Olaf K. Abelsen
Abenteuer
Abseits vom
Alltagswege
Einzig berechtigte
Bearbeitung a. d.
Schwedischen von
M. Schraut
– Band 36 –
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1931 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.
1. Kapitel.
Der Leuchtturm von Masarlan.
Masarlan?!
Kein Lexikon gibt darüber Auskunft.
Man muß selbst dort gewesen sein, dann kennt man es.
Und dazu genügt eine Stunde.
Dann kommt man nie wieder.
Von den elenden Hafennestern an der Südküste Arabiens ist Masarlan das allerjämmerlichste. Es wäre wohl längst als Ortschaft erledigt, wenn dort nicht zwei Londoner Firmen Handelsniederlassungen besäßen und der Bevölkerung ihre Ramschwaren mit einigem Profit andrehen und außerdem noch Feigen, Datteln und Schildkröten exportieren würden.
Vor der Hafeneinfahrt müßte eine riesige Warnungstafel errichtet werden: „Achtung, — Gauner, — Tagediebe, schlechter Whisky und Flöhe!!“
Aber Marsalan liegt zu weit abseits, — — ganz abseits vom Alltag …
Ein Dampfer ist dort ein Ereignis, und das sogenannte Hotel „King Edward“, Inhaber Mister Jim Hobbin, angeblich U. S. A., dürfte, falls es über ein Fremdenbuch verfügte (übrigens undenkbarer Luxus!), nur jedes Jahr zwei oder drei neue Namen von Gästen vorzuweisen haben.
Abgesehen von alledem: Die Flöhe bleiben die Hauptsache!
Es ist ausgeschlossen, daß diese kleinen Blutsauger in Masarlan etwa mit unserem ehrlichen, deutschen Pulex, Floh, nahe verwandt sein können.
Die Marsalaner Flöhe sind Kannibalen, Tiger en miniature, — — trotzdem liebe ich sie fast.
Widerspruch das?!
Durchaus nicht … Es kommt stets auf die Begleitumstände an.
Daß mein Freund Holger, der mich mit unserem Kutter spät abends in diesen verwünschten Hafen hineingemogelt hatte, trotz der kleinen Hüpferlinge so fest wie ein Murmeltier schlief, dankte er lediglich seiner vorzüglichen Kehle.
Ich hatte beim besten Willen Mr. Jim Hobbins Whisky nicht saufen können.
Leider … Denn diese Sorte mußte geheimnisvolle Eigenschaften besitzen, die sogar die Marsalaner Flohböcke nebst Anhang verscheuchten.
Mein Hund Monte und ich hatten dafür doppelt und dreifach, nein, hundertfach geblutet.
Schließlich wurde mir die Geschichte in dem schmierigen Bett denn doch zu bunt. Alles hat seine Grenzen. Auch meine Geduld. Ich streifte bei Petroleumlicht die von zahlreichen Mitinhabern wimmelnden nächtlichen Hüllen ab, schlüpfte in frisches Unterzeug und stieg dann einfach zum Fenster hinaus auf das flache Bretterdach der sogenannten Hotelveranda.
Freund Monte wollte folgen, doch angeborene Schlauheit gab ihm im letzten Moment einen glänzenden Gedanken ein: Er kroch mit unter Holgers Moskitonetz, und der Whisky sorgte auch dafür, daß Holger nicht aufwachte.
Zwei Stunden hatte ich geradezu heroisch gegen die Übermacht gekämpft. Nun war ich endgültig geschlagen und endgültig erlöst, saß auf dem Fensterbrett, schaute mir die Gegend an und sog kräftig an der langen Zigarre, die besser als Hobbins Gesöff war — etwas besser …
Gegend …?! — Nun, Arabiens Südküste ist zumeist so unverfälscht Sand, Steine, Felsen, Palmen, Gestrüpp, etwas Gras, daß die Sache nicht viel Abwechslung bietet …
Vor mir der Hafen, … Fischerkähne, Segelboote, eine Anlegebrücke, alles höchst verliedert.
Dann draußen die beiden langen Halbinseln, die den indischen Ozean absperren wie Zangen einer halb geöffneten Kneifzange.
Auf den äußersten Spitzen der Halbinseln zwischen Palmen und Gestrüpp je ein Holzturm mit je einer Signallaterne.
Die Laternen sollen mal gebrannt haben, behauptete Hobbin, U. S. A., — Es muß lange her sein … Ich kenne diese Leuchttürme nur ohne Licht. Und nachher konnte ich auch feststellen, daß zumindest die eine Laterne durch völlige Abwesenheit glänzte.
Rechts und links am Buchtstrande erhoben sich die … „Gebäude“ …
Also die Ortschaft …: Die Wellblechschuppen der Londoner Firmen, die Holzhäuser ihrer Angestellten und das Hotel waren Wolkenkratzer im Vergleich zu den Lehmbuden der sehr gemischten Bevölkerung: Araber, Somalineger, Perser, Inder, Singhalesen, Malaien, Chinesen und … Mischlinge … Natürlich Mischlinge. — In der Hautfarbe waren all diese Strandbanditen verschieden, in der Faulheit völlig gleich, und in der feinen Nase für ein auszuplünderndes Wrack ebenfalls …
Letztens hatten die Herrschaften einen englischen Dampfer „verschrotet“ und dabei versehentlich noch zwei lebende Matrosen mit bei Seite gebracht … Worauf aus dem nahen Felsennest Aden ein Kreuzer erschien und kurzer Hand den Herrn Bürgermeister und vier Honoratioren aufknüpfte.
Der Galgenbalken mit den fünf Stricken hing noch drüben auf der Nordmole zwischen zwei Palmen … Das, was in den Schlingen gehangen hatte, war längst Haifischfrühstück geworden.
— Also, das war nun Masarlan …
Salomonis Weisheit mochte es ergründen, weshalb Freund Holger Hilgerström mich hierher verschleppt hatte!
Diese Gedanken beunruhigten mich nicht weiter … Wir hatten ja absolut nichts, gar nichts zu tun, wir wollten lediglich Innerarabien kennen lernen, und Hobbin, U. S. A, hatte versprochen, Dromedare nebst Zubehör zu beschaffen.
… Und wie ich so meinen Glimmstengel nun mißtrauisch auf ein etwa mit in den Tabak gemengtes Stück Schuhsohle untersuche, und nur die Sterne mir dabei leuchten, höre ich die diversen Köter der Araberhütten plötzlich im Fortissimo kläffen und heulen, blicke auf und sehe noch gerade eine Gestalt zwischen den Büschen der Nordmole verschwinden.
Der Kerl da hatte es recht eilig … Außerdem, — ganz Masarlan schläft, Freund Holger hat den Leuten Whisky spendiert, und daß er dabei sein Paket Dollarnoten zeigte, war mehr als leichtfertig.
Paket …
Pack zieht Pack an … Führe niemand in Versuchung!!
Es war bei mir nichts als der Wunsch, die Zeit bis Tagesanbruch irgendwie totzuschlagen, daß ich nun vom Verandadach in den Sand sprang und dem flinken Burschen dort folgte.
Holger war durch Monte geschützt … Wen Monte bei der Kehle bekam, der konnte nicht mehr „Salem aleikum“ sagen.
Ich duckte mich hinter Kisten und Fässern zusammen, schlüpfte in die Sträucher, bombardierte ein paar bissige Köter mit Steinen und hatte sehr bald den fremden Schleier dicht vor mir. Wie auf Katzenpfötchen schlängelte sich der Bursche in seinem braunen Beduinenmantel durch Dornen und Steine und erkletterte schließlich den morschen Holzturm an der Halbinselspitze.
Ich wartete …
Mit einem Male blitzte in der Turmluke nach der See zu ein grelles Licht auf …
Schmuggler?!
Hier?! — Ausgeschlossen!
Was also sonst?
… Ich hatte Geduld …
Der Lichtschein blieb … — Ich schaute in die dämmerige Ferne des weiten Ozeans … Sah auch etwas: Die Positionslampen eines Dampfers.
Leider sah ich aber zu spät, daß der geheimnisvolle Leuchtturmwächter soeben den Rückzug angetreten hatte.
Er war gewandt und schnell wie ein dahinflitzendes Wiesel, und ihm den Weg nach dem Festlande abzuschneiden, brachte mich etwas außer Atem.
Die dicke Palme, um die sich unten lange blätterreiche Dornenranken geschlungen hatten, bot genügend Deckung.
Inzwischen war es im Osten hell geworden.
Der neue Tag zog herauf …
Das zweifelhafte Zwielicht zeigte mir einen Beduinen mit Gesichtstuch, wie es die Tuareg tragen, jene afrikanischen Sahararaubritter …
Hier trug nicht einer der faulen, schmierigen Marsalaner eine derartige Halbmaske, obwohl gerade diese Galgenvogelvisagen besser nur zur Hälfte sich dem ehrlichen Tageslicht darbieten durften …
Im Grunde ging mich ja diese ganze Geschichte verdammt wenig an … Aber in dem Gehaben des fremden Arabers drückte sich so viel Vorsicht und ängstliche Scheu aus, daß hier unbedingt etwas nicht stimmte.
Hätte ich das dicke Blut der erhabenen Vertreter der Zivilisation in meinen Adern, die vom Klubsessel aus Völkergeschicke oder ein Warenhaus oder ein Bankinstitut oder auch nur eine mondäne Amüsierstätte leiten, würde ich mich entweder keinen Deut um die Sache geschert haben oder allerhöchstens den sehr eilig Dahinstürmenden liebenswürdigst gefragt haben, ob die Laterne in der Turmluke etwa zum Mottenfang aufgestellt sei.
Dieses dicke Blut kreist nur dann in meinen Adern, wenn die Umstände kühlstes Abwägen verlangen, und auch dann ist es kaum dickes Blut, sondern nur ein sehr robustes Nervensystem, das bisher selten versagt hat.
… Ich sprang zu, bekam den Burschen beim Genick, stauchte ihn zu Boden und …
… Solch ein schneidiger, niederträchtiger Wicht …!!
Ich prallte zurück … Von unten hatte der überfixe Bursche mit einem Messer nach meinem Arm gestoßen und mir den Ärmel handlang aufgeschlitzt.
Und ich war waffenlos, ich hatte nur leichtestes Unterzeug, ein Basthemd und Morgensandalen an …
Der blitzschnelle Stich hatte mir trotz allem imponiert … Schon in diesem fabelhaft geschickten halben Herumwerfen des Oberkörpers lag ein Beweis von Kraft und Ringertraining, der mich warnte … Ein fettbäuchiger Gegner etwa, wie der feiste Perser, den wir gestern abend noch in Hobbins Schankraum genossen hatten, wäre von mir hier anders behandelt worden. Bei diesem Beduinen begnügte ich mich mit einem ebenso raschen Seitensprung, um mit der geballten Faust an ihn heranzukommen, und diese Faust wäre kaum ohne Wirkung geblieben, wenn nicht irgend ein zweiter ebenso tüchtiger Wüstensohn mir nicht eine Schlinge über den Kopf geschleudert hätte …
Ich flog nach hinten über, sauste unglücklicherweise in ein von Dornen durchzogenes Gebüsch, und bevor ich mich noch aufgerappelt und den Lasso abgestreift hatte, vernahm ich bereits,von den letzten Hütten her das Toben der Araberköter …
Die beiden Leute waren entwischt.
Ein Blick nach dem Hotel hin …
Ich stutzte … — Täuschte ich mich?! Kletterte dort nicht soeben jemand am Verandapfosten hoch und verschwand in unserem Prunksalon von Flohkiste?!
Ich hatte mich nicht geirrt … Und das tollste dabei war die kaum anzuzweifelnde Tatsache, daß ich die gestreiften weiten Hosen und die wehende Jacke eines Schlafanzugs sehr gut kannte … Außerdem hatte auch nur ein einziger Mann hier in diesem Strandpiratennest eine derartige Körperlänge und einen so hellen sandblonden Schädel!
Ich pfiff leise durch die Zähne …
So manches wurde mir urplötzlich klar, insbesondere Freund Holgers merkwürdige Sehnsucht nach diesem gottverlassenen Fleckchen Erde!
Also so lagen die Dinge! Der lange Holger fischte hier irgendwie im Trüben, und der erste stramme Hecht, den er geangelt hatte, war ausgerechnet ich!
… Ich schaute mir die Angelschnur an …
Ein gewöhnlicher schmieriger langer Strick zum Befestigen von Traglasten auf Kamelbuckeln!
Von der Sorte Lasso lagen da am Hafen übergenug herum … Holger hatte nicht zu suchen brauchen.
Ich hätte nicht ich sein müssen, wenn dieses kleine Anfangsabenteuer mich nicht auf den Geschmack gebracht hätte. Jetzt interessierte mich auch der nahende Dampfer, und im Dauerlauf ging es zum Leuchtturm, im Nu war ich die Leiter hinan, kroch oben in den Taubenschlag, fand hier lediglich eine Karbidlaterne mittlerer Größe vor — dieselbe, die der Beduine hier aufgestellt hatte.
Die Leuchtturmlampe fehlte. Wahrscheinlich hatte ein Marsalaner sie für billiges Geld nach auswärts verscheuert.
Genug: Eine Laterne, war da, ich war da, und der Dampfer passierte soeben draußen den Brandungsstreifen, wobei ich feststellte, daß er zweifellos unlängst in einen üblen Orkan geraten sein mußte: Der Vordermast war geknickt, das Schiff hatte auch Schlagseite, und die recht hohe Brandung spielte ihm übel mit, es torkelte hin und her, — ein Wunder blieb es, daß es die Fahrrinne nicht verfehlte, sonst würde der alte Rattenkasten, der selbst im Zwielicht all seine Schäbigkeit deutlich zeigte, unbedingt aufgelaufen und gescheitert sein.
Wie ich noch so das recht geschickte Manöverieren verfolge und zuweilen den Atem anhalte, wenn der mittelgroße verwahrloste Frachter beinahe die kleinen rotgepinselten Bojen der Fahrrinne überrennt, während über sein Heck der Gischt der Brandungskämme hinwegstiebt wie weiße flatternde Schleier, erspähe ich — ein Zufall — einen einzelnen Schwimmer, der wie ein Tollhäusler mit einer Art Floß, hergestellt aus zwei Tonnen, hinter dem Dampfer der südlichen Halbinselspitze zustrebt …
Ob er rudert, ist nicht zu erkennen …
Ob er nur auf eine ihm gnädige Strömung hofft, dürfte das wahrscheinlichere sein …
Die Wogen spülen über ihn hin, mitunter scheint er nicht wieder aufzutauchen, dann hebt ihn ein schäumender Kamm turmhoch, die beiden Tonnen schweben förmlich in der Luft, der Mann mit ihnen, — und wieder saust der Waghalsige in einen der grünen Schlünde, bis er vollends unsichtbar bleibt.
Trotzdem dürfte er die Halbinsel drüben erreicht haben …
Ich gönne und wünsche es ihm.
Der Mann besaß Mut, und der Mann war bestimmt heimlich von dem Dampfer entwichen, der nunmehr inmitten des Hafenbassins Anker wirft.
Da die Dämmerung rasch zunimmt, flüchte ich — ich habe Gründe genug, mich nicht sehen zu lassen — ebenfalls in unseren Prachtsalon zurück, wo Freund Holger natürlich wie ein Murmeltier zu schlafen vortäuscht und Monte, jetzt unter meinem Moskitonetz, den zwecklosen Kampf gegen die Blutsauger aufgegeben hat.
Ich stehe am Fenster …
Der Dampfer, der ohne die vorgeschriebenen Sirenensignale eingelaufen ist und erst recht keinen Lotsen verlangt hat, zeigt mir im Sehfeld des Fernglases nun alle Einzelheiten.
Ich lese am Bug „Triton, Marseille“ … — Das besagt gar nichts …
Ich sehe an Deck eine Anzahl Leute, recht zusammengewürfeltes Volk, und ich beobachte weiter, wie ein kleines Boot vom Schiff abstößt und mit zwei Mann dem bewußten Leuchtturm zustrebt, landet, — — plötzlich verschwindet der bisher noch immer wahrnehmbare Schein der Laterne, das Boot kehrt zurück, und … Masarlan schläft noch immer.
Nur ein paar Köter bellen den Dampfer an.
Vieles, sehr vieles ist bei alledem höchst auffällig …
Wer sich den Wind aller Erdteile um die Nase wehen ließ, bekommt klare Augen.
Die hatte ich schon immer …
Triton, mit dir stimmt etwas nicht!
Wollen abwarten, wie die dunkle Geschichte sich fortsetzt … Wollen auch mal nachher Freund Holger auf den Zahn fühlen … Unter Kameradschaft verstehe ich denn doch mehr als nur das vertrauliche du der Anrede.
… Und so steigt denn langsam der Sonnenball aus dem Dunst des Ozeans hoch, wird glänzende Scheibe …
Masarlan erwacht …
Mr. Hobbin nebst seinem Boy rumoren mit Töpfen in der Küche …
Dann gähnt Holger Hilgerström wie eine bellende Seerobbe, setzt sich aufrecht …
„Na — schon munter, Olaf?!“
„Sehr munter‥! Sehr! Ein Dampfer ist eingelaufen … ohne Lotsen …“
„Was du nicht sagt!“ Er reckt sich, tritt näher …
Ich beobachte sein braunes, hageres Gesicht.
„Wahrhaftig!“, gähnte er gelangweilt. „Und der alte Kasten scheint einiges Wasser geschluckt zu haben, liegt schief …“
Er dreht sich um, reißt die Tür auf …
„Ali, — — Rasierwasser!!“, brüllt er die Treppe hinab …
— Freundchen — mich machst du nicht dumm! Mußt früher dazu aufstehen!! Ich habe sehr gut gesehen, daß es dir einen leisen Schreck einjagte, als du den Triton, Marseille, in so übler Verfassung gewahrtest!
… Während wir uns anziehen und Holger dabei den hiesigen Whisky über den grünen Klee lobt, grübele ich darüber nach, wie Holger Hilgerström, der doch monatelang vorher mit ganz anderen Dingen beschäftigt gewesen und keinerlei Verbindung mit Masarlan unterhalten haben kann, hier so plötzlich insgeheim zum Helfer eines Beduinen werden konnte, der dem Triton durch die Laterne Signale gab … oder doch zumindest das Einlaufen ohne Lotsen erleichtern wollte.
Freilich, Holger hat gestern spät abends, als er die Banditen hier mit Brandy vollpumpte, den Schankraum für eine halbe Stunde verlassen, — das weiß ich …
Und Holgers Grinsen bei seinem Wiedererscheinen und seine geflüsterte Bemerkung: „Nette braune Mädels hier …“, täuschten mich gestern abend. — Heute nicht mehr … Heute bei Tageslicht bekamen die Dinge ein anderes Aussehen … Auch Holgers großmütige Spritspende …!! Die Marsalaner Gentlemen sollten eben recht fest schlafen …
Haben sie auch getan …
Erst jetzt sammeln sich einige am Hafen und glotzen verkatert den Dampfer an …
— Warten wir ab, wie die Fortsetzung sich gestaltet …
2. Kapitel.
Das Zauberwort „Bannistar“.
Fortsetzung: Auf der Veranda an einem der wackeligen Brettertische beim Frühstück.
Holgers Laune ist miserabel.
Angeblicher Grund: Die faulen Eier!
Als Ali sie uns serviert hatte, bekam Alis schöne grüne Jacke zwei gelbe Flecken. — Holger trifft auch mit Eiern …
Ali entfleuchte, Mr. Hobbin schiebt seine Hakennase vorsichtig durch die Tür …
Er hat Glück …
Die Gabel, die Holger schleudert, fliegt nur in den Türpfosten.
„Hm — — auch Kater?!“, frage ich anzüglich. „Moralischen Kater‥?! — Auch das soll vorkommen …“
„Blech!“
Indem erscheint durch die Tür ein praller weißer Bauch nebst Zubehör: Herr Mirza Siddar, Perser, Inhaber des Weltwarenhauses von Masarlan.
Der weiße Tropenanzug ist ihm zwei Nummern zu klein, dafür ist sein Schädel mit einem Tropenhelm verziert, der einem Büffel gepaßt hätte.
Hinter Herrn Mirza tauchen vier Leute vom Triton auf …
Galgenvögel …
Nehmen alle fünf am anderen Ende der Veranda Platz und stecken die Köpfe zusammen …
Ali, der dunkelhäutige Boy, bringt andere Eier und schreit schon von der Tür her:
„Ganz frisch!!“
Auch Mr. Hobbin schiebt sich katzbuckelnd näher und meldet, daß die Dromedare bereit stünden, falls …
„… Dreihundert Dollar, Mr. Hilgerström … Vorzügliche Tiere … Tadellose Wasserschläuche und Sättel …“
Holger schweigt. Diesmal reißt mir die Geduld …
„Zweihundert …!“, — und ich gebe Monte einen Wink …
Monte knurrt, richtet seine Ohrstummel auf, und der Mann, der sich hier Hobbin nennt und der sicherlich in einem Neuyorker Verbrecheralbum zu finden ist, wechselt die Farbe und stottert … „Habe mich nur versprochen, — — zweihundert!“
Holgers Gedanken sind weiß Gott wo … Er zieht sein Bündel Banknoten hervor, alles ehrlich verdientes Geld, und reicht Hobbin zwei Scheine, — — plötzlich steht einer der Triton-Leute vor uns, schielt nach dem Pack Noten, — Pack zieht Pack an —, — und redet dann wie ein Winkelkonsulent in öligstem Tonfall …
„Die Herren entschuldigen … Mein Name ist Diego Montez, Obermaschinist vom Triton … — Wir brauchen zwei unparteiische Zeugen …“ — und so weiter.
Daß der Triton unterwegs im Orkan den Kapitän und den ersten Steuermann eingebüßt hat, wissen wir bereits … Nun setzt uns Sennor Diego, einer der verlogensten aller verlogenen Portugiesen, zungenfertig auseinander, daß … und so weiter.
Holger schaut ihn an … So von den Stiefeln bis zur speckigen Mütze … So mit einem Blick, der Bände spricht …
Dann schiebt er sein Geld in die Tasche und zieht aus dem Gürtel etwas anderes hervor …
„He, wer will die Ladung kaufen?“, fragt er nur … „Der Perser?! Sagen Sie ihm, daß …“ — da bricht er ab und die Pistole hebt sich …
Herr Diego Montez verduftet …
Eilfertig zischelt uns Hobbin, U. S. A., in die ungnädigen Ohren: „Tatsache, dem zweiten Steuermann, der Mitinhaber des Dampfers ist, gehört auch die halbe Ladung und …“
„Gehe zum Teufel, — — in einer halben Stunde brechen wir auf!“
Holger ist sehr schlechter Laune …
Ich wundere mich über so manches. — Holger ruft den Perser …
„Komme her, du Lump …!“
Mirza watschelt zögernd näher …
„Setze dich …! — Du willst also die Ladung des Triton erwerben‥?!“
Das mißratene Hängebackengesicht des Kaufhausbesitzers verfärbte sich …
„Ja …“ Er flüstert nicht, er tuschelt nur noch. „Ja — nicht für mich …“
Was er da andeutet, läßt Holger plötzlich lächeln.
„Ach so … Du vermutest Meuterei an Bord, — mag sein …“ Dann wird er noch nachdenklicher.
Seine klaren Nordlandsaugen — er ist Däne von Geburt, und sein Leben verlief nicht so ganz glatt — haften an dem schwammigen Gesicht des Persers und deuten viele versteckte Fragen an.
Ich als stiller Beobachter dieser morgendlichen Szenen lasse mir nichts entgehen.
Holgers schmale lange Hände ruhen auf der Tischplatte und dem zweifelhaft sauberen gewürfelten Tischtuch. Freund Holger trommelt mit den Fingernägeln gegen den Rand der Kaffeetasse, — es klirrt leise, der echt silberne Blechteelöffel klirrt mit, und über Holgers Lippen kommt ein Selbstgespräch, ein einzelnes Wort …
Es klingt wie Bannistar … so ähnlich …
Der Perser hat den Schädel auf eine Seite gelegt, der Tropenhelm verrutscht, aber das stört Mirza nicht … In seinen Zügen liegt ein Ausdruck maßloser Verblüffung. Auch seine Lippen bewegen sich, und Holger scheint deren Form genau zu studieren.
Dann sagt er ebenso unvermittelt:
„Verschwinde!“
Mirza dienert und gesellt sich seinen höchst zweifelhaften Genossen wieder zu.
„… Ich werde mir mal die Dromedare ansehen … Bleibe nur sitzen, Olaf …“, — und der Nachsatz, und die einfache Tatsache, daß auch Mirza Siddar plötzlich die Veranda verläßt, gibt mir neuen Stoff zum Grübeln.
Zerstreut streichele ich Montes Kopf, der auf meinen Knieen ruht. Meine Augen überfliegen den Hafen, den Dampfer, die beiden eigentümlich gekrümmten Halbinseln mit den im Morgenwinde wehenden großen Blättern der Palmen. Noch immer ist halb Masarlan an der Anlegebrücke versammelt, natürlich nur Männer, die Frauen haben zu arbeiten und die Kinder planschen abseits im Wasser. Für sie ist das Treiben bereits ein altes Ereignis.
Für mich?!
Das unbezähmbare Abenteurerblut in mir braust klingender denn je … Es ist nicht die Vorfreude auf den Ritt in die Wüste, es ist da eine andere Ursache: Das bestimmte Gefühl, hier irgendwie in dunkle Zusammenhänge hineingeraten zu sein, deren Kern irgendwo im Verborgenen ruht!
Das ist es …!
Die Welt, die ich liebe und die mir so vieles schenkte, ist das Abseits … — Und Masarlan? Kann es ein stärker ausgeprägtes Abseits geben? Darf ich wirklich auf dieses elende Arabernest schelten?! Hat es nicht seine Schönheiten, seine Urwüchsigkeit, seine wohl alle Maßstäbe für alles umkehrende Weltenferne?!
Der Feuerstrom des Blutes pocht in meinen Ohren zusammen mit dem ewigen Grollen der Brandung da draußen … Das Meer ist so nahe, und drüben ist das andere Meer, das Sandmeer, die unendliche Wüste …
Feuerstrom wird Freude, — — wenn wir nur erst unterwegs wären …! Der Dromedarsattel birgt für mich keine Schrecken … Seekrank, luftkrank werden die Menschen im tanzenden Schiffe, im schlingernden Flugzeug … Auch eine Dromedarstute kann den Magen dem uneingeweihten Reiter umkrempeln …
Da kommt Holger zurück …
Lang, sehnig, braun, — ein ganzer Kerl, — er hat es bewiesen.
„Schindmähren!“, sagt er achselzuckend … „Aber Mirza behauptet, die Tiere würden sich später gut bewähren … — Aufbruch … Bezahlt habe ich schon, Mr. Hobbins Hotel hat Astoria-Preise …“ Er lächelt amüsiert. „Alles Gauner hier …! Also dann — ade Masarlan, Olaf … Beeilen wir uns … Mittags müssen wir der Hitze wegen doch rasten.“
Der infernalische Lärm der Ortsköter lenkt unsere Blicke nach Norden. Zwischen den Lehmhütten taucht eine Reiterin auf, eine einzelne Europäerin, auf einem tadellosen Pferde, in noch tadelloserem Dreß. Für Masarlan eine Fee …
„Donnerwetter!“, flüstert Holger … „Wer ist denn das?!“
Wie hingezaubert steht Hobbin da … Grinst. Tuschelt:
„Die Miß von Lord Melvilles Expedition … Vorgestern brach der Lord von hier auf … Die Miß hat ihr Reisehandbuch hier vergessen. Mich, wundert es, daß sie allein und selbst kommt …“
„Name?“, fragt Holger kurz.
„Horatia Melville, des Lords Schwester …“
Das junge Mädel pariert ihren Rappen vor der Veranda … Ich betrachte sie: Rasse!! Sie nimmt keine Notiz von uns …
„Hobbin!“ Das klingt scharf wie Peitschenknall …
Jim Hobbin rennt …
„Mein Buch ließ ich hier liegen … Her damit!“
Die vier Gurgelabschneider vom Triton machen lange Hälse. Sennor Diego Montez beugt sich allzu weit über die Verandabrüstung …
„Nun, schönste Sennorita, — wie wäre es mit einem gemeinsamen kleinen Drink …?“
Seine Hand will den Kopf des Rappen streicheln …
Eine Reitpeitsche, nein, eine echte Nilpferdpeitsche mit Goldknopf pfeift wie eine Kugel, und Sennor Diegos Handrücken hat für alle Zeiten eine Schmarre …
„Kanaille!!“, brüllt der Portugiese … „Ich werde …“
Unheimlich fix liegt in der Hand der Miß Melville eine langläufige Coldpistole …
Montez stoppt …
Hobbin stürzt mit dem Buch herbei, und die hochmütige Dame wendet und jagt davon.
Zwischenspiel …
Ich sehe jedoch, daß Freund Holger die kleine Szene anders bewertet. Seine Mundwinkel sind herabgezogen …
„Komm!“, sagt er kurz.
Auf dem Hofe des Musterhotels stehen unsere Dromedare. Als ich mir diese mageren Klepper betrachte, dazu die jämmerlichen Wasserschläuche und die elenden Sättel, erhebe ich sofort Protest.
„Holger, das sind ja geradezu …“
„Mache fix, — — keine Zeit“, unterbricht er mich schroff …, zu schroff.
Die Satteltaschen sind bald gepackt, das Zelt wird verteilt, jeder schnürt zwei Zeltbahnen und drei Stöcke hinter den Sattel.
Inzwischen ist ganz Masarlan ringsum erschienen, sogar ein paar Weiber, — dickbäuchige kleine Rangen betteln uns an, Holger wirft Münzen in den Sand, und unter dem Gekreisch der sich Balgenden traben wir davon …
Monte bellt, rennt voraus …
Die Araberköter verkriechen sich. Mit Monte können sie es nicht aufnehmen …
Eine Viertelstunde darauf liegen die letzten Hirsefelder hinter uns, und die pfadlose Wüste empfängt uns mit ihren Sanddünen und steinigen, ausgetrockneten Flußläufen.
Es ist jetzt genau halb sieben Uhr morgens.
Die Umstände sorgen schon dafür, daß ich die Zeit nicht vergesse.
… Wege abseits vom Alltag …
Masarlan — eine Etappe nur …
Aber das hochmütige, schöne Gesicht der Horatia Melville bleibt über allem als tiefster Eindruck. Und dann noch der Mann, der auf den beiden Tonnen den Triton so tollkühn verließ …
Nur eine Etappe …
Um uns her ist nun die sonnenklare, heiße Einsamkeit der Wüste.
Ich merke: Holger lenkt nach rechts ab …
„Suchst du die Fährte der Miß Melville?“, frage ich harmlos …
„Schon möglich …“
Aber die Spur der Reiterin bleibt unsichtbar.
Holger Hilgerström biegt nach Norden ab. Sein kleiner Kompaß wird in den nächsten zwei Stunden sehr oft zu Rate gezogen.
— Zwei Stunden …
Schweigsame Gefährten sind wir. Zwischen uns steht die Wand ungelöster Fragen. Als wir vor kaum einer halben Woche die flinke, schnittige Jacht verließen, die uns von Madagaskars Gestaden bis hin zum Eingang des berüchtigten Hitzekessels der Welt, des Roten Meeres, gebracht hatte, und wir uns dann mit dem Kutter an der Küste gen Nordost entlangschlängelten, war zwischen uns niemals von Masarlan die Rede gewesen. Bis Holger gestern spät abends in den kleinen Hafen einlief und ganz so tat, als geschähe es nur, damit wir beide und Monte wieder einmal Hotelbequemlichkeit kennen lernten.
Was folgte, blieb vorläufig Rätsel. Holger wirft mir den Dromedarstrick um den Hals, der Beduine flieht, der Triton wirft Anker, man munkelt von Meuterei an Bord, dunkle Schachergeschäfte beginnen, Miß Melville erscheint, — — wo ist da Anfang und Ende?!
Keuchend und prustend traben unsere Tiere durch den Sand, durchqueren die steinigen Wadis, Freund Monte sieht sich umsonst nach etwas Jagdbarem um, und die Minuten tröpfeln eintönig, lustlos in das große Becken der Vergangenheit, reihen sich aneinander zu entschwundenen Stunden, und immer noch hat Holger Hilgerström den an ihm ganz ungewohnten geistesabwesenden Blick.
Zuweilen scheint es, als ob er die Entfremdung spürte … als ob er sprechen möchte …
Die tote Wüste macht auch seine Zunge tot, und ich fühle mich einsam hier mit meinem Monte in der grenzenlosen Einsamkeit, Holger ist nur wie ein Schatten, wie etwas Unwirkliches, Fremdes …
Zwei Stunden … — Dann sind die Tiere ausgepumpt, müde … Sie stolpern, und mit etwas harter Stimme mahne ich zu kurzer Rast.
Holger schreckt hoch … In seinem versonnenen Blick liegt Schuldbewußtsein und gleichzeitig auch die Bitte um Nachsicht. Hinter einer zerklüfteten Felswand, die in einem weiten lehmigen Tale wie ein Denkmal für die hier Verstorbenen urwüchsig emporragt, finden wir Schatten, fünf Palmen, einiges Gestrüpp, ein paar Quadratmeter Weidefläche und sogar ein Wasserloch, eine natürliche Zisterne. Was an Gerippen von Mensch und Tier an diesem grünen Fleckchen Erde herumliegt, erinnert nur an eine der vielen stillen Tragödien der unendlichen Sandmassen, deren erstarrte Wellen der nächste Sturm wieder anders formt … Vielleicht haben die Gebeine dort drüben jahrelang bedeckt gelegen, bis es dem Spiel der Naturgewalten in den Sinn kam, sie wieder zu entblößen.
Hilgerström hat sich lang in den Sand geworfen und betrachtet abschätzend die Dromedare, die begierig das recht frische Gras rupfen und noch begieriger das trübe Wasser aus der Zisterne saufen. „Immerhin junge Stuten“, meint er sachkundig. „Bisher nicht viel geritten, sondern an das Göpelwerk eines Schöpfrades gespannt gewesen …“ — Er nimmt eine Zigarre und schneidet umständlich die Spitze ab. „Du wunderst dich, woher ich Kamelverstand habe, Olaf … Wenn ich auch als Globetrotter mit dir nicht konkurrieren kann, — so einige Weltwinkel kenne ich doch, … Palästina, Halbinsel Sinai, Suez-Stadt und -Kanal. Dort bekam ich den nötigen Dromedarblick … Der Perser Mirza hat uns nicht betrogen. Ihm gehören die Tiere … Sie atmen schon ruhiger, man wird sie eben trainieren müssen … — Hm, was ich noch sagen wollte, alter Freund: Die gewissen Geschichten dort in Masarlan darfst du mir nicht nachtragen. Zuweilen wird man selbst von den Ereignissen vollkommen überrascht …“
Er ließ sein Luntenfeuerzeug sprühen, rauchte ein paar Züge und fügte widerwillig hinzu:
„Mir ist es wahrhaftig verhaßt, vor dir Geheimnisse zu haben. Aber — mein Mund ist versiegelt, auch du würdest ein Versprechen unter allen Umständen halten, schätze ich …“
Was ich bisher nie an Holger bemerkt hatte, — hier trat es zum ersten Male deutlich in sein frisches Sportsgesicht: Ein Zug verhaltener Schwermut.
Er blickte starr vor sich hin, als er weitersprach: „Jahre sind es her … Mein Dasein hatte damals noch nicht jene Abwärtskurve erreicht, die mich später in die Gemeinschaft der Außenseiter des Lebens drängte … Unter sehr eigenartigen Umständen begegnete mir damals ein Mädchen, dessen Charakter mir ein Rätsel blieb. Du kennst diesen besonderen Typ, Olaf: Man möchte sie Mannweiber nennen oder Abenteuerinnen großen Formats. Beide Bezeichnungen treffen nicht zu. Ein gewisses Heldentum steckte in diesem Mädel, eine Tollkühnheit, eine Lust an der Gefahr … — Ich brauche kaum zu erwähnen, daß es sich um eine Amerikanerin handelte, sehr reich, ganz unabhängig, erzogen nach den Grundsätzen eines Vaters, der trotz seiner Millionen der einfache Viehzüchter geblieben war. — Wir verloren einander aus den Augen, das brachten die seltsamen Umstände so mit sich … Aber … ich hörte immer wieder von ihr. Briefe erreichten mich, die ich nie beantworten konnte … Für die Welt war Helen tot … Und da du gerade deine Snidersbüchse von den Sandkörnern reinigst: Sie hieß Helen Schneider, ihr Großvater hatte bereits aus „Schneider“ „Shnider“ gemacht, und die Blutmischung zwischen dem Hamburger Auswanderer und den alteingesessenen Rancheros von Neumexiko war der Familie recht gut bekommen. — Zweierlei wußte ich von Helen mit aller Bestimmtheit: Daß ihre Briefe stets von Masarlan zunächst nach Suez befördert wurden durch eine „vertraute Person“, und zweitens, daß der Name oder Ausdruck „Bannistar“ mit ihrem geheimnisvollen Geschick irgend etwas zu tun hatte. Sie hatte in zwei Briefen quer über die Seite geschrieben — über die andere Schrift: Bannistar! — So viel darf ich dir erzählen, Olaf. Merke dir: Bannistar! — Es könnten Umstände eintreten, die den Ausdruck als nützlich oder vorteilhaft erweisen — — vielleicht …“
Er sog fast schmerzlich an seiner bereits wieder erkalteten Zigarre. „Das Leben reißt Menschen, Familien, ganze Völker auseinander … Häufig wird der Riß verschmerzt. Ich bin nie über diese Erinnerungen hinweggekommen … Wir Nordländer sind in vielem so schwerblütig.“
Wieder ließ er das Feuerzeug sprühen.
Rauchte … Hielt den Kopf gesenkt.
„… Nun weißt du, weshalb Masarlan mich lockte … Ich will ehrlich sein, Olaf: Ich habe Helen Shnider geliebt. Es war eine aussichtslose Neigung, denn … wir waren Feinde, bekämpften uns bis zum Äußersten. — Mögen die alten Geschichten begraben bleiben … vorläufig …“ Und er wiederholte lauter und energischer: „Nur vorläufig!! Ich will Klarheit haben …“
Seine letzten Sätze wehten ohne stärkeren Eindruck an meinen Ohren vorüber.
Monte, dieser mißglückte Schäferhund mit den unmöglichen rostbraunen Flecken im zottigen Wolfspelz, war in seinem Jagdeifer den Talrand emporgelaufen und stand nun dort oben wie eine Statue gegen den lichtblauen Himmel, die Vorderbeine etwas vorgestemmt, die Hinterhand leicht zusammengeduckt …
Seine Ohrstummel — das linke Ohr fehlte fast ganz, das andere bestand nur noch aus drei Lappen — spielten andauernd, während die Rute sich immer mehr senkte.
Montes Eigentümlichkeiten kenne ich.
Mit einem Satz war ich auf den Beinen, rannte hinüber, spähte gen Süden, woher wir gekommen … Unsere Fährte lief durch den Sand wie ein verwischter Doppelstrich, und dort, wo diese Spur jenseits einer besonders hellen Sanddüne verschwand, erblickte ich zwölf Dromedarreiter.
Ein Griff nach dem Gürtel, ich stellte das Fernglas ein, Monte knurrte dumpf, ich erkannte die Leute vom Triton, die Meuterer, die fragwürdigen Herrschaften, die schon in Masarlan mein Mißfallen erregt hatten …
Zufall, daß sie hinter uns her waren?!
Niemals!
Im Nu war ich wieder neben Holger.
Sein starker Unterkiefer schob sich vor …
„Ah, — — also haben die Kerle doch rechtzeitig auskneifen können! Der Perser wollte nach Aden telegraphieren …“
„Du hättest besser dein Paket Dollarnoten nicht so offen zeigen sollen … Die Leute sind bewaffnet … Wetten, daß nur dein Geld sie lockt?“
Holger lachte hart. „Keine Vorwürfe, Olaf! Es sind zwölf gegen zwei … Und zwei hat die Bande bereits auf dem Gewissen: Den Kapitän und den ersten Steuermann! Daß die nicht von einer Woge über Bord gespült wurden, weiß ich mit ziemlicher Bestimmtheit. — Zwölf sind zu viel für uns … Unterschätze die Kerle nicht, der Triton konnte nur gute Schützen und wilde Draufgänger gebrauchen, — auch das hängt mit Helen Shnider zusammen … irgendwie. — Also — fort mit uns! Bevor wir eingekreist werden …“
Wir trabten das Tal entlang nach Norden. Wir fanden ein steiniges trockenes Flußbett, das vielleicht ein einziges Mal im Jahr durch Regenfluten eines Gewitters gefüllt wurde, wir hofften, hier die Burschen abzuschütteln, die doch sicherlich keine Fährtenleser waren …
Hofften …
Wir hatten die zwölf und ihre Dromedare wirklich unterschätzt. Sie klebten an uns … Sie ließen sich Zeit, sie wollten unsere Tiere erst völlig auspumpen … —
Arabien hat uns mit Flohstichen begrüßt und meinte es auch weiter schlecht mit uns.
Stunden verrannen …
Die Wüste ist ohne Mitleid … Der Sand, das Gestein, der Fels kennen kein Erbarmen …
Der Tod war hinter uns …
Ganz dicht …
3. Kapitel.
Die Meuterer vom Triton.
… Die grauenvolle Hitze in diesen sandigen, fast kahlen Tälern wurde auch nach Sonnenuntergang durch keinen erfrischenden Lufthauch gemildert. Fast fünf Stunden hatte ich nun die Hälfte der Bande vom Triton auf meiner Spur. Holgers Vorschlag, uns zu trennen und die Kerle so zur Teilung ihrer Streitmacht zu zwingen, hatte wenig Erfolg gehabt. Sie kamen mir doch nicht vor die Büchsenmündung. Sie waren zu schlau und zu vorsichtig.
Abendrot vergoldete die fernen Bergzacken, die wir als Treffpunkt vereinbart hatten.
Ich würde jene Berge nie erreichen. Mein Tier stolperte immer wieder, — die Gegner hatten die besseren Dromedare, das entschied. Die völlig erschöpfte Kreatur, die ich ritt, stöhnte und schnaubte, brach vorn zusammen, ich riß das Tier hoch, und wir drei, Freund Monte mit eingerechnet, rutschten auf einer Sandlawine in ein steiles Tal hinab … Die Talwand drüben, rissiger, rötlicher Lehm, zeigt eine gähnende Öffnung — ein Loch, eine Höhle …
Gleichgültig, was es ist …
Es ist die Rettung …
Kugeln singen und surren, und taumelnd torkelt mein Reittier in den dunklen Schlund hinein, knickt zusammen, — ich fliege zur Seite, bin wieder auf den Beinen, ziehe aus der Mündung der Büchse den Leinwandpfropfen, der den feinen Sand absperren sollte, und — — drüben auf der Talsohle hält Sennor Diego Montez hoch zu Dromedar, hofft vielleicht, ich läge unter der Sandlawine.
Hier ist Wüste, Wildnis. Hier gilt nur ein Gesetz. Hilf dir selbst! — Ich stehe im Finstern dieses Lehmloches … So erschöpft ich sein mag, meines Schusses bin ich noch immer sicher …
Aus der Finsternis fährt der grelle Blitz ins verblassende Abendrot.
Diegos Dromedar schnellt mit allen Vieren hoch, springt dann ins Leere, und Reiter und Tier kollern hinab …
Der Portugiese will wieder auf die Beine …
Hier ist Wildnis …
Nur ein Gesetz …:
„Hände weg von dem Schießprügel! Bringen Sie mir die Wasserschläuche!!“
Er versteht schon …
Von droben hinter den Sandwellen knallt es …
Matrosen als Kunstschützen — — Rarität!! Arme Lehmwände!
„Etwas beschleunigt — — bitte!!“
Wieder spuckt es vom Talrand …
Sennor Diego beginnt zu rennen … Er traut seinen Freunden nicht …
„Hinlegen …!!“
Nachdem Diego verstaut ist, tränke ich den Hund, trinke selbst …
Diegos Augen sind tödlicher Haß. Aber Riemen sind besser … Vorläufig wird er hier ausharren müssen …
Die Dämmerung naht, und Freund Monte bewacht den Eingang. Auf Monte ist mehr Verlaß als auf zwei Posten vor Gewehr.
Wir haben uns gesättigt, die kleine Laterne zischt leise, Karbiddunst verbreitet sich, verweht, und ich schaue mir dieses Loch genauer an.
Höhle? — Nun ja: Loch in der Lehmwand, dreißig Meter lang, zehn breit … Das ist alles.
Immerhin: Ein Hotel für mich! Ich bin zufrieden, war immer genügsam …
Herr Diego wird ganz hinten deponiert, und den freundlichen Rat, keine Dummheiten zu machen, unterstreicht meine Büchse … Er versteht.
Die Dämmerung verdichtet sich, wird Dunkelheit, und das öde Bild da draußen, in dem das tote Dromedar mit den hochgereckten Beinen einziger stummer Zeuge eines kleinen Dramas der Wildnis ist, verliert seine scharfen Konturen und versinkt in das Nichts der Zeit vor Eintritt der Sternenhelle.
Ich liege neben Monte, wir horchen, wir spähen …
Die fünf Helden drüben melden sich nicht mehr.
Todesschweigen …
Nur mein Dromedar kaut seine Datteln, knabbert an einem Stück Zwieback …
Ein Schweigen ist es, als ob die Hölle der Wüste jeden Augenblick ein Unheil gebären müßte. In den Nerven spüre ich es …: Es bereitet sich etwas vor …
Was?!
Daß die fünf Burschen angreifen, ausgeschlossen!
Gegen eine Repetierbüchse mit neun Schuß und zwei Pistolen rennt man nicht Sturm!
Was also?!
Es liegt trotzdem Gewitterschwüle in der Luft …
Der Hund Monte wackelt mit dem linken Ohrstumpf, und die drei Fetzen des anderen Ohres richten sich auf …
Die Sterne blinken nun. — War ich doch eingenickt …?
Hinter mir ein Poltern …
Ich fahre hoch, reiße den Hut von der bisher verdeckten Laterne …
Bin mit zwei Sätzen an der Stelle, wo der Portugiese lag.
Er lag …
Liegt nicht mehr …
Monte knurrt … Ich muß zurück …
Sehe im steinigen Tale Reiter — — fünf, acht … zehn … auf prächtigen hellgrauen Dromedaren, in flatternden hellen Mänteln, Kapuzen.
Jagen vorbei …
Ein Spuk …
Nordwärts verklingen die Hufschläge …
Und die Wüste versinkt wieder in ihre bedrückende Stille. — Was war das?! Beduinen?! Und so eilig?! So eilig, daß nicht einmal das tote Tier ihre Neugier weckte?!
Wieder nehme ich die Laterne, leuchte nun die Höhlendecke ab, die viele breite Risse und Buckel hat. Gerade dort, wo ich Diego verstaut hatte, erblicke ich über mir das ferne Funkeln von Sternen …
Was hier geschah?
Es gibt nur eine Lösung …
Nur eine …
Ein Riemen, ein Mann, der durch den Lehmschacht hinabkletterte, der Diego holte …
Ich sehe ja die abgebröckelten Lehmstückchen, ich sehe Sandhäufchen, die herabgerieselt sind.
…Wo mag Holger stecken?!
Und als ob dieser jäh aufblitzende Gedanke einen Widerhall fände, kommt von oben Holger Hilgerströms kühle Stimme durch den Lehmkamin:
„Olaf, — — du?!“
Mehr nicht …
Holger, der so unendlich weite Beziehungen zur internationalen Finanzwelt und zu sämtlichen Juwelenbesitzern unterhielt und stets eine flinke Hand im gegebenen Augenblick hatte, ist nun ja von diesem breiten Wege endgültig abgeschwenkt und hat sich vieles angeeignet, was nicht Geldeswert aufweist. Die Zeit der dunklen Jahre sei vorüber, schwor er mir zu …
Ich glaube ihm.
„… Hast du Sennor Diego emporgehißt?“, rufe ich zurück.
„Nein, der Henker in diesem schönen Lande heißt anders, Olaf … Ich komme …“
Er kam.
Lang, schlank, elegant stand er vor mir …
Zuckt die Achseln …
„Olaf, diese wundervolle Gegend, die ich zu besuchen vorschlug, hat ihre Dornen …“
Er setzte sich, streichelte Monte, sein Dromedar tut sich nieder …
„… Olaf, meine sechs Verfolger waren mit einem Male futsch … Ich bog wieder nach Osten ein, stieß auf deine Fährte, fand da allerhand Spuren, überquerte das Tal weiter im Süden und fand Sennor Diego, dereinst Obermaschinist vom Triton, mausetot auf … Dort droben neben dem Lehmkamin liegt er … Erhängt … nicht schön anzusehen …“
„Bemerktest du die Beduinen?“
„Nur Fährten …“
Aber die Antwort klang etwas widerwillig.
„… Ich werde essen“, fügte er hinzu. „Reden wir morgen darüber …“
Er war gänzlich erschöpft, obwohl er es zu verbergen trachtete, und er schlief auch sofort ein.
… Er hatte zweifellos geflunkert. Er mußte die Beduinen gesehen haben. Sie waren von Süden her das Tal entlanggaloppiert, und er hatte das Tal im Süden ungefähr zur gleichen Zeit überquert.
Holger Hilgerström und Monte mochten unsere Höhle bewachen. Mich trieb es hinaus. Ein Meuterer war aufgeknüpft worden … Zehn Beduinen jagten wie eine spukhafte Kavalkade vorüber … — Holger hatte gelogen …
Weshalb?!
Ich nahm die Büchse, — ein Befehl an Monte, er blieb, und ich schritt hinaus in die Stille und die jähe Kühle der endlosen arabischen Wüste … Endlos, pfadlos hier in diesem Teil der riesigen Halbinsel.
Mondsichel, Sterne, heller Sand, — — eine fahle Dämmerung, eine zauberhaft unwirkliche Beleuchtung …
Die Einsamkeit schreckte mich nicht …
Die endlose Weite hatte für mich nur Heimatliches, war mir ein teurer Schoß einer lieben Mutter.
Daß all meine Sinne wach, gehörte mit zu dem Selbstverständlichen dieser nächtlichen Wanderung.
Ich stand vor dem toten Dromedar … Der Leib war gedunsen … Die gebrochenen Augen schillerten wie Opale. — Armes Tier, — du starbst schnell …, ein Trost …
Ich sattelte es ab, trug alles in die Lehmhöhle …
Monte, der Hund, wedelte …
Dreimal ging ich hin und her …
Beim dritten Gang schnellte hinter dem Kadaver eine Gestalt hoch …
Ich schaute in das schwarze Löchlein einer Pistole, und der Beduine im braunen Mantel und Kapuze und Gesichtstuch winkte mir herrisch zu, die Büchse fallen zu lassen.
Sie fiel …
Aber sie fiel schlecht …
Ein kleiner Trick …
Der Kolben hieb gegen einen ausgestreckten Arm, und eine Kugel ging ins Leere …
Montes Hilfe war überflüssig …
Der braune Mantelträger lag im Sande, und der Holfterstrick tat gute Dienste …
Als ich das Gesichtstuch wegriß, ertönte hinter mir ein Schrei …
Holger stand da …
Ich schrie nicht … Ich starre in das gebräunte Gesicht einer Europäerin, der eine blonde Haarwelle in die Stirn gefallen ist.
4. Kapitel.
Bekannte von Suez her.
„… Eine Frau …“, sagt Freund Holger etwas dumpf und mißvergnügt.
Dann nahm ich ihr die Stricke wieder ab.
„Entschuldigen Sie, Miß, — aber wir sind keine Wüstenräuber …“
Die Fremde lächelte. „Das glaube ich Ihnen, meine Herren … Es war auch meinerseits ein Versehen …“
Ihr klarer Blick taxierte mich.
Es lag nichts Verletzendes in diesem sorgfältigen Mustern meiner Person, es war mehr weibliche Neugier und noch etwas, — — sagen wir: Teilnahme oder Interesse.
„… Ich hätte niemals abgedrückt“, erklärte sie mit ihrer beherrschten, angenehmen Stimme.
Sie bückte sich, schob die Waffe wieder in das Lederfutteral und neigte leicht den Kopf.
„Sie gestatten, daß ich mich entferne … Ich habe bis zu unserem Lager gut eine Meile zu wandern … Ich gehöre zu Lord Melvilles Expedition … Unser Lager liegt drüben …“ Sie deutete nach Westen. „Auf Wiedersehen, meine Herren …“
Und ehe ich noch Einspruch erheben konnte, war sie schon die Talwand emporgestiegen.
Als ich emporblickte, zeichneten sich dort drei Striche gegen den mattblauen Nachthimmel ab, und da die Striche bestimmt sehr ernste Dinge sehr schnell in die Ferne senden konnten, meinte auch Holger gleichgültig:
„… Ihre Leibwache, — — gehen wir schlafen, Olaf … Weshalb mußt du dich auch in dieser üblen Gegend herumdrücken?! Die Nacht ist keines Menschen Freund, — hier stimmt der Spruch, im übrigen ist er Unsinn.“
Freund Holger, deine Redensarten sind allzu verräterisch …, — ich sprach es nicht aus, ich dachte es mir.
Und eine halbe Stunde später, als er wieder kräftig schnarchte, erhob ich mich sehr leise und schlich abermals davon.
Lord Melvilles Expedition?!
… Gewiß, der dicke schwammige Perser in dem Hafennest hatte davon gesprochen …
Aber daß die Miß nicht zu Melville gehörte, war mir so selbstverständlich wie meine jetzt dreifache Vorsicht.
Ich erklomm den Südwesthang und hatte nun von einer Sandkuppe die Wüste meilenweit, endlos in endlosem Umkreis vor mir. Ich stellte mein Fernglas ein …
Die Wüste war leer …
Aber Spuren redeten, und Spuren im Sande sind Zeichen von Mensch und Tier und haben ihre besondere Sprache.
Sie unterhielten sich mit mir und gaben mir Antwort. Ich las sie wie ein Buch, in dem als Titelblatt ganz groß gedruckt ist:
Wie war es?
… Es war so: Meine Verfolger, nur noch fünf, hatten sich vor zehn Leuten, Berittenen, eilends davon machen wollen. Man hatte sie eingekreist, entwaffnet, auf ihre Tiere gebunden, und der ganze Trupp war nach Südwest davongeritten.
Ich las weiter …
Ich las: Fünf andere Reiter waren erschienen, und das konnten nur die Miß und ihre Leibwache gewesen sein.
… Waren nun wieder auf und davon.
Diese Seite des Buches schlug ich um, — ich überquerte die Schlucht, fand drüben an der schroffen Lehmwand hoch oben Steine, Geröll und den Einschlupf in den natürlichen Schacht. — Diegos Leiche war nicht mehr da …
Ich las: Man hatte den Toten geholt, und — die nächste Seite des Buches war unbedruckt, leer.
Ich kehrte um.
Die feierliche Stille des Sandmeeres erschien mir erfüllt von hundert leise klingenden Fragen.
Ich war überzeugt, daß Holger diese Frau und die Beduinen kannte … Ich hatte es nicht vergessen, daß Holger vorschlug, gerade das elende Nest Masarlan mit unserem Kutter anzulaufen und daß er in Masarlan stundenlang verschwunden blieb, wobei er doch nur insgeheim sich mit irgend welchen Leuten ins Einvernehmen gesetzt haben konnte.
Holger Hilgerström hätte nun mit mir nie ein Doppelspiel gewagt, das etwa irgendwie anrüchig wäre. Nein, mochte er auch einst zu den Außenseitern des Gesetzes gezählt haben, — jetzt war er gründlich geheilt. Wir hatten Dinge erlebt, die an die Seele packten, die das Herz und das Hirn durcheinanderrüttelten und das Gute wieder an die Oberfläche gelangen ließen.
Wenn er vor mir noch immer etwas verschwieg, mußte er schweigen. Es würde ihm schwer genug werden.
Bereits aus der Ferne erblickte ich in der Höhle den schwachen Schein eines Feuers aus getrocknetem Kameldünger und Salzpflanzen, jenen bescheidenen Gewächsen, die genau wie die meisten Kakteenarten ihre Nahrung und ihre lebensnotwendige Feuchtigkeit aus der Luft ziehen.
An dem qualmenden Feuer saß Freund Holger und kochte Kaffee — vorzüglichen Kaffee, in dem Hafennest eingekauft und besser als Tee, der den Reisenden niemals derart erquickt und aufmuntert.
Holger hatte blaue, große Nordlandsaugen von einer Reinheit des Ausdrucks wie ein gut gehütetes, geliebtes Kind. Diese Augen fragten mich stumm, und ich setzte mich zu ihm und zu Freund Monte und sprach von dem Buche, in dem ich gelesen hatte.
Ich behielt nichts für mich, und meine Sätze waren frei von Vorwürfen gegen ihn und seine Verschlossenheit.
Er hatte nur zuweilen den sandblonden, schmalen Kopf tiefer gesenkt und sich eingehender mit Kessel und Kaffeenapf beschäftigt.
Dann sprach er …
Die Leute in der Wildnis reden — mit halber Stimme. Jedes laute Wort ist Entweihung.
„Würde ich auch nur Ja oder Nein antworten, bräche ich eine feierliche Zusage. Das wirst du von mir nicht verlangen. Du überschaust die Vorgänge in Masarlan, und vieles, gebe ich zu, hast du doch übersehen. Nimm an, daß in Masarlan noch nicht genügend Leute anwesend waren, die Schufterei der Besatzung zu verhindern. Wir brachen morgens um sechs von dort auf; zwei Stunden später spürten wir die Verfolger, denen es nicht nur um mein Geld zu tun war, — — das ist es!“
Er rührte mit einem Ast in den Flämmchen und hob den Deckel vom Kochtopf.
„… Du wirst vielleicht Dinge sehen, die noch kein Mensch sah, kein Außenstehender … Auch ich nicht. Obwohl ich … halb und halb eingeweiht bin. Es mag dir dies vorläufig genügen. Jedenfalls werden wir nun an unsere Aufgabe herangehen und Lord Melvilles Lager beschleichen. Melville will dorthin, wohin niemand darf. Und wir haben die Pflicht, ihn an diesem Vorhaben zu hindern. Das Land der Tränen ist verbotenes Land.“
Es waren nicht eben viel der Worte zwischen uns gewechselt worden. Sie waren schwer, diese Worte.
Und schwer und widerwillig formte Holgers Zunge auch diese Andeutungen.
So, wie er da auf seinem Sattel vor mir saß, hager, muskelstrotzend, tief gebräunt, war er ein Mensch von bestechendem Äußeren.
So, wie er sprach, war er Mann.
Und das war mehr.
Kein Wort zu viel. Als Schlußpunkt nur ein flüchtiger Blick über mein Gesicht.
Ich reichte ihm die Hand.
Wir tranken, aßen, die Tiere erhielten, was ihnen zukam, um uns her war das große Schweigen und der fade Geruch des Feuers.
Es war eine jener Nächte fern der großen Welt, die die Seelen öffnet …
Holger erzählte … — Was ich nie gewußt: Er hatte als Däne auf Seiten der Entente an dem großen Völkerschlachten teilgenommen, das da von unheimlichen Dunkelmännern jahrelang vorbereitet gewesen … In Serajewo war durch das Attentat ein Teil des Planes der Unruhestifter geglückt.[1]
Er erzählte von den Kämpfen um den Suezkanal, bei denen er mehr Kugeln hatte pfeifen hören, als es für gesunde Ohren zuträglich … Er sprach voller Achtung von dem deutschen Gegner.
Und verstummte ebenso jäh …
„Aufbruch, Olaf …!“
So jäh, als hätte er bereits zu viel gesagt.
Wir ritten durch die sonnenklare Dämmerung gen Südwest, erreichten einen kahlen spitzen, felsigen Höhenzug und sahen von einer Bergspitze links vor uns in einem Tale acht Pünktchen: Lagerfeuer!
Wieder eine Stunde darauf krochen wir wie beutegierige Katzen durch Felsen und Steine und zählten dann den Feind.
Ein ganzer Heerestroß …
Gegen wen?!
In dem Bergtale hier standen Palmen und Drachenbäume, — man hatte einige gefällt, die Feuer loderten hell, und gegen drei Uhr morgens wechselten die Wachen, und Lord Melville machte die Runde.
Da sah ich ihn zum ersten Male, — Horatias Bruder.
Und da spürte ich: Das war ein Kerl aus Eisen, einer jener Engländer, die lächelnd die Welt eroberten und lächelnd ihr Blut hingaben für des Inselreiches gewaltige Größe, die vielleicht einmal wankt, nie stürzt, denn diese Größe hat als Fundament den fast überzüchteten englischen Nationalstolz.
Fast überzüchteten …
Melville, nur eine Nilpferdpeitsche in der Hand, im Auge das randlose Monokel, ging federnd und doch straff von Posten zu Posten. Sein Tropenhelm, sein weißer Anzug waren aufreizend sauber und neu.
Kein Geck …
England verpflichtet seine Machtvertreter zu Äußerlichkeiten.
Holger Hilgerström flüsterte neben mir:
„Wahrhaftig, — der berüchtigte Oberst Percy Melville!!“
Melville?!
Hallo, — da stand er still …
Starrte seitwärts …
Duckte sich halb zusammen …: Ein Tiger, der sich sprungbereit hält …
Selten sah ich so viel verhaltene Kraft in solcher Körperstellung …
Er richtete sich wieder auf, trat ein paar Schritte vor und machte dann wieder kehrt und verschwand in seinem Zelt.
Wir hatten Monte bei den Dromedaren drüben in einer Schlucht gelassen. Auch wir wollten zurück … Wir kannten nun den Feind …
Ich erhob mich, — — Holger überraschte die Bande noch am Boden, — vier packten mich, eine Eisenfaust schnürte mir die Gurgel zu, meine Hände und Füße lagen in Schraubstöcken …
Eine Stimme zischte geifernd:
„Keinen Laut!!“
… Ein kaltes Etwas berührte mein Genick.
Sekunden wehrte ich mich nicht …
Wartete, sammelte Kräfte …
Auch Schraubstöcke zerspringen, auch ein kaltes Etwas kann nur ein Stück Stein sein: Bluff!
Und dann ein Ruck nach vorn, — — ebenso blitzschnell eine Wendung, — die linke Hand war frei, fegte als Faust in zwei bärtige Visagen, und der rechte Fuß bereitete einem fremden Bauch Übelkeit …
Wie ein Pfeil schoß ich davon, bückte mich, — — zwei Steine flogen … zwei dumpfe Aufschläge …
Ich rutschte einen Abhang hinab … Hörte nichts mehr … Hatte nur die elf Gentlemen vom Triton erkannt …
Elf …!
Zu viel …!
Wenn Melvilles Lager nicht so nahe gewesen, hätte die Zahl elf wenig ausgemacht. So aber zwischen zwei Feuern, — nein, da war Rückzug doch besser, und spätere Abrechnung blieb vorbehalten.
Wie die Kerle hier wieder hatten auftauchen können, bedurfte keiner großen Lösung: Die Beduinen hatten die Strolche wieder laufen lassen — ohne Waffen … Und ein Zufall hatte die Kerle zum versteckten Lagerplatz Melvilles geführt.
So war es.
Und jetzt?! — Zunächst hinüber zu den Tieren. — Eine Kletterpartie von einer Stunde fast, da ich jeden Schritt vorher erkunden mußte.
In einem kleinen Tale standen unsere Dromedare, zwischen ihnen hockte Monte und wedelte.
„… Freund Monte“, sagte ich wenig begeistert, „die Dinge beginnen miserabel … Wir haben fortgesetzt Pech … Und wehe dir, wenn du nicht Holgers Fährte ausarbeitest, damit die Herren vom Triton einige Denkzettel erhalten … Komme jetzt mit, alter Freund, der du einmal in einem hohlen Baum beinahe ertrankst … Ich wünschte, wir hätten hier nur die Hälfte von all dem Wasser wie damals …, du weißt schon? Madagaskar — — und Angeline …!“
Bei „Angeline“ fahren seine drei Ohrfetzen hoch … Er hat Angeline geliebt, — mich liebt er mehr …
Mann zu Mann!, — sagte er … oder dachte er … — Vielleicht hat Monte Junggesellenneigungen.
Eins hat er bestimmt: Eine brillante Nase!
Wir wandern durch den pfadlosen Dschebel, durch dieses Miniaturgebirge, das nichts als Fels ist … Die wenigen Palmen und Sträucher und Gräser scheinen Zauberkräfte zu besitzen, sich hier zu ernähren. —
Wir finden die Fährte, und als die Sonne über den Sanddünen aufsteigt, sind wir weit gen Süden: Ein Mann, ein Hund, zwei Dromedare, die in Masarlan bereits schlachtreif schienen und nun erstaunlich aufleben.
… Die Hitze kommt … .Die Sonne steht kaum handbreit über den Kuppen im Osten, als auch bereits die nächtliche Kühle ängstlich entweicht.
Ich kenne diese Hitze nun zwei Tage. Ich liebe sie nicht. Sie hat etwas unsagbar Grausames an sich in diesem Lande ohne Schatten …
An den Salzsträuchern hängen Tautröpfchen.
Blitzen, funkeln …
Nur Tröpfchen …
Land ohne Schatten, ohne Wasser, — — ein Land der kleinen, bescheidenen Tränen, die die beglückende Nacht zurückläßt. — —
Hinter einem lehmigen Abhang stehen die Dromedare, unterhalb dieses sich vorwölbenden Lehmbalkons in einem schmalen, steinigen Wadi sitzen die Herren vom Triton, — nicht elf, — nein zwölf. Der Teufel hat den Sennor Diego noch nicht für reif befunden.
Alle Farbentöne des Erdenrunds haben sich da um den gefesselten Holger versammelt.
Abseits ruhen zwölf Dromedare …
Alle Farbentöne, alle Niedertracht …
Weiße, Neger, Chinesen, Riffkabylen, Mischlinge …
Ein feiner Chor …!
Herr Diego führt das große Wort …
Er spricht rauh … Um seinen Hals läuft ein blauroter Streifen.
Sehr rauh und heiser …
„… Wenn Sie nichts verraten wollen, — — he, Sam, — her mit dem Zeug!!“
Das „Zeug“ ist … eine kleine Rolle Filmstreifen … Zelluloid. — Der Himmel mag wissen, weshalb die Kerle den Filmstreifen mit sich schleppen …
Diego nimmt Holger den Hut ab und schneidet ein meterlanges Stück von dem Streifen, wickelt es Holger um die Stirn.
„Mr. Hilgerström … — bitte!!“
Er reibt ein Zündholz an …
„Ich weiß nichts …“, sagt Holger verächtlich. „Fragt doch den Käpten und den ersten Steuermann, die ihr ertränkt habt …“
Diego bringt das Zündholz nahe an den Zelluloidstreifen.
„Laß das!!“, ruft ein kleiner Chinese, der vielleicht Schiffskoch war.
Und blitzartig fährt sein Arm hoch …
Diego brüllt …
„Die Pest hole dich, du Waschlappen!“
Der dürre, kleine Chinese lächelt unmerklich. Aber seine Hand ruht auf einem faustgroßen Stein, und der Portugiese spuckt grimmig aus und greift in den Gurt, wo Holgers Pistole baumelt.
Der Chinese ist jung.
Sehr sauber gekleidet, — die anderen Halunken sehen bereits wie Strolche aus.
Er lächelt sphinxhaft …
Als Diegos Hand die Pistolentasche berührt, hat der Sohn des Himmlischen Reiches bereits mit genau derselben unbegreiflichen Schnelligkeit den Stein geschleudert, und Diego, mitten vor die Stirn getroffen, fällt zur Seite und liegt still.
In den schmalbrüstigen gelben Burschen kommt Leben …
Diegos Pistole hält er im Anschlag …
Springt zurück, reißt Holgers Büchse mit …
„Bleibt sitzen!“, warnt er.
Sein Fuß angelt nach dem Büchsenlauf, und plötzlich hängt die Repetiersniders ihm im Arm.
„Bleibt sitzen …! Auf dem Triton zwangt ihr mich zum Mithalten, als der Käpten Olfers und der Steuermann Gordner bereits tot waren … In Masarlan mußte ich schweigen … Jetzt ist es genug!“
Der junge Bursche in seinem derben Leinenanzug mit dem riesigen Basthut lächelt nicht mehr.
Ich sehe sein Profil, die dünnen Lippen, eine sehr kräftige Kinnpartie …
Und … über der Wange Striemen …
Von Schlägen …
Da vor ihm hocken die zehn …
Zehn!! Der Neger Sam allein könnte dem Jungen das Genick umdrehen. Aber der Junge hat etwas im Blick, das unbedingt warnt.
„… Sam, schneide Mr. Hilgerström los!! Du hast sein Messer …!“
Die helle Stimme des einstigen Schiffskochs des Dampfers Triton klingt etwas schrill …
Die Pistole schwenkt zur Seite, fliegt in die linke Hand, und die Büchse hebt sich …
„Gehorche!!“
Das Stimmchen ist sanft geworden …
„… Gehorche …! Du und Diego, ihr schlugt den Käpten und den Steuermann nieder und stecktet sie in Säcke zusammen mit alten Ketten … — Gehorche, Sam …!“
Die Milde der Stimme macht frösteln.
Der riesige Neger schiebt die Wulstlippen vor wie zwei reife Pflaumen und reißt die Augen auf.
„Gehorche!“, — — und …
… Das übrige ist wie Blitz aus heiterem Himmel …
Sam hat das Messer gezogen, hat sich vorwärtsgeschnellt …
Ein Schuß …
Diego hat am Boden Gesellschaft.
Der schmalbrüstige Bursche sagt etwas lauter:
„Ali, schneide Mr. Hilgerström los … Tue es, Ali …“ — Er bittet fast …
Ein Farbiger holt das Messer, gehorcht, und Hilgerström reibt sich die Handgelenke.
„Das hast du gut gemacht, Kwang Scho … Sehr gut …“
Der Chinese Kwang Scho erwidert höflich: „Kapitän Olfers war ein Kapitän mit Herz, Mr. Hilgerström … Bitte, nehmen Sie auch Ihre zweite Pistole an sich … — — So, und nun verschwindet …! Diego bleibt … Sam werde ich verscharren. Wer etwa umkehrt, wird ausgelöscht … Reitet nach Masarlan … Die Polizei wird euch entgegenkommen … Ihr werdet es gut haben, ganz nach Verdienst … In Masarlan wurden unlängst fünf Strandpiraten aufgeknüpft. Die Galgen stehen noch am Hafen … Grüßt sie von mir …“
Er hebt die Büchse …
Und ruft schrill und scharf:
„Mr. Olaf, — bitte, Sie sind willkommen …“
Olaf?!
… Ein putziges Kerlchen, dieser Kwang Scho.
Holger grinst zu mir empor …
„Olaf, — — bitte … Herr Kwang Scho lädt ein … Vielleicht hättest du mehr als eine Patrone gebraucht, um diese Sache zu ordnen …“
„Gar keine!“, sage ich … —
Als die zehn davontraben, frage ich den so überaus tüchtigen Kwang:
„Woher wußtest du, daß ich droben lag?“
„Oh Herr, du warst nicht zu sehen, aber die Sonne steht noch tief, und du hattest sie hinter dir, Herr … Dein Büchsenlauf warf einen Schatten. Das sah ich …“
Kwang Scho verneigte sich und schleppte dann den toten Sam in eine Mulde des Tales und warf Steine über den Körper und scharrte Kiesel darüber.
Holger schaute mich seltsam an …
„Eine Nummer für sich, der gelbe Jüngling.“
Ich korrigierte ernst. „Kwang dürfte dreißig Jahre alt sein … Diese Südchinesen sehen alle verblüffend jugendlich aus.“
„Dann werde ich „Sie“ zu ihm sagen“, nickte Holger gleichmütig … „Ich hielt ihn für siebzehn oder achtzehn … — — Hallo, Kwang, wie alt sind Sie?“
„Einunddreißig, Mr. Hilgerström … Mit dreiundzwanzig wurde ich in Suez standrechtlich erschossen … Das heißt …“ — er kam näher — „ich sollte erschossen werden, weil ich angeblich für die Türken und Deutschen spioniert hatte …“
Holger trat einen Schritt zurück …
„… Das … das waren Sie damals, Kwang?“
„Das war ich … Aber über diese Dinge ist Gras gewachsen … Ich habe vergessen, daß Sie damals jener Offizier waren …, Sie wissen ja … Ein Flugzeug kam, ein Maschinengewehr knatterte, und in dem Flugzeug trug mich Kapitän Olfers gen Nordost … Reden wir nichts mehr darüber … Nun kennen Sie den Grund, weshalb ich Diego auf sein Dromedar binden und das Tier in die Wüste jagen werde … Die Gerechtigkeit ist nicht gerecht, — ich bin es … Jedem das Seine.“
5. Kapitel.
Oberst Percy Melville.
… Ganz so schlimm wurde es nun doch nicht. Sennor Diego, der eine faustgroße Beule vor der Stirn hatte, war kaum erst wieder erwacht, als ein Dromedarreiter das Tal entlangjagte und sein Tier dicht vor uns parierte.
Aus dem kalten verschlossenen Gesicht des Obersten Percy Melville konnte man beim besten Willen keinerlei Seelenregung herauslesen. Melville trug nun wieder die Nilpferdpeitsche, das Monokel, den Tropenhelm und im Rockaufschlag das Bändchen des Viktoriakreuzes.
Graue, glanzlose Augen musterten uns …
Seine Peitsche wippte …
Dann kurz und hart:
„Was treiben Sie hier?“
… In einem Tone, als ob er Landstreicher vor sich hätte.
Die Sonne war derweil höher gestiegen, und die eine Seite des Tales lag in blendender Lichtflut …
Melville gefiel mir. Ich liebe diese Eisennaturen, die vor nichts zurückschrecken und immer Gentleman bleiben.
Sein Blick kreuzte den meinen, glitt wieder zu Holger hinüber, und etwas wie ein Lächeln zuckte um Mylords schmale Lippen.
„Täusche ich mich?“, fragte er etwas höflicher. „Sind Sie nicht Graf Hilgerström? Waren wir nicht vor Suez zusammen in den Schützengräben?“
„Allerdings, Melville … Sie als Major, ich als Leutnant … — Sehr lange her … Inzwischen haben die Zeitungen über mich üble Dinge zusammengepantscht …“
Melville nickte schwach. „Ich gebe nichts auf Pressegewäsch … Vor Suez waren Sie ein ganzer Kerl, Hilgerström … Fast zu hitzig und tollkühn. — Bitte, machen Sie mich mit Ihrem Freunde bekannt …“
„Mr. Benson, ein Amerikaner, Oberst … Und dies hier Mr. Kwang Scho, auch ein Ehrenmann …“ Er betonte das. Er wollte von vornherein Melvilles Rassenstolz geziemend eindämmen. „Der da …“ — er wies auf Diego — „ist ein Lump, ein Meuterer vom Dampfer Triton, nebenbei auch Mörder … Und das da, Oberst, das ist Mister Monte Christo, ein Namensvetter des seligen Grafen mit den vielen Millionen, — ohne Millionen, aber mit einer Nase, die Ihrer Hakennase unbedingt an Geruchsschärfe überlegen ist. Monte findet aus jeder Volksversammlung mit Sicherheit die Oppositionsleute heraus, selbst wenn sie nicht mit Bierseideln schmeißen, — — eine Leistung …!“
Melville lachte herzlich. „Sie sind noch immer dasselbe verrückte Huhn wie damals, Hilgerström! Wissen Sie noch, — Sie sollten einen chinesischen Bengel füsilieren lassen, der für die Deutschen spioniert hatte … Und aus dem Füsilieren wurde ein verkehrter Spaß — das Flugzeug knallte auch Ihnen zwei blaue Bohnen in den edlen Kadaver, und der gelbe Jüngling flog als Engel davon …“
„Und steht hier vor Ihnen, Mylord …“, sagte Kwang mit gewissem Stolz. — Oder war es leichte Ironie?!
„Ich bin Kwang Scho, damals Diener bei der Frau Generalkonsul Gordner, die man in Suez interniert hatte … Ich glaube, Mylord, Sie haben mich erkannt … Sie waren berühmt für Ihr Personengedächtnis, und Sie selbst leisteten als Geheimagent mindestens so viel wie ich …“
Über Melvilles braunes, kantiges Antlitz flog ein Schatten.
„Möglich, daß ich dich erkannt habe … Bist du jetzt Hilgerströms Diener?“
Kwang Scho hob den Kopf und blickte starr in die Luft.
„… Möglich, daß ich ein Diener des Guten bin … Möglich ist alles … Hier und anderswo lehrt uns Chinesen die Höflichkeit, niemand mit „Du“ anzureden, es sei denn einen meines Volkes. Ich bin kein Diener, Lord Melville … Bitte, beachte das … Vielleicht bin ich mehr als ein Lord. Die Zeiten haben sich geändert.“
Der englische Oberst mochte zum ersten Male in seinem Leben einem Farbigen, einem Asiaten begegnet sein, der ihn in diesem Tone abzufertigen wagte.
Ich rechnete mit einigen Peitschenhieben, vielleicht mit noch Schlimmerem. Es berührte mich höchst seltsam, daß nichts von alledem geschah. Nur Melvilles Augenlider flatterten etwas, als ob er in zu grelles Licht schaute.
„Entschuldigen Sie, Kwang Scho“, sagte er eigentümlich leise. „Ich werde mich bessern … Sie haben sich hoffentlich schon gebessert … Spione sind nirgends beliebt …“
Kwang Scho erwiderte kühl: „Ich verzeihe Ihnen, Mylord … — Ich bin nie Spion gewesen. Damals vor Suez waren die Standgerichte mit den Todesurteilen sehr voreilig. Meine Schleichgänge nach den deutsch-türkischen Linien unternahm ich im Auftrag einer Freundin meiner internierten Herrin … Auch mit Miß Helen Shnider sind Sie ziemlich hart umgesprungen … Nun, sie ist tot … Über all diese Dinge und Gräber ist Gras gewachsen, hohes Gras, in dem sich vieles verbergen kann …“
Wieder erschien in seinen Zügen das sphinxhafte Lächeln, wieder flatterten Melvilles Augenlider, und Holger hüstelte mehrfach …
Helen Shnider …!
Nun war die Frage gelöst. Nun kannte ich die Zusammenhänge. Helen hatte in Suez geweilt, bei einer Frau Gordner, und deren Sohn mußte der Steuermann Gordner sein, der jetzt auf dem Triton irgendwie den Tod gefunden hatte.
Der Oberst Percy Melville beobachtete des Chinesen Mienenspiel mit einem schlecht verhehlten Interesse. Als Kwang Scho erwähnte, die junge Amerikanerin sei tot, hatte sein auf nervöse Ursache zurückzuführendes Lidflattern aufgehört und seine glanzlosen grauen Augen streiften blitzschnell Holger Hilgerströms Gesicht, zogen sich zusammen und wanderten weiter zu Diego Montez hinüber, der gefesselt im Sande hockte und mit seiner Stirnbeule und den angstverzerrten Zügen keinen sehr erbaulichen Helden darstellte.
Melvilles Peitsche begann zu wippen …
Dieses spielerische Treiben verstärkte sich, bis aus den harmlosen kleinen Lufthieben pfeifende Schläge wurden.
In demselben Maße veränderte sich der Ausdruck seines Gesichts. Drei scharfe Falten um den Mund, — die Lippen schienen dünner zu werden, und die grauen Augen öffneten sich und starrten den Portugiesen durchdringend an.
In krassem Gegensatz hierzu stand Melvilles gedämpfter Ton, als er Montez fragte:
„Sie sollen gemordet haben? — Sprechen Sie! Ich bin mit Vollmachten genügend versehen, auch hier den Richter zu spielen.“
Diego, nur von dem Wunsche getrieben, nicht nur sein Leben zu retten, sondern sich auch dem Obersten irgendwie zu verpflichten, begann sofort mit der überstürzten Zungenfertigkeit aller Feiglinge:
„Mylord, ich habe Ihnen ein großes Geheimnis mitzuteilen … Von Mord kann keine Rede sein … Als der Vordermast knickte, wurden Kapitän Olfers und der erste Steuermann erschlagen.“
„… Mit einem Schraubenschlüssel …“, fiel Kwang gelassen ein … „Er lügt … Mag er weiter lügen … Erzähle dein großes Geheimnis, damit wir etwas zum Lachen haben.“
Diego war bereits genügend in Fahrt, unaufhaltsam strömten ihm die stolpernden Worte über die eiligen Lippen, nur damit Kwang Scho nicht nochmals den guten Eindruck verwischte, den er um jeden Preis bei Melville hervorrufen wollte.
„… Mylord, der Dampfer Triton, hörte ich damals zufällig aus Steuermann Gordners Munde, ist bereits seit Jahren an der Küste von Hadramaut, also Südarabien, wiederholt heimlich gelandet und brachte regelmäßig eine Fracht mit, die nach bestimmten Listen in England, Frankreich oder Deutschland zusammengestellt wurde und die für ein im entlegendsten Teile der Wüste inmitten eines Gebirgszuges hausendes neues Volk bestimmt war.“
„Du hast gut gehorcht — weiter!“, sagte Melville von seinem Dromedar herab, in gleichgültig kaltem Tone.
„… Mylord, dieses neue Volk soll sich zusammensetzen aus ehemaligen Deutschen, Türken und Bulgaren, die in Palästina gekämpft hatten und die vor den aufgewiegelten Beduinenstämmen in die Wüste flüchten mußten. Sie entgingen ihren Verfolgern und siedelten sich in den Bergen an, — wo, das weiß ich nicht. Ich hörte aber aus Kapitän Olfers Munde, daß diese Flüchtlinge, die Bannistari genannt werden, niemanden in ihr Land hineinlassen, das sie „Land der Tränen“ nennen.“
„Märchen!“, sagte Melville achselzuckend … „Und wie war das mit dem Triton? Ihr landetet diesmal doch in Masarlan …“
Der Oberst hätte sich diese kläglichen Versuche, etwas als Phantasieprodukt hinzustellen, daß er selbst mit seinem Heerestroß vielleicht zu erobern gedacht, getrost schenken können.
Der Portugiese hatte das Stichwort vom Triton mit einigem Mißvergnügen vernommen und redete nun äußerst phrasenreich um die Sache herum …
„… Daß der zweite Steuermann Basserre Mitbesitzer von Schiff und Ladung sei, war nur ein Bluff den Hafenbehörden gegenüber. Aber es stand so in den Schiffspapieren, und es stand weiter dort, daß im Falle des Todes des Kapitäns der zweite Steuermann den Anteil erben sollte. Mithin hatte Basserre ein Recht, Schiff und Fracht an den Perser in Masarlan zu veräußern, er geriet jedoch an einen Betrüger, und Mirza Siddar wollte uns der Polizei übergeben und hatte nur mit einem Scheck auf die Bank in Aden bezahlt …“
Als er Melvilles verächtliches Lächeln bemerkte, rief er in heller Todesangst, — er fühlte wohl, wie schlecht seine Sache stünde:
„Mylord, — — ich weiß noch etwas, das ich jedoch nur Ihnen unter vier Augen mitteilen werde. Es ist vielleicht sehr wichtig, Mylord, sehr … Es betrifft Miß Helen Shnider, die damals in Suez erst ein ganz junges Mädchen war … Hören Sie mich bitte an, Mylord … Sie werden es nicht bereuen …“
Kwang Scho, der mit gesenktem Kopf dabei gestanden hatte, schaute jetzt den Jämmerling Diego eigentümlich an.
„Oh Diego, du Mann mit der gespaltenen Schlangenzunge“, meinte er so mild wie das Säuseln des Windes über uns an den Talrändern, „auch ich besitze Vollmachten … Ich war Koch auf dem Triton — nur Koch … Aber du erinnerst dich wohl, daß ich Kapitän Olfers Vertrauter war. Der Kapitän rettete mir einst das Leben, und wir Chinesen, obwohl stets verleumdet, sind dankbar … Ihr tötetet die beiden, ich konnte nichts dagegen tun, ihr stecktet sie in Säcke und warft sie über Bord. Du bist ein großer Schurke, Diego Montez, und die Sonne dort am Himmel schämt sich deiner. Du wirst nichts über Miß Helen verraten können, — ich bin Richter und Henker zugleich … — — Stirb!!“
Melville schnellte sich aus dem Sattel …
Der Schuß knallte bereits … Und die noch leicht dunstende Pistolenmündung schwenkte herum …
„Mylord, wer hier in der Wüste als erster die Waffe in der Hand hat, ist der Stärkere … — Reiten Sie zurück zu Ihrem Lagerplatz und führen Sie Ihre Leute wieder nach Masarlan … Ihre Regierung mag ein Interesse daran haben, allerlei dunklen Gerüchten auf den Grund zu kommen, — ich habe ein Interesse daran, Sie vor Schaden zu bewahren … — Ich warne Sie … Denken Sie an Suez …! Ihre Stimme gab den Ausschlag … Mein Leben war verwirkt, und den Grafen Hilgerström betrauten Sie mit der Exekution, obwohl dieser gegen die Todesstrafe gestimmt hatte … — Ziehen Sie hin in Frieden und stören Sie den Frieden anderer nicht. Ihr Ehrgeiz wird ein anderes Betätigungsfeld finden …“
Zwischen Kwang Scho und Melville lag die Gestalt des gefällten Portugiesen als nachdrücklichste Mahnung.
Diese jähe Urteilsvollstreckung hatte keiner von uns verhindern können. Ich am allerwenigsten … Meine Augen waren schon vorher über die Talränder mißtrauisch hinweggeglitten, ich hatte nie daran geglaubt, daß der Oberst so ganz ohne Begleitung sich hier eingefunden haben sollte.
Ich erspähte nicht viel …
Es genügte …
Melville hatte sein Spiel von vornherein so eingerichtet, daß er es gewinnen mußte, und sein unmerkliches Lächeln jetzt war nur Einleitung dessen, was sich ereignen mußte.
In solchen Augenblicken jagen die Gedanken wie leichtfüßige Gazellen. Von Sekunden, von einem raschen Entschluß hängt alles ab.
Unsere Tiere standen zwanzig Meter seitwärts — zu weit.
Das einzig erreichbare Dromedar war das Melvilles.
Über den Sandkuppen ringsum waren hin und wieder lichtbraune Beduinenkapuzen sichtbar geworden: Eingekreist also!
Wollte ich helfen — — später helfen, mußte ich mir die eigene Freiheit sichern.
Melville lächelte … schob den Tropenhelm mehr in den Nacken …
Ich war halblinks von ihm … Ich berechnete die Sprünge, ich hatte die Büchse in der Hand, Melvilles Dromedar war ein vorzügliches Tier, trug prall gefüllte Wasserschläuche …
Der erste Sprung galt dem Oberst, — sein Korkhelm flog ihm über die Augen, — der zweite Sprung in den Sattel, und dann ein Hieb mit dem Kolben in die Weiche des Tieres, — es raste vorwärts, gen Süden, wo das Tal in die offene Wüste überging …
Vereinzelte Schüsse knallten … Ich merkte, die Leute wagten nicht, etwa das kostbare Tier zu verletzen, und als ich mich nach Minuten umblickte, hatte ich nur drei Reiter hinter mir, weiter zurück noch drei, während Melvilles übrige Mannschaft um Holger und Kwang Scho versammelt war.
Bellend und ausgelassen galoppierte Freund Monte neben mir her … Ihm war das Ganze nur ein lustiger Zeitvertreib, er war ausgeruht, voller Kraft, voller Übermut … Er ahnte nichts von den Sorgen, die seines Herrn heißes Hirn zermarterten.
Ich hatte einst, es war lange her, in der nördlichen Mandschurei und auch in den Grenzgebieten Abessiniens tadellose Reitdromedare unter mir gehabt. Dieses Tier, das Melville gehörte, war unvergleichlich besser, es war eine Stute von ganz heller Farbe mit feinem Kopf und sanften Augen. Sie flog dahin, als ob die Hetzjagd ihr gar nichts tat, sie atmete ruhig, lief gleichmäßig, und als ich nach einer halben Stunde nordwärts abschwenkte, zeigte sie noch nicht die geringste Spur von Ermüdung.
Die Verfolger, bereits unsichtbar, waren mir gleichgültig. Ich hatte vier lehmige, steinige Wadis passiert, in denen die Fährte nur schwer zu finden war.
Die Sonne kletterte derweil höher und höher. Wieder kam die Hitze, und ich wollte sparsam umgehen mit allem, was ich besaß: Mit der eigenen Frische, mit der Kraft des Dromedars und dem so notwendigen Trinkwasser.
Wieder einmal war ich mir selbst überlassen. Wieder einmal empfand ich die Einsamkeit nur als Quelle der Zuversicht. Wer daran gewöhnt ist, eigene Wege zu gehen, vermißt die Menschen nicht.
Monte war mir genug.
Vor mir tauchte ein Dschebel, ein kahler steiniger Höhenzug von rötlichem Fels auf … Dort würde ich Schatten und vielleicht auch Wasser finden. Ich überließ es meinem Reittier, den richtigen Pfad zu wählen, und sofort schwenkte es auch auf einen Schluchteingang zu, der, wie sich bald zeigte, uns drei zu einer winzigen, in die starren Berge eingebetteten Oase führte.
Oase?! Genau zehn kümmerliche Palmen, ein Grasfleck, ein Tümpel, — das war alles.
Ich band das Tier an eine der Palmen an einen langen Strick, nahm Monte mit mir, und von der nächsten Bergspitze hielt ich Ausschau.
Die arabische Wüste erzählt keine Wunderdinge von abwechslungsreichen Landschaftsbildern. Gerade der südliche Teil der Halbinsel Arabien ist noch heute weißer Fleck auf allen Landkarten. Die punktierten Linien darin, die die Karawanenstraßen andeuten sollen, haben keine Bedeutung mehr. Der Weltkrieg, der auch die Machtverhältnisse der Randstaaten Arabiens verschob, schuf gleichzeitig neue Daseinsbedingungen. Der jähe Einbruch einer Scheinkultur in diese gesegneten Gefilde der fruchtbaren Meeresküstenstreifen brachte die Lastautos, brachte vieles andere, — die Karawanenstraßen verödeten, die Beduinenstämme des Inneren wollten ihren Anteil haben an modernen Genüssen und näherten sich den Küstenstrichen. Handel und Wandel bekamen ein anderes Aussehen. Ihr modernes Gesicht wies keine Züge von Romantik mehr auf. Die Geldgier beherrschte alles, und das unwirtliche Innere verödete.
Mein gutes Fernglas zeigte mir nichts als toten Horizont …
Nirgends eine Spur von Leben, nichts von den Verfolgern …
Um mich her war die starre Ruhe der Sandwildnis …
Nicht ein Vogel, nicht ein Tier, kein Wild, kein huschendes Raubwild: Nur die große erschütternde Leere …:
Das Nichts …
Das Land der kleinen Tränen, der kleinen Tautröpfchen an den Blättern der Salzstauden … —
Ich stieg hinab in die Schlucht zu dem bescheidenen Grün der Palmen …
In meiner Seele war das große Schweigen und das stille Grübeln über all das Unvollständige, Traumhaft-Phantastische und doch so bitter Wirkliche, das die letzten Tage gebracht hatten. Menschen tauchten auf, neue Gestalten auf neuen Pfaden, — ein Schiff erscheint, ein elendes Hafennest wird Ausgangspunkt für die unbekannten Wege von Abenteurern … Namen klingen in mein Ohr, in einem Balkenturm brennt eine Laterne … Neue Namen, Ereignisse verdrängen die bisherigen … Das eine bleibt: Die Frau, der ich dort drüben im Lehmtal das Gesichtstuch wegriß, war bestimmt Helen Shnider. Ich zweifele nicht mehr daran.
Jäh zerreißt die Kette dieser Gedanken …
Ich sehe …
Ein zweites Dromedar weidet dort unten, und neben meinem Sattelzeug hockt mit untergeschlagenen Beinen ein tiefbrauner Beduine mit zerfurchten Zügen im hellen Burnus. Über seinen Knien liegt eine moderne Mauserbüchse, in seinem kleinen Munde wippt eine Zigarette.
Monte knurrt …
Der Mann mit dem faltigen dunklen Gesicht blickt uns an … aus ebenso tiefbraunen Augen, wie sein bartloses Antlitz mit brauner Haut überzogen, deren Kerbschnitte von reichen Lebenserfahrungen sprechen.
Jedes Fältchen vielleicht ein Erlebnis …
Jede Falte vielleicht ein großes Leid.
In diesen Augen ruht der Schmerz von Jahrzehnten und die Sehnsucht nach etwas Unerreichbarem.
„… Treten Sie getrost näher“, sagt der Fremde in fließendem Englisch mit tiefer, klangvoller Stimme. „Ich wohne hier in der Nähe … Sie sind mir willkommen … Sie sind seit drei Jahren der erste Mensch, mit dem ich sprechen darf … sprechen kann …“
Freund Monte, Seelenkenner, trottet näher, und der Unbekannte streichelt ihn ohne Furcht.
Nicht Mißtrauen ist es, das mich fernhält. Nur Vorsicht.
Da lächelt der Fremde … Und ich schäme mich fast. Sein Lächeln schneidet ins Herz, kommt aus einem wunden Herzen.
„… Wenn Sie wüßten, wie froh ich bin, daß ich Ihnen so mühelos begegnete“, sagt er mit gewisser Bitterkeit, „würden Sie mir die Hand drücken und sprechen: „Auf gute Kameradschaft!“ — — Ich kenne Sie, Mr. Olaf, — es ist mein Fluch und mein Trost, alles zu wissen … Ich bin das Gespenst der Roba el Chali, wie dieser Wüstenteil heißt … Ich bin ein Namenloser, ein Geächteter … Vogelfrei, ohne Freunde, ohne Feinde auch. Ich bin ein Nichts, ein Sandkorn, — — und doch ein Allwissender. Reimen Sie sich das alles zusammen, wenn es Ihnen gelingt …!“
Seine Stimme ist plötzlich hart geworden. Ein anderer Ausdruck prägt sich in seinen Mienen aus.
Er erhebt sich gewandt. Ich staune über die graziöse Leichtigkeit seiner Bewegungen und über das Feuer, das in seinen Augen glüht …
„Mr. Olaf, vielleicht gibt es für mich einen Weg zurück zum Frieden … Es muß ja ein Verzeihen geben … Helfen Sie mir! Sie werden es nie bereuen!“
So, wie er mir jetzt bittend die Hand hinstreckt, überwindet er auch das letzte Mißtrauen.
Unsere Hände finden sich, und sein Gesicht leuchtet auf.
„… Endlich — endlich eine Gelegenheit!“, stößt er hervor und preßt meine Finger. „Mr. Olaf, die Frau, der Sie die Binde vom Gesicht zogen, die Frau mit der blonden Haarwelle in der Stirn: Es war Helen Shnider … Sie und ihre vier Begleiter sind von Oberst Melville gefangen genommen worden … Und ich …“ — kurze Pause — „ich fing dafür Horatia Melville … Sie haben sie in Masarlan gesehen, wo ich einen einzigen Freund habe: Den Perser Mirza! Aber auch er hält seinen Schwur, und nur ein Zettel lag den beiden Paketen bei, die er mir spendete, wie schon oft …“
Meine Verblüffung oder mein Schreck — beide waren ja gleich stark — berührten ihn in keiner Weise.
„Kommen Sie mit“, bestimmte er kurz. „Sie sollen mein Heim sehen, — das Heim eines Geächteten … Nehmen Sie Ihr Tier am Zügel, denn der Pfad, den ich Sie führe, ist einst der Paß der wilden Bergschafe gewesen, die jetzt sämtlich dem Unheil der modernen Büchsen zum Opfer gefallen sind. Jeder Araber knallte nieder, was er treffen konnte, und den Rest verscheuchten meine Nachbarn …“
Er ließ mir keine Zeit zum Besinnen …
Ein ungeheurer Tatendrang, hinter dem die Hoffnung loderte, hatte ihn ergriffen.
Nach Norden zu ging es nun tiefer in die Berge und Schluchten hinein auf schmalen Felsengraten, vor denen mein Dromedar zunächst zurückscheute.
Abgründe gähnten zu unseren Füßen, in denen geheimnisvolles Dämmerlicht lauerte.
Immer nach Norden ging es, wo der rötliche Gebirgsstock sich höher und höher türmte …
Bis zu einer Schluchtwand, deren senkrechter Abfall wie eine gewaltige Mauer war, die alles fernhielt vom zerklüfteten Gipfel des Berges …
Mein Gefährte wandte sich mir zu. „Und wenn der Oberst Melville mit seinen fünfzehn erprobten Leuten hierher käme, Mr. Olaf: Seine Schwester bliebe ihm doch unerreichbar! Dieser Berg ist nicht zu bezwingen, nicht zu ersteigen, nicht zu verlassen! Er ist ein Festungsturm, den mir der Zufall bescherte. Ihnen werde ich den Weg zur Höhe zeigen, denn ich vertraue Ihnen … Erklettern Sie dort den Geröllhügel am Fuße des Abhangs, und achten Sie auf die Steinplatten … Niemand sieht es ihnen an, daß meine Hände sie herbeirollten, daß ich das Dach baute über den Weg zur Höhe. Monatelang nahm mich diese Arbeit in Anspruch. Die allweise Mutter Natur hatte hier am Fuße der Mauer eine schmale Kluft aufgerissen, die sich dort nach Osten rings um den Berg herumzieht. Verfolgen Sie nur mit den Augen das so harmlos scheinende Geröll, — es windet sich nach rechts eine Strecke aufwärts, … dann fügt sich ein senkrechter Kamin an, der nur zum Teil von der Außenhaut des Berges verdeckt und ganz hell ist. Die dort aufgestellten Leitern und eingebauten Plattformen kosteten mich weitere drei Monate. Mirza mußte mir erst Handwerkszeug und Nägel spenden.“
Ein prüfender Seitenblick streifte mich. „Ich wette, Mr. Olaf, daß Sie den Perser ganz falsch eingeschätzt haben … Wenn je das Äußere eines Menschen trog, so bei ihm. Übrigens war es der Perser, mit dem Ihr Freund Hilgerström in der Nacht Ihrer Ankunft in Masarlan die geheimnisvolle Unterredung hatte. Mirza kannte wohl den Namen Hilgerström …“ Und leiser fügte er hinzu: „Ich kannte den Namen längst … Alte Geschichten leben wieder auf, die eigentlich nie gestorben sind, sondern nur in anderer Form neu geboren wurden … Sie ahnen nichts davon, und, glauben Sie mir, es ist besser so …“
Er kletterte über das Geröll, sein Tier folgte ihm …
Zwei große dünne Steinplatten klappte er hoch, nachdem er einige Felsstücke von ihrer Oberfläche entfernt hatte.
Steinstufen führten in eine dämmerige Tiefe.
Meine Dromedarstute riß am Halfter, drängte zurück. Es gab einigen Lärm und Aufenthalt. Freund Monte, sofort im Bilde, bereitete dem Zwischenfall ein Ende und biß dem widerborstigen Reittier in die Flechsen, daß es nun auskeilend die Stufen hinabhastete und mich halb mitriß.
Der fremde lachte so herzlich, daß ich eine neue Seite seines wandlungsfähigen Gesichts kennen lernte. Außer Atem stand ich neben ihm in der Tiefe …
„Auch das danke ich Ihnen“, meinte er bester Laune. „Ich hatte das Lachen verlernt, und zum Weinen bin ich zu hart … Obwohl drei Jahre Einsamkeit in diesen Wüstenstrichen vielleicht auch die verhärtetsten Tränendrüsen öffnen könnten … Ich ließ die armen bescheidenen Salzsträucher für mich weinen … Wenn im Frühsonnenschein an ihren Blattspitzen die Tautröpfchen schillern, bilde ich mir stets ein, es wären meine Tränen …“
„Land der Tränen …“, sagte ich ohne bestimmte Absicht.
„Nein“, widersprach er lebhaft, „nein, Mr. Olaf, — auch diese öde Wildnis, die sich viele Tagereisen nach allen Seiten ausdehnt, ohne daß man auch nur einer Menschenseele begegnet, hat ihr grünes Paradies …“ Hoffnungsfreudiges Sehnen klang durch seine Worte und gab ihnen einen besonderen Tonfall, der aus Herz griff. „Ein Paradies, Mr. Olaf, das nicht bewacht zu werden braucht … Und doch stehen wie im biblischen Paradiese Engel mit dem feurigen Schwerte vor seinen Pforten und würden mich mit Schüssen zurückscheuchen, es sei denn, daß ich auf meinen Armen Helen Shnider trüge und meine Schuld ausgetilgt hätte mit meinem Herzblut … — — Kommen Sie …“
Die Reittiere blieben vor dem Schachte zurück …
Wir stiegen die festen Leitern hinan … Bei der dritten Plattform machte der Fremde halt …
6. Kapitel.
Der Geächtete.
Eine wunderbare kühle Luft herrschte hier, ein andauerndes Säuseln in den zahllosen, ungleichmäßigen Öffnungen der Außenhaut, die stellenweise meterdick, anderswo nur wenige Zentimeter stark war.
Die dritte Holzplattform gewährte eine Fernsicht durch die natürliche Filigranarbeit der durchbrochenen Außenwand, die zwar nichts als das gewohnte Bild der Wüste mit fernen hohen Bergen im Norden zeigte, die trotzdem jedoch meine bisherige Kenntnis der Verödung der Karawanenstraßen widerlegte.
Durch das weite Panorama zog dort eine Karawane dahin, wohl an die hundert Lastkamele, alle hoch bepackt, umgeben von beweglichen Reitern in hellen Mänteln.
„Die Ladung des Triton“, sagte der Fremde ernst. „Der Dampfer hat zwei Stunden nach Ihrem Aufbruch von Masarlan den Hafen mit neuer Besatzung wieder verlassen.“
Er sprach leise, — Wehmut in der tiefen Stimme, — fast schwermütig klang es.
Die Karawane lenkte in das Tal ein. Die klare Wüstenluft täuschte über die Entfernung. Es mochten Meilen sein … Allmählich verschwand sie …
Ohne ein weiteres Wort klomm mein Führer höher hinan, und ich, den schweren Monte auf dem Rücken, mißtraute so und so oft den knarrenden Leitern … Sie hielten trotzdem.
Und immer wieder spähte ich durch das Naturfiligran der Außenwand, als ob mir eine innere Stimme sagte, daß es dort in den erstarrten Wogen noch mehr zu sehen geben müßte.
So, wie ich den Oberst Lord Melville kennen gelernt hatte, erschien es mir undenkbar, daß er nur mit einer Eskorte von fünfzehn erprobten Beduinen sich in ein Abenteuer stürzen würde, dessen Gefahren ihm durch Gerüchte oder durch vorher ausgeschickte Spione nicht fremd sein konnten.
Ein Mann von dem Format Melvilles unternimmt nichts mit unzulänglichen Mitteln. — Fünfzehn Kämpfer gegen das Land Bannistar (so nannte ich diese Zufluchtsstätte deutscher und türkischer Frontsoldaten vorläufig), — nur fünfzehn — — ein Nichts, eine Nichtigkeit!
Was mich immer wieder hinausspähen ließ, war die so naheliegende Vermutung, Verfolger könnten auf der breiten Fährte der Karawane sein.
Daß ich trotzdem nichts bemerkte, wollte nicht viel sagen.
Jetzt machte der Mann vor mir halt, entfernte von einer die ganze Weite des Schachtes genau ausfüllenden Plattform, deren Stützbalken dicker als bisher waren, einige Holzriegel, hob eine Falltür und kletterte hindurch, nachdem er eine droben im Finstern stehende Laterne entzündet und auch einige Zeit gehorcht hatte. — Wir standen nun in einem Blockhäuschen, das als Stall und Vorratsraum diente. Zwei Milchziegen, rehbraun mit gekrümmten Hörnern waren in einem sauberen Verschlag untergebracht, persische Ziegen, wie der Besitzer mir flüsternd mitteilte. Eine Balkentür, von innen verriegelt, flog dann auf, die Tageshelle flutete herein, und ich sah mich auf einer weiten, muldenartig vertieften Terrasse dicht unter der Nordspitze des Berges, zehn Schritt weiter lehnte an der Rückwand ein ebenso sauberes Blockhaus, aber mit zwei Fenstern mit zwei Glasscheiben. Auf einer Bank vor der Tür saß im Schatten und im frischen Luftzug der Höhen Horatia Melville, — genau so, wie ich sie das erste Mal in Masarlan erblickt hatte.
Sie schaute uns entgegen. Die Ähnlichkeit mit ihrem um gut zehn Jahre älteren Bruder sprang sofort ins Auge, nur daß die Hakennase des Obersten hier in diesem Mädchenantlitz in verfeinerter Form sich wiederfand. Ihr Reitanzug, ihr gelber Basthut mit Nackenschleier, ihre hohen Stiefel, — alles an ihr war peinlichste Sorgfalt und Körperpflege.
Mein neuer Gefährte grüßte seine Gefangene durch eine leichte Verbeugung. „Sie gestatten, Miß Melville, daß ich Ihnen Mr. Olaf vorstelle“, sagte er mit der eleganten, selbstverständlichen Handbewegung des Weltmannes.
Die etwas kurze Oberlippe Horatias zog sich höher, und gleichzeitig verschoben sich die fast geraden Linien der Augenbrauen. Der Zug von hochmütiger Selbstbeherrschung trat schärfer hervor.
„Mr. Olaf?! — Olaf Abelsen“, ergänzte sie kühl … „Der Mann, der als Flüchtling die Welt durcheilt … Man hört zuweilen von ihm …“ —
Hiermit schien aber auch Miß Melvilles Interesse an uns erschöpft zu sein. Sie wandte den Kopf zur Seite, blickte starr auf das sich vorwölbende rötliche, rissige Gestein, das für die Blockhütten der sicherste Schutz gegen Sicht war, und ich folgte dem Fremden in seine peinlich saubere Behausung, deren wenige Möbel zweifellos aus einem Wrack stammten.
Auf dem Tische zwischen den Fenstern stand unberührt eine für diesen Einsiedler recht abwechslungsreiche Mahlzeit.
„Miß Melville“, erklärte der Geächtete flüsternd, „fiel in der vergangenen Nacht in meine Gewalt, als sie außerhalb des Lagers sich Bewegung machte … Diese Speisen stellte ich für sie hin … Nun, wenn sie zu hungern gedenkt, ihre Sache.“
Monte war keineswegs abgeneigt, den Lammschinken für sich zu annektieren. Er schnüffelte begehrlich, und der Eremit hatte Erbarmen. Monte war versorgt und beschäftigt.
Mein Gastfreund, der hier wie ein Adler hauste, legte den Burnus ab. Er trug darunter einen ganz leichten Leinenanzug sowie ein Sporthemd mit Seidentrotteln, im breiten Westengürtel zwei Pistolen, Messer und manches andere.
„Nehmen Sie doch Platz, Abelsen …“
Ich setzte mich … Urplötzlich machte sich die schlaflose Nacht mit ihren Anstrengungen bemerkbar, und ich aß nur widerwillig ein paar Hirsekuchen und — seltsam genug — Honig dazu, köstlichen Honig.
Der Fremde beobachtete mich. „Kommen Sie mit vier Stunden Schlaf vorläufig aus?“, fragte er, immer noch in der Mitte der Hütte stehend.
„Vollkommen … — Und Sie? Ich schätze, auch Ihnen dürfte die Ruhe nottun.“
Ein Achselzucken … „Ich?! Ich habe geschlafen … Zwei Stunden … Bevor ich Sie traf … — Legen Sie sich nieder … Ich werde der Miß Gesellschaft leisten … Nachher müssen wir wieder aufbrechen … Für die Dromedare sorge ich schon …“ — Und er schritt hinaus, zog die Balkentür zu, und gleich darauf warf ich mich auf zwei prächtige Löwenfelle … Die Grasschicht darunter war dick und weich … Ich schlief ein und fuhr empor …
Vor mir stand Horatia Melville, beide Arme ausgestreckt … Eine so ausdrucksvolle, hilflose, verzweifelte Geste, die nur zu gut zu der unnatürlichen Blässe ihres Gesichts paßte, zu diesen überweiten Augen, in denen mehr als nur Grauen wohnte …
„Miß Melville?!“. Ich sprang auf die Füße, und sie wich zurück, lehnte halb zusammengebrochen am Tisch … Ihre Lippen bewegten sich, suchten Worte zu formen, — ein unverständliches Stammeln war alles, was ihre unbegreifliche Verstörtheit hervorbrachte.
Wenn sie noch eine Waffe in der Hand gehabt hätte …!
Nichts davon …
Hätte sie eine Pistole gehabt, würde ich mir vielleicht eine jähe Tragödie dort draußen auf der Terrasse zusammengereimt haben, — — ein Schuß fällt, der Geächtete stürzt, Horatia ist frei …
Nichts …
Und doch heult der kluge Monte dort draußen in so eigentümlich langgereckten Lauten …
„Miß Melville, was ist geschehen?!“ — Und ich rüttele sie … Wenn ihre Nerven streiken, ist mit höflichem Zuspruch nichts getan.
„So sprechen Sie doch!!“
Mein Griff wird ungewollt kräftig.
Aber diese Art Medizin hat schon oft genug heilsam gewirkt.
„… Mein Gott …“, stöhnt sie, und in ihren Augen vertieft sich das helle Entsetzen, „… er … hat sich hinabgestürzt …, über den Rand der Terrasse …!“
Ich stürmte hinaus. Dort oben, wo das rote Gestein den Rand der Schüssel bildet, liegt Monte lang ausgestreckt und stößt seine durchdringenden Klagelaute aus.
Ich schiebe mich neben ihn. Das Gestein fällt senkrecht ab, und unterhalb der Terrasse erblicke ich eine Schlucht, in deren Wänden sich schräg gewachsene Palmen, Gestrüpp, Dornen und rot blühende, hier so seltene Blumen angesiedelt haben …
Meine Augen weiten sich unwillkürlich …
Der Grund der schmalen Schlucht ist mit weißen Knochen bedeckt, in der zweifelhaften Beleuchtung spielen zwei gelbe kleine dicke Katzen …
Mein Herzschlag setzt aus …: Löwenjunge!
Das also sind des Eremiten Nachbarn — das …!! Ein Löwenpärchen mit Nachwuchs …!!
Und mein Herz beginnt zu rasen …
Täusche ich mich …?! Hängt dort nicht in den Dornen und Büschen am Schluchtrand ein Mensch? Regt er sich nicht? Haben die Ranken der verfilzten Gewächse seinen Sturz abgeschwächt?!
Noch weiter schiebe ich den Kopf vor. Hinter mir flüstert eine versagende Stimme: „Sehen Sie etwas?!“ Und Miß Melville belastete meine Schenkel, damit ich nicht selbst hinabgleite, — fragt ein zweites Mal dasselbe …
„Weg da!!“ Ich habe den Kopf zurückgedreht. Hier ist nicht Ort, nicht Zeit für Redensarten.
Sie erhob sich, ihr Gewicht gibt meine Beine frei, ich schnelle mich zurück, und ich packe Monte beim Kragen, zerre ihn in die Hütte, greife nach der Snidersbüchse …
„Sie bleiben hier, Horatia …!“ Mir ist es ungewollt über die Lippen geschlüpft.
Lächerlich, hier noch mit dem langen „Miß Melville“ kostbare Sekunden zu vertrödeln …
Hinab die Leitern …
Ich rutsche, ich lasse die Sprossen über die Hände gleiten … Ich bin oft genug dem Abstürzen nahe genug …
Vorbei an den Dromedaren geht es, die friedlich am Boden hocken und faul und zufrieden widerkäuen.
… Ich bin im Freien …
Der Gluthauch der nur Hitze aushauchenden Felsen benimmt mir nach der Kühle im Schacht fast den Atem …
Gluthauch?! Diese Schluchten sind jetzt um die Mittagszeit. wo die Sonne senkrecht ihre sengenden Pfeile unaufhörlich herabschießt, mehr als Hölle … Die Luft flimmert, die Luft scheint jeglichen belebenden Sauerstoffes beraubt, Schweißbäche brechen mir aus allen Poren …
… Dann gähnt vor mir die Schlucht … Magere Palmen recken kärgliche Zweige hoch, aber zwischen ihnen nistete das geringere Volk der anderen Pflanzen … Und zwischen diesen hängt ein Mensch, zerschunden, das totenblasse, zerschrammte Antlitz mir zugekehrt, die Hände in dicke Dornen gekrallt, die Augen geschlossen wie ein Toter …
Sechs Meter unter mir …
Und der Abhang ist steil, glatt, erbarmungslos glatt, ohne Vorsprünge, ohne Risse …
Ich werfe mich zu Boden … In der Tiefe spielen um helle Gebeine dicke gelbe Kätzchen. Aus der Tiefe dringt ein Knurren, — dumpf, tief, grollend …
Und urplötzlich, wie hingezaubert, steht neben einem Jungen eine Löwin, hebt den stolzen Kopf, die Pupillen schillern, — — nochmals kommt das tiefe Knurren aus dem geifernden Maule, und der pendelnde Schweif und die niedergeduckte Hinterhand verraten Angriffslust, Mordgier, Abwehr …
Der Mann im Gestrüpp rutscht tiefer …
Die eine Hand hat sich geöffnet …
Die Beine brechen durch, hängen im Leeren.
Momente gibt es, wo Hirn und Muskeln wie ein Automat spielen …
Es geht um Sekunden …
Die dickste der Palmen mag den Durchmesser eines schwachen Männerschenkels haben
Ich lasse die Büchse liegen …
Ich springe, — nein, ich falle, und als die vorgestreckten Füße den Stamm berühren, gebe ich sofort nach, beuge die Knie, umarme den Stamm.
Erdreich, Felsbrocken lösen sich …
Das Knurren schwillt zum Duett an …
Ein Blick nach dem Ärmsten dort, — — ein vorsichtiger Griff …
… Ins Leere …
Und seine zweite Hand läßt die stachelbewehrten Dornen fahren … Der letzte Halt ist dem Körper genommen, — — ich rutsche tiefer, liege bäuchlings zwischen Stamm und Schluchtwand, und jetzt erhasche ich seinen rechten Arm …
Der Körper sackt zur Seite …
Unten fährt die Löwin hoch — ein gelber Strich, die Pranken schlagen nach menschlichen Füßen, die da kraftlos die Ruhe dieses Raubtierheimes stören.
Vorsichtig, ganz vorsichtig ziehe ich den Körper empor … Die Palme ist nur schwach verankert, die Steinwand hat in dieser Tiefe breite Lehmadern, und aus dem Löwenzwinger dunstet außer Raubtiergestank auch der faulige Geruch einer verunreinigten Zisterne.
Der Baum neigt sich tiefer unter der doppelten Last …
Ich rechne bereits damit, daß er sich völlig aus der Lehmschicht löst und hinabsaust … Meine Hand tastet nach der Pistole … Ich bin mein Lebtag kein elender Schießer gewesen, — der waidgerechte Jäger knallt kein Tier nieder, wenn es nicht gerade notwendig oder nützlich ist. Soll ich hier diese prächtige Bestie, die doch nur der Mutterinstinkt so grimmig aufbegehren läßt, den Jungen durch das heimtückische Blei rauben?!
… Und der Baum neigt sich …
Liegt nun im rechten Winkel zur Schluchtwand.
Erde, Lehm, Steine kollern …
Das Wurzelwerk liegt frei, ich sehe die Hauptwurzel, fast so hell wie ein überreifer Spargel, ich sehe den Riß in ihrem Gewebe, das Gewebe dehnt sich … Faser um Faser zerreißt …
Ein behutsames Aufrichten, den Bewußtlosen im linken Arm … Ein Sprung im letzten Augenblick, genau dorthin, wo ich Halt finden werde, wo der vorschnellende Fuß über dem Wurzelgefüge der nächsten Palme eine kleine Felsnase berührt, und der Palmenstamm nur seitliche Stütze bildet.
Trotzdem: Ein ungemütlicher Platz, —der rechte Fuß beginnt unter der übergroßen Last zu zittern und die Hand, die das Gestein flach berührt, folgt diesem Anzeichen der schwindenden Kräfte … bebt … zittert, rutscht nach unten, der Pistolenkolben schrammt das rötliche Felswerk, — — die Finger krümmen sich, — — ein Schuß dröhnt, und unter mir lebt das Duett des Löwenpaares erneut auf …
„Hallo, Abelsen … Achtung!!“
Horatia Melville …
Ein Baststrick fliegt … fällt zurück, schlägt mir mit seiner weiten Schlinge gegen die Brust …
„Bravo, Horatia … Vorsicht … Ich rufe, wenn Sie ziehen sollen …! Werden Ihre Kräfte es schaffen?“
„Sie müssen es … schnell …!!“
Ich balanciere wie ein Seiltänzer … Ein Kunststück, dem Geächteten die Schlinge überzustreifen …
Ich schwitze nicht … Ich dampfe …
Ich beiße die Zähne in die Unterlippe …
Ruhe!!
Herr der Nerven bleiben!
Ich bleibe es …
Wenn das Mädel da oben, die ich in der Eile einzuriegeln vergaß, so viel Schneid hat, sich das Emporhissen von anderthalb Zentnern zuzutrauen, — wie sollte ich da weniger kaltes Blut beweisen!
Ich balanciere …
Die Schlinge rutscht …
Ich muß den fremden Leib vom eigenen Körper entfernen, damit die Schlinge bis zur Brust gleitet.
Ich muß mich hintenüberbeugen, um das Gewicht und das Gegengewicht auszugleichen …
„Horatia … los …!!“
Horatia zieht …
Ich wage nicht emporzuschauen …
Zum Glück zieht sie klugerweise mit starkem Ruck an, die Schlinge schließt sich, ich spüre die Erleichterung, greife nach dem Stamm, und des Geächteten schlaffer Körper schlägt gegen die Wand, entschwindet …
Sekunden sprühen mir Funken vor umnebeltem Blick …
Ich atme tief, ganz tief, — Muskeln und Nerven gehorchen wieder. Horatias neuer Anruf findet mich frisch.
„Abelsen, — — schnell … Fremde Reiter … Nur schnell …!“
Der Baststrick baumelt, ich klettere hoch, das Mädel zieht mich über den Schluchtrand, ich springe auf.
„Reiter, — — wo?!“
… Da sehe ich sie …
Und die kenne ich …
Liebe Bekannte sind es von Masarlan her, die ganze restliche Bande vom Triton, noch immer neun Mann, und wieder bewaffnet, — — woher die Waffen …?!
In breiter Linie kommen sie herangeprescht, brüllend, voller Haß, Niedertracht.
„Nehmen Sie den Bewußtlosen mit, Horatia. Verschwinden Sie … Mit den Herren da wird meine Sniders fertig …“ — Eiskalt bin ich, und das Mädchen stutzt etwas.
Dann enteilt sie … Ich lege mich hinter den nächsten Stein, plötzlich stoppt die Kavalkade … Blitz, Knall und Schrei drüben sind eins … Der Steuermann Basserre, der Schacherer, wird an seinem linken Arm lange herumzudoktern haben.
In wilder Flucht entflieht die Gesellschaft, ein Tal verschluckt sie, und ich mache lange Beine, unbemerkt um den Berg herumzukommen … Horatia ist bereits in der Dämmerung der verdeckten Spalte untergetaucht, ich klappe die beiden Felsplatten herab, sorge dafür, daß einiges Geröll darübergleitet, daß sie auch nicht wackeln …
Am Fuße der ersten Leiter wartet Horatia.
Zu meinem Erstaunen finde ich unseren Schützling bei Besinnung.
Das Licht der Öffnungen der Außenwand des Schachtes fällt auf ein bleiches, zerquältes, zerfurchtes Gesicht. Die Augen strahlen Trauer — keinen Dank für uns.
„… Mir wäre besser, ich hätte es überstanden — das Letzte, das Allerletzte …“, spricht der Geächtete mit schwerer Zunge. „Ich hatte gehofft … Die Hoffnung hatte mich die drei Jahre Einsamkeit vergessen lassen … Als mir die Hoffnung wieder genommen ward, wollte ich das Leben von mir werfen, aber selbst der Tod meidet mich … Ich … kann Ihnen beiden nicht dafür danken, daß Sie mich gerettet haben … Ein Verzweifelter, der mit klarer Überlegung ins Wasser springt, — den soll man ertrinken lassen … Er wird den Versuch, rettet man ihn, doch wiederholen …“
Horatia Melville, unter deren Hutrand nun die Fülle rotblonden Haares ihrer halbirischen Ahnen hervorgequollen ist (die Melvilles sind ein irisches Geschlecht mit normannischem Bluteinschlag), lehnt an der Leiter und gibt mir stockend und leise und voller Schmerz die Erklärung für des Einsiedlers jähen Lebensverzicht.
„… Ich ahnte nicht, daß die Mitteilung, mein Bruder habe Miß Shnider wieder freigelassen und ihr sogar versprochen, ihrer und ihrer vier Begleiter Fährten nicht zu folgen, diese Wirkung ausüben könnte … Percy tat es, weil er Miß Helen … vielleicht liebt … — Hätte ich voraussehen können, daß Sie, der Sie Ihren Namen so hartnäckig verschwiegen, mich wie einen bösen Geist anstarrten und dann nach zwei kurzen Fragen über den Rand der Terrasse ins Leere springen würden, — meine Lippen hätten ja nichts davon preisgegeben — nichts …! Ich konnte die Wirkung nicht abschätzen … Abelsen, glauben Sie mir, — ich konnte es nicht …! Wie sollte ich auch nur vermuten, daß …“
„Niemand wirft Ihnen etwas vor, Miß Melville“, unterbrach sie der seelisch Zerbrochene mit trostloser Gleichgültigkeit. „Was wissen Sie von meinem Geschick — — nichts! Was weiß Abelsen — — nichts! Menschenleid mag Mitleid verdienen, wenn es unverschuldet hereinbricht … Ich bin nicht ohne Schuld. Ich hätte in Frieden unter Freunden leben können in einem Paradiese …! — — Sündenfall, — — die Geschichte vom Sündenfall … Als Adam und Eva vertrieben wurden. Als Kind, als reifer Mann bin ich erst hinter den Sinn dieses biblischen Gleichnisses gekommen, bis — — ich selbst vom selben Lose betroffen ward. Da erst dämmerte es bei mir … Und jetzt?! Was soll ich in der großen Welt da draußen?! Wo doch meine Sehnsucht mich anderswohin ruft!! Denkt ihr beiden denn, die ihr das Leben noch vor euch habt, daß jene Welt, die große Verführerin, das Glück bedeutet?! Nimmermehr!! Vielleicht für die, die das Dasein mit dem morschen Maßstab ihrer kläglichen Ansichten über Werden und Vergehen, über den tieferen Sinn unseres Seins messen. Für die — ja, — denn sie sind innerlich verfault, verseucht … Sie haben „Grundsätze“ …!“ Er lachte bitter … „Grundsätze, die sie für Moralbegriffe halten … Sie zimmern sich ihre Moral selbst zurecht aus … Pappe und … Löchern … wie ein Sieb … Nur daß dieses Sieb lediglich ein Fuchsbau mit vielen Nebenausgängen ist … — um den eigenen Grundsätzen wieder entschlüpfen zu können! — Genug davon … Ihr braucht nicht zu fürchten, daß ich nochmals euch den Streich spiele, und … mich verabschiede. Der Tod hat mich nicht gewollt. Also werde ich dieses Dasein fernerhin ertragen.“
… Drei Menschen in einem engen Schacht …
Drei Menschengeschicke auf engem Raum vereint, — drei Herzen, die einander pochen hören …
Horatia Melville hat völlig vergessen, daß der Geächtete sie gewaltsam hierher schleppte. Der Einsiedler selbst, um alle Hoffnungen betrogen, scheint allen Lebensimpuls verloren zu haben. Da bleibe ich noch übrig, der nun hier die Geschicke anderer in die Hand nehmen und abwägen und das Vorteilhafteste finden muß.
„… Werden Sie allein die Leitern emporsteigen können? Ist es nicht besser, ich seile Sie an?“
Horatia nickte mir heimlich zu. Sie hält dies für sicherer.
Mit einem Male erhebt sich der zerschundene Mann, in dessen Handflächen noch die abgebrochenen Spitzen der Dornen stecken müssen.
„Ich komme schon allein nach oben, Abelsen … Drei Jahre Einsamkeit machen hart und zäh …“ Ein verbissener Trotz klingt durch diese Worte. Dann lacht er, ein fast unheimliches Auflachen, — kurz, herrisch, als verspottete er sich selbst. „Merkwürdig, Abelsen, — das Gefühl der Hoffnung kann nie überflüssiges Unkraut sein. Man reißt es aus, es wächst doch wieder, es drängt wieder zum Tageslichte empor … Wer so viel, so lange allein war, wie ich, klammert sich sogar an die verwehenden Nebelschwaden einer trügerischen Hoffnung, … selbst wenn er nur in die leere Luft greift. Ich habe es gelernt, auf die unmerkliche Stimme meines Inneren zu hören, und diese Stimme müht sich ab, die leichten letzten Nebelgebilde eines lichtdurchfluteten, hoffnungatmenden Tages mir als feste, sichere Straße der Heimkehr auszubauen … Das Schicksal kann nicht so unbarmherzig sein, mir mit einem Schlage alles wieder zu nehmen … — Steigen wir empor … Reden wir trotzdem weiter. Miß Melville ist jetzt frei … Das bedarf keiner Erörterungen.“
Droben die Terrasse, in Sonnenlicht gebadet, droben ein ausgelassener, freudiger Monte, der mich bellend umspringt. Hart genug mag ihm die Haft in der Blockhütte gewesen sein.
Inzwischen hat sich unter uns in der Wüste ein neues Drama vorbereitet.
Selbst Montes frohes Bellen bricht jäh ab, als aus der Tiefe das wütende Brüllen eines Löwen mit solcher Kraft heraufschallt, daß die Luft zu vibrieren scheint.
Wir kriechen zum Terrassenrand, schieben die Köpfe ins Leere …
Das Löwenpaar, schwer gereizt durch die von uns verursachte Störung ihres Schlupfwinkels, hält Treibjagd ab …
Die Kerle vom Triton können einem fast leid tun …
7. Kapitel.
Freund Holgers großer Augenblick.
Das Panorama der Wüste unter uns verrät schon durch die im Sande deutlich sichtbaren Fährten das Vorspiel dieser Menschenhetze.
Wir drei hatten uns unten im Schacht eine geraume Weile aufgehalten, inzwischen schickten die Triton-Leute zwei Späher voraus — zu Fuß, um unseren Verbleib erkunden zu lassen. Die Späher sind in den Engpaß eingedrungen, haben nichts gefunden, haben gewinkt, und der Trupp wagte sich heran.
Dann müssen urplötzlich neben ihnen die beiden prächtigen Bestien erschienen sein. Panik entsteht … Die Kavalkade spritzt sinnlos auseinander, nicht einer denkt daran, den Löwen standzuhalten, es ist zusammengewürfeltes Schiffsvolk, das vielleicht in einer Hafenspelunke unter Alkohol gesetzt das Messer zieht und vielleicht auch — ich habe es erlebt — Lehmwände anknallt oder einen wehrlosen Gefangenen eine Fackel um die Stirn kränzen kann.
Das wohl ja …
Aber hier auf freier Wildbahn, wie der Jäger sagt, zwei Löwen mit ruhiger Hand und ruhigen Auges zu erwarten und die Büchse wie im Schraubstock in die Hände zu pressen, daß die Mündung nicht wie ein Lämmerschwanz wedelt, — dazu langt es nicht …!
„Mein Gott — — die Dummköpfe!“, ruft Horatia entsetzt …
Ihr Entsetzen ist berechtigt …
„Narren!“, stößt der Geächtete zwischen den Zähnen hervor …
Mir bleibt der Atem weg …
Die beiden Löwen schnellen leicht und elegant über den lockeren Boden, mit jener spielerisch erscheinenden Überfülle von Kraft, die vielleicht am ausdrucksvollsten den Afrikareisenden bei den fabelhaft hohen Sprüngen der Sprungböcke überrascht.
Die beiden Löwen haben sich getrennt … Das Weibchen setzt einem kleinen Burschen nach, der sicherlich in seinen Adern das Blut so ziemlich aller Menschenrassen vereinigt … Und der Mann, nun erst sehe ich es, ist unbewaffnet.
Mein Blick überfliegt prüfend die anderen Burschen …
Ich habe mich vorhin doch geirrt, — nur fünf sind im Besitz von Büchsen.
Die rötlichgelben Riesenkatzen dort scheinen eine feine Witterung für Schießpulver zu haben.
Auch Herr Löwe hat sich ein wehrloses Opfer erkoren … Und — welch ein Prachttier ist diese arabische Mähnenbestie!! Jeder Direktor eines zoologischen Gartens zahlte Unsummen dafür. Doch in Arabien ist der Löwenfang neuerdings verboten. Nachdem die Zivilisation (mit drei Fragezeichen) dort in die Randstaaten Einzug gehalten hat, ist einer der neuen Könige von Auslands Gnaden Tierschützer geworden, die anderen Herren Potentaten schlossen sich an, es duftet so schön nach Kultur, wenn da auf Papier steht: „Abschuß und Fang von Löwen verboten!“ — In Jim Hobbins Flohkiste von Hotel prangte auch so eine Publikation. Hobbin hatte dazu gegrient. „Es gibt überhaupt keine Löwen mehr in Arabien, — in Nordarabien schon gar nicht“, hatte er die erste allgemein gehaltene Behauptung eingeschränkt.
Es gibt welche. Dort sahen wir sie …
Und auch sonst ist es erwiesen, daß das zum Teil noch unbekannte Innere mit seinen nie vermessenen Wüstenflächen und kahlen Gebirgsmassen übergenug Vertreter der Tier- und Pflanzenwelt aufweist … Man findet sie nur nicht so leicht. Es ist genau dasselbe wie in dem Wüstengürtel Nordafrikas hinter der Kulturzone. Der Globetrotter möchte so gerne einen Schakal, eine Hyäne vor die Kamera bekommen, schon der lieben Freunde daheim wegen, schon der netten Münchhausiaden wegen, die sich an solche Photos knüpfen lassen … — Eitle Hoffnung …! Immerhin tragen die modernen Ausflugsoasen (mit Riesenhotels und regelmäßiger Autobusverbindung) auch diesen Wünschen Rechnung … Die braunen Bewohner dort sind smart geworden, zahme Hyänen und so weiter stehen zur Verfügung: Feste Taxe — — nicht billig! — Mit Löwenjagd kann freilich nicht gedient werden …
Hier war es verkehrte Löwenjagd …
Löwen jagten zwei arme Schächer, die auf ihren dahinrasenden Dromedaren wie toll brüllten.
Das andere feige Pack war längst verduftet.
Zwei Menschen, denen der Tod im Nacken saß — zwei Löwen, zwei blindlings dahinstürmende Dromedare, die nicht schlau genug waren, dem Haupttrupp zu folgen …
Für Minuten verschwanden Verfolger und Verfolgte … Tauchten wieder auf, hatten sich zusammengefunden, schlugen einen Bogen, — — und trotz der Entfernung hörten wir das Kreischen und Heulen der beiden Schächer, die sich mühsam im Sattel hielten.
Einen Schuß anzubringen war unmöglich …
Viel zu weit …
Zu Hilfe eilen, — — die Löwen waren bis auf hundert Meter heran, und wir hier oben waren wie hypnotisiert durch den Anblick dieser Hetze …
Eine Bodenwelle gab es da … Zweifellos ein flaches Tal mit lehmigen Rändern … Der rötliche Lehm hob sich scharf gegen die Sandfläche ab …
Wie etwas Unwirkliches schiebt sich plötzlich, aus jener Senkung hervorreitend, ein drittes Dromedar, ein dritter Reiter zwischen die beiden Bestien und ihre Opfer … Der Mann reitet im Schritt, sein Seidenbasthemd leuchtet aufreizend gelb, seine Jacke hat er seinem Tiere um den Kopf geschlungen. Die lange hagere Gestalt kenne ich: Freund Holger!
Horatia neben mir atmete fast pfeifend.
Der Geächtete murmelte heiser: „Hilgerström, wahrhaftig, Hilgerström …“
Ob Freund Holger je auf Löwen jagte, — ich bezweifele es.
Und doch benimmt er sich dort unten ganz so, als hätte er nur zwei harmlose Kätzchen vor sich.
Sein Tier steht.
Die Löwen stutzen, die Sprünge werden kürzer, denn Holger schwenkt seinen Basthut und brüllt die Prachtexemplare an, als ob er sämtliche Jägertricks voll beherrschte.
Ich nehme das Glas, reiche es Horatia …
„Da, bitte, — sehenswert!“
Ein huschendes Lächeln umirrt den zusammengepreßten Mund …
„Fürchten Sie so gar nichts für Ihren Freund, Abelsen?!“
„Gar nicht …! Er hat ja die Büchse im Arm und am linken Handgelenk am Riemen die Pistole.“
Wie Holger Hilgerström hier so plötzlich auftauchen konnte, bleibt vorläufig Nebensache. Vielleicht hat Oberst Melville ihn und Kwang Scho doch wieder freigegeben.
Holger hält mit dem Gesicht nach uns hin, die beiden Löwen kauern dreißig Meter vor ihm, — — ihre Schweife wedeln …
Ein Jammer, daß kein Kinooperateur zur Stelle ist … Denn diese Szene ist echt, ist nicht zusammengemogelt.
Holger kennt seine Pappenheimer. Er …, es ist so — er … singt … ganz laut …
Was er da seinem kleinen mordlustigen Auditorium vorträgt, erreicht nur in verwehten Fetzen unsere Ohren.
Sicherlich ein dänisches Marschlied …
„Er … singt!“, flüstert Horatia entgeistert und doch begeistert …
„Er versteht das Geschäft …“, fügt der Geächtete hinzu. „Die beiden Löwen und ich haben bisher gute Nachbarschaft gehalten … Hoffentlich erschießt er sie nicht …“
Und trotz allem vibrieren unsere Nerven. Das Bild da draußen in der offenen Wüste ist ein ander Ding als Dressurakt im Zirkus hinter Gittern … Gewiß, mag auch der Tierbändiger, der eine Löwengruppe oder Tiger vorführt, seiner Zöglinge nie ganz sicher sein, — — der einzelne Dromedarreiter dort, dreißig Meter vor ihm echte wilde freie Bestien, die den Zwischenraum mit drei Sprüngen überwinden würden, — — ein ander Ding, ein Spiel mit der Gefahr, das in dieser Umgebung, in dieser Art so ungeheuer packend wirkt, daß man lediglich die Seltenheit solchen Schauens in sich einsaugt wie etwas ganz Köstliches …
Und Holger siegt … Sein Gesichtsausdruck ist ohne Glas nicht zu erkennen …
Horatia flüstert ehrlich entflammt: „Er lächelt. Er lacht, Abelsen … Jetzt winkt er uns mit dem Hute zu …“
Er singt … Und mir fällt die bekannte Geschichte von der ostafrikanischen Farmerstochter ein, die da allein auf der Veranda des Farmhauses saß, neben sich eines jener alten schrecklichen Trichtergrammophone. Plötzlich erscheint ein Löwe auf der Treppe, das Mädchen, sehr geistesgegenwärtig, kurbelt den Apparat an, und dem Wüstenkönig schmettert irgend eine schneidige Musik in die Ohren. — Erfolg? Der „Herr mit dem dicken Kopfe“ reißt aus. — Die Geschichte hat den Vorzug, verbürgt wahr zu sein.
Ob Holger sie kennt? Wahrscheinlich …
Jedenfalls: Er imitiert Grammophon, und seine Kehle gibt das Letzte her. Die Löwen sind zweifellos musikalischer als Freund Holger, dieser Ohrenschmaus behagt ihnen nicht, erst macht das Weibchen eine Schwenkung, der Herr Gemahl folgt, beide trotten mißvergnügt ihrer Schlucht zu und verschwinden.
„Unglaublich!“, meint Horatia und atmet erleichtert auf.
„Gar nicht so unglaublich“, sagt der Mann mit dem zerfurchten Gesicht und den grauen, fast schon silbernen Haaren und Schläfen. „Ich selbst bin den Löwen mindestens dreißigmal begegnet, immer wichen sie mir aus, ich ließ sie ja auch in Ruhe.“
Holger trabt näher, winkt wieder, und ich eile die Leitern hinab, haste ins Freie …
„N’ Tag, Olaf …“, begrüßt er mich. „Oberst Melville schickt uns … Er ist seiner Schwester wegen in großer Sorge … Er vermutet wohl, sie sei von anderen Leuten entführt worden … anderen, ich will nicht deutlicher werden …“
„Bannistar …“, ergänzte ich … „Bannistari, — das ist es! — Und Kwang Scho?“
„Hat sich verabschiedet … vor vier Stunden bereits … — Hole deine Waffen und deinen Polizeihund … Die Geschichte mit dem Löwen war ein billiger Spaß, die Tatsache, daß die Triton-Kerle Miß Helen und die vier … die vier, nun gut, — die vier Bannistari geschnappt haben, ist weniger angenehm. Leider konnten die Burschen auf dem steinigen Boden eines meilenlangen Wadi ihre Fährten so fein austilgen, daß ich nicht weiß, wo die Gefangenen stecken, — sicherlich in irgend einem Felsloche. Beeile dich … Ich bin etwas beunruhigt … Diese Banditen vom Triton sind keine Kavaliere …“
Er schiebt sich den Hut tiefer ins Gesicht …
„… Auch anderes stört mich, Olaf … Die große gütige Geste, die Oberst Melville sich da mit Helens Freilassung erlaubte, ist mir etwas unverständlich … Sollte ich Melville falsch eingeschätzt haben?! — — Lassen wir das … Beeile dich …!“
Für einen Mann, der soeben ein so gefährliches Spiel gewagt hat, ist er merkwürdig zerfahren und … lustlos, — das ist der richtige Ausdruck. Schon sein völliger Mangel an Neugier gibt zu denken … Der Berg hier, die hochgekippten Steinplatten, unten die Köpfe der Dromedare, oben der Geächtete und Horatia, — nichts interessiert ihn …
„Willst du nicht mitkommen, Holger?“
„Danke … Horatia Melville habe ich in Masarlan genossen, und den Herrn dieses Berges kenne ich — leider …“
Ich bin sprachlos. „Du kennst ihn?!“
„Nun ja, — weshalb nicht?! Es kann nur eine bestimmte Person sein … Nannte er seinen Namen?“
„Nein …“ Ich bin noch immer etwas verwirrt, benommen. „Er deutete mir an, daß die Bannistari ihn ausgestoßen haben.“
„Mit Recht … Helen schrieb darüber mal, es ist lange her, sehr lange … Nenne die Leute aber nicht Bannistari, sie selbst nennen sich Bannistaren, und der Name Doktor Karl Bannistar hatte an der Suezfront einen guten Klang, der eigentlich berühmt sein müßte … — Gehe doch, mache fix! Der Geächtete bleibt ein Herr Niemand. Ich werde sein Geheimnis nicht enthüllen … Finde dich damit ab …“
Holgers ganzes Benehmen verrät immer eindeutiger eine mir unverständliche Unausgeglichenheit. Ich fühle unklar, daß nebenher noch irgend etwas geschehen ist, worüber er hartnäckig schweigt.
Als ich dann die Bergterrasse erreicht habe, finde ich Horatia Melville schon zum Aufbruch bereit. „Ich leihe ihr mein Dromedar“, bemerkte der Geächtete so nebenbei … „Ihr Bruder soll nicht nach ihr suchen … Und …“
Horatia ist ebensowenig wie ich zu Worte gekommen. Ein paar Sätze von mir ändern alle Entschlüsse. Horatia verlangt sehr bestimmt, uns begleiten zu dürfen, und der Einsiedler, der mit einem geradezu hoffnungstrunkenen, wieder neu aufgelebten Blick mir förmlich jede Silbe von den Lippen abgelesen hat, bittet seinerseits mit flehender Stimme, nur ihm allein Helen Shniders Befreiung zu überlassen …
Seine Bitten rühren an unsere Herzen, und er, dem Helens Gefangennahme durch die Triton-Leute wie ein Geschenk der Vorsehung erscheint, erreicht schließlich nach kurzer Aussprache mit dem noch immer etwas mürrischen und geistesabwesenden Holger, daß dieser einwilligt, bei Horatia zurückzubleiben, während wir, der Geächtete und ich, sofort den Meuterern zu folgen gedenken. — Wir haben ja ohnedies nur drei Reittiere zur Verfügung, und Horatia etwa als leichte Bürde mit in den Sattel zu nehmen, wäre denn doch unter den obwaltenden Umständen ein zu gewagtes Spiel.
Aufbruch also, — — zu zweien … Daß Monte mit von der Partie ist, ist selbstverständlich.
Inzwischen hat sich die Sonne bereits gen Westen geneigt. Unsere Tiere sind ausgeruht, wir traben davon, winken zurück, Monte möchte bellen, umhertollen, — ein scharfer Zuruf, er hält sich dicht hinter uns und bezähmt seinen Übermut.
Wir reiten ins Ungewisse hinein … Aber meines Begleiters strahlende Augen, in deren Tiefe die Flamme der Hoffnung brennt, sind ein gutes Vorzeichen …
Ein letzter Blick zurück, bevor wir, den Fährten folgend, in das tiefe Regental einlenken: Droben im Sonnenglast stehen Horatia Melville und Holger am Terrassenrand. Ein Tüchlein weht …
Und das steinige Wadi nimmt uns auf.
8. Kapitel.
Frank Shniders Vergehen.
Die Spuren der flüchtigen Meuterer, die sich nach der schmählichen Löwenhatz wieder vereinigt haben, laufen nordwärts von Tal zu Tal, bis sie im dichtesten Steingeröll eines sehr breiten Wadi, in dem sich an den Rändern Spuren von Vegetation finden, plötzlich wie weggewischt sind.
Selbst Montes vorzügliche Nase versagt.
In diesen faustgroßen, fleckigen Steinen, die der wehende Sand in endlosen Jahrtausenden unermüdlich rund geschliffen hat, und die nun mitten im Talgrund eine förmliche Straße von rundem Schotter bilden, haftet keine Fährte.
Der Dromedarhuf, der diese toten Zeugen des Greisenalters des Erdballes etwa verschiebt, hinterläßt keine sichtbare Veränderung.
Stein ruht hier auf Stein, meterhoch …
Freund Monte irrt suchend hierhin und dorthin, immer die Nase dicht über dem steinigen Boden. — Eine halbe Stunde vertrödeln wir so.
Wir reiten einzeln die Talwände entlang … Irgendwo müssen die Burschen doch diese Schotterstraße verlassen haben, die kein Dromedar lange Zeit verträgt, die Tiere würden lahm werden oder sich die Sehnen überanstrengen und völlig versagen.
Wir vereinigen uns wieder — ohne Erfolg. Der Geächtete hat in seinen zerfurchten Zügen einen Ausdruck, der mir wehtut. Es ist die nahende Verzweiflung.
„Nichts!“, sagt er dumpf. „Ich begreife das nicht …“
Und die Sonne sinkt … Wenn erst die Nacht da ist, werden wir lagern müssen … Wir sind nun fünf Stunden unterwegs. Vielleicht bleiben uns noch zwei bis zur Dämmerung.
Wir sind Männer mit offenen Augen, vertraut mit allen Schlichen, und trotzdem versagen wir. Eine Weile hocken wir regungslos nebeneinander auf den hohen Sätteln, die Tiere schnauben unmutig, sie tänzeln zuweilen, auch sie spüren das harte tote Gestein bereits, das uns ein verschlossenes Buch bleibt.
Meine Augen wandern über die Umgebung hin … Da sind die Talwände, entweder flach ansteigende Sanddünen oder schroffe Lehmwände oder dunkler, gesprenkelter Fels. Ein paar Büsche, ein paar kümmerliche Palmen: Trostlos!
So ist Arabien, so ist die Roba el Chali: Bedrückend in ihrer öden Eintönigkeit, in ihrem fürchterlichen, hitzegesättigten Schweigen …
Ein großes Grab, — — die ewige Ruhe und doch die unheilbrütende Unbarmherzigkeit.
Auch hier Tiergerippe … Weiße Knochen wie aus Gips gegossen, so weiß … Verstreut, — hier ein Kamelschädel, hier ein menschlicher Arm …
Grauen wird hier geboren …
Jenes namenlose Grauen, das aus der Seele hervorkriecht wie ein schwarzes Gespenst, das den Hals zuschnürt und die Augen mit Visionen füllt.
Fata Morgana, … wie melodisch das klingt, wie wunderschön die Vorstellung ist, einmal in den überhitzten Luftschichten eine verkehrt aufgebaute Stadt, Dächer nach unten, schweben zu sehen … Oder gar eine durch die Luft dahineilende Karawane.
Soeben hat ein Windstoß des aufkommenden Abendluftzuges eine dünne Sandwolke wie einen dünnen Kreisel am Talrande hochgefegt und wieder zusammenfallen lassen … Ein zweiter Windstoß wirft feines Sandmehl in das Wadi, und mein Gefährte erwacht gleichfalls.
„Abelsen, haben Sie noch Hoffnung?!“, fragt er noch dumpfer.
„Immer noch!“ — Die tote Wüste soll mich nicht untätig sehen. „Immer noch …! Und nun — reiten Sie droben den Nordrand entlang, ich den Südrand, Sie nach Osten, ich nach Westen … Es muß eine Fortsetzung der Spuren geben — — muß!!“
Meine Augen sind wach wie nie, mein Geist arbeitet, meine Gedanken gleiten den Weg entlang, den die starren Blicke des Geächteten urplötzlich wählen …
Ebenso schnell schaut er zur Seite.
Ich denke mir, er kennt hier jeden Fußbreit Boden, es ist ja sein Jagdrevier, seine unendliche Einsiedelei, die er drei Jahre durchstreift hat … Und das hat er vor mir voraus: Die Ortskenntnis!
Wir trennen uns wieder … Monte und ich traben oben gen Westen, schwenken nach Süden ab, und zehn Minuten später krieche ich ganz allein zum zerklüfteten Rande des Regentales, wo das kahle, zermürbte Gestein mir Deckung bietet.
Ich will des armen Geächteten letzte Hoffnung nicht vernichten, sein Verdienst um Helens Rettung nicht verkleinern. Ich könnte es. — Ein Gedanke, der schon längst in mir lebendig geworden, ward Gewißheit durch den suchenden, tastenden Blick des Namenlosen. Ich weiß, er wird sehr bald zur Stelle sein, sehr bald, denn seine Arbeit wird Zeit erfordern. Und er will sie ohne mich vollenden.
Die Schotterstraße in der Mitte des meilenlangen trockenen Flußbettes hatte genau vor mir eine Vertiefung … Kein Loch … Nur eine Mulde … Viele solcher Mulden finden sich in dieser ungewalzten Chaussee.
Die eine Mulde dort, — — und fünfhundert Meter weiter hinter der Krümmung das steingepanzerte tiefe, schachtähnliche Loch im Schotter … „Abelsen“, hatte der Mann mir da kurz erklärt, „in diesen Schlünden versickert die Hauptmenge der so seltenen Gewitterregen.“
… Ich warte …
Ein Unseliger, Unglücklicher wird erscheinen, der nur einen Wunsch kennt: Zurück zu dem Paradiese, aus dem man ihn verstieß! — Aus dieser heißen, rührenden Sehnsucht nach dem unbekannten Lande der Bannistaren entspringt der entschuldbare Betrug den er mit mir versuchte. — Ich trage ihm nichts nach. Ich kenne ja seine seelische Verfassung. Drei Jahre Exil, drei Jahre allein, ganz allein, so allein, daß selbst der Perser in Masarlan, den ich so unvorteilhaft beurteilt hatte, nur durch Zettel und Liebesgaben mit ihm zu verkehren wagt. Welche grenzenlose Verzweiflung, welch ein seelischer Zusammenbruch gehörten wohl dazu, daß der Ärmste in seiner Felsenfeste über den Rand der Terrasse ins Leere, in den Freitod sprang, nur weil ihm der winzige Strohhalm der beglückenden Hoffnung genommen ward, die in diesem Falle Helen Shnider hieß!
Wenn einer sich hineindenken kann in die dunklen, verschlungenen Pfade der Seelenregungen so trostlos verlassener Kreaturen, — ich kann es!
Tief geduckt hinter den abgeschliffenen, sanddurchsetzten Felstrümmern harre ich dessen, was werden wird.
Mit einem Male erscheint mir die Wüste, über die das erste feine Rot des Sonnenunterganges hinwegeilt und sich festnistet auf Zacken und Dünenspitzen in stärkeren Tönen, nicht mehr so unbarmherzig wie bisher, nicht wie ein totes, stilles Grab. — Ich weiß, daß im Umkreis dieser eintönigen Unendlichkeit Menschen hausen, die einen hinausschickten in das Exil zur Strafe.
Menschen, die gerecht gehandelt haben mögen. Menschen, die auch nicht ohne Fehler sind. Denn keiner ist es. Und deshalb belebt sich für mich die starre Landschaft mit den Spukgestalten von Hassenden und Liebenden, Eifernden und Irrendem. Einige von diesen kreuzten meine Bahn … Ich weiß jetzt genug über das „neue Volk“, ich kenne einige seiner Vertreter, und Helen Shnider und der Geächtete schreiten vorn als erste in dieser kurzen Reihe, hinter ihnen der seltsame Chinese Kwang Scho, der Füsilierte, und dann noch der Perser Mirza Siddar, zum Schluß — nur halb Zugehöriger — Freund Holger Hilgerström.
Denke ich zurück an die Anfänge dieses Abseitsweges, zuckt ein Lächeln um meine Lippen: King Edward-Flöhe!! Damit begann es …
Und so unendlich trivial das klingen mag: Verdanke ich nicht den kleinen Blutsaugern den schnellen Einblick in Holgers vorsichtige Geheimnisse? — Helen Shnider bringt die Karbidlaterne für den „Leuchtturm“, — Licht blitzt auf, der Dampfer stampft in der Brandung, und … ein Mann wagt sein Leben auf einem Tonnenfloß … — Wer?! — Und diese Frage, bisher unbeantwortet, findet von selbst jetzt ihre Lösung: Es kann nur Kwang Scho gewesen sein, der da der nördlichen Zangenhalbinsel zusteuerte, Kwang Scho, der sich insgeheim schnell mit dem Perser über die Ereignisse an Bord verständigen wollte, über einen niederträchtigen Doppelmord, über ein geplantes Schachergeschäft …
Und weiter dann … Steinchen reiht sich an Steinchen … Romantik wird lebendig, ich vernehme die Geschichte der in die Einöden Arabiens flüchtenden Kämpfer, die sich tapfer bis Süden durchschlagen und irgendwo eine neue Heimat finden, — Landsknechte des Weltkrieges, ruhebedürftig, trotzdem voller Unternehmungsgeist. — Bannistar?! Wer ist dieser Bannistar?! Eine Führernatur, ein Organisator …
Alles ist Bestimmung …
Bestimmung, daß nun dort drüben von Westen im Abendrot der Mann mit dem zerfurchten Leidensgesicht und den Silberschläfen heranjagt, eiligst eine Sanddüne hinabgleitet, sein Tier anbindet und die Büchse nimmt und auf das Loch zuschreitet …
Bückt sich, der Geächtete, schleudert ein paar Knochen zur Seite … Einen noch frischen Kamelschädel mit Hautfetzen, der übel stinkt …
Und der Gestank nahm Freund Monte die Witterung. — Schlau erdacht, dieser Schutz gegen eine Hundenase!
Der Geächtete wühlt im Gestein.
Steine fliegen …
Das Loch vertieft sich …
Immer mehr …
Der übereifrige Mann, besessen von der Hoffnung, Verzeihung zu finden, läßt alle Vorsicht außer acht, seine Büchse liegt abseits, und nicht einmal die Pistolen lockert er im Ledergurt. Hoffnung hat schon manchen genarrt, der ihr blindlings die Erfüllung abzwingen wollte.
Meine Zeit ist da.
Lautlos wie ein Feind gleite ich ein Stück weiter zurück die Talwand hinab und krieche näher, bis ich an der Westseite hinter einer lehmigen Zacke und einigem Gestrüpp nicht nur Schutz gegen Sicht, sondern auch die Stelle finde, von der ich den Fortschritt des übereilten Eifers des Einsiedlers verfolgen kann.
Er legt eine Steinplatte frei …
Er kniet …
Packt den Rand …
Wuchtet … wuchtet …
Sein Stöhnen dringt bis zu meinem Versteck, er keucht …
Der Mann vergeudet seine Kräfte zwecklos. Der Rand einer zweiten Platte greift über die andere … Steine liegen darauf, Zentnergewichte.
Zentnergewichte!! — Und weil es Steinmengen sind, die niemand aus der Tiefe her, wo doch die Triton-Leute im Erdenschoße weilen müßten, dieses Gewicht bewältigen könnte, — weil also die da unten sich selbst eingesperrt hätten für immer, kommt mir zwangsläufig der neue Gedanke, daß dieses Lehmloch dort eine enge Fortsetzung haben muß — — irgendwohin … Zu eng, dieser zweite Einschlupf, um Dromedare hindurchzuführen, aber weit genug für einen einzelnen Mann, der nachher die Steinschicht entfernen könnte …
Wieder fahren die nadelscharfen Blicke das Tal hinan und hinab … Die geräuschvolle Arbeit des Geächteten muß gehört worden sein … Die Füchse im Bau werden unruhig werden, einer wird irgendwo zum anderen Ausschlupf hervorlugen, um festzustellen, wie es draußen steht …
— Zufall?! — — Bestimmung …
Die Lehmwand hier, an der ich liege, hat übergenug Risse und Spalten. Vor einigen wuchert Gestrüpp, andere sind wie schwarze Kerben, andere nur wie flache Einwölbungen …
Rechts von mir erscheint ein Strich, ein dunkler Streifen, ein Büchsenlauf …
Also doch! Und so nahe!! — Das hätte auch mir, wenn ich noch drüben läge, eine Kugel ganz unversehens eintragen können … Diese Kugel soll nun dem da gelten, der jetzt auch die zweite Platte freimacht … Mein armer Freund, — die Hoffnung ist etwas Köstliches, nur darf sie nie blind sein — wie die Gerechtigkeit, deren Standbild auch eine Binde trägt. Dazu noch die Wagschale … Beides sehr zweifelhafte Symbole … Ich habe es am eigenen Leibe gespürt. Weise Richter sperrten mich ein, eine noch weisere, finstere Macht befreite mich. Seitdem laufen nur noch gedruckte Schergen jahrelang hinter mir her wie lahme Krebse … Lassen wir ihnen das Vergnügen … Alles verjährt, alles …
Nur das Leben bleibt jung … Und das Leben ist Erleben, ist Wandel und Wechsel, ist dünnflüssig wie ein sprudelnder Quell.
Der da in der Lehmspalte mit dem immer noch ruhenden Flintenlauf hat das Leben auch auf seine Art hingenommen … Er schaute die Dinge nur durch eine Linse, die arg verzerrte, und die das Wort „Geldhunger“ zu stark vergrößerte und das weniger geschätzte Wörtchen „Ehrlichkeit“ zusammenschrumpfen ließ.
Wenn ich abdrücke, verdirbt die kleine Fingerbewegung dem Geächteten die ganze Freude. Wenn ich nicht abdrücke, trifft der Bursche vielleicht die lebendig gewordene Hoffnung und tilgt für immer ein großes Sehnen ans.
Gibt es einen zweiten Weg?!
… Ein Stück Lehm, hart wie Stein, fliegt im flachen Bogen, — dem dumpfen Aufschlag nach dürfte der Schütze nicht ohne Grund seinen Schießprügel zurückgezogen haben.
Immerhin, — ein zweiter Gruß derselben Art kann nichts schaden …
Das Lehmstück fliegt, fällt, — — ein Schuß knallt, — dünn und blechern …: Pistole! Eine Kugel klatscht in die Steine und zerstiebt zu Bleisplittern.
Der Geächtete liegt flach in seinem Loche, seine Hände greifen hoch, bauen eine Brustwehr, und …
Wie aus einer Kanone geschossen fliegt ein Körper da vor mir aus dem Lehmloch, fällt unten auf den harten Boden, schnellt hoch … fährt zur Seite, — ein Tiger könnte nicht flinker sein, — wirft sich nieder: Steuermann Thomas Basserre, den linken Arm, den ich ihm durchlöcherte, in der Schlinge, in der rechten Hand eine Pistole mit sehr langem Lauf, genau so ein gefährliches Modell, wie Horatia Melville es besitzt und in Masarlan vor der Veranda halb in Anschlag brachte: Coldpistole!
Zwei Gegner lauern einer auf die Blöße des anderen …
Das Abendrot verblaßt bereits, und wenn der Geächtete sich nicht beeilt, müssen die Kerle bei Sternenschein ausgeräuchert werden …
Etwas völlig Unerwartetes geschieht …
Der Mann mit dem von Sehnsucht zerquälten Gesicht winkt … ruft: „Basserre, — kennen Sie mich?! Basserre, lassen Sie das Schicksal entscheiden … Sie haben die bessere Waffe, ich vielleicht die geübtere Hand. Thomas Basserre, Sie sind schuld an meinem Unheil … Sie allein … Kennen Sie mich?“
Der zweite Steuermann vom Triton lacht höhnisch …
„Sie leben noch?! Noch immer?! Dem kann abgeholfen werden …!“
Glaubt der Bursche wirklich, der Geächtete sei hier allein?! Haben ihn die Lehmbrocken nicht gewarnt?! Nimmt er an, diese steinharten Lehmnüsse seien zufällig herabgefallen — etwa durch eine Berührung seines Büchsenlaufes?!
Basserre scheint es wirklich zu glauben, scheint auch der Ehrlichkeit seines Gegners gewiß zu sein und erhebt sich langsam, die Waffe gesenkt haltend.
„Was werfen Sie mir vor, Mr. Shnider?“, fragt er herausfordernd. „Ich soll an irgend etwas schuld sein — — ich?! Waren Sie nicht damals Besitzer des Dampfers?! He?!“
… Ich glaube mich verhört zu haben …
Shnider?! Mr. Shnider …?! — — Etwa Helens Vater?! Aber das ist ja undenkbar, das würde aus tausend Gründen undenkbar sein! Der Viehzüchter und mehrfache Millionär Shnider ist doch längst tot, aus Helens Reden entnahm ich, Helen sei Vollwaise schon damals in Suez gewesen!
Basserre wiederholt noch frecher: „Also was wollen Sie eigentlich von mir?! Sind Sie Rechtsverdreher, Advokat geworden, daß Sie aus Weiß Schwarz machen und umgekehrt?!“
Shnider, Millionär, Einsiedler, — Shnider steht zwölf Schritt vor dem Steuermann.
„…Basserre, wo … ist mein Kind?“ — Alles andere ist vergessen … Helen sehnt er herbei … Nur um Helen sorgt er sich.
Noch rührender klingt die Frage …
„Wo?!“ Der Kerl kichert lüstern … „Fragen Sie besser, was sie ist … — Vielleicht mein Liebchen, Mr. Frank Shnider …!“
Das — — hätte er nicht wagen sollen!
Er kannte den Mann nicht, der drei volle Jahre Einsiedler gespielt und seinen Körper sehnig und geschmeidig erhalten hatte.
Frank Shnider kehrt mir sein Gesicht zu, es entfärbt sich, — Basserres freches Grinsen kann ich nur ahnen.
„Und … Helens … vier … Begleiter?“, spricht eine schwere Zunge.
„Tot …!!“, sagt der Steuermann höhnisch.
Ich beobachte Shnider … Sein rechter Arm hängt schlaff herab … Aber die Hand, die die Pistole hält, hebt sich etwas … nur im Handgelenk — — unmerklich fast.
„Alter Narr, — — genug mit alledem …“, — und die lange Cold will in Anschlag, der Ellbogen hat sich noch nicht halb gekrümmt, — — ein Schuß, dünn, blechern, und Thomas Basserre ruckt hoch wie getroffen vom elektrischen Schlage, dreht sich um sich selbst, kracht zusammen.
„Mr. Shnider — — halt!!“, — aber mein gellender Zuruf ist zwecklos …
Der Geächtete hat den Körper emporgehoben, hat sein Dromedar erreicht, und das Tier trabt davon …
Das Abendrot ist fast erloschen. Auf den hellen Steinen der Chaussee des Regentales liegt ein einzelner Tropfen Blut — — wie ein Tintenfleck, wie ein großer Schlußpunkt unter einen Abschnitt einer langen Tragödie …
9. Kapitel.
Die Natur greift ein.
Frank Shnider zu folgen, hätte wenig Sinn gehabt. Bevor ich mein Dromedar und Monte drüben aus der Bodensenkung holen könnte, mußte Helens Vater längst in der hereinbrechenden Dämmerung verschwunden sein. Ich wollte mir auch darüber weiter keine Gedanken machen, was er mit dem Toten vorhätte. Er würde schon zurückkehren, — wann, auch das blieb nebensächlich. Unmöglich konnte ich annehmen, Shnider sei wirklich so leichtgläubig gewesen, den höhnischen Gemeinheiten Basserres irgend welche Bedeutung beizumessen, — diese Art Abrechnung war wohl auf andere Beweggründe zurückzuführen, nur den äußeren Anstoß hatte des widerwärtigen Burschen ganzes Auftreten gegeben.
Was aber nun tun, die Kerle da unten hervorzuholen?! — Ausräuchern?! — Daran hatte ich längst gedacht …
Aber die Burschen hatten ja leider mir gegenüber lebende Abwehrmittel, und daß sie diese rücksichtslos ausnutzen würden, damit mußte ich unbedingt rechnen.
…Ich lag noch immer auf meinem Lehmvorsprung, so ungemütlich der Platz auch bei dem ständig heranwachsenden Nordostwinde war, der von der Wüste immer stärkere Sandfontänen herabstäubte …
Allmählich spürte ich auch, daß der Abendwind sich zum kräftigen Sturm auswuchs … In den Felszacken drüben orgelten und jaulten die Windstöße, dabei nahm die Hitze eher zu als ab, die Luft war überladen mit Elektrizität, die Gräser neben mir bekamen leuchtende Spitzen, und der halb verfaulte Kamelschädel drüben schillerte grüngelb wie ein ungeheurer Leuchtkäfer.
Ich erhob mich … Ich mußte der Sache hier ein Ende machen — so oder so … Für alle Fälle aber wollte ich den Burschen dort zeigen, daß ihre Aussichten, irgendwie zu entwischen, miserabel ständen. Drei Schüsse knallte ich von der Seite in das Lehmloch hinein, rief auch, zu Verhandlungen stets bereit, einige nicht gerade höfliche Aufforderungen in den dunklen, leeren Schlund.
Ich stand nun hart unterhalb des Randes der Talwand, auch auf einem Lehmklotz wieder, — — das scheidende Tageslicht zeigte mir, wie die Triton-Leute als Antwort ein paar mittelgroße Steinplatten von unten her in dem Loche festklemmten.
Der Sturm wurde unangenehm.
Wenn ich den Kopf hochreckte, blies mir ein kräftiges Sandgebläse prickelnden Pulverstaub ins Genick … Der Nordoststurm hatte das ganze Sandmeer in Aufruhr gebracht. Als ich mich einmal umsehen wollte, erblickte ich lediglich im Osten eine pechschwarze Wolkenbank, über die gerade ein fahler Schein hinlief … Die Augen tränten mir.
Ich duckte mich …
Im Nu wurde es finster … Donner grollte im Osten, aber die hier so seltene Naturerscheinung eines Gewitters wanderte nicht nordwärts, sondern blieb anscheinend drüben im Osten zwischen den Bergen hängen, die einen Ausläufer des großen Gebirges im Norden bildeten.
Mit einiger Sorge dachte ich an mein Dromedar und an Monte … Trotzdem, — ich durfte mich hier nicht wegrühren, ich erwartete noch immer, daß der Rest der Triton-Leute zur Einsicht käme und die Gefangenen auslieferte.
Der Sturm flaute merkwürdigerweise wieder ab … Der Himmel blieb schwarz, im Nordosten wetterleuchtete es fortgesetzt, kein tropfen Regen fiel, aber die Luft wurde kühler, erfrischender … Ich roch geradezu die Feuchtigkeit …
Ich saß nun zusammengekauert da, die Jacke über den Kopf geschlagen, horchte angespannt, — hörte auch etwas …
Etwas wie ein fernes Rauschen …
Nicht Windstöße …
Der Wind war fast eingeschlafen.
Aber das ferne Rauschen wurde zum Brausen, zu einem seltsamen Quirlen und Gurgeln … Meine Ohren, fast schon überanstrengt von dem anhaltenden Aufhorchen und Abschätzen der Geräusche ringsum, täuschten mir fast eine schwache Brandung vor.
Dabei wurde es nicht nur kühl, sondern kalt. Ein Temperaturumsturz war eingetreten, der so jäh für die arabische Wüste etwas Fremdes ist.
Das Gurgeln schwoll an …
Über mir zerriß die Wolkendecke … Der Mond grinste hindurch …
Sein mildes Licht spiegelte sich in dünnen Rinnsalen, die neben der hellen Schotterstraße des Wadi sich dahinschlängelten — gen Südwest, — dorthin hatte das endlos breite Tal Gefälle.
Ich fuhr empor. Ich begriff jäh die Bedeutung des immer stärkeren Brausens …
Das trockene Flußbett wurde zum reißenden Strom …Aus all den fernen Bergtälern hatten die Wassermassen den gewohnten Weg in das Wadi gefunden …
Und dort unten steckten Menschen …!
Keinen Augenblick besann ich mich …
Keine Minute war zu verlieren …
Ich sprang in das Loch hinab, sprang auf die Steinplatten, brüllte durch eine Ritze …
Was ich brüllte: Gut gemeint!
Was da haarscharf an meinem Ohr vorbeizischte: Schlecht gemeint, schlecht gezielt!
Narren, die Kerle!!
Nun gut, — die Wassermassen würden sie hervorscheuchen wie nasse Mäuse …! Und durch dieses Loch mußten sie … durch dieses, das Hochwasser war bereits da …
Aus Rinnsalen waren Bäche geworden, aus Bächen ein Fluß, der immer mehr anschwoll …
Das Wadi war ein einziges Branden und Schäumen … Die Wasser stiegen — — ein Meter, anderthalb Meter … zwei Meter …
Und da kamen sie …
Winselten …
Die Burschen vom Triton …
Heulten, baten …
Aber erst die andere Frage:
„Wo ist euere Gefangene? Wo ist Miß Shnider?“
Im Mondlicht glotzten weißumrandete Augen zu mir empor …
„Entflohen … entflohen!“, winselte der Schwarze …
„Wann?!“ — Ich traute ihnen nicht …
„Als wir Mr. Hilgerström abfangen wollten und seine Spur verloren und auf das Löwenpaar stießen … Mr. Abelsen, — — Gnade, wir ertrinken … Wir …“
Eine für mich unsichtbare Gewalt drängte den Schwarzen höher — zu hoch, — er wäre in den reißenden Strom gestürzt, — ein Griff …, und er saß schlotternd neben mir …
„Jacke runter!! Zerschneiden — — in Streifen …!!“
Er war gehorsamer als Freund Monte …
Er bekam die ersten Fesseln …
„Einzeln nach oben‥!! Einzeln!!“
Und die triefenden Burschen muksten nicht …
Eine Blütenlese von acht Gentlemen kauerte in einer Reihe droben auf der Talwand, während in der Tiefe drunten das umgekehrte Schauspiel von vorhin sich vollzog: Das Wasser sank ebenso schnell, der Strom wurde zum Fluß, der Fluß zu Bächen, die Bäche zu Rinnsalen …
Und hoch über uns leuchtete ein klarer, flimmernder Nachthimmel.
„… Ihr hättet fünf Minuten warten sollen, — — nicht mal fünf, — ihr wäret nicht ersoffen! Nun habe ich euch fest!“
Die bissige Bemerkung konnte ich mir doch nicht verkneifen.
Antwort bekam ich nicht.
Nicht unmöglich, daß die Herren an den Galgenbalken in Masarlan oder an sonstwie recht unangenehme Dinge dachten.
„Wer mag die Miß und deren vier Begleiter befreit haben?“, forschte ich einen kleinen, alten Kerl aus, der mir am ehrlichsten erschien.
„Kwang Scho“, knurrte er … „Natürlich Kwang Scho …“
„Woher weißt du das, mein alter Knabe“, setzte ich sehr leutselig das Verhör fort.
Wenn man acht gefesselte Burschen als besetzte Schulbank vor sich und in der Hand einen eisernen Rohrstock mit neun Patronen hat, findet sich so eine Art Humor von selbst ein.
„Kwang ließ einen Zettel zurück …“, erwiderte das artige Kindlein.
„Wo?“
„Weiter ostwärts, — auch eine Höhle, dort hatten wir die Gefangenen verstaut …“
„Und was schrieb Kwang Scho?“
„… Er … er schrieb, daß … daß …“
„Stottere nicht!!“
„… daß … wir … Säcke ohne Leichen ins Meer geworfen hätten …“
„Wie?! — Kapitän Olfers und …“
„Ja, — Kwang Scho hat die Säcke mit Eisen und alten Segeln gefüllt …“
„Und was schrieb er noch?“
„… Daß … daß Kapitän Olfers und Steuermann Gordner … daß er …“
„Hole erst Luft!!“
„… daß er beide beim Einlaufen des Triton heimlich an Land gebracht habe …“
„Aha!! Also das war das Tonnenfloß! Solche Geschichten höre ich gern … — Der Kapitän und der Steuermann leben also?“
„Hoffentlich“, seufzte der alte Knabe. „Mr. Abelsen, — es war eine verdammt dreckige Sache, und wenn nicht Diego und Sam und Basserre uns aufgewiegelt hätten, würden wir …“
„Oh, — stoppe ab, das Unschuldsliedlein kennen wir … — Wart ihr hier in der Wüste nur hinter Hilgerströms dickem Bündel Dollarnoten her?“, examinierte ich weiter … Ich war so schön im Zuge, und mein Prüfungskandidat machte nicht den geringsten Versuch, mich anzuschwindeln … Das Stottern nahm ich ihm nicht übel … Und das Gebet einer Jungfrau erst recht nicht. Das war übrigens zu Goßmutters Zeiten das Paradeklavierstück aller züchtigen Dämchen.
„Nein … Das heißt …“
„Bitte!! Ohne „das heißt“‥!!“, warnte ich.
„Wir wollten das neue Land finden, Mister Abelsen, — das Land der Tränen …“
Ich stutzte da … „Land der Tränen“? „Woher kennst du den Namen …?“
„Wenn Kapitän Olfers, Steuermann Gordner und Kwang sich leise in der Kajüte unterhielten, nannten sie zumeist diesen Ausdruck: Land der Tränen! Manchmal auch Bannistar oder Bannistaren …“
„Und was wißt ihr über dieses Land?“
„Gar nichts … Nur, daß die Bewohner sehr reich sind … Ihnen gehört ja der Triton und noch ein zweiter Frachtdampfer …“
Triton — — Reichtum, — das waren für mich zwei Stichworte, die mich sofort fragen ließen:
„Warst du schon auf dem Triton, als die Geschichte mit Mr. Frank Shnider passierte?“ Ich tat so, als wüßte ich Bescheid … Und ich wußte fast nichts.
Der alte Matrose nickte. „Ich bin bereits das vierte Jahr auf dem Triton … Das war auch eine eklige Sache, Mr. Abelsen … Die meisten von uns wurden aufgeknüpft … Kapitän Olfers versteht keinen Spaß …“
Meine Neugier wuchs.
„Eklige Sache, stimmt … Wie war das doch?!“
Jetzt wurde der Graubart plötzlich bockbeinig.
„Sie wollen mich ja nur ausholen, — nein, darüber spreche ich nicht …! Wenn Mr. Shnider tot wäre, — — so aber, nein, — ich verbrenne mir nicht die Zunge …“
„Hm!! Loch im Schädel angenehmer?! — Ich will die Wahrheit erfahren, alter Bursche. Also keine Faxen …! Rede!!“
Ich führte ihn abseits, nahm ihm sogar die Fesseln ab und reichte ihm eine meiner Zigarren. Ich verließ mich auf meine Menschenkenntnis, und diesmal täuschte ich mich nicht. Eine knochige Seemannspfote griff dankbar nach der meinen, und halb brummend, um die leichte Rührung hinabzuwürgen, erklärte er freudig: „Mr. Abelsen, vorhin schnitten Sie mir das Wort ab, und doch ist es so: Wir sind keine so üblen Wichte … Die Aufputscher sind tot … Glauben Sie denn, Kapitän Olfers, den ich wirklich verehre, hätte mich damals geschont, wenn ich ein Kerl vom Schlage etwa des Portugiesen gewesen wäre?! — Sehen Sie, die Sache ist die … Ich bin von der alten, ursprünglichen Besatzung des Triton der letzte … Ich weiß doch so einiges über das Land der Tränen … Davon später … Zunächst nur die Geschichte mit Mr. Shnider. Er war sehr reich, sehr, er stammte von Deutschen ab, als der Weltkrieg ausbrach, befand er sich gerade mit Miß Helen in Suez … Er machte aus seinem Herzen keine Mördergrube, schimpfte auf die Gegner der Mittelmächte, besonders auf Rußland, das doch längst eine ganze Armee an der Grenze gesammelt hatte … Man sperrte ihn ein, seine Tochter blieb bei der Mutter des Steuermanns Gordner, Frau Konsul Gordner wurde auch interniert, die Zeit verstrich, die große Lügenhetze brachte auch Amerika in Aufruhr, und die Herren Börsenfürsten mußten doch ihre in das Kriegsgeschäft hineingesteckten Gelder retten, Amerika schlug auch los, und Mr. Shnider, der derweil den Verkauf seiner Besitzungen eingeleitet hatte, wurde von einem Schuft von Rechtsverdreher betrogen, verlor alles … — Was am Suezkanal und in Palästina sich abspielte, wird Ihnen bekannt sein. Miß Helen war es gewesen, die mit jenem Anwalt verhandelte, und Kwang Scho war ihr Bote, der die Briefe besorgte. Beinahe wäre er als Spion erschossen worden … Dann kam der deutsch-türkische Rückzug, Frau Gordner, Helen Shnider und Mr. Shnider verschwanden oder flohen, man hielt sie wohl für tot, der Krieg war aus, und zwei Jahre später musterte ich in Marseille für den Triton an, Besitzer war Frank Shnider. Kapitän war Mr. Olfers, wir nahmen Ladung angeblich für Hodeida, auch Arabien, Geld war in Masse da, und Mr. Shnider spickte heimlich die Besatzung, es kam zur Meuterei, Olfers wurde eingesperrt, und wir fuhren nach New Orleans, wo Shnider, das weiß ich bestimmt, lediglich dem betrügerischen Advokaten eins auswischen wollte … Verständlich! Shnider hatte sogar die Stammfarm seiner Familie in Neumexiko eingebüßt, und das wurmte ihn …! Er hing an dem Hause seiner Väter, — Gerechtigkeit muß sein, aber Olfers hatte davon wie gesagt nichts wissen wollen, ich hörte mal, wie er Shnider grob anfuhr, weil dieser das ganze Unternehmen gefährdete … — Nun, in New Orleans war für den tollen Shnider nichts zu holen, der Rechtsverdreher war zur Hölle gefahren, wir gingen wieder in See, und plötzlich war der zweite Dampfer zur Stelle, den Mr. Bannistar befehligte …“
Bannistar?! — Endlich hatte ich hier jemand gefunden, der mir über Bannistar Auskunft geben konnte.
„Sie kennen Bannistar also?“, — und der alte Matrose merkte wohl, wie begierig ich auf seine Antwort wartete.
„Ja und nein, Mr. Abelsen …!“, erklärte er achselzuckend … „Das andere Schiff begnügte sich damit, uns und Shnider in Eisen zu legen … Ich sah Karl Bannistar nur flüchtig … Ein kleiner älterer Mann, aber eine Stimme und ein Gesicht!! — Entschuldigen Sie, das alles sind für mich scheußliche Erinnerungen … Aber ich kam immerhin ohne Hanfschlinge davon … Ich hatte stets zu Käpten Olfers gehalten … — Shnider hielt ich tatsächlich für tot, sein Name durfte nie mehr erwähnt werden …“
Das genügte mir? Frank Shnider war ausgestoßen worden aus dem Lande der Tränen, — das war seine Strafe, die Strafe für eine Eigenmächtigkeit, für die Gefährdung des Geheimnisses der Flüchtlinge, die da irgendwo eine neue Heimat gefunden und zufrieden und glücklich geworden.
„Und das … Land der Tränen?“, tippte ich vorsichtig an.
Der alte Jan Maat räusperte sich kräftig.
Mr. Abelsen, — wenn Sie es verlangen, wenn Sie drohen …, — gut, dann sage ich das wenige, das ich weiß … Aber Undank bleibt es von mir … grober Undank … Hier, wo die anderen uns nicht hören können: Im Vertrauen,— Kwang Scho hätte die Miß, Miß Helen und die anderen vier nie gefunden … Im Vertrauen: Mein Hirsebeutel bekam ein Loch, die Hirse träufelte heraus, — Sie verstehen …! Nie hätte ich geduldet, daß der Miß ein Haar gekrümmt würde, und das wußte Kwang auch … Ich machte mit den anderen mit, genau wie Kwang es zum Schein getan hatte … Anderseits, — wir konnten uns doch nicht ohne Waffen durchschlagen! Bedenken Sie, — sich durch die Wüste schleichen ohne Schießprügel, das ist sicherer Tod … Sie haben ja die Geschichte mit den Löwen mit angesehen, Mister Abelsen, — Arabien ist kein Vergnügungspark, und hier im Süden schon gar nicht! Also wie gesagt: Wenn Sie mich bedrohen, rede ich … Anders nicht! Ich bin kein Lump, Sie können mir schon glauben — das eine: Niemand kommt in das Land der Tränen hinein, niemand — auch Sie nicht!— Wollen Sie mich zum Undank zwingen?!“
Der Alte hatte seine eigene Art, mich für sich einzunehmen. Noch immer hielt er die Zigarre zwischen den steifen, braunen Fingern … Und erst, als ich sehr bestimmt erklärte, daß ich auf weitere Äußerungen gern verzichte, schnitt er die Spitze ab und begann zu rauchen, sprang auch sofort auf ein anderes Thema über … sichtlich erleichtert und erfreut … „Hoffentlich leben unsere Dromedare noch da unten, Mr. Abelsen … Wollen wir nicht mal nachsehen … Wäre ein Jammer, wenn die Tiere ertrunken wären … Und die da …“ — er zeigte auf die sieben Gefesselten — „die da lassen Sie nur frei … Die sind vernünftig geworden …“
Der Rat war überflüssig. Ich hätte die Burschen ohnedies von ihren Fesseln befreit … Ihre Waffen hatte ich, vielmehr die Helens und der vier Bannistaren …
„Nimm ihnen die Tuchfetzen ab, Alter. Und dann schaufelt die Öffnung frei, hebt die Steinplatten hoch … Ich muß nach meinem eigenen Tier und meinem Hunde sehen … Hier hast du eine Pistole, falls …“
Er winkte sofort ab. „Nicht nötig, Mister Abelsen … gar nicht nötig … Ich bürge für die da … Wenn nur die Dromedare leben …“
Ich kletterte die Talwand hinab, eilte über das Steingeröll, das von Frank Shnider aufgeworfene Loch war durch das Hochwasser nur wenig zugeschwemmt worden, und als ich mich über die gelockerte Platte beugte, hörte ich Schnauben und Prusten, — die Tiere lebten, das Lehmloch war ja auch ein unterirdischer Abfluß für die Regenfluten, und die hochbeinigen Dromedare hatten lediglich ein längeres Bad genommen. Bei der kurzen Dauer der Überschwemmung war die Höhle niemals voll gefüllt gewesen.
Und dann zu Monte … Freund Monte, neben ihm das gemächlich wiederkäuende Dromedar, begrüßte mich mit dem üblichen Jubelgeheul, wir schritten nun zu dreien dem Wadi zu, die Triton-Leute zogen bereits das erste Dromedar ins Freie, der Mond war höher gestiegen, es war fast taghell …
Ich half … Die pudelnassen Dromedare, die äußerst munter waren, schüttelten sich den Sand und den Lehm aus dem Fell, soffen Wasser aus den klaren Pfützen, und das muntere nächtliche Bild gewann noch an Reiz, als erst an der Ostwand ein Feuer aufflammte und ich inmitten der bekehrten Triton-Leute auf das Garwerden der in der Asche bratenden Hirsekuchen wartete. Diese buntgemischte Sippe wollte mir auf jede nur erdenkliche Art ihre Zuverlässigkeit und ihren Diensteifer beweisen, — daß Monte einigen in die Hosen schnappte, machte nichts aus, Gelächter ertönte, Monte fand sich mit dieser Gesellschaft ab, und nur in mir wuchs die heimliche Sorge um Frank Shnider wieder empor … Was hatte der Vater Helens mit Basserre im Sinne gehabt, weshalb diesen eiligen Ritt mit dem Steuermann im Arm gen Westen — weshalb?!
Das nasse Holz der Palmen qualmte und knallte … Das brennende Strauchwerk knisterte. Roter zuckender Schein fiel unregelmäßig über das Wadi …
Urplötzlich hielt ein Reiter vor uns … Auf ganz hellem Dromedar … Ein kleiner, schlanker Mann im Burnus, mit grauem Spitzbart, tiefbraun das Gesicht wie ein Beduine, eigentümlich große, leuchtende Augen …
Der alte Jan Maat starrte ihn an …
Sprang hoch …
„Mr. Bannistar — — Sie?!“
Das war also Karl Bannistar … Alles in allem vielleicht eine Erscheinung, die nichts Imponierendes an sich hatte … Nur die Augen verrieten den großen Geist eines Menschen, der, ein Weltflüchtling, inmitten der pfadlosen Einöden das Land der Tränen zur neuen Heimat gehetzter Kämpfer ausgebaut hatte.
10. Kapitel.
Doktor Karl Bannistar.
Er hielt regungslos, die Büchse quer über dem Sattel. Seine Augen musterten uns, blieben auf mir haften … Er öffnete schon den Mund zu kurzer Begrüßung, — hinter ihm das Trappeln von Hufen, und weit vor seiner Garde jagte Oberst Melville heran, — sein Dromedar stand, seine messerscharfe Hakennase, sein energisches Gesicht mit den glanzlosen Augen und dem schillernden Monokel wandten sich Bannistar zu …
Uns beachtete er nicht.
„Wer sind Sie?! Kein Beduine! Sie sind Europäer …“
Bannistar, um gut einen Kopf kleiner, hatte nur flüchtig gelächelt. Nicht herausfordernd, nicht geringschätzig, — nein, wie in stiller Heiterkeit über besondere Gedanken, die ihm wohl durch den Kopf gingen.
„Lord Melville, — wenn ich richtig unterrichtet bin …“, meinte er gleichgültig.
„Und Sie?!“ Der Oberst drängte sein Tier näher …
„Wir kennen uns, Lord Melville … — Von Suez her … Damals trugen Sie auch einen Spitzbart … Das tägliche Rasieren in den Schützengräben oder sonstwo war unbequem … Ich bat Sie damals um eine Unterredung, Kwang Scho’s wegen … Sie besinnen sich wohl … Sie lehnten ab. Und auch Miß Helens Bitten und Fürsprache und Erklärungen halfen nichts … Sie waren ein sehr schneidiger Soldat, — — ich war dem Namen nach nur Kriegsberichterstatter … nebenbei Arzt … auch Soldat, trotzdem … — Heute?!“ Wieder das unmerkliche Lächeln …
Melville verneigte sich höflich …
„Also Doktor Karl Bannistar, — — heute der Herr eines etwas sagenhaften neuen Volkes …“, meinte der Oberst mit forschendem Blick in das dunkle Gesicht Bannistars.
Er erhielt keine Antwort. — Eine der Palmenkloben knallte, Funken sprühten auf, und in Melvilles Augen erschien ein verfängliches Sprühen …
Die Triton-Leute hatten sich verschüchtert an die Talwand geklemmt, — das Dutzend Reiter hinter Melville, über deren Büchsenläufe der rote Flackerschein des Lagerfeuers hinweghuschte, war eine mehr als nachdrückliche Drohung.
War es nötig, daß die Dinge hier auf die Spitze getrieben wurden, daß die zwei Männer dort wiederum wie einst aneinander vorbeiredeten? — Es lag bereits das gewisse gereizte Fluidum in der Luft … Eine Kleinigkeit, und der offene Zwist war da.
Ich erhob mich langsam … Ich wollte Bewegungsfreiheit haben. Mein letztes und auch erstes Zusammentreffen mit Melville war nicht gerade günstig für den Oberst verlaufen. Ich war noch immer im Besitz seines Reittieres, und dieses Dromedar war Rasse und Klasse.
Karl Bannistar ordnete nachlässig-umständlich die Zügel seines Reittieres und rief halblaut: „Lege dich!“ Das Dromedar, an deutsche Dressurworte gewöhnt, tat sich nieder, und Bannistar glitt aus dem Sattel. — Die ruhige Selbstverständlichkeit seines Tuns wirkte unbedingt imponierend. Es war doch irgend etwas in dieser Persönlichkeit des graubärtigen Mannes, das Achtung abzwang. Er hängte die Büchse an den Sattelknopf, streichelte die Nase seines Dromedars und sagte plötzlich: „Weshalb wollen Sie uns nicht Gesellschaft leisten, Oberst? Sie haben ja Zeit … Ihre Schwester ist in Sicherheit … Sie dürfte sehr bald hier sein. Hilgerström ist ein zuverlässiger Schutz …“ Und zu den Triton-Leuten sich wendend, etwas schärferen Tones: „Zündet euch drüben ein anderes Feuer an … Nehmt eure Hirsekuchen mit … Verschwindet!“
Die acht Mann drückten sich schleunigst. Bannistar schaute ihnen einen Augenblick nach. Zwei hatten dicke Brände aus dem Feuer gerissen, um sich die Mühe des Feueranmachens zu erleichtern, zwei schleppten die Hirsefladen auf einer Wolldecke … Der Geruch der halbgaren Hirsekuchen vermischte sich mit dem Dunst der Qualmfahnen der enteilenden Fackeln.
Lord Melville fragte etwas anmaßend und herrisch, — sein Gesicht war angriffslustig und verärgert: „Mr. Bannistar, ich möchte Ihr Land kennen lernen … Werden Sie mich mitnehmen. Ich … bitte darum!“
Das war keine Bitte, das war halb Drohung, halb Befehl.
Doktor Bannistar entgegnete nur: „Schicken Sie Ihre Leute zurück … Es sind noch immer zu viel Ohren in der Nähe.“
Melvilles Blicke glühten auf — — erloschen.
„Ich ersuche Sie um eine präzise Antwort, Mr. Bannistar … Werden Sie uns mitnehmen?“
„Nein!“
Klar und hart war dieses „Nein!“, und die großen Augen Doktor Bannistars verengerten sich etwas.
Es wurde Zeit … Ich trat schnell auf Melville zu. „Oberst, keine Unüberlegtheiten …! Wenn Sie nur deshalb hier nach Südarabien kamen, um Helen Shnider wiederzufinden, schlagen Sie jetzt jedenfalls völlig verkehrte Wege ein … Glauben Sie, daß Doktor Bannistar ganz allein hier ist?! Sie werden sich täuschen, und Ihr Dutzend Beduinen dort wird …“
„Ich bin ganz allein hier …“ — Der Mann aus dem Lande der Tränen sprach es mit aller Gleichgültigkeit … „Ich brauche keinen Schutz … Melville, setzen Sie sich zu uns, — — Ihrer Schwester wegen … Wenn Sie sich hier als Herr der Situation aufspielen, könnte es geschehen, daß Sie Horatia niemals wiedersehen …“
Und blitzschnell, mit kaum zu verfolgender Handbewegung feuerte er aus einer Pistole vier Schüsse gen Himmel …
Melville wollte zur Büchse greifen … Er war fahl geworden, die Oberlippe ließ die Zähne sehen …
Ich hatte schneller zugepackt, — der Ruck riß ihn halb vom Sattel, sein Tropenhelm kollerte in den Sand …
„Lassen Sie Ihre Pistole stecken, Melville …“ Ich hatte den Sicherungshebel der Remingtonbüchse schon mit dem Daumen herumgeschoben, ich sah, daß das Schloß gespannt war, — — auch die zwölf Reiter hinter Melville rührten sich …
„Aber meine Herren!!“ Doktor Bannistar hatte es gerufen … „Weshalb all das?! — Oberst Melville, bitte … Jetzt werden Sie Vernunft annehmen … Setzen Sie sich doch, schicken Sie Ihre Leute weg, es wäre doch schade um unnötig verschwendete Patronen …“
Er bückte sich, schob einen Lehmklotz als Sitz zurecht, und als er Platz genommen, hielt er die fast zierlichen schmalen braunen Hände über die Glut …
„Eine kalte Nacht …, so kalt, daß morgen früh vielleicht …,“ — er blickte kurz zu Melville hinüber … „— vielleicht das mir längst bekannte Wunder wieder eintritt … — Und deshalb, Abelsen, geben Sie Melville die Büchse zurück … Der Oberst wünscht etwas kennen zu lernen, — es wird geschehen … Bitte, Mylord … Wozu Ihr Zögern?! Streifen Sie doch den Engländer ab … Die Welt gehört nicht ausschließlich Großbritannien … Und die Suez-Zeiten sind vorüber …“ — Es lag etwas so eigentümlich Bezwingendes, jeden Widerspruch Ausschaltendes in dem Tonfall Doktor Bannistars, daß der Lord mit leichtem Kopfnicken seine Büchse aus meiner Hand entgegennahm und genau so bescheiden fragte: „Etwas kennen lernen — — Ihr Land, Doktor …?!“
Bannistar, der sich die Hände über der Glut langsam rieb, entgegnete mit besonderer Betonung: „Sie werden schauen, wonach sich der abenteuerliche Einschlag Ihres Blutes sehnt … Schauen — — nicht sehen … Geben Sie sich damit zufrieden. Ich weiß, daß im Grunde nur das Nichtvergessenkönnen Sie hierher trieb, nur das zweite Motiv war die Abenteuerlust, die euch Briten zur großen Nation gemacht hat … Das Ursprungsmotiv ist … Liebe. Und daß ich selbst dies weiß, Melville, sollte Sie warnen. Ich weiß alles … Ihre Lebensführung liegt als aufgeschlagenes Buch vor mir, die Briefe, die Helen Shnider an Hilgerström schickte, kenne ich, es waren seltsame Briefe, mein Freund, gerichtet an einen Freund und durchwebt mit versteckten Gedanken an einen anderen. — Armer Hilgerström, die Wahrheit traf ihn hart, — er hat überwunden …“
Percy Melville war mit einem Satz aus dem Sattel, mit drei Schritten neben Bannistar … „Sprechen Sie wirklich die Wahrheit, Doktor?“ Seine Stimme war rauh und unsicher. „Bedeute ich Helen etwas?!“
… Und wieder knallte ein brennender Scheit, wieder stoben die Funken, wieder flackerten Sternlein, nur zu kurzlebig, zu den ewigen Sternen empor …
„Es geschieht oft“, sprach Bannistar gedankenvoll, „daß Feindschaft, veranlaßt durch äußere Umstände, sich in andere Empfindungen verwandelt … Vor Suez waren auch wir Feinde, lieber Melville … Jetzt, — — so viele Jahre liegen dazwischen … Für Sie Jahre des Suchens … Sie suchten Helen … Und das hat mich gerührt … Trotzdem, — der zweite Teil Ihrer Sehnsucht wird nur unvollkommen gestillt werden … Sie werden schauen, was Sie zu sehen begehrten … Mein Land, und das ist ehernes Gesetz bei uns, bleibt allen Fremden verschlossen — allen … Auch Abelsen, Hilgerström … Wir kennen die Gefahren der Überfremdung durch Leute, die nicht schicksalsmäßig zu uns gehören … Wir sind verschmolzen zu einer Gemeinschaft, und was wir an jüngerem Blut, an Frauen aufnehmen mußten, geschah insgeheim und zum Nutzen der Gemeinschaft … In einem Jahrhundert werden wir vielleicht Arabien beherrschen, ich werde das nicht mehr erleben … Ich hoffe darauf. Mein Werk ist so ausgebaut, daß es auch ohne mich fortbestehen wird. — Mehr habe ich Ihnen nicht zu sagen, Melville …“
Der Oberst, bereits wieder besessen von dem einen Ehrgeiz, der großen Welt da draußen erschöpfend Kunde zu geben von dem sagenhaften Lande inmitten der Wüste, drehte sich mir schroff zu. „Abelsen, und damit wollen Sie sich zufrieden geben — — Sie?! Was heißt das: Ehernes Gesetz?! Sind wir Vagabunden, die man von den Grenzen einer Stadt wieder auf die Landstraße treibt?! — Abelsen, — — schauen, schauen … so sagt der Doktor!“ Er lachte kurz auf. „Ich verstehe schon den Unterschied zwischen Schauen und Sehen! Aus weiter Ferne wird Bannistar uns vielleicht gestatten, einen Blick auf …“
„Nicht einmal das!“ Des Doktors Worte waren endgültiger Spruch. „Schauen werdet ihr — — nichts weiter! Wir machen keine Ausnahmen. Wir haben warnende Beispiele übergenug!“
Melvilles Züge arbeiteten wie unter dem Ansturm eines inneren Orkans. Melville sah sich betrogen um den Erfolg seiner Expedition, — die Frau, die ihn lockte, war vergessen, nur der tolle Draufgänger war es, der eiskalt und eisenhart erklärte: „Gut, — dann nehmen wir Sie mit, Doktor, — dann erzwinge ich mir, was Sie mir verwehren! — Hallo, — — heran ihr zwölf, — — näher mit euch! Packt zu, — wir sind keine Weiber, die …“
Das stille Lachen Doktor Bannistars ließ ihn ebenso jäh verstummen …
Denn auch Melvilles Eskorte, diese zwölf braunen Burschen, hatten Bannistars befehlende Handbewegung verfolgt, wendeten ihre Tiere und ließen sich am Feuer der Triton-Leute nieder.
Der Oberst stand halb zusammengeduckt da. Sein Blick flog ratlos hin und her …
„Melville“, sagte der Doktor freundlich, „all Ihre Schritte kannte ich … In Aden trafen Sie einen Beduinen, der Ihnen zuverlässige Leute, tadellose Reiter und Schützen, zu besorgen versprach. Er hielt sein Wort, er war einer von uns, Melville, und Ihr ganzer Troß besteht … aus meinen jüngeren Männern … — Man nennt so etwas vorbeugende Politik.“
Der Oberst starrte Bannistar wie einen Spuk der Hölle an. Seine Augen, stets zu beherrscht, loderten. Sein Mund zuckte unaufhörlich. Er sah sich hier einer Macht gegenüber, der er niemals gewachsen gewesen. Seine halb vorgereckten Hände öffneten und schlossen sich …
„Dann … dann allerdings …“, stieß er kaum verständlich hervor, „dann … habe ich hier nichts mehr zu suchen …“ Er hatte jede Herrschaft über seine Stimme verloren … Auch über sich selbst … Sein verletztes Selbstbewußtsein fand nicht den richtigen Weg zur Heilung. Noch war er Lord Percy Melville, der geglaubt hatte, erzwingen zu können, was ihm nicht freiwillig geboten wurde. „Ich … fühle mich als … Narr, nichts weiter … Aber — — ich werde zurückkehren …! Später … Wir rechnen ab, Doktor Bannistar … — Wo ist meine Schwester?“
Der Doktor hatte sich erhoben, ich mit ihm …
Melville war von Sinnen …
„Meine Schwester — — wo?!“, — es war ein ungezügeltes Brüllen … „Wo? Antworten Sie!“
„Reiten Sie an diesem Tal entlang gen Westen, und Sie werden die roten Berge finden, und droben ein Feuer“, sagte Bannistar leise. „Das Feuer sollte freilich eine andere Bedeutung haben. — Ich bedauere diese Wendung … Ich habe Ihre Motive falsch taxiert … Helen Shnider ist doch nur zweites Motiv, — — ich bedauere auch das.“
Der Oberst war schon im Sattel …
Sein letzter Ruf von der Talwand galt mir. „Abelsen, Sie sind sehr bescheiden … Ich werde sehen, — — ich bin Percy Melville … Was sind Sie, — — erraten Sie es …?“
Sein Tier trabte an … entschwand jenseits der Uferhöhe.
Bannistar blickte in die zuckenden Flammen. „Er ist ein ganzer Kerl, weiß Gott … Nur etwas fehlt ihm noch … Er hat stets Erfolg gehabt, das macht übermütig und steigert das Selbstbewußtsein ins Krankhafte … Ich glaube, Abelsen, es könnte nichts schaden, wenn Sie ihm folgten … Ihr Tier ist ausgeruht … Vielleicht richten Sie etwas aus … Hilgerström, Horatia Melville und einige andere befinden sich auf Frank Shniders Bergterrasse … Frank wieder als einer der unsrigen … Seine Leidenszeit ist um … Er hat seine Heimat wiedergefunden, wiedererobert …“
Ich griff nach Bannistars Händen. „Doktor, — das war gerecht und gütig von Ihnen …! — Nur noch eine Frage, bevor ich aufbreche: Wozu die vier Schüsse vorhin?!“
„Signale, mein Freund … Helen war auf dem Wege hierher … Sie wäre zu früh gekommen … Melville verdient dieses Glück nicht — noch nicht.“
11. Kapitel.
Die Oase der Besessenen.
Die Nacht war so hell, und es war noch nicht einmal Mitternacht. Der Mond kletterte höher, die Sterne funkelten feuriger, und die kalte Luft umbrauste mich wie ein belebender Strom. Mein Dromedar jagte dahin ohne jede Anstrengung, Melville hatte kaum tausend Meter Vorsprung, und die beließ ich ihm, ich erkannte ihn immer wieder wie einen flinken Schatten dort vor mir, wo die helle Dämmerung die Umrisse der Landschaft verwischte und zum grauen Streifen malte …
Knarrendes Sattelzeug, die leisen Hufschläge des Dromedars im lockeren Sande, dazu Freund Montes leises Keuchen, — das war die Begleitmusik. — Monte zurücklassen, war unmöglich gewesen …
Vorhin waren Frank Shnider und ich auf dem Hinwege in dem breiten Wadi entlanggeritten und hatten nur kurze Strecken der Talhöhen kennen gelernt. Diese vorsichtige Verfolgung Melvilles zeigte mir zu meinem Erstaunen die tote Wüste in all ihrer Launenhaftigkeit und Unberechenbarkeit, was Vegetation und Tierwelt betrifft. — Tagelang kann der Fremde durch die Roba el Chali irren, und vielleicht findet er morgens die frischen Spuren von Schakalen, Springmäusen oder die riesigen Fährten von Straußen. Die Tiere selbst bekommt er nie zu Gesicht. Wenn er Glück hat, oder ein ortskundiger Führer ihn leitet, stößt er auf bescheidene Oasen, deren Nähe zumeist schon von weitem halbdürre Drachenbäume anzeigen.
Wenn er Glück hat …
Und ich hatte in dieser Nacht, in der so vieles auf mich eingestürmt war, sogar seltenes Glück. Wir mochten kaum erst eine Stunde unterwegs sein (es ging immer am Nordrande des Wadi entlang), als der Boden sich beträchtlich senkte und eine ungeheuere Mulde mich urplötzlich aus dem Sandmeer in einen Vegetationsgürtel führte, der immerhin einen bescheidenen Wald mit Unterholz darstellte.
Percy Melville jagte auch hier wie gehetzt weiter.
Der Drachenbaum tauchte in unzähligen Exemplaren auf, Palmen wuchsen mit riesigen Kronen zwischen den hochragenden Stämmen, Kathsträucher, Aloe und Wacholder bildeten das Unterholz, und auf den felsigen Stellen wucherte die eßbare Mannaflechte so dick wie Moospolster …
Wie war es nur möglich, daß diese Mulde, die keinerlei Verbindung mit dem Wadi zu haben schien, diese Pflanzenmenge hervorgebracht haben konnte?! Zweifellos mußte hier in den Tiefen des Bodens sich ein Wasserreservoir befinden, das durch Verdunstung den dürren Boden unmerklich tränkte. Und genau so bestimmt war anzunehmen, daß dieser Wasserbehälter durch unterirdische Abflüsse aus dem Wadi immer wieder aufgefüllt wurde. — Mir, der ich immerhin von technischen Dingen als früherer Ingenieur einiges verstand, mußten beim Anblick dieses für die Wüste fast rätselhaften Pflanzenüberflusses die Lehmlöcher im Wadi sofort in Erinnerung kommen. In einem solchen Lehmloch, schon mehr Höhle, hatten die Triton-Leute sich schlau versteckt: Dieses Loch gehörte mit zu der natürlichen Bewässerungsanlage dieses scheinbar flachen, in Wahrheit doch recht tiefen Nebentales, dessen Ränder sich kaum merklich vom Wüstensaume abzeichneten und dessen Gefälle ebenso allmählich zur Talsohle sich neigte …
Eine andere Frage blitzte in dem ohnedies so aufgerührten Hirn auf: Weshalb war diese große Oase menschenleer, weshalb hatte keiner der freilich sehr spärlichen Beduinenstämme diesen Platz für sich belegt?! — DasTal war bestimmt eine Meile lang … Die Breite konnte ich noch nicht abschätzen.
Ich befand mich bereits zwischen den ersten Drachenbäumen, als mein Dromedar ganz von selbst das bisher flotte Tempo mäßigte …
Die helle Nacht, das Mondlicht warfen auf den Boden dunkle Flecken … Büsche vertieften das zweifelhafte Dämmerlicht, und lange Strecken gefährlicher Dornen zwangen zu immer neuen Umwegen.
Mit einem Male vernahm ich weit vor mir ein eigentümliches, kurzes, scharfes Kreischen, das in knurrende Laute überging und erstarb.
Ich stutzte nicht nur, — ich hielt sogar unwillkürlich mein Tier an. Hatte ich recht gehört?! Die Töne kannte ich … Blitzartig zogen Bilder von einst an dem überwachen Geist vorüber … Es gab einmal eine Insel, es gab einmal einen halbtoten Mantelpavian, den ich gesund gepflegt hatte und der dann,lange Zeit mit so inniger Liebe und aufopfernder Treue mein Gefährte gewesen, daß ich ihn nie vergessen konnte.
Men Huleb …!
Und Malmotta, das Unbekannte, — — die Insel …
Das war damals wie ein aus Brandungsrauschen, Palmenrauschen und Sonnenfäden gewobener Traum gewesen — — unvergeßlich …
Und hier: Der Warnungsschrei eines Mantelpavians!
Auch Freund Monte stand still … Knurrte bescheiden … Seine buschige Rute sank … Ihm war unbehaglich zu Mute, sein Instinkt warnte ihn …
Daß der Mantelpavian in Südwestarabien einst sehr häufig gewesen, war mir bekannt. Kein Wunder, daß er hier die spärliche Tierwelt bereichert hatte: Afrika und Abessinien waren ja so nahe, und dort sind diese überkräftigen, wilden, beißwütigen Affen beheimatet. Daß Afrika und Arabien einst einen Kontinent bildeten, bevor die Meeresstraße von Bab el Mandeb entstand, die doch nur eine schmale Wasserscheide, einen schmalen Erdriß darstellt, — diesen Zusammenhang der beiden Gebiete beweisen ja auch die völlig gleiche Flora, dann die ähnliche Tierwelt, insbesondere das Vorhandensein des Löwen in den Wüstenflächen Arabiens.
Der Mantelpavian ist nun kein angenehmes Äffchen, sondern ein ganz gefährlicher Nachbar für menschliche Siedlungen. Seine Einbrüche in Felder und Pflanzungen erfolgen stets herdenweise, und was für ungeheueren Schaden diese Tiere zum Beispiel in den Kaffeeplantagen des südlichen Jemen, der Heimat des Mokkas, angerichtet haben, steht noch heute in den Berichten der weißen Verwalter dieser Plantagen vermerkt. — Ein Vernichtungsfeldzug begann … Mit Gift, Kugel und Schlinge stellte man den muskelstrotzenden Burschen nach, und genau wie Löwe, Wildesel und Schakal vor der Zivilisation kapitulieren mußten, tat es auch das Pavianvolk. — Wer heute die fruchtbaren Randgebiete Arabiens bereist, muß schon sehr abseits wandern, um noch eine kleine Pavianherde anzutreffen. Und seltsam: Wo der Pavian noch vorhanden, fehlt auch der Löwe nicht und sein jämmerlicher Tischabräumer, der Schakal.
Und hier nun, — erst nur der eine Warnungsruf eines sicherlich alten Männchens, das gerade Wache hatte.
Erst nur, — — dann ein infernalisches Konzert, wie ich es nicht einmal auf den Hochebenen Abessiniens im Paradiese der Mantelpaviane vernommen hatte …
Ein satanisches Heulen, Quietschen, Schreien, Knurren, Brüllen, — unmöglich zu beschreiben …
Die tote Wüste, die stille Oase war jäh erfüllt von allen Schrecken der Hölle …
Das Todesschweigen war ausgelöscht …
Die Unholde der Tiefe schienen aus ihren Verstecken emporgeschnellt zu sein …
Und waren doch nur aufgestörte Affen …
Affen — aber mit Reißzähnen im langen Maule wie Raubtiere, mit Gliedern, deren Muskelfülle überrascht … Man stelle sich in einem zoologischen Garten vor den Käfig eines Mantelpavianmännchens, man reize das Tier, und es fliegt wie ein Teufel gegen die Stäbe und rüttelt daran, das Gesicht ist wildeste, zügelloseste Wut …
… Ein Schuß knallte in der Ferne …
Noch einer …
Der Satanschor schwieg zwei, drei Sekunden.
Dann brach es von neuem los …
Das mußten ja hunderte von Affen sein, — das war keine Herde, das war ein ganzes Volk, das jetzt zum Angriff überging …
Das war auch nicht nur das diabolische Lärmen dieser Pelzkragenaffen, — das war wie das viehische Gekreisch entmenschter Weiber, die einst zu Zeiten der großen französischen Revolution gleich toll gewordenen Hexen das Fallbeil umlagert und jeden frisch abgehackten Bürgerkopf mit dem Unflat ihrer Vertiertheit begrüßt hatten, — — bis wenig später ein Napoleon erschien und den ganzen grauenvollen Spuk dieser Art Freiheit gründlich beendete …
Wieder dröhnten Schüsse …
Längst hatte ich mein Dromedar wieder angetrieben, obwohl es nach der Seite ausbrechen wollte …
Monte schlich hinterdrein …
Er schlich …
Wir kamen über eine mondhelle Blöße …
Wie ein Gespenst lauerte drüben ein großer weißer unregelmäßiger Fleck im tiefen Schatten …
Ein blühender Kathstrauch[2] …
Wären meine Sinne nicht so erstaunlich empfänglich für alles gewesen, hätte ich diesem weißen Gespenst kaum eine Bedeutung beimessen. Ein Strauch voller Blüten, — was besagt das?! Vielleicht nichts … Aber dieser Strauch wird zum grimmen Ungeheuer, wenn man urplötzlich sich besinnt, was man einst, als die Wege abseits vom Alltag nur in Druckerschwärze, in den Berichten kühner Forscher vor einem alle Wunder der Ferne auftaten, über diese verderblichen Blüten und ihre Wirkungen gelesen hatte.
Das Gedächtnis setzt ein wie ein Motor, — das Gedächtnis schreibt in feurigen Lettern inmitten dieser Nacht, inmitten dieses satanischen Brüllens und inmitten der Zauberfülle einer fast unwahrscheinlichen Vegetation einen Namen, einen Titel auf die unebene Fläche des Waldsaumes:
Forster,
Historical geography of Arabia …
Student war ich gewesen … Das Abenteurerblut rührte sich schon … In Staatsbibliotheken suchte ich nach Sensationen … Der Engländer Forster lieferte sie mir … Er hatte Arabien bereist, er hatte sein Leben gewagt, er hatte den geheimsten Geheimnissen nachgespürt … Keiner jener albernen Schreibtischgelehrten, die da aus alten Schmökern neue zusammendrechselten und klügere Kollegen vorsichtig bestehlen und mit lebensfremdem Gewäsch Reklame machen und für sich die Reklametrommel rühren lassen …
Was hatte dieser Forscher doch da über den Kathstrauch und die Paviane geschrieben?! Gerüchte waren zu ihm gedrungen … Daß die Affen, die die Blätter des Kath verschmähten, zur kurzen Zeit der Blüte dieses Höllenstrauches gerade die Blütchen verzehren und … davon toll werden …
Toll wie die Araber, die dem Kathgenuß frönen …! Denn die Kathblätter sind schlimmer als Morphium, Kokainpulver oder Heroin!! Billiger, — — umsonst zu haben! In allen Hafenorten Südarabiens schwanken diese ausgemergelten Kathesser umher … Zuerst erhöht der Kath wie das Morphium in trügerischer Weise die Leistungsfähigkeit, feuert an, — — das Ende ist der körperliche und seelische Ruin.
Davon schrieb Forster … Und prüfte die Gerüchte nach … Ging in die Wildnis, beobachtete die Paviane, und fand die Mär bestätigt: Zur Zeit der Kathblüte glichen die Mantelpaviane bluttrunkenen Unholden …, bekämpften einander, zerfleischten sich eines begehrten Weibchens wegen, unternahmen lange Streifzüge wie die Amokläufer, die töten müssen, überfielen selbst den Löwen, griffen Karawanen, Ortschaften an …
Das war zu einer Zeit, als es keine Repetiergewehre gab, als Forster sein Leben mit elender Vorderladerbüchse verteidigte — — gegen toll gewordene Affen …
Und was er da geschildert hatte, das war nicht das seichte Gesäusel irgend welcher Asphaltliteraten, deren Hirnschmalz von Geburt an ranzig ist, — das war ein schlichter Bericht von Tatsachen, mit dem eigenen Blut gleichsam geschrieben …
— Ich begriff, was da vor mir sich abspielte. Ich begriff auch, weshalb diese Oase gemieden wurde …
Affen waren hier die Herren …
Keine ausgeputzten Zirkusschimpansen, die Rollschuh laufen, sondern vierhändige Teufel mit Reißzähnen, Muskeln wie Eisen und mit einer krankhaften Wut, einer besinnungslosen Todesverachtung, einem wahnwitzigen Draufgängertum.
Das war es …
Ein ander Ding, als im bequemen Schreibsessel bei parfümeriertem Zigarettendreck noch übleren Intelligenzdreck zusammenzuschustern …
Wer dieses Gebrüll da vor mir hörte und bisher vielleicht vor jedem Schießprügel weltspießerlich-friedfertige Abscheu verspürte, der wäre kuriert gewesen für alle Zeit … Der hätte denen geflucht, die ihm das Mannestum und die Waffenfreude spitzfindig und feige so allmählich wegkastriert hatten … Der hätte vielleicht hinterwärts den Hosenboden befühlt und dort vielleicht Neues, etwas Neues und Ungewünschtes gespürt …
… Das satanische Kreischen entfernte sich …
Mein Dromedar zitterte …
Monte war ganz still.
Ich wußte: Es ging um Melvilles Leben …
Ich wußte, daß Hilfe hier fast ausgeschlossen. Wie sollte ich helfen? Drei, vier der tollen Viecher konnte ich abknallen … Dann hing sicherlich schon ein Dutzend andere an mir, zerriß mir die Schlagadern, zerfetzte Monte, zerfleischte das Dromedar!
Helfen?!
Und doch — ich mußte! — Es gibt ein Gebot der Stunde, das über dem Selbsterhaltungstrieb steht … Es gibt eine Pflicht, die nur die kennen, denen nicht die Seele verseucht wurde durch weibisches Gefasel von „Menschenliebe“, — von mißverstandener Menschenliebe, die doch nur wieder kläglichste Selbstsucht in all ihren Formen ist.
Pflicht! — Das alte Sparta tötete seine Krüppel, das alte Rom feuerte die Massen zur Waffenliebe durch Gladiatorenkämpfe an. Die alten Germanen hatten hinter ihrer Schlachtfront ihre Weiber und Kinder als Ansporn zu allerletzter Hingabe …
Das war die Pflicht der Wehrhaften.
… Mein Dromedar scheute, schnaubte und bockte …
Furcht … Angst …
Ein Fausthieb zwischen die Ohren …
Blindlings raste es vorwärts …
Durchbrach die Büsche, flog über Dornen hinweg …
Dann verschwand das Unterholz …
Das Brüllen vor mir blieb … kam näher … ich kam näher …
Vereinzelt standen Drachenbäume …
Uralte Burschen …
Und dann — sah ich es …
Die Hetze, die Flucht, den Mann, die Verfolger …
Im Mondlicht …
Hinter Melville eine Woge hüpfender Leiber.
Affen …
Trunkene Paviane … Besessene, toll gewordene …
Eine Woge, die vorn spitz zulief, die nie zur Ruhe kam, die vorwärtssauste …
Hunderte von Pavianen …
Und der einzelne Mann da keine dreißig Meter Vorsprung …
Sein Tier lahmte …
An dem linken Oberschenkel des hinkenden Dromedars klebte ein Klumpen: Ein Pavian! — Tot, erschossen, — aber selbst im Tode hatte das furchtbare Gebiß sich nicht geöffnet …
Wie bei einem Iltis, der sich mit letzter Kraft in die Hand eines Schützen verbeißt, eines Jägers
Der Chor der Teufel war seiner Beute sicher.
Das Dromedar taumelte …
Ich hätte schreien mögen …
Schreien, daß Melville einen Baum erklettern solle …
Ich wollte … Er tat es von selbst …
Da war ein Urgroßvater von Drachenbaum. Einsam … Rundum Felsen …
Da wagte Melville den Sprung aus dem Sattel … Hatte Glück … Zog sich empor, saß, feuerte mit der Pistole … Unten im Gestein strampelte das Reittier …
Melville schoß mit eisernen Nerven …
Er erkannte die ältesten, gefährlichsten Männchen an den schönen, weißen Pelzkragen. Die knallte er ab …
Die kreischende Satansbrut stockte, — die hüpfende Woge umbrandete den Baum …
Einzelne Bestien schnellten empor …
Der Oberst schoß wie auf dem Scheibenstand. — England hat nicht ohne guten Grund die halbe Welt erobert … Seine Helden sind vom Schlage des einarmigen Nelson, dem eine Kanonenkugel nur lästige Mücke war.
Helfen?!
… Ich hielt in dreihundert Meter Abstand …
Überlegte …
Monte winselte
Das Dromedar bebte …
Ich dachte nach: Helfen!
Und der ohnedies so aufgepulverte Geist, in dessen Tiefen die Frage nach dem Lande der Tränen nie ganz zur Ruhe kam, scheint mir zuzuraunen:
„Neben dir!! Neben dir!!“
… Stimme aus dem Unterbewußtsein?!
Neben mir?
Ja — da steht auch so ein Großpapa von Drachenbaum … Bereits erstorben … Tot … Aufgespalten durch die feurige Himmelslohe eines Blitzes … Etwas angekohlt … verbrannt …
Verbrannt …, — — jähe Ideenverbindung: Feuer!!
Nur Feuer kann die Bestien verscheuchen, die jetzt nach kurzer Atempause zum Generalangriff ihre Signale kreischen …
Trocken wie Zunder sind Holz und Rinde des toten Wüstenbaumes … Splitter armdick, schenkeldick, hat der Blitz abgerissen …
Runter aus dem Sattel …
Kaum am Boden, jagt das Dromedar davon. Monte bleibt …
Ein Fünkchen sprüht auf …
Rinde knistert … Holz flackert … Flammen lecken weiter …
Am Fuße des toten Baumes liegt haufenweise Brennmaterial … Die roten gefräßigen Zünglein breiten sich aus … Ein Feuergürtel umschließt den Baum, mit Stiefel und Büchsenkolben verbreitere ich diesen Gürtel …
Vor mir beginnt der Sturm auf Melville …
In jeder Hand einen der dicksten brennenden Scheite — so wage ich das einzige, was hier helfen kann …
Renne hinüber … Der Luftzug bläst das Feuer an, meine Fackeln versengen mir die Hände, das Gesicht …
Melville feuert …
Ich laufe … Bin mitten in der Welle tollwütiger Bestien …
Feuer, — — das lieben sie nicht …
Eine schmale Gasse …
Funken stieben …
Melville springt herab, — wir stürmen zurück. Hinter uns her ist Satans Armee …
Ein paar der Mantelpaviane fliegen uns in den Nacken …
Schüsse bellen … Meine Fackel fährt der einen Bestie in die offene Schnauze …
Ein Gürtel von roter Glut wird übersprungen, — ich packe Monte beim Genick, der Oberst ist schon emporgeklettert, ich reiche ihm den Hund, klettere hinterdrein …
Jenseits des Feuerkreises lauern die blanken Augen …
Schillern im Feuerglanz …
Wie Wolfsaugen …
„Danke Ihnen, Abelsen …“, sagt Lord Melville herzlich. „Daß ich einmal vor Affen ausreißen würde, hätte ich auch nie geglaubt … Die Viecher müssen schlechten Whisky gesoffen haben. Begreife ich nicht, diese Frechheit!“
Er setzte sich bequemer …
„Hm — was tun wir mit der Bande, Abelsen?! Sobald das Feuer niedergebrannt ist, haben wir sie wieder auf dem Halse …“
Ich sitze reichlich ungemütlich. Monte ist kein Schoßhund … Im übrigen hat Melville ja recht: Sehr lange werden wir nicht mehr geschützt sein, — — und dann?!
„Reißen Sie die trockene Rinde ab, Oberst … Hinab mit allem Brennbaren in die Glut … Mein Hund hindert mich, — — dort ist ein geknickter, dicker Ast …“
Melville turnt höher …
Der Ast kracht …
Die Höllenbrut da unten ist still …
Glotzt nur …
Ein paar verwundete Tiere wimmern …
Der Ast kracht, bricht, fällt …
Ein Funkenregen fliegt empor …
Und dann — die Paviane sind zurückgewichen — kommt durch die augenblickliche Stille aus nächster Nähe ein anderer Ton …
Ich horche auf …
Ein Ton wie aus einer gestopften Trompete — — ganz tief … fast wie das dumpfe Gähnen eines Riesen …
Melville ist ganz Ohr …
„Abelsen — — ein Löwe!!“
„Das Löwenpaar, denke ich, — Frank Shniders Nachbarn …“
In die Reihe der hockenden lauernden Pelzkragenträger fährt Unruhe …
Die Köpfe mit den spitzen Hundeschnauzen drehen sich alle nach der einen Richtung …
Und dort, von Westen her, hinter einer Bodenwelle zwei gelbe Tiergestalten — wie hingezaubert …
Auf dem hellen Sande sieht man sogar ihre Mondschatten … Löwe und Löwin lassen die Schweife pendeln …
Wieder brüllt der Herr mit dem dicken Kopf, und seine Frau jault tief und drohend …
Die Luft scheint zu vibrieren unter dem Übermaß der Kraft dieser Lungen, … die Paviane drängen sich zusammen, ein paar Männchen stolzieren aufgeregt hin und her …
„Nicht schießen, Melville!“
Ich flüstere nur …
Dann schreit des Obersten niedergebrochenes Dromedar …
Wie Dromedare schreien — in Wut oder in Todesangst …
So, als ob ein Riesenmesser über einen Riesenteller gleitet und kreischt, daß den Menschen die Zähne stumpf werden.
Uns läuft es wie Eistropfen über den Rücken.
Scheußlich …
Das Dromedar mit dem Klexs am Schenkel rappelt sich auf …
Der Löwe tut drei, vier Sprünge …
„Nicht schießen, Melville!!“
Jetzt schreie ich …
Schlage ihm den Büchsenlauf hoch …
„… Dort — — Reiter, Melville … Fackeln …“
Wie eine punktierte feurige Linie braust ein Reitertrupp heran …
Die Löwen huschen davon … Die Paviane sind bereits im Unterholz verschwunden …
Durch die Blößen der Oasen jagen sie herbei, zwanzig, dreißig Beduinen, allen voran eine kleine hagere Gestalt: Doktor Karl Bannistar!
Viele Holzscheite qualmen … Roter Schein zuckt über sein braunes Gesicht, sein Tier steht …
„Gott sei Dank …“, — er ist erregt, die Stimme unausgeglichen … „Gott sei Dank, das war nicht beabsichtigt, das … klappte nicht ganz.“
Ich lasse Monte zu Boden gleiten …
Melville springt, steht vor Bannistar: „Was klappte nicht?!“
Der Herr des Landes der Tränen schaut Melville scharf an.
„Oberst, — es sollte eine heilsame Kur werden für Sie, aber die Dosis war schlecht berechnet … Ich hatte meine Leute mehr in der Nähe geglaubt.“
Die dreißig Reiter halten im Schatten … Der Lichtschein des erlöschenden Feuergürtels umspielt nur uns drei.
Melville nickt nur … „Verstehe, Doktor … Sie wußten, daß ich hier diese besessenen Teufel aufstöbern würde … Sie wollten mein eigenes Ich so etwas umkneten lassen — — durch Paviane!! Allerdings eine eigentümliche Kur!!“
Bannistar sagte mit Nachdruck: „Oberst, man soll es sich abgewöhnen, nur seinen eigenen Willen gelten zu lassen …!“
Percy Melville streckt ihm die Hand hin …
„Da haben Sie wieder mal recht, Doktor … Das war eine verteufelte Geschichte hier … Ich habe durchaus nichts dagegen, mich von Löwen zerreißen zu lassen, aber von Affen …!! Die Bestien waren ja toll …!!“
„Kath!“, sagte Bannistar … „Kath, mein lieber Oberst … Essen Sie ein Dutzend Kathblüten, und Ihnen wird zu Mute sein wie einem Kokainschnupfer … so ähnlich …“
„Was Teufel!!“, entschlüpfte es Melville … „Diese verwünschten, wildwuchernden Rauschgiftspender?! Sie glauben wirklich, Doktor, daß die Mantelpaviane so verkommen wie Menschen sind und das Zeug kauen und den Saft hinabwürgen?! Ich hielt es bisher für ein Märchen … Affen erschienen mir zu klug für solchen Unfug.“
„Es ist wahr …“, — Doktor Bannistar spähte scharf nach einigen seiner Leute aus, die die toten Affen abzuhäuten begannen, während ein paar andere sich um Melvilles Dromedar bemühten.
Percy Melville hatte sich auf eine Sandwelle gesetzt und schaute vor sich hin. Nach den aufrüttelnden Vorfällen der letzten halben Stunde mußte bei ihm die Reaktion erfolgen, sein Nervensystem mochte unverbraucht sein, — wer aber diesen diabolischen Chor so dicht hinter sich gehabt hatte, der mußte sich jetzt notwendig für eine Weile erst wieder sammeln.
„Es … war scheußlich …!“, murmelte er nur, und sein Griff nach dem Zigarettenetui in der Brusttasche zeigte eine leicht schlotternde Hand.
Bannistar hatte sich entfernt, sprach mit den Seinen, — Freund Monte lag japsend zu meinen Füßen, er wie ich waren auch etwas mitgenommen …
„Bitte, Abelsen …“
Wir rauchten schweigend … Wir hatten das Schlachtfeld dicht vor uns. Ihre Verwundeten hatten die Paviane mitgenommen, aus den fernen Tiefen der Oase erklang zuweilen ein Stöhnen und Wimmern wie ein Kinderstimmchen. — Das unappetitliche Geschäft des Abhäutens ging den Bannistaren flink von der Hand, die Kadaver flogen in, ein Sandloch, es waren zumeist Männchen, alles Prachttiere, wie man sie selten zu sehen bekommt. Ich konnte nun auch einzelne Gesichter der Leute des unbekannten Landes deutlicher erkennen, es waren in der Tat nicht nur Deutsche, auch kleine, etwas fette Türken waren darunter, wenige schwarzhaarige Bulgaren von stämmigem Wuchs, noch weniger Österreicher, — ich hörte sie halblaut sich zurufen, alle sprachen deutsch, aber ein gewisser Dialekt war doch geblieben.
Melville hakte seine Feldflasche los … „Auch ein Schluck gefällig, Abelsen? Tee mit Whisky … Das flaue Gefühl bei mir im Magen läßt bereits nach … — Eine verteufelte Geschichte!! Verrückte Affen wie von Tollwut befallene Hunde, nur noch gefährlicher, — — ich sage Ihnen, als die Bande hinter mir her war, habe ich das Gruseln gelernt. Bannistars Heilmethoden für Gemütskranke passen sich durchaus der schönen Gegend hier an … Ich war verrückt, als ich so mit meinem dicken Schädel durch eine Mauer rennen wollte — bildlich … bildlich, nur der dicke Schädel ist wirklich vorhanden, — hier …“, — er tippte sich gegen die Stirn. Er hatte den Kopf gehoben, und sein Monokel funkelte mich an, er lächelte etwas … „Ich war nicht recht gescheit, Abelsen … Ich übersah, daß vor der Mauer, die ich einrennen wollte, ein Mädchen stand … Und, weiß Gott, — Helen Shnider ist mehr wert als ein kurzer Besuch in Bannistarien … Der Doktor hat die Motive meiner Expedition hierher wieder richtig geordnet … Man sucht doch nicht jahrelang nach einem prächtigen Weibe, das man nicht vergessen kann, und benimmt sich dann schließlich eigensinnig wie ein kleiner Junge, der durchaus sein Spielzeug aus dem großen Kramladen haben will …“
Ich verstand ihn. Er hatte seine Gesundung nur in vorsichtige Worte gekleidet.
„Und …Helen selbst?“, fragte ich diskret. — Mochte er die Frage deuten, wie er wollte.
Percy Melville lachte jetzt … Noch nie hatte ich diesen Mann mit den toten, glanzlosen Augen so glücklich lachen gehört …
„Helen, mein Lieber?! Denken Sie, ich hätte die Gelegenheit versäumt, als Helen meine Gefangene war?! Ich habe keine Romanphrasen gedrechselt … Das liegt mir nicht. Ich sagte ihr, wie es in all den Jahren in mir ausgeschaut hatte.“ Seine Stimme wurde immer weicher. Der ganze Mann war verwandelt. — „Suez, Abelsen … Suez! Da kam sie zu mir und bat für Kwang Scho … Aber wir alle waren damals mehr Landsknechte aus dem Mittelalter als Gentlemen … Wissen Sie, was sie mir ins Gesicht fauchte, die süße Katze, als ich unerbittlich blieb …? — „Major Melville, Sie werden einst vor mir liegen und auch bitten …!!“ — Sie mag es anders gemeint haben. Ich habe jedenfalls gekniet, Abelsen … Vorgestern … Bevor ich sie und ihre vier Leute freigab … Und ihre Antwort … Raten Sie mal. Ihre Antwort lautete: „Armer Hilgerström, ich fürchte, er hat meine Briefe falsch gedeutet … Man schreibt zuweilen an einen Mann, und den anderen meint man …!“ — Und dann ist sie schon im Sattel gewesen … Nur ihre Hand erwischte ich noch … Immerhin, es war ein Kuß, wenn auch nicht auf die Stelle, die ich mir wünschte. — — Komische Käuze sind wir Kerle doch, Abelsen … Vor zehn Minuten wehren wir uns die Horde Hundsnasenaffen von der Pelle, jetzt reden wir über Gefühle intimster Art …“
Mit einem Male stand ein kleiner Mann im Burnus vor uns, der drei Dromedare am Zügel führte. Unter der Kapuze grinste freundlich Kwang Scho’s Knabengesicht.
„… Der Doktor“, sagte er etwa so, als hätte er an unserem Gespräch teilgenommen, „ist bereits vorausgeritten … Ich denke, wir brechen auf … Sie wollten doch das Land der Tränen schauen. Wir werden sehr scharf reiten müssen, bevor wir Mr. Frank Shniders Bergterrasse erreichen. Also — — bitte …“
Melville erhob sich schnell und schüttelte dem Chinesen derb die Hand. „Kwang Scho, ich werde Sie nie mehr zum Tode verurteilen“, — es sollte ein versöhnlicher Scherz sein, aber der gelbe schlitzäugige Koch vom Triton erwiderte merkwürdig ernst: „Mylord, in meiner neuen Heimat, die ich liebe, weil ich die Menschen dort liebe, bin ich, Kwang Scho, den der gute Doktor klug und weise gemacht hat, nicht einer der Dienenden, sondern der Befehlenden, da wir ein kleiner Staat sind, der nur die Verdienste und die Fähigkeiten anerkennt … In Ihrem großen Reiche, Mylord, bilden Sie ein Sandkorn … unter vielen. Ich bin ein Stein unter Sandkörnern, und mein Zeigefinger, Mylord, — — nun, lassen wir das …“ Er pochte nur noch einen schnellen Wirbel auf den Kolben seiner Büchse, und dann brachen wir auf. Ohne jedes weitere Wort. Melville war etwas nachdenklich geworden. Er mochte ahnen, daß der Tod ihm hier verschiedentlich sehr nahe gewesen, auch ohne die Mantelpaviane.
Von der Talhöhe blickte ich zurück … Ich wußte, daß ich die Oase der Affen nicht wiedersehen würde.
Meine Gedanken eilten dagegen weit voraus.
Es waren noch immer so viel dunkle Fragen um das verbotene Land …
12. Kapitel.
Das Land der Tränen.
Kwang Scho ritt zwischen uns. Es war empfindlich kalt, und man merkte nur zu gut, daß die Gewitterregen dort im Nordost in unendlichen Mengen herabgeströmt sein mußten.
Der Chinese hatte zweifellos Befehl, uns gewisse Fragen, die wir vielleicht unterwegs an ihn richten könnten, zu beantworten.
Melville hatte die leichte Abfuhr von vorhin bereits verwunden. Trotz des sehr scharfen Tempos, das Kwang vorlegte, fragte er nach eine Weile:
„… So weit mir erinnerlich, waren es damals vor Suez etwa zweihundert Mann der Mittelmächte, die während des überstürzten Rückzuges von den Beduinenstämmen abgedrängt wurden …?“
„Zweihundertachtzig, genau, Mylord …“
*Wie war es möglich, daß diese Truppe sich so weit nach Süden durchschlug …?“, setzte Melville mit dem Interesse des alten Soldaten die Unterhaltung fort.
Kwang erzählte …
Es war ein Abenteuerroman für sich …
Kwang erzählte so nüchtern, wie etwa ein Polizeiberichterstatter, der für die Presse die Notizen ausgibt.
Nicht einmal diese Umgebung der stillen, pfadlosen Einsamkeit konnte des Chinesen kühle Sachlichkeit irgendwie abschwächen. Der Sinn für Romantik fehlte ihm …
Er erzählte von Kapitän Olfers, der der Truppe, die fünfzig Lasttiere mitführte, vom Flugzeug aus immer rechtzeitig die Warnungen vor Beduinenschwärmen zugehen ließ. Der Oberbefehlshaber war Bannistar, und nach sechs Wochen erreichte die große Karawane das Gebirge … In der ersten Zeit hatte es fast täglich Gefechte gegeben … In Mittelarabien hörte das auf. Zum Schluß schlich eine Truppe verwegener, halb verdursteter Gestalten durch die Wüste.
„… Die Lasttiere hatten wir geschlachtet, Wassermangel drohte mit Tod, die Leute murrten gegen Bannistar … Zehn taten sich zusammen, Bannistar zu ermorden … Es waren die schäbigsten Kreaturen“, sprach Kwang mit eisiger Verachtung. „Sie wollten selbst Herren spielen und waren nur Diebe und Narren. Ihre Gebeine haben die Aasgeier verstreut, ihre Namen sind vergessen. Und dann eben … fanden wir das Land, das der Doktor gesucht hatte. Doktor Bannistar kannte Arabien … Wir fanden auch alles, was wir brauchten … Sogar mehr als das. Wir fanden Steinkohle, Gold, — wir waren reich. Und dann, als wir uns erholt hatten, als drei von uns nach Masarlan geritten waren und die Nachricht mitbrachten, daß der Krieg verloren und die Welt draußen nur noch weiter Haß, Hader, Ungerechtigkeit sei, beschlossen wir zu bleiben. — Wir waren reich, ich sagte es schon … Wir konnten unser Land mit allem versorgen und es doch gegen alles abschließen … Wir machten uns unsere eigenen Gesetze, und deren erstes war: Kein Fremder darf zu uns! — Wir wollten glücklich bleiben … Die Verheirateten von uns hatten Weib und Kind längst bei sich, auch Brüder, Schwestern, Eltern, die zu uns paßten. Fortan jedoch war unser Land wie eine Insel in einer unüberwindlichen Brandung. Wir alle fühlten uns als Brüder, die schlechten Elemente, — — fragen Sie die Aasgeier, Mylord … Und heute, jetzt?! Wer hätte ein Interesse daran, uns zu stören?! Wer könnte es?! Niemand! — Alles übrige, — — Sie werden es schauen … Schon viele Nomaden schauten uns, wenn die Witterungsverhältnisse günstig waren … — Ich denke, das ist genug …“
Kwang Scho war während des letzten Teiles seines Berichts nicht mehr der kühle Chinese geblieben. Er begeisterte sich an seinen eigenen Worten, er fand fanatische Töne der ehrlichen Begeisterung und Hingabe, er wuchs in dem Stolz und der Freude über die neue geheimnisvolle Heimat über sich selbst hinaus. Aber auch ein drohender, warnender und eherner Hauch durchwehte seine Worte, als er davon sprach, daß diese Heimat gegen jeden fremden Eingriff und Zugriff mehr als genügend gesichert sei.
Melville hatte ihn prüfend von der Seite angeschaut … Vielleicht drängte sich das englische Weltbeherrscherblut für Augenblicke bei ihm wieder an die Oberfläche, vielleicht erschien es ihm für Sekunden unerträglich, daß wirklich einmal die Voraussage Doktor Bannistars eintreffen könnte: Daß in hundert Jahren dem neuen Volke ganz Arabien untertan sein könnte, daß deutscher Unternehmungsgeist, deutsches Organisationstalent und deutsche Gründlichkeit auf dieser riesigen Halbinsel, die die Brücke nach Europa, Asien und Afrika bildete, die festen Fundamente für ein neues System der Weltmachtverteilung legen könnte. Vielleicht wollte er etwas fragen, — er war bereits besonnen genug, diese Frage zu unterdrücken …
Nur eins — und er kam mir damit zuvor — wünschte er noch zu wissen.
„Kwang Scho, wir danken Ihnen für diese Aufschlüsse … Vieles hörten wir schon aus Bannistars Munde, — nur eins blieb unerörtert: Ihr nennt euch Bannistaren, euer Land Bannistarien, aber nebenbei sprecht ihr auch von dem Lande der Tränen, obwohl geradezu hierzu doch jeder Grund fehlt. Euer Gebiet ist reich an Naturschätzen, scheint auch fruchtbar zu sein, nicht minder leicht zu verteidigen … Liegt da nicht ein Widerspruch in dem fast schwermütigen Ausspruch: Land der Tränen?!“
Der intelligente Chinese, aus dessen kleinen Augen noch immer der wunderbare Glanz einer feurigen Seele sprach, die in dem Gedanken an die neue Volksgemeinschaft vielleicht gerade jetzt aufpeitschenden Erinnerungen an die eigenen Schicksale nachhing, erwiderte in völlig anderem Tone, der mich etwa an Freund Holgers von Schwermut durchwehte Beichte über seine einseitige Verbindung mit Helen Shnider gemahnte:
„Mylord, meine persönliche Einstellung zu allen Dingen, die das rein Geistige in uns betreffen, also auch die Mystik und die Religion — beides an sich untrennbar — wird am besten dadurch geklärt, daß ich Ihnen anvertraue, daß ich kein reinblütiger Chinese bin. Mein Großvater war ein deutscher Seemann …“ Mit kurzem Ruck zog er die Kapuze seines hellen Burnus nach hinten … „Mein Haar scheint hart wie Chinesenhaar und ebenso schwarz … Das arische Blut hinterließ doch seine Zeichen: Sehen Sie! Mitten auf meinem Scheitel — und mein Haar ist weich — wächst eine dicke Strähne blonden Haares … Das ist vielleicht der Unterschied zwischen uns Ostasiaten und den Negern: Das Negerblut zerstört, paßt sich nicht an, bleibt wie die schleichende Pest im fremden Körper … Unser Blut paßt sich an, unsere Charaktermerkmale desgleichen, — wer als Chinese deutsche Ahnen hat, wird Deutscher! Und deshalb, Mylord, hatte ich volles Verständnis dafür, daß Doktor Bannistar, der dem Trupp damals vor Jahren weit vorausgeritten war und als erster allein auf dem neuen Heimatboden lagerte, jene seltsamen, fremden Blumen, die er dort fand, mit einfügte in all das, was uns an Symbolen jenes abenteuerlichen Zuges heilig geblieben, — Blumen, Mylord, Gewächse von der Riesengröße von Sonnenblumen, aber mit den Blüten von Stiefmütterchen, mit Blüten, die fast menschlichen Gesichtern in ihrer Zeichnung glichen … Unter diesen Blumen lagerte unser Doktor ganz allein und wartete auf das Eintreffen des Haupttrupps. Als der Morgen kam, hing der Tau auf den Blütenblättern dieser Blumen … Sie schienen zu weinen, — nicht Tränen des Schmerzes, sondern der Freude, weil wir die Heimat gefunden hatten. Niemand von uns, Mylord, vermag an jene Nacht zurückzudenken, in der der Doktor dort erschöpft die anderen erwartete, ohne ein Bild zu sehen, das uns geradezu heilig geworden: Ein kleines Lagerfeuer, an dem Feuer ein einsamer Mann, der selbstlos Tag und Nacht nur auf das Wohl der Allgemeinheit bedacht war, — über ihm wie die Künder reifer Lebensweisheit die Gesichter der Blüten! — — — Das, Mylord, ist unser Bild der Dankbarkeit, der Verehrung … Vielleicht gehört die seelische Einstellung germanischen Blutes dazu, hierin etwas Heiliges zu erblicken … Man könnte es die Ehrfurcht vor der Tradition nennen, Mylord, — Sie als Engländer besitzen diese Ehrfurcht … Ihr Volk wurde groß, weil es die große Vergangenheit als steten Ansporn zu noch Größerem auswertete …“
Melville sprach nichts mehr …
Schweigend ritten wir dahin, bis weit vor uns ein Stern über dem Horizont aufleuchtete, der mit seinem ruhelosen Schimmer mit jeder Minute an Umfang wuchs, bis wir erkannten, daß es ein großer Holzstoß war, der droben auf Frank Shniders Terrasse brannte.
Wir waren am Ziel.
In dem Tale zwischen den beiden Bergen, wo die Geröllhalde den Erdriß, den Stollen zu Shniders Feste, verbarg, standen bereits etwa sechzig Dromedare, daneben ein paar Pferde, auch Horatia Melvilles wunderbarer Rappe, und eine ganze Anzahl Bannistaren als Wächter, die uns durch freundlichen Zuruf begrüßten.
Unsere Ankunft war bemerkt worden, Shnider kam uns entgegen, nicht mehr der Geächtete von einst, — nein, ein Mann, der wieder aufgenommen worden war in den Kreis derer, die er jahrelang hatte meiden müssen.
Er preßte mir die Hände, — er vermochte nicht zu sprechen, — er winkte nur, und wieder einmal kletterte ich in dem Schachte empor, der für mich so viel Bedeutung besaß.
Droben um das Feuer ruhten zwanglos auf Wolldecken altbekannte Gesichter: Der Doktor, Horatia Melville, der lange Holger, Helen und zwei Fremde mit blonden Bärten …
Bannistar legte seine Zigarre weg …
„Mylord, — lieber Abelsen, — bitte, — hier Kapitän Olfers, hier Steuermann Gordner … Beide vom Triton, wie Sie wissen, beide durch Kwang Scho gerettet …“
„Ich besinne mich: Tonnenfloß!“, sagte ich nur, und Olfers schüttelte mir die Hand.
Melville hatte sich Helen genähert. Sein kühnes Gesicht war nachdenklich verlegen … Zumal auch Holger Hilgerström dabei stand.
Helen Shnider nickte Melville jedoch sehr zwanglos zu … „Sie sollen da ein wenig angenehmes Abenteuer gehabt haben … Nun, es ist glimpflich abgelaufen …“ Der Schalk blitzte aus den großen Augen … „Wollen Sie mir einen Paviankragen bescheren, Melville? — Nicht wahr, man muß auch einmal eine hohe Leiter abwärts steigen, um die Dinge aus richtiger Höhe abschätzen zu lernen …“
Der Oberst blieb sehr ernst. „Ich würde diese Leiter der Erkenntnis bis unten preisgeben“, sagte er leise, „— wenn ich … das Land der Tränen nicht nur schauen dürfte … Es ist auch Ihr Land, Miß Helen, und ich werde heimkehren — — ohne Erfolg …“
Jeder verstand ihn. Er meinte nicht mehr den draufgängerischen Ehrgeiz, über das geheimnisvolle Land berichten zu können, er meinte das, was ihm das Herz schwer machte: Daß Helen für ihn unerreichbar blieb.
„Warten wir ab …“, — Doktor Bannistar ließ sich wieder auf seine Wolldecke nieder. „Es bleiben uns noch drei Stunden, bis die Sonne hoch genug steht … Abelsen, bitte, neben mir ist noch Platz …“
Der mächtige brennende Holzstoß erinnerte mich flüchtig an ein anderes Land, an eine andere Umgebung … Einst hatte ich droben in den Nordweststaaten Amerikas eine nächtliche Hindueinäscherung beobachtet. Und hier?! War es nicht, als ob diese knisternden Flammen auch irgend etwas für immer zu Grabe trügen?! — Melville tat mir unendlich leid, er hatte seiner heimlichen Liebe viele Jahre lang in Treue gedient, er hatte geforscht, gehofft, er wollte an Helens Tod nicht glauben, und nun, da er das Mädchen seines Herzens gefunden, war sie ihm unerreichbarer denn je … Sie gehörte in das ferne, unerreichbare Land, dessen oberstes, ehernes Gesetz lautete: „Kein Fremder — — nur wir, die Bannistaren!“
Aus dem Knistern der Flammen, aus dem Rauschen der emporlodernden Glut erklang mir eine Melodie — etwas, das so ungeahnt kraftvoll, mächtig und packend wie sonst nichts dem deutschen Hörer das andächtige Ohr umschmeichelt und die Seele erschüttert:
Im fernen Land, unnahbar euren Schritten,
Steht eine Burg, die Montsalvage genannt.
… Unnahbar euren Schritten …!
Das war es, — das war das Hindernis, das Percy Melville niemals überwinden würde …
Und anderes rauschte an mein Ohr, — des Doktors leise raunende Stimme, die mir so Nebensächliches berichtete … Was bedeutete es gegenüber dieser Tragödie zweier Herzen, daß Bannistar die Meuterer vom Triton wieder in Gnaden aufgenommen hatte, daß Steuermann Basserres’ Leiche …, — ich hörte kaum hin … Ich zergrübelte mir den Kopf über das Geschick von Menschen, die mir lieb und wert geworden, ich fand vielleicht einen geringen Trost darin, daß der Eifer, mit dem Freund Holger und die kecke Horatia sich halblaut unterhielten, nicht gerade darauf schließen ließ, daß Holger an der Enttäuschung Helens wegen sehr schwer trüge … Nur ein schwacher Trost … Blickte ich zu Melville hinüber, sah ich ein ernstes, verschlossenes, hartes Gesicht mit den unverkennbaren Falten schwerer Seelenkämpfe um den Mund. Melville blieb stumm … Was er da aus Höflichkeit Frank Shnider erwiderte, mochten Redensarten sein, die ihn quälten.
Nicht viel anders war es mit Helen …
Dieses Mädchen, die so urdeutsch fühlte und dachte, bereitete sich vielleicht innerlich ebenfalls für einen Abschied für immer vor …
Langsam brannte der Holzstoß nieder, langsam glomm im Osten der neue Tag auf … Es wurde hell … Die seltsame klare und doch so unwirkliche Helle der Zeit kurz vor Sonnenaufgang traf zum Teil müde, abgespannte, in das unabwendbare Geschick ergebene Gesichter.
Doktor Bannistar war mit Kwang Scho abseits getreten …
Sie flüsterten miteinander, der schmächtige Chinese zeigte auf vier Streifen einer zerschnittenen Wolldecke, die er in der Linken hielt.
Bannistar kehrte zu uns zurück … Der große Bannistar, der aus seiner Person so gar nichts machte, der ein schlichter Deutscher geblieben und doch Herr eines Landes war, das einst die Geschicke der Völker beeinflussen konnte. Das Weltgeschehen und die Geschichte der Völker kennt keine engen zeitlichen Grenzen … Völkergeschicke sind wie Kurven, ein ewiges Auf und Ab, bis aus dem Niedergang wieder der Aufstieg wird …
Der Doktor Karl Bannistar war keiner jener politischen Scharlatane, die den Eigennutz vor Gemeinnutz stellen und die nur die Fähigkeit besitzen, diesen Eigennutz für ein Tröpflein Zeitgeschichte schlau zu verschleiern.
„Meine Freunde, die Stunde ist da …“, sagte er seltsam feierlich. „Die Stunde naht, in der ich mein Versprechen einlösen kann: Ihr werdet schauen, was ihr begehrt …“
Kwang Scho kam näher …
„Ich werde euch führen. Nur mit verbundenen Augen dürft ihr dorthin, wo das ferne Land winkt … — Mylord, bitte … Ich möchte Ihnen die Binde befestigen, und Sie werden sie nicht eher lösen, bis Sie drei Schüsse hören … Sie versprechen mir das?“
Melville erbleichte. Sein hilfloser Blick flog zu Helen hinüber, — sie hatte sich abgewandt, — dann schaute er Doktor Bannistar an, und schwer und hoffnungslos kam die Bitte über seine Lippen:
„Dürfte ich Miß Helen ohne Zeugen in ihres Vaters Blockhütte sprechen?“
„Nein!“ Bannistar lehnte diese Bitte mit ruhiger Bestimmtheit ab … In seinen Augen lag trotzdem ein Schimmer reinster Herzensgüte. „Nein, Lord Melville …! Alles wird zu seiner Zeit belohnt oder gesühnt — alles … Das Gute siegt stets, das Schlechte, — nun, denken Sie an das Ende der Aufrührer des Triton …“
Percy Melville wagte keinen Widerspruch, keine Auflehnung.
„Leben Sie wohl, Helen … Sie wissen, was ich verliere …“, — vielleicht wollte er noch etwas hinzufügen …
Helen drehte sich um … „Leben Sie wohl, Percy …“
Der kleine Kwang reckte sich bereits empor, und vor Oberst Melville versank das Bild vor ihm in Dunkelheit.
Kwang befestigte die Augenbinde sehr fest, sehr sorgfältig. Horatia kam an die Reihe, dann Holger, zuletzt ich …
„Doktor …“ — und ich wagte ein letztes — „es entspricht kaum Ihrer Wesensart, hier zwei Menschen …“
„Seien Sie getrost, Abelsen …“
Und dann preßte sich auch vor meine Augen der dicke, undurchsichtige Stoff. Die Welt versank auch für mich in Finsternis …
Abwartend stand ich da …
Eine Hand umschloß die meine, ein sehr fester langer Händedruck, dazu Bannistars Stimme …:
„Abelsen, wir danken Ihnen … Sollte je die Müdigkeit der Erdenpilger abseits vom Alltag Sie befallen: Sie kennen Masarlan, Sie kennen den Perser … Vielleicht — — auf Wiedersehen …“
Seine Hand löste sich, eine andere folgte … Viele Händedrücke wurden es, viele verschiedenartige Worte … Ich vernahm deutlich, daß Bannistar auch von meinen Gefährten sich verabschiedete, — aber die Unruhe und Ungewißheit in mir rauschte als feuriger Gedankenstrom durch mein Hirn, — Ich hörte das Poltern von Steinplatten, das schwere Arbeiten und Atmen von Männern, die irgendwelche Hindernisse wegräumten, — die damaligen Eindrücke, als ich mit verbundenen Augen wie auf ein Wunder wartete, sind in meinem Gedächtnis heute wie weggewischt — — heute, wo ich wie in einem Zuge im Prachthotel in Masarlan diesen Abseitsweg zu Papier bringe und nur Monte mich zuweilen stört, wenn er allzu eifrig mit der Hinterpfote sein Fell kratzt und auf die Dielen klopft.
…Dann fügte der eilfertige Kwang unsere Hände zusammen …
„Gehen Sie vorsichtig … Erst fünfzehn Stufen … Zählen Sie …!“
Wir tappten wie die Blinden …
Endlos schien der Weg …
Stufen auf, Stufen ab, dreißig Schritt hierhin, zwanzig dorthin … Wieder Stufen … wieder Schritte … endlos …
Und doch merkte ich sehr bald, daß Kwang Scho wohl absichtlich uns mehrmals denselben Weg leitete.
Endlich befahl er, nein, er bat:
„Fühlen Sie hinter sich … Setzen Sie sich eng nebeneinander …“
Wir saßen auf hartem Gestein …
Es wurde still ringsum …
Totenstill …
Ich hatte Holgers Hand in meiner Linken gehabt … Die Hände lösten sich …
Ich war der letzte der Reihe gewesen.
Aus der Ferne kam Kwangs Stimme:
„Leben Sie alle wohl … Doktor Bannistars Güte sei mit Ihnen!“
Vier Menschen warteten. Die Welt lag für sie in Finsternis. Aber sie fühlten die Strahlen der Sonne, die bereits den Dunst des Horizonts überwunden hatte.
Vier Menschen sollten schauen. — Was wohl? Lag etwa das verbotene Land in einem Kessel dieser Berge? Ich wußte ja, wir saßen ganz oben auf der Kuppe des Berges des Geächteten …
Wir horchten … Drei Schüsse sollten unsere Augen befreien von den fest schließenden Binden. Und dann?
…Ich hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als der ganz ferne Knall dreier Schüsse zu uns empordrang.
Ich griff zu, riß die Hülle weg …
Blinzelte etwas … Die grelle Lichtflut blendete …
„Dort!!“, rief Horatia atemlos … „Dort … sehen Sie … dort …!“
Wir waren aufgesprungen … Wir standen mit den Gesichtern nach Norden … Unter uns zog sich die leere Wüste hin … Aber über dem endlosen Sandmeer schwebte, wie losgelöst von aller Erdenschwere, der Teil eines rötlichen Gebirgszuges, mitten darin ein endloses Tal mit grünen Matten, mit Palmenhainen, mit einem blinkenden Bach, mit hellen, zierlichen Blockhäusern, mit einigen größeren Gebäuden, — ein Dorf, eine kleine Stadt, — daneben Felder, weidendes Vieh, Menschen, klein wie Pünktchen, — — aber das Gebirgstal unendlich groß, umgeben von steilen Wänden, umgeben von der trostlosen Kahlheit unfruchtbaren Gesteins …
Eine Fata Morgana …
Nur das …
Eine Luftspiegelung … Jedoch jede Einzelheit erkennbar … Das Bild war von so überraschender Klarheit, daß wir den Rauch wahrnahmen, der aus den Schornsteinen der Blockhäuser stieg, daß wir in den Feldern einen Motorpflug arbeiten sahen, — — und so nahe erschien das Luftgemälde, als könnte uns ein Ritt von Minuten dorthin führen …
Keiner von uns sprach …
Wir schauten nur … Wir wußten, daß das Bild zerrinnen würde, und unsere pochenden Herzen suchten das Bild zu bannen …
Neben mir hörte ich Melvilles schweren Seufzer …
Ich kannte seine Gedanken, seine Sehnsucht.
… Die äußeren Grenzen der Luftspiegelung zerrannen bereits …
Noch war das grüne Tal, das Land der Tränen der Freude, in allen Einzelheiten uns verblieben. So nahe, und doch unerreichbar fern … —
Wie ein Zittern und Wogen ging es nun auch über den Hauptteil des Bildes hin, — es zerrann, wurde immer durchsichtiger, bis es völlig verschwand und an seiner Stelle in endloser Ferne hohe Berge den Horizont absperrten.
Wir hatten das verbotene Land geschaut, nicht gesehen …
Und das Schauspiel war vorüber …
Die nackte Wirklichkeit umgab uns.
„Wie oft“, fuhr es mir durch den Sinn, „mochte Frank Shnider hier oben gewartet haben, ob sich nicht ihm, dem Ausgestoßenen, wenigstens das Bild seiner Sehnsucht zeigte! Wie oft!“
Noch immer regten wir uns nicht … Aus einer Traumwelt in den Alltag sich zurückfinden erfordert Zeit, und wir wünschten den Alltag nicht. Wir hatten schauen dürfen, und wir begriffen nun, daß Männer und Frauen, denen das Treiben der verlogenen Welt ein Ekel geworden, dort in der Ferne das Glück gefunden haben mußten.
… Und wir?!
Hinter uns ein Geräusch … Ein fester Schritt: Frank Shnider!
„… Meine Freunde, ihr werdet keinen der Bannistaren mehr zu Gesicht bekommen“, sagten er eigentümlich bewegt. „Ich und mein Kind sind ausgeschieden aus dieser Gemeinschaft … Ich habe nur noch Helen, und — — vielleicht Sie, Percy Melville … Gehen Sie dort die Stufen hinab zu meiner Terrasse … Helen erwartet Sie … Wir, mein Kind und ich, gaben unendlich viel preis der Liebe wegen … Melville, machen Sie meine Helen glücklich … Sie hat dich geliebt, Percy, — — all die Jahre, — wie du auch sie liebtest …“
Die Terrasse war uns verborgen …
Aber wir hörten Melvilles jubelnden Ruf der Sehnsucht … der unendlichen Freude: „Helen — — Helen …!!“
* * *
… Blicke ich durch das Fenster über den in der Sonnenhitze bratenden Hafen von Masarlan mit den beiden gekrümmten Halbinseln, — lasse ich die eilende Feder eine Weile ruhen und spüre den Ereignissen nach, die hier in diesem Raume begannen, der jetzt von dem Geruch eines scharfen Vertilgungsmittels der kleinen Blutsauger dunstet, dann überspringen die Gedanken all die bunten Hindernisse und nur ein Bild bleibt vor meiner Seele bestehen: Das Bild des Landes der Tränen!
Was zwischen der Stunde, als ich Helen Shnider die Karbidlaterne in den Leuchtturm tragen sah, und zwischen jener frühen Morgenstunde auf der Kuppe des Berges des Geächteten liegt, ist nur Kulisse … Auf der Bühne des Lebens ragen die Gestalten der Mitspieler eines seltenen, seltsamen abenteuerlichen Zuges durch pfadlose Einsamkeit empor, — im Vordergrunde die bescheidene Gestalt des kleinen großen Bannistar …
Ich habe das Land der Tränen geschaut, und eine Offenbarung ging in mir auf: Der Glaube daran, daß das Schicksal immer wieder Wege findet, eine versprengte Schar von Suchenden auf eigener heimatlicher Scholle zu vereinigen!
… Unten aus dem Schankraum höre ich Horatias helle und Holgers dunklere und Jim Hobbins etwas krähende Stimme …
Abends soll Abschied gefeiert werden …
Der Triton liegt schon unter Dampf …
Vom Triton stößt soeben ein Boot ab, — zwei sitzen darin … Aber das Boot kommt nicht recht vorwärts … Melville hat Helen zumeist auf dem Schoße … — An der Reling erkenne ich Vater Shniders braunes Gesicht, neben ihm das feiste, aufgeschwemmte des Persers, — und beide grinsen nachsichtig …
Abends feiert ganz Masarlan …
Und die strengsten Glaubenssätze des alkoholfeindlichen Mohammed werden von seinen braunen Bekennern für diese Nacht wieder einmal gestrichen …
Jim Hobbins hat Whisky besorgt, der sogar den wenigen noch vorhandenen Flöhen leidlich mundet …
— Als ich früh morgens im Hafen mein Bad nehmen will, stolpere ich über verschiedene Scheinleichen, und als ich der Nordhalbinsel zustrebe, kehre ich wieder um … Horatia und Holger pflücken dort keine Kokosnüsse, sondern Zärtlichkeiten … Und auch das ist mir recht …
Freund Monte schießt hinter mir in das aufspritzende Wasser, wir tollen in der blauen Flut umher, die Sonne bricht durch, ein neuer Tag ist da …
Ein Wassertropfen hängt mir an den Wimpern, und im Sonnenglast schwillt er an und funkelt und enthüllt die Geheimnisse seines Inneren …
Ich schaue hinein, und ich sehe das Land der Tränen, das Land der Einsamen, Glücklichen, — das ferne verbotene Land des inneren Friedens, nach dem wir uns alle, alle sehnen …
Der Tropfen zerrinnt …
Freund Monte bellt bereits am Ufer, schüttelt sich …
Palmen knistern im Morgenwinde, weiße Möwen streichen vorüber …
… Ein deutscher Heldensang verklingt …
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Fußnoten:
1 In Sarajevo verübte am 28. Juni 1914 der 19jährige serbische Nationalist Gavrilo Princip, Mitglied der serbischen Terrororganisation „Junges Bosnien“, einen tödlich verlaufenden Anschlag auf das österreichische Thronfolgerpaar. Der Vorfall löste die „Julikrise“ aus, die in den Ersten Weltkrieg mündete.
2 Catha edulis, auch Abessinischer Tee. Die Pflanze dient der Herstellung einer berauschenden Droge.