von
Bruno Schirrmacher
Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin.S.O.26. Elisabethufer.44.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1921 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO. 26.
1. Kapitel
Die Folgen der ‚Kautabak-Ersatz‛-Auflösung.
Karlchen Splitz verließ soeben die Wohltätigkeitsveranstaltung des Herrn Samuel Mauschelsohn, Kantstraße 522, eine Treppe, Charlottenburg-Berlin. Über dem linken Arm trug er die beiden Herrenhosen, die Samuel wegen allzu großer Durchsichtigkeit der Sitzgelegenheit zurückgewiesen hatte und zwar mit den schalkhaften Worten: „Nu – das nennen Se ‛ne Hos’? Zu ‛ne Hos gehört ‛n Gesäß aus Stoff! Do – schaun Se hin, dies is e Gesäß aus Schleiertüll! ‛s ventiliert gut, aber ‛s hält nich mehr e einz’gen kräft’gen Nieser aus –“
Wozu Karlchen geschwiegen und genickt hatte. Er stimmte ja. Die Hosen hatten zwei ganze Jahre treu der Kriegsgesellschaft für Kautabak-Ersatzstoffe gedient, das heißt Karlchen Splitz und sein Intimus Hektor Emil Dagobert Schnalle hatten in diesen männlichen Beinhüllen so lange auf den Bureaustühlen besagter ‚Kr.-Gesellschaft‛ gesessen und – gearbeitet. –
Hm ja – gearbeitet! Was man so arbeiten nennt: Fingernägelpflege, Austausch der neuesten Tageswitze, Erledigung der Korrespondenz mit Minni bzw. Fiffi, und so weiter. –
Der hochintelligente Leser wird schon gemerkt haben, um welche Art Wohltätigkeitsveranstaltung es sich hier handelt. Man nennt derartige Institute auch Pfandhaus, Leihhaus oder Pfandleihe.
Leute, die ein solches Institut aufsuchen, sind weder Milliardäre, noch Millionäre, noch Kriegsgewinnler, noch Schieber. Es sind stets Kranke, – Portemonnaiekranke. Börsen-Schwindsüchtige, ‚Total-Ausgemistete‛, wie’s im Studentenjargon heißt.
Und Splitz und Schnalle waren wirklich total ausgemistet. Vor vier Wochen hatte die ‚Kr.-Gesellschaft‛ für Kautabak-Ersatzstoffe endlich ihre Pforten geschlossen und ihre noch vierzig Angestellten, darunter ein Direktor, fünf Subdirektoren, zehn Prokuristen, entlassen.
Zur Charakteristik unserer Helden kann das Vorstehende unmöglich genügen. Das zwei Siebenundzwanzig- bzw. Achtundzwanzigjährige junge Leute Kunden bei Samuel Mauschelsohn sind und noch über zwei paar Herrenhosen mit Schleiertüll-Gesäßseiten verfügen, besagt wenig.
Also: Splitz und Schnalle waren Bettnachbarn gewesen, wurden beide wegen Schwäche in den betreffenden Beinen ‚g. d.‛ geschrieben, was bekanntlich ‚günstige Drückebergermöglichkeit‛ bezeichnet, meldeten sich als ehemalige Besucher einer Handelshochschule bei einer ‚diesbezüglichen‛ Anfrage für die ‚Kautabak-Ersatz-Gesellschaft‛ – und waren für den Rest des Krieges und für anderthalb Friedensjahre geborgen, bezogen nachher anständige Gehälter und legten sich jeder ein liebes, süßes, braves Mädel zu.
Doch – die süßen Mädels kommen später ran! –
Karlchen Splitz war mit seinen Erfolgen bei Samuel Mauschelsohn wenig zufrieden. Für zwei Winterulster, zwei Winteranzüge, ein Fernglas und das zweibändige Werk ‚Das Liebesleben der Naturvölker‛ – mit Illustrationen! – hatte Samuel im ganzen nur dreihundert Mark bewilligt. Das war nichts in der heutigen Zeit, noch dazu für zwei junge Leute mit gesegnetem Appetit, ohne Gehalt, ohne zahlungsfähige Verwandte und ohne Aussicht, irgendwo etwas verdienen zu können.
Nach dem schnellen Hinscheiden der Kautabak-Faulenzerbande hatten Karlchen und Dagobert sich wirklich ehrlich bemüht, Verdienst zu finden. Da sie jedoch beide aus der ‚Holzbranche en gros‛ waren, und die Holzgeschäfte jetzt keine Geschäfte sondern nur Pleite machten, mußten sie sehr bald einsehen, daß sie nun mit zu der großen Armee der Arbeitslosen gehörten. Ersparnisse hatten sie nicht. So wurde denn Samuel Mauschelsohn ihr rettender Engel, ihr Nährvater. Er wurde es, weil man’s zu ihm am nächsten hatte – nur zwei Häuser weiter. Denn die Freunde wohnten Kantstraße 525, Gartenhaus, Parterre bei Fräulein Sidonie Trempel, – vorläufig noch bis zum 1. Mai, da Sidonie ihnen gekündigt hatte, was auf verschiedene noch näher zu beleuchtende Ursachen zurückzuführen war.
Karlchen schlich jetzt also mit seinen drei Herrenhosen, von denen er eine an- und die beiden anderen über dem Arm hatte, recht geknickt heimwärts.
Dagobert Schnalle, ein langer, dünner Kavalier von unverwüstlichem Humor, lag in dem gemeinsamen Zimmer auf seinem noch ungemachten Bett und studierte in einem abgerissenen Schmöcker, der Fräulein Sidonie Trempel gehörte. Der Schmöker trug den Titel: ‚Atlanta, das Findelkind, oder die Geheimnisse der Schmiere, – oder der Blutsauger von Immelstein‛.
Das Buch war etwas dreimal so dick wie eine Bibel und bestand aus dreihundertdreiunddreißig eingebundenen Einzelheften. Es war also ein sogenannter Schauerroman.
Karlchen trat ein. Dagobert schaute gar nicht auf, sondern begrüßte den Intimus mit folgender Stelle aus dem Schmöker:
„So gelangte die rührend schöne, noch völlig unschuldige Atlanta zu der Wandertheatergruppe des Herrn Hilmar Mazzaroni, der eigentlich August Steiß hieß; so tat sie den ersten Schritt auf dem Wege, der sie am Rande eines brodelnden Sumpfes entlang führen sollte; so lernte sie jene bedauernswerten Künstler kennen, die von Städtchen zu Städtchen ziehen, die froh sind, wenn sie ein Kohlrübenfeld heimlich plündern können, die Vegetarier sind, weil das am billigsten ist – auch heute!“
Die letzten Sätze waren bereits Dagoberts freie Erfindung. Er hatte von dem Riesenfolianten aufgeblickt und fügte nun in einem Atem hinzu:
„Wieviel, Dicker?“
„Dreihundert,“ erklärte Karlchen trübselig.
„Hm – ich hatte auf mehr gehofft. Ich glaubte, das ‚Liebesleben mit Illustrationen‛ würde Samuel weich stimmen. Man verspekuliert sich manchmal – leider!
Karlchen Splitz setzte sich seufzend auf den Rand seines Bettes.
„Einhundertzwanzig kriegt Sidonie noch restliche Miete,“ rechnete er zusammen. „Fünfzig kriegt der Portier, – nein fünfundfünfzig, wir müssen ihm doch Zinsen für das Darlehen geben, zwölf sind wir dem Fräulein beim Bäcker nebenan schuldig und – na, damit is Schluß. Das macht summa summarum einhundertsiebenundachtzig Papierreichsmark. Uns bleiben mithin noch einhundertdreizehn Märker – also eine eins und die Unglückszahl dreizehn –“
Er wollte noch etwas diesem Unkenruf hinzufügen. Doch – es hatte geklopft, und ohne ein ‚Herein!‛ abzuwarten, war Fräulein Sidonie Trempels geschminkter Puppenkopf in der Türspalte erschienen und ließ dem Gehege seiner künstlichen ‚Hauer‛ die ironisch-gehässige Anmeldung entfleuchen:
„Die – Damen sind da!“
Dieses ‚Damen‛ betonte sie derart auffällig, indem sie es gleichzeitig endlos lang reckte, daß dem trotz seiner Behäbigkeit sehr leicht reizbareren Karlchen sofort die Galle über – und der Wutschrei entlief:
„Raus! Raus – Sie fleischgewordene Mißgunst, Sie wandelnde Ausstellung von Schönheitsersatzmitteln!“
Sidonie Trempel war mit einem Hupf mitten im Zimmer. Ihr Gesicht färbte sich trotz Schminke und Puder blaurot; ihr Unterkiefer schlotterte vor Empörung.
„Wa – a – as bin ich?!“ kreischte sie. „Wa – wa – as?! Eine – eine fleischgewordene Mistausstellung?! Das – das ist eine Beleidigung! Ich werde Sie verklagen, Herr Splitz; Sie werden vors Schwurgericht kommen, und dann ins Gefängnis. Ich bin ein anständiges junges Mädchen, ich – ich habe Beziehungen – Beziehungen zu den höchsten Kreisen –“
„Theater, vierter Rang, auch Bullerloge jenannt,“ warf Dagobert schnoddrig ein. Dann hob er die langen Beine, schwenkte im Bett herum, stellte sich auf die mit zerrissenen Morgenschuhen bekleideten Füße, holte aus der Westentasche die letzten Reste seiner goldenen Uhr in Gestalt eines Uhrglases – die Uhr selbst lernte bei Samuel Mauschelsohn hebräisch, – klemmte dieses Ersatzmonokel sehr gewandt in das rechte Auge ein, verbeugte sich vor Sidonie und fuhr fort:
„Verehrtestes Fräulein Trampel – pardon: Trempel, Sie haben soeben die Ausdrücke meines leider stierähnlich reizbaren Freundes Karlchen etwas durcheinander geworfen. Fleischgewordene Mistausstellung – das hätte er als gebildeter Europäer nie in den Mund genommen! Ich als einziger Zeuge dieser angeblichen Beleidigung kann das vor jedem Schwurgericht durch einen Schwur ohne Beschwerung meines Gewissens beschwören, falls es Ihnen eben durch Ihre Beziehungen zu hohen Kreisen gelingen sollte eine Beleidigungsklage vor dem Geschworenengericht zur Verhandlung zu bringen. Zuständig wäre nämlich das Schöffengericht. Von fleischgewordener Mistausstellung ist hier keine Rede. Ich bitte Sie nun höflichst, sich in Ihre Gemächer zurückzuziehen und zu versuchen, durch angestrengteste geistiger Arbeit festzustellen, was Karlchen Ihnen in blumenreicher Sprache vorgeworfen hat. „Außerdem gestatte ich mir, Ihnen hier Ihr Andachtsbuch, den ‚Blutsauger von Wimmerbein‛, mit Dank zurückzugeben. Ich habe daraus außerordentlich viel gelernt und sehr viel Anregung geschöpft. Tatsächlich! Sie denken wohl, ich wäre so gemütsroh, Sie zu uzen[1]? – Das ist nicht der Fall. Ich weiß jetzt nämlich, wie ich Karlchen und mir eine Existenz schaffen werde – weiß es durch den ‚Blutsauger von Wimmerstein‛.“
Er machte eine Atempause. In der offenen Tür waren Minni und Fiffi erschienen.
„Bitte – treten Sie ein, meine Damen,“ rief Schnalle nun mit großartiger Handbewegung. „Sie sind in einem feierlichen Momang erschienen. Ich bin gerade dabei, die neue Existenz zu gründen,“
Minni und Fiffi stellten sich bescheiden an den Ofen. Sidonie warf ihnen einen Blick zu – einen Blick! –
Aber sie war doch zu gespannt, was der – süße, verdrehte Dagobert noch über die ‚Existenz‛ vorbringen würde. Ja – Sidonie fand ihn süß – seit vier Monaten. So lange wohnten nämlich die Intimi bei ihr – Mancher sagt Intimusse wie man Omnibusse sagt. Aber ich sage Intimi denn es heißt ja auch Intimitäten und nicht Intimussetäten.
Also: süß fand sie ihn! So süß, daß sie ihm in den ersten vier Wochen nach dem Einzug täglich mindestens dreimal auf raffinierteste Weise Gelegenheit gegeben hatte, eine ‚schwache Stunde‛ herbeizuführen. Aber Dagobert war nie schwach geworden, auch nicht mal ‛ne Viertelstunde lang. Und diese Widerstandskraft ließ in dem Herzen der siebenunddreißigjährigen, angeblichen Jungfrau Trempel langsam einen finsteren Haß aufkeimen, der sich noch steigerte, als Minni des süßen Dagoberts ‚süßes Mädel‛ wurde.
Kein Wunder, wenn Fräulein Sidonie diese Minni noch mehr haßte; kein Wunder, daß sie am 15. April den Freunden gekündigt sagte; kein Wunder, daß sie jetzt fast vor Enttäuschung und Ärger platzte, als Dagobert von einer ‚Existenz‛ sprach! Hatte sie doch gehofft, der Hunger, die Obdachlosigkeit und der Mangel an Kleidungsstücken würden den Süßen doch schließlich noch in ihre Arme treiben. –
Dagobert Schnalle sprach weiter.
2. Kapitel
Varietee ‚Gigantic‛.
„Ja, ‚Der Blutsauger von Winterstein‛ ist die Quelle aus der ich den genialen Einfall geschöpft habe, der Karlchen und mich aus den Dalles heraus- und auf die Bretter bringen wird, die die Welt bedeuten. Mit dieser Redensart bezeichnet man bekanntlich – die Bühne!“
Er schwieg und schaute in die Runde. Er begegnete drei ungläubig erstaunten und einem – hoffnungsvollen Augenpaar. Letzteres gehörte Sidonie Trempel, wie man sich bei einiger Intelligenz an den fünf Fingern abzählen kann.
„Der Quatsch ist nicht mehr mit anzuhören!“ knurrte der Dicke. „Mach’ Schluß mit dem Stuß. Minni und Fiffi holen sich den Schnupfen dort an dem kalten Ofen.“
„Bin sofort fertig. Minni und Fiffi sind jung und haben genug innere Wärme einen kalten Ofen in Glut zu bringen. – Also: In dem ‚Blutsauger‛ ist das Leben und Leiden einer Wandertheatertruppe sehr eingehend geschildert. Der Direktor Hilmar Mazzaroni, oder auf deutsch August Steiß wird als Genie beschrieben, der mit den geringsten Mitteln, mit Erfindungsgabe und – gottbegnadeter Unverfrorenheit den Künstlerkarren immer wieder aus dem Dreck zieht und weiterschiebt. – Ich habe diese Seiten sehr genau gelesen, denn – ich will ein zweiter Direktor Mazzaroni werden, nämlich Direktor eines wandernden Varietee-Theaters! – Na – was sagt ihr nun?“!
„Meschugge!“ sagte Karlchen –
„Gestatten: Kapellmeister Meschugge mit seiner langen roten Perücke ist berühmt geworden! – Wir werden auch berühmt werden – wir beide, ich als Direktor, du als einziges, vielseitiges Mitglied des Varietee-Theaters, hm – ein wirksamer Name fehlt mir noch. Doch – auch der wird gefunden werden. – Das Theater wird sämtliche Ostseebäder bereisen, die über dreißigtausend und unter dreitausend Badegäste haben. Da es Bäder mit dreißigtausend Frequenz nicht gibt, können wir uns auf die ‚unter dreitausend‛ beschränken. – Es wird über acht berühmte Kräfte verfügen: Erstens: Den Berliner Hofopernsänger Direktor Dagobert, – also über mich! – Daß ich singen kann, süß singen kann, sagt Minni mir jeden Tag. – Nun – die weiteren ‚Berühmtheiten‛ will ich nicht näher aufzählen. Ich habe im Schützengraben allerlei Instrumente spielen gelernt, kann mithin auch einen musikalischen Klown nötigenfalls darstellen. Drittens habe ich während der überaus anstrengenden Tätigkeit beim ‚Kautabak-Ersatz‛ aus Langerweile mir eine Masse Kartenkunststücke und Zauberei mit Münzen, Streichholzschachteln, Zigaretten und ähnlichen Dingen eingeübt. Ich werde also auch ‚den jüngsten Enkel des Weltmeisters Bellachini‛ zur Zufriedenheit meines erlauchten Pseudogroßvaters mimen können. Viertens schieße ich leidlich. Ich vermag zur Not auch als Kunstschütze aufzutreten. – Dann Karlchen Splitz! Was der alles kann, geht einfach auf keine Kuhhaut. Er spielt Gitarre und singt schmalzige Walzer und duftige Couplets, daß es nur so eine Art hat; er imitiert Tierstimmen bis hinab zum Hohngelächter eines Flohs, der menschlichen Würgerhänden soeben entschlüpft ist! Er jongliert mit steifen Filzhüten, Schirmen, Spazierstöcken, Wassergläsern, Tintenfässern, Stühlen und so weiter in staunenerregender Weise, – was er nebenbei bemerkt auch beim ‚Kautabak-Ersatz‛ sich angeeignet hat. Er ist im Januar beim Winterfest des ‚Kautabak-Ersatz‛ in dem Schwank ‚Es lebe der Kautabak!‛ mit größtem Erfolg als komische Alte aufgetreten, kann also auch Damenimitator spielen. Schließlich könnten wir beide noch als komische Jongleure uns produzieren.
Kurz und gut: Wir hätten ‚Nummern‛ zur Verfügung, die erstklassig wären und denen das Publikum in den Weltbäder unter dreitausend Badegästen zujubeln würde. – Alles weitere über den Betrieb einer Wandertruppe habe ich aus dem ‚Blutsauger‛ mir fest eingeprägt, und ich hoffe auch, noch aus eigener Kraft einige Einfälle beisteuern zu können.“
Wieder eine Atempause.
Diesmal sagte aber Karlchen weder ‚totaler Blödsinn‛ noch ‚meschugge‛, sondern schaute den Freund nur unsicher fragend an. Meinte Schnalle all das nun wirklich ernst oder wollte er nur die Jungfrau Trampel ‚verkohlen‛?! –
Karlchen wußte nicht recht, was er darüber denken sollte. Die Idee an sich war nicht übel und vielleicht auch durchführbar – vielleicht. Und – ihm hätte es einen Heidenspaß gemacht, dabei mitzuwirken. So was ‚lag ihm‛.
Die Atempause war aus.
„Ich gründe hiermit also feierlich das Wandervarietee – famos! – ‚Gigantic‛, ernenne mich ebenso feierlich zum Direktor und engagiere dich, lieber Dicker, mit einer Gage, die der Hälfte der Gesamteinnahmen entspricht. So, das wäre erledigt. Nun will ich auch sofort, um den Kredit meines Unternehmens zu heben, Ihnen, hochverehrte Logiswirtin, den Rest der Miete mit insgesamt einhundertzwanzig Mark aushändigen. Bitte sehr. Karlchen und ich schulden Ihnen jetzt nichts mehr, nicht einmal Dank, denn Sie haben sich seit Wochen alle Mühe gegeben, uns und diese Damen da nach besten Kräften zu ärgern, ohne die Erfolglosigkeit dieser Versuche einzusehen, die uns stets nur ein mitleidig-bedauerndes Lächeln und nur Karlchen heute jener Ausdrücke entlockten, aus denen Sie dann irrtümlicherweise ‚fleischgewordene Mistausstellung‛ zusammenmanschten. Womit ich mir erlaube, Ihnen Lebewohl zu sagen, – was Sie hoffentlich verstehen werden. Ich war stets ein höflicher Mensch –“
Sidonie Trempel zuckte die Achseln, machte kehrt und wollte verschwinden. Sie besann sich aber, machte plötzlich wieder kehrt und rief von der Tür aus:
„Sie – Sie werden an mich denken – Sie – Sie!“
Was ihr noch auf der Zunge schwebte, schluckte sie vorsichtig hinunter, nämlich: ‚Sie Schwindler!‛
Dann schoß sie hinaus und ballerte die Tür zu, die Karlchen sofort von innen verriegelte. Außerdem hängte er noch sein buntes Taschentuch über das Schlüsselloch. Das tat der immer, wenn Mini und Fiffi anwesend waren, obwohl dieser ‚Wanzen-Palast‛, wie Schnalle die Bude getauft hatte, noch nie die Stätte irgend welcher Liebesszenen gewesen war, die einen Filmzensor aus einem Film herausgeschnitten hätte.
Nein – so was gab’s bei den Schwestern Bruckner nicht! Dazu waren sie doch zu sehr die Töchter anständiger Eltern; dazu hatten sie viel zu viel inneren Halt!
Gewiß: Großstadtmädels waren sie in sofern, als sie keck zugriffen, als sich ihnen ein bißchen Sonne darbot in Gestalt der beiden Freunde, die im selben Gartenhaus wohnten; ein bißchen Sonne und Liebesglück nach grauen, trüben, arbeitsreichen Jugendjahren.
Da kümmerten sie sich nicht um das Geraune und Getuschel im Haus; ließen sie die alte Tante Mathilde ruhig schelten, bei der sie nach dem frühen Tod der Eltern ein Unterkommen gefunden hatten.
„Tantchen,“ sagte Fiffi, die blonde, ältere, dann stets, wenn das verhutzelte Fräulein die Hände rang und meinte, es würde noch ‚ein Unglück geben‛, –
„Tantchen, wir sind ja so gut wie verlobt. Und – ein Unglück?! Da kennst du uns schlecht! Küssen ist keine Sünd’, – aber mit dem Kuß ist’s auch Schluß!“ Und dann umarmten sie Tantchen, streichelten deren dick gemästetes Hündchen, und – Fräulein Mathilde Hering war wieder auf zwei bis drei Tage beruhigt.
Die Begrüßungszärtlichkeiten, bei denen die Paare voneinander nicht die geringste Notiz nahmen, dauerten etwa zehn Minuten. Dann gab Fiffi, das Blondchen ihrem Dicken einen sanften Klaps, sprang auch und erklärte:
„Kinder, nun wollen wir mal ‛ne Weile vernünftig sein! – Du, Dagobert, was sollte nun eigentlich diese Varietee-Theater-Geschichte? War das bloß Mumpitz? Oder –“
Minni setzte sich jetzt ebenfalls artig neben Dagobert. Dieser schüttelte sehr energisch sein strohblondes Haupt, dessen Haarpracht durch das Stahlhelmtragen im Feldzug arg gelitten hatte.
„Keine Spur von Mumpitz, Fiffichen,“ erwiderte er ganz ernst. „Karl und ich müßten verhungern oder Taschendiebe, Hochstapler, Falschmünzer oder dergleichen werden, – wenn – wenn eben der ‚Blutsauger von Wimmerstein‛ nicht so treffliche Gedanken in mir angeregt hätte. Kind – uns bleibt ja keine Wahl! Arbeit anderer Art finden wir nicht. Also muß eben der Versuch gemacht werden, als ‚Leute vom Varietee‛ unser Brot zu verdienen.“
Fiffi nahm neben Karlchen Platz. Ihr frisches Gesichtchen war etwas ängstlich geworden.
„Aber – aber Dagobert, wie – wie denkst du dir das?“ fragte sie kleinlaut. „Wo – wo wollt ihr das Geld hernehmen, euch Kostüme und so weiter zu besorgen. Perücken braucht ihr doch auch, und – und –“
Dagobert hatte abgewinkt.
„Laß nur, Fiffichen, – zerbrich dir nicht den Kopf! Das besorge ich alles – alles! Und ihr – ihr helft dabei. Tante Mathilde hat doch in ihren Schränken noch allerhand Sachen hängen. Da schneidert ihr uns das Nötige zurecht. Und vieles bekomme ich bei Samuel Mauschelsohn. Ich werde ihm die Pfandscheine über meine Uhr, meine Ringe und so weiter verkaufen. – Bitte – erst ausreden lassen. Ich habe schon einen Überschlag gemacht. Alles in allem kriegen wir dann an Geld etwa siebenhundert Mark zusammen –“
Er war nun im Zuge. Die Begeisterung für seine Idee stellte sich ein. Er stand auf, sprach weiter. Klar und nüchtern erörterte er alles, sagte zum Schluß:
„Schlägt der Versuch fehl, haben wir nicht viel verloren. Gelingt er, können wir auch im Winter die ‚Gastspielreise‛ fortsetzen, können vielleicht so viel sparen, daß wir nachher etwas anderes anzufangen in der Lage sind. – Karl, alles hängt von dir ab. Hast du Mut?“
„Und ob!“ – Karlchen preßte seine Fiffi an sich. „Mädel, denk’ mal, wenn Dagobert Recht hätte, wenn wir sparen könnten, wenn –“
3. Kapitel
Der Scheinehen-Vorschlag.
Er stutzte. Wahrhaftig: Fiffi schluchzte leise, hatte die Hände vor das Gesicht gedrückt.
Und – Minni tat genau dasselbe!
„Kinder, Mädels, süße, kleine Racker, – was fehlt euch den nun plötzlich?!“ rief der lange Dagobert. „Weshalb in aller Welt Tränen – weshalb?!“
Karlchen schaute ihn mit einem vorwurfsvollen Blick an.
„Das begreifst du nicht, Dagobert?! – Ihnen wird eben der Abschied von uns sehr schwer werden –“
„Ja – ja!“ klagte Fiffi. „Wenn wir erst getrennt sind, werdet ihr uns – vergessen. Und – und ihr werdet andere kennen lernen – andere Mädchen – in den Bädern –“
„Wir werden nicht baden!“ schwor Dagobert mit vorgereckter Hand.
„– Töchter von – Kriegsgewinnlern – oder sonst – gute Partien,“ fuhr Fiffi fort. „Ihr – ihr seid doch so – nette, liebe Kerle – und – und –“
Sie weinte stärker.
Und Minni tat dasselbe – noch stärker!
„Herr im Himmel,“ meinte Dagobert Schnalle verzweifelt, „habt ihr denn so wenig Vertrauen zu uns?! Mädels, wenn wir nicht so arme Ludersch wären, hätten wir uns ja längst mit euch verlobt – in aller Form, hätten euch auch schon geheiratet, hätten vielleicht schon Kindtaufe gefeiert – ich meine Hochzeit gefeiert! – Ihr macht mich wirklich ganz konfus mit eurem Gejammer! – Seid doch verständig!“
Und er zog seine Minni sanft an seine Brust und küßte sie auf die Stirn.
Doch – auch das half nicht viel! Minni und Fiffi sahen das bißchen Sonne schon wieder erlöschen, sahen sich wieder tagein, tagaus zum Telephonamt wandern und wieder nichts anderes tun als stöpseln – stöpseln – stöpseln und sich mit groben Teilnehmern herumärgern.
Erst Dagobert und Karlchen hatten ihnen das Leben lebenswert gemacht. Und nun – nun sollte wieder alles aus sein, nun würden sie sich nicht mehr so unendlich auf die dienstfreie Zeit freuen, würden nicht mehr wie auch heute wieder im Sturmschritt nach Hause eilen, um vor dem Mittagessen noch schnell etwas – etwas Bescheidenes vom Tisch der Liebe zu naschen. –
Dagobert wurde ganz weh ums Herz bei so viel Anhänglichkeit, bei so viel treuem, ehrlichem Empfinden. Und Karlchen ging’s genau so. –
Er wollte schon beinahe auf die ganze Idee verzichten, als der Dicke – dick war er nur im Vergleich zu dem Schlangenmenschen Dagobert – plötzlich geradezu brüllte:
„Ich hab’s!“
Worauf als Antwort oben jemand kräftig auf die Dielen klopfte. Dort wohnte der Herr Major a.D. von Schmierstein-Gotzlow, ein sehr nervöser Herr, mit seiner Wirtschafterin und vier angeblich adoptierten Kindern. Die Trempel behauptete stets, es seien ‚echte‛ Kinder. Und die mußte es wissen, denn sie spionierte alles aus. Sie hatte ja Beziehungen – zu hohen Kreisen.
„Das war ein adliger Fuß!“ meinte Dagobert warnend. „Karlchen – der Schmierloch-Kotzstein ist uns nicht grün, das weißt du! Der hält uns vier für die ärgsten Sünder, obwohl er doch zunächst mal vor seiner eigenen Tür die Adoptivkinder wegkehren sollte – hm ja!“
„Pfui!“ sagte Minni leise.
„Minnichen – das war nur bildlich ausgedrückt. Er soll die Rangen nicht etwa in den Müllkasten fegen – keine Rede! Nein, er –“
Fiffi jedoch unterbrach ihn.
„Schatzi – was wolltest du vorhin denn mit diesem ‚Ich hab’s!‛ andeuten?‛ fragte sie Karlchen Splitz.
Karlchen flüsterte jetzt nur. „Kinder – es gibt einen Ausweg! Dann – dann habt ihr uns sicher – sozusagen schwarz auf weiß in der Tasche, dann braucht ihr keine Angst vor Kriegschiebertöchtern zu haben, die euch die lieben, netten Kerle wegschnappen könnten. Schwarz auf weiß: Eheschließungsurkunden!“
Das letzte Wort sprach er mit größter Feierlichkeit aus. Desto seltsamer wirkte Dagobert Schnalles Entgegnung.
„Meschugge!“ erklärte er nur.
Worauf eine Weile Totenstille folgte.
Minni und Fiffi durchschauerte noch die Weihe des so schwerwiegenden Wortes ‚Eheschließungsurkunde‛. Und diese Weihe hatte das ‚Meschugge!‛ nicht zerstört.
Dann seufzte Fiffi schmerzlich auf:
„Ach – das geht ja nicht!“
„Warum nicht?“ meinte Karlchen eifrig. „Jeht jetzt alles! Man muß nur wollen!“
„Totaler Blödsinn,“ sagte Dagobert kurz. „Mach’ einem nicht den Mund leckerig, Dicker! Zum Heiraten gehört wie zum Kriegführen dreierlei: Geld, nochmals Geld und wieder Geld. Und an Geld mangelt es uns vieren im Überfluß!“
„Jehn jeht alles!“ wiederholte Karlchen hartnäckig. „Wir lassen uns nur standesamtlich trauen, und –“
„Niemals!“ riefen da Fiffi und Minni wie aus einem Mund. „Niemals nur Standesamt!“ fügte Fiffi als Wortführerin hinzu. „Nur Standesamt, damit die Leute denken, man – man darf nicht mehr den Myrthenkranz tragen! Nein – ohne kirchliche Trauung niemals. So modern denken wir doch nicht, daß wir darauf verzichten. Ohne Kirche – das ist überhaupt keine Hochzeit. Heutzutage lassen sich so viele im Straßenanzug kirchlich trauen. Wir können Sommerkleider anziehen, hell, luftig, und dann Kranz und Schleier dazu. Ach – und lange weiße Handschuhe haben wir auch noch, und –“
Sie entwickelten den Gedanken weiter. Ihre grauen ausdrucksvollen Augen strahlten. Aber – dann kam der Rückschlag nach diesen wundervollen Träumen. Sie schwieg plötzlich. Jeder Freudenschimmern erlosch in ihrem Antlitz. Ein langer, langer Seufzer.
„Doch, – das – das alles wird ja nie sein,“ meinte sie jetzt. „Das sind ja alles Träume. Wie – wie sollten wir vier wohl heiraten?! Das wäre ja Leichtsinn, das würde Tantchen niemals dulden. Und mit Recht.“
Sie errötete jäh. Sie hatte an das gedacht, was Dagobert vorhin versehentlich erwähnt hatte: Kindertaufe! –
Ja, wenn sich dann – dann vielleicht noch so ein Puppchen einstellte, so ein winziges Puppchen! Was kostete das heute alles?! Was brauchte man alles, um so einen kleinen Weltbürger gebührend zu empfangen: Erstlingswäsche – und so weiter – und so weiter –
Auch Minni meldete sich jetzt. „Nein, nein – sprechen wir gar nicht mehr davon. Man – macht sich ja nur das Herz schwer mit – mit sowas wunderbar Schönem, das ja nie – nie kommen kann, weil wir – so arm sind, wir vier –“ Fiffis Augen füllten sich mit Tränen. Und halb unbewußt schmiegte sie sich wieder enger an ihren süßen Dicken an, der ja gar nicht so dick war, nein, den mancher um seine ebenmäßige Figur beneidet hätte.
Dieser Dicke fuhr sich jetzt jedoch wie verzweifelt mit beiden Händen in das dunkele, volle Haupthaar und brachte seine Frisur unabsichtlich genial in Unordnung.
„Kinder?! meinte er. „Kinder, ihr versteht mich ja noch immer nicht! Ich will ja gar keine so ganz richtiger Heirat, hm ja, sondern – sondern – Himmel, wie drücke ich das nur aus?! – sondern nur so eine Art Scheinehe; so eine Art Garantieschein für euch, Minni und Fiffichen, daß wir euch treu bleiben, daß ihr uns ganz – ganz sicher habt – für alle Zeiten. Ich stelle mir das so vor: An dem Tage, wo wir unsere Gastspielreise antreten, lassen wir uns standesamtlich und auch kirchlich trauen. Und dann – dann reisen Dagobert und ich sofort ab. Ihr wißt also dann, daß wir euch urkundenmäßig angehören, bleibt aber im übrigen sozusagen Fräulein Felizitas und Minna Bruckner, lebt so weiter wie bisher, bis – bis wir, euere Ehemänner euch miternähren können. – Wenn wir das Tante Heringchen genügend auseinandersetzen, wenn Dagobert und ich ihr hoch und heilig zuschwören, daß wir nicht früher – hm ja – also nicht früher wirklich als – als Eheleute leben wollen, bis –, – na kurz und gut, dann wird auch eure Tante nichts dagegen haben.“
Fiffi und Minni schauten mit brennenden Wangen in den Schoß. Sie verstanden. Und – sie fanden beide diesen Vorschlag jetzt durchaus vernünftig. Nur Dagobert Schnalle machte ein sehr bedenkliches Gesicht, schielte seine Minni von der Seite an und – seufzte.
Fiffi, die energischere der Schwestern, das Blondchen, seufzte jedoch nicht mehr.
Sie erhob sich.
„Kommt mit nach oben zu Tante,“ sagte sie entschieden. „Ihr haltet jetzt bei Tantchen in aller Form um uns an. Und dann mag Karlchen ihr seinen Vorschlag hinsichtlich des – Garantiescheins unterbreiten.“
4. Kapitel
Die Schein-Hochzeit.
Das ganze Gartenhaus Kantstraße 525 stand am 8. Mai auf Stützen – bildlich gesprochen! Es handelte sich also um keinen drohenden Gebäudeeinsturz, sondern um ein die Bewohner stark erregendes, ja geradezu verblüffendes Ereignis.
Dagobert und Karlchen waren bei den sämtlichen 525ern, auch denen aus dem Vorderhaus, recht beliebt gewesen – Fräulein Sidonie Trempel und die Majorsfamilie ausgenommen. Sie waren vergnügte, freundliche Herren, und als sie am 1. Mai auszogen, bedauerte man das allgemein – mit den genannten Ausnahmen!
Erst am 4. Mai wurde dann durch einen Zufall bekannt, daß die beiden ‚Telephonmädels‛, die man bis dahin so mehr als die ‚Verhängnisse‛ der ehemaligen ‚Kautabak-Ersatz‛-Mitarbeiter betrachtet hatte, am folgenden Tag Hochzeit feierten.
Wie gesagt: Man war verblüfft! – Man wußte, daß Schnalle und Splitz ‚nischt‛ hatten, stellenlos waren und bei einem Freund in der Nähe nächtigten. Denn den Tag über hielten sie sich in der Wohnung des Fräulein Mathilde Hering auf.
Was sie dort ständig trieben, ahnte niemand. Daß sie dort die ‚Requisiten‛ für die Gastspieltour anfertigten, konnte man erst recht nicht ahnen, denn die Eingeweihten schwiegen darüber, und Sidonie Trempel hatte an den ‚Quatsch‛ nie geglaubt.
Und nun hatte man die Gewißheit: Fiffi und Minni heirateten! –
Das ganze Haus kam in Aufruhr. Woher hatten die vier das Geld, heiraten zu können?! Heutzutage! Wo schon eine Schlafzimmereinrichtung aus Fichtenholz zweitausend Mark kostete?!
Man pirschte sich an Mathildchen Hering an; man suchte sie auszuhorchen. Aber sie war schlau – oh, viel schlauer als irgend jemand dachte! Ihr mageres, welkes Altjungferngesicht änderte nie den Ausdruck, blieb undurchdringlich. Nur wenn sie ihren gemästeten, vierbeinigen Liebling streichelte, der auf den Kosenamen ‚Luttichen‛ hörte – denn der Hund war nachweislich weiblichen Geschlechts – strahlte ihr Antlitz auf. Sie liebte nur zweierlei anscheinend: Das Geld und Luttichen! Sie war sparsam – nein, schon mehr geizig. Und wie alle Geizigen war sie überaus mißtrauisch.
Ihre Vergangenheit war vom zwanzigsten Lebensjahr ab in mystisches Dunkel gehüllt, denn gerade an ihrem zwanzigsten Geburtstag war sie – aus dem Elternhaus verschwunden – spurlos verschwunden! Sie war durch die Polizei gesucht worden; man vermutete ein Liebesabenteuer obwohl niemand je etwas von einer Liebelei gemerkt hatte. Schließlich betrauerte man sie als tot.
Aber die ganze Geschichte behielt einen romantischen, geheimnisvollen Anstrich. Sie war ein hübsches Mädchen gewesen. Das hatte Fiffis und Minnis Mutter oft betont, wenn man von Tante Thildchen sprach, die dann nach endlosen zwanzig Jahren wieder auftauchte. Um das seltsamste; kein Mensch erfuhr je, wo sie diese zwei Jahrzehnte gewesen, was sie getrieben hatte. Sie behauptete, lediglich aus ‚Abenteuerlust‛ nach Amerika gegangen zu sein. Das war alles.
Aber – das glaubte niemand. So verstärkte sich denn noch der geheimnisvollen Nimbus, der ihr bereits fast weißes Haupt umwehte. Sie zog nach Berlin, in das Haus Kantstraße 525, zwei Treppen rechts. Die Wohnung hatte drei Zimmer. Eins davon vermietete sie. Als Fiffi und Minnis Eltern starben, nahm sie die Kinder ihrer einzigen Schwester zu sich, erzog sie streng, hielt sie zur Arbeit an und gab ihnen durch ihren eigenen Fleiß das beste Beispiel.
Als man Thildchen damals zu vieren auf den Leib gerückt war, als Karlchen ihr in langer Rede auseinandergesetzt hatte, weshalb man zwei Ehen schließen wolle, die nur dem Namen nach Ehen und lediglich ‚Garantiescheine‛ für die Mädchen darstellen sollten, da hatten die großen, dunklen, noch so lebhaften Augen des alten Fräuleins Dagobert und Karlchen nacheinander mit besonderen Blicken fast durchdringend gemustert – und dann hatte sie zum maßlosen Erstaunen Fiffis und Minnis ohne jede Debatte erklärt:
„Gut, ich bin einverstanden. Ich sehe jetzt, daß Sie beide meine Nichten aufrichtig lieben und daß Sie auch das ehrliche Streben haben, Geld zu verdienen. Denn Ihre Tätigkeit bei der Kriegsgesellschaft war ja kein Beweis für Arbeitsfreudigkeit und Geschäftstüchtigkeit. Da ich nun an Fiffi und Minni Mutterstelle vertrete, heiße ich Sie beide als meine Schwiegersöhne herzlich willkommen, biete Ihnen auch das verwandtschaftliche Du an.“
Da waren die Mädels Tante Thildchen um den Hals gefallen und hatten sie tüchtig abgeküßt. Und Dagobert, der Menschenkenner, hatte in des alten Fräuleins Augen außer einem feuchten Schimmer noch einen Ausdruck von tiefer Herzensgüte und Liebe aufblinken sehen und hatte unwillkürlich gedacht: ‚Die ist ja ganz anders, als sie sich zeigt! In deren Brust müssen Geheimnisse ganz besonderer Art schlummern –‛ –
Nun war der große Tag da, und – nun kamen die lieben Überraschungen, die Tante Thildchen in aller Stille vorbereitet hatte: Zunächst zwei neue weiße Kleider für die Mädels, reich gestickt, schick gearbeitet. Sie mußten ein Sündengeld gekostet haben. Dafür sahen dann aber auch die beiden Bräute allerliebst aus!
Dann Überraschung Nummer zwei: Dagobert hatte aus Sparsamkeitsgründen in einer Mietdroschke nach der Kirche fahren wollen.. Das dünne Tantchen konnte man als fünfte ja zwischen sich nehmen.
Aber: Um drei Uhr nachmittags fuhren vor Kantstraße 523 zwei elegante Hochzeitskutschen vor. Und darin nahmen die Brautpaare, Tannte Thildchen, und der Freund Dagoberts und Karlchen Platz, der als Trauzeuge vormittags schon mit auf dem Standesamt gewesen war. Und in der Kirche spielte die Orgel, war der Altar mit Blumen geschmückt; da standen und saßen auch die ganzen 525er, und selbst aus den Nebenhäusern waren Neugierige erschienen. Es war alles so weihevoll und feierlich. Der Küster verteilte Gesangstexte, und nach der Trauung erscholl vom Chor herab eine wundervolle Frauenstimme, die das bekannte Lied für die Neuvermählten eindrucksvoll und tief bewegend sang:
Wo du hingehst, da geh’ auch ich hin …
Fiffi und Minni glaubten zu träumen. Tränen perlten ihnen aus den Augen. Und auch Dagobert und Karlchen waren so ergriffen, daß sie die Rührung gewaltsam zurückdrängen mußten.
Dann fuhr man heim. Dort hatten inzwischen die Portierfrau und die Gattin des Flurnachbars, des Rechnungsrats Heberlein, auf Tante Thildchens Geheiß eine kleine, festliche Tafel gedeckt. Ein Stadtkoch war mit zubereiteten Speisen erschienen, und so gab es denn ein richtiges Hochzeitsmahl mit vier Gängen und Wein – sogar drei Sorten Wein – sogar Sekt!
Sekt! – Und Tante Thildchen sollte geizig sein?!
Dagoberts und Karlchens Freund, der frühere vierte Prokurist des ‚Kautabak-Ersatz‛, ein Herr unbestimmbaren Alters ohne Haare und mit stark galizischen Äußeren namens Ismar Tonnenreif – er war jetzt bei einer Kunstdüngerfirma untergeschlüpft, war also beinahe bei der ‚Kautabak-Ersatz‛-Branche geblieben! – hielt denn auch bei Tisch eine Rede auf Tantchen Hering, die geradezu von ehrlich gemeinten Lobpreisungen ihrer Herzensgüte triefte; und Karlchen tat nachher dasselbe, nannte Thildchen in seiner Dankrede einen Engel, der im grauen Alltagskleid über die Erde wandle, ging dann zu Tantchen hin und gab ihr einen Kuß.
Thildchen Hering saß mit seltsam verträumten Augen da und – paßte genau auf, daß keins der jungvermählten Paare sich allzu lange in das ehemalige Mädchenstübchen der Schwestern zurückzog.
Dies geschah nämlich häufig und natürlich stets abwechselnd. Waren die Stühle des einen Paares leer, wurde Tantchen sofort unruhig. Und stets schon nach wenigen Minuten stand sie auf, trippelte in den Flur und klopfte gegen die bewußte Tür, steckte dann den Kopf hinein und meinte:
„Kommt, Kinder, – Rechnungsrats könnten es übel nehmen, wenn ihr euch absondert.“
Rechnungsrats war nämlich die einzigen Gäste außer Ismar Tonnenreif. Aber – die Redensart mit dem ‚übel nehmen‛ war natürlich nur ein kleiner Schwindel; Tantchen fürchtete eben, daß – daß sie bei längerer Abwesenheit eines der Paare die Tür des Mädchensstübchens plötzlich verriegelte finden könnte. Sie – sie kannte das Leben; sie war ja selbst einmal jung und voller Lebenslust gewesen; sie war eine Hering; und die Herings hatten alle – Temperament.
Rechnungsrat Heberlein hatte dem Sekt etwas kräftig zugesprochen. Als Tantchen jetzt wieder hinaus und hinter Dagobert und Minni herwollte, hielt er sie lachend fest, flüsterte ihr zu:
„Aber Fräulein Hering – lassen Sie doch die junge Leute ungestört! Ich bitte Sie! Wo die beiden Ehemänner mit dem 7 Uhr-Zug abdampfen! – Überhaupt: Ich begreife Schnalle und Splitz nicht! Ich würde nicht abreisen, oder doch erst mit dem Morgenzug –“
Tantchen suchte sich loszumachen.
„Herr Rat – Herr Rat, halten Sie mich nicht auf. Erst müssen meine Schwiegersöhne beweisen, daß sie wirklich Energie und nicht nur Unternehmungsgeist haben –“
Der Rat glaubte nämlich, Dagobert und Karlchen hätten für den Sommer Anstellung bei einer Kurverwaltung gefunden.
Tantchen riß sich jetzt los und hastete davon. Und als sie an die bewußte Tür pochte, als sie – den Kopf hineinschob und rief:
„Aber Kinder, ihr solltet –“
da predigte sie nur leeren Wänden, merkte dies noch rechtzeitig, eilte nun in ihr kleine Schlafzimmer. Aber auch dort waren Minni und Schnalle nicht.
Tantchen war ganz entsetzt. Ob – ob – diese Jugend! Wo steckten die beiden nur?! –
In der Küche flüsterte ihr die Portierfrau zu:
„Ich glaub’ der Herr Schnalle hat sich von Herrn Rat den Flurschlüssel von dessen Wohnung gehen lassen. Jedenfalls sind die beiden aus der Wohnung rausgegangen.“
Tantchen raste weiter, läutete nun bei Rats drüben Sturm.
Aber – sie wollte eigentlich nur Sturm läuten. Sie drückte zwar auf den Knopf, – die Glocke drinnen schlug jedoch nicht an.
Wenn man nämlich zwischen Glocke und Klöppel ein zusammengefaltetes Stück Papier klemmt, so hilft der stärkste elektrische Strom nichts. Und – Dagobert, der Holodri, hatte was zwischengeklemmt und zwar so kräftig und geschickt, das alles Drücken auf den Knopf nichts mehr nützte.
Thildchen ließ jetzt den Finger sinken, stand regungslos da, starrte vor sich hin. Dann – stahl sich ein liebes Lächeln um den welken Mund; und noch nie hatten ihre dunklen, großen Augen so verträumt ausgesehen wie jetzt – noch nie in den letzten Jahren – wenigstens dann nicht, wenn jemand sie beobachten konnte.
Nun drehte sie sich um, kehrte in ihre Wohnung zurück, setzte sich wieder neben Rat Heberlein und nippte an ihrem Sektglas.
Heberlein grinste, kniff die Augen zu, stieß seine Gattin an, flüsterte:
„Der Dagobert hat’s geschafft!“
Dann fiel es aber Karlchen auf, daß Minni und Dagobert so empörend lange das Stübchen in Anspruch nahmen.
„Du, Fiffi,“ raunte er seinem süßen Frauchen zu, „es ist doch geradezu bodenlos rücksichtslos, daß die beiden so tun, als gehörte das Zimmer nur ihnen! Komm’, – wir schmeißen sie einfach raus!“
Und husch – schon waren sie an der Tür, schon rief Karlchen:
„Ablösung vor! Fiffi und ich möchten auch mal allein sein!“
Doch: Der Schauplatz war leer! –
Karlchen erstarrte zur Salzsäule.
„Du,“ platzte er dann heraus, „die – die sind in ein Hotel entwischt!“
Fiffi schüttelte den Kopf, sagte leise dabei zu Boden schauend:
„Aber Karl! Minni – in Kranz und Schleier. Und – es ist doch gleich sechs Uhr! Nach einer halben Stunde müßt ihr ja zur –“ – ein Aufschluchzen – „– zur Bahn!“
Diesmal war Tantchen als Tugendwärter besser auf dem Posten. Sie erschien hinter den beiden, meinte:
„Kinder, Rechnungsrats könnten es übel nehmen, wenn –“
„Weiß schon!“ knurrte Karlchen. „Wo sind Dagobert und Minni?“
Das alte Fräulein wurde flammend rot.
„Sie – sie sind zu Löschkes nach oben gegangen, um adieu zu sagen –“
Löschkes hatten Blumen und einen Glückwunsch geschickt.
Karlchen glaubte Tantchen. Und so setzten Fiffi und er sich denn wieder artig an die Tafel.
Doch – die Zeit verstrich, und das Ehepaar Schnalle wurde mit dem Abschiednehmen bei Löschkes gar nicht fertig. Es war jetzt für die Mitglieder des Wander-Varietees ‚Gigantic‛ höchste Zeit, an den Aufbruch zu denken.
Da – trat Dagobert ein, sagte mit einem heuchlerischen Biedermannsgesicht: „Fiffichen, Minni zieht sich schon um. Wir müssen sofort weg!“
Fiffi eilte in das gemeinsame Stübchen. Dort stand Minni schon ohne Kranz und Schleier und ließ gerade das weiße Kleid über die Schultern zu Boden gleiten, bückte sich und hob es auf. So entging es Fiffi, wie knallrot Minni bei ihrer Frage geworden war:
„Was habt ihr nur bei Löschkes so lange gemacht?“
„Oh,“ meinte Minni und kramte jetzt im Kleiderschrank. „Dagobert hatte – hat – ja – Löschkes hatten uns noch –“
Hastig und wortlos kleideten die Schwestern sich um. Fiffi grübelte und grübelte. Sie glaubte jetzt nicht mehr an den Besuch bei Löschkes. Wo aber nur – wo waren die beiden gewesen?! –
Das Geheimnis blieb vorläufig ein Geheimnis, bis – bis eben der gemästete Liebling Tante Thildchens in ‚Aktion trat‛. –
Auf dem Stettiner Bahnhof gab es dann einen herzzerreißenden Abschied. Minni und Fiffi weinten, als ob Dagobert und Karlchen dem Tod entgegenführen. Und Tantchen stand dabei und hatte wieder verträumte Augen.
Als der Zug anfuhr, rief sie den jungen Ehemännern noch zu: „Haltet euch brav! Und schreibt mir genau, wie es euch ergeht, – euch und dem ‚Gigantic‛-Varietee.“
5. Kapitel
Weshalb ‚Gigantic‛ zerplatzte.
Brief Dagoberts an Fräulein Mathilde Hering:
Usedom, auf Usedom–Wollin, den 10. Mai 192.
Liebstes, bestes Schwiegermutter-Tantchen, zugleich liebste, herzlichste, urkundlich uns angesiegelte Eheweiblein!
Unserer Sehnsucht nach euch haben wir bereits auf verschiedenen Postkarten Ausdruck verliehen. Zu einem Brief reichte die Zeit bisher nicht. Heute nun sollt ihr über unsere geschäftlichen Erfolge, Erfahrungen und Leiden eingehend unterrichtet werden.
Daß wir jetzt zu dreien ‚arbeiten‛, wißt ihr schon von unseren Kartengrüßen her. Ismar Tonnenreif hat sich vier Wochen Urlaub genommen und ist als Teilhaber bei der ‚Gigantic‛ eingesprungen, hat sogar mit tausend Mark Betriebskapital ausgeholfen. Er besorgt jetzt das Reklamewesen, sitzt an der Kasse – wir sehen ihm sehr genau auf die Finger – bemogeln is nich! – und macht sich ausgezeichnet.
Zunächst noch etwas über unsere Reise bis Pluderow, wo wir ja mit der Tournee beginnen wollten, um uns so allmählich näher an die ‚Weltbäder‛ heranzuspielen.
Die Reise verlief leider nicht in ungestörter Harmonie. Schuld daran war Karlchens Neugier und Mißtrauen. Er bezweifelt, daß Minni und ich die eine Stunde, die wir von der Hochzeitstafel verschwunden waren, oben bei Löschkes zugebracht haben. Jedenfalls war dieses Mißtrauen Karlchens der Grund zu einigen scharfen Worten, die der liebe Dicke dann aber schnell wieder bereute, so daß wir mit unseren vier Kisten und drei Koffern in Pluderow in schönster Harmonie um neun Uhr abends etwa anlangten.
Wir stiegen im ersten Hotel der Stadt, dem ‚Stettiner Hof‛ ab. Dieser hat auch einen Theatersaal, der recht hübsch wirkt. Den Wirt, Herrn Schaffranke, gewannen wir noch am selben Abend für uns. Am nächsten Vormittag besuchten wir die Redaktion des Hauptblattes von Pluderow, des ‚redlichen Pommern‛. Dieser ‚redliche Pommer‛ hat jedoch eine Chefredakteurin. Der Ton liegt auf ‚rin‛, auf dem weiblichen Anhängsel. Die Dame, eine Witwe, bezeigte für die Reize meiner bescheidenen Person jedoch von vornherein weit mehr Interesse, als dies dem ‚Gigantic‛ zuträglich war. Sie wollte nur mit mir allein verhandeln. Mein Monokel imponierte ihr offenbar unglaublich, und sie hielt mich für einen verkrachten Fürsten, Grafen oder dergleichen und lud mich gleich in ihr Junggesellenheim – pardon – Witwenheim – zu Tisch ein.
Ich lehnte ab und zwar aus Gründen, die mit der Zudringlichkeit dieser Chefredaktrice zusammenhingen.
Am zweiten Abend nach Eintreffen in genannter Weltstadt – inzwischen hatte sich auch Ismar Tonnenreif dort eingefunden und Häuser, Zäune und öffentliche Lokalitäten intimeren Charakters mit Zetteln bekleisterte – produzierten wir uns zum ersten Mal dem verehrten Publikum von Pluderow, das den Saal des ‚Stettiner Hof‛ mit insgesamt einhundertachtundvierzig männlichen und weiblichen Leibern bis zum Brechen gefüllt hatte.
Das heißt: ‚bis zum Brechen‛ ist Ironie. In den Saal gehen dreihundertfünfzig Leute hinein. Von den einhundertachtundvierzig Erschienenen hatten einundvierzig Freibilletts; mithin hatten einhundertsieben bezahlt, was eine Einnahme von 264, 25 Mark ergab. Von diesen 264,25 Mark gingen ab für Saalbenutzung und Beleuchtung 100 Mark, für Reklame – Druckkosten, Kleister, Pinsel und so weiter – 64 Mark, für den Gehilfen auf der Bühne‛ – Vorhang ziehen und so weiter – 20 Mark, für Klaviermiete 25 Mark.
Es blieb mithin ein Überschuß von 55,25 Mark, was pro Nase einen ‚Verdienst‛ von 18,41 Mark ausmachte.
Na – das wäre ja noch zu ertragen gewesen! Aber – das dicke Ende kam nach! Am folgenden Nachmittag halb vier Uhr wurde der ‚redliche Pommer‛ ausgegeben. Und dieses Schundblatt, diese von einer liebestollen Urgroßmutter redigierte Käsezeitung brachte folgende Kritik, von der ich hier nur die Hauptstellen wörtlich anführen will:
In Berlin scheint es entlassene Mitarbeiter der verkrachten ‚Kautabak-Ersatz‛ – zu geben, die in ihrem eingebildeten Berlinertum uns Pluderower für ausgesuchte Idioten halten müssen. Denn anders ist es nicht zu verstehen, wenn gestern abend im ‚Stettiner Hof‛ unter der unerhört marktschreierischen Reklame eines ‚Gigantic-Varietees‛ sich zwei Herren abwechselnd und gemeinsam als verschiedene ‚Berühmtheiten‛ unter stets anderen Namen produzierten, deren Vorführungen, was es auch war, das blutigste Dilettantentum verrieten. Besonders der eine dieser anmaßenden Berliner, der sich ‚als Opernsänger‛ einführte, sollte getrost sich einen Leierkasten kaufen und lieber damit Musik machen. –
Der Beifall, den die fragwürdigen Darbietungen trotzdem fanden, ist wohl nur so zu erklären, daß etwa drei viertel der bedauernswerten Zuhörer und Zuschauer durch Freibillette an diese Stätte der ersten kindlichen Versuche dieser ‚gerissenen‛ und ‚abgerissenen‛ Berliner gelockt worden waren.
Soweit die Kritik der liebestollen Pluderower Madam Potiphar.
Meine Lieben! Daß wir nach dieser Kritik auf einen zweiten Theaterabend verzichten, ist selbstverständlich.
Wir siedelten dann hier nach Usedom über, wo wir geradezu haarsträubende Erfolge zu verzeichnen hatten.
Stellt euch vor: Am ersten Abend verdienten wir jeder 60 Mark etwa, am zweiten 72, am dritten 65. Und heute abend rechnen wir mit etwa 50 pro Nase.
Dann ist Usedom abgegrast und wir ziehen weiter nach Wolgast – auch eine Weltstadt! Die Bäder kommen erst nachher ran.
Meine Lieben! Wenn uns das Glück treu bleibt, wenn wir nicht wieder irgendwo eine Chefredaktrice erwischen, die sich in mein Monokel verliebt, dann können wir sagen: Wir sind über ‛n Berg! –
Ich will schließen. Es ist sieben Uhr abends. Um acht beginnt die Vorstellung.
Mit allerinnigsten Grüßen von Küssen
hochachtungsvoll
sehr ergebenes
Viktor Dagobert Mazzaroni
Direktor des ‚Gigantic‛
Nachschrift vom dicken Karlchen:
Ihr meiner Sehnsucht wonnigste Objekte! Ihr Teueren! Und Du, mein geliebtes, angesiegeltes Bräutchen!
Wenn Dagobert nicht mein Direktor wäre, würde ich sagen, er ist die verlogenste Kreatur auf Gottes Erdboden. Er und Minni sind niemals bei Löschkes gewesen! Niemals! Das mag er einem uralten Kamel aus der Wüste Sahara erzählen, nicht mir! Aber ich werde schon rauskriegen, wo die beiden gesteckt haben! Und – ergibt sich dann, daß Dagobert die feierlichen Abmachungen etwa in schamlosem Egoismus verletzt hat, daß er sich bereits Rechte –
Na – Schwamm drüber – vorläufig!
Nachschrift von Dagobert:
Ich zittere noch vor Erregung! Meine Hand flattert förmlich. Mein Monokel vibriert; mein Unterkiefer bebt. Stellt euch vor, meine Lieben: Dieser Unhold von Tonnenreif beschummelt uns! Und so einem Menschen haben wir die Kasse und das Eiersammeln anvertraut! Ein Zufall, nein, zwei Zufälle haben die Geschichte ans Licht gebracht.
Während Karlchen sich als Komiker produzierte, zählte ich hinter den Kulissen hervor rein aus Langeweile die Anzahl der Besucher des 1. Platzes, des teuersten also, wo stets nur Agrarier, Provinzschieber und ähnliche Notleidenden der neuen Zeit zu finden sind. Ich zählte im ganzen zweiundsiebzig. Ich wußte nun, daß wir zwei Freikarten für den 1. Platz ausgegeben hatten.
Mithin mußten noch siebzig Billette a drei Mark verkauft worden sein. Ich freute mich darüber, denn auch der 2. und 3. Platz war gut besetzt. –
Dann kam meine einträgliche Eier-Nummer heran. Dieser gemeine Betrüger von Tonnenreif ging für den Haupttrick, die Militärhosentaschen-Backgeschichte, die Eier einsammeln – in einer Waschschüssel. Als er sie mir auf die Bühne brachte, sah ich rein zufällig, daß er sich Hosen- und Jackentaschen mit irgend etwas bis zum Platzen vollgepfropft hatte. Ein furchtbarer Verdacht stieg in mir auf. Ich machte die Probe: vier Hiebe mit der Faust, und ich hatte die Eier, die er heimlich hatte für sich beiseite schaffen wollen, in Rührei verwandelt!
Und nach der Vorstellung, als er mit uns abrechnete, wollte er nur vierzig Karten 1. Platz verkauft haben! Er wollte uns also um sage und schreibe dreißig mal drei Mark gleich neunzig Mark bemogeln!
Na – er war wenigstens so anständig, nicht zu leugnen! Er gab zu, bisher vierhundertzweiundzwanzig Mark unterschlagen zu haben. Ich als Direktor entließ ihn sofort.
Und dann – kam der Krach mit Karlchen!
Dieser gemeine Lump von Tonnenreif hatte nämlich an unserer Hochzeitstafel beobachtet wie der edelmütige, verständnisvolle Rechnungsrat Heberlein mir heimlich einen Flurschlüssel zusteckte.
Und – das – das hat Tonnenreif nun in der Wut über seine Entlassung Karlchen mitgeteilt.
Der geriet sofort in wahnsinnige Erregung, brüllte:
‚Ah – also in Heberleins Wohnung wart ihr beide, Minni und du, diese eine Stunde! Das – das ist eine so selbstsüchtige Verletzung der Freundespflicht, daß ich dir das nie verzeihe – nie! Ich Schafskopf. hocke mit Fiffi an der Tafel und muß mich mit hastigen Küssen begnügen, während du eine ganze Stunde lang eine Wohnung von drei Zimmern zur Verfügung hattest?! Du bist mein Freund nicht mehr! Wenn du auch nur die Spur von Gemeinschaftsgefühl besessene hättest, dann würdest du dich mit einer halben Stunde begnügt und für die andere halbe Stunde Fiffi und mir den Schlüssel gegeben haben! –
Ich verzichte auf ein weiteres Engagement beim ‚Gigantic‛. Ich kehre nach Berlin zurück und werde Müllkutscher oder Ministerialdirektor. Die Bezahlung ist ja die gleiche. –
Lebe wohl, Du – Du Egoist, Du Wortbrüchiger, Du Scheinheiliger, Du – Du – richtiger Ehemann!
So endete dieser Krach. –
Ich sitze nun allein im Hotelzimmer und – werde gleichfalls nach Berlin zurückkehren und Müllkutscher oder Ministerialdirektor werden. –
Diesen Brief will ich für alle Fälle doch noch in den Kasten werfen. Vielleicht söhne ich mich auch mit Karlchen wieder aus. Und wenn Ismar Tonnenreif bei Abraham, Isaak und Jakob schwört, daß er uns nicht mehr begaunern und keine Eier mehr heimlich auslutschen will, vertrage ich mich auch mit ihm im Interesse des Fortbestehens des ‚Gigantic‛.
Lebt herzlich wohl! Mein Zittern, Beben und Vibrieren hat sich schon wieder beruhigt.
Euer treuer Viktor Dagobert Schnalle
6. Kapitel
Das Masthündchen.
An demselben Abend, an dem sich diese erschütternden Vorgänge in Usedom abspielten, ereigneten sich auch im Hause Kantstraße 525 Dinge, die hier in ihrer ganzen Tragik genauer geschildert werden müssen, da sie mit den Eiern, dem Gauner Tonnenreif, dem edelmütigen Heberlein und dem wütigen Karlchen in ehrlich-engen Zusammenhang gerieten.
Also:
Tante Thildchen war abends allein zu Hause. Die beiden angesiedelten Bräute hatten bis zwölf Nachtdienst im Telephonamt.
Tantchens Masthündchen – nicht Hühnchen, sondern Hündchen! – Luttichen hatte zum Abendbrot etwas stark gesalzene Fleischabfälle erhalten und daher wiederholt noch nach dem abendlichen Entleerungsspaziergang Wasser verlangt, – so wiederholt, daß es – das Masthündchen – gegen zehn Uhr nochmals ins Freie verlangte, um an einer Hausecke, einem Laternenpfahl oder einer Litfaßsäule eingehende praktische Bewässerungsstudien zu machen.
Tantchen hatte nun zwar volles Verständnis für diese Wünsche, die ja selbst der beste dressierte Hund nicht auf einem Töpfchen erledigt. Aber – Tantchen war schon im Negligee, und außerdem war es auch bereits halb elf Uhr, eine Zeit, zu der Tante Thildchen sich nie mehr auf die Straße gewagt hätte.
Als Luttichens Winseln immer dringender wurde, kam Tantchen der rettende Gedanke, daß Masthündchen einfach allein die Treppe hinablaufen zu lassen. Die Tür des Gartenhauses klemmte und stand so stets halb offen. Luttichen konnte also auf dem Hof an den dort ohnedies kümmerlich gedeihenden Sträuchern seine Bewässerungsstudien treiben.
Gedacht – getan!
Das Masthündchen raste den dunklen Treppenflur abwärts. Und Tantchen ließ die Flurtür und ihre Zimmertür etwas offen, wartete nun auf Luttichens Rückkehr.
Doch diese fand nicht statt, nämlich die Rückkehr.
Als zehn Minuten verstrichen waren, wurde Fräulein Thildchen unruhig; und dann immer unruhiger. Bis sie sich ankleidete, eine Laterne mitnahm und Luttichen, ihren Liebling, suchen ging.
Tantchen weckte den Portier. Das war ein Hundefreund und auch ein Hering-Freund, das heißt, er tat dem alten Fräulein gern jeden Gefallen.
Sie suchten zu zweien. Luttichen konnte vielleicht durch ein offenes Kellerfenster in einen Keller hinabgepurzelt sein. Also wurden die Keller durchstöbert – umsonst!
Bis nach Mitternacht suchten Tantchen und der Portier. Dann erklärte dieser:
„Fräulein Hering, die Sidonie Trempel, die ehemalige Friseuse, ist Ihnen nich jrün! Det wissen Sie! Valleicht amende hat sie Luttichen einjefangen und will ‛n aus Rache morjen an ‛ne Ziejenwurstfabrik verkoofen. Die kriegt allens fertij – allens! Die hat ooch det jemeine Jerede uffjabracht, det Fräulein Minnichen und Fiffichen schleinigst hätten heiraten missen, weil – weil – nu weil’s eben heechste Zeit damit war –“
Tantchen fiel fast in Ohnmacht. Nicht wegen des Gereedes. Das ließ sie kalt. Aber wegen der Ziejenwurstfabrik.
Weinend drängte sie dem Portier Schniefke einen Fünfzigmarkschein auf und flehte ihn an, die Nacht über vor der Haustür zu warten, damit die Sidonie Trempel ihre Wurstabsichten nicht verwirklichen könne.
Portier Schniefke schwor jeden Eid, daß keine Wanze das Haus unbemerkt verlassen würde und daß er morgen früh die Polizei holen würde, die bei der Trempel Haussuchung halten solle.
Tantchen kehrte etwas beruhigter in ihre Wohnung zurück.
Um acht Uhr früh kam ein Polizeibeamter, den Portier Schniefke durch inständiges Bitten dazu bewogen hatte, selbst eines Hundes wegen ausnahmsweise sofort den Tatort eines offenbaren Vergehens in Augenschein zu nehmen.
Der Beamte klingelte Sidonie heraus und krempelte die ganze Wohnung um, wobei er zu seinem Erstaunen und zum Entsetzen der Trempel zwar nicht Luttichen, aber – ein wohlaussortiertes Lager von offenbar in Kaufhäusern gestohlenen Gegenständen fand, weshalb er Sidonie freundlichst einlud, ihm zur Polizeiwache zu begleiten, was die Trempel denn auch tat.
Sie wurde später wegen jahrelanger Diebereien größten Stils zu Gefängnis verurteilt.
Jedenfalls: Luttichen blieb spurlos verschwunden.
Tante Thildchen war vor Schmerz gar kein Mensch mehr. Sie löste sich direkt in Tränen auf.
Fiffi und Minni versuchten zu trösten, so gut sie konnten. Es half nichts.
Dann blitzte in der verängstigten Seele Thildchens ein letzter Hoffnungsschimmer auf:
Dagobert – Dagobert, der alles konnte – wie Minni behauptete.
„Minni – telegraphiere an Dagobert!“ wimmerte Tantchen. „Er soll sofort kommen – sofort. Schick zweihundert Mark Reisegeld mit. Ich gebe dir das Geld sofort.“
Minni machte sich schleunigst zum Ausgehen fertig.
Ach – wie gerne telegraphierte sie an Dagobert! Sie bangte sich ja zu Tode nach ihm!
Tantchen gab ihr das Geld. Und – mittlerweile war es zehn Uhr geworden. Um neun Uhr traf der D-Zug von Swinemünde ein – und gerade als sie die Flurtür öffnete und hinaus wollte, da wollte wer anders hinein:
Dagobert!
Die Versöhnung mit Karlchen hatte also nicht stattgefunden, und Ismar Tonnenreif hatte nicht bei Abraham, Isaak und Jakob geschworen. –
Dagobert war da – der Retter!
Zunächst war aber nur Dagobert, der Ehemann da. Ganz still und heimlich zog Minnichen ihren Süßen in das Mädchenstübchen. Fiffi war bei Tantchen und tröstete. Somit konnte man sich ziemlich sicher fühlen. Hier brauchte man keine Klingel unschädlich zu machen; hier schob man nur den Riegel vor.
Ach – schmeckten diese lang entbehrten Küsse süß! Sie schmeckten so süß, daß Minnis ganze Frisur dabei zum Teufel ging und –
Doch nein! Wie süß solche Küsse schmeckten und was das alles für Folgen haben kann, weiß der Leser selbst!
7. Kapitel
Das Hering-Geheimnis.
Genau um zehn Uhr zweiundvierzig Minuten war die Begrüßung zwischen den Ehegatten beendet. Minni richtete sich wieder leidlich salonfähig her, Dagobert tat dasselbe, und dann ging man hinüber zu Tante Thildchen.
Inzwischen hatte Minni doch noch Zeit gefunden, ihrem Süßen mitzuteilen, was hier vorgefallen.
Es traf ihn also nicht unvorbereitet, als Tantchen ihm nun um den Hals flog und ihn weinend beschwor, ihren vierbeinigen Liebling wieder herbeizuschaffen.
„Gelingt es dir, Dagobert, so – so will ich euch vier – euch beide Ehepaare – so belohnen, wie –“
Das ‚Wie‛ blieb unausgesprochen. Aber – es klang verheißungsvoll, und Dagobert strengte daher seinen Verstandskasten gehörig an, um dieses ‚Wie‛ auch wirklich herbeizuführen.
Er begann nun ein Verhör mit Tantchen, das etwa den Eindruck machte, als wäre er plötzlich der berühmte Liebhaberdetektiv Harald Harst geworden, der bekanntlich Probleme zu lösen imstande ist, denen der Geistesreichtum aller Kriminalpolizeien der ganzen Welt nicht gewachsen ist.
Ich will dieses Verhör hier nicht im einzelnen schildern. Jedenfalls gewann Dagobert – und der Leser wird auch ohne Verhör dasselbe annehmen! – die felsenfeste Überzeugung, daß das Masthündchen sich noch im Hause befinden und zwar von einer Mietpartei des Gartenhauses abgefangen sein müsse.
Tantchen wohnte nun im zweiten Stock. Neben ihr der gütige, mitfühlende, schlüsselspendende Rat Heberlein. Er hatte Luttichen sicherlich nicht aus Niedertracht gemaust.
Mithin mußte man die Unterwohner, den ersten Stock, aufs Korn nehmen. Da hauste rechts der Oberlandesgerichtskanzleiwärter Nikolaus Notpfennig nebst Familie. Notpfennigs waren mit Tantchen so befreundet, daß jeder Argwohn gegen sie eine skandalöse Beleidigung gewesen wäre.
Aber – und nun kam’s! – aber links hauste Major von Kotzstein-Schmierloch, wie Dagobert ihn stets nannte, – nebst Wirtschafterin und vier lieblichen Kinder im Alter von sieben bis dreizehn Jahren, die der Schrecken der ganzen Kantstraße waren.
Und – Schmierloch nebst Anhang stand mit Tantchen auf Hauen und Stechen! –
Da war also schon ein Verdachtsmoment gegeben, zumal ja das Parterre – Sidonie saß bereits im Kittchen! – nur noch die beiden Lehrerinnen Schraube beherbergte. Und die Schrauben hatten selbst ein Masthündchen und dazu einen absolut kahlen Papagei.
Nachdem Dagobert also auf Schmierlochs gekommen war, erhob er sich, beendete das Verhör und erklärte, er würde jetzt nach Luttichen suchen gehen; Tantchen solle nur mitkommen.
Der Trupp machte vor der Flurtür der Schmierlochs halt.
Dort lag eine dicke Bastmatte zum Füßereinigen. Sie zeigte einen riesigen, dunklen nassen Fleck.
Dagobert wies mit dem Finger darauf, flüsterte nur:
„Luttichen!“
Man verstand. Das Masthündchen war nach Dagoberts Ansicht infolge Basenleidens vielleicht nicht mehr bis auf den Hof gelangt, hatte hier das Beinchen gehoben und eine kräftige Anfeuchtung der Matte besorgt.
„Es ist möglich, daß einer der Schmierlochs Luttichen dabei überraschte,“ flüsterte Dagobert weiter. „Minni und Fiffi, geht nach oben. Ich werde mit Tantchen allein dem Major einen Besuch abstatten.“
So geschah’s. Auf das Läuten hin öffnete eines der lieben Adoptivkindlein, ein Junge von neun Jahren, der beim Anblick des alten Fräuleins sofort ein so schuldbewußtes Gesicht machte, daß Dagobert ihn kurzerhand bei der Schulter packte und drohend fragte:
„Wo habt ihr den Hund? – Ich hole sofort die Polizei, wenn ihr ihn nicht herausgebt.“
Der kleine Bengel, der in seinem ‚Kostüm‛ auf jedem Lumpenball Preisträger geworden wäre, zog die Mundwinkel weinerlich nach unten.
„Mama – Mama – hat ihn – in ‛n Korb einjespunnt,“ stotterte er dann.
„Wo befindet sich der Korb?“
„Im – im – Badezimmer – in der Wanne –“
Tantchen schoß schon vorwärts, drängte die kleine Range beiseite und – fand auch die richtige Tür, riß sie auf – oder vielmehr: Wollte sie aufreißen!
Aber – sie war verriegelt. Und von drinnen ertönte eine knarrende Stimme:
„Was ist denn los, in drei Deubels Namen?!“
Im selben Augenblick tat sich linker Hand eine andere Tür auf. Die Wirtin des Hausherrn erschien, ein Weib wie eine Walküre, mit gemeinem, frechem Gesicht, bekleidet mit einem schlumpigen Morgenrock, der oben heilsfrei war und ein ungeheures Vorgebirge ahnen ließ.
„Was wollen Sie hier?“ kreischte sie sofort. „Scheren Sie sich raus! So eine Frechheit, hier einfach einzudringen!“
Tantchen hörte gar nicht hin.
„Luttichen – Luttichen!“ rief sie ganz laut. „Luttichen – wo bist du?!“
Da – aus dem Badezimmer ein Winseln, ein schwaches Bellen.
Dagobert beobachtete die Walküre scharf. Sie hatte sich jetzt doch verfärbt. Und deshalb konnte er nun auch bereits sich als Sieger fühlen, sagte sehr ruhig:
„Was wir hier wollen, wissen Sie. Geben Sie den Hund sofort heraus, oder ich erstatte Anzeige wegen Diebstahls.“
Ein neuer Kämpfer erschien auf dem Schauplatz; Schmierloch in Person, angetan mit einem hellgrauen Rock, dessen Vorderseite die reinste Speisenkarte war. Der kleine, magerer Herr mit der feuerroten Hakennase verbreitete sofort eine scharfen Alkoholduft um sich, und die wässrigen Augen des blöden Gesichtsausdrucks verrieten deutlich den unrettbaren Gewohnheitssäufer.
Er wollte die Badezimmertür schnell wieder zuschlagen, aber Tantchen hatte ihn schon beiseite gestoßen, huschte hinein, riß von einem in der Wanne stehenden Reisekorb einen ganzen Berg schmutzige Wäsche und Lumpen herunter, rief abermals „Luttichen – Luttichen!“, hob den Korbdeckel und – hielt ihren halberstickten Liebling in den Armen.
Herr von Kotzstein-Schmierloch war erst sprachlos gewesen. Dann aber legte er los:
„Ah – nun habe ich Sie zum ersten Mal richtig mir angesehen!“ brüllte er Tantchen zu. „Nun erkenne ich Sie! Nun weiß ich, weshalb mir Ihre Augen immer so bekannt vorkamen! Sie sind die frühere Mätresse des Prinzen von Binkenstein – kein Zweifel! Ich habe ja ein Jahrzehnt als Hauptmann in Binkenstein in Garnison gestanden! –
Sieh da – die schöne Tilla, die nach dem Tod des Prinzen wieder spurlos verschwand! Und Sie – Sie –“ – es folgte eine nicht gut wiederzugebenden Beleidigung – „Sie wagen es, sich an mir zu vergreifen, Sie –“
Tantchen war leichenblaß geworden, schwankte. Dagobert sprang zu, stützte sie, fiel dem ekelhaften Trunkenbold sehr energisch ins Wort:
„Wenn Sie nicht sofort diese alte Dame um Verzeihung bitten, weil Sie sich soeben geradezu wie ein besoffener Stromer benommen haben, kommen Sie wegen Diebstahls ebenfalls vor Gericht. Also – bitte!“
Herr v. ‚Schmierloch‛ schien vor der Justiz eine Heidenangst zu haben und murmelte ein paar entschuldigende Worte, worauf Dagobert Tante Thildchen hinausführte. Als letztes, bevor die Tür hinter ihnen zugeschmissen wurde, hörte er noch ein paar klatschenden Töne und dazu die Stimme der Walküre:
„Da – da – das hast du dafür, daß du die olle Vogelscheuche noch abgebeten hast. Du –“
Dann flog die Tür krachend zu. –
Ja – es schien eine Musterwirtschaft zu sein, diese Majors-Häuslichkeit, und dazu ein sehr trautes Familienleben! –
Oben bei Tantchen aber kam nun die Stunde der großen Überraschungen, – die Stunde der Beichte – nämlich für Thildchen Hering. Sie hatte ja zwei verheiratete Frauen vor sich und zwei Ehemänner; er brauchte sie also nicht weiter fürchten, vor prüden Ohren ihrer Herzensgeheimnisse zu enthüllen.
Mit leiser Stimme erzählte sie die romantische Geschichte ihres Lebens und ihrer Liebe; manche Träne stahl sich da unter den Wimpern vor; so und so oft versagte ihr die Stimme. –
Sie hatte den Prinzen bei einem Manöver in der Nähe ihrer Vaterstadt flüchtig kennen gelernt, ohne zu wissen, wer er war. Aber – bei beiden war es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Und dann war’s gekommen, wie es kommen mußte: In aller Stille hatte er sie im Auto an ihrem Geburtstag entführt.
Ihretwegen war er unvermählt geblieben.
„Wir lebten nur in einer Scheinehe,“ sagte sie jetzt mit zitterndem Stimmchen. „Man nannte mich seine – Mätresse. Aber es war ein Liebesglück, wie es nie wieder eins so rein und wunderhold geben kann –“
Ihre schönen Augen hatten wieder den verträumten fast überirdischen Ausdruck.
„Ich bin nicht arm,“ fuhr sie fort. „Der Prinz hat mir sogar sehr viel hinterlassen. Ich wollte euch beide, Fiffi und Minni, jedoch zur Arbeit und Bravheit erziehen. Ihr solltet nicht als die Nichten eines reichen, alten Fräuleins gelten; kein Mitgiftjäger sollte sich an euch herandrängen. Jetzt weiß ich, daß Dagobert und Karl strebsame, fleißige, offene Naturen sind, daß sie euch wirklich lieben. Auch ohne Luttichens Verschwinden hätte ich euch sehr bald das nötige Kapital zur Verfügung gestellt, damit eure Ehemänner sich selbstständig machen können –“
Hier unterbrach das Schrillen der Flurglocke Tante Thildchen. Fiffi eilte hinaus, kam aber nicht wieder.
Dagobert lächelte.
„Es wird Karlchen gewesen sein,“ meinte er. –
Und nachher – nachher fand man im Flur auf der Spiegelkonsole einen Zettel:
Liebes Tantchen, ich bin mit Karl erst mal noch schnell nach seinem Hotel gefahren. Er hatte dort noch etwas zu erledigen. Abends um sieben Uhr finden wir uns pünktlich zum Abendbrot ein. –
Eure Fiffi und Karlchen –
vorläufig noch als Scheinehepaar
Der Abend bei Tantchen wurde sehr, sehr vergnügt. Es gab wieder Sekt; und auch Rat Heberleins waren wieder da. Karlchen und Dagobert hatten sich beim Wiedersehen miteinander ausgesöhnt. Der Dicke grollte jetzt nicht mehr; der Grund dazu war geschwunden. Es gab keine Scheinehe mehr, höchstens noch unten bei Schmierlochs, und aus dieser Scheinehe wir ja auch nie etwas anderes werden – nie!
Tantchen paßte an diesem Abend auf die beiden Paare gar nicht mehr auf. Sie hatte es freilich auch nicht nötig. Mit den ‚angesiegelten‛ Bräuten war es vorbei; der ‚Schein‛ war von den ‚Ehen‛ gestrichen; Rat Heberlein fand für den Flurschlüssel keinen Abnehmer mehr.
So löste sich denn alles in Wohlgefallen auf. Was besonders den freundlichen Leserinnen lieb sein wird, die vielleicht einen tragischen Schluß fürchteten.
Anmerkung:
[1] Seinen Scherz mit jemanden treiben.