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Strandhafer-Geheimnisse

Strandhafer-Geheimnisse

von

Richard Lange

 

Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin.S.O.26. Elisabethufer.44.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1921 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO. 26.

 

 

1. Kapitel

Der Heringsbändiger.

Wenn Waldemar Graf die Kundschaft bediente, war er ein ganz anderer Waldemar als der, den man abends in der ‚Viktoria-Bar‛ oder sonst einer kostspieligen Vergnügungsstätte des altbekannten Seebades antreffen konnte.

Der Kolonialwarenhändler Graf hatte für jeden Kunden, besonders jede Kundin ein köstliches Wort. Wog er die winzige Butterkartenportion ab, schwor er tausend Eide, daß es das nächste Mal mindestens pro Nase ein Pfund Butter geben würde. Wog er Käse ab, so schwor er, es sei echter dänischer ‚Vollfett‛, und fügte dann lächelnd die Einschränkung hinzu: ‚Behauptet mein Lieferant.‛ Hatte er die Zuckerportion auszugeben, sagte er zu den Köchinnen: ‚Ich möchte Ihnen das Leben sehr gern noch mehr versüßen, aber der Staat will es ja nicht, Fräulein.‛ –

Wenn die verbitterte, übernervöse Frau Major a.D. Schulze ihre Einkäufe erledigte, erkundigte er sich in höflichster Weise nach ihrem Befinden. –

Kurz und gut: Waldemar Graf war als Verkäufer ein Genie!

Dazu verfügt er über ein Äußeres, das ihm ebenfalls so manche Kundin einbrachte. Er war groß, schlank, kleidete sich stets tadellos, pflegte die Hände und – war als Kaufmann äußerst gerissen.

Aber – nach Geschäftsschluß, da kam dann erst der wahre Waldemar zum Vorschein. Hatte er mit seiner Mutter – der alten Graf war vor einem Jahr gestorben – zu Abend gegessen, so erklärte er stets: „Ich gehe ein wenig spazieren.“

Das war gelogen. Er dachte gar nicht daran. Er dachte nur an irgend eine Soubrette, Diseuse, Vortragskünstlerin oder moderne Tänzerin, die er in einer der ‚Dielen‛ entdeckt hatte.

Frau Amalie Graf wußte das. Sie wußte aber auch, daß ihr Waldemar all diese leichtfertigen Damen nur platonisch und ‚sehr sparsam‛ verehrte. Wo hätte er wohl auch das Geld hernehmen sollen, die Ansprüche derartiger ‚Damen‛ zu befriedigen, deren Liebe doch zumeist erst nach Empfang wertvoller Geschenke zu erwachen pflegt?!

Nein – ihr Waldemar ‚spielte‛ nur den Lebemann. Davon war sie überzeugt. Sie hielt ihn ja trotz seiner sechsundzwanzig Jahre so überaus knapp. Gewiß – er bekam Gehalt, ganze tausend Mark monatlich. Davon mußte er ihr aber sechshundert für Kost und Logis abgeben.

Das Geschäft gehörte ihr. So hatte es ihr verstorbener Mann gewollt. Und Sie benahm sich auch ganz als alleinige Inhaberin. Im Laden stand eine Kontrollkasse. Und Frau Amalie weilte zumeist ebenfalls im Laden. Sie war sehr, sehr geizig, diese kleine, rundliche Frau mit dem grauen Scheitel und dem weißen Häubchen. Sie traute niemandem. Sie traute es selbst ihrem Waldemar zu, daß er sich ‚Nebengroschen‛ machen würde, falls er Gelegenheit dazu fände. Aber – diese Gelegenheit gab es nicht, glaubte sie. Und wenn ihr dieser oder jener mal erzählte, ihr Waldemar hätte in der ‚Kakadu-Bar‛ Sekt gezecht, lächelte sie nur. Sie wußte es besser: Waldemar war eben von einem Freund, einem leichtsinnigen Freund, eingeladen worden! Er selbst – Sekt?! Wo jetzt die Flasche neunzig Mark kostete?! Ausgeschlossen!

Nein – Waldemar war in allem ihr Sohn! Er verstand sich alles billig einzurichten. Mochte er doch abends ruhig in den Bars und Dielen mit den Künstlerinnen zusammensitzen – er war ja jung, und er würde diese ‚Lebemannssucht‛ nie zu verfänglichen Taten ausarten lassen – nie! Sie kontrollierte ja auch stets heimlich seine Brieftasche. Mehr als zehn Mark gab er abends nie aus, wenn er ‚den Kavalier‛ markierte, natürlich in Halblackschuhen, Seidenstrümpfen, polierten Fingernägeln und seidener Unterwäsche. –

Gewiß – auch zehn Mark waren viel zu viel für Frau Amalies Sparsamkeit. Aber – sie wagte sich da nicht mehr einzumischen, seit einer Aussprache, bei der er erklärt hatte, er wurde ins Ausland gehen, falls sie ihn zu bevormunden suche.

Das war so Waldemar Grafs Leben seit zwei Jahren – seit er aus englischer Gefangenschaft zurückgekehrt war. Denn auch Papa Graf war ganz vom Schlage seiner braven Ehehälfte gewesen und hatte das einzige Kind in allem kurz gehalten. Dann war er gestorben, und da hatte das gemeinsame Testament der Ehegatten den Sohn bis auf weiteres zur Stellung eines Verkäufers herabgedrückt.

Waldemar hatte das gelassen hingenommen. Er war überhaupt schwer aus der Ruhe zu bringen. Die drei Jahre in englischer Gefangenschaft hatten ihm echt englisches Phlegma eingetragen.

Waldemar Graf war ein sehr ‚komplizierter‛ Charakter, wie man zu sagen pflegt. Das wird der Leser sehr bald erkennen. Was wir bisher von ihm wissen, ist noch lange nicht alles – lange nicht! –

Ende Juni war’s. Die Saison in Heilmünde, See- und Solbad, ließ sich gut an. Im Strandviertel war bereits alles an freien Wohnungen und Zimmern vermietet, und auch in der Stadt mehrten sich die Nachfragen nach dem Preis der diversen ‚Logis‛, denn es kamen ja nicht lediglich Kriegsschieber nach Heilmünde, sondern auch solides Publikum mit knappem Geldbeutel.

Frau Amalie Graf vermietete während der Saison ebenfalls ein Zimmer, und zwar den ‚Salon‛. Das tat sie seit zwanzig Jahren, und sie hielt am Althergebrachten fest, besonders, wenn es Geld abwarf.

An der Ladentür hing denn auch seit Mai eine Papptafel mit entsprechendem Aufdruck, den Frau Amalie noch durch die mit Bleistift geschriebenen Worte ‚elegant‛ und ‚eventuell mit voller Beköstigung‛ ergänzt hatte. –

Ein Montag sonnenklar, windig, erquickend.

Waldemar Graf hatte soeben der Köchin von Sanitätsrats zwei Pfund Pflaumen abgewogen und dabei erklärt: „Es sind echt bosnische Pflaumen von vorzüglichem Geschmack – ebenso geschmackvoll wie Ihre neue Bluse, Fräulein –“

Dann war er vor die Tür getreten und hatte den mit hübschen Anlagen geschmückten Platz überschaut. Ja – das Grafsche Geschäft hatte eine vorzügliche Lage, gerade auf der Grenze zwischen Stadt und Strandviertel dicht am Kurpark. –

Waldemar sah, daß der Stadtgärtner Stiefmütterchen in die Beete pflanzte. Er freute sich, er liebte Blumen – nicht nur die Künstlerinnen der Bars und Dielen.

Über den Heile-Platz – so hieß dieses Anhängsel des Kurparks – kamen ein Herr und eine Dame.

Waldemar stutzte, verschwand schnell im Laden, dachte:

‚Donnerwetter – die Lia Melba vom ‚Schwarzen Kater‛! Es ist nicht gerade nötig, daß sie dich als Heringshändler wiedererkennt –‛

Er lugte durch das Fenster. Die Melba reichte dem Herrn jetzt die Hand und machte kehrt.

Fesch sah sie wieder aus – fesch! –

Waldemar seufzte.

Der Begleiter der Vortragskünstlerin trug einen großen, etwas schäbigen Koffer und am Riemen über der Schulter einen photographischen Apparat im Futteral. Auf den Koffer war noch ein Stativ aufgeschnallt. Vor der Ladentür blieb er stehen. Er hatte die Papptafel bemerkt, studierte den Aufdruck, sah sich das Haus flüchtig an und kam nun zögernd herein.

Waldemar stand hinter dem Ladentisch.

„Womit kann ich dienen?“ fragte er, den Herrn kritisch musternd.

Hm – dessen Aufmachung war so recht schäbig-elegant. So eine Eleganz, die noch aus der Vorkriegszeit stammte

Dann schaute Waldemar dem Herrn ins Gesicht – ebenfalls kritisch.

Und – nun starrten sich zwei Augenpaare überrascht an.

„Herr – Herr Oberleutnant!“ stotterte Waldemar. „Herr von Wendstein – sind Sie’s wirklich?“

Die grauen Augen des ehemaligen Offiziers forschten in den Zügen des jungen Kaufmanns.

„Ah – Graf Waldemar! Nun erkenne ich Sie!“ meinte er dann. „Der Kompagnie-Graf, mein einstiger Melder –“

Er lächelte ein wenig, streckte Waldemar die Hand hin.

„Freue mich ehrlich, Sie wiederzusehen, Graf Waldemar. Wie ist’s Ihnen ergangen. Sie gerieten doch damals in Gefangenschaft –“

Die beiden Kriegsgefährten begannen Erinnerungen auszutauschen. Wendstein hatte seinen Koffer auf den Fußboden gesetzt.

Dann erschien Frau Amalie.

„Mutter – hier, dies ist mein ehemaliger Kompagnieführer, Herr Oberleutnant von Wendstein,“ stellte Waldemar strahlend vor. „Besinne dich nur: Ich habe den Namen in meinem Briefen oft genug erwähnt.“

Frau Amalie wußte nicht recht, was sie sagen sollte. Sie überlegte blitzschnell. ‚Wenn der Junge den Herrn zu Mittag einlädt, kostet das vielleicht Geld. Dem muß ich doch anstandshalber ein Fleischgericht vorsetzen –‛

Doch Wendstein fragte schon:

„Frau Graf, dürfte ich nach dem Preis des Zimmers fragen – mit Morgenkaffee?“

Frau Amalie war geschäftstüchtig. –

‚Adlig – also wohl Geld,‛ dachte sie und erwiderte:

„Mit Morgenkaffee pro Woche einhundertachtzig Mark.“ –

Bitte – falls der Leser über diese Forderung entsetzt sein sollte: In Heilmünde kostet ein Zimmer im Stadtviertel wirklich so viel!

Wendstein konnte seine Überraschung nicht verbergen.

„Einhundertachtzig Mark?“ wiederholte er, als ob er sich verhört hätte.

Da mischte sich Waldemar, ‚Graf Waldemar‛, ein.

„Natürlich mit voller Pension, Herr Oberleutnant,“ flüsterte er schnell. „Mutter hat sich nur falsch ausgedrückt!“

Frau Amalie wollte etwas entgegnen, aber ihr Sohn sagte schon:

„Von Ihnen werden wir doch nicht Wucherpreise fordern, Herr von Wendstein. Wollen Sie sich das Zimmer ansehen? Ich zeige es Ihnen gern.“

Der Oberleutnant a.D. schüttelte den Kopf.

„Lassen Sie nur, lieber Herr Graf. Ich weiß nicht, ob ich hier in Heilmünde lange bleiben werde. Ich bin jetzt nämlich Strandphotograph, – Sie verstehen, so einer, der sein Gewerbe im Umherziehen ausübt. Ich hoffe mich dadurch den Sommer über ernähren zu können. Aber – Hoffnungen sind eitel. Ich habe mich in diesem Beruf noch nicht versucht. Vielleicht macht meine Firma sehr bald pleite.“

Er wollte der Sache eine scherzhafte Wendung geben. „Ich bin mithin ein sehr unsicherer Zahler – sehr! Zur Zeit besteht mein Vermögen aus ganzen dreihundert Mark, und davon muß ich mir noch allerlei anschaffen für meine Gewerbetätigkeit –“

Waldemar Graf merkte, daß Wendstein das alles völlig ernst meinte. Es liefen ja jetzt so unendlich viel ehemalige Offiziere herum, die froh waren, wenn man sie als Kellner einstellte.

„Sie bleiben bei uns,“ sagte er rasch. „Sie müssen, Herr von Wendstein. Denken Sie an die langen Nächte im Unterstand. Wir beide sind im englischen Granathagel zueinandergeschweißt worden. Sie müssen –!“

Frau Amalie warf ihrem Sohn einen bösen Blick zu.

„Du tust ja gerade so, als ob dir das Haus gehörte,“ sagte sie giftig. „Vorläufig –“

„Mutter!“ unterbrach er sie mit einer Schärfe, die sie bisher nur selten an ihm beobachtet hatte. „Herr von Wendstein wird mein Gast in meinem Zimmer sein. Und über mein Zimmer verfüge ich! Ich bezahle dir ja Kost und Logis.“

Erich von Wendstein hatte den Koffer wieder aufgenommen.

„Lieber Herr Graf – wozu die Aufregung?! Sie werden sich doch meinetwegen nicht mit Ihrer Mutter veruneinigen! – Auf Wiedersehen!“

Er wollte den Laden verlassen. Aber Waldemar war schon um den Verkaufstisch herumgeeilt und nahm ihm halb gewaltsam den Koffer ab.

„Entweder Sie bleiben, Herr von Wendstein, oder ich kündige meine Stellung hier zum ersten,“ sagte er erregt. „Ich bin nur Verkäufer. Und ich wollte schon lange ins Ausland –“

Frau Amalie packte die Angst. Sie schämte sich auch ein wenig. Dieser Wendstein mußte sie ja für eine ganz hartherzige Person halten.

So lenkte sie ein, bat nun sogar, er möchte doch ihres Sohnes Anerbieten nicht ausschlagen.

Wendstein gab nach. Er mietete jedoch das Zimmer zunächst nur für vierzehn Tage und zahlte fünfzig Mark an. Auf etwas anderes ließ er sich nicht ein. Ebenso verzichtete er auf volle Verpflegung.

 

 

2. Kapitel

Trudchen Nabel.

Der ‚Schwarze Kater‛ lag an der Strandpromenade und nannte sich Diele. Es war aber ein ‚richtig gehendes‛ Kabarett und zwar ohne Frage das beste von Heilmünde. Und es war das einzige, das auch jetzt schon gegen Abend gepfropft voll war – trotz der enormen Wein- und Bierpreise und trotz der drangvoll fürchterlichsten Enge, die den Inhaber zwang, nur ganz schlanke aalgewandte Kellner einzustellen, – so eng standen die Tische in dem langgestreckten, behaglichen Raum, an dessen einer Längswand das Podium aufgestellt war.

Der ‚Star‛ des ‚Schwarzen Katers‛ war Lia Melba, ein blondes, junges, rassiges Weib von quecksilbriger Lebendigkeit in ihren Vorträgen. Sie brachte nur ernste, gediegene Sachen mit stark sentimentalem Einschlag – alles jedoch mit persönlicher Eigenart.

Am 15. Juni hatte der ‚Schwarze Kater‛ seine Pforten geöffnet, und von diesem Abend an gehörte Waldemar Graf zu den Stammgästen. Der Magnet, der ihn dort hinzog, war die blonde Melba. Er hatte sie gleich am 2. Abend zu einem Glas Sekt eingeladen. Sie hatte auch die Einladung angenommen. Das mußte sie ja – aus Geschäftstüchtigkeit. Aber sie hatte Waldemar sofort in ihrer schelmischen Art erklärt: „Ich halte Sie für einen Kavalier, und Sie sollen mich für eine Dame halten und danach Ihre Unterhaltung einrichten.“

Nun – Lia Melba hätte es gar nicht nötig gehabt, Waldemar Graf dergestalt vor plumpen Annäherungsversuchen vertraulicherer Art zu warnen. Nein – Waldemar spielte abends den Lebemann nur insoweit, als es sich mit seinen für einen sechsundzwanzigjährigen jungen Mann recht strengen moralischen Grundsätzen vertrug. Er hatte wirklich Grundsätze. Und deren erster war: ‚Verehre die Vertreterinnen der leicht geschürzten und sangesfrohen Muse platonisch, aber laß dich nie auf Intimitäten ein.‛

Dieser kühle Standpunkt Waldemars könnte nun den Verdacht aufkommen lassen, daß es ihm an Temperament mangelte. Dem war nicht so. Er war nur ein außerordentlich vorsichtiger und reinlicher Mensch. Der Gedanke, Liebe zu genießen, die halb erkauft war und deren Spenderin vielleicht am nächsten Tag einen fetten, schwitzenden, rülpsenden Kriegsgewinnler küssen könnte, war ihm unerträglich. Genau so widerwärtig waren ihm sogenannte pikante Gespräche. Ihm genügte es, sich mit dem mehr oder weniger holden Künstlerinnen zu unterhalten und sich von ihnen über ihre Herkunft und Ruhmeslaufbahn faustdick anlügen zu lassen. Er wußte ja, daß all diese ‚Damen‛ schwindelten und sich nur interessant machen wollten. Sie waren ihm einerseits Studienobjekte, anderseits wieder war er gerade in einem Punkte fast kindlich eitel, daß er von den Heilmündern durchaus für einen gefährlichen Don Juan – mehr noch, für einen Wüstling in punkto Liebe gehalten werden wollte.

Als ‚Heringsbändiger‛ spielte er tagsüber nur eine Durchschnittsrolle. Am Abend krempelte er sich innerlich völlig um. Das liebenswürdige Ladenjünglingslächeln verschwand von seinem frischen, schmalen Gesicht. Er markierte den blasierten Alleswisser; sein Lächeln hatte stets etwas Ironisch-Überlegenes an sich.

Viele Freunde hatte er nicht. Er war in vielen eine sehr verschlossene Natur. Niemandem vertraute er an, daß er sich in seiner Stellung als ‚Sohn seiner Mutter‛ sehr unglücklich fühle; niemand wußte in Heilmünde, daß dieser von vielen belächelte Waldemar Graf mit zäher Energie daran arbeitete, sich weiterzubilden und dann eines Tages den ganzen Kolonialwarenkrempel beiseite zu werfen. Er machte insgeheim Geschäfte, denen nicht mal die kleine dicke, stets spionierende Frau Amalie auf die Spur kam – und er hatte in Berlin ein Bankkonto, das ständig wuchs.

Nun – eine Vertraute hatte er jetzt doch. Und das war eben Lia Melba vom ‚Schwarzen Kater‛. So ganz allmählich waren sie Freunde geworden, wirkliche Freunde. Nur eins verheimlichte Waldemar der Melba: daß er – Heringsbändiger war. Er wußte diesen Punkt stets schlau zu verschleiern.

Freunde waren sie geworden. Die böse Welt urteilte anders. In der Stadt hieß es schon nach acht Tagen: die Melba vom ‚Schwarzen Kater‛ ist Waldemar Grafs Verhältnis!

Natürlich wurde so geredet – natürlich! Wie sollte sich auch der genußfrohe Teil der Heilmünder vorstellen, daß Waldemar stets ‚platonisch‛ blieb und daß er diesen Grundsatz der Melba gegenüber noch strenger befolgte?! Gerade weil die Melba Herren gegenüber so zurückhaltend war, weil sie auch nicht eine einzige zweideutige Bemerkung duldete, schwor man tausend Eide: sie ist Waldemars ‚Spusi‛, ‚Mausi‛ – oder wie man sonst eine derartige illegitime Ehefreudenvermittlerin zu bezeichnen pflegt. –

Also nur Freunde! Tatsache – nur Freunde! Aber – es war eben ein großes, großes ‚Aber‛ dabei! Und dieses Aber lag still verborgen in Waldemars Herzen.

Er – er liebte die Melba! Er liebte sie nicht so, wie man Kabarettkünstlerinnen für gewöhnlich liebt. Denn – Lia war eben keine ‚gewöhnliche Podiumdiva‘. Sie war Dame. Und sie betonte das stets durch feine Bemerkungen; sie tat es mit schelmischer Grazie. Als der millionenreiche Fleischermeister Brandt ihr einmal einen Tausendmarkschein in das Handtäschchen gesteckt hatte, war sie überglücklich – im Interesse der Stadtarmen gewesen und hatte Brandt am folgenden Tag die Quittung zugeschickt, die bewies, daß sie den braunen Lappen der Armenverwaltung zugestellt hatte.

Ja – er liebte sie als Weib. Und diese Liebe hatte gerade an diesem Montag, als Strandphotograph von Wendstein bei Grafs einzog, den kritischen Punkt erlangt. Waldemar war Sonntagabend wieder im ‚Schwarzen Kater‛ gewesen und hatte Lia nach Mitternacht wie immer heimgeleitet. Sie waren über die vom Mondlicht überflutete Strandpromenade gegangen; die See hatte leise gerauscht; und Waldemar war das Herz zum Bersten voll gewesen.

Aber – er wagte nichts, nichts. Er durfte es ja nicht. Zu einem leichtfertigen Techtelmechtel waren weder Lia nach er geschaffen. Und – ihr seine Hand anbieten, sich mit ihr verloben?! Nein – das war vorläufig ausgeschlossen – ganz ausgeschlossen, – vorläufig!

Lia wohnte ganz in der Nähe des Heile-Platzes in der Hafenstraße, Erdgeschoß, eigener Eingang. Es war nur ein winziges, billiges Zimmerchen.

Und als sie dann gestern abend vor dem Haus sich gute Nacht gesagt, als Waldemar ihre Hand plötzlich krampfhaft gedrückt und ihr mit so stillem Sehnen in die Augen geblickt, da hatte Lia leise gebeten:

„Lieber Freund, es ist besser für Sie, wenn wir uns eine Weile nicht sehen. Glauben Sie es mir! – –

Ich – ich kann Ihnen niemals etwas anderes als Freundin sein. Sie – Sie lieber Mensch!“

Dann war sie ins Haus geschlüpft. Und Waldemar hatte die ganze Nacht nicht geschlafen, hatte nur immer darüber nachgegrübelt, weshalb Lia gesagt hatte: ‚Nie etwas anderes als – Freundin!‛ –

Schließlich war er dann zu der Überzeugung gelangt, daß Lia – nicht mehr rein sein, daß sie wohl ahne, daß er ernste Absichten habe, und daß sie ihm habe klarmachen wollen, sie käme als Lebensgefährtin für einen Menschen von seinem Charakter nicht in Betracht. –

Der Zufall wollte es, daß an diesem selben Montag Frau Amalie einen Brief ihrer Kusine Klara Nabel erhielt, in dem diese ihr mitteilte, sie sei mit Trudchen im benachbarten Seebad Zinnowitz zum Sommeraufenthalt eingetroffen und würde sich freuen, die lieben Heilmünder Verwandten recht bald begrüßen zu können.

Frau Amalie verstand: Trudchen Nabel war eine bereits etwas angejahrt die Jungfrau, und Nabels hätten es sehr gern gesehen, wenn Waldemar ihre Einzige heiratete.

Hugo Nabel war Zigarettenhändler und sehr, sehr reich. Mithin hätte diese Partie ganz Frau Amaliens Wünschen entsprochen. Doch – ihre Wünsche waren nicht ihres Waldemars Wünsche! Ganz im Gegenteil; Waldemar titulierte Nabels stets nur ‚Geizhammelbande!‛ und Trudchen ‚Ausbund an weiblichen Fehlern‛. Das Trudchen fünf Jahre älter als Waldemar war, störte die kleine, rundliche Frau keineswegs. Desto mehr störte es Waldemar.

Kurz: diese Heiratschancen standen miserabel! –

Doch – für Frau Amalie gab es keine Gefühlshindernisse. In diesem dicken Weiblein lebte die Tatkraft eines halben Dutzend Männer. Was sie sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, wurde auch ausgeführt!

Beim Nachmittagskaffee – der Strandphotograph hatte seine gewerbliche Tätigkeit bereits aufgenommen – begann Frau Amalie von Nabels zu sprechen und zeigte Waldemar den Brief.

„Nächsten Sonntag fahren wir nach Zinnowitz,“ erklärte sie. Und das klang ganz als Befehl.

„Wir?!“ meinte Waldemar, der soeben wieder an Lia gedacht hatte. „Du kannst meinetwegen fahren. Ich wüßte nicht, was ich dort sollte.“

Die Ladentürglocke schlug an. Waldemar entging der weiteren Erörterung der Nabel-Frage durch ein paar Kundinnen.

Das war am Nachmittag.

Und abends.

 

 

3. Kapitel

Strandhafer-Geheimnisse.

Um acht Uhr abends klopfte Waldemar bei Wendstein an. Dessen Zimmer hatte den Zugang nicht vom Flur, sondern von der Hofeinfahrt aus, war also mehr als ‚sturmfrei‛.

Der Strandphotograph und ehemalige Oberleutnant fragte etwas unwirsch: „Deubel – wer ist denn da?“

„Waldemar Graf –“

„Ah so! – Lieber Graf Waldemar, ich – ich entwickle gerade Platten, kann also nicht öffnen.“

„Ich wollte nur fragen, ob Sie mit nach dem Strand kommen?“

„Nee, Bester, – ich bin todmüde! Mein Beruf strengt an. Ich habe etwa zwanzig gutgemästete Schieberfamilien heute getypt, und die dabei nötige Selbstverleugnung hat meine Kräfte todsicher aufgebraucht. Ich gehe gleich nachher in die Klappe. Also – sehr nett von Ihnen, lieber Graf Waldemar, aber – heute nischt zu machen. Wiedersehen!“

„Wiedersehen!“ Und Waldemar Graf trat durch die Hofeinfahrt wieder auf die Straße hinaus, dachte: ‚Na – wenigstens ist er schon etwas besserer Laune. Zwanzig Aufnahmen – ganz netter Verdienst! Freut mich in seinem Interesse; ist ja stets ein hochanständiger Kerl gewesen, der Wendstein –‛

Hm – was nun tun?! Der ‚Schwarze Kater‛ war jetzt ja vom Programm gestrichen – leider! –

Waldemar seufzte. Und – wie seufzte er. Er kam sich vor wie ein Mensch, dem man jede Lebensfreude geraubt hat – jede!

Er schlenderte über den Heile-Platz, blieb vor dem frisch bepflanzten Stiefmütterchenbeeten stehen.

Stiefmütterchen! Ja – ihn behandelte das Schicksal auch so recht stiefmütterlich! Nun hatte er endlich die große, wahre Liebe kennen gelernt, und – schon hieß es: Verzichten!

Lia Melba war eben – Künstlerin! Und – die hatten alle ihre Vergangenheit, wenigstens beim Kabarett.

Er lächelte bitter. –

Weshalb sie dann aber nur stets so sehr die ‚Dame‛ herauskehrte?! Eigentlich war das doch lächerlich für ein Weib, dessen Erinnerungsblätter wahrscheinlich mehrere Männernamen in leuchtend roter Farbe trugen – in der Farbe der – sogenannten Liebe!

Waldemar mußte grüßen – die Gattin des knickbeinigen Justizrat Schmidt.

Sie lächelte ihn an. Ja – diese junge Frau hatte stets einen Blick in den Augen wie ein hungriger Köter.

Hunger – nach Liebe! – Waldemar hätte hier nur den kleinen Finger auszustrecken brauchen, Frau Tessa machte ihm seit langem ‚Avancen‛, wie man fein umschrieben sagt. –

Er schaute ihr nach. Sie hatte so etwas seltsam Aufreizendes in ihrer Art zu gehen. Ob – ob man nicht klug tat, Lia durch eine Tessa zu vergessen suchen?

Blitzartig tauchte der Gedanke auf. Blitzartig entschwand er wieder – entschwand durch den Anblick eines anderen Weibes: Lia Melbas!

Da ging sie an der anderen Seite der Anlagen entlang. Sehr eilig – entschwand seinen Augen.

Woher kam sie?! Sie hatte doch soeben die Straße überquert?!

Er bummelte durch den Park nach der See. Es war jetzt dunkel geworden. Auf verschwiegenen Bänken saßen überall Liebespärchen.

Die Liebe ging um – überall! Auch am Strand.

Waldemar hatte sich in die Dünen gesetzt. Und Pärchen auf Pärchen kam und tauchte im Dunkeln der Heide hinter den Dünen unter. –

Er erhob sich, wandte sich der Strandpromenade zu. Vor dem Kurhaus konzertierte die Kapelle. Waldemar ging schnell vorüber. Die lachende, sehnsüchtige Walzermusik war Gift für seine Stimmung.

Und – der Magnet wirkte wieder: Der ‚Schwarze Kater‛ – Lia Melba!

Waldemar wollte sich ganz hinten in eine Ecke setzen, wo ihm niemand bemerkte. Lia würde ihn nicht sehen. Sie saß ja stets neben dem Podium am sogenannten Künstlertisch.

Da – er traute seinen Augen nicht – da rechts vom Podium hinter der Efeuwand, an seinem bisherigen Stammplatz – da erspähte er den blonden Kopf der Melba. Und – sie war nicht allein! Ein Herr saß mit ihr zusammen.

Jetzt wandte der Herr sich halb um.

Waldemar fuhr sich über die Augen. War’s möglich – war’s möglich – Wendstein – Wendstein?!

Lia und Wendstein! Waldemar war wie vor den Kopf geschlagen. Tausend Fragen durchzuckten sein Hirn.

War’s eine Zufallsbekanntschaft von heute? Waren’s ältere Beziehungen? Und – war’s nicht ein merkwürdiges Zusammentreffen, daß gerade gestern abend Lia ihm nahegelegt hatte, nicht mehr nach dem ‚Schwarzen Kater‛ zu kommen, gerade gestern! Und heute früh war Wendstein aus Berlin hier eingetroffen?!

Waldemar überlegte. Er wollte feststellen, wie die beiden miteinander standen. Er zahlte und verließ den ‚Schwarzen Kater‛, setzte sich draußen auf eine Bank der Anlagen der Strandpromenade und überwachte den Eingang.

Es war jetzt erst halb elf. Und vor Mitternacht durfte die Melba nicht heim – aus Geschäftsrücksichten.

Waldemar rauchte Zigaretten. Ein Hündchen kam und kläffte ihn an. Dann tauchte eine Frauengestalt vor ihm auf.

Frau Tessa! – War’s eine Fügung des Schicksals?

Er stand auf, wollte die schöne, schlanke Frau mit den traurigen, hungrigen Augen ansprechen – wollte!

Ein Blick nach dem Eingang des Kabaretts zeigte ihm da noch im letzten Moment Lia Melba, die leichtfüßig die Treppe hinabstieg.

Er grüßte nur. Frau Tessa schritt zögernd weiter.

Lia Melba überquerte den Fahrdamm, ging durch die Anlagen, blieb auf der Strandpromenade stehen.

Nun erschien Wendstein, den hellen Filzhut halb im Genick; nun – hakte er sich in Lias Arm ein. Sie gingen zum Strand hinunter, gingen ganz eng aneinandergeschmiegt – ein richtiges Liebespaar.

Dann saßen sie auf der Vordüne, von Strandhafer umrauscht; sie lehnte an seiner Brust. Und immer wieder küßte er sie – immer wieder. –

Das Pärchen glaubte sich allein in dieser lauen Juninacht; allein hier an der rauschenden See unter dem flimmernden Sternenhimmel.

Und – wie sicher mußten sich die beiden fühlen!

Waldemar Grab hätte am liebsten alle seine Eifersuchtsqualen laut hinausgeschrien in die Stille dieser von heißer Liebesglut durchwehten Nacht.

Lia Melba – Lia, das Weib, das er liebte, – so – so liebte!

Er preßte die Fäuste in die Augen. Nur nichts mehr sehen! Nichts – nichts! Nur nicht Zeuge sein, wie dieses berückende, junge Weib sich so verschwenderisch, so blindlings verschenkte.

Er schlich davon. Aber – auf der Strandpromenade machte er doch wieder halt, wartete im Baumschatten.

Und – sie kamen, – kamen so aneinander gepreßt, als wollten sie sich niemals mehr trennen. Durch abgelegene Straßen wanderten sie Lias Heim zu.

Und hinterdrein schlich Waldemar Graf.

Nun waren sie angelangt; nun schloß Wendstein die Tür auf.

Und – beide verschwanden im Hausflur. Aber in Lias Zimmerchen blieb es dunkel.

Freilich, vor dem Haus stand gerade eine Straßenlaterne. Und da mochte es in dem Stübchen genügend hell sein. –

 

 

4. Kapitel

Krach.

Erich Wendstein war erst morgens gegen vier Uhr durch die Hofeinfahrt in sein Zimmer bei Grafs zurückgekehrt. Morgens um neun Uhr betrat er den Laden, wo Waldemar gerade Limburger Käse aus einer Kiste auspackte und deshalb die Ladentür offen gelassen hatte.

Wendstein war glänzender Laune.

„Morgen, mein lieber Graf Waldemar. Wie geht’s? – Hm – diese Seeluft hier ist etwas sehr scharf! Na, das gehört mit zum Beruf.“

Er hatte Waldemar die Hand hingestreckt. Doch der erwiderte den Händedruck nicht.

Sein Gesicht war eisig.

„Man – ich Ihnen eine Laus über die Leber gekrochen?“ meinte der ahnungslose Wendstein. Dann aber gewahrte er in den Augen des jungen Kaufmanns einen so merkwürdigen Ausdruck, etwas so Schmerzlich-Verzweifeltes, nebenbei auch noch Feindselig-Ablehnendes, daß er sofort den Ton änderte.

„Was haben Sie denn? Ist Ihnen etwas passiert?“ fragte er mit ehrlicher Teilnahme. „Sie sehen mich ja so an, als hätte ich hier bei Ihnen Butter, Zucker oder sonst einen raren Artikel gestohlen?“

Waldemar schwieg, bückte sich und holte ein paar Limburger aus der Kiste hervor.

Wendstein stand mit nachdenklicher Miene da. Was fehlte dem Kompagnie-Grafen nur?! Der war ja plötzlich geradezu unhöflich kühl. Und dazu noch dieser Blick!

Dann erinnerte sich Wendstein daran, was Lia Melba ihm gestern erzählt hatte.

Und – da ging ihm ein Licht auf!

„Graf Waldemar, wo waren Sie denn gestern abend?“ meinte er wie gleichgültig. „Ich habe mir’s nachher doch noch anders überlegt. Ich ging aus und – – traf eine alte Bekannte –“

Waldemar richtete sich mit einem Ruck auf. Mit seiner Selbstbeherrschung war es zu Ende.

„Ja – das habe ich gemerkt!“ stieß er hervor. „Eine – sehr intime Bekannte!“

Er lachte auf. „Na – wünsche Ihnen viel Glück als – mein Nachfolger!“

Dieses ‚Nachfolger‛ hätte Wendstein leicht übel deuten können. Aber er durchschaute diese kleine Renommisterei und – er kannte Lia ja, kannte sie besser als jeder andere.

Waldemar wühlte schon wieder in der Kiste mit ‚der scharfen Seeluft‛. Wendstein lächelte ganz wenig, dachte: ‚Armer Kerl! Wenn man ihm doch helfen könnte!‛

Leider sollten diese ehrlich-menschenfreundlichen Gedanken eine böse Unterbrechung erfahren. Wie eine Bombe kam die dicke Frau Amalie plötzlich in den Laden geschossen, puterrot im Gesicht, mit schiefem Häubchen. Gerade auf Wendstein flog sie zu, kreischte nun in maßloser Empörung:

„Sie – Sie Herr – das dulde ich nicht! Mein Haus ist ein anständiges Haus – verstehen Sie! Solche Sachen erlaube ich nicht! Das hat mir noch kein Mieter zu bieten gewagt!“

Wendstein hatte sich höflich vor der Mutter des Grafen Waldemar verbeugt.

„Verzeihen Sie, verehrteste Frau Graf, – Sie überschütten mich hier mit etwas unklaren Vorwürfen –“

Er kam nicht weiter. Frau Amaliens geballte Rechte war ihm unter die Nase gefahren, öffnete sich.

Und in der geöffneten Hand lagen zwei Lockennadeln und eine ganz kleine Schildpatt-Haarklammer.

„Auf dem Kissen des Diwans lag das – das!“ kreischte Frau Amalie wieder, und in dieses ‚das‛ legte sie eine Verachtung hinein, die diese drei Gegenstände zu den schändlichen Dingen der ganzen Welt abstempelte.

„Und – unser Laufjunge hat gestern abend kurz nach acht eine – eine – Da – me – – Da – me! gesehen, die aus Ihrer Zimmertür schlüpfte –“

Erich Wendstein blieb ganz ruhig.

„Sie haben ganz recht, Frau Graf,“ sagte er mit etwas erhobener Stimme. „Es war eine Dame, die mich besucht hat, eine – Dame! Damen verlieren nun selbst auf der Straße mitunter Lockennadeln und Ähnliches. Diese drei Dinge dort in Ihrer Hand dürften also kaum genügen, mich hier in so wenig angemessener Art zur Rede zu stellen. Ich will darüber jedoch hinwegsehen, Frau Graf, da ich ohnedies bereits mit dem Mittagszug Heilmünde verlasse. Ich habe erfahren, daß es in einem anderen Seebad erst zwei Strandphotographen gibt, während ich hier bereits acht Kollegen vorfand. – Sie werden mich also nicht mehr länger unter Ihrem Dach zu dulden brauchen, Frau Graf. Leben Sie wohl. – Auch von Ihnen, lieber Graf Waldemar, kann ich mich gleich verabschieden. – Wollen Sie mir nicht wenigstens die Hand geben? Ich denke, wir beide sind im Granatfeuer zusammengeschweißt worden. Oder – sollte dies gestern nur eine Phrase von Ihnen gewesen sein? Sollten Sie es mir nachtragen, daß – daß ich irgendwo – ältere Rechte habe?!“

Waldemar hatten die beiden Lockennadeln und die Haarklammer einen neuen Stich versetzt. All sein Groll gegen den glücklicheren Nebenbuhler war wieder aufgeflammt.

„Meine Hand ist – ist nicht ganz sauber, wie Sie sehen,“ sagte er und schaute an Wendstein vorüber. „Leben Sie wohl. Mag es Ihnen gut ergehen –“

Langsam ging Erich Wendstein nach dem Badbahnhof und wartete – auf seine Lia. Und sie kam, setzte sich neben ihn, hielt seine Hand in ihrem Schoß, war glücklich.

Bis er von Waldemar Graf zu sprechen begann. Da wurde sie ernst, sehr ernst, meinte: „Ein so guter, lieber Mensch! Ja – ich hätte ihm nicht so oft Gelegenheit geben sollen, mit mir zusammenzusein. Ich fürchte, ich habe – habe ihm nun einen großen Schmerz bereitet. Wie konnte ich aber auch ahnen, daß er sich in mich verlieben würde? In eine – Kabarettkünstlerin! Und – so, so verlieben!“

Wendstein schaute über die Geleise hinweg in den hohen Kiefernwald. Er hatte die Augen nachdenklich zusammengekniffen.

Dann beugte er den Kopf tiefer.

„Du, Liebes, wenn man dem braven Waldemar Ersatz verschaffen könnte, – den einzigen Ersatz, den es für eine Lia Melba gibt –“

Sie blickte ihn groß an.

„Ersatz – Ersatz?!“

Dann begriff sie.

„Du – ich habe ja vergessen, dir’s zur erzählen,“ sagte sie hastig und kramte in ihrem Handtäschchen. „Ah – hier ist die Karte! Nein, wie konnte ich das auch nur so gänzlich – verschusseln!“

Sie lachte klingend.

„Lies nur diese Ansichtskarte! Ist das nicht wirklich ein merkwürdiger Zufall!“ –

Um zwölf Uhr fünfzehn ging der Zug nach Zinnowitz ab.

„Sonntag komme ich also ganz bestimmt, du,“ rief Lia nochmals in das nur von Wendstein besetzte Abteil hinein. „Länger halte ich’s ja gar nicht ohne dich aus.“ –

Plötzlich kletterte sie dann in den schon in Bewegung befindlichen Zug hinein, warf die Tür hinter sich zu – und nahm ihren Erich in die Arme.

„Ein Abschied ohne Küsse ist überhaupt kein Abschied,“ lachte sie.

Ja – sie hatten sich sehr, sehr lieb, der neugebackene Strandphotograph und die Diseuse[1] vom ‚Schwarzen Kater‛.

 

 

5. Kapitel

Der Baron mit den Pranken.

Zinnowitz, Ostseebad, eingebettet in Kiefern- und Buchenwaldungen; kein Luxusbad; aber doch schon so weit von der Kultur beleckt, daß ein Mann wie Hugo Nabel es wagen konnte, seine Damen dorthin zu schicken.

Hm – seine Damen! –

Harmlos Gemüter denken an Frau Klara Nabel und an das angejahrte Trudchen – nur an dieser beiden! –

Wer aber Ehemänner von der Art und körperlichen Frische Hugo Nabels kennt, wird – Nebengedanken an Nebenfrauen haben, wenigstens an eine Nebenfrau!

Und – wer Frau Klara schon mal gesehen, gehört und beobachtet hat, wird nachdenklich sein und Hugo diese eine kleine nette süße Nebenfrau verzeihen.

Also Hugo hatte seine drei Damen ins Bad geschickt und sogar selbst hinbegleitet. Das heißt: in demselben Abteil 2ter mit ihm zusammen saßen nur Frau Klara und Trudchen.

Die dritte Dame saß in einem anderen Abteil 2ter und hatte ‚zufällig‛ einen jungen, schlanken Herrn bei sich, der ebenfalls seinen Urlaub in Zinnowitz verleben wollte, ein Entschluß, der in ihm jedoch erst zur Reife gelangt war, nachdem Hugo der ‚kleinen netten Süßen‛ einen braunen Lappen in das Pfötchen gedrückt hatte. Da erst war auch der schlanke Herr, der auffallen große und muskulöse Hände – ‚Schlosserpranken‛ – besaß, des Berliner Pflasters müde geworden, hatte sich von seinen Stammtischfreunden im Cafée ‚Puderbüchschen‛, Berlin N, Schlegelstraße, verabschiedet und mit einem Teil des in Kleingeld umgesetzt braunen Lappens seine Fahrkarte gen Zinnowitz bezahlt.

Diese zweite Serie der Helden und Heldinnen unserer Geschichte weilte jetzt also in Zinnowitz, wo Nabels drei Zimmer mit Glasveranda durch ihre vorausgeschickte ‚Gesellschafterin‛ im Erdgeschoß eines behaglichen Hauses hatten mieten lassen.

Ja – Nabels waren nach dem Kriege so vornehm geworden, daß sie sich eine Gesellschaftsdame hielten. Frau Gisela v. Scharp hatte in ihrer Stellung als Gesellschafterin so gut wie nichts zu tun. Sie mußte nur schweigend dulden, daß Nabels mit ihr protzten. Dies geschah durch die Art, wie die junge, hübsche Gesellschaftsdame Bekannten usw. vorgestellt wurde, was stets Frau Klara mit unnachahmlicher Vornehmheit besorgte.

„Unsere Gesellschafterin, Fräulein von Scharp, Tochter des verstorbenen Generalleutnant Exzellenz von Scharp.“

Ja – das klang doch nach was! Tochter einer Exzellenz! Das konnte sich nicht jeder leisten!

Es erübrigt sich, zu erwähnen, daß die Eltern von Scharp ihren Kindern lediglich den Namen, das Familienwappen und – Schulden zurückgelassen hatten und daß die Töchter daher gezwungen waren, seit ihrem neunzehnten Lebensjahr selbst ihr Brot zu verdienen.

Eigentlich war Hugo Nabel also in Zinnowitz mit vier Damen eingerückt. Da eine Gesellschafterin aber ‚zum Arsenal‛ gehört, durften wir sie nicht gut zu Anfang dieses Kapitels mit so erlauchten Damen, wie Klara, Trudchen und Fanni in einem Atem nennen.

Hugo hatte sogleich wieder nach Berlin zurückkehren wollen. Die Seeluft hatte ihn aber sofort so gekräftigt, daß er sich von Fanni so schnell nicht trennen konnte, die ebenfalls im Erdgeschoß in derselben Straße wie Nabels wohnte, während der schlanke Herr mit den ‚Schlosserpranken‛ sich im selben Haus wie Fanni nach hinten hinaus eingemietet und als ‚Baron Alexander v. Knüpfler, Schriftsteller‛ angemeldet hatte. Schriftsteller ist ja bekanntlich der freieste aller Berufe. So kann sich jeder titulieren, jeder, selbst wenn er nicht mal seinen Namen schreiben kann. Und: Schriftsteller klingt gut, weht einen poetischen Nimbus um das Haupt des Betreffenden.

Außerdem: Schriftsteller dürfen sich anders nennen, als sie heißen. Das ist eben ‚das Pseudonym‛. Und ‚Baron Alexander v. Knüpfler‛ war auch ein Pseudonym. In Wahrheit hieß der Schlanke mit den Pranken Alexander Kropf, oder auch ‚der Kropf-Alex‛, aber so nur für seine Intimen oder die neugierige Polizei. –

An demselben Tag, als Erich Wendstein ‚kußbeladen‛ gen Zinnowitz gedampft war, finden wir die drei Nabels und ‚das Personal‛ nachmittags malerisch vor ihren Strandkorb gruppiert.

Den Nebenstrandkorb hatte ein einzelner Herr inne. Lackschuhe, gelbe Gamaschen, Monokel, Brilliantringe machten es erklärlich, daß Trudchen sofort ‚nach drüben‛ einen kleinen Flirt begann.

Trudchen Nabel war weder schön noch häßlich. Sie war ‚Durchschnitt‛. Aber – sie hatte jene Eigentümlichkeit an sich, die junge und ältere Mädchen geradezu unausstehlich macht: Sie hielt sich für ‚pikant‛ aussehend und wollte überall auffallen und ‚bewundert‛ werden.

Gisela v. Scharp las und kümmerte sich nicht viel um Nabels. Sie las irgend einen Roman. Aber – ihre Gedanken irrten immer wieder ab. Vorhin hatte ein Strandphotograph ihr heimlich allerlei Zeichen gegeben. Und jetzt überlegte sie, wie sie es wohl einrichten könnte, diesen Mann unbeobachtet zu sprechen.

Trudchen flirtete weiter. Der schlanke Herr mit den Lackschuhen erhob sich jetzt, kam auf Nabels zu und bat um die Schippe, um seinen Wall zu erhöhen. –

Trudchen wurde rot. Papa Nabel ergriff die Gelegenheit sofort beim Schopf, Bekanntschaften zu machen, stellte sich vor, und der Schlanke tat dasselbe:

„Gestatten – Baron von Knüpfler.“

Frau Klaras Gesicht leuchtete vor Wonne: Ein Baron! Und dann – legte sie los:

„Hier unsere Gesellschafterin, Fräulein von Scharp, Tochter des verstorbenen Generalleutnant Exzellenz von Scharp.“

Der Baron nahm bei Nabels Platz und entpuppte sich als ein ganz reizend-zwangloser Mensch.

Papa Hugo hatte seine Damen nun versorgt und ‚drückte‛ sich, wollte angeblich mal auf den Seesteg gehen. Er ging aber ein Stück weiter, wo Fannis Strandkorb stand, setzte sich zu seinem netten, kleinen, süßen Nebenweibchen und stöhnte erleichtert auf:

„Endlich wieder mal frei! Mausichen – nun zuerst einen Kuß. Diese Seeluft macht Lust –“

Fanni war in Gebelaune. –

Dann tauchte vor dem Strandkorb ein Photograph auf.

„Wollen die Herrschaften sich nicht ein Andenken in Gestalt eines Bildes mit heim von der Hochzeitsreise nehmen?“ fragte er liebenswürdig lächelnd.

Fanni hatte einen Blick für Männerschönheit! Donnerwetter – das war was Besseres! Das war Rasse!

Sie redete Hugochen zu. Doch Hugochen sträubte sich. Schließlich gab er nach. Aber – er war vorsichtig! Er zog sich den Strohhut vor das Gesicht, als der Mann knipste.

Und – der Strandphotograph war derselbe, der Gisela von Scharp vorhin allerlei Zeichen gegeben hatte, war – Erich von Wendstein. –

So begann in Zinnowitz das Drama sich langsam vorzubereiten.

 

 

6. Kapitel

Verlobungssekt.

Das war am Dienstag. Und naturgemäß folgten ein Mittwoch, Donnerstag – und so weiter; und all diese Tage schnitt der Baron von Knüpfler Trudchen die Cour, all die Tage schwamm Frau Klara in zukünftigen Barons-Schwiegermutterwonnen. Es war das einzige, worin sie schwamm. Denn die Seebäder benutzten Nabels nicht. Das war zu teuer. Die Füße konnte man sich so bequem am Strand waschen. Und das genügte.

Und all die Tage auch sonderte sich Papa Hugo ab und amüsierte sich mit Fannichen. Kurz: Nabels waren sämtlich hochbefriedigt! Sogar ‚das Personal‛, Gisela von Scharp. Sie hatte jetzt Erich Wendstein schon verschiedentlich gesprochen, und er hatte ihr immer wieder von einem lieben, guten, hübschen Menschen erzählt, so daß sie nun bereits recht neugierig war. –

Frau Klara dachte gar nicht mehr daran, daß sie Amalie Graf und Waldemar eingeladen hatte. Erst als Sonnabend eine Postkarte eintraf, in der Grafs ihrer Ankunft für morgen meldeten, bekam sie einen Heidenschreck.

Zunächst beriet sie mit Trudchen. Geheimnisse irgendwelcher Art gab es zwischen Mutter und Tochter nicht.

„Wir wollen telegraphieren, daß wir nach Rügen fahren,“ meinte Trudchen. „Sie sollen später mal kommen. Tante Amalie können wir dem Baron nicht gut präsentieren. Sie ist doch so furchtbar gewöhnlich. Und auch Waldemar – mein Gott, Kolonialwarenhändler! Der ist jetzt doch für mich erledigt. Der Baron macht mir sicher sehr bald einen Antrag. Heute hat er sich wieder mit mir zusammen photographieren lassen.“

„Gut – telegraphieren wir,“ entschied Frau Klara und setzte auch sofort die Depesche auf.

Das ‚Personal‛ muße sie dann zur Post tragen. Aber – das Personal war indiskret genug, die Depesche zu lesen, steckte sie in die Tasche, bummelte zum Strand und klopfte an die Holzbude an, in der Erich Wendstein sein Atelier eingerichtet hatte.

„Gisa, du? Famos! – Rein mit dir, Mädel! Was gibt’s Neues?“ So begrüßte Erich das ‚Personal‛ ebenso herzlich wie vertraulich.

Gisela von Scharp holte die Depesche hervor.

„Da – lies! – Offenbar haben also Grafs Nabels besuchen wollen. Und Waldemar Graf –“

Wendstein ließ sie nicht aussprechen, nahm sie in die Arme, küßte sie.

„Du, Gisa – die Gelegenheit lassen wir uns nicht entgehen! Grafs müssen kommen. Ich werde das weitere schon befingern! Ich bin ja auch überzeugt, daß der Baron sehr bald die Mine springen läßt. Na – er wird sich wundern! Und du – auch! Nämlich über einen Grafen Waldemar. – Nun hör’ zu. Du schreibst die Depesche ab und läßt das ‚nicht‛ weg, stell zwei Worte um. Dann heißt die Geschichte:

‚Kommt. Wir fahren nächstens nach Rügen. Klara.‛

So – und nun verschwinde. Ich hab’ zu arbeiten. Das Geschäft blüht. Morgen besucht Lia mich. Da will ich mal faulenzen – wenigstens beruflich.“

Gisela schüttelte den Kopf. „Du kannst aber auch wirklich alles, Erich! – Meinst du denn wirklich, daß du bei dem Kropf-Alex das Ziel erreichen wirst?“

„Ich hoffe. Wenn er sich mit Trudchen Nabel – wenn ich so hieße, würde ich mir ‛n andren Namen geben lassen! – verlobt, wird er vielleicht sofort mit einem Brautgeschenk herausrücken. Die beiden Ringe, die er trägt, habe ich schon wiedererkannt.“ –

Abends war im Kurhauspavillon Reunion[2]. Nabels und der Baron tranken Sekt. Trudchen hatte ein Kleid an, das sie nur selten trug. Es war weder modern noch geschmackvoll. Aber es war mal sehr teuer gewesen – mal!

Der Baron tanzte entzückend zwanglos. Als er ‚das Personal‛ ebenfalls aufforderte, holte er sich einen Korb.

„Ich tanze seit dem Tod meiner Eltern nicht mehr,“ hatte Gisela von Scharp kühl erklärt.

Fanni war auch erschienen, und zwar in Begleitung einer alten Rätin nebst Töchtern, die sie in ihrer Pension kennen gelernt hatte und für die sie ein harmloses Unschuldslämmchen war. Papa Nabel schwang das Tanzbein wie ein Jüngling. Und in den Pausen ging er frische Luft schöpfen, und Fanni tat dasselbe, was zur Folge hatte, daß Hugo Nabel stets erhitzter, als er den Saal verlassen hatte, zurückkehrte.

Und – an diesem Abend sprang die Mine dann tatsächlich. Der Baron mit dem oft so sehr zwanglosen Benehmen promenierte mit Trudchen auf und ab – draußen auf dem dunklen Musikplatz, und als das Paar wieder am Nabelschen Tisch erschien, war’s ein Brautpaar geworden.

Hugo Nabel zeigte, was seine Börse konnte: Er bestellte gleich vier Flaschen Sekt auf einmal. Die Umsitzenden wurden aufmerksam, zumal der Herr Bräutigam sich entsprechend seiner sonstigen Aufführung überaus zwanglos-zärtlich benahm und Trudchen gleichfalls durch lautes Lachen und ähnliche Mätzchen dafür sorgte, daß der Kurgesellschaft das freudige Ereignis ja nicht entging.

Die Reunion war längst zu Ende. Das ‚Personal‛ war ebenfalls längst ‚Kopfschmerzen‛ wegen allein heimgewandert. „Neid!“ hatte Frau Klara ihrem Trudchen zugeflüstert.

Die drei Nabels hatten bereits einen ganz gehörigen Schwips. In dieser so gehobenen Stimmung langte der Bräutigam dann in die Tasche seiner Smokingbeinkleider und holte ein kleines Etui hervor, meinte lächelnd: „Ich habe geahnt, wat für ‛n Glanz mir heite beschert werden würde.“ – zuweilen berlinerte er entzückend – „deshalb habe ich mich ‛n bißken darauf präpariert –“

Er öffnete das Etui. Ein wundervoller Brillantanhänger an einem Platinkettchen kam zum Vorschein. –

Oh – das war in heutigen Zeiten ein fürstliches Geschenk. Das bewies am besten den Reichtum des Barons.

Trudchen hopste ihm vor Seligkeit auf den Schoß. – Und Papa Nabel bestellte noch zwei Flaschen Sekt. Der Baron füllte eigenhändig die Gläser.

Er war ein herzensguter Mensch. Er wollte, daß Nabels nach diesem aufregenden Abend recht fest schliefen. Deshalb füllte er die Gläser in ganz besonderer Weise, indem er noch etwas anderes hineintat.

Man wanderte heim. Klara und Hugo taumelten untergehakt voran. Trudchen hing wie eine halb Leiche am Arm des Barons. Sie konnte kaum mehr die Beine setzen vor Müdigkeit. Der Abschied vor dem Haus der Nabels war kurz, aber auch überaus herzlich. Dann suchte die Familie schleunigst ihre Lagerstätten auf. –

Das ‚Personal‛ schlief nicht im Erdgeschoß, sondern in einem Mansardestübchen; diese Nacht schlief es nicht; es lag im Fenster und beobachtete.

Es gab auch mancherlei zu beobachten. Und noch jemand beobachtete die Nabelschen Fenster: Der rührige Strandphotograph! –

So ging auch diese Nacht vorüber.

Um zehn Uhr vormittags lief der Zug von Heilmünde in Zinnowitz ein. Zuerst stieg Waldemar Graf aus. Er war blaß und schmal geworden.

Der Liebeskummer zerrte an ihm.

Nur der Liebeskummer? Nicht etwa Frau Tessas Liebeshunger? Nein – Waldemar hatte den Gedanken, in den Armen einer anderen sich zu betäuben, aufgegeben.

Dann kletterte Frau Amalie hinterdrein. Sie trug einen Pappkarton, der einige ‚bessere‛ Lebensmittel als Geschenk für Nabels enthielt. Außerdem trug sie einen Samthut mit rosa Rosen und eine mit Perlen besetzte Mantille[3], wie diese vor etwa zwanzig Jahren Mode gewesen. Waldemar dagegen war ganz großstädtisch gekleidet. Er hatte Geschmack. Das mußte ihm der Neid lassen. Frau Amalie wirkte neben ihm etwas eigentümlich, zumal sie noch einen Regenschirm ebenfalls höchst ehrwürdigen Alters mit sich schleppte.

„Komisch, daß uns keiner abholt,“ meinte Amalie.

Waldemar zuckte die Achseln. Dann – zuckte er zusammen.

Dort stand der Erich von Wendstein, – und gerade jetzt flog ihm sehr ungeniert Lia Melba in die Arme.

„Gehen wir!“ sagte Waldemar heiser zu seiner Mutter. Die Herzenswunde begann schon wieder zu bluten.

Sie gingen und langten dann eine Viertelstunde später vor dem Quartier der Nabels an. Deren Wirtin begoß im Vorgarten die Beete.

„Gewiß, – Herr Nabel wohnt hier,“ meinte die Frau. „Aber die Herrschaften schlafen noch.“ Sie lächelte. „Es wurde gestern abend Verlobung gefeiert – mit Sekt!“

Frau Amalie riß den Mund auf.

„Ver – – Verlobung?“ meinte sie. „Wer hat sich denn verlobt?“

„Na, Fräulein Trudchen. Oh – sie macht eine glänzende Partie! Einen Baron hat sie bekommen.“

Zum Glück war eine Gartenbank in nächster Nähe. Frau Amalie konnte sich also setzen. Und das war gut. Denn ihr zitterten die Knie vor Empörung.

„Einen – einen Baron!“ stammelte sie. „Waldemar, was sagst du dazu?!“

Waldemar sagte gar nichts. Er hatte anderes zu tun. Er hatte nur Augen für ein junges Mädchen, das da soeben um das Haus herumgekommen war und die beiden Grafs jetzt etwas unsicher musterte.

Jetzt hätte Waldemar den Mund beinahe vor Staunen aufgerissen. Daß Trudchen sich einen Baron geangelt hatte, war ihm herzlich schnuppe. Deshalb hätte er noch nicht mal die Lippen geöffnet.

Aber – das, was er dort vor sich in lieblicher Jugendfrische und einen bescheidenen, netten weißen Kleid sah, das – das konnte nur eine Sinnestäuschung sein! Er hatte Lia Melba doch vorhin noch in einem ganz anderen Anzug auf dem Bahnhof bemerkt, Lia und Wendstein!

Und jetzt – jetzt tauchte sie hier auf?! Hier bei Nabels – in diesem Haus?!

Ihm war ganz wirr im Kopf! –

Das mußte doch Lia sein! Eine solche Ähnlichkeit zwischen zwei Menschen konnte es nicht geben.

„Waldemar!“ mahnte Frau Amalie. „Du bist ganz still zu dieser – dieser Verlobung?!“

Da hatte die Wirtin die junge Dame in Weiß erblickt, meinte:

„Falls Sie an die Herrschaften etwas auszurichten haben, – dort – das ist die Gesellschaftsdame Fräulein Gisela von Sharp, Tochter des verstorbenen Generalleutnants Exzellenz von Scharp.“

Frau Amalie schaute hin. Gesellschaftsdame?! Hielten Nabels sich wirklich so was Feines?!

Und Amalie winkte. „Fräulein, einen Augenblick.“

Gisela kam näher. Waldemar grüßte, verbeugte sich.

„Gnädiges Fräulein gestatten: Waldemar Graf! – Meine Mutter. – Wir sind Verwandte von Nabels. Wir wollten sie besuchen –“

Gisela dachte: ‚Erich hat Recht gehabt. Das Äußere des Grafen Waldemar ist sehr ansprechend.‛ – Daß Waldemar unglücklich – mehr als unglücklich in Lia Melba verliebt war, wußte sie nicht. Das hatte Wendstein verschwiegen. Er hatte Waldemar nur als einstigen Kriegsgefährten stets über den grünen Klee gelobt.

„Die Herrschaften schlafen noch,“ erklärte Gisela mit einem feinen Lächeln. „Wollen Sie nicht in der Veranda Platz nehmen? Ich werde Sie anmelden gehen.“

Frau Amalie zog Waldemar am Rockknopf zu sich heran.

„Du, wir lassen uns nichts anmerken – nichts!“ flüsterte sie. „Den Baron muß ich mir besehen, der Trudchen gewählt hat – ausgerechnet Trudchen Nabel!“

Waldemar war sehr einverstanden damit. Er wollte sich weniger den Baron als vielmehr dieses Fräulein von Scharp ansehen. Hier gab es irgend ein Rätsel zu lösen. Diese – diese geradezu unwahrscheinliche Ähnlichkeit! Das mußte er ergründen.

Frau Amalie nahm in der Veranda Platz Waldemar blieb im Vorgarten.

Gisela erschien sehr bald wieder. Sie hatte von der Küche aus gehörig gegen die Tür der Nabelschen Damen gehämmert und diese auch wirklich munter bekommen.

Waldemar begann jetzt eine Unterhaltung mit ihr. Er war zunächst noch etwas befangen. Kein Wunder, wenn man das getreue Ebenbild des Weibes vor sich hat, das man so unaussprechlich liebt.

Das getreue Ebenbild? Nein – allmählich erkannte Waldemar doch, daß es mit diesem Ebenbild nicht so ganz stimmte – nicht so ganz! Der Unterschied lag darin, daß diese Gisela so weit mehr jugendfrischer, jungfräulicher wirkte. Und dann: Sie war weit weniger quecksilbrig als die Lia Melba.

Aber – desto entzückender!

Waldemar bat, man solle sich doch auf die Bank unter die Fliederbüsche setzen. Gisela nickte. Und inmitten des Duftes einer prächtigen, spätblühenden Fliederlaube begann Gott Armor den Bogen zu spannen – schoß dann den ersten Pfeil ab.

‚Merkwürdig!‛ dachte Waldemar, ‚ich habe Lia Melba so schnell vergessen!‛

Seine Augen hatten einen warmen, innigen Glanz. Ganz offen sprach er plötzlich zu Gisela über sein Leben, über seine Tätigkeit, die ihm nicht genügte. Er hatte überhaupt nicht das Gefühl, eine Fremde vor sich zu haben, einer Fremden sein Herz auszuschütten.

Dann nahm er all seinen Mut zusammen, fragte:

„Gnädiges Fräulein, Sie haben eine geradezu überraschende Ähnlichkeit mit einer Kabarettkünstlerin, die ich in Heilmünde –“

Weiter kam er nicht. Vom Hause her ertönte ein gellender Schrei – dem ein unverständliches Kreischen folgte.

 

 

7. Kapitel

Der Nabel-Auszug.

Frau Amalie hatte Trudchen und den Baron inzwischen glücklich ‚hinuntergewürgt‛, wie man zu sagen pflegt, wenn man sich mit etwas Unangenehmem abgefunden hat.

Sie sah Waldemar und die hübsche, adlige Gesellschaftsdame in der Fliederlaube verschwinden. Hm – ein Fräulein von Scharp, Exzellenztochter, – das war mindestens so gut wie ein Baron! Wenn Waldemar sich mit der verlobte, dann – dann hatten diese Nabels nichts mehr vor Grafs voraus – nichts! –

So überlegte Frau Amalie. –

Mittlerweile hatte es in den beiden Schlafgemächern der Nabels eine kleine Revolution gegeben. Als die Gisela den beiden Damen durch die Tür zugerufen hatte, daß Grafs aus Heilmünde eingetroffen seien, war Frau Klara mit einem Satz aus dem Bett gefahren, hatte sofort in das Wasserglas gelang, wo das künstliche Gebiß für die Nacht untergebracht war, schob es in den Mund und rief dann:

„Trudchen, hast du gehört?! Grafs – Grafs! Wie ist das möglich?! Wir haben doch depeschiert –“

Trudchen erhob sich recht schwerfällig aus dem Kissen. Sie sah ganz grüngelb vor Kater im Gesicht aus.

„Mir – mir ist – so schlecht,“ stöhnte sie.

Frau Klara fühlte jetzt gleichfalls, daß ihr Magen sich umzukrempeln drohte.

Die Tür nach dem Nebenzimmer hatte sich leise geöffnet. Herrn Hugos geisterbleiches Antlitz lugte in das Frauengemach hinein.

„Ihr also auch!“ sagte er kläglich. „Ich hab’s schon hinter mir. Die Sektsitzung war zu ausgedehnt –“

In Zebraunterhosen trat er näher, zog die Fenstervorhänge auf.

„Wie – was?“ rief er entgeistert. „Hier – hier fehlt ja eine Fensterscheibe?! Da – die Reste des Glases sind mit Teer beschmiert. Das – das ist Einbrecherarbeit!“

Die Damen sprangen auf. Frau Klaras Blick glitt über den Tisch.

Ein wahnwitziger Aufschrei drängte sich über ihre Lippen.

„Unser Schmuck – gestohlen – weg – weg!“

Zwei Gestalten im Nachthemd und eine dritte in buntgestreiften Unterhosen stierten auf den leeren Tisch. Dann schaute Hugo Nabel nach der Ecke hin, wo die Koffer standen. Davor lagen Wäsche, Kleider unordentlich umhergestreut.

Hugo war mit einem Satz dort, wühlte in dem einen Koffer – heulte auf:

„Meine Brieftasche – auch weg – mit dreißigtausend Mark.“

Und Trudchen winselte als Nachklang: „Mein Brautgeschenk – auch weg, – der schöne Anhänger! Oh, was wird Alexander sagen!“

Hugo Nabel faßte sich als erster. „Zieht euch an. Ich werde schleunigst zur Polizei eilen –“

Frau Klara und Trudchen verwechselten in der Aufregung die falschen Zöpfe, tuschten sich die Augenbrauen zu dunkel.

Und Frau Klara jammerte:

„Zu alledem noch die Grafs – diese Amalie! Natürlich trägt sie noch immer die Perlenmantille! Jedenfalls stelle ich sie dem Baron als ganz – ganz entfernte Kusine vor –“

Hugo war fertig, ging in die Veranda, begrüßte Amalie.

„Bestohlen sind wir – Geld, Schmuck! Entschuldige, ich will erst meinem Schwiegersohn, den Herrn Baron von Knüpfler, benachrichtigen und dann die Polizei holen.“

Vor der Veranda standen Gisela und Waldemar. Herr Hugo Nabel klärte auch sie hastig über die Bedeutung der Angstschreie auf und jagte weiter.

Gisela war nicht im geringsten überrascht über diese Schreckensbotschaft. Als ‚Personal‛ hätte sie doch wenigstens ein Wort des Bedauerns äußern müssen.

So dachte Waldemar Graf und sah das junge Mädchen deshalb etwas fragend an. Ihre dunklen Augen begegneten den seinen und sie lächelte ganz wenig.

„Warten sie ab, Herr Graf,“ flüsterte sie. „Auch dieser Diebstahl hängt mit der Frage zusammen, die Sie vorhin an mich richteten: über meine Ähnlichkeit mit Lia Melba –“

Waldemar konnte nur den Kopf schütteln.

„Diebstahl – Lia Melba?! Daraus werde ein anderer klug!“

Nun tauchten auch die Nabelschen Damen auf. Es gab natürlich eine überaus herzliche Begrüßung mit Grafs, – natürlich! Die Gäste, die uns am ekligsten sind, empfängt man ja stets am höflichsten. Das gehört zum guten Ton, der vielfach ein ‚falscher‛ Ton ist.

Gewiß – der Einbruch und die verschwundenen Wertsachen dämpften diese ‚Wiedersehensfreude‛ etwas. Aber anderseits erhielt diese Begrüßung wieder für die Nabelschen Damen etwas sehr Weihevolles dadurch, daß sie Grafs den Herrn Schwiegersohn bzw. Bräutigam ‚frisch servieren‛ konnten, wobei Frau Klara mit dem ‚Baron‛ in ihren Sätzen außerordentlich verschwenderisch umging.

Frau Amalie als praktische Frau fragte sofort:

„Was ist er denn?“

„Hm – Schriftsteller,“ erwiderte die Nabeln etwas zögernd.

Amalie Graf zog die Oberlippe hoch. „Schriftsteller?! Hat er denn wenigstens was?“ Dieses ‚was‛ bedeutet bekanntlich bei der Klärung persönlicher Verhältnisse stets Geld.

Trudchen rief sofort: „Er ist sehr reich – sehr! Er hat mir gestern zur Verlobung einen Brilliantanhänger geschenkt, der mindestens zwanzigtausend Mark gekostet haben muß. Leider –“ – sie kämpfte mit Tränen – „leider haben die Diebe auch den gestohlen –“

Frau Amalie musterte jetzt Trudchens Oberfrisur.

Hm – du bist recht grau geworden, Kind,“ sagte sie mit verletzender Ehrlichkeit. Ach – die reinste Freude ist ja, wenn man anderen einen kleinen Stich versetzen kann! Frau Amalie sah sehr wohl, daß Frau Klara und Trudchen die falschen ‚Wilhelms‛ verwechselt hatten. Aber sie tat eben als sähe sie es nicht!

Frau Klara warf einen Blick auf Trudchens Kopf. Und der Blick enthüllte ihr alles.

„Ach – nur eine kleine Verwechslung,“ meinte sie mit einem süßsaueren Lächeln und zog Trudchen mit sich fort. „Entschuldigt einen Augenblick.“

Und – weg waren sie.

Waldemar verbiß sich das Lachen. Und das ‚Personal‛ ebenfalls. Nur Frau Amalie lachte offen heraus.

In diese Heiterkeit platzte der Herr Baron hinein, der in der linken Pranke einen Rosenstrauß von erheblichem Umfang trug.

„Baron von Knüpfler,“ stellte er sich Waldemar vor, machte dann Frau Amalie eine Verbeugung und reichte Gisela die Hand, – das heißt, er wollte sie ihr reichen, wie so oft schon, aber stets hatte dann Gisela die ihre auf den Rücken genommen – und die Pranke übersehen.

Waldemar war Kenner. –

‚Wie – das soll ein Baron sein?!‛ dachte er. ‚Das ist der Typ des Berliner Zuhälters!‛

„Mein teurer Schwiegervater hat mir soeben mitgeteilt, was hier geschieht,“ sagte der ‚Baron‛ nun. „Ich bin völlig trostlos, daß der gestrige Abend –“

Er stoppte ab. Trudchen hatte den falschen Wilhelm-Wechsel bereits vollzogen, schwebte herein und flog dem Verlobten an die adlige Brust.

„Vaflucht!“ meinte der. „Was siehst du bloß verkatert aus!“

Dann küßten sie sich. Und in der Tür stand wonnevollen Antlitzes Frau Klara, säuselte stolz:

„Nein – dieses Glück! Dieses reizende Paar!“

Man nahm Platz. Das ‚Personal‛ mußte in der Veranda den Kaffeetisch decken. Waldemar halb freiwillig dabei. So konnte er doch wieder mit Gisela in der Küche plaudern.

„Wenn ich nur erst wüßte, was das alles bedeutet,“ meinte er. „Gnädiges Fräulein, ich bemerkte sehr gut, daß Sie dem Baron nicht die Hand gaben. Dieser Baron kommt mir stark merkwürdig vor, offen gestanden. Handschuh- und Schuhgröße sind verdächtig, und die Begrüßungsworte für seine Braut waren zum mindesten etwas originell.“

Gisela reichte ihm die Kaffeekanne, lächelte schelmisch: „Da – tragen Sie sie hinaus, Herr Graf.“

Waldemar war selig. Nein – war das nur ein liebes, natürliches Mädel! Und – wie gute Freunde standen sie schon miteinander! –

Er trug also die Kaffeekanne in die Veranda. Dort hatte sich mittlerweile Herr Hugo Nabel wieder eingefunden. Und – der Gemeindevorsteher, der hier gleichzeitig die höchste Polizeigewalt vertrat, hatte ihm den patenten Strandphotographen mitgegeben, damit dieser den Tatort gleich im Bild festhielte.

Hugochen war dieser Photograph wenig angenehm. War es doch derselbe, der Fanni und ihn getypt hatte – ihn allerdings mit verdecktem Gesicht. Hugo hatte denn auch unterwegs zu Wendstein gesagt: „Sie – Vorsicht meiner Frau gegenüber! Sie verstehen mich wohl!“ Und dann hatte er ihm einen Fünfmarkschein geben wollen.

Aber der Typer hatte abgewinkt. „Ich bin hier jetzt Beauftragter der Polizei, Herr Nabel. Von der Photographie werde ich schweigen – auch ohne Bestechung.“

Gisela trug jetzt einen Teller mit Kuchen auf. Den Photographen beachtete sie nicht. Wendstein hatte Grafs nur eine knappe Verbeugungen gemacht, packte nun seinen Apparat in der Veranda aus, während die anderen Kaffee zu trinken begannen.

Die Unterhaltung drehte sich natürlich um den Diebstahl. Der Baron erklärte, er würde aus Berlin telegraphisch einen Detektiv bestellen, denn die hiesige Polizei würde ja doch versagen.

Hugo Nabel fand diesen Gedanken glänzend.

Da war denn Erich Wendstein Gelegenheit gegeben, die Sache hier zum Klappen zu bringen. Draußen auf der Straße standen seine beiden Gehilfen schon bereit.

„Hm – eine Detektiv!“ sagte er sehr laut. „Da brauchen Sie nicht erste depeschieren! Ich bin nämlich Detektiv und zwar Angestellter der Berliner Detektei ‚Schlitzmacher‛. Weshalb verfärben Sie sich, Herr Baron? Falls Sie fürchten, daß ich Ihretwegen erst nach Heilmünde und dann hierher kam, so trifft das zu. Vor sechs Wochen wurde der Frau Ministerialdirektor Mosesleben ihre sämtlichen Brillanten gestohlen. Sie hatte eine Zeitlang eine Hausfriseuse namens Fanni Schnudtke beschäftigt. Diese Fanni steht in sehr naher Beziehung zu einem der Polizei wohlbekannten Juwelendieb, der gern unter adligem Namen arbeitet. Der Mann heißt Alexander Kopf oder auch Kopf-Alex. Ich habe seine Spur bis hierher verfolgt. Er hatte die Frechheit, zwei der gestohlenen Brilliantringe zu tragen und – seiner Braut einen ebenfalls der Frau Mosesleben gestohlenen Brillantanhänger zu schenken.

Gestern abend hat er dann der Familie Nabel ein Schlafmittel in die Sektgläser getan, um nachher in aller Sicherheit in das Zimmer der Damen einsteigen zu können.“

Der Baron, der neben Trudchen auf dem Sofa saß, war aufgesprungen. Aber – er konnte nicht so schnell heraus. Wendstein hielt ihm schon eine Pistole entgegen, stieß gleichzeitig einen Pfiff aus.

Nabels waren leichenblaß geworden. Sie wußte nun Bescheid. Und Trudchen – Trudchen fiel jetzt vorschriftsmäßig in Ohnmacht.

Kopf-Alex aber benahm sich sehr vernünftig, ließ sich ruhig Handschellen anlegen und sagte nur zu Hugo Nabel:

„Sie oller Dussel, ich soll Sie noch von Fanni grüßen! Schade – nun is ‛s alle mit det nette Zimmer am Bayerischen Platz und mit det Monatsjehalt, det Fanni und mir manche vajnieste Stunde bereitet hat. Empfehle mich, meine Herrschaften. Auf Wiedersehen vor der Strafkammer, – Sie als Zeigen und Fanni und ich als unschuldij anjeklagt –“

Frau Klara schrie auf.

„Hugo – ist das wahr?! Hugo, du – du hast ein Weib ausgehalten? Und – und mir gegenüber spieltest du immer den – den altersschwachen?“

Dann folgte sie dem Beispiel Trudchens und markierte eine Ohnmacht.

Grafs kamen sich hier jetzt sehr überflüssig vor. Wendstein meinte, man solle zusammen in einem nahen Hotel frühstücken. Er gab dann auch Gisela einen Wink, und sie fand sich nachher ebenfalls dort ein, wo Waldemar Graf nun endlich auch über die Beziehungen zwischen Wendstein und Lia Melba Aufschluß erhielt.

Auf der Terrasse des Hotels saß nämlich schon wartend die reizende Kabarettdiva, eilte Waldemar Graf entgegen, sagte herzlich:

„Bitte – bleiben Sie auch der Freund der Frau Liane von Wendstein, wie Sie Lia Melba ein lieber Freund waren. Erich ist nämlich mein Gatte. Er verdient noch nicht so viel, daß wir gemeinsam davon leben können. So muß ich denn vorläufig noch Lia Melba bleiben. – Wie hat Ihnen denn meine Zwillingsschwester Gisela gefallen?“

Waldemars Gesicht glich jetzt dem sonnendurchstrahlten Junihimmel.

„Oh – Sie gefällt mir viel, viel besser als –“ er stoppte verwirrt. Himmel – hätte er sich beinahe was Schönes geleistet.

„– als Lia Melba!“ vollendete diese heiter. „Das haben Erich und ich auch erwartet.“ –

Es wurde dann ein sehr – sehr vergnügter Tag für Grafs, Wendsteins und Gisela. –

Nabels reisten Hals über Kopf noch an demselben Abend ab. Dem ‚Personal‛ gewährten sie huldvollst die sofort erbetene Entlassung. Frau Amalie lud Gisela dann ganz von selbst ‚für ein paar Tage‛ zu sich ein.

Ihr mütterlicher Instinkt war erwacht und sagte ihr hier eine baldige Verlobung voraus.

Die Verlobung fand auch statt. Und – der Zufall wollte es, daß Waldemar seine Gisela genau an derselben Stelle in den Vordünen, wo damals Erich und Lia von ihrem späteren Schwager belauscht worden waren, um das Jawort bat.

Nun – viel zu bieten brauchte er nicht! Und so genoß er denn dort, wo er Qualen der wildesten Eifersucht einst ausgestanden hatte, die ersten süßen Küsse von jungfräulichen und doch so heißen Lippen. –

 

 

Anmerkungen:

[1] Vortragskünstlerin

[2] veraltet für gesellige Veranstaltung (in Kurorten)

[3] span.: Schleiertuch