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Heiße Herzen

 

Heiße Herzen

 

Sittenroman von
Kurt Springer

 

Verlag. moderner Lektüre.
— — — — — G.m.b.H. — — — — —

Berlin SO16, Michaelkirchstraße 23a
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre
G. m. b. H., Berlin 26. — 1924.

 

 

Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin

 

 

1. Kapitel

Wenn der junge Wein blüht.

Man muß ihn kennen, um ihn zu lieben, den alten, großen, wundervollen Park der Schützenbrüderschaft der ehemaligen Hansestadt.

In breiten Kastanienalleen stehen da die hübschen Glaslauben der einzelnen Schützenbrüder. Und jede hat ein kleines, wohlgepflegtes Vorgärtchen; an jeder ist ein Porzellanschild mit dem Namen des Besitzers angebracht.

Dann gibt es da noch enge Wege mit lauschigen Plätzchen; auch allerhand Schlupfwinkel sind vorhanden, besonders im westlichen Teile, wo der kleine See schilfumwuchert träumt und winzige Boote trägt. Und wenn man über die Parkmauer nach Norden zu klettert, gelangt man in eine romantische Wildnis, einen früheren Kirchhof, allgemein der Franzosenfriedhof genannt.

Hier ruhen die Fremdlinge aus Frankreichs Gauen begraben, die der große Napoleon einst gegen die Stadt schickte und die dann bei der Belagerung den Tod fanden. –

Im Winter liegt der Schützenpark verlassen da. Wenn sich der Frühling regt, wird es auch in seinen Alleen lebendig. Und wenn das erste Grün Büsche und Bäume ziert, wenn die Sonne überall neues Leben und Werden hervorgezaubert hat, dann schleicht die Liebe auf glühend roten, leisen Schuhchen durch die stillen Seitenwege und hinterläßt überall nur für die Glückskinder zarte Spuren. Und diese Spuren sind die wunderbar holden Erinnerungen an das erste unnennbare Sehnen, das sich in jungen Herzen regte.

Das ist der alte Schützenpark. Oh – er könnte viel erzählen, wenn er wollte. So sehr viel. Aber er ist verschwiegen. Er plaudert nichts aus von alledem; er freut sich all dessen, er würde sein greises Haupt schütteln, wenn die Liebe einmal nicht über die Wege wandelte, wenn nicht wie im jedem Jahr bisher aus den Tiefen seiner Büsche das heitere, klingende, vorsichtige Lachen der Jugend ertönte; wenn nicht bei jedem Schuß, der von der Schießhalle herüberdröhnt, als Nachhall so und so viele übermütige Lippenpaare sich fänden; wenn nicht an den Festen der Brüderschaft abends das junge Volk sich absonderte und die Dunkelheit mehr begehrte als das schönste Feuerwerk, das auf dem großen Spielplatz abgebrannt wurde.

Die Liebe gehört zu dem alten Park. –

Mai war’s wieder geworden, Liebeszeit. – Auf der Mauerkrone saßen nebeneinander Else Arnbach und Hektor Schlegel.

Sie ein schlanker Backfisch von 16 Jahren mit aschblonden Zöpfen und einem verträumten, schmalen Gesicht; er ein Schüler noch, Oberprimaner, mager wie ein Windhund, sehnig, etwas blaß das Gesicht, und darin ein Paar stets etwas spöttisch blickende, dunkle, große Augen.

Die beiden saßen so, daß sie in die Wildnis des Franzosenfriedhofs hinabblickten. Zwischen ihnen lagen ein paar Bücher: Else pflegte in der Laube ihrer Mutter die Schularbeiten zu erledigen. Wenigstens nahm sie stets die Bücher mit. Aus dem Arbeiten wurde nicht viel, seitdem Hektor Schlegel sich regelmäßig auf Umwegen an der Parkmauer einfand. Und das ging nun bereits vier Wochen so.

„Kommen Sie, Elfchen, ich zeige Ihnen das Mausoleum des Marschalls Tourand,“ meinte Hektor. „Kommen Sie doch! – Wenn Sie nur ein wenig mehr Mut hätten. Alles an Ihnen ist so elfenhaft. Elfen mögen ja vielleicht so ein wenig feige sein. Aber Sie sind doch ein Wesen von Fleisch und Blut –“

Sie war rot geworden. Sie wußte ja, weshalb er so dringend bat, sie sollte einmal mit ihm in die Wildnis da unten eindringen; er wollte mit ihr allein sein. Das – das war’s! Endlich einmal so allein sein, daß er keine fremden Augen zu fürchten brauchte.

„Ich bin nicht feige,“ sagte sie leise. „Nur –“

„Nun – nur?!“ drängte er. „So sprechen Sie sich doch einmal aus, Elfchen. Sie sind immer so still, so bedrückt, so – gar nicht auf dieser Erde –“

Er hatte die Bücher aufgenommen und rechts neben sich gelegt, rückte nun dichter an das schlanke Mädel heran, unter deren weißer Bluse sich bereits eine knospende Fülle wölbte. Er griff nach ihren im Schoße ruhenden Händen, hielt sie fest.

Sie wollte sie ihm entziehen.

„Nicht doch – aber Hecko, – wenn es jemand sieht –“

„Wir sitzen ja mit dem Rücken nach dem Parke hin, und hinter uns stehen die alten Fliederbüsche –“ Er lachte fröhlich. Und das Lachen war nicht spöttisch, wie der Blick seiner weltklugen Augen.

Sie wehrte sich nicht mehr, überließ ihm die Hände, die er nun drückte und preßte und streichelte.

„Elfchen – kommen Sie! Der Marschall Tourand wartet auf uns,“ flüsterte er. „Wenn Sie heute wieder feige sind, dann – dann habe ich mich in Ihnen wirklich getäuscht –“

Er lehnte sich an sie, raunte ihr die Worte ins Ohr. „Man muß Mut haben und über die Menschen die Achseln zucken können, Elfchen –“

Er fühlte plötzlich, daß sie zitterte. Sie war blaß geworden. Aber ihre Hände waren in den seinen wie glühende Kohlen.

Er schaute sie an, gab ihre Hände frei.

„Haben Sie Angst vor mir, Elfchen?“

„Nein – nein, – vor – vor Mama und – dem Hagen –“

Er rückte wieder von ihr ab.

Da blickte sie auf, blickte ihn an. Ihre Augen schwammen in Tränen.

„Weshalb – weshalb –“ Sie wurde wieder rot, beendete den Satz nicht und schaute zur Seite. Dann – ganz plötzlich:

„Hecko – ich habe Mut!“

„Und nachher tu’s Ihnen leid, Elfchen –“

„Nein. Was ich mir einmal vornehme, das ist stets so, daß es nachher kein Bereuen gibt –“

Drunten auf dem Franzosenfriedhof stand gerade dicht an der Mauer ein Grabstein ganz windschief. Elfchen bückte sich, bekam den Stein zu fassen und – schwang sich herab – mitten hinein in die Brennnesseln, die hier so üppig wucherten.

Hecko war sofort neben ihr. „Elfchen, Sie hätten fallen können.“ – Das klang so besorgt.

„Ich falle nicht.“ Sie lächelte ihn an. Und da sahen auch ihre graublauen Augen plötzlich ganz anders aus – nicht mehr so ernst – versonnen und weltentrückt.

Er ging voran. Da wuchsen Trauerweiden und Lebensbäume, knorrige Buchen und wilde Rosen, Dornen und Disteln; da fand sich nur einer hindurch, der hier Bescheid wußte.

Und mitten in diesem Fleckchen seltsamen Urwalds erhob sich der halb eingestürzte Granitbau des Mausoleums des französischen Marschalls Tourand mit den aus Geschützrohren gegossenen bronzenen Toren, die sich nicht mehr öffnen ließen, da das Fundament sich gesackt hatte und die Torflügel festgeklemmt waren.

„Wie schön,“ flüsterte Else. „Wie romantisch. Merkwürdig, daß so wenige diesen alten Friedhof besuchen.“

Sie stand und schaute das grünlich schillernde Tor an, auf dem in erhabenen Buchstaben zu lesen war:

Dem tapferen Feinde, Marschall Tourand,

die unbesiegte Stadt. 5. 8. 1807.

Hektor Schlegel lächelte. Und jetzt war es ein geringschätzig–spöttisches Lächeln.

„Der Friedhof hier ist verrufen – seit 1850,“ sagte er kurz. „Damals gab es droben am Zargenberge einen Erdrutsch. Und die Bewegung der Erdmassen muß sich bis hier fortgesetzt haben. Eines Tages standen alle Kreuze und Grabsteine schief, und das Mausoleum ließ sich nicht mehr öffnen. Unsere Großväter waren vielleicht noch ein wenig abergläubischer als wir heutzutage. Sie mieden fortan den Friedhof als Unglücksstätte. Und das ist heute nach weiteren fünfzig Jahren noch genau so –“

Er stand wieder dicht neben dem aschblonden Mädel, er legte jetzt den Arm um sie, zog sie an sich.

„Elfchen, ich bin nicht abergläubisch. Für uns soll hier ein stillverschwiegenes Glück erblühen –“

Schräg über ihnen leuchtete die Nachmittagssonne. Und sie warf die Schatten der beiden gerade auf das bronzene Tor.

„Elfchen, hast Du mich ein wenig lieb?“ flüsterte der große, schlanke Mensch, der so gar nichts Jungenhaftes mehr an sich hatte.

Sie sträubte sich nicht. Sie war wieder blaß geworden. Und wieder lief es wie ein Beben über ihre Gestalt hin. Ihr Kopf ruhte an seiner Schulter. So konnte er nicht sehen, wie sie sich abermals verfärbt hatte. Doch das Zittern ihres jungen Leibes sagte ihm genug.

„Elfchen, hast Du mich lieb?“ fragte er wieder und strich ihr mit der Linken über das Haar. – „Oder – so ein wenig Angst, Elfchen?“ fügte er hinzu.

Sie bog plötzlich den Kopf zurück. Jetzt bemerkte er die Blässe ihres Gesichts. Doch in ihren Augen war nichts von Angst zu lesen. Darin erstrahlte eine heiße, hingebungsvolle, keusche Zärtlichkeit. Und Elfchen lächelte genau so hingebungsvoll, sogar ein wenig schalkhaft–übermütig.

„Angst – vor Dir, Hecko?!“ flüsterte sie nun. „Nein – Nein, nur – nur vor mir selber ist mir so – so ein wenig bang zumute –“

Er hörte nicht mehr hin. Er küßte sie erst auf die Stirn, dann auf den Mund.

Ihre Arme umschlangen seinen Hals. Er erschrak fast. So fest preßte sie ihn an sich.

Und zwischen diesen ersten Küssen flüsterte sie immer wieder:

„Hecko – mein Hecko –“

War das die stille verträumte Else Arnbach?! War das das aschblonde Mädel, das im Winter in der Tanzstunde erst so viel angeschwärmt und dann von allen ‚Herren‘ links liegen gelassen wurde?! War das die ‚kühle, dumme Pute‘, wie sie bald allgemein hieß?!

Hektor Schlegel war kein Unschuldslamm mehr. Mein Himmel: Großstädter, Oberprimaner, 19 Jahre und – so ganz trainierte Kraft, so lebensfroh und so übervoll von Lebensmut! – Nein: die Liebe kannte er, wenigstens die, die nachts über die Treppen hinaufschleicht in die Kämmerlein weißbehäupteter, niedlicher Zofen.

Die war ihm, dem Sohne des Hauswarts eines der modernsten Mietspaläste der Stadt, nicht fremd.

Aber diese Liebe hier, – das war so ganz etwas anderes. Das war ein Bäumlein, dessen Wurzeln im Herzen und in der Seele Wurzel geschlagen hatten; das war ein Bäumlein, das er hegen und pflegen wollte, bis es einst in der fernen Zukunft die schönsten Früchte tragen würde: die letzte Erfüllung der Liebe, die Vereinigung für immer. –

Hektor war siedend heiß geworden unter Elfchens scheuen und doch so verlangenden Küssen.

Ein wundervolles Gemisch von kindlicher Naivität und echtem Weibestum war in ihren Zärtlichkeiten. Sie ahnte das selbst nicht. Sie hatte nur den einen Wunsch: Ihm zu zeigen, wie sehr sie ihn liebte! –

„Nun wollen wir dem Marschall guten Tag sagen,“ meinte er plötzlich und schob den Strohhut aus der Stirn.

Sie lachte. „Nein – was Du für komische Augen hast, Hecko. So – so verschwommen –“

Er wurde etwas verlegen. „Der Marschall wartet, Elfchen –“ Er drückte sie wieder sanft an sich. „Nun bist Du mein Bräutchen. Nun haben wir kein Geheimnis mehr voreinander. – Schau’ mich nicht so ungläubig an, Elfe. Mein Bräutchen – wirklich! Mein liebes Bräutchen, also – heimlich verlobt! Ich bleibe Dir treu. Ich bin kein Knabe mehr. Ich weiß, was ich will. Ich werde Philologie und Philosophie studieren, dann zur Presse gehen. In fünf, sechs Jahren kann ich selbständig sein. Das sind meine Zukunftspläne. Und – ich werde etwas erreichen – Deinetwegen, Elfchen! Habe Vertrauen zu mir. Bleibe auch Du mir treu. Und – daß Du mir treu sein wirst, sollst Du mir am Sarge des Marschalls versprechen. Niemand weiß, daß man doch noch in die Halle des kleinen Mausoleums hineingelangen kann. Ich habe den Zugang gefunden. Komm’, Elfchen, komm’. Es ist so feierlich da drinnen –“

Er nahm sie bei der Hand und zog sie mit sich in das dichteste Gestrüpp hinein, bog die Zweige auseinander, führte sie einen schmalen Pfad entlang nach der Rückseite des Steinhäuschens. Den Pfad hatte er mit dem Taschenmesser mühsam freigelegt. Er liebte alles, was abseits der breiten Heerstraße der Philister lag. So auch diesen Friedhof. Auch er träumte gern. Aber seine Träume waren kein zielloses Gleitenlassen der Gedanken; das waren vielmehr logisch aufgebaute Vorgänge, waren Menschenschicksale, die seine Phantasie schuf, waren die Vorboten dessen, was später sein Lebensschicksal werden sollte.

Und hier an der Rückseite wuchs dicht an der rissigen Mauer ein wilder Himbeerstrauch, anzusehen wie ein riesiger, stachliger Igel. Weit krochen die Ranken am Boden hin, waren die Mauer hochgeklettert und bedeckten sie meterbreit mit ihrem grünen Flechtwerk.

„Gib acht, Elfchen,“ sagte Hecko. „Dies ist mein Geheimnis –“ Und er hob einen langen, knorrigen Buchenast auf und zerrte mit dessen Hilfe diesen Vorhang beiseite, klemmte den Ast fest und wies dann auf ein Loch in der Mauer, wo die Steine nach innen hineingestürzt waren.

„Ich klettere voran, Elfchen. Ich helfe Dir. Wenn Du vorsichtig bist, wirst Du Deine Bluse nicht beschmutzen. Oder warte, – ich ziehe die Jacke aus. So – schlüpfe nur hinein –

Else schaute an sich herab. „Hecko – das ist wirklich ein Spaß,“ lachte sie kindlich. „Und romantisch, weißt Du. Ganz so, wie in manchen Romanen.“

Er war schon durch die Maueröffnung gestiegen, reichte ihr die Hände, half ihr.

Dann stand sie und staunte. „Wie – wie feierlich es hier ist, Hecko. Wie in einer Kirche –“

Ganz oben in den Seitenwänden waren kleine Fenster mit bunten Scheiben angebracht. Ein mildes Licht fiel so in das Innere des Mausoleums hinein, schuf eine Dämmerung, an die das Auge sich erst gewöhnen mußte.

In der Mitte stand auf zwei Granitklötzen der schwere Metallsarg des französischen Feldherrn. Im übrigen war die Halle völlig leer.

Hektor hatte Elfchen wieder umschlungen. Eng aneinander geschmiegt verharrten sie stumm am Kopfende des Sarges.

Sie legte ihm plötzlich die Arme um den Hals.

„Hecko – ich schwöre Dir’s: ich bleibe Dir treu! Ich werde warten, bis – bis Du mich holen kommst, bis Du es zu etwas gebracht hast –“

Er küßte sie – feierlich, zart. Ihm war so seltsam zumute. So, als ob dies hier eine Kirche wäre und der Sarg dort ein Altar, vor dem zwei Liebende zum Lebensbunde zusammengetan wurden.

Und wieder hielten sie sich umschlungen, standen Hand in Hand und ließen ihre Gedanken unwillkürlich in die Zukunft schweifen, die vor ihnen lag wie ein dunkles Rätselland.

Elfchen fröstelte. „Gehen wir,“ bat sie. „Hier – hier wird man zu ernst gestimmt –“

Draußen in der Sonne lebte sie schnell wieder auf. Dort wußte Hecko ein Plätzchen, wo man sicherer war wie in Abrahams Schoß, wie er vergnügt versicherte.

Und da saßen sie im hohen Grase auf Heckos Jacke, damit Elfchens heller Rock keine Flecken bekäme; dort wurden ihre Lippen heiß von langen, endlosen Küssen; dort erlebte es Hecko abermals, daß Elfchens Wangen jede Farbe verloren.

Doch – jetzt wußte er, was das bedeutete. Er kannte ja das Gerede, das über Elfchens Mutter in der Stadt umging. Und – Elfchen sah der Mutter äußerlich so ähnlich, konnte auch deren heißes Blut geerbt haben. – Nein, nicht ‚konnte‘! Sie hatte es geerbt. Das fühlte er. Wenn er gewissenlos genug gewesen wäre, diesen von Liebessehnsucht erfüllten Maitag auszunutzen, – er hätte bei Elfchen keinen Widerstand gefunden!

Um ½ 7 abends trennten sie sich. Hecko half Elfchen über die Mauer. Ihm selbst war der Schützengarten verschlossen. Die Schützenbrüderschaft war exklusiver als ein Garderegiment. Und noch dazu er – er, der doch nur – Portierssohn war!

Elfchen winkte ihm nochmals zu.

„Auf Wiedersehen, Du Lieber, – morgen nachmittag –“ –

Dieses ‚morgen‘ sollte nie mehr sein – vorläufig.

 

 

2. Kapitel

Die Laube der Mutter.

Elfchen betrat mit ihren Büchern die Laube ihrer Mutter, der Frau Konsul Thea Arnbach.

Dort wartete man auf sie bereits eine Stunde. Die schöne Frau Thea, eine üppige, sehr stattliche, stark gepuderte Dame, hatte bereits Werner Hagen auf die Suche geschickt. Und Werner Hagen war der, den Else einst nach der Mutter Entschluß heiraten sollte, – möglich bald, damit sie die ihr unbequeme Tochter los würde.

Frau Thea saß in der Laube in dem Liegestuhl und hatte in einem Roman geblättert. Ihr gegenüber in einem Korbsessel hatte Doktor Münzer, der Museumsdirektor der früheren Hansestadt, Platz genommen. Albert Münzer mit dem braunen Spitzbart und dem feinen Genießerlächeln war der Typ des eleganten Schürzenjägers. Zur Zeit half er der noch immer so begehrenswerten Witwe über die Einsamkeit ihrer Nächte hinweg. Er war nicht der erste und würde nicht der letzte sein, dem sie in verschwenderischer Fülle Liebe schenkte. –

„Wo warst Du, Else?“ fragte sie scharfen Tones das einzige Kind.

„Droben an der Nordmauer. Ich habe gearbeitet.“ Leicht und glatt kam die Lüge von des Mädchens Lippen. Wäre Doktor Münzer nicht hier gewesen, würde sie sich vielleicht durch Erröten verraten haben. Aber Münzer war ihr zuwider – wie alle Männer, die in der Mutter vornehmem Heim am Moltke-Platz verkehrten. Und: sie wußte ja, was diese Herren, die stets so spät in der Mutter kleinem Salon blieben, und dann so leise davonschlichen, für ihrer Mutter Leben bedeuteten. Es waren keine Freier. Dazu war der Ruf Frau Theas bald nach dem Tode ihres Mannes ein zu schlechter geworden. Nein: Liebhaber waren es; und sie wechselten oft. Früher war Else noch so arglos gewesen. Dann hatte eine Schulfreundin ihr die Augen geöffnet, und sie hatte nicht glauben wollen, daß das – das wahr sein könne.

Und – nicht aus Neugier hatte sie dann eines Nachts gelauscht. Nein, sie hatte jener Freundin nur sagen wollen: „Pfui – Du verdächtigst meine Mutter falsch!“

Sie hatte gelauscht, hatte nur einen Mantel übergezogen und war auf weichen Schuhchen bis zur Tür des kleinen Salons gehuscht.

Dann war Else wie gehetzt in ihr Zimmer geeilt, war ins Bett geschlüpft und hatte besinnungslos geweint. Am Morgen erhielt Frau Thea nicht den gewohnten Kuß am Kaffeetisch. Else konnte nicht mehr lieb zu ihr sein – sie konnte es nicht!

Und von dem Tage an ragte zwischen Mutter und Kind eine Wand empor. Sie fanden sich nicht mehr zueinander. Else sprach sich nie darüber aus, weshalb sie plötzlich so verwandelt war. Und in Frau Thea, die das Richtige ahnte, wuchs da eine stille Feindseligkeit empor, geboren aus Schuldbewußtsein und dem Unbehagen, jetzt – mit einem Aufpasser zusammenzuleben, der ihr nur hinderlich war. –

So war es also jetzt die Anwesenheit Doktor Münzers, die Else trotzige Sicherheit verlieh. Sie legte die Bücher weg. Münzer hatte sie ihrerseits nur durch schwaches Kopfneigen begrüßt.

„Werner Hagen sucht Dich,“ meinte Frau Thea. „In Zukunft erledige Deine Schularbeiten gefälligst hier.“

Else wurde rot. Wie lieblos diese Worte wieder geklungen hatten. – Doch heute konnte auch diese Rüge die Sonne aus ihrem Herzen nicht vertreiben. Sie war ja Braut – eine heimlich Verlobte – und dazu noch Hektor Schlegels Braut, für den die ganze 1. Klasse schwärmte, obwohl er doch nur Portierssohn war.

„Geh, und sieh zu, wo Werner steckt,“ fuhr Frau Thea fort. „Um ½ 8 finde Dich hier zum Abendbrot ein –“

Werner Hagen – natürlich, nur immer Werner Hagen! Nun – die Mutter würde sich irren! –

Die Hagens waren eins der ältesten Patriziergeschlechter der Stadt. Aber – es war mit ihnen in den letzten Jahrzehnten immer mehr bergab gegangen. Sie lebten, wie man wissen wollte, nur noch von einer Familienstiftung, hatten sich aber noch. den ganzen muffigen, engherzigen Dünkel bewahrt, der diese alten Familien auszeichnete.

Werner war das einzige Kind, hatte Jura studieren müssen, denn mit der Kaufmannsherrlichkeit war’s ja vorbei. Er war jetzt Referendar, war ein unleidlicher Streber schon stets gewesen, dabei ein geheimer Sünder, der nach außen den sittlich Einwandfreien spielte und in Wahrheit zu den Stammgästen der übelsten Hafenschenken zählte. Sein Vater, der jetzt als Versicherungsagent sich betätigte, war Elses Vormund. Die beiden Familien Hagen und Arnbach standen sich seit einem Jahrhundert nahe, waren sogar entfernt verwandt. Frau Thea hatte dem alten Justus Hagen gegenüber so manche Verpflichtungen. Ihr Gatte hatte ein Testament hinterlassen, das Else zur Haupterbin einsetzte. Der Konsul Arnbach schien das weite Herz seiner Frau recht genau gekannt zu haben. Da war es nun Justus Hagen, der Frau Thea überaus reichliche Erziehungsgelder für Else bewilligte. Eine Hand wäscht die andere. Else war ein Goldfischlein, und so sollte sie den Herrn Referendar Werner heiraten. Das war fest beschlossene Sache; das wurde auch Else gegenüber vorsichtig zum Ausdruck gebracht. Frau Thea lobte Werner stets über die Maßen. Sie dachte, auf diese Weise ihr Kind beeinflussen zu können.

Else selbst fand den Referendar, mit dem sie sich als Jugendgespielin duzte, genau so widerwärtig wie den Direktor Münzer. Aber diese Umgebung, in der sie lebte, hatte sie beizeiten schlau gemacht. Sie verhehlte ihre wahre Meinung über Werner genau so, wie sie ihr Herz überhaupt niemandem öffnete – nur einem: und das war Hektor Schlegel!

Jetzt wurde sie aus einer der Lauben angerufen. Diese gehörte dem Kommerzienrat Menniger, dem Besitzer einer großen Zuckerfabrik. Mennigers stellten in den philiströsen Patrizierkreisen das moderne Element dar. Sie lebten im Winter monatelang in Berlin. Die beiden Töchter befanden sich jetzt in einem Pensionat in Dresden.

Man feierte heute hier den Geburtstag des Kommerzienrats, dessen Laube mit ihren drei Räumen schon mehr einem Sommerhäuschen glich. Menniger hatte Else gern. Er ahnte, was in der Seele dieses Mädchens vorging, das stets so still, ernst und verschlossen blieb.

Eine große Gesellschaft war hier versammelt. Und auch Werner Hagen saß da und hatte bereits einen roten Kopf von der Sektbowle.

Er stand sofort überhöflich auf, begrüßte Else und tat hocherfreut, sie nun endlich gefunden zu haben. Absichtlich kehrte er vor Bekannten Else gegenüber stets eine Vertraulichkeit heraus, die tatsächlich gar nicht vorhanden war. Er wollte den zukünftigen Bräutigam andeuten. Er war berechnend und falsch. Er überlegte jedes Wort vorher. Er war überall wie auf der Bühne, schauspielerte immer, – nur dann nicht, wenn er in den Hinterstübchen der Kneipen mit Damenbedienung sich von den Anstrengungen dieser gesitteten Lebensführung erholte.

Wer ihn sah und kein Menschenkenner war, fand ihn stattlich, reif, klug und pries ihn als gewandten Gesellschafter. Er war stets tadellos angezogen, hatte Geschmack, hielt sich sehr gerade und befleißigte sich einer langsamen Sprechweise. Sein Gesicht wäre mit den frischen Farben und den regelmäßigen Zügen recht sympathisch gewesen, wenn es nicht einen Ausdruck von fast kriecherischer Liebenswürdigkeit wie eine Maske ständig gezeigt hätte. Er war jetzt 26 Jahre alt, also zehn Jahre älter als Else. Er arbeitete bereits zum Assessorexamen, und es unterlag keinem Zweifel, daß er es mit Glanz bestehen würde. Es gab wenige Leute in der alten Hansestadt, die ihn durchschauten. Zu den wenigen gehörte der Kommerzienrat Menniger, der sich sehr jung erhalten hatte und dem niemand Töchter von 17 und 18 Jahren zutraute. Immerhin: Werner Hagen verkehrte bei Mennigers und war deshalb auch heute hier in der Laube erschienen, um seinen Glückwunsch sehr korrekt anzubringen. Daß er Frau Thea versprochen hatte, Else zu suchen, beschwerte sein Gewissen nicht. Frau Thea rechnete für ihn nicht mit. Er wußte zu viel von ihr, um irgendwie auf sie Rücksicht zu nehmen. Er behandelte sie, wenn sie allein waren, nicht als Dame, und es kam ihm auch nicht darauf an, sie in einer Weise anzulächeln, wie er dies sonst nur Kellnerinnen gegenüber tat.

Das war der Mann, der Elfchen Arnbachs Schicksal werden sollte. –

Else mußte jetzt ebenfalls an der langen Tafel Platz nehmen. Es ging sehr zwanglos her. Was hier versammelt war, kannte sich gut, gehörte zu den oberen Zehntausend der Stadt und bildete so etwas wie eine Freimaurerloge ohne Statuten. Das Statut ersetzten hier die gleichen Interessen und die Gewohnheit.

Else stieß mit Menniger an. – „Austrinken, Kind, austrinken!“ meinte er freundlich. „Morgen ist ja Sonntag, Kleines. Da können Sie ausschlafen. Und selbstverständlich bleiben Sie auch zum Abendbrot hier. Nein, nein, Sie müssen. Ihre Frau Mutter kommt später ebenfalls noch –“

Werner Hagen erbot sich, Frau Arnbach davon zu verständigen, daß Else hier bei Mennigers speisen würde. Als er die Laube betrat, hatte Doktor Münzer sich schon verabschiedet.

„Na, schöne Frau, – so allein?“ meinte er, heute noch frivoler lächelnd als sonst, da ihm der Sekt das Blut erhitzt hatte.

Frau Thea lag auf dem kleinen Diwan, hatte den Kopf in die Hand gestützt. Sie sah unzufrieden aus. Sie hatte gemerkt, daß Doktor Münzers Verliebtheit abflaute. Man hatte ihr erzählt, daß er der Tochter des Eisenbahnpräsidenten Gerstel stark den Hof mache.

„Ich habe Migräne,“ sagte sie kurz.

Der Referendar rückte den Korbsessel dicht an den Diwan und setzte sich.

„Else bleibt zum Abendbrot bei Mennigers,“ meinte er. „Dort wird heute wieder nach Noten geschlemmt. Ja – die Leute müssen doch auch in der Sommersaison zeigen, daß sie Geld haben. – Übrigens sollten Sie nicht so verdrießlich dreinschaun, Theachen, Sie werden ja Ersatz für Münzer finden. Der ist jetzt ins Beamtenlager abgeschwenkt. Lilli Gerstel kriegt ein halbe Million mit. – Weshalb dieser ärgerliche Blick, schöne Frau?! Lassen Sie Münzer beizeiten schießen, geben Sie ihm den Laufpaß. Das ist doch für Sie angenehmer als umgekehrt. Ich war stets Ihr Freund, Theachen, mehr noch als Papa. Wenn ich Papa nicht so zugeredet hätte, würde er Ihnen diesmal kaum wieder für Else eine – ‚dringend notwendige Badereise‘ nach Hamburg bewilligt haben, wirklich nicht –“

Er griff nach ihrer Hand, die sie ihm willig überließ. Dann erzählte er ihr einen mehr als gepfefferten Witz, wobei er die Einzelheiten bis ins kleinste ausmalte.

Der Sekt machte ihn geradezu unvorsichtig. Er beugte sich über die üppige, begehrliche Frau, küßte sie plötzlich.

Sie stieß ihn nur schwach zurück.

„Werner – was soll das! Wenn jemand kommt.“

„Oh – dem kann vorgebeugt werden –“. Er drückte die Türen zu, schloß ab.

Frau Thea war aufgesprungen.

„Sie sind verrückt!“ entfuhr es ihr. „Sie haben getrunken. Gehen Sie – sofort!“

Er betrachtete sie von oben bis unten.

„Gehen Sie!“ Sie wollte die Tür wieder öffnen.

„Bedenken Sie – es kann jemand aus den Lauben drüben beobachtet haben, wie Sie –“

 

 

3. Kapitel

Und Satan lacht dazu.

Professor Dr. Rohrsessel war so empört über das, was er auf dem Franzosenfriedhof beobachtet hatte, daß er spornstreichs jetzt dem Schützenpark und Frau Theas Laube zusteuerte.

Sein bester Schüler – und solche Sachen! Unerhört war das! Da mußte sofort für alle Zeiten ein Riegel vorgeschoben werden!

Er war ganz erhitzt, der gute Professor, trug den Hut in der Hand und trocknete sich die Stirn. Ihm, der Junggeselle war, der die Weiber stets wie die Pest gemieden hatte, der noch heute mit 48 Jahren jederzeit einen Keuschheitseid hätte ablegen können, war es vielleicht verständlich, wenn eine sogenannte Schülerliebe bis zu heimlichen Händedrücken gedieh. Aber – Küsse – solche Küsse – und in solcher Einsamkeit und so dicht beieinander auf einer Jacke im Grase sitzend: das war – war moralische Fäulnis, das war der erste Schritt zur Verworfenheit!

Gottfried Rohrsessel war eine Seele von Mensch. Ohne jede Frage. Nur zum Jugendbildner eignete er sich in seiner völligen Weltfremdheit nicht. Wie sollte er Verständnis für die Jugend haben, da er selbst nie jung gewesen, da er stets als Schüler und Student nur Arbeit und Darben kennen gelernt und später sich ganz in seine Geschichtsforschungen eingewühlt hatte wie ein Maulwurf, der nie das Licht der Sonne sehen will.

Der würdige Professor, hager, groß, mit buschigen Brauen und ein Paar verträumten, aber noch scharfen Augen im eckigen Gelehrtenkopf, fand Frau Theas Laubentür geschlossen, lugte durch die Scheiben, ohne anzuklopfen.

Da – er prallte zurück, machte schleunigst kehrt, blieb stehen.

„Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm,“ schoß es ihm durch den Sinn. „Die Tochter wie die Mutter. – Nein, Gottfried, in diesem Falle nimmst Du keine Rücksicht!“

Und abermals schritt er der Laubentür zu, pochte jetzt sehr kräftig an.

Frau Thea hatte Werner gerade von sich zu drängen versucht. Jetzt fuhren die beiden auseinander. Der Referendar verschwand durch die andere Tür in den Nebenraum.

Frau Thea öffnete. Rohrsessel begrüßte sie kühl.

Sie bat ihn Platz zu nehmen.

„Danke, gnädige Frau. Mich führt eine ernste Pflicht hierher. Ich habe vorhin im Gebüsch des Franzosenfriedhofs meinen Klassenschüler Hektor Schlegel – ich bin Ordinarius der Oberprima – leider mit Ihrer Tochter –“ Er schilderte alles haarklein. Auch die Jacke spielte eine Rolle; Schlegel hätte in Hemdärmel neben Else gesessen – in Hemdärmeln!

„Stellen Sie sich vor: diese Intimität, gnädige Frau! Ich werde die Sache dem Herrn Direktor Schüttelfrost melden. Ich muß es. Wir können derartige Elemente wie diesen Schlegel nicht dulden. Sie verderben uns die anderen Schüler. Selbstverständlich verschweige ich den Namen Ihrer Tochter. Es genügt ja die Tatsache, daß ein Oberprimaner mit einer Schülerin – mit wem, bleibt sich gleich, Zärtlichkeiten austauschte und dies unter Begleitumständen, die “ –

Frau Thea quoll der Kehle hoch. Dann – die Heiterkeit über diesen Jugenderzieher, der hier über Dinge urteilte, die er auch nicht im entferntesten irgendwie verstehen konnte. –

Jetzt ging der Professor wieder. Thea hätte am liebsten hinter ihm drein gelacht.

Werner Hagen hatte jedes Wort nebenan verstanden. Er trat rasch ein. Der Rausch war verflogen. Das Goldfischchen drohte ihm zu entgehen. Das durfte nicht sein.

„Was sagen Sie zu – zu diesem Benehmen Elses,“ legte er sofort los. „Wer ist denn eigentlich dieser Schlegel? Natürlich so ein grüner Junge, der –“

„Bitte – das werde ich mit Else abmachen,“ sagte Thea eisig. Sie fühlte sich ungeheuer gedemütigt. Werner Hagen zeigte so deutlich, daß er Angst hatte, die – Mitgift zu verlieren. An Else lag ihm nichts! – Und sie – sie war Elses Mutter! Sie hatte sich soeben noch von diesem Menschen küssen lassen.

„Oho!“ meinte der Referendar patzig. „Mit Else allein abmachen?! Da habe ich doch wohl auch noch ein Wort mitzureden – sehr sogar! Sie werden Else sofort in Pension geben – sofort! Können Sie wissen, ob solche Jugendnarretei nicht tiefer sitzt?! Else muß fort von hier – schleunigst. Ich verspreche Ihnen, bei Papa durchzusetzen, daß Sie dadurch noch mehr Vorteile haben. Bedenken Sie auch, Thea: Sie sind dann das Mädel los! Und für Sie ist dieses Anhängsel doch nur lästig –“

Er verstand es, Menschen zu überreden. Er machte aus Schwarz Weiß, wenn es nötig war.

Frau Thea schied von ihm in aller Freundschaft. –

Und abends um ½ 10, als im Vorgärtchen der Messingerschen Laube die Lampions brannten und Else sich einen ganz, ganz kleinen Sektschwips angetrunken hatte, als Werner Hagen ihr mit sittlicher Entrüstung zugeflüstert hatte, er wäre gestern abend im Stadtpark dem Oberprimaner Schlegel, dem Portierssohne des Langenbeckschen Hauses, mit einer sehr fragwürdigen ‚Dame‘ begegnet, als er dann der empörten, fassungslosen Else sein Ehrenwort gegeben, daß dies alles wahr sei, da – überkam das arme Elfchen eine unnatürliche Ausgelassenheit.

„Hagen, geben Sie Else keinen Sekt mehr,“ sagte der Kommerzienrat ärgerlich.

„Bitte – sie verlangt ihn!“ meinte Hagen dienernd. „Ich werde sie etwas an die Luft führen –“

Und Else ging mit. Ihr war jetzt alles gleichgültig – alles!

Sie bogen in Nebenwegen ein. Die Nacht war lau. Glühkäfer leuchteten im Gebüsch. Eine Nachtigall schluchzte. Und von einem nahen Konzertgarten trug der Wind lockende Walzerklänge herüber.

Werner Hagen hatte sich genau überlegt, was geschehen sollte. Er sprach zu Else als gereifter, ernsthafter Bewerber. Er war weder zudringlich noch zu kühl. Ganz allmählich näherte er sich dem Ziele.

Elses Herz, enttäuscht, angefüllt mit Bitterkeit gegen Hektor, erwärmte sich langsam. Es war nur der Wein, der den Fluch des Blutes verhundertfachte. Und Werner konnte so süß betteln.

„Nein – nein!“ rief sie, als er sie küssen wollte.

Das Bild des Sarges in dem Mausoleum tauchte vor ihr auf. Es entschwand wieder.

Jetzt hatte Werner sie an sich gepreßt. Ihr Gesicht wurde bleich.

Da war es wieder, dieses wilde Pochen des Herzens, dieses unnennbare Sehnen nach irgend etwas, das zauberhaft schön sein mußte.

Seine Lippen fanden ihren Mund. Das waren nicht Heckos zarte Küsse; das war die Gier, die das Blut noch mehr aufpeitschen wollte.

Am Morgen erwachte Else mit einem wütenden Kopfschmerz. Nur nach und nach besann sie sich auf die Vorgänge des Abends.

Dann – ein Schrei – ein Einwühlen des Kopfes in die Kissen – ein besinnungsloses Jammern und Schluchzen.

So fand Frau Thea sie. – Else antwortete auf keine Frage, wimmerte nur: „Ich will sterben – sterben –“

Langsam begriff Frau Thea.

Und sie umfing ihr Kind, weinte mit ihr, tröstete sie, sprach ihr Mut zu, – mehr noch: stellte ihr das, was geschehen, in mildestem Lichte dar. Sie mußte es ja. Sie war abhängig von den Hagens.

Und so fanden Mutter und Kind sich. Der Fluch des heißen Blutes hatte sie gleich gemacht.

Mittags kam Werner Hagen mit einem Busch Rosen. Else wollte ihn nicht sehen. Dann ging sie doch in den Salon. Und der Referendar kniete vor ihr, küßte ihr die Hände und – spielte den Reuigen, der nur aus übergroßer Liebe sich vergessen hätte. –

Else willigte ein, nach Harzburg in ein Pensionat für höhere Töchter überzusiedeln. Sie wollte alles – alles, nur eins nicht: Hektor nochmals begegnen! –

Und am selben Vormittag saß Professor Rohrsessel bei Direktor Schüttelfrost und erstattete Bericht über die moralische Verworfenheit des Oberprimaners Schlegel. Der Bericht war völlig wahrheitsgetreu, nur eben vom Standpunkte des Professors in den Einzelheiten herausgearbeitet.

Der Direktor, ein Weltmann mit reichen Erfahrungen, hätte auf des Professors Bericht allein nicht viel gegeben. Aber er hatte bereits um 10 Uhr heute den Referendar Hagen, der angeblich im Auftrage der Frau Arnbach zu ihm kam, empfangen, und Hagen hatte ihm mitgeteilt, daß dieser Schlegel durch Briefe und Gedichte dem Mädel, das sich in Wirklichkeit nichts aus dem dummen Jungen machte, nur deshalb völlig den Kopf verdreht hätte, um sich die reiche Partie für später zu sichern. Diese Briefe, die Frau Arnbach leider schon verbrannt hätte, seien so raffiniert abgefaßt gewesen, daß – und so weiter.

Kurz – Hagen hatte schon vorgearbeitet. –

Am Montag war Lehrerkonferenz. Man saß über Hektor Schlegel zu Gericht.

Hektor leugnete nicht – gab überhaupt auf keine Frage Antwort. Nur als der Direktor ihm sagte, die betreffende Schülerin hätte erklärt, ihr sei der grüne Junge ganz gleichgültig, fuhr er auf.

„Das ist nicht wahr! Das hat sie nie und nimmer gesagt!“ –

Um 6 Uhr nachmittags wurde das Urteil gesprochen. Um ½ 7 betrat Hektor die Wohnstube seiner Eltern. Am Tische saß das müde, abgearbeitete, früh gealterte Ehepaar. – Hektor ließ sich in den dritten Stuhl fallen, stierte vor sich hin.

„Nun?“ fragte Anton Schlegel zögernd.

„Geschwenkt – rausgeschmissen!“ sagte Hektor dumpf.

Der Portier nickte mit dem Kopf, murmelte:

„Und – und wegen so ’ner Kleinigkeit!“

Mutter Schlegel zuckte die Achseln. „Was verstehen die Herren von’s Leben?! Nischt! Daß sie selbst mal jung waren, wollen sie nicht mehr wissen! Na – nimm’s Dir nicht zu Herzen, Junge. Das Studieren – das wär’ für Dich doch nur ’ne Hungerkur geworden. Die paar Stipendien, die wir für Dich erbettelt hätten, die hätten nicht hin, nicht her gereicht. Wir – wir könnten Dir ja kaum dreißig Mark den Monat geben. Ich hab’ ja immer gesagt: Lern’ was Vernünft’ges. Die Flausen mit ’nen Redakteur, – Junge, da verdient ’n Bäcker mehr –“

Sie schob ihm einen Teller hin. „Nu iß man erst was; auf ’n leeren Magen so ’ne Aufregung!“

Und Anton Schlegel holte die Kümmelflasche aus dem Schrank und füllte ein Gläschen.

„Trink’, Junge. Die janzen Lehrers haben ja ’n Klapps! Wegen ’n bißchen Geküsse – lächerlich!“

Hektor sprang auf.

„Laßt mich. Ich danke Euch, daß Ihr mir keine Vorwürfe macht. Das – das Schlimmste ist, daß – daß – das Mädel mich verraten hat – wohl um sich reinzuwaschen! Pfui Teufel!“

 

 

4. Kapitel

Elses Ehe.

Rechtsanwalt Hagen kam vom Amtsgericht, wo er ein paar Termine wahrgenommen hatte.

Von dem patenten Referendar war nicht mehr viel übrig geblieben. Schwammig, gedunsen das Gesicht; entzündet die Augen; der Blick unruhig und glasig; nachlässig die Kleidung; der Gummikragen an ein Wollhemd angeknöpft, darüber ein billiger Schlips.

Der ganze, noch so junge Mann ein Bild des Verfalls, der Trunksucht. – Das war aus Werner Hagen geworden.

Er bog in eine Seitenstraße ein, schaute sich um, schlüpfte dann in die Kneipe: ‚Zur Tante Meier‘.

Tante Meier hatte stets zwei Nichten zum Besuch, die aber häufiger wechselten. Hagen war hier Stammgast; hier begann er mit dem Frühschoppen. Erst nachher ging er an den Stammtisch im Hotel ‚Hamburger Hof‘, wo die Honoratioren verkehrten.

Zur Zeit hatte Tante Meier nur eine Nichte auf Lager, die für Hagen in Betracht kam. Er liebte nur pechschwarze Weiber. Blonde haßte er. Seine eigene Frau war ja blond.

Er trank mit der schwarzen Grete drei Grogs. Dabei war es Juni und ein heißer Tag. Die schwarze Grete behandelte ihn nur aus Berufsinteresse freundlich. Sie war als Kellnerin schon auf dem Aussterbeetat. Sie fand schwer ein Unterkommen. – Dieser Hagen war selbst für ihren Geschmack zu gemein. Wenn der seine Frau zu verhöhnen begann, packte einen der Ekel.

Als Hagen dann im ‚Hamburger Hof‘ erschien, lauerten ihm im Flur schon ein paar Bauern auf, die nicht bis zur Sprechstunde nachmittags warten wollten. In drei Jahren war Hagen in der kleinen Stadt und in der Umgegend eine Berühmtheit geworden – als Anwalt. Als Mensch verachteten ihn die anständig Gesinnten. Ihm war das gleich. Er verdiente viel Geld; er lebte, wie es ihm paßte, scherte sich den Deubel was um die öffentliche Meinung.

Denn an dem Namen Hagen war ja doch nichts mehr zu verderben. Da klebte schon genug Schmutz dran. Damals als er Else Arnbach geheiratet hatte, war herausgekommen, daß der alte Justus Hagen den größten Teil des Vermögens seines Mündels unterschlagen hatte. Der Alte hatte sich erhängt – am Tage der Hochzeit ausgerechnet!

Daß der Alte dies nicht früher getan, verzieh ihm der Sohn niemals! Denn dann hätte er sich doch nicht dieses Bettelweib an den Hals gehängt, die ihn ja doch nur nahm, weil sie es ihres Erachtens mußte – weil er sie mal verführt hatte! –

Hagen hielt im Vorraum des Hotels also zunächst Sprechstunde ab, machte sich Notizen, ließ sich Vorschuß zahlen. – Dann ging er in das Honoratiorenzimmer.

Am Stammtisch saßen die üblichen ‚Meergreise‘: der Steuerrat, der Sanitätsrat und der Bürgermeister.

Die Unterhaltung der drei langweilte Hagen. Außerdem wußte er ja auch: sie sahen ihn lieber gehen als kommen! Aber – gerade deshalb fand er sich hier regelmäßig ein.

Er löffelte seinen Grog aus und blätterte in der neuesten Nummer der ‚Berliner Illustrierten Zeitung‘.

Da – er stutzte, beugte den Kopf tiefer.

Wahrhaftig: ‚Hektor Schlegel‘ stand da unter einem Bilde, und weiter: ‚der erfolgreichste Lustspieldichter des vergangenen Jahres, dessen Schauspiel ‚Erbsünde‘ jetzt am Lessingeheater mit durchschlagendem Erfolg zum ersten Male gegeben wurde.‘

Hm – ob das jener Schlegel war – von damals?!

Hagen lächelte zynisch. „Das Blatt muß ich mir doch kaufen und meiner Frau mitnehmen –“

Er schickte den Kellnerjungen nach einer Buchhandlung.

„Wie – Sie interessieren sich plötzlich für Zeitschriften, Herr Rechtsanwalt?“ meinte der Steuerrat.

„Oh – nur für diese eine Nummer. Ich will meiner Frau damit eine Freude machen –“ Er grinste. In dem Städtchen wußte jeder, wie schlecht das Ehepaar miteinander stand; jeder bemitleidete das arme Weib, das nur bei diesem widerlichen Gesellen blieb, weil er ihre Mutter mit unterhielt, die seit längerer Zeit an Darmkrebs litt und meist bettlägerig war.

„In dieser Nummer steht nämlich ein Bild drin von der Schülerliebe meiner Frau,“ fuhr Hagen fort. „Da – sehen Sie: der ist’s – Hektor Schlegel. Das Bild wird in meinem Blondchen süße Erinnerungen wecken an traute Stunden. Ja, ja, – die Weiber!“

Die drei Herren waren erst sprachlos. Dann erhoben sie sich gleichzeitig, nahmen ihre Gläser und gingen ins Nebenzimmer.

Hagen lachte schallend. „Aber, aber – verstehen Sie denn keinen Scherz?“ rief er ihnen nach.

Die Tür flog ins Schloß.

Da packte den bereits halb Trunkenen die Wut. Er rannte hinterdrein, brüllte:

„Sie – was wissen Sie von meiner Frau, he – was denn?! Die hat sich schon mit 16 Jahren mit Primanern eingelassen. Wenn Sie das von Ihren Frauen nach der Hochzeit erfahren hätten, – würden Sie dann son Weib wie ’n Engel anfassen – he?!“

Der Sanitätsrat, der Frau Thea Arnbach behandelte, konnte jetzt doch nicht länger an sich halten.

„Schämen Sie sich! Sie – Sie lügen ja! Ihre Schwiegermutter hat mir letztens alles gebeichtet! Sie weiß, daß ihre Tage gezählt sind! – Für mich sind Sie erledigt, Herr Rechtsanwalt. Ich – kenne Sie nicht mehr. Ich werde schweigen, weil ich muß! Aber – Ihre Gattin in so hundsgemeiner Weise hier mit Schmutz zu bewerfen – das wagen Sie nicht nochmals – das rate ich Ihnen!“

Hagens Gesicht hatte sich verzerrt. Er drehte sich um, warf die Tür zu, setzte sich wieder an den Tisch und bestellte einen neuen Grog.

In seinem Herzen war jetzt ein wunderliches Gemisch von Wut, häßlichem Rachedurst und Mitleid mit sich selbst. Er sah seit langem alles, was ihm selbst zustieß, nur in der Verzerrung; genau so sich selbst. Je mehr er trank, desto kleiner erschienen ihm die eigenen moralischen Defekte, desto mehr Anspruch auf Mitgefühl glaubte er zu haben.

Else hatte es ihn stets merken lassen, daß sie es ihm nie vergaß, wie er sie damals heimlich zum Trinken angeregt und dann zum Opfer seiner Lüste gemacht hatte. Dabei ahnte sie noch heute nicht die volle Wahrheit: daß ein schändliches Spiel sie von Hektor Schlegel getrennt hatte. Besser: sie ahnte die Wahrheit in ihrem vollen Umfange nicht! Sie traute es ihrem Manne nur zu, damals dunkle Intrigen gesponnen zu haben. Sie nahm an, er sei es gewesen, der Hecko und sie auf dem Franzosenfriedhof belauscht und dann bei Professor Rohrsessel den Angeber gespielt hätte.

Der Widerwille gegen Werner Hagen hatte sich schon in der Pension in Harzburg derart gesteigert, daß sie all das nur ertrug, weil ihr Leben ja doch schon verpfuscht war und weil sie den Leuten in der alten Handelsstadt nicht noch mehr Anlaß zum Tuscheln und Kritisieren und die Mutter dadurch nicht noch mehr kränken und niederdrücken wollte. Dann hatte sie Werner Hagen mit noch nicht ganz achtzehn Jahren geheiratet; dann war am Hochzeitstage das Entsetzliche geschehen: der Selbstmord ihres Vormundes und Schwiegervaters! – Sie war arm geworden; ihre Mutter war arm geworden. Beide waren sie nun abhängig von diesem Manne, der in der ersten Zeit der Ehe mit niederträchtiger Freude seine Rechte geltend gemacht hatte. Wie eine Tote hatte Else stets hingenommen, was sie hinnehmen mußte. Zuweilen hatte ihn dann die Wut über ihre Kälte zu maßlosen Schmähungen hingerissen. Er hatte zu trinken begonnen. Er war jetzt kaum einen Tag in der Woche mal nüchtern. Er suchte etwas darin, seine Frau zu demütigen, indem er in verrufenen Kneipen verkehrte und weibliche Dienstboten zu seinen Maitressen machte. Hohnlachend hatte er Else davor gewarnt, an eine Scheidung zu denken. „Von dem Tage an arbeite ich nichts mehr – nichts! Dann könnt Ihr beide, Du und Deine saubere Mutter, verhungern. Denke nicht, mich als den schuldigen Teil etwa zur Zahlung eines Unterhaltsgeldes zwingen zu können!“

Das war nun Elses Leben seit sechs Jahren. Und – es wurde täglich schlimmer mit dieser Ehe, mit diesem mit sich und aller Welt zerfallenen Manne.

Seltsam: Die blonde Else bewies all dem gegenüber einen unbegreiflichen Heroismus, eine Seelenstärke und jugendfrische, innere Elastizität, die geradezu unbegreiflich schienen. – Vor zwei Jahren hatte sie es durchgesetzt, daß sie nun mit ihrer Mutter in einem Zimmer schlief. Von da an war sie frei, atmete sie auf. Nie mehr wagte Werner Hagen es, zu ihr zudringlich zu werden. Es hatte da einmal zwischen ihnen eine Szene gegeben, bei der Else, wie stets unnatürlich ruhig bleibend, erklärt hatte:

„Ich warne Dich. Treibe es nicht zum äußersten. Ich bin in dieser Ehe hart geworden. Es gibt ein Mittel, die Mutter und mich zu erlösen! Aber – dann wirst auch Du dieses Mittel kennen lernen –“

Seitdem hatte er – Angst vor ihr. Die Demütigungen, die er für sie daheim ersann, wurden weniger roh, aber desto gemeiner, weil es eben alles nur durchsichtige, hohn- und haßgetränkte Spötteleien waren.

Daher auch jetzt die illustrierte Zeitung, die er ihr mitnehmen wollte. Doch – er hatte plötzlich nicht mehr die rechte Freude an diesem genialen Einfall. Er wußte, daß er seit heute für die Honoratioren der Stadt erledigt war. Man würde ihn nun allgemein ‚schneiden‘. Der Sanitätsrat gehörte hier zu den tonangebenden Männern, war Stadtverordnetenvorsteher und saß mit im Kreistag.

Bei Hagen kam jetzt so eine Art heulendes Elend zum Durchbruch. Er hielt sich für den beklagenswertesten aller Menschen; er schüttete dem Kellner sein Herz aus, der zu allem ja sagte und innerlich dachte: „Lump!“

Um 2 Uhr ging er dann zu Tisch. Je näher er seiner Wohnung kam, desto mehr stiegen ihm wieder Haß und kleinliche Schmähsucht ins Blut. Es war doch ein feiner Gedanke, diese Zeitung! Da konnte er Else am Mittagstisch wieder so recht eins – auswischen! Wie genußreich würde das werden! Und gerade dieser – dieser Hektor Schlegel würde das Werkzeug sein! – Er hatte ja seit langem schon die Vermutung, daß Else diese Jugendliebe nie vergessen hätte. So manches sprach dafür.

 

 

5. Kapitel

Nur der Mutter wegen.

Er betrat das Eßzimmer. Else saß am Fenster an ihrem Nähtischchen und besserte eine Hausbluse aus.

Eine Begrüßung gab es zwischen ihnen nicht mehr. Wortlos setzte er sich an den Tisch. Else nahm ihm gegenüber Platz, starrte in den Teller, nachdem sie die elektrische Glocke berührt hatte, damit das Mädchen die Suppe auftrage.

„Wo ist Deine Mutter?“ fragte er barsch.

„Im Bett. Es geht ihr sehr schlecht. Ich mußte vormittags den Sanitätsrat holen lassen –“

„Lächerlich – den Scharlatan! Der Kerl kommt mir nicht mehr ins Haus.“

Das Mädchen erschien, stellte sich dicht neben den ‚gnädigen Herrn‘. Sie war aus der Großstadt, war so eine, die jeden Vorteil auszunutzen wußte. Während sie die Suppenschüssel auf den Tisch setzte, kniff Hagen ihr in die Schenkel, grinste dazu. Und sie grinste mit, machte absichtlich leise: ‚Au – nicht doch!‘

Elses schmales Gesicht blieb steinern. Sie war für den Kenner noch schöner geworden. Das Leid hatte ihre Züge durchgeistigt. Der Ausdruck der Herbheit um den frischen Mund gab ihr etwas Unnahbares, ungewollt Vornehmes.

Er schlürfte die Suppe aus dem Löffel mit möglichst viel Geräusch. Das Mädchen trug das Hauptgericht auf, verschwand wieder.

Da zog er das Blatt aus der Tasche, breitete es aus.

„Ich – ich habe Dir was mitgebracht –“ Er schaute sie an und lächelte satanisch. „Das Bild Deines ersten Geliebten. Dichter ist der Herr geworden – ein berühmter Mann – Du kannst Dir das Bild ausschneiden und über Dein Bett hängen, darunter den Spruch: „Einmal ist kein Mal –!“ – Das würde sich hübsch machen –“

Else nahm das Blatt wirklich auf, las die Unterschrift unter dem Bilde und sagte glücklich: „Wie ich mich freue! Wieder ein neuer Erfolg!“

Hagens Linke knüllte vor Enttäuschung und Wut die Serviette zusammen.

„Aha – die Gnädige wußte also schon, daß der Liebste ein gottbegnadeter Dichter geworden ist!“ höhnte er. „Ihr – korrespondiert wohl heimlich – he?! Gibt es vielleicht auch wieder Schäferstündchen im Grase auf einer ausgezogenen Jacke –?!“

Else blickte auf, blickte ihn kühl – gleichgültig an.

„Meinst Du,“ sagte sie langsam, „ich hätte dieses Leben ertragen, wenn ich nicht etwas gehabt hätte, das mich tröstete, das mich immer wieder aufrichtete?! – Meinetwegen wurde Hektor Schlegel damals vom Gymnasium gejagt. Ich – ich hatte ihm vielleicht die Zukunft verpfuscht. Das – nagte an mir, ließ mir keine Ruhe, bis ich vor drei Jahren dann in einer Zeitschrift einen Roman von ihm fand. Und der Anfang dieses Romans war wie ein Bild vergangener Tage, war etwa das, was mich und ihn an Erinnerungen verband. Nur daß das Liebespaar des Romans, was den weiblichen Teil betraf, anders geartet war. In dem Roman verriet das Mädchen den Jugendgeliebten, suchte sich rein zu waschen, indem es so tat, als hätte er sich ihr aufgedrängt, sie durch Briefe und Gedichte –“

Hagen lachte schallend auf. „Köstlich – köstlich! Nur weiter! Was hat Dich denn nun getröstet, blonde Heilige – was?!“

„Die stetig sich mehrende Gewißheit, daß Hektor[1] Schlegel auf dem Wege zum Erfolg war, daß – ich seiner geistigen Entwicklung nicht geschadet hatte. Ich habe nur deshalb auf so viele Zeitschriften abonniert gehabt, nur deshalb so viel gelesen: ich verfolgte seine aufwärts steigende Bahn! Und jede lobende Kritik, die ich fand, schnitt ich mir aus! Das waren die Stunden meines Glücks, meiner seelischen Kräftigung, wenn ich sie las. Schon im Vorjahre war er berühmt. Seine Lustspiele pries man als das witzigste und geistvollste seit Jahrzehnten. Oh – diese namenlose Wonne für mich, daran denken zu dürfen, daß wenigstens er jetzt auf den Höhen des Lebens wandelt und – daß ich es einst war, die er liebte, ich – das arme, tausendmal geschändete Weib! Denn er hat mich geliebt. Das ist so gewiß, wie die Sonne morgens aufgeht! Er – er liebte mich! Und er hat es zu etwas gebracht! – Das – das war mein Halt, meine Stütze, war der Born, aus dem ich Kraft schöpfte –“

Ihre Augen strahlten; ihr Gesicht hatte sich gerötet.

Hagen sprang auf. Eine sinnlose Wut erfaßte ihn. Polternd fiel der Stuhl um. Er nahm seinen Teller, schmetterte ihn auf den Teppich. Er hatte erkannt, daß er an diese Frau mit all seiner Gemeinheit nicht herankonnte, daß sie in ihrer Seele einen Panzer trug, von dem all seine Rohheit abprallte.

„Dirne – Kind einer Hure – raus – raus aus meinem Hause!“ brüllte er. „Sofort – sofort. Packt Eure Sachen, Ihr beiden, – sonst – schmeiße ich Euch auf die Straße!“

Elses Wangen wurden fahl. Sie sah ein, daß sie gerade heute sich nie hätte dazu hinreißen lassen dürfen, ihrem Manne zu beweisen, wie wenig er ihr[2] anhaben konnte – gerade heute nicht.

„Mutter – Mama – darf nicht aufstehen,“ sagte sie leise.

Er lachte. „Sie wird! Und wenn ich ihr die Betten unterm Leibe fortreißen müßte!“

„Werner!“

„Ah – schau’ an! Werner – Werner! Schau’ an, die Gnädige besinnt sich, wie ich heiße!“

„Mama – muß schleunigst operiert werden, sagte der Sanitätsrat. Schleunigst. Nicht hier – in Astadt, in einer Klinik “

„So?! Ach was?! In einer Klinik. Bitte, habe nichts dagegen. Ihr werdet ja wohl über das nötige Geld verfügen –“

„Werner – nur Mamas wegen bitte ich Dich. Du – Du wirst sie doch nicht sterben lassen –“

„So – nur Mamas wegen!“ höhnte er. „Nun – sie hat dieses rührende Opfer kaum verdient.“ Der Wunsch, ihr auch die Mutter zu entfremden, war urplötzlich in ihm lebendig geworden. Wenn sie erfuhr, wie es damals wirklich hergegangen, als Hektor und sie getrennt wurden, mußte sie zusammenbrechen.

„Mein, blonde Heilige,“ fuhr er fort, und jedes Wort triefte von Spott und Hohn, „sie hat’s kaum verdient. Sieh mal, daß der Schlegel gejagt wurde, das hing so zusammen. Ich erfand die Briefe und das Märchen, er hätte sich Dir aufgedrängt, – ich ging zum Direktor – mit Wissen Deiner Mutter. Und – im Stadtpark habe ich Schlegel nie mit einem Weibsbild getroffen – nie! Das gehörte nur mit zu meinem damaligen Programm – genau so wie die Sektbowle, die Dein Blut gefügig machen sollte, und wie – wie die Laube Deiner Mutter, in der wir unsere – erste Hochzeitsnacht feierten. – Hm – willst Du noch immer für Deine Mutter das Opfer bringen und Deinen teuren Gatten bitten, daß er das Geld für die Operation hergibt?!“

Else hatte sich mit beiden Händen auf den Tisch gestützt, während die Eröffnungen sie trafen wie giftige Pfeile aber doch nur wie Pfeile, die sie bereits hatte kommen sehen. Ihr Gesicht war unbewegt wie vorher. Und mit monotoner Stimme sagte sie nun:

„Ich – ich habe Ähnliches geahnt, wenn auch nicht eine so – so bodenlose Niedrigkeit. – Was Mama betrifft, so büßt sie jetzt für alles schwer genug. Ich kann ihr nicht zürnen. Damals – damals lebte noch – das heiße Blut in ihr. Das war ihr Fluch, war an vielem schuld. – Du aber – Du hast jetzt die beste Gelegenheit, gut zu machen, was Du mir antatest. Werner – es gibt irgend eine Vergeltung für alles. Denke daran!“

Er platzte mit einer häßlichen Lache heraus. „Köstlich! Du willst mich schrecken! Vergeltung – so ein Unsinn! Und – wieder gutmachen – ein noch größerer Unsinn!“ Er kam langsam um den Tisch auf sie zu. Eine satanische Freude gleißte auf dem schwammigen Trinkergesicht.

„Du – gut, ich will das Geld hergeben,“ sagte er und griff nach ihren Händen. Sein nach Fusel stinkender Atem schlug ihr ins Gesicht.

„Ich stelle aber eine Bedingung, Du. Wenn Du Deine Mutter nach Astadt in die Klinik gebracht hast, kehrst Du sofort zurück. Und – Dein Bett wird wieder neben das meine gestellt. Du verstehst! – Gib mir Dein Wort darauf. Ich weiß – die fromme Else hält Versprechungen. Also entscheide Dich –“

Und während er sprach, war sie mit ihrem Entschluß fertig geworden. Es mußte sein! Die Mutter durfte hier nicht hinsiechen, nur weil sie – sich schonen wollte. Sie würde zurückkehren. Und dann würde sie endlich – ein Ende machen.

„Gut – ich, bin einverstanden,“ sagte sie und schaute ihn voll an.

In seinen entzündeten, wässerigen Augen flackerte jetzt plötzlich die Gier. Donnerwetter – so lange war es her, daß sie neben ihm als Nonne lebte. Da – da war sie ihm wirklich was Neues geworden.

Er preßte ihre Hände, lächelte süßlich.

„Wir könnten uns eigentlich auch gleich vertragen, Elfchen,“ flüsterte er heiser und suchte sie nach der Tür zu ziehen.

Sie mußte klug sein. Er konnte sich alles wieder anders überlegen, wenn sie sich ihm in einer Weise entzog, die ihn reizte.

„Um ½ 4 geht der Zug ab, Werner,“ meinte sie hastig. „Dann sind wir gegen 6 in Astadt, und ich kann mit dem Nachtzuge zurück, spare so das Hotel –“

Das leuchtete ihm ein. Er gab ihre Hände frei, fragte: „Wieviel Geld brauchst Du? Werden 300 Mark fürs erste genügen?“ – Sie nickte nur.

 

 

6. Kapitel

Das Mausoleum.

Astadt war dieselbe alte Handelsstadt, in der Elses Schicksalsweg begonnen hatte. –

Hektor Schlegels Eltern waren längst nicht mehr Hausbesorger. Sie besaßen jetzt in einem Vorort von Astadt ein nettes Häuschen mit großem Garten, hielten eine Kuh, ein Schwein, Hühner und – kamen sich wie die Großgrundbesitzer vor. All das verdankten sie ihrem Jungen, der jetzt so berühmt war, so unheimlich viel Geld verdiente und sich doch seiner Eltern nicht schämte. Nein – im Sommer kam er auf ein paar Monate stets zu ihnen, erholte sich, ließ sich von der Mutter mästen und arbeitete im Garten wie ein Tagelöhner. – Ja – ja, ihr Junge! Das war so ein ganzer Mann, in allem. Und – hatte Herz – für alles; zu viel Herz, dachte Mutter Schlegel oft. Und so dachte sie auch heute wieder, als sie die gute Stube für ihn herrichtete. Nachmittags um 6 traf er von Berlin ein. Vater würde ihn abholen. Und in der Speisekammer standen schon der Napfkuchen und der Heringssalat, stand mancherlei anderes, was der Junge gern aß. –

Hektor Schlegel saß am Fenster seines Abteils 1. Klasse. Der D-Zug fuhr in den Bahnhof der Kreisstadt ein. Hektor wußte: hier lebte seine Else – als Frau eines anderen. Und – lebte so unglücklich! – Er hatte Elfchen nie ganz aus den Augen verloren. Es war ihm ein leichtes gewesen, über sie Erkundigungen einzuziehen.

Sein Elfchen! Seine Jugendliebe! – Wie viele spötteln über solche Neigungen, die aufkeimen wenn – wenn der junge Wein blüht. Und wissen nicht, daß diese Liebe nie, nie ganz aus einem Herzen zu verdrängen ist, wenn nur die Beteiligten bereits innerlich reif genug waren, Schwärmerei und Liebe auseinanderzuhalten. –

Der Zug hielt. Hektor schaute auf den Bahnsteig hinaus.

Da – Elfchen – Elfchen, – und sie und ein ziemlich verkommen aussehender Herr führten eine verschleierte Dame, die schwer leidend sein mußte.

Das erste Wiedersehen nach – nach acht Jahren! Wie sehr Elfchen Weib geworden war. Und wie schön sie geblieben. So eine Schönheit für Männer von verfeinertem Geschmack.

Er öffnete das Fenster. Die Kranke wurde in den Nebenwagen gehoben. Der Herr mit dem Trinkergesicht blieb zurück. –

Der Zug fuhr weiter. Es war noch keine Reisezeit. Die Abteile waren nur schwach besetzt. – Hektor wurde immer unruhiger. Sollte er nicht diese Gelegenheit benutzen und eine Aussprache herbeiführen? Sollte er sich nicht endlich Gewißheit darüber verschaffen, ob Elfchen ihn damals wirklich so schmählich verraten hatte?

Er stand auf, schritt den Gang entlang. Jetzt gab es kein Zaudern mehr. Für Hektor gab es stets nur ein ‚entweder – oder.‘ – Er blickte in die Abteile hinein.

Ah – da lag die Kranke in einem leeren Abteil 2ter auf den Polstern. Es war Frau Thea Arnbach, – das, was von Frau Arnbach noch übrig war. Aber Elfchen war nicht bei ihr. Sie fuhr nebenan in der 3. Klasse – aus Sparsamkeit, um von dem Gelde Werner Hagens für sich selbst möglichst wenig zu verbrauchen. Nur hin und wieder kam sie nach der Mutter sehen.

Hektor schob die Tür auf. Er war Frau Thea kein Fremder. Else bewahrte ja genug Bilder aus illustrierten Zeitschriften von ihm auf.

Er verbeugte sich, grüßte.

Da begann sie schon, indem sie ihm die Rechte entgegenstreckte:

„Oh – Sie – Sie! Welch ein Glück! Längst habe ich an Sie schreiben wollen. I – ich wagte es nicht –“

Ein paar Tränen rollten über ihre abgezehrten Wangen.

„Setzen Sie sich. Ich will beichten. Mein Kind, mein armes Kind. Ich habe sie ins Verderben hinabgestoßen – damals – damals! Ich bin schwer bestraft worden, – schwer, aber gerecht –“ Sie weinte. Und dann nahm sie Hektors Hand, sprach leise, stockend, schluchzte zwischenein. –

Als Else nach einer Viertelstunde das Abteil betrat, lächelte ihr die Kranke selig zu.

„So – so heiter, Mama?“ fragte Else freudig überrascht.

„Ja, Kind. Ich habe so wundervoll – geträumt, – daß Du noch einmal sehr, sehr glücklich würdest. Und, weißt Du, der Franzosenfriedhof hing irgendwie damit zusammen. – Kind – ich glaube an Träume. Versprich mir eins: wenn Du mich in die Klinik gebracht hast, dann – dann besuchst Du den Franzosenfriedhof und das Mausoleum. Versprich es mir, Else. Dieser Traum hat etwas zu bedeuten, ganz bestimmt –“

Else schüttelte den Kopf. Ihre Blicke schienen nach innen gerichtet. Und sie sah sich wieder neben Hecko am Sarge des Marschalls stehen.

„Sehr – sehr glücklich –“ sagte sie leise. „Ja – vielleicht – noch heute –“ Und sie dachte an die Morphiumpulver, die der Arzt der Mutter verschrieben hatte und von denen sie stets zwei heimlich für sich zurückbehalten hatte. –

[*]

Else wanderte dem Franzosenfriedhof zu. Der Weg dorthin führte durch alte Festungsanlagen, war nicht leicht zu finden. Und Else war ihn niemals gegangen. Nur selten traf sie jemand, den sie fragen konnte.

Abermals zögerte sie, wußte nicht recht Bescheid. Da kam ihr ein langer, hagerer, alter Herr entgegen. Unter buschigen Brauen lagen ihm ein Paar klare, etwas verträumte Gelehrtenaugen im eckigen Kopfe.

Else bat ihn, ihr zu sagen, ob sie nach dem Franzosenfriedhof links oder rechts abbiegen müsse.

„Links, meine Gnädige, links. Übrigens will ich auch dorthin. Sie gestatten: Professor Doktor Rohrsessel. – Schließen Sie sich mir bitte an. Der Franzosenfriedhof ist mein Lieblingsplätzchen. – Sie sind sicher eine Fremde, meine Gnädige. Einheimische beachten den Friedhof nicht. Es gibt dort ein Mausoleum, aber – man kann nicht mehr hinein. Sehr schade. Ich hätte mir gern mal den Sarg des Marschalls Tourand angesehen –“

„So – das Mausoleum ist also noch immer versperrt?“ meinte Else, die mit ihren Gedanken jetzt nur noch in der Vergangenheit lebte.

„Ja. Sie waren wohl früher schon einmal in Astadt, meine Gnädige.“

„Es ist sehr lange her, Herr Professor –“

„Ja ja – die Jahre eilen. Wir Menschen werden älter. Nur tote Dinge bleiben, wie sie sind. So auch das Mausoleum. Ich kenne es nun über 35 Jahre. Und ich stehe fast täglich, ob Sommer, ob Winter, vor den Bronzetüren, die sich nicht mehr öffnen lassen. – Hm – ich habe da mal mit diesem verwilderten Friedhof etwas erlebt, das meinen Glauben an meine Menschenkenntnis schwer ins Wanken gebracht hat. Ich will es Ihnen erzählen. Es ist lehrreich – für jeden. – Ich habe dort in jener Wildnis vor – vor mehreren Jahren ein junges Liebespaar belauscht, einen meiner Oberprimaner und einen reizenden Backfisch. Ja – und deshalb wurde der Primaner damals von der Schule entfernt. Ich hielt ihn für moralisch verdorben. Ich handelte nach bester Überzeugung, als ich die Sache meldete. Ich glaubte nun, dieser junge Mann würde straucheln, verkommen. Ich war in der Lage, seine weitere Entwicklung genau zu verfolgen. Wie mir das möglich war, spricht hier ja nicht mit. Denken Sie, meine Gnädige: jener Schüler ist heute eine Berühmtheit, einer unserer erfolgreichsten Bühnenautoren. Und die Hauptsache: er ist – kein sogenannter Lebemann geworden! Nein, er soll sogar fast – weiberscheu sein, – entschuldigen Sie, bitte. Das Wort klingt etwas – unfein. Außerdem besteht auch zwischen ihm und seinen Eltern, einfachen Leuten, ein geradezu rührendes Verhältnis. – Sehen Sie, meine Gnädige, nun mußte ich mir doch sagen: Du hast damals den jungen Mann ganz falsch beurteilt! – Und – und darüber kam ich, lange nicht hinweg, bis mein ehemaliger Schüler mir im vorigen Jahre hier begegnete. Und wissen Sie, wo?! Hier auf dem Franzosenfriedhof. Da haben wir beide uns ausgesprochen. Ja – und da fragte ich auch, was aus jenem Mädchen denn geworden sei. Ich habe damals geheuchelt; ich kannte das traurige Los jenes Mädchens. Ich wollte aber einmal feststellen, wie er jetzt über diese einstige Liebe dächte. – Er antwortete mir: „Sie – leidet. Und ich – leide mit ihr. Und wenn ich meine Eltern hier besuche, bin ich oft hier zu finden und träume mich in die Tage zurück, als der junge Wein blühte. Es waren ja doch die schönsten Tage –“ Dann drückte er mir schnell die Hand und ging. – So hat denn auch mein alter Friedhof seine tragische Liebesgeschichte. – Doch, da sind wir schon. Ich werde vorangehen. Nehmen Sie sich nur vor den Dornen in acht –“

Dann standen sie vor dem mit grüner Patina überzogenen Tore des Mausoleums.

„Schade, schade, daß man nicht hineinkann,“ murmelte der Professor.

Else war plötzlich ein Gedanke gekommen.

„Warten Sie bitte hier auf mich,“ meinte sie. „Vielleicht – vielleicht finde ich hinein –“

Sie eilte schon davon. Sie besann sich noch so genau auf den Schleichweg von damals, der nach der Rückseite des Steinbaues führte.

Doktor Rohrsessel schüttelte sinnend den Kopf. „Sie – sie kommt mir so bekannt vor, so merkwürdig bekannt –“ –

Else war glücklich bis zur Rückseite des Mausoleums gelangt. Hier stutzte sie. Da war ja der Vorhang der Ranken durch einen Baumast zur Seite gedrückt, und das Mauerloch lag frei.

Else überwand eine gewisse Scheu, kletterte hinein, nahm die Röcke ganz eng zusammen. Nun war sie im Innern der kleinen Halle. Und dasselbe milde Licht herrschte hier wie einst. Und wieder stand sie dicht vor dem Sarge. Nur – allein jetzt, ganz allein. Hier hatte sie Hecko einst Treue gelobt.

Die Tränen stiegen ihr hoch. All der Jammer ihres trostlosen Daseins überkam sie plötzlich, drückte sie in die Knie.

Sie lehnte den Kopf an den kalten Metallsarg, schluchzte fassungslos – ließ den Tränen freien Lauf.

Und – fühlte jetzt eine Hand, die leicht ihre Schulter berührte.

Es konnte nur der alte Professor sein.

Und – sie weinte – weinte.

Dann eine Stimme – und der Mund, der so flüsterte, mußte dicht an ihrem Ohr sein.

„Elfchen – meine Elfe –“

Einen Moment nur war sie wie gelähmt. Sie wandte den Kopf jetzt. Zwei Arme hoben sie schon empor.

„Hektor! Hecko –!“

Dann lag sie an seiner Brust, hielt ihn umklammert.

Und alles war wie einst – alles – alles, dieselbe Liebe, als wenn noch immer der junge Wein blühte. –

Der Professor war ängstlich hochgefahren bei diesem Ruf, stierte nun auf die Bronzetüren. Da – da hatte doch eben jemand „Hektor“ gerufen, da drinnen. Ganz deutlich „Hektor“.

Was bedeutete das?! – Hektor Schlegel – Hektor! Und – diese fremde Dame? – Mit einem Male kam ihm die Erinnerung: Else Arnbach – jetzt Else Hagen!

Er lächelte plötzlich, der alte Herr, nickte vor sich hin, brummelte: „Hier bin ich überflüssig –“ und verließ den Friedhof. –

Dort, wo einst Heckos Jacke den Liebenden als Sitzpolster gedient hatte, lag jetzt ein heller Reisemantel im Grase. Und zwei hielten sich umschlungen und küßten sich. Elfens Wangen wurden bleich. Was in ihr tot gewesen – das Weib – hatte Hecko zu neuem Leben erweckt. Das heiße Herz pochte wieder stürmisch wie einst; und heiße Lippen schmachteten dem Geliebten in ungestilltem Sehnen entgegen.

Abends um 10 Uhr erhielt Rechtsanwalt Hagen folgende Depesche und gleichzeitig die 300 Mark zurück.

„Erwarte mich nie mehr. Unsere Abmachung hebe ich durch Rücksendung der Summe auf. – Weiteres folgt durch einen Anwalt. Else.“

Er verstand. Das ‚Weitere‘ war – die Scheidung. Da ging er in die Kneipe zu Tante Meier und trank, bis er bewußtlos vom Stuhl sank. Morgens fand ihn der Nachtwächter im strömenden Regen auf der Straße liegen. Und vier Tage drauf war er tot. Eine Lungenentzündung hatte ihn hinweggerafft. –

Frau Thea konnte noch die stille, kleine Hochzeit ihrer Tochter mitmachen. Acht Tage drauf ging es auch mit ihr zu Ende. Das heiße Herz schlug langsamer und langsamer. Sie starb ruhig und mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen. –

Und hiermit schließt diese Geschichte einer Jugendliebe, eine Geschichte von Menschen und Schicksalen.

 

 

Ende!

 

 

Anmerkungen:

[1] In der Originalvorlage steht: Viktor

[2] Original ihn – geändert in ihr