uns die sehr warm angezogene und sehr aufgeregte Mutter Sorani.

„Brettschneider ist bereits eine halbe Stunde bei uns, Herr Harst…“, meldete sie ängstlich.

„Ob, das paßt ja vorzüglich“, beruhigte mein Freund sie mit grimmem Humor. „Herr Brettschneider brachte wohl abermals eine Abzahlung?!“

„Ja, aber nur fünfzig Mark.“

„Spione lassen sich selbst gut bezahlen, zahlen aber selbst sehr schlecht. Begrüßen wir ihn.“

Als wir das Wohngemach des großen Schaustellerheims betraten, wo bereits Licht brannte, machte Alfred Sorani ein sehr verdutztes Gesicht, während die Fuchsvisage Emils heimlich aufleuchtete.

Das Leuchten verlor sich schnell.

Wir setzten uns, und Harst schaute den Kakadu-Ober unheimlich starr an.

Emil rutschte vor Verlegenheit hin und her, als mein Freund verfänglich freundlich erklärte: „Ihr damaliges schriftliches Schuldbekenntnis habe ich gut verwahrt, und für Falschmünzerei gibt es Zuchthaus. — Sorani, bitte, lassen Sie uns mit unserem alten Schmerzenskinde Emil allein.“

Brettschneider wurde weich wie Sommerbutter ohne Eisschrank.

„Wer schickt Sie her?“, begann Harst sehr milde. „Jede Lüge kostet Reuegeld. Ich warne Sie!“

„Baron von Weichert…“

„Das dachte ich mir. Also hat die Polizei die Taxe ausfindig gemacht, die uns heute früh hierher brachte. Und Sie werden Weichert erzählt haben, daß wir Sorani kennen. Das war dumm, mein Lieber.“

„Ja“, sagte Emil reuevoll, „Aber Weichert hat mich auch in der Hand, Herr Harst. Ich war da in der Kakadu-Bar in eine Geschichte hineingeraten, — eine Brieftasche war verschwunden, und ich bin unschuldig.“

„Wie immer. Diese Intimitäten Ihres Erwerbszweiges sind mir gleichgültig. Mich interessieren andere Dinge. So zum Beispiel die Fürstin Hugerlow.“

Brettschneider verdrehte entsetzt die Augen. Das Thema mißfiel ihm.

Aber wenn Harald einem Mann von Emils unmoralischen Qualitäten gegenübersitzt und bereits eine ganze Menge weiß, dann ist auch der hartgesottenste Kriminalstudent von vornherein im Nachteil.

Und als mein Freund noch mahnend erwähnte, es ginge hier um zwei Kapitalverbrechen und im Strafgesetzbuch existiere ein sehr peinlicher Paragraph über Begünstigung, verfärbte sich Brettschneider bis zur Blässe alten Elfenbeins und stotterte geknickt: „Fragen Sie, Herr Harst… Ich werde alles sagen.“

Nun kamen höchst merkwürdige, geradezu romantische Dinge an den Tag.

Der Freiherr von Weichert war in Wirklichkeit höchstselbst Besitzer der Kakadu-Bar und der damit verbundenen Spielhölle. Als sein Strohmann figurierte ein aus Krakau zugewanderter Herr, der nachweisbar 1926 mit einem Kaftan, Schaftstiefeln und einem armseligen Bündel Berlin beglückt, jedoch schon 1923 eine Sechszimmerwohnung innegehabt hatte und heute eine Villa besaß und unlängst abermals die Religion gewechselt hatte.

Die Kakadu-Bar, die im Erdgeschoß und in der ersten Etage untergebracht war, stand in etwas unklaren Beziehungen zu der im zweiten Stock desselben Hauses äußerst fleißig und verschwiegen tätigen ‚Internationalen Arbeitshilfe‘, einem Syndikat, dessen Präsident ebenfalls der vielseitige Weichert war.

Weit klarer, betonte Emil seufzend, seien die wirklichen Verbindungen zwischen ‚Kakadu‘ und der ‚Inahil‘. Es existiere da eine Geheimtreppe, die in die Räume des Herrn Präsidenten emporführte, deren Ausstattung die Kleinigkeit von 80000 Mark gekostet habe.

Und nun kam der ‚Schlager‘ des Ganzen: Emil versicherte auf sein großes Ehrenwort, er habe die ‚Fürstin‘ nie ohne Schleier gesehen, selbst in der Kakadu-Bar nicht, wo sie Stammgast sei und allerhand Vorrechte genieße. In dem intimen Kreise Weicherts und unter dem sorgfältig ausgewählten Personal der Bar würde sie zumeist ‚Die Fremde‘ genannt.

Wahrscheinlich sei es eine Russin. Aber auch das wisse er nicht bestimmt. Sie besäße mehrere Pässe auf verschiedene Namen und reise stets als Artistin, als Chansonette. Bei seiner Frau in der Pension am Kriminalgericht hätte sie beständig zwei Zimmer mit Flureingang belegt, die sie jedoch selten benutzte. Dort nenne sie sich Tatjana Hugerlow.

Was Brettschneider uns sonst noch über den feudalen Betrieb in der Kakadu-Bar auftischte, gehört nicht hierher, schon aus Reinlichkeitsgründen nicht.

Und was wir mit ihm schließlich verabredeten, wird sich später zeigen.

Daß er uns nicht verraten würde, wußten wir. Vor einer Anklage wegen Beihilfe zum Mord hatte Emil einen heiligen Respekt.

Nachdem er sich entfernt hatte, verschwanden auch draußen auf der Straße die Ehrenwachen des Herrn von Weichert, wie Freund Sorani melden konnte, der mit Karlchen einen Spaziergang unternommen hatte.

 

 

9. Kapitel.

Der Präsident der ‚Inahil‘.

Auf Soranis war unbedingt Verlaß. Als wir da her bei dem einfachen Abendessen beieinandersaßen, hielt mein Freund es vielleicht für eine Anstandspflicht gegenüber unseren Gastgebern, den Fall Lion ein wenig genauer zu beleuchten.

Er fand sehr andächtige und verständnisvolle Zuhörer, und das Interesse des Ehepaares steigerte sich noch, als er eingehend erwähnte, wodurch bei ihm der erste Verdacht geweckt worden war,

„Das Verschwinden der sogenannten Fürstin mußte allein schon Mißtrauen erregen. Sie hatte Dreßler von dem Absturz nur telefonisch verständigt, und Dreßler gab dies genau so zu denken wie mir. Ich sah dann die drei Toten, wovon mir van Lion durch die Zeitungen am besten oder am schlechtesten bekannt war. Man hatte bereits vier in der Presse vielerörterte Attentate auf ihn versucht, ich mußte also auch hier mit einem beabsichtigten Anschlag rechnen. Eines fiel mir an dem Toten sofort auf: Er war ohne Kopfbedeckung und trug einen dicken gefütterten Ledermantel, der jedoch völlig aufgeknöpft war. Bei näherem Hinsehen bemerkte ich an Lions Hinterkopf — er hatte eine bis ins Genick reichende Glatze — eine verfärbte Stelle und geringe Geschwulst. Der Funker erklärte, Lion habe einen Sturzhelm getragen und diesen auch in der Kabine nicht abgelegt. Mithin, sagte ich mir weiter, war anzunehmen, daß Lion durch einen Schlag mit einem eisernen schweren Werkzeug betäubt worden war, wobei der Lederhelm herabfiel. Dann folgerte ich auch aus der Art der Brustwunde, da das Propellerstück am Westenausschnitt vorbei das Oberhemd und das Unterhemd durchbohrt und sicherlich die Herzschlagader verletzt hatte, daß hier denn doch zu viele eigentümliche Umstände mitsprächen, um an einen unglücklichen Zufall dieses Brusttreffers zu glauben. Damals hatte ich allerdings noch nicht die Überzeugung gewonnen, daß hier zwei Verbrechen in gewisser Unabhängigkeit voneinander verübt worden waren. Ich vermutete, die angebliche Fürstin Uwolow sei die Mörderin und würde die Flugzeugreste anzünden, um die zersplitterten Propeller mit zu vernichten, denn, trafen meine Kombinationen zu, so konnte das dolchartige Propellerstück, die Mordwaffe, nur von der Mörderin bereits von Amsterdam mitgebracht worden sein. Die folgenden Ereignisse, so der Versuch auf der Chaussee nach Berlin Schraut und mich abzufangen, und weiterhin die in der Kakadu-Bar belauschte, sehr verdächtige Szene zwischen den Verschworenen, ferner die ebenso aufschlußreiche Unterhaltung zwischen der Geheimrätin und Weichert und endlich der Besuch des Barons Löwenheet und des Stewards Gelderfrett bei uns ließen mich auf eine neue, völlig abweichende Theorie kommen. So, wie die Dinge jetzt liegen, bleibe ich bei dieser neuen Theorie: Gelderfrett hat Lion betäubt und mit einem Propellerstück, das er sich als Andenken an einen früheren Flugzeugunfall aufbewahrt hatte, aus Rache ermordet, weil Lion seine junge Frau zum Morphiumgenuß verführt, entnervt und völlig unter seinen Einfluß bekommen hatte.“

„Weshalb aber tat Lion dies?“, fragte Frau Sorani kopfschüttelnd. „Was konnte einem so reichen Manne an der Frau eines Stewards und Koches liegen?“

Harst nickte ihr leicht zu. „Diese Zweifel haben eine gewisse Berechtigung. Ich möchte darauf jedoch erst später zu einem geeigneten Zeitpunkt zu sprechen kommen.“

Alfred Sorani meldete sich jetzt gleichfalls mit einigen Einwendungen. „Verehrtester Herr Harst, wenn Gelderfrett Lion ermorden wollte, muß doch auch Gelderfrett den Absturz der Maschine herbeigeführt haben…!“

„Das ist ganz logisch und richtig gefolgert“, bestätigte mein Freund' mit jenem Eifer, den er selbst zeigt, wenn es um sein Spezialfach gebt. „Genau dasselbe hielt auch ich mir in Gedanken vor, bis ich eben auf eine Lösung dieses Widerspruches kam, und diese Lösung liegt darin, daß Gelderfrett gewußt haben muß, daß die ‚Fürstin‘ den Flugkapitän töten sollte. Wie er dies erfahren hat, wird sich schon herausstellen. Gewußt hat er es, daß Lorm sozusagen zum Tode verurteilt war.“

„Durch Weichert!“, rief Frau Sorani empört.

„Allerdings durch Weichert, der gestern nacht der Geheimrätin gegenüber eine recht durchsichtige Komödie aufgeführt hat. Tasso von Weichert hat Lorm als begünstigten Nebenbuhler glühend gehaßt und nachher Haß und Geschäft miteinander verquickt, — ähnlich wie Lion es bei Frau Gelderfrett tat. Aber hiermit geraten wir bereits auf ein Gebiet, das noch nicht völlig spruchreif ist, aber in der kommenden Nacht restlos geklärt werden wird.“

Harst hatte nach einer Zigarette gegriffen und fügte sinnend hinzu:

„Sie sehen, meine lieben Freunde, wie leicht ein Kriminalfall vollkommen falsch angepackt werden kann. Ich selbst geriet zunächst auf einen verführerischen Nebenweg, der mich nie ans Ziel gebracht hätte. Hier gibt es eben zwei parallel laufende Verbrechen, — — Schraut wird sich besinnen, daß ich dies schon zweimal betonte. Und trotzdem vereinigen sich beide Untaten in einem Punkte: In der Person der stark geheimnisvollen Fürstin, der ‚Fremden aus der Kakadu-Bar‘, wie wir sie nennen wollen. Wer diese Frau ist, weiß ich bisher nicht.“

Auch Alfred Sorani bot mir nun eine Zigarre an und rauchte selbst mit sehr ernstem Gesicht ein paar Züge, bevor er meinen Freund offen anblickte und warnend erklärte:

„Sie kämpfen hier gegen Hornissen, — Sie gebrauchten selbst diesen Ausdruck, Herr Harst. Die Geheimrätin und ihre Tochter hat man bereits unter einem Schein des Rechts kaltgestellt… Auch Sie beide wollte man abfangen. Sind Sie sich der Gefahr bewußt, die darin liegt, diese Herrschaften anzugreifen, die nur allzuviel Rückendeckung haben?!

Mein Freund lächelte etwas sorglos. „Auch ich werde mir eine Rückendeckung verschaffen… Emil Brettschneider wird uns heute die Nachschlüssel für gewisse Türen des Kakadu Hauses aushändigen, und wenn der Oberkakadu unvorsichtig ist, dürfte der Riesentresor der famosen ‚internationalen Arbeiterhilfe‘, abgekürzt Inahil genannt, heute ohne Sauerstoffgebläse sich öffnen… Dann wird sich zeigen, ob auch diese meine Schlußfolgerung stimmt. Ich sage, sie muß stimmen. Während der Inflation sind die armen geneppten Deutschen scharenweise zu den famosen Goldankaufsstellen gelaufen und haben Goldsachen, Silbersachen und Edelsteine für bedruckte Lappen eingetauscht. — Reden wir von anderen Dingen… Die blutigen Tränen dieser Betrogenen verderben mir den angenehmen Nachgeschmack Ihres vorzüglichen schlichten Abendessens, liebe Frau Sorani…“ — —

— Das große Privatbüro des Präsidenten der ‚Inahil‘ verschwamm mit seinem verschwenderischen Prunk im matten Lichte einer einzigen, seideverhüllten Tischlampe zu ungewissen, phantastischen Weiten und noch märchenhafterem Luxus.

Die Wandtäfelung von Rosenholz und handgemalten allegorischen Figuren, die ein aus einer Irrenanstalt entwichenes verkanntes Genie entworfen zu haben schien, schillerte ganz stumpf und zeigte nur die unklaren großen Flecken der beiden einsamen Menschen, die in einer Ecke an einem Tischchen in ganz tiefen Saffianklubsesseln bequem hingestreckt waren.

Der Freiherr von Weichert sog nachdenklich an seiner Zigarette und betrachtete durch sein Monokel immer wieder die verschleierte Frau, die, einst sein Werkzeug, nunmehr seine Herrin geworden.

Weicherts Gedanken spielten mit neuen Verbrechen. Er war moralisch bereits zu tief gesunken, um irgendwelche Hemmungen eines sogenannten Gewissens zu dulden.

Genau wie seine Freunde, die er als Aristokrat tief verachtete, weil er ihre kläglichen Bemühungen, von Geburt anerzogen gute Umgangsformen zu kopieren, nur ironisch belächeln konnte, hatte er längst all den Seelenballast von Idealen, Tradition, Vaterlandsgefühl über Bord geworfen.

Er wartete nur auf die Stunde, wo der eine der derzeitigen Minister sich soweit bloßgestellt haben würde, daß dieser Posten für ihn frei würde. Die Gesinnungsfreunde dieses abbaureifen Herrn hatten den Betreffenden bereits halb und halb fallen gelassen. Der Mann hatte selbst für heutige Seiten und Anschauungen zu böse Schnitzer gemacht.

Dann — — war er, Weichert, Minister…

Und ihn sollten sie nur zu stürzen versuchen!! Er hatte jeden am Gängelbande.

Aber dort ihm gegenüber saß nun diese rätselhafte Frau, die durch ihn ungeheure Summen verdient hatte.

Bisher sein Werkzeug, jetzt seine Herrin!!

Ein unerträglicher Gedanke für einen Mann, wie er es war. Eine einzige ungeheure Dummheit hatte er in seinem Leben begangen: Als er dieses Weib zu seiner Mitschuldigen machte! — Gewiß, Peter Lorm hatte sterben sollen. Aber es hätte andere Möglichkeiten gegeben als diese.

… Hinter dem Schleier der Fremden aus der Kakadu-Bar kam ein gurrendes Lachen hervor. Weichert erschrak… — „Weshalb lachen Sie, Tatjana?!“ Es klang sehr gereizt.

„Ich lache über Ihre Naivität, mein Lieber… Glauben Sie, ich weiß nicht, woran Sie denken?! An das Pech, daß Freund Lion mit ins Gras beißen mußte und daß ausgerechnet dieser Harst nun die kleine Katastrophe des D. O. II zu ergründen sucht. — Sie haben Angst vor mir, vor ihm und vor Löwenheet. Das ist es. Ich wäre Ihnen als… Leiche angenehmer als hier als Gegenüber mit der rechten Hand in meinem Handtäschchen… Ich schieße nämlich genau so sicher, wie ich ein Flugzeug steuern kann, dessen Flugkapitän sterben sollte…“

Weichert biß sich in die Unterlippe.

„Sie werden unvornehm, Tatjana…!“

Die Fremde beugte sich etwas vor. Urplötzlich bekam ihre Körperhaltung etwas Katzenhaftes-Sprungbereites. Ihr Atem ging immer schneller, immer hörbarer…

„Sie… Schurke!!“, sagte sie eilig… „Jetzt endlich habe ich Sie soweit, wie ich Sie haben wollte… An mir war ja nicht mehr viel zu verderben, als Sie mich kennenlernten und van Lion dann Ihr begonnenes Werk vollendete… Aber daß Lion auch die andere, die ihm unbequem war, weil sie mir guter Engel bleiben wollte, vergiftete, entnervte und schließlich reif für die Irrenanstalt gemacht hat, das sollen Sie mir entgelten! — Starren Sie mich nicht so an…! Ich werde Sie vernichten, — ich bin Mörderin, Sie sind der Urheber der Tat, — — und Harst weiß dies! Sie sitzen fest, Weichert! Bilden Sie sich doch nicht ein, daß die Verworfenheit, die Sie verkörpern, wirklich über die wahrhaft schlechte vornehme Gesinnung und über die Tatkraft eines reinen Gewissens triumphieren könntet Niemals! Ich habe ein Gespräch belauscht, und der Gegner, Weichert, wird Sie…“

Tatjana stieß ihren Sessel zurück, sprang zurück, und nicht eine Sekunde zu spät.

Tasso Weichert hatte ihr das Tischchen samt der Lampe gegen die Brust schleudern wollen…

Die Lampe polterte mit zu Boden, die Birne zerplatzte mit mäßigem Knall, und gleich darauf vernahm Weichert das ihm wohlbekannte metallische Schnappen des Türschlosses der Falltür drüben in der Ecke.

Tatjana war ihm entwischt.

 

 

10. Kapitel.

Der tragische und doch einzige mögliche Ausgang.

Minutenlang stand er im Dunkeln und rührte sich nicht. Der eisige Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn und rann ihm die Wangen hinab. Wie ein Trunkener tastete er sich zum Lichtschalter… Die elektrische Krone flammte auf.

Weichert schloß geblendet die Augen.

Als er sie wieder öffnete, glaubte er eine Vision vor sich zu sehen. Seine Nerven streikten vollends, und mit einem gurgelnden Aufschrei taumelte er zurück.

„Sie… hier?!“, — — das war alles, was er über die Lippen quälte.

Die beiden Herren im Smoking betrachteten ihn scharf.

„Öffnen Sie den Tresor!“, befahl Harst ohne Umschweife. „Ich weiß, daß Sie und die Geheimrätin Schelling schon während der Inflation alle irgendwie erreichbaren wirklich wertvollen Edelsteine hier in Deutschland aufkauften und dann die günstigste Zeit abwarteten, all die Steine nach Holland hinüberzuschmuggeln, damit sie dort umgeschliffen würden. Kapitän Lorm und Steward Gelderfrett, deren Frauen Sie durch Morphium und andere Rauschgifte moralisch verdorben hatten, mußten die Steine in Lorms und Gelderfretts Gepäck verbergen, das nie kontrolliert wurde. Gelderfrett sah in Lion den Hauptschuldigen. Er wollte ihn ermorden, und er tat es, als er beobachtete, daß Tatjana Lorms Tee vergiftete… Gehorchen Sie, Weichert. Der Tresor enthält doch bestimmt noch eine Menge Edelsteine. Ich möchte diese Beweisstücke beschlagnahmen, bevor ich die Polizei herbeirufe…“

Tasso Weichert verneigte sich.

„Wie Sie befehlen, Herr Harst… Gestatten Sie noch einige Fragen?“

„Ja!“

„Wie entgingen Sie der Matratzenfalle im Wäldchen?!“

Ich war verblüfft.

Weichert gab selbst zu, daß er für uns diese Falle aufgebaut hatte?!

„Ich merkte, daß es mit so steil stehenden Matratzen nicht recht stimmte…“, entgegnete Harst. „Haben Sie die Dinger vernichtet, damit nicht etwa andere sich daran vergiften?“

„Ja, verbrannt, Herr Harst. — Und wie schöpften Sie gegen uns Verdacht?“

„Brettschneider eignet sich nicht zur Vertrauensperson, und daß die Separees der Kakadu-Bar Löcher zum Beobachten der Gäste haben, schloß ich aus Ihrem ganzen Charakter, der auch ein Sieb ist“, sagte mein Freund sehr ungeschminkt.

Weichert lächelte trübe.

„Sieb — — ja…! Der Spielteufel, Herr Harst! Ich habe Unsummen ergaunert, aber meine Freunde nahmen sie mir wieder ab, sie waren noch bessere Falschspieler als ich…“

Er nagte unschlüssig an seiner Unterlippe.

„In Wahrheit wird wohl meines Vaters Mutter, also meine Großmutter, die Hauptschuld tragen“, stieß er widerwillig hervor. „Ich habe diese Frau stets gehaßt, — — gehaßt mit jeder Faser meiner Seele, falls ich eine Seele habe… Sie, bei der ich erzogen wurde, weil die Familie sehr reich war, brachte mir merkwürdige Grundsätze bei, deren bösester lautete: Liebe dich selbst mehr als alles andere und gehe über Leichen, dann wirst du zu den Mächtigsten der Erde gehören, den Fürsten des Geldes. — Heute sehe ich ein, daß diese Moralbegriffe nur einem Ghetto entstammen konnten, — — und so war es auch… Meine Großmutter war eine geborene ‚von Gitzi‘… Stellen Sie die Buchstaben um, und der Ghetto Beweis ist erbracht“, schloß er verächtlich. — Der Aristokrat in ihm empörte sich gegen diese geborene von Gitzi.

Dann tat er diese Erinnerungen mit einer scharfen Handbewegung ab.

„Wissen Sie, wer die Fürstin Uwalow ist?“, fragte er merklich gespannt.

„Ja. Sie heißt Tatjana mit Vornamen, nannte sich im Pensionat Brettschneider Hugerlow, und in Wirklichkeit ist sie die Schwester einer Unglücklichen, die van Lion zugrunde gerichtet hat, — — ich denke, nun wird es Zeit, öffnen Sie den Tresor…“

Weichert verneigte sich wieder.

„Sofort… Ich fürchte nur, die hohen Behörden werden nicht ganz auf ihre Rechnung kommen, da die Mitschuldigen meinen Mut segnen werden, falls sie segnen dürfen, was ich bezweifele“, schloß er mit kaltem Hohn.

Er wandte sich einer bestimmten Stelle in der Wandtäfelung zu, schob zwei Felder zur Seite und legte eine mittelgroße Stahltür frei.

Dann wandte er den Kopf zurück, lächelte etwas verzerrt und sagte heiser: „Die Tür des Vorraumes ist elektrisch gesichert… Und mein Herz dürfte auf tausend Volt prompt durch Stillstand reagieren… Leben Sie wohl, meine Herren…“

Er hob die Hände, berührte die Türknöpfe, bläulich knisternde Funken sprühten auf, — Weicherts Körper ruckte hoch, fiel zurück und schlug schwer nach hinten auf den Teppich auf.

In dem unter dem feudalen Privatbüro des Präsidenten der ‚Inahil‘ gelegenen intimen Zimmer der Kakadu-Bar flammte etwa zur selben Zeit für Sekunden eine Taschenlampe auf und zeigte die geöffnete Wandtäfelung, hinter der eine schmale, nach oben führende Treppe sichtbar war.

Eine verschleierte Frau trat rasch ins Zimmer, schloß die Wandtäfelung und schaltete ihre kleine Lampe wieder aus.

Einige Zeit horchte sie, dann wollte sie zur Flurtür schlüpfen, als sich hinter dem großen Prunkbüfett eine Männergestalt hervorschälte und die Deckenbeleuchtung jäh aufflammte.

„Tatjana, bleiben Sie…“, bat der Baron Löwenheet traurig.

Das Mädchen erstarrte vor Schreck…

„Hektor, — — Sie?! Sie als Zeuge meiner Schande und meines Triumphes…“ — Urplötzlich hatte sie die Sprache wiedergefunden. „Wissen Sie, wer droben bei Weichert versteckt ist? — Wissen Sie es?! Ahnen Sie es?! Weichert kann nicht mehr entrinnen, und ich will nicht entfliehen… Schonen Sie Wilma… Sie soll nie die Wahrheit erfahren — nie. Aber das eine sagen Sie ihr: Ich habe sie gerächt!“

— Als draußen im Flur der Knall des Schusses gehört wurde, durch den Tatjana Högerleef ihre Schuld tilgte, hatte Emil Brettschneider gerade einen erregten Wortwechsel mit einer seltsam fahrigen, blassen und kränklich aussehenden Dame, die durchaus ihre Schwester zu sprechen wünschte. Im selben Augenblick kamen wir die Haupttreppe hinab und drangen zusammen mit Brettschneider und einigen anderen Leuten in das Zimmer ein, wo der Baron Löwenheet mit einem schwer zu enträtselnden Gesichtsausdruck neben der toten Tatjana stand, denn der Verdacht, der gegen ihn in den Mienen der Kellner und Gäste zu lesen war, hatte eine gewisse Berechtigung, wurde dann freilich sofort zerstreut, als die fremde Dame mit einem wilden Aufschluchzen des Schmerzes in Löwenheets Arme flüchtete… — —

— Die nächsten Mittagszeitungen brachten folgende amtliche Verlautbarung über die Vorgänge in der Kakadu-Bar:

„In der verflossenen Nacht gelang es der Rührigkeit des bekannten Privatdetektivs H., in die höchst bedauerliche Zollhinterziehungsanlegegenheit der Geheimrätin Sch. und des übel beleumundeten Freiherrn von W., der sich selbst den Tod gab, noch mehr Licht hineinzubringen. Herr H. stellte eine Menge Edelsteine sicher und konnte der Polizei außerdem wertvolle Winke über die Flugzeugkatastrophe bei E. geben. Leider hat sich in der Bar zur selben Stunde ein weiterer Zwischenfall ereignet, über den in Rücksicht auf die guten Beziehungen zu einem Nachbarstaate Schweigen bewahrt werden soll. — Wie wir kurz vor Redaktionsschluß noch erfahren, ist der Koch und Steward Karl Gelderfrett infolge der bei dem Flugzeugabsturz davongetragenen Handverletzung (Blutvergiftung) in einer Klinik verstorben.“

Als wir dieses lasen, war Baron Löwenheet mit seiner unglücklichen Braut Wilma Högerleef bereits wieder unterwegs nach Amsterdam.

Wilmas Schwester Tatjana wurde in Berlin in aller Stille beigesetzt.

Immerhin hatte ein berühmter Berliner Nervenarzt dem Baron Hoffnung gegeben, daß Wilma doch noch genesen würde.

Nach Wochen erhielten wir beide ein amtliches Schreiben, daß uns als Belohnung für die Auffindung der Edelsteine die Summe von 10000 Mark überwiesen werden würde.

Wir haben davon 3000 Mark unserem Freunde Sorani und den Rest einer Wohltätigkeitsanstalt geschenkt, die uns die Gewähr bot, daß das Geld auch wirklich in die richtigen Hände käme.

 

 

Nächster Band:

Der Mann vom anderen Ufer.