von
W. v. Neuhof
Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin.S.O.26. Elisabethufer.44.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1921 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO. 26.
1. Kapitel
Die Geschichte von Klara und Winfried.
„Treue?! – Ein leerer Wahn!“ sagte der Geheimrat Rüttger und zuckte faßt hochmütig die Achseln. Er war Junggeselle, hatte nie irgend welche Treuepflichten irgend wem gelobt und – wenn er’s mal getan hatte, war’s nur gegenüber einer Art holder Weiblichkeit geschehen, die von vornherein an solche Zusicherungen nicht glaubte.
Vier der Ehemänner des Stammtisches schwiegen und schauten vor sich hin. Nur der fünfte, der vorhin das Thema ‚eheliche Treue‛ angeschnitten hatte, erwiderte lebhaft:
„Verzeihung – das können Sie doch nicht beurteilen, Herr Geheimrat. Wie vermögen Sie über Dinge sich zu äußern, die Sie – pardon – nur in der Verzerrung kennen gelernt haben. Ich meine damit eben das Surrogat[1] der Ehe, das am wenigsten ideale Surrogat, die sogenannte – Verhältniswirtschaft. Verkehre ich nur mit einem Mädchen, und mag ich sie noch so lieb haben, werde ich weit leichter untreu werden, als wenn ich mich als Familienvater, als Ehegatte fühle.
Genau so steht es mit dem anderen, dem weiblichen Teil eines solchen Verhältnisses. Auch sie wird leicht ‚stolpern‛, weil eben auch bei ihr das Pflichtgefühl fehlt, dieser moralische Halt, den nur das Bewußtsein verleiht: Du bist verheiratet!“
Da meldete sich sofort der sechste Herr der Stammtischrunde, zumal er sah, daß der Geheimrat nur nachsichtig – milde lächelte. Und dieses Lächeln bezog sich auf die Tatsache, daß der Treue-Fanatiker erst ein Jahr Ehemann war und mithin noch keinerlei praktische Erfahrungen zu diesem Thema gesammelt haben konnte.
Der sechste Herr war gleichfalls Junggeselle, war seinem Beruf nach eigentlich nichts, führte aber den Titel ‚Dr. phil‛ zu Recht. Er mußte vermögend sein. Genau wußte aber auch das niemand. Jedenfalls war er seit vier Jahren Mitglied des Stammtisches im Restaurant ‚August Wilhelm‛ im Berliner Vorort Halensee, war ein angenehmer Gesellschafter und kluger Kopf, blieb jedoch stets etwas reserviert.
Dieser Dr. Axel Völker sagte jetzt zu dem jungen Ehemann:
„Lieber Herr Rechtsanwalt, ich habe mich in der Welt ziemlich genau umgesehen. Ich habe vieles kennen gelernt, woran andere achtlos vorübergehen. Ich will nicht gerade behaupten, daß ich alles kenne, worunter ich eben besonders geartete Menschen und ihre Beziehungen zueinander verstehe, aber – es ist doch immerhin so viel an Erfahrungen und Beobachtungen in meiner – Raritätenkiste, daß ich Ihnen, was die mangelnde Treue bei Ehesurrogaten angeht, sehr energisch widersprechen muß. Mir sind viele Fälle bekannt, in denen zwei Menschen gezwungen waren, in wilder Ehe zu leben. Und – all diese ‚wilden‛ Ehen waren geradezu ein Hort der Treue.
Mehr noch: Ich kenne sogar zwei Fälle, in denen gerade der so oft verlästerte weibliche Teil neben dieser Treue eine Opferwilligkeit bezeigte, wie sie unter hundert Ehefrauen vielleicht – zehn aufgebracht hätten.“
Er schwieg ein paar Sekunden, setzte sich bequemer und fuhr fort:
„Ich will Ihnen, meine Herren, hier jetzt eine kleine Geschichte aus dem Leben erzählen. Sie ist buchstäblich wahr, nur die Namen ändere ich ab. –
Denn – die Geschichte hat noch nicht ihren Abschluß gefunden. Wie sie enden wird, weiß ich nicht –“
Er seufzte leise, wohl halb gegen seinen Willen, sprach lebhafter weiter:
„Vor dem Krieg lernt ein junges Mädchen, das mit der Mutter zusammen wohnt, einen aktiven Offizier kennen, damals Oberleutnant. Nennen wir das Mädchen Klara. Sie ist blond, schlank, hat ein feines Gesichtchen mit ernsten, dunklen Augen. Die Mutter, Witwe eines Subalternbeamten, lebt in dürftigen Verhältnissen, bis Klara Dank Fleiß und Begabung beim Patentamt eine gut bezahlte Stellung erhält. Mutter und Tochter lieben sich innig. Für die Mutter ist alles was die Tochter tut, wohlgetan. – Klara verliert ihr Herz an den Oberleutnant. Er ist von altem Adel; die Familie verarmt, jedoch desto adelsstolzer. Auch der Oberleutnant Winfried kann sehr bald ohne seine blonde Klara nicht mehr leben. Er will den Abschied nehmen und etwas anderes ergreifen, will sich auch gern ihretwegen mit den Seinen überwerfen. Klara, der also eine Ehe mit dem Geliebten winkt, verzichtet jedoch freiwillig auf das Standesamt. Sie fürchtet, der Geliebte, der ganz in seinem Soldatenberuf aufgeht, könnte später bereuen, ihretwegen den bunten Rock ausgezogen zu haben. Anderseits verzichtet sie jedoch nicht auf das Liebesglück. – Sie verstehen, meine Herren. –Der Oberleutnant geht bei Klaras Mutter – stets in Zivil – aus und ein und gilt als Verwandter für die neugierigen Mitbewohner des Hauses. – Also: Klara ist Winfrieds Verhältnis geworden, wie man sich etwas roh stets auszudrücken beliebt.
Ein halbes Jahr drauf bricht der Krieg aus. Der Abschied ist herzzerreißend. Klara sendet dann Feldpostpäckchen und Briefe ab, fast jeden Tag. Winfried wird verwundet, wird gesund, behält aber einen steifen Arm und kommt nach Belgien in die Etappe. Dann meldet er sich wieder an die Front. Kurz vor dem Waffenstillstand macht er als Kompanieführer eine Dummheit. Nichts Ehrenrühriges; ein Versehen. Aber das Kriegsgericht verurteilt ihn zur Degradation. – Als völlig gebrochener Mensch kehrt er nach Berlin zurück. Seine Familie hat sich von ihm losgesagt; seine Kameraden kennen ihn nicht mehr. Nur – sein ‚Verhältnis‛ empfängt ihn mit Freudentränen. In der Wohnung der Mutter findet er ein Heim, findet er alles, was ihn wieder aufrichten könnte. Aber – er ist nicht nur seelisch ein gebrochener Mann; er ist es auch körperlich. Lähmungserscheinungen treten auf; das Augenlicht läßt nach. – Klara scheut keine Kosten, pflegt den Siechen, läßt ihn durch die besten Ärzte behandeln. Ihre Ersparnisse gehen drauf. Um mehr zu verdienen, arbeitet sie auch noch abends daheim, – arbeitet bis in die späte Nacht. Denn – sie liebt Winfried. Sie ist ihm treu gewesen, und er hat ihr dasselbe in all seinen Briefen versichert. – Klaras Leben ist noch heute nichts als Arbeit – Arbeit – Arbeit! Und alles nur für den Mann, den sie liebt. – Das, Herr Rechtsanwalt, ist also – ‚nur‛ ein Verhältnis!“
Der junge Anwalt sagte nichts. Die anderen Herren ebenfalls nicht. Bis der Geheimrat Rüttger leise fragte:
„Doktor, könnte man denn da nicht so ein wenig helfen? Ich – ich gebe gern fünfhundert Mark. In einem solchen Fall!“
Axel Völker schüttelte den Kopf. „Es sind genug da, die helfen möchten, Herr Geheimrat. Aber – das Mädchen ist so lächerlich stolz. Das ist ihre einzige Unvollkommenheit. – Sie weist jede Gabe zurück, mag sie auch noch so zart angeboten werden.“
Völker winkte dem Kellner, zahlte, verbeugte sich vor den Stammtischfreunden und ging.
Der junge Rechtsanwalt beugte sich über den Tisch.
„Die Pointe dieser Geschichte ist mir nicht ganz klar,“ meinte er. „Bei dieser Klara und ihrem Winfried handelt es sich doch weniger um Treue als vielmehr um eine seltene weibliche Opferfreudigkeit – fraglos eine sehr seltene. Und – weshalb heiratet das Paar denn jetzt nicht? Weshalb gibt der degradierte Oberleutnant dem Mädchen nicht seinen Namen? Das wäre doch wenigstens von seiner Seite ein kleiner Dank –“
Der Geheimrat schaute in die Runde. Er las auf den Gesichtern der anderen die gleichen Gedanken.
„Haben Sie die Pointe wirklich nicht begriffen!“ meinte er da. „Sehen Sie – diese Klara ist fraglos kein Weib, das etwa nur dem Sinnentaumel zum Opfer fiel. Nein – Völker hat genügend hervorgehoben: auf ihrer Seite war und ist es eine große, reine Liebe. Und diese Opferfreudigkeit für den Geliebten ist wieder nur die Folge ihrer felsenfesten Überzeugung: Er liebt dich ebenso und er ist treu, war treu – wie du! – Das ist die Pointe. Und Völker hat das auch betont. – Diese Klara vermag dieses Dasein, dieses stete Sichplagen, nur deshalb auszuhalten, weil sie weiß: Er hat all das verdient; er war treu! – Was diesen Winfried nun angeht, so trägt er seiner strengen Auffassung nach jetzt einen Namen, an dem ein Makel haftet, der für alle Zeit entehrt ist. Deshalb vielleicht heiratet er seine Klara nicht.“
Abermals minutenlanges Schweigen am Stammtisch. Dann regte sich einer der anderen Herren, der Prof. Beil, sagte gedämpften Tones:
„Was treibt Dr. Völker eigentlich? Ich einer der Herren mit ihm befreundet? – Den Doktor umgibt immer so etwas wie eine Panzerwand. Er läßt niemanden an sich heran.“
Der Geheimrat nickte.
„Das stimmt schon. – Befreundet?! Ich habe ihn noch nie mit irgend jemand zusammen getroffen – höchstens mal mit Wegerers. Er ist stets allein. Unser Stammtisch genügt ihm wohl zum Meinungsaustausch mit leidlich Gleichgesinnten. – Ich war es ja, der ihn hier einführte. Ich lernte ihn bei Dr. Wegerer kennen. Das ist nun – ja – sechs Jahre her. Völker kam damals aus dem Ausland – ich glaube aus Indien. Mehr weiß auch ich über ihn nicht. Trotzdem mag ich ihn gern. Der Mann hat inneren Gehalt. Was der spricht, ist nie abgedroschenes Zeug.“
„Wie alt schätzen Sie ihn, Herr Geheimrat?“ fragte der Anwalt. „Er selbst hüllt sich darüber in Schweigen – wie eine Frau über dreißig.“
Der Geheimrat zog die Schulter hoch.
„Schätzen?! Bei einem Gesicht, wie Völker es hat?! – Er kann fünfundvierzig sein, aber auch fünfzehn Jahre jünger. Ich möchte mich für Mitte dreißig entscheiden.“
„Wenn er lächelt, sieht er so jung aus,“ warf der Professor ein.
„Dann ist er selten ‚so jung‛,“ meinte Rüttger.
2. Kapitel
Die Ehe der Wegerers.
Axel Völker wanderte heim. Er ging stets sehr gerade, sehr straff. Heute lag es wie Müdigkeit über seinen Bewegungen. Auch den Kopf hielt er gesenkt.
Er war unzufrieden mit sich. Weshalb hatte er am Stammtisch sich dazu verleiten lassen, gerade diese – diese Geschichte zu erzählen?! War’s nicht vielleicht der Wunsch gewesen, Anni als eine von den Frauen zu verteidigen und herauszustreichen, die treuer waren als die beste Ehefrau?! Würde die Stammtischrunde Verständnis dafür haben?! Würden nicht die verheirateten Herren denken: ‚Gott ja – sehr rührend! Aber – es bleibt doch immer nur ein – Verhältnis!‛
Er wanderte langsam den Kurfürstendamm hoch, der Halenseer Brücke zu. Er wohnte jenseits der Brücke im ältesten Teil des Vorortes in einem schmucklosen Miethaus: Er wohnte dort seit seiner Übersiedlung nach Berlin. Aber – dieses Haus Bornstedterstraße 99 hatte ihm kein Glück gebracht – trotz der Aussicht auf den Kirchhof der Villenkolonie Grunewald und trotz des Aberglaubens, den Völker an diese Aussicht knüpfte. Der Kirchhof hatte diesmal versagt.
Auch daran dachte Axel Völker jetzt. Und er lächelte – über sich selbst und seine – seine vielen Schrullen.
Es war jetzt ein Viertel zehn abends. Und es war der Ausklang eines warmen Apriltages. Die Alleebäume des Kurfürstendamms trugen bereits zart grünen Blattschmuck. Um diese Zeit, so Ende April, waren sie am schönsten. Nachher büßten sie ihre Frische nur zu schnell durch den Straßenstaub ein. Das war kein Puder, der verschönte – kein Puder! Und Axel fiel die schlanke Frau Wegerer ein, die sich so tadellos zu pudern verstand. Ja – auch das war eine Kunst.
Von Berlin her rollte eine Straßenbahn heran und hielt am Henriettenplatz vor der Halenseer Brücke mit den riesigen Eisenbögen. Unter den Aussteigenden befand sich auch eine Dame in schlichtem grauen Frühjahrskostüm. Eine von jenen Frauen, die sich anzuziehen wissen, bei denen die Einfachheit künstlerisches Raffinement ist.
Vilma Wegerer erkannte Axel sofort, obwohl sie nur noch seine Rückseite erblickte. Sie hatte die letzte Strecke Wegs zu Fuß gehen wollen. Sie fürchtete stets, an Gewicht zuzulegen. Frauen um die dreißig herum müssen vorsichtig sein. Man nennt’s die besten Jahre der verheirateten Frau. Es sind aber auch die gefährlichsten – nicht nur der drohenden Korpulenz wegen.
Vilma hatte Axel sehr bald eingeholt.
„Wie geht’s, Herr Doktor?“ Sie reichte ihm die Hand. Und ein Blick in sein Gesicht sagte ihr, daß er wieder ‚seinen alten Tag‛ hatte. Er sah ja so verschieden aus. Bald so sehr jung, dann wieder fast greisenhaft.
„Wir machen uns ja seit einer Woche sehr rar,“ fuhr sie im Ton leichten Vorwurfs fort. „Ich finde das gar nicht hübsch von Ihnen, mich einsame Frau so zu vernachlässigen. Heute entgehen Sie mir aber nicht. Sie müssen mich begleiten, mir Gesellschaft leisten. Wollen Sie?“
„Ich werde heute ein schlechter Unterhaltungspartner sein, gnädige Frau. Sie wissen, ich bin, was Stimmungen anbetrifft, wie ein Backfisch. Gewiß, ich könnte diese Stimmungen unterdrücken. – Aber ich halte dies für einen Fehler. Andere denken anders darüber. Weshalb soll man sich mit Gewalt zwingen, anders zu scheinen, als einem zumute ist? Für wen soll man’s?! Aus Rücksicht auf die Umwelt? – Unsinn! Wer allzu rücksichtsvoll ist, bleibt ein Schwächling.“
Frau Vilma lachte leise.
„Weiß Gott, ein Schablonenmensch sind Sie nicht. – Aber – die Antwort auf meine Bitte sind Sie mir noch immer schuldig. Also: Wollen Sie?“
„Wenn Sie mit einem schweigsamen Gast zufrieden sind – ja.“
„Oh – ich werde Sie schon gesprächig machen. Ich weiß, wie man das anfängt. Ihnen muß man Dinge erzählen, die andere für banal, für alltäglich halten. Sie finden gerade im Alltäglichen stets Leckerbissen für den – Menschensucher. Und so nennen Sie sich ja zuweilen selbst –“
Sie hatten die Brücke überschritten und bogen in die Hubertusallee ein. Hier begann die Villenkolonie Grunewald, der ganz vornehme Berliner Westen.
Völker schwieg. Er gab also zu, daß er Menschen suche – auf seine Art.
„Ich werde Ihnen sofort einen Leckerbissen vorsetzen,“ sagte sie nun. „Aber nur dann, wenn Sie mir versprechen, endlich mit dem ‚gnädige Frau‛ aufzuhören. Weshalb nicht Frau Vilma? Wenn Sie mal Ihren ‚jungen Tag‛ haben, kommt Ihnen dieses ‚Frau Vilma‛ ganz von selbst über die Lippen. – Und dann freue ich mich. Dann habe ich etwas vor anderen Frauen voraus; dann bilde ich mir ein, Ihre Freundin zu sein. – Auf meinen Mann brauchen Sie keine Rücksicht zu nehmen. Der ist nicht eifersüchtig. Seit Jahren nicht mehr. Nämlich seitdem ich weiß, daß er die Fritzi Dollan vom Operettentheater – aushällt, wie man ja wohl so sagt. Damals haben wir beide, Ernst und ich, uns ausgesprochen und sind in Frieden voneinander geschieden. Sie kennen ja unser Heim: rechts Ernst, links ich – in der Mitte das neutrale Gebiet, der Speisesaal. – Ich bin keine Frau, die mit einer anderen teilt. Der Gedanke ist mir unerträglich, mein Mann könnte vor zwei Stunden bei der Dollan gewesen sein und sich dann mal wieder auf seine Ehemannspflichten besinnen. Vielleicht hätte eine andere Frau an meiner Stelle Ernst damals eine Szene gemacht und mit Scheidung gedroht. Für Szenen bin ich nicht zu haben. Nicht aus Mangel an Temperament, aber aus Überfluß an kühl abwägendem Verstand. – Ich weiß, Ernst braucht mich, nicht als ‚Weibchen‛, aber als Ratgeberin. Er wäre hilflos, wenn er ein größeres Geschäft nicht vorher mit mir durchsprechen könnte. Und – wahre Treue kann eine Frau nur verlangen, wenn sie aus Liebe geheiratet hat. Das war bei mir nicht der Fall. Meine Eltern verarmten plötzlich. Ich war sehr verwöhnt. Mein Herz war frei, als Ernst dann um mich anhielt. Ich sag ihm offen, daß es nur eine Vernunftsehe würde. Er wieder brauchte für seine Stellung eine Repräsentantin. Wir haben dann acht Jahre ehelich gelebt bis ich eben die Beweise für seine Untreue hatte. Betrogen wird er mich wohl schon jahrelang vorher haben. Aber wir Frauen sind ja so eingebildet, glauben, unsere Reize hielten dauernd vor. Und weil wir dies glauben, vergessen wir so allmählich, dem Mann auch Geliebte zu bleiben. Es ist das eine Kunst – fraglos. Wir deutschen Frauen verstehen uns schlecht darauf. Es wirkt so lächerlich, wenn man in Romanen immer wieder die Hausfrauentugenden der deutschen Gattin hervorgehoben findet. Ich meine, eine Frau soll in erster Linie nicht Wirtschafterin und Kindererzieherin, sondern eben – Gattin sein. –
Doch, was schwatze ich da alles zusammen! –
Nun – Ihnen gegenüber braucht man wenigstens nicht zu fürchten, belächelt zu werden, wenn einem mal der Mund überfließt.“
„Nein, Frau Vilma, – da haben Sie recht. Und – mir gegenüber hat schon manche Frau ihr Eheleben enthüllt. Ich habe viele Tränen gesehen – viele getröstet, viel geraten.“
Die schöne Frau Wegerer schaute Völker prüfend von der Seite an. Er spürte den Blick und fügte hinzu:
„Doch – Sie sprachen vorhin von einem Leckerbissen, Frau Vilma –“
„Ja – allerdings. Ich war heute nachmittag im Warenhaus Wertheim. Ich schlendere dort gern umher, man findet da ein so internationales, vielseitiges Publikum. Ich hätte da eine Ladendiebin festnehmen lassen können. Ich beobachtete in der Abteilung für echte Spitzen, wie eine schick gekleidete Dame eine Rolle Valenziennes[2] verschwinden ließ – mit fast unheimlicher Geschicklichkeit. Denken Sie, die Person machte es so gewarnt, daß ich nicht herausbekam, wo die Spitzen so plötzlich geblieben sein könnten. Ich wollte sie dann stellen. Aber sie verstand ihr Handwerk. Sie war mit einem Mal spurlos verschwunden.“
„Weshalb ließen Sie die Frau nicht sofort anhalten, Frau Vilma?“
„Bitte – hätten Sie das getan?! Kann man wissen, ob nicht unter hundert Ladendiebinnen vielleicht fünf sind, die die ehrliche Not zum Verbrechen treibt? Heute, wo so unendlich viele darben und hungern, wird manche vom schmalen Dornenpfad der Ehrlichkeit hinübergezerrt auf den breiteren, den man den bequemen, den Weg der Sünde, nennt.“
„Das wohl. Aber – wo würden wir hingeraten, wenn wir derartiges entschuldigen, mag die Not auch noch so groß sein!“
„Oh – Sie heucheln jetzt ja, lieber Freund! Sie wären doch der erste, der für ein solches Wesen einträte, die wirklich aus Hunger stiehlt.“
Axel Völker äußerte sich dazu nicht. Erst nach einigen Minuten fragte er:
„Ihr Leckerbissen, Frau Vilma, ist bisher nur Alltagskost, nicht wahr? – Wo liegt darin das Besondere?“
„Ich habe diese Frage erwartet. – Ich traf die Spitzendiebin heute dann nochmals. So gegen sechs Uhr bei meinem Juwelier Klaar in der Potsdamer Straße. Sie verkaufte einen Ring mit Brillanten. Sie war dicht verschleiert, hatte den Schleier nur bis zur Nasenspitze hochgeschoben. Doch ich kenne mich auf Gesichter aus. Mir genügten die beiden Leidensfalten um den Mund. Diese Diebin trägt schweres Herzeleid. Sie hätte gar nicht so – so trostlos aufzuschluchzen brauchen, als sie sich von dem Ring trennte.“
„Und was taten sie?“ meinte Axel Völker zerstreut.
„Ich habe die Frau dann vor dem Geschäft angesprochen. Aber sie – ließ mich stehen.“
„Hm – weshalb verdrehen Sie die Wahrheit, Frau Vilma? Weshalb sagen Sie nicht ehrlich: ‚Ich wollte der Frau Geld geben‛? – Es ist doch so –“
Die schöne Frau Wegerer blickte Völker voll an.
„Hätten Sie zugegeben, daß das Mitleid –“
Sie vollendete den Satz nicht. Völker hatte ihr zugenickt.
„Doch – ich hätte es zugegeben. Nicht jedem gegenüber. Doch vor Ihnen – ja! Und vor mir konnten Sie es auch –“
Unwillkürlich schob sie für einen Moment ihre Hand in seinen Arm, schmiegte sich an ihn.
„Das war hübsch gesagt, Axel Völker,“ flüsterte sie.
Dann ging sie wieder artig neben ihm her.
„Ich fragte die Frau nach ihrer Wohnung, sagte ihr, daß ich ihr so gerne helfen würde und drückte ihr ein paar hundert Mark in die Hand,“ berichtete sie nun eifrig. „Aber – da hätten Sie die Haltung der – der Diebin sehen sollen! Ich selbst hätte nicht abweisender sein können –“
„Ja – und dabei – stiehlt sie Spitzen, setzt sich der Gefahr aus, abgefaßt und bestraft zu werden,“ meinte Völker kopfschüttelnd. „Jetzt, Frau Vilma, ist Ihre Geschichte allerdings ein Leckerbissen. Ich möchte diese Frau kennen lernen. Sie muß ein merkwürdiger Charakter sein. – War sie jung?“
„Ja, fraglos. Trotz des Leidenszuges um den Mund. – Wie wär’s, wenn wir beide mal häufiger die Kaufhäuser durchstreifen? Vielleicht finden wir die Frau –“
„Das würde doch nur ein Zufall sein, Frau Vilma. Aber – man kann dem Zufall ja zu Hilfe kommen.“
Sie waren am Ende der Hubertusallee angelangt, kamen jetzt auf Dahlemer Gebiet. Wegerers wohnten hier in der Viktoriastraße.
3. Kapitel
Der Mann mit der Reitpeitsche.
Die Villa lag mitten in einem großen, von einer Sandsteinmauer umgebenden Park. Sie war klein und schmucklos, wirkte aber durch ihre Architektur überaus vornehm.
Frau Vilma speiste abends stets allein. Ihr Mann, der Generaldirektor einer großen Aktiengesellschaften war, kehrte zumeist erst nach Mitternacht heim. Nur mittags sah das Ehepaar sich im Speisesaal an der feierlich gedeckten Tafel.
Vilma und Axel Völker hatten im kleinen Salon gespeist, den Vilma gleichzeitig für ihre einsamen Mahlzeiten benutzte. Nun saßen sie im sogenannten Arbeitszimmer der Hausfrau, einem Raum, den Vilma Fremden nie zeigte.
Ein großer Diplomatenschreibtisch, eine riesige Bibliothek, Klubmöbel, wertvolle Bilder, vor den Fenstern ein mit einem grauen Bärenfell bedeckter Diwan, eine Waffensammlung und anderes ließen dieses Zimmer ganz als Herrengemach erscheinen. Nichts weichlich-weibliches war darin. Und doch war es behaglich. Wenn neben dem Ledersofa die Ständerlampe mit dem buntseidenen Schirm brannte, wenn auf dem ebenfalls kostbar geschnitzten, schweren Eichentisch zwischen Zeitschriften und Büchern der Samowar sang und puffte, wenn Frau Vilma die Teetäßchen füllte und abwechselnd Zigaretten rauchte und Kognakkirschen naschte, dann hätte sich jeder hier wohlgefühlt, der Sinn für traute Behaglichkeit hatte.
Axel saß in der linken Sofaecke. Dicht daneben im Klubsessel Frau Vilma.
„Eine Insel –“, sagte Völker leise.
Frau Vilma blickte ihn fragend an. Dann lächelte sie ganz glücklich.
„Ich verstehe, lieber Freund. Eine Insel des Friedens inmitten all der Unruhe unserer Zeit.“
Er nahm eine Zigarette. Sie reichte ihm das brennende Zündholz. Dann schaute er sie still an. Ihrer Blicke ruhten ineinander.
Sie wurde ein wenig verlegen, meinte hastig:
„Erzählen Sie mir etwas –“
„Etwas?! Natürlich über mich. Das wollen Sie doch. Wo soll ich beginnen, wo aufhören? – Sie haben mich auch einen Blick in Ihre Seele tun lassen. Vielleicht wissen Sie das selbst nicht. Ich füge mir auch aus wenigen Steinen ein Bild zusammen. Erinnert Sie der Name Völker an nichts? Hat nicht dieser oder jener, den ich hier in Ihrem Haus kennen lernte, Ihnen etwas zugeraunt?“
„Niemand –“
„Ja – die Welt vergißt schnell. Der furchtbare Krieg hat die Menschen erinnerungsschwach gemacht. Und ich kam ja erst im Krieg zu Ihnen – durch das Geld, weil ich Hauptaktionär der ‚Allemannia‛ wurde, die Ihr Gatte damals durch die Orkane der bösen Zeit steuerte, bis sie – verkrachte. – Man hat Alexander Völker also total vergessen. Nun – mir ist das nur lieb. – Gerade in dem Jahr, als Sie heirateten, Frau Vilma, 1908, waren alle Zeitungen von mir voll. Ich war eine sehr interessante Persönlichkeit. In Königsberg droben wurde der Major von Stürmbach im Duell erschossen – von dem Geliebten seiner Frau –“
Frau Vilma war hochgefahren.
„Mein Gott – ich besinne mich jetzt –“
Sie sank wieder in den Sessel zurück.
„Nun – nun verstehe ich so manches an Ihrer ganzen Art –“
„So manches – nicht alles. Sie wissen nur, daß der Major seine Frau mit der Reitpeitsche zu prügeln pflegte, daß sie zu allem still sein mußte, weil er ihre Eltern mit unterhielt. Ich war damals Besitzer des Gutes Molgehnen und außerdem Reserveoffizier desselben Regiments, in dem der Major ein Bataillon führte. Die Frau war nicht schön, nicht häßlich. Sie war Durchschnitt. Nur in einem Punkt nicht: im Liebesbegehren! – Und dieses heiße Blut, das ich witterte, reizte mich. Mitleid kam hinzu. – Ein Jahr lang dauerten diese Beziehungen. Die Frau schwor mir bei jedem Wiedersehen: ‚Ich bin dir treu! Du bist ja so lieb zu mir, so gut. Nicht einmal ‚er‛ dürfte mich auch nur so anrühren.‛ – Dann die Katastrophe: Duell – der Major fiel – meine Verurteilung zu sechs Jahren Festungshaft – Verabschiedung als Reserveoffizier – endlose Artikel in allen Zeitungen – zwei Parteien, eine, die mich entschuldigte, die andere, für die ich Ehebrecher und Mörder war. – Ich trat die Strafe an. Ich habe die Frau seit dem Tage, als der Major uns überrascht hatte, nicht wiedergesehen. Ich sorgte für sie und ihre Eltern von der Festung aus, erhielt täglich einen Brief von ihr. So ging das über vier Jahre. Ich wollte sie heiraten, sobald ich wieder frei war. Ich hoffte, bald begnadigt zu werden. Und dann – die zweite Katastrophe – jetzt für mich allein, für meinen inneren Menschen. Ein Brief eines früheren Burschen des Majors, eines jetzigen Kellners: Der Mann war gleichfalls der Geliebte der Frau gewesen – mit mir zugleich. Er warnte mich vor dem Weib. Und dann schrieb der Mann weiter, halte sie es stets mit den Studenten, die bei ihren Eltern wohnten. Und – er führte Beweise an. – Trotzdem ließ ich mich so leicht in meinem Glauben an die Frau nicht erschüttern. Ich nahm Urlaub. Ich hatte ja bereits ein Gnadengesuch eingereicht, und der Urlaub wurde bewilligt. Die Frau lebte hier in Berlin mit ihren Eltern, unweit der Universitätsklinik. Ich beobachtete sie. Zwei Tage genügten. Der Warner hatte nicht gelogen. –
Das war die innerliche Katastrophe für mich, Frau Vilma. – Ich wurde begnadigt, verkaufte mein Gut, ging auf Reisen, habe zwei Jahre auf Ceylon, dem Paradies der Erde gelebt, habe alle Weltstädte besucht, habe die Frauen aller Länder studiert – nein, nicht als Liebhaber, sondern als kühler Betrachter und Kritiker. So wurde ich das, was ich heute bin –“
„Also ein Mann, der an Treue nicht mehr glaubt,“ meinte Vilma Wegerer leise.
„Sie irren. Ich glaube an Treue. Nur nicht – bei verheirateten Frauen, die den Gatten zu verabscheuen und – getrennt zu leben behaupten. Ich glaube an Treue, wo andere sie am wenigsten vermuten: Bei Mann und Weib, die in freier Liebe leben, die die Umstände davor bewahren, sich standesamtlich aneinander zu ketten. Ich habe Beweise, wie groß und her die Treue bei solchen Liebesbedingungen ist –“
Frau Vilma rieb ein Hölzchen an.
„Bitte – Ihre Zigarette ist ausgegangen.“
Sie sprachen nur, um irgend etwas zu sagen. In ihrem Herzen gähnte plötzlich eine große Leere. Sie hatte soeben etwas daraus gewaltsam entfernt, was sie seit Wochen still beglückt hatte: Eine Hoffnung – die Hoffnung auf eine andere, bessere Zukunft.
Sie fror ja in dieser ihrer Ehe, die keine Ehe mehr war. Aber – sie war kein Weib, das sich weggeworfen hätte – niemals.
Axel rauchte schweigend. Sie blickte scheu nach ihm hin. Sie sah es seinen Augen an, daß seine Gedanken noch immer jene Vergangenheit umspielten. Er starrte in das Flämmchen des Samowars. Und es war totenstill in dem ernsten, behaglichen Zimmer – bis auf das Brodeln und Puffen des kochenden Wassers.
‚Vorbei – es war einmal!‛ dachte Vilma wieder. Und überlegte sich das, was er soeben von seinem Glauben an Treue gesagt hatte.
Ihr erschien das so widerspruchsvoll. Sie war zu sehr in den Grundsätzen landläufiger Moral erzogen, um sich in die Beziehungen zwischen Mann und Weib so genau hineindenken zu können, wie Völker sie angedeutet hatte. –
Freie Liebe! Das nannte man ‚Verhältnis‛. Und bei so lockeren Banden sollte die Treue beider Teile größer sein?!
Jetzt war es Axel gewesen, der ihren Gesichtsausdruck heimlich forschend beobachtet hatte.
„Ich will Ihnen die Geschichte einer solchen Liebe berichten,“ sagte er nun.
Sie zuckte leicht zusammen.
„Ja – ja, tun Sie es. Ich – habe soeben –“
„Ich weiß,“ unterbrach er sie. „Sie haben sich soeben ein Bild von einem solchen Liebesverhältnis zurechtbauen wollen. – Ich werde Ihnen helfen – mit Tatsachen“
Und er erzählte jetzt zum zweiten Mal die Geschichte von Klara und Winfried, fügte zum Schluß hinzu:
„Es ist ein Hohelied weiblicher Treue und Opferwilligkeit. Aber – das Hohelied wird traurig ausklingen. Das Mädchen reibt sich langsam auf. Der Mann ist jetzt völlig gelähmt, fast ganz erblindet. Ein tragisches Weiberschicksal –“
Er seufzte.
Vilma beugte sich vor, legte ihm die Linke leicht auf den Arm.
„Woher kennen Sie die Einzelheiten so genau? Sagen Sie es mir. Man müßte dem Mädchen helfen, ihr Geld senden und als Absender einen fingierten Namen wählen, um jedem Dank zu entgehen.“
„Es ist versucht worden, sie weist jedes Geschenk zurück,“ meinte er. „Ihre erste Frage aber, Frau Vilma, muß ich unbeantwortet lassen oder – lügen!“
„Weshalb?“ fragte sie schnell. „Welchen Grund haben Sie für diese – diese Geheimniskrämerei?“
Er schüttelte den Kopf. „Quälen Sie mich doch nicht. – Vielleicht habe ich Schweigen gelobt –“
Sie zog die Hand zurück. „Jetzt – versuchen Sie zu lügen –“
Sie erhob sich, ging im Zimmer auf und ab.
Er blieb still.
Sie trat ans Fenster, schlug den Vorhang zurück. Der Park lag im bläulich-weißen Licht des Vollmondes einsam, fast gespenstisch da.
Die Frau öffnete das Fenster.
Mild, köstlich erquickend war die Nachtluft. Man ahnte Maitage voraus; man spürte den Frühling.
Vilmas Herz schlug schwer. Und sie dachte wieder:
‚Vorbei, – es gab einmal ein Hoffen. Es – war einmal –‛
Axel Völker war leise hinter sie getreten. Aber sie fühlte seine Nähe. Regte sich doch nicht.
Vielleicht – vielleicht.
So standen sie minutenlang.
Der Duft ihres Haares, ihres zarten Parfüms umwehte ihn. Er wußte: Er brauchte nur die Hand ausstrecken, sie an sich zu ziehen. –
Sie gehörte ihm schon jetzt –
Aber – dort die andere, die er Tag für Tag sah, die so lange sein Denken ausgefüllt hatte, bis – bis eben Frau Vilma gleichfalls ihm allmählich nähergetreten war. Die andere, die ihn auch liebte, – und die es so gut zu verhehlen verstand.
Welche von beiden galt ihm mehr?!
Und leise, wie er gekommen, trat er wieder zurück, setzte sich.
Dann – klopfte es. Sehr laut.
Vilma wandte sich müde um.
„Herein –“
Es war Ernst Wegerer. –
Groß, breitschultrig, stark gelichtetes Haupthaar, dabei blaß und mit allen Zeichen geistiger Überarbeitung in dem etwas gedunsenen Gesicht, etwas laut im Auftreten, oft rücksichtslos-herrisch. Das war der Generaldirektor Wegerer.
Er küßte seiner Frau, die am Fenster stehen geblieben war, die Hand. Dann begrüßte er Völker zwanglos-kameradschaftlich, ehrlich in jedem Wort. Denn – er glaubte seine Vilma zu kennen. Die war viel zu gut erzogen, viel zu kühl, um Dummheiten zu machen. Noch dazu mit diesem Axel Völker, mit dem niemand so recht warm wurde, der den Frauen zeigte, daß er nicht viel von ihnen hielt.
Er nahm Platz. „Du schwärmst wohl Mondschein, Vilma,“ meinte er. „Na – langweilen Sie sich hier auch nicht zu sehr, Doktor? – Übrigens war ich noch auf einen Schoppen im ‚August Wilhelm‛. Der Geheimrat hockte als einziger am Stammtisch. Sie haben den Herren ja heute eine ganz rührselige Sache erzählt, Doktor. Rüttger hatte sie noch immer nicht recht verdaut. Ich meine das schöne Märchen von ‚Klara und Winfried‛. Sie haben Phantasie, Doktor.“
Er lachte.
Frau Klara sagte vom Fenster her:
„Es ist kein Märchen. Dir mag es so erscheinen –“
Wegerer runzelte einen Moment die Stirn. Aha – Vilma stichelte! Sie hatte die Fritzi Dollan also doch noch nicht verwunden! Nun – sie würde schon wieder vernünftig werden. Die Dollan hatte er ja vor kurzem in Ungnaden entlassen. Wenn er Vilma dies beweisen würde, wenn er sie dann noch eine Weile zappeln ließ, so kam dann ohne Zweifel sehr bald der Tag – oder die Nacht, wo sie den Weg zu ihm fand.
So schätzte Wegerer seine Frau ein. –
Dr. Völker hatte bereits von etwas anderem zu sprechen begonnen. Man blieb noch eine halbe Stunde beisammen. Dann verabschiedete der Gast sich. Ihm war Wegerer nicht gerade unsympathisch, aber zum mindesten als Mensch zu sehr Durchschnitt. Die Art von Unterhaltung, wie der Direktor sie bevorzugte, langweilt ihn. –
Die Ehegatten waren allein. Frau Vilma saß wieder im Klubsessel. Er ging auf und ab, blieb nun vor ihr stehen.
„Hm – was ich noch sagen wollte, Vilma. Die Sache mit der Dollan ist – gewesen. Mein – Ehrenwort darauf.“
„Und – die Nachfolgerin?“ meinte sie kühl.
Er beugte sich herab, packte ihre Handgelenke.
„Die Nachfolgerin – wird die – Vorgängerin werden!“
Er riß sie an seine Brust.
Er hatte Kraft. Und sie fühlte, daß er fieberte – nach ihrem Besitz.
Einen Moment schoß es ihr durch den Kopf:
‚Weshalb nicht?! Sollst du ewig hungern?!‛
Dann – fiel ihr Axel Völker ein.
‚Dirne!‛ hatte er jene Frau genannt, die sich hatte prügeln lassen und doch – sich an den brutalen Wicht wegwarf! –
Und sie – sie?! Sie wußte, daß er jahrelang mit der anderen gelebt hatte. War das nicht fast dasselbe wie Peitschenhiebe?! –
Ekel quoll in ihr hoch. Sie stieß ihn zurück.
„Noch ein einziges Mal ein solcher Angriff und ich verlasse dein Haus,“ sagte sie kalt. „Geh’ – geh’ – sofort!“
Er ging – und dachte: ‚Noch nicht! – Noch nicht!‘ Und er lächelte selbstgefällig.
4. Kapitel
Anni.
Axel Völker ging heim durch die schweigende Mondnacht, durch stille, vornehme Straßen. Hier draußen im äußersten Westen Berlins merkte man nichts, nichts von der Unruhe der Weltstadt.
Völker dachte an die Mondnächte auf Ceylon. Und da kam die Sehnsucht über ihn nach jenem Paradies.
War’s nicht am besten, er packte seine Koffer und verließ Europa für immer?! Was hielt ihn hier im Vaterland noch zurück – was?! –
Zwei Frauen waren’s – zwei!
Leider zwei! –
Und er seufzte wieder. Er suchte sich über seine Gefühle klar zu werden. Konnte man denn zwei Frauen gleichzeitig und gleichmäßig lieben?!
‚Wen liebe ich nun eigentlich?‛ fragte er sich wieder. ‚Vilma oder Anni, – wen?!‛
Er prüfte seine Gefühle mit kühlem Verstand. Er lauschte in sein Inneres hinein.
Dann flüsterte er selbstvergessen:
„Vilma!“
Und es ging ihm wie ein Stich durch das Herz.
‚Arme Anni. Es ist also doch größtenteils nur Mitleid gewesen. Arme, arme Anni –‛
Er schritt weiter. Er ging so zögernd, weil er wußte, daß er ihr heute, falls er sie noch bei sich antraf, nicht würde in die großen, traurigen Augen sehen können; er wurde unsicher sein – weil er jetzt – Klarheit hatte.
Er näherte sich der Halenseer Brücke, bog links ab, gelangte in die Bornstedterstraße. Ein Stadtbahnzug rollte unter der Brücke hindurch. Und drüben durch den Kirchhofszaun schimmerten weiße Grabsteine und Kreuze.
Hinter einer der alten Linden löste sich eine Frauengestalt, kam Völker entgegen.
Er stützte. –
Der Gang! Sollte – sollte sie es wirklich wagen.
Da stand sie schon vor ihm, die – Dirne, das Weib, deretwegen er einen Menschen getötet hatte.
„Axel!“
Sie weinte – konnte nicht weiter sprechen.
Mein Gott – wie alt war sie geworden! Und – wie ärmlich sah sie aus.
„Axel, ich – ich bin dem Verhungern nahe,“ schluchzte sie. „Beide Eltern sind tot – vor zwei Monaten – verhungert fast –“
Er merkte, daß sie nicht log. Er brauchte nur in dieses magere, faltige, blasse Gesicht zu sehen. Das sagte alles.
Er griff in die Tasche, entnahm seinem Portefeuille alles an Geld, was er bei sich trug.
„Nimm,“ meinte er kurz, aber nicht unfreundlich. „Ich werde dir eine Anstellung besorgen – irgend einen sicheren Verdienst. Das ist das Letzte, was ich für dich tue. Wenn du dann wieder – wieder –“
Sie war vor ihm in die Knie gesunken. Sie wimmerte jetzt wie ein kleines Kind.
„Ich – danke dir – Du – du rettest mich vor der – Straße – vor dem Dirnentum. Ich danke dir –“
Er bückte sich, zog sie empor.
„Steh’ auf. Beruhige dich. Du hast viel gutzumachen, Hella, sehr viel. Tu’s durch Arbeit. – Gute Nacht –“
Er schloß schnell die Haustür auf, schloß ebenso schnell hinter sich ab. –
Nachtbeleuchtung gab es hier nicht. Er schaltete seine kleine Taschenlampe ein. Im ersten Stock linker Hand in einem Porzellanschildchen an der Flurtür:
M. Fendrich
Axel bemühte sich recht leise zu öffnen. Ebenso leise betrat er dann das Zimmer gleich linker Hand. Es war sein Wohnraum. In der Mitte stand ein alter, viereckiger Ausziehtisch. Über diesem hing eine elektrische Zuglampe mit dunkelrotem Schirm. Die beiden unteren Birnen brannten. Aber der Schirm verhinderte, daß der Lichtschein weiter reichte, als nötig war. Nur die Tischplatte war in strahlende Helle getaucht. Darauf lagen Schnittmuster, Seidenstücke, Stecknadeln, eine große Schere – wie in dem Atelier einer Modistin.
Und über den Tisch gebeugt stand ein Mädchen mit aschblondem, vollem Haar. –
Axel war so leise eingetreten, daß Anni Fendrich im Eifer der Arbeit sein Kommen ganz überhört hatte.
Er stand still und beobachtete sie. Sie breitete die schottische Seide aus, legte das Schnittmuster darauf und griff zur Schere.
Axel ließ sie den Zuschnitt erst beenden. Dann drückte er die Tür etwas lauter zu. –
Ihr Kopf fuhr hoch.
„Guten Abend, Fräulein Anni. Noch immer fleißig? Es ist doch bereits nach Mitternacht,“ sagte er leise und reichte ihr die Hand.
Anni Fendrich war über Mittelgröße. Einst hatte sie eine volle und doch schlanke Figur gehabt. Jetzt war sie durch all die Entbehrungen mager und fast reizlos geworden. Ihr schmales, blasses Gesicht mit den tiefen Schatten unter den Augen mußte einst von bezauberndem Liebreiz gewesen sein. Man sah es noch jetzt, obwohl die Ärmste nur zu schnell verblüht war. Nur die Augen waren noch unverändert: groß, klar, ernst und von jenem weichen Braun, zu dem stets lange dunkle Wimpern gehören, um den Blick tief und seelenvoll zu machen.
Anni zog ihre Hand sofort wieder zurück, kramte nervös in den Sachen auf dem Tisch und stammelte mit einer Befangenheit, die Axel sonst nie an ihr festgestellt hatte:
„Bitte, entschuldigen Sie, Herr Doktor. Ich gehe sofort. Ich – ich hatte es heute mit Viktor so schwer. Ich mußte noch um zehn Uhr den Arzt holen. Viktor war so unruhig. Und leider ist Dr. Mörner verreist. Ich wandte mich an seinen Vertreter, Dr. Liechtenstein. Sie wissen ja, Viktor regt jedes fremde Gesicht auf. Zum Glück schlief er dann ein. Ich habe so viel Zeit versäumt, und die Bluse wird übermorgen abgeholt –“
„Lassen Sie sich auf keinen Fall stören, Fräulein Anni,“ meinte Axel. „Ich habe ohnedies noch Briefe zu schreiben. Ich setze mich an den Schreibtisch. Und – wenn Sie etwa trotzdem aus falscher Rücksicht zu arbeiten aufhören, dann – geh ich wieder weg –“
Er lächelte sie gütig an. Sie war jetzt wieder weniger fahrig, war wie sonst.
Spielend hob er ein paar Seidenflicken auf.
„Ein hübsches Muster,“ meinte er. „Dann bekam er ein Stück Spitze in die Finger. „Ah – etwas sehr Kostbares. Ihre Kundin muß reich sein. Echte Valenziennes sind’s. Ich verstehe auch davon etwas.“
Er sah nicht, daß ihr das Blut ins Gesicht schoß, daß sie dann bleich wurde.
„So – nun also an die Arbeit!“ fuhr er fort, trat an den schräg vor dem linken Fenster stehenden Schreibtisch heran, schaltete die Stehlampe ein, legte Hut und Mantel links auf den Diwan, setzte sich und suchte Schreipapier hervor. –
Die Wohnung der Witwe Fendrich, vier Zimmer, war zur Hälfte an Axel Völker vermietet. Er hatte die beiden Vorderräume für sich. Im dritten Zimmer war der Gelähmte untergebracht; im vierten schliefen Mutter und Tochter.
Anni hatte sich erst lange gesträubt, bevor sie Axels freundliches Angebot annahm, abends sein Wohnzimmer und den großen Ausziehtisch zum Zuschneiden zu benutzen.
Sie war ja so scheu und zurückhaltend ihm gegenüber geworden, als – als sie gespürt hatte, daß in ihrem sorgenbelasteten Herzen eine neue Liebe aufgekeimt war. Sie kam sich so schlecht vor, daß sie diese Gedanken an Axel nicht mehr bannen konnte; es war ihr wie ein Treuebruch an dem, der siech und verbittert, nur noch eine Ruine von Mann, dahinvegetierte. Sie hatte Viktor von Schrott einst über alles geliebt; alles hatte sie ihm gegeben. Und jetzt, wo er ohne sie einsam und verlassen dagestanden hätte, vergalt sie ihm seine Treue, an die sie so felsenfest glaubte.
Aber – sie war erst achtundzwanzig Jahre alt, war Weib geworden in den Armen des Geliebten. Und – seit Jahren war sie nun nichts als Pflegerin, als Arbeitstier, als ein von Sorgen fast zu Boden gedrücktes, entkräftetes Wesen. Was sie immer wieder aufgerichtet hatte, war Axel Völkers treusorgende Freundschaft, war jetzt das Bewußtsein, daß es in seinem Inneren nicht anders aussah als bei ihr, daß sie beide die Lippen verschweigen ließen, was sehnsüchtige Stimmen in ihren Herzen flüsterten.
Anni hatte sich jetzt auch an dieses Neue gewöhnt, an diese linde Wärme in ihrer Seele, die Axel Völker hatte entstehen lassen. Sie hatte Viktor die Treue nie gebrochen, auch in Gedanken nicht; sie hatte sich durchgerungen zu vorläufigem, völligem Verzichten. Sie spielte nie mit heißen Wünschen. Sie war treu – selbst in diesem qualvollen Zwiespalt ihrer Empfindungen.
Und doch – sie war eifersüchtig. Sie wollte sich dies nicht eingestehen – belog sich selbst. Sie hatte heute abend Frau Vilma und Axel auf der Halenseer Brücke gesehen. Sie kannte die schöne Frau Wegerer – nicht persönlich, sie wußte nur, daß Axel dort verkehrte. Er hatte ja keine Geheimnisse vor ihr. Sie war eingeweiht sowohl in seine Vergangenheit als auch in die Gegenwart.
Als sie die beiden heute bemerkt hatte, als sie sich schnell hinter dem Zigarrenhäuschen am Westende der Brücke verborgen hatte, war zunächst eine besinnungslose Angst über sie gekommen.
Gerade Frau Wegerer – gerade heute! Wenn die schöne Frau nun mit Axel über –
Doch ‚Nein – nein!‛ beruhigte sie sich schnell. Sie hatte von der Seite nichts zu fürchten. Frau Wegerer war sie eine Fremde. Sie hatte Axel gebeten, sie nie zu erwähnen – nirgends, und Viktor erst recht nicht! Ihr Dornenweg sollte aller Welt geheim bleiben. Sie wollte nicht bemitleidet sein. –
Und als die Furcht geschwunden, kam die Eifersucht. Außerdem sorgte sie sich auch, Axel könnte von der eleganten, verwöhnten Frau nur als – Spielzeug benutzt werden. Schon einmal hatte ihm ja eine verheiratete Frau Unglück gebracht. Sollte sich vielleicht jetzt ein ähnliches Drama wiederholen, falls Axel eben Frau Vilma unterlag?! –
Axel schrieb an einen ihm bekannten Anwalt Hellas wegen, – um ihr eine Existenz zu schaffen.
Und hinter ihm stand Anni und schaute auf seinen über den Tisch gebeugten Kopf und hatte die Hände unwillkürlich auf ihr Herz gepreßt.
Dort – dort – das war ihr Halt, ihre Stütze! Wenn man ihn ihr nun raubte, wenn wirklich ein unbedachter Augenblick ein neues Duell heraufbeschwor!
Plötzlich überkam sie eine wilde Sehnsucht nach Liebe, Zärtlichkeiten, nach ein wenig Glück, – eine Sehnsucht, die die Angst, ihn zu verlieren, jäh hatte aufflammen lassen.
Ihr Herz jagte; die Augen schimmerten feucht wie in Erwartung heißer Stunden. Sie hob die Arme halb, wollte zu ihm hineilen.
Doch ebenso plötzlich preßten sich ihre Lippen fest zusammen; zwei Falten zogen sich von den Mundwinkeln zum Kinn hin; die Arme sanken wieder herab.
‚Ich bin treu,‛ schluchzte es in ihrer Brust. ‚Treu wie du es warst – treu bis zum letzten Opfer!‛
Sie wandte sich um, breitete wieder ein Stück Seide aus.
Und unter dieser Seide lag eine Rolle Valenziennes Spitzen, die sie dort bei Axels unerwartetem Erscheinen überhastet versteckt hatte. –
Um ein Uhr sagte sie Axel gute Nacht. Sie hatte ihre Arbeit beendet – für heute.
5. Kapitel
Der Ring.
Eine Woche war seitdem verstrichen.
Anni hatte ihre Angst um Axel wieder überwunden. Sie wußte, daß er in diesen acht Tagen nicht ein einziges Mal mit Frau Wegerer zusammen gewesen war. Er hatte vor- und nachmittags weite Spaziergänge gemacht. Er besaß auf dem Wannsee eine kleine Jacht. Er war mit dieser drei Tage unterwegs gewesen – ganz allein – wie immer.
Daß Axel Völker jetzt vor Frau Vilma floh, nachdem er Klarheit über seine Gefühle gewonnen hatte, ahnte Anni nicht.
Er wollte allein sein – allein mit sich, seinen Gedanken – draußen in der Natur; er wollte überlegen, was nun werden sollte. Zweifel plagten ihn. Liebte ihn Vilma wirklich so mit voller Hingabe, wie er es tat?! Würde sie bereit sein, eine gerichtliche Scheidung von ihrem Mann zu erzwingen, um ihn heiraten zu können?
Denn – niemals wollte Axel wieder wie einst die Hand nach einem Weib ausstrecken, das einem anderen gehörte! Offen, klar sollte die Erfüllung dieser Liebe herbeigeführt werden.
Auch am Stammtisch hatte er sich nicht wieder sehen lassen. –
Und so kam ein Donnerstag heran.
Um neun Uhr vormittags läutete der Briefträger. Axel öffnete. Anni war im Dienst, und Frau Fendrich erledigte Einkäufe. –
Ein Brief von Vilma – versiegelt und eingeschrieben.
Was hatte das zu bedeuten?! – Axel schnitt den Umschlag auf.
Lieber Freund !
Ich kenne seit gestern die Diebin. – Sie besinnen sich! – Ich habe sie gestern wieder getroffen. Ich erwarte sie bestimmt morgen Donnerstag elf Uhr vormittags bei mir. Ich muß Sie sprechen. – Verbrennen Sie diesen Brief sofort. –
Ihre Vilma W.
Axel strich ein Zündholz an. Der feine, leicht parfümierte Briefbogen lohte auf.
‚Die Zeilen beunruhigen mich etwas,‛ dachte Axel, während das Papier im Ofenloch verkohlte. ‚Am meisten dieser Nachsatz: ‚Verbrennen! Sofort!‛–
Was kann da nur vorgefallen sein?!‛
Axel hatte seine Tür etwas offen gelassen, um zu hören, falls der Kranke die Schelle rührte.
Jetzt wirklich das feine Bimmeln der Klingel.
Axel ging schnell hinüber. –
Viktor von Schrotts Bett war dicht an das eine Fenster gerückt worden. Axel setzte sich auf den Bettrand. Der Gelähmte, der kaum noch die Arme bewegen konnte, fragte stammelnd:
„Sind – sind Sie’s, Herr Doktor?“
Es kam selten vor, daß er noch verständliche Worte über die Zunge brachte. Meist machte er Zeichen, die Anni auch stets zu deuten wußte. Auch schreiben konnte er nicht mehr, obwohl er das auf einer Schiefertafel oft genug versuchte.
„Ja – ich bin’s,“ meinte Axel. Und wieder erfaßte ihn unendliches Mitleid mit diesem Unglücklichen.
„Nicht – nicht – mehr – Dr. Liechtenstein – holen,“ stammelte der Kranke weiter. „Sagen – Sie – das Anni. Nie mehr – Liechtenstein. Fremd – mir so fremd. Kann ihm – nichts – nichts – anvertrauen. Gehen Sie – zu ihm. Konnte nicht sprechen, als – er damals – abends hier war. Er – kennt – mich – erkennt mich vielleicht wieder. Gehen Sie. Er muß – Anni verschweigen – was – was – mir – fehlt. Alle Ärzte – taten es – bisher. Gehen Sie –“
Ein ungewisser Verdacht zuckte in Axel auf.
„Ja – ich werde zu Dr. Liechtenstein gehen,“ erklärte er. „Sie sollen sich aber nicht so aufregen, Herr von Schrott. Weshalb das?!“
„Nichts – nichts,“ keuchte der Kranke. „Und – Anni – alles – verschweigen – auch der – Mutter. Gehen Sie – sofort –“
Axel kehrte in sein Zimmer zurück. Bald darauf kam auch Frau Fendrich heim. So konnte er denn den Arzt aufsuchen, traf ihn jedoch nicht an.
Axel ging nun zu Fuß nach Dahlem hinaus. Es war erst viertel elf, als er die Villa Wegerer betrat. Frau Vilma würde ihm diese Unpünktlichkeit nachsehen.
Der Diener meldete ihn an, führte ihn jetzt in Frau Vilmas Allerheiligstes, in das Arbeitszimmer mit den schweren, eichenen Möbeln.
Axel war allein, setzte sich in den Klubsessel. Vor ihm auf dem Tisch lag eine Nummer der ‚Woche‛, und mitten darauf – ein Ring, – ein Damenring mit kleinen Brillanten.
Axels Hand griff plötzlich zu, hielt den Ring dicht vor die Augen.
Und gleichzeitig schien eine geheime Macht Dr. Völker nun aus dem Sessel langsam hochzuzerren.
Dieser Ring, – er kannte ihn! Anni hatte ihn noch bis vor kurzem getragen. –
Er wußte: es war von Schrotts erstes Geschenk für die Geliebte.
Wie kam dieser Ring hierher?! Wie?!
Und blitzartig dann die Erkenntnis des wahren Zusammenhangs: Anni war’s gewesen, die bei Juwelier Klaar damals den Ring veräußert hatte, und Vilma hatte ihn wieder dem Juwelier abgekauft!
Also war Anni – die Ladendiebin – Anni! Und – Valenziennes-Spitzen hatten ja mal auf dem Zuschneidetisch gelegen – ein Teil jener gestohlenen Spitzen! –
Axel wandte sich um. Hinter ihm knisterte, raschelte Seide – seidene Unterröcke.
Frau Vilmas Augen blickten den Freund ernst an. Sie war stehen geblieben.
„Ich habe Sie beobachtet,“ meinte sie leise. „Sie haben den Ring als früheres Eigentum Anni Fendrichs erkannt. – Ist es nicht furchtbar, daß gerade ich dieses arme, arme Weib entlarven mußte?! Und – werden Sie mir deswegen nun gram sein, lieber Freund?!“
Sie kam zögernd näher. Sie sah ganz hilflos aus.
„Wie sollte ich?!“ sagte er herzlich und streckte ihr beide Hände hin. Er verstand, was in ihr vorging. Da mochte bei ihr so ein wenig Eifersucht aufgekeimt sein, als sie – irgendwie – festgestellt hatte, daß er bei Fendrichs wohne und daß er jenes ‚Märchen‛, wie Direktor Wegener es bezeichnet hatte, miterlebte, daß er täglich mit jener Anni zusammen war, die er als so opferwillig ihr geschildert.
Vilma hatte schnell seine Hände ergriffen. „Gut, daß Sie früher kamen, als ich erbeten hatte. Ich bin in so großer Unruhe. Wir müssen doch Entschlüsse fassen, damit wir das Schlimmste verhüten. Wenn das bedauernswerte Mädchen mal von anderen ertappt wird, – das wäre ja gar nicht auszudenken –“
Er hatte ihr die Hand geküßt, hatte dann ihre Hände wieder freigegeben.
„Weshalb haben Sie sich eine ganze Woche nicht sehen lassen?!“ fuhr sie fort. „Wir wollten doch zusammen die Kaufhäuser besuchen. Besinnen Sie sich noch? – Wenn Sie nur gestern dabei gewesen wären! – Aber, nehmen wir Platz. Mir ist so wirr im Kopf. Ich habe wenig geschlafen in dieser Nacht. Diese Tragik – diese Tragik! Ein junges Weib, das für den Geliebten stiehlt.“
„Vielleicht ist diese Tragik noch größer, als wir ahnen, Frau Vilma,“ meinte er düster. „Lassen Sie zuerst mich erzählen. Sie sollen ein völliges Bild dieses Dramas haben, dessen Zeuge ich als Untermieter der Frau Fendrich wurde und noch heute bin.“ –
Er verschwieg nichts, sprach auch davon, daß er eine Zeit lang geglaubt hätte, Anni zu lieben.
„Es war doch nur Mitleid, wie ich jetzt weiß. Eine Andere trat in mein Leben, ergriff langsam von mir Besitz,“ sagte er nun und schaute vor sich hin.
„Eine – andere?“ fragte Vilma flüsternd.
„Ja. – Sie sitzt jetzt neben mir –“
Er blickte auf. Und Frau Vilmas Augen strahlten ihm groß und klar entgegen. Wie heimlicher Jubel, wie lichte Sonne war’s darin.
Sie nahm seine Hand ohne Ziererei.
„Axel – also doch!“ sagte sie innig. „Also doch! Ich – ich hatte nicht mehr zu hoffen gewagt. Deine Vergangenheit, deine bösen Erfahrungen mit –“
„Das ist begraben, Vilma –“
„Axel,“ sprach sie weiter, und ihre Stimme war fest und bestimmt, „wir beide sind nicht die Menschen, die sich ein Glück stehlen; wir wollen aller Welt ohne Rückhalt ins Auge blicken können. Ich werde frei sein, sobald du es wünscht. Bis dahin, Axel, bleiben wir, wie wir sind – treu uns selbst –“
„So habe auch ich es gewollt,“ sagte er einfach.
Aber ihre Hände blieben ineinander.
„Nun laß mich erzählen, Axel,“ meinte sie nach einer Weile.
„Ich war gestern nachmittag gegen fünf Uhr im Seidenhaus Kords. Bei Kords sah ich sie wieder – die Diebin, anders gekleidet. Nur Hut und Schleier verrieten sie und – die Handtasche aus schwarzem Leder. – Ich will mich kurz fassen, Axel. Ich sah, wie sie Seidenreste stahl. Sie trug einen Regenmantel. Ich nehme an, daß die Ledertasche einen beweglichen Boden hat. Und im Mantel innen muß sie ebenfalls –, aber – wozu die Einzelheiten?! – Diesmal blieb ich hinter ihr. Sie fuhr mit der Straßenbahn nach Halensee. Ich stellte fest, daß sie in der Bornstedterstraße wohnte. Unten im Haus lebt ein altes Ehepaar. Bei den Leuten erfuhr ich noch mehr. So hörte ich den Namen des Kranken, angeblich des kranken Verwandten: Viktor von Schrott. – Daß du, Axel, bei einer Witwe Fendrich wohntest, wußte ich ja. – Dann ging ich heim. Ach – wärst du nur gestern abend bei mir gewesen, Axel. Ich habe mich so sehr mit Zweifeln gequält. Ich – ich war eifersüchtig auf Anni Fendrich. Du hattest ja so warme Herzenstöne für ihre Treue gefunden –“
Ihre Stimme vibrierte.
„Jetzt bin ich bei dir, Vilma. Und jetzt gehören wir zusammen,“ sagte er leise und streichelte ihre Hand. „Denken wir nun aber erst an fremdes Leid. Was tun wir nur mit Anni?! Wir müssen doch –“
„Ja – eingreifen müssen wir. Wie wär’s, wenn wir sie noch heute in deinem Zimmer stellten – in aller Liebe und Güte? Sie muß dann endlich verständig sein und Geld annehmen. Sie muß! Und sie wird es tun. Ich werde schon Worte finden, sie zu trösten und aufzurichten.“
Axel nickte nur. Er dachte daran, daß Anni ihn liebte. Es war so. Tausend Kleinigkeiten verrieten es ihm jeden Tag. Und – nun würde sie – als Diebin vor ihm stehen! Würde es da Vilma und ihm gelingen, sie vor einem unbedachten Entschluß – vor dem letzten Schritt zu bewahren?!
„Mittags gegen halb eins kommt sie stets heim,“ meinte er dann. „Gut – es sei, Vilma. Wir werden sie erwarten. Aber – wir werden es schwer mit ihr haben. Vorher muß ich noch zu Dr. Liechtenstein gehen, von Schrott bat darum. Und diese Bitte, Vilma, – diese seltsame Bitte, in so großer Erregung an mich gerichtet, hat – hat einen Verdacht in mir aufsteigen lassen, der, wenn er sich bewahrheitete, die Tragödie noch entsetzlicher machte. Ich fürchte, von Schrott hat Geheimnisse vor Anni –“
Er beugte sich vor und sprach weiter:
„Mein Gott – auch das noch!“ rief Vilma plötzlich und schlug die Hände vor ihr verstörtes Gesicht. „Glaubst du wirklich, es könnte das – das sein?“
„Die Ärzte haben ihm Schweigen zusichern müssen. Sagt das nicht genug?! Und Liechtenstein scheint ihn genauer zu kennen –“
6. Kapitel
Ich bin Dir treu.
Axel traf den Arzt abermals nicht an. Frau Vilma hatte unten vor dem Haus gewartet.
„Gehen wir zu mir,“ meinte Axel. „Es ist jetzt viertel eins. Wir werden Frau Fendrich unter einem Vorwand wegschicken. Es ist besser so. Ich werde sie bitten, mir sofort in der Stadt etwas zu besorgen. Sie tut mir gern jeden Gefallen.“ –
Gleich darauf hielt am Henriettenplatz eine aus der Stadt kommende Straßenbahn. Anni stieg aus. Und – kaum zehn Schritt weiter begegnete sie Dr. Liechtenstein, dem Vertreter des vereisten Dr. Werner.
Sie sprach ihn an.
„Sie wollten doch wieder einmal nach meinem Vetter sehen kommen, Herr Doktor –“
„Habe so wenig Zeit, liebes Fräulein. Außerdem – Hilfe gibt es da nicht mehr. – Ich habe diesen Leichtsinn Ihres Vetters nie begriffen. Ich hatte ihm ja in meinem Lazarett in der Etappe, – als Stabsarzt. Habe ihn genug gewarnt –“
Anni horchte auf. Davon wußte sie ja gar nichts?! Viktor war in der Etappe krank gewesen?
„Wovor gewarnt?“ fragte sie zerstreut. Eine ungewisse Angst hatte sie plötzlich gepackt.
„Na – die Sache nicht leicht zu nehmen! – Aber – der Oberleutnant glaubte, die Geschichte sei mit ein paar Salvarsanspritzen wieder erledigt. Dabei handelte es sich bereits um –“
Anni ging wie im Traum neben dem Arzt her.
Salvarsan[3] – Salvarsan!
Sie wußte Bescheid; sie war ja kein Kind mehr!
„Diese Weiber in Belgien waren alle krank,“ redete der Doktor ahnungslos weiter. „Und von Schrott hat mir ja erzählt, daß er zehn Tage in Brüssel das Leben – kräftig genossen hat. Da hat er’s sich geholt. Ja – ich warnte ihn. Jetzt ist die Gehirnerweichung da, Heilung unmöglich, man kann ihm nur wünschen, daß er bald erlöst wird!“
Anni hatte den Schleier herabgezogen. Sie fühlte, wie blaß sie war.
Dann verabschiedete der Arzt sich.
Anni schlich heim.
Also das – das war Viktors Liebe und Treue gewesen! Schon in Brüssel treulos – schon damals zu Anfang des Krieges! Und nachher – ebenso! Und seine Briefe – alles Lüge – Lüge!
‚Ich bin dir treu!‛ –
Wie oft hatte er ihr’s geschrieben, wie oft! Fast in jedem Brief.
Lüge alles – Lüge!
Und sie – sie selbst?! – Anni lachte schrill auf, daß die Vorübergehenden nach ihr hinschauten.
Sie – war treu gewesen, war es noch! Was hatte sie alles geopfert für ihn, was alles gewagt!
Wie eine Blinde tappte sie die Treppen empor. Und dachte jetzt an den Anderen, den sie lieben gelernt hatte, dessen Bild sie immer wieder aus ihrem Herzen verdrängt hatte – eines Elenden wegen!
Vor der Flurtür blieb sie stehen.
‚Was nun?‛ fragte sie sich. – Viktor eine Szene machen?! Nein – das konnte sie gar nicht mehr. Dazu war er ihr zu fremd geworden; dazu war in ihrem Inneren alles zu sehr erstorben – alles.
Aber – frei wollte sie jetzt sein, frei! Sie würde Dr. Liechtensteins Rat befolgen. Viktor mußte in ein Krankenhaus gebracht werden. Jede Gemeinschaft mit ihm hatte aufgehört.
Sie öffnete die Flurtür. Ihre Erregung war einer unnatürlichen Ruhe gewichen.
Sie legte Hut und Jacke ab, strich über das Haar lockernd hin. Sie hatte das Licht eingeschaltet. Der Spiegel der Flurgarderobe zeigte ihr ein verblühtes, vergrämtes Gesicht.
All das – eines Treulosen wegen! All das, weil sie an Treue geglaubt hatte.
Alt – reizlos – Diebin! Das war sie nun – das! Ihr Leben verpfuscht, ihr Leib geschändet – vielleicht – auch verseucht.
Ihr wankten plötzlich die Knie.
Vielleicht – auch verseucht!
Sie starrte ihr Spiegelbild an.
Da – aus dem Krankenzimmer die Glocke.
Sie raffte sich auf.
Es mußte Schluß gemacht werden.
Sie schritt zur Tür, trat ein, lehnte sie hinter sich nur an. Um diese Zeit war Axel nie daheim. Sie brauchte keine Lauscher zu fürchten.
Sie stellte sich zu Fußenden des Bettes. Ihre Blicke mieden den, der ihr Leben zertrümmerte hatte.
„Du wirst unser Haus verlassen,“ sagte sie kalt und hart. „Ich weiß jetzt alles. Du hast mich betrogen. Dr. Liechtenstein hat mir ohne arg alles verraten.“
Ein heulender Aufschrei kam über Viktor von Schrotts Lippen.
Der Schrei lockte Vilma und Axel in den Flur.
„Du hast schon in Brüssel mich betrogen,“ sprach Anni weiter. „Dort – holtest du dir deine Krankheit – bei feilen Weibern. Und hier – hier mußt du die Ärzte stets verpflichtet haben, mir die Wahrheit zu verschweigen – über deine Krankheit, über deren Ursprung. – Nerven sollten es sein – sonst etwas –“
Jetzt lachte sie doch bitte auf.
„Nerven! – Und ich – weißt du, was ich für dich getan habe? Weißt du, daß ich seit einem halben Jahr nicht mehr auf dem Patentamt bin, daß ich meine Stellung an einen Kriegsbeschädigten abtreten mußte, daß ich seitdem – stehle – für dich stehle – und bettele – bettele, – von Haus zu Haus vormittags wandere, nachmittags ebenso – damit die Mutter nicht erfährt, daß ich stellenlos bin, damit du es nicht merken solltest! – Das – das war mein Leben – eines Treulosen wegen!“
Viktor von Schrott weinte jetzt.
„Deine Tränen kommen zu spät,“ sagte Anni ebenso kalt und fremd. „Ich werde sorgen, daß du sofort in ein Lazarett aufgenommen wiest. Ich – ich will wieder aufatmen. Du – du widerst mich an! Ich – verachte dich –“
Da – zum zweiten Mal der heulende Schrei. Der Kranke hatte sich aufgerichtet, hatte die Arme nach Anni flehend ausgestreckt.
Dann sank er zurück. Der helle Tagesschimmer traf sein verzerrtes Gesicht, die weit aufgerissenen Augen.
Noch ein – zwei krampfhafte Atemzüge.
Dann – war Viktor von Schrott hinübergegangen in jene Welt, aus der es keine Rückkehr gibt.
Annis Hände umklammerten den Rand des Bettgestells. Sie drohte umzusinken.
Tot – tot, – und vielleicht durch ihre Schuld, – gestorben vielleicht infolge der Aufregung. –
Vilma und Axel waren leise eingetreten.
„Kommen Sie,“ sagte Vilma gütig und legte leicht den Arm um die erschrocken Zurückfahrende.
„Kommen Sie in des Doktors Zimmer, Kind. Seien Sie verständig. Wir meinen es ja so gut mit Ihnen –“
Axel nahm Annis Hand.
„Sie wissen, daß ich ihr Freund bin. Sie werden wieder aufleben, Anni. Folgen Sie Frau Wegerer. Was hier zu erledigen ist, besorge ich!“
Anni ließ sich willenlos in Völkers Zimmer führen. Dort endlich löste sich all ihr Jammer in Ströme von Tränen auf.
Vilma hielt die Weinende umschlungen. Ganz dicht aneinander geschmiegt saßen sie da. Und – Vilma verstand zu trösten, zu beruhigen.
Dann kam auch Axel; sprach zart und liebevoll wie ein Bruder, – von dem Schneideratelier, das Anni gründen solle; er würde ihr alles Nötige dazu beschaffen; und eine Gehilfin für sie hätte er auch schon, falls sie diese annehmen wolle: Frau Hella, die sich nach Arbeit sehne und die mit Annis Hilfe ihre Vergangenheit vergessen würde.
Und Anni gelobte ihm dann in die Hand, sich ihm in allem zu fügen. –
Noch an demselben Tag wurde der Tote nach der Friedhofshalle geschafft. Axel half Anni, die Möbel in den beiden Hinterzimmern wieder umzustellen. Was nur irgend an die vorausgegangenen Ereignisse erinnern konnte, wurde verbrannt, beseitigt.
‚Schauen Sie nur nach vorwärts, Anni, nie mehr rückwärts,‛ hatte Axel mahnend gesagt, als der Jammer sie wieder zu überwältigen drohte. „Auch ich habe ja Ähnliches einmal durchgemacht wie sie. Und – ich hatte ein Menschenleben auf dem Gewissen, Anni! Und das haben Sie nicht!“ –
An demselben Tag ging es an der Mittagstafel bei Wegerers sehr still zu. Frau Vilma sprach kaum ein Wort.
Der Generaldirektor zerbrach sich umsonst den Kopf, was seiner Frau heute nur in die Krone gefahren sein könnte. Seine siegesbewußte Stimmung von damals hatte sich merklich verringert. Das, worauf er so sicher gehofft hatte, war nicht eingetreten.
Vilma blieb kühl und unnahbar.
Dann erhob man sich vom Tisch.
„Ernst, ich hätte etwas mit dir zu besprechen,“ sagte Vilma. „Bitte – in meinem Zimmer.“
Und diese Zimmer war das mit den strengen, schweren Eichenmöbeln.
Wegerer war recht unbehaglich zumute. Er hatte seit vorgestern wieder kein ganz reines Gewissen.
Vilma deutete auf den einen Klubsessel.
„Nimm bitte Platz.“ –
Sie selbst lehnte sich an den Schreibtisch. –
„Ich hoffe, daß ich diese Unterredung ohne irgend welche ironischen oder gehässigen Ausfälle deinerseits beenden kann. Ich möchte dir gleich sagen, daß ich bei dem ersten heftigen Wort von dir das Zimmer und bald auch das Haus verlasse. – Unsere Ehe ist seit Jahren keine Ehe mehr. In aller Offenheit hast du dir jahrelang ein sogenanntes ‚Verhältnis‛ gehalten. Das unter diesen Umständen das wenige, was ich für dich empfand, hinsterben mußte, ist wohl selbstverständlich. Ich hätte nun dieses Leben vielleicht ruhig weiter ertragen, wenn sich mir eben nicht ein volles, wahres Glück geboten hätte. Du verstehst wohl schon, wo ich hinaus will. Wir werden uns trennen. Ich verlasse noch heute diese Villa, die dein Eigentum ist. Ich werde die Scheidungsklage einleiten – wegen fortgesetzter Untreue des anderen Teils. Du wirst diese Untreue kaum abstreiten können. Tust du es, so werde ich leicht die Beweise beibringen, wer jahrelang von dir ‚ausgehalten‛ wurde. – Von heute ab gehen also unsere Lebenswege auseinander. Ich will dir auch gleich Lebewohl sagen, dir aber noch als Letztes das Ende der Geschichte von ‚Klara und Winfried‛ berichten, von der Axel Völker damals am Stammtisch sprach –“
Und – sie erzählte alles, – von der Untreue Viktor von Schrotts, von dessen Ende.
„So,“ meinte sie dann, „– dieses ‚Märchen‛ mag dich warnen, Ernst. – Ich hätte dir nichts mehr zu sagen.“
Wegerer saß bleich und zusammengesunkenen im Sessel. Nicht mit einem Wort hatte er Vilma unterbrochen. Jetzt, wo er sie verlieren sollte, erkannte er erst, was sie ihm gewesen. Mit seinen geschäftlichen Sorgen, mit allem war er stets zu ihr gegangen, hatte sich in so vielem von ihr Rat geholt. Und – als Weib, als Gattin, – da stellte sie alle – alle in den Schatten.
„Vilma,“ sagte er erst leise, „Vilma, du – du wirst mir das nicht antun –“
Sie konnte nur lächeln über diese Äußerung, die so recht nach ‚Herrenmoral‛ schmeckte.
„Nicht antun?! Und du, Ernst, – was tatest du mir an?!“ meinte sie halb ironisch.
Er erhob sich schwerfällig, ging wortlos hinaus. Und am Abend – am Abend jubelten die süßen Mädchen in der ‚Krokodil-Bar‛ ihm zu, denn er – spülte seinen sogenannten Schmerz um den Verlust Vilmas mit Sekt hinunter, und wer mittrinken wollte, trank mit.
*
Jedes verpfuschte Dasein läßt sich wieder aufrichten. Man muß nur den ehrlichen Willen dazu haben und das beherzigen, was Axel Völker zu Anni mahnend gesagt hatte:
‚Vorwärts schaun – nie mehr zurück!‛
Anni hat es beherzigt, und jene Hella ebenso. Die Liebe war für beide für immer abgetan; es gab für sie nur nach Arbeit und die wahrhaft reinste Freude; die am Erfolg!
Anderswo blühte dafür die Liebe desto glühender; blühte im schönsten Gartenparadies unter knisternden Palmen, in all dem Zauber der Tropen – auf der Insel Ceylon in einem behaglichen, schneeweißen Haus.
Und das gehörte dem Ehepaar Vilma und Axel Völker.
Anmerkungen:
[1] Ersatzmittel (stoff)
[2] Gemeint sind Valenciennes-Spitzen
[3] Salvarsan „heilendes Arsen“ = Arsphenamin, Dioxydiamino-Arsenobenzol. Bekannt als Gegenmittel der Syphilis – jedoch mit hohen Nebenwirkungen.