von
Gustav Hesse
Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin.S.O.26. Elisabethufer.44.
Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1921 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Druck P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO. 26.
1. Kapitel
Die Tigerin von Rostock.
„Mutter, ich möchte mich doch um die Stelle bewerben. Die günstigen Bedingungen! Und – Berlin! Ich könnte dort mein Studium fortsetzen, könnte zum Examen arbeiten und – käme dir von der Tasche, oder, um dies weniger volkstümlich auszudrücken: Du brauchtest mich nicht mehr zu unterhalten, womit ich Verpflegung, Wohnung und Kleidung meine. Mein Stübchen könntest du gegen eine entsprechende Miete, die deiner Kasse fraglos sehr willkommen wäre, an einen soliden Herrn oder eine Dame gleicher Charakterveranlagung abgeben.
Es sind das alles derartige Vorteile, daß es mir nicht leicht fällt, mich lediglich durch gefühlsmäßige Erwägungen, also durch meine Anhänglichkeit an dich, liebe Mutter, dazu bestimmen zu lassen, auf so eine Anzeige in dieser Zeitschrift mich nicht zu melden.“
Der Kandidat der Philologie Gottfried Herrmann Peter Strupf, der diese Worte am Nachmittagskaffeetisch bei Ersatzkaffee und Marmeladenstullen zu seiner Mutter, der Witwe des Gymnasialprofessors Hermann August Daniel Strupf, in gewohnter Langsamkeit, Würde und Gemessenheit sprach, war bei der Verteilung äußerer Schönheit leider stark zu kurz gekommen, woran nicht etwa seine angeborene Bescheidenheit Schuld war, die ihm jedes Sichvordrängen unmöglich machte. Er hatte lediglich von seinem Erzeuger all das geerbt, was diesen bereits mit achtzehn Jahren zu einem solchen wandelnden Ausbund von Unschönheiten körperlicher Art gemacht hatte, daß er geradezu auffiel. Dadurch war Daniel Strupf noch menschenscheuer, noch verschlossener geworden. Als er dann mit dreißig Jahren die Jungfrau Hilda Anna Theodora Schwendlein als Gattin heimführte, hatte ganz Rostock sich schier zu Tode gewundert. Denn Dora Schwendlein war ein leidlich hübsches Mädchen, das vielleicht auch noch eine andere ‚schönere‛ Partie gemacht hätte. Sie war sogar lebensfroh, heiter und zuweilen übermütig. Sie mochte gehofft haben, ihren Daniel allmählich ‚kultivieren‛ zu können – auch innerlich. Aber – das gerade Gegenteil trat ein; Daniels Einfluß war der stärkere, und so kam es, daß das vergnügte Dorchen sich in kurzem nach rückwärts entwickelte, nicht körperlich, sondern eben innerlich. Sie wurde stiller und stiller, wurde säuerlich wie eine alte Jungfer und paßte sich auch im Gesichtsausdruck ihrem Daniel an, was ihr genau so wenig zum Vorteil gereichte. Daniel war ein derart tugendhafter Mann, daß das erste Liebespfand in dieser Ehe sich erst nach fünf Jahren einstellte. Mit diesem einen Sprößling, eben unserem Helden Peter Strupf, war es dann aber auch für alle Zeiten Schluß.
Peter wuchs in Rostock auf. Obwohl diese Stadt eine Universität und andere Bildungsstätten hat, daneben auch Vergnügungslokale aller Art, beschränkte sich Peters Bildungsgang auf das Absolvieren des Gymnasiums, wobei er stets als Primus versetzt wurde – selbstverständlich! Denn er kannte ja keinen anderen Zeitvertreib als Schularbeiten. Er war genau so menschenscheu und verschlossen, wie Strupf der Ältere, und er stand dem Leben genau so fremd gegenüber wie dieser.
Dann war Daniel, der Vater, während des Krieges sanft entschlafen.
Dies mag über die Entwicklungsgeschichte Peters genügen. Der Leser kann sich von seinen inneren Vorzügen jetzt fraglos schon ein zutreffendes Bild machen, und die äußeren – beinahe hätte ich auch geschrieben ‚Vorzüge‛.
Also die äußeren Eigenheiten seiner Persönlichkeit erfahren wir so allgemach im Laufe dieser herzergreifenden Novelle. Kein Schriftsteller, selbst Frank Wedekind nicht, würde es wagen, Peters Äußeres dem Publikum auf einmal zu schildern. Man soll eben das Häßliche geschickt ‚dosieren‛, wie Ärzte und Apotheker sagen. In kleinen Dosen bekommt einem ja alles besser – sei es, was es seit.
Frau Theodora hatte ihren Peter ruhig aussprechen lassen. Sie war eine überschlanke Frau mit grauem Scheitel, hagerem, sehr faltigem Gesicht und einer Stimme, die so mild klang wie das Säuseln des Windes in einem Tannenhain.
Wer das Leben und die Menschen kennt, weiß zur Genüge, wie leicht sich bei einem durch besondere Umstände aus seinem seelischen Gleichgewicht Gebrachten schlechte Charaktereigenschaften entwickeln. –
Frau Dora hatte seiner Zeit als junge Frau Oberlehrer Strupf gehofft, Daniel etwas von ihrem Lebensfrohsinn abgeben zu können. Die Enttäuschung darüber, daß ihr dies nicht nur total mißlang, sondern daß sie auch, um von ihrem Daniel nicht für ‚leichtfertig‛ und ‚lüstern‛ angesehen zu werden, ihr wahres Wesen unterdrücken und sich Daniel in allem anpassen mußte, – ferner die Erkenntnis, daß sie an seiner Seite ein gänzlich verpfuschtes, armseliges Dasein geführt hatte, ließ bei ihr eine gehässige Bitterkeit gegen alle die aufkeimen, die heiter und sorglos ihr Leben genossen, die glücklich in den Tag hinein lebten und stets mit vergnügten Augen umhergingen.
Neid war es in der Hauptsache, der mit den Jahren aus der Frau Professor Strupf die gefährlichste Zunge ganz Rostocks machte. Wo sie mit ihrem schwarzen Hornkneifer und den stets halb zugekniffenen Augen auftauchte, verstummte jedes Gespräch. Aber – man war allgemein überfreundlich zu ihr, denn – man fürchtete sie eben! Sie hatte schon in so manche glückliche Ehe einen Distelnstrauch hineingeworfen und stets so geschickt, daß niemand ihr den Wurf nachweisen konnte und daß die Stacheln stets die Ehegatten gleichmäßig getroffen hatten.
Schweigend hatte die Frau Professor also zugehört, wie Peter sich über die Anzeige des Herrn Lehnertt, Berlin-Grunewald, Dellbrückstraße 115 äußerte. Sie hatte diese Anzeige sehr genau gelesen. Und – sie verstand zwischen den Zeilen zu lesen. Wenn dieser Herr Lehnertt da in der Anzeige hervorhob, das beste Verpflegung zugesichert wurde und daß ein eigener Garten vorhanden sei, dann handelte es sich fraglos um sehr reiche Leute, Minderbemittelte suchen ja auch keinen Hauslehrer. Und wenn da weiter stand: ‚behaglicher Familienanschluß‛, – so waren diese Lehnertts offenbar freundliche, zugängliche Leute.
Peter schaute jetzt die Mutter durch die Gläser seiner Hornbrille fragend an. Dieser Blick bat schüchtern um eine Gegenäußerung. Und – die erfolgte auch.
„Die Vorteile, die du soeben ausführtest, sind ja nicht von der Hand zu weisen,“ meinte die Frau Professor mit dem ihr üblichem Säuseln. „Aber – ihnen stehen Nachteile gegenüber, die sehr schwerwiegender Art sind. Du würdest fraglos in ein Haus und damit in Verhältnisse kommen, die zu unserem bescheidenen Leben in scharfem Kontrast stehen. Du würdest die Üppigkeit der Reichen, ihre leichte Lebensauffassung sehr bald als etwas Selbstverständliches betrachten. – Und dann: Es ist in jenem Haus ein junges Mädchen vorhanden, die du zusammen mit den Söhnen fortbilden sollst. Du weißt, wie schüchtern du vor Damen bist. Du würdest gegenüber einer solchen Großstadtpflanze eine – eine klägliche Rolle spielen, Peter. Und –“
So sprach die liebe Mama noch zehn Minuten weiter. Sie redete in dieser Weise, weil sie einmal ihren Peter als gefügigen Sklaven ihrer Herrschsuchtsgelüste nicht missen mochte, dann aber auch, weil sie es ihm nicht gönnte, einmal unter frohe Menschen und in eine Umgebung zu kommen, die ihr selbst fremd geblieben: eben in ein wohlhabendes Haus.
Peter hatte schweigend diesen Ausführungen zugehört. Und als die liebe Mama nun zu Ende gekommen war, sagte er nur:
„Du hast vielleicht recht mit alledem!“
Dann schob er seine Kaffeetasse zurück, faltete die Serviette sauber zusammen, stand auf und erklärte, er würde nun wieder an die Arbeit gehen.
Sein Zimmer lag außerhalb der kleinen Wohnung eine Treppe höher, im zweiten Stock. Das Haus war alt und verbaut. Die Aussicht aus dem einzigen Fenster des Zimmers zeigte die Rückfront eines Fabrikgebäudes.
Aber – Peter ging nicht an die Arbeit, sondern riegelte sich ein – und schrieb einen vier Seiten langen Brief an Herrn Lehnertt. Diesen Ausführungen legte er acht Zeugnisse bei, die er sich inzwischen von ihm bekannten Professoren der Universität und anderen Leuten von Stand besorgt hatte – und zwar heimlich, was ich stark betonen möchte.
Denn Peter trug sich bereits seit vier Tagen mit der Absicht, sich um die Stelle als Hauslehrer zu bewerben, hatte aber erst heute der Mutter davon Mitteilung gemacht.
Da er sich nun von vornherein darüber klar geworden war, daß die Mutter ihn niemals nach Berlin ziehen lassen würde, hatte er eben ein ganzes Komplott vorbereitet, um seine Absichten verwirklichen zu können. Bei diesem Komplott spielte der Universitätsprofessor Dr. Herbst eine Hauptrolle. Herbst war derjenige, der für diesen bedauernswerten Sklaven, Peter Strupf geheißen, das meiste Verständnis und mit ihm das größte Mitleid hatte, der ferner auch die Frau Professor längst durchschaut und Beweise hatte, daß in dieser Frau mehr Abneigung als Liebe gegen beziehungsweise für den Sohn vorhanden war. –
Während Peter noch an dem Brief schrieb, der nachher so entscheidend für sein Schicksal werden sollte, hatte sich eine Treppe tiefer bei der ‚Tigerin von Rostock‛ – diese Titulierung war gleichfalls Herbsts Erfindung – dieser Freund Peters, der Komplottgenosse, eingefunden und zwar mit einer wahren Leichenmiene.
Sehr diplomatisch leitete Herbst den Angriff auf Frau Theodora ein, indem er von den miserablen Anstellungsaussichten des Philologennachwuchses sprach und dann erst auf Peters Person überging.
Jedenfalls gelang es ihm, die Frau Professor davon zu überzeugen, daß es zweckmäßig wäre, wenn Peter sich beizeiten auf eine andere Laufbahn vorbereite, etwa die eines Bibliothekars. Da nun sein Duzfreund Schellert in Berlin Universitätsbibliothekar sei, könnte Peter dort vielleicht nach bestandenem Examen als Assistent unterschlüpfen, wenn er recht bald sich bei Schellert so nebenbei nützlich mache.
Frau Theodora fiel es nun zwar auf, daß Herbst ebenfalls gerade von Berlin sprach, wo sie doch soeben erst ihrem Sohn die Gefahren dieses Sündenbabel eindringlichst vor Augen geführt hatte. Aber sie schätzte ihren Peter viel zu harmlos ein, um hier an eine Intrige zu denken. Es war eben ein Zufall, daß Herbst ihr nun gleichfalls riet, Peter solle sein Studium in Berlin beenden und dort auch das Examen machen.
Als der Professor gegangen war, klopfte Frau Theodora bei dem Sohn an. Sie kam sofort nochmals auf die Hauslehrerstelle zu sprechen und erklärte nun, Prof. Herbst hätte sie völlig umgestimmt. Sie sei einverstanden, daß Peter schleunigst an Herrn Lehnertt schreibe.
Aber – sie würde gleichzeitig auch ihre hiesige Wohnung gegen eine in Berlin einzutauschen suchen, da ja nur durch Tausch nach Berlin hineinzugelangen sei.
Peter war – innerlich – entsetzt. Die Mutter wollte ihn also auch in Berlin nicht aus den Krallen lassen! Das war ja geradezu fürchterlich! Und er hatte doch so bestimmt gehofft, sie nun endlich loszuwerden.
2. Kapitel
Die Millionäre und der kluge Karl.
Kolonialwarenhändler Georg Friedrich Tobias Lehnertt hatte mit Frau und drei Kindern bis 1919 in der Grenadierstraße in Berlin gewohnt. Dann hatte er durch Nebengeschäfte, die sämtlich das kritische Auge der Öffentlichkeit und zum Teil auch das gefährlichere Auge des Staatsanwalts scheuten, so viel verdient, daß er sich in der Villenkolonie Grunewald in der Delbrückstraße eine hübsche kleine Villa kaufen konnte.
Also: Tobias Lehnertt war Kriegsgewinnler! Aber – er stellte eine besondere Spezies insofern dar, als er schon vor den Kriegsgewinnen ein Mann von Benehmen und persönlicher Eigenart gewesen war und die Seinen, nämlich Frau Klärchen, die siebzehnjährige Tochter Lotte und die Knaben Fritz und Franz, genau wie er selbst Erziehung und Lebensart hatten, – aber auch jeder mit einer sogenannten ‚persönlichen Note‛.
Es ist ein schöner Apriltag, und sie sitzen auf der Terrasse der Villa beim ersten Frühstück. Die Knaben haben Ferien und beten jetzt jeden Abend, daß der Papa doch hier nur keinen passenden Hauslehrer finden möchte. Sie sind in der Schule natürlich so schlecht, daß sie wieder mal ‚kleben‛ geblieben sind, das heißt, das Lehrerkollegium hat sie für reif erklärt, dieselbe Klasse nochmals mindestens ein halbes Jahr zu besuchen.
Lottchen betet gleichfalls – und zwar auch jeden Abend, daß alle verfügbaren Hauslehrer plötzlich durch eine Seuche hinweggerafft werden möchten. Sie stellt es sich als geradezu ‚ekelhaft‛ vor, in ihrem Alter noch Englisch, Französisch, Geschichte, Geographie und Literaturkunde ‚büffeln‛ zu müssen. Sie hat die höhere Mädchenschule seiner Zeit nur bis zur 4. Klasse besucht. Der Papa erklärt nun, diese Bildung genüge für die Tochter eines achtfachen Millionärs nicht. Und die Mama hat ihm ‚natürlich‛ recht gegeben. Sie gibt Papa ja stets, in allem recht, weil sie ihn eben noch immer trotz siebzehneinhalbjähriger Ehe so lächerlich anhimmelt.
Freilich muß sie zugeben, daß der Papa sich tadellos gehalten hat und wie ein Vierziger aussieht, obwohl er doch bereits fünfzig Jährchen zählt. Und die Mama – da muß man schon ganz schweigen! Die soll als Mädchen bildhübsch gewesen sein und – ist es leider noch – leider!
Jeder Fremde würde sie auf höchstens Dreißig einschätzen. Wo sie doch in Wahrheit achtunddreißig Lenze auf dem wundervoll geformten Nacken hat! Neben einer solchen Mama, die sich noch als ehemalige Modistin stets totschick kleidet – ein Kunststück, bei Papa als Millionär! – hat es eine junge Dame von sechszehn Jahren sieben Monaten sehr, sehr schwer, nämlich was das Beachtetwerden betrifft.
Lottchen betet also auch, daß der gesuchte Hauslehrer für alle Zeit ein frommer Wunsch Papachens bleiben möchte! Denn zu allem anderen käme ja noch – falls ein solches Ekel von ‚Pauker‛ sich einfinden sollte – das eine hinzu, daß Lottchen dann nicht mehr wie bisher zu englischen und französischen Stunden zum Fräulein von Pleißewitz nach der Augsburger Straße fahren könnte. Und die ‚süße‛ Pleißewitz ist doch so entzückend nachsichtig und verständnisvoll. Da kann man getrost von achtzehn Stunden in der Woche fünfzehn schwänzen. Der Pleißewitz ist das egal, wenn nur der Papa die volle Anzahlung ‚blecht‛. Und das tut er. Er hat ja auch nicht den leisesten Schimmer davon, daß sein Lottchen es doppelt faustdick hinter den Ohren hat und daß es einen gewissen Kinoschauspieler Bert Linden gibt, der für die geschwänzten Stunden eine andere Verwendung ausgeknobelt hat.
Ach – und diese köstlich-süßen, einzigen, himmlischen Stunden würden dann aufhören.
An all dies dachte Lottchen jetzt noch intensiver als bisher, da der Papa soeben am Kaffeetisch einen dicken Brief geöffnet und dazu gemeint hatte:
„Ah – der Bewerber Nummer 34. Na – der schickt ja gleich ‛ne Urkundensammlung mit.“
Dann vertiefte er sich in diese Dokumente.
Und – drei Augenpaare, nämlich die seiner angstschlotternden Kinderlein – beobachteten sein Gesicht, um aus dessen Ausdruck sofort herauszulesen, ob etwa dieser Vierunddreißigste dem Papa zusagen würde. Denn die bisherigen Dreiunddreißig waren nicht nach Papas Geschmack gewesen.
Ja – drei Augenpaare belauerten Papachen – und wie!
Da –: Er legte Brief und Urkunden hin, hatte drei nachdenkliche Falten auf der Stirn, nickte dann zufrieden vor sich hin und – nahm den langen Brief Peter Strupfs nochmals zur Hand.
Dreien am Tisch blieb der Bissen im Halse stecken vor Schreck! So – hatte der Papa noch nie beim Lesen eines Bewerbungsschreibens dreingeschaut. Sonst hatte er sehr bald schon in seiner präzisen Ausdrucksweise erklärt:
„Der Herr leidet an Größenwahn! Ebenso gut könnte auch ich dann Hauslehrer spielen!“
Jetzt blieb diese ablehnende Kritik aus. Kein Wunder, daß selbst der von schneeweißem ‚Hintenrum‛–Mehl gebackene Kuchen den armen Kinderlein nicht mehr schmeckte.
Dann trat das Entsetzliche ein:
„Klärchen – einen Augenblick,“ sagte Herr Georg Lehnertt. „Klärchen – wir haben ihn! Diese Offerte ist erstklassig. So was von Zeugnissen kann sich kaum die Phantasie eines Dichters ausmalen. Und – Universitätsprofessoren haben sie ausgestellt! Wirklich – dieser Peter Struck ist prima prima!“
Frau Klara hatte für den neuen Hauslehrer lediglich das Interesse einer ‚schönen‛ Frau.
„Hat er eine Photografie beigefügt?“ fragte sie. Denn schöne Frauen denken, selbst wenn es Hauslehrer betrifft, zuerst an Äußerlichkeiten.
„Nein – das hat er nicht,“ meinte der Papa. „Aber das schadet in diesem Fall nichts. Mir genügt es, wenn hier ein Professor und Geheimer Oberregierungsrat Herbst schreibt: ‚Ich bürge in jeder Beziehung für den Kandidaten der Philologie Peter Struck. Er entstammt einer sittenstrengen Familie. Sein Ruf ist makellos, sein Charakter ist in gleicher Weise über jedes Lob gaurisankarhoch erhaben‘ –“
Inzwischen war der Lehnerttsche Diener, ein glattrasierter, junger Mensch von sehr bescheidenem Wesen, auf der Terrasse erschienen und hatte das ‚gaurisankarhoch‛ noch mit angehört.
„Darf ich vielleicht aushelfen?“ meinte er höflich. „Der Gauri Sankar ist der höchste Berg der Erde und liegt in Asien.“
Frau Klaras fast schwarze Augen, die stets einen so merkwürdig sehnsüchtigen Schimmer hatten, waren jetzt fest auf das fraglos interessante Gesicht des Dieners gerichtet, der erst seit dem 1. April den Glanz der Lehnerttschen Häuslichkeit, aber auch die Gemütlichkeit erhöhte, denn bisher hatten Lehnertts zwei Stubenmädchen gehalten, die sich natürlich stets zankten. Das ist nun mal so, wenn ein Posten doppelt besetzt ist – weiblich besetzt ist. Jetzt hatte man nur ein neues Stubenmädchen – auch seit dem 1. April – und dazu diesen überaus tüchtigen ‚Karl‛. Und nun gab es in der Villa Lehnert keinen Zank und Streit mehr. Karl und das neue Stubenmädchen vertrugen sich gut miteinander, weil beide sich Mühe gaben, für einander Luft zu sein – total Luft. –
Doch darüber später mehr.
Also, Frau Klärchen musterte den patenten, schlanken Karl jetzt so scharf, daß dies Lottchen auffiel.
Lottchens Gedanken wurden jetzt durch den Papa abgelenkt, der nun seinem Erstaunen über Karls vielseitiges Wissen endlich Worte verleihen konnte.
„Karl – Mensch, Sie sind ja mehr als ‛ne Perle von einen Diener! Sie haben nämlich ganz recht: Gauri Sankar – den kenn’ ich! Ich habe ja Sven Hedin gelesen – ‚Transhimalaya‛ – großartig! –
Übrigens kommen Sie wie gerufen. Da – schicken Sie diese Depesche sofort ab –“ er hatte mit kaufmännischer Fixigkeit auf ein Blatt Papier geschrieben:
Kandidat Strupf, Rostock, Altjungferngasse 11
Bitte Stellung sofort antreten und Ankunft telegraphisch mitteilen. Erkennungszeichen Papier am Hut. –
Lehnertt
Karl nahm den Zettel, blieb aber noch stehen.
„Herr Lehnert, ich hätte eine Bitte –“ begann er zögernd.
„Los denn. Was wünschen Sie?“
„Ich – ich möchte zum 1. Mai wieder gehen, Herr Lehnert. Ich kann mich mit der Lonni nicht recht stellen.“
„W – a – as? Mit dem neuen Stubenmädchen?! Nicht stellen?! Ich habe noch nie gemerkt, daß ihr euch mal irgendwie angrobstet?! Ihr habt euch doch kaum angesehen.“
Auch Frau Klara war entsetzt. Sollte denn der Frieden des Hauses schon wieder gestört werden?! Und – sollte dieser Karl, der ihr so viel Rätsel aufgab, wirklich wieder kündigen wollen?!
„Wir waren uns vom ersten Augenblick an sehr unsympathisch,“ erklärte Karl nun. „Dafür kann niemand etwas, Herr Lehnert.“
„Unsympathisch?! Was heißt unsympathisch!“ polterte Lehnertt. „Habt ihr euch denn bereits so sehr bei den Köpfen gehabt, daß –“
„Nein, Herr Lehnert. Das nicht. Aber ich will vorbeugen. Es könnte passieren. Die Lonni scheint recht temperamentvoll zu sein, und wenn bei so einer mal die Antipathie zum Ausdruck kommt, dann –“
Der stets tipp topp angezogene Hausherr bog sich plötzlich vor Lachen.
„Mensch, Karl, Sie haben Angst vor der Lonni! Das ist der Witz! Sie fühlen sich ihr nicht gewachsen! – Aber – das ist doch kein Grund zum Kündigen! Sie sind jetzt vierzehn Tage bei uns, und wir haben uns an Sie so schnell gewöhnt, daß wir Sie geradezu vermissen würden. Ich werde mal mit Lonni reden – recht eindringlich. Lonni ist doch –“
„Das werde ich besorgen,“ meinte Frau Klara schnell. „Das gehört zu meinem Ressort, Georg.“
‚Aha!‛ dachte Lottchen. ‚Die Mama ist doch so etwas eifersüchtig. Allerdings – Lonni ist ein patentes Zöfchen. Das muß ihr der Neid lassen.‛
Karl verbeugte sich vor der Hausherrin. „Wenn Sie so freundlich sein wollen, Frau Lehnert –“
Dann ging er.
Der Papa aber lächelte hinter ihm drein.
„Aus dem Menschen wird auch keiner klug! Angst vor der Lonni! Na – wenn da man nicht zum Schluß ganz was anderes bei –“ den Rest verschluckte er, fuhr nach kurzer Pause fort: „Die Sache mit dem Kandidaten Strupf ist nun also entschieden. Und – ich bin froh darüber. Euch dreien,“ – das galt den lieben Kinderchen – „tut eine starke, kluge Hand not.“ –
So wurde das Unheil eingeleitet. Und es nahm seinen Lauf – wie jedes Unheil!
3. Kapitel
Zofengeheimnisse.
Zunächst ergaben sich in der Wohnung bei Frau Professor Strupf noch so einige Differenzen zwischen Mutter und Sohn. Die erste daraus, daß Peter die unglaubliche Kühnheit gehabt hatte, das an Lehnertt gerichtete Bewerbungschreiben nicht der für ihn höchsten Instanz zur Durchsicht vor Absendung vorzulegen.
Nachmittags war der Professor da gewesen, – der mit im Komplott befindliche Herr Herbst. Abends hatte Peter dann angeblich den Brief an Lehnertt geschrieben, der ja in Wahrheit längst fertig war. Morgens ganz früh hatte er ihn in den Kasten geworden.
Das stimmte – das verstimmte aber die Frau Professor, und nicht zu knapp. Als Peter ihr am Kaffeetisch den Harmlosen spielend, mitteilte, der wichtige Brief sei unterwegs, erstarrte Frau Theodora förmlich zur Salzstange und wurde erst nach geraumer Weile wieder geschmeidig – aber nicht gleich.
Nein – die Worte, die dann fielen, waren sogar sehr hart. Peter waren sie jedoch heute gleichgültig. Er witterte bereits Freiheitsluft.
Frau Theodora merkte, daß ihr Sohn sich heute mit einem unerhört dicken Fell gewappnet hatte. Ihr Argwohn erwachte.
Hier schwebte etwas in der Luft! Diese Geschichte war nicht ganz sauber.
Aber sie war schlau, die Tigerin von Rostock, sehr schlau. Sie tat so, als ob sie sich beruhigte. Sie war netter als sonst zu Peterlein. Und Peterlein war ein zu braves Gemüt, um hier seinerseits Unrat zu wittern.
Am folgenden Nachmittag traf Herrn Lehnertts Depesche ein. Die Frau Professor war gerade zum Kaufmann gegangen.
Peter überlegte. Sein neuer Brotherr verlangte telegraphische Meldung der geplanten Ankunft. War es dann nicht am wichtigsten, wenn er sofort auf die Post ging und zurückdepeschierte, er wurde morgen abend mit dem Acht-Uhr-Zug in Berlin eintreffen? Wozu zuerst noch die Mutter fragen? Vielleicht tat der die ganze Sache schon wieder leid, und dann war’s mit der goldenen Freiheit alle.
Jedenfalls – ‚sicher ist sicher,‛ dachte Peter und stülpte den vom Vater ererbten schwarzen Filzhut auf, steckte Geld zu sich und gab dann die Depesche auf.
Als er heimkehrte, flog ihm die Mama puterrot entgegen.
„Wo – wo warst du – ohne mich?!“ fragte sie im Ton einer eine Untreue witternden Ehegattin.
Peterle konnte heucheln. Das wissen wir schon. Mit der Miene eines Säuglings, dessen einzige Schandtaten eben im reichlichen Windelverbrauch bestehen, klärte er die Mutter auf.
Und – sie ward abermals zur Salzsäule. Doch – diesmal war sie noch schlauer! Sie beherrschte sich, meinte: „Gut, Herr Lehnertt will ja auch, daß du sofort die Stellung antrittst. – Unter den Umständen mußt du freilich morgen fahren.“
So sagte sie. Und dachte: ‚Diese Selbstständigkeit Peters, dieses Absenden eines Briefes und einer Depesche, die ich nicht genehmigt habe, läßt ohne jeden Zweifel auf eine Verruchtheit ohnegleichen schließen! Hier bereitet sich was vor! Hier will jemand an den Ketten rütteln! Hier spielt irgend etwas mit, was ich nicht ahne. – Aber – ich werde es schon erfahren. Jetzt heißt es vor allen Dingen schweigen und – spionieren! Denn ganz fraglos steckte ja hinter diesen Selbstständigkeitsgelüsten irgend ein Weib. Was sollte sonst wohl Peter zu alledem bewogen haben?! Da mußte eben der mächtigste aller Triebe mitsprechen: die Liebe – oder doch jedenfalls das, was sich für Liebe ausgab, eben die Sünde der Lüsternheit, – mithin – ein Weib!! Spionieren! Und das heißt: Peter sofort heimlich begleiten; ihn nicht aus den Augen lassen!‛ –
Die Stunde des Abschieds kam. Frau Theodora schützte Kopfweh vor und ging – angeblich! – nicht mit zum Bahnhof. Aber – sie ging doch zur Bahn. Sogar zum selben Zug. Nur hatte sie sich zweckentsprechend gekleidet, trug einen uralten Mantel, einen noch älteren Hut und einen dichten Schleier.
Im D-Zug erwischte sie dann noch einen Platz im selben Wagen – natürlich 3. Klasse.
Doch nichts Verdächtiges geschah. Gar nichts. Peter aß seine Stullen; Peter las Schiller; Peter schaute zum Fenster raus.
Dann näherte man sich Berlin.
Und nun wurde die Sache kritisch – sehr kritisch!
An demselben Vormittag noch, als Herr Lehnertt durch den klugen Karl die Depesche an den noch klügeren Kandidaten hatte abschicken lassen und als dieser Karl mit den phänomenalen Geographiekenntnissen hatte kündigen wollen, spielte sich gegen elf Uhr vormittags in dem Stübchen der Zofe Lonni, das in der Mansarde lag, eine etwas eigentümliche Szene ab.
Lonni, ein junges, frisches, fesches Ding von vielleicht zweiundzwanzig Jahren mit allerliebsten Grübchen und einem kecken Stupsnäschen, mit übermütigen, braunen Augen und einem geschmeidigen, vollen Figürchen, hatte gerade nichts zu tun und war daher nach oben geschlüpft, um ihr kleines Mansardenreich aufzuräumen, das Bett zu machen, die Blumentöpfe am Fenster zu begießen und so weiter.
Die Gnädige war nämlich nach der Stadt gefahren, ebenso Fräulein Lottchen, und der Gnädige pflegte im Garten seine Lieblinge: Rosen!
Lonni hatte vorhin noch mit Frau Lehnertt eine kurze Aussprache gehabt: Karls wegen! Und Lonni war dabei sehr erregt gewesen und hatte erklärt, sie begreife gar nicht, weshalb der Diener nur denken könne, sie würde je mit ihm einen Streit vom Zaun brechen. Sie denke nicht daran; dazu sei ‚der Mensch‛ ihr viel zu gleichgültig.
Jetzt erinnerte sie sich nochmals an all die Einzelheiten dieser Unterredung mit der Gnädigen; schüttelte den Kopf, murmelte: „Karl muß rein der Übermut geplagt haben, Lehnertt solchen Unsinn aufzutischen!“
Da – erschien der Übeltäter in höchst eigener Person, sogar ohne Anklopfen; trat ein, drückte die Tür ins Schloß und – schob den Riegel vor.
Lonni saß gerade auf dem Bettrand und zog andere Strümpfe an. Sie ließ sich bei dieser diskreten Arbeit durch Karls Auftauchen jedoch gar nicht stören, sondern flüsterte nur:
„Du – wenn jemand uns erwischt!“
Er lächelte sorglos, und dabei kamen wundervoll gleichmäßige, weiße echte Zähne zwischen den bartlosen Lippen zum Vorschein.
„Der Gnädige sucht Blattläuse ab,“ meinte er gemütlich und schaute zu, wie Lonni den zweiten Strumpf wechselte. Sie beeilte sich dabei, winkte Karl dann neben sich.
Er gehorchte, nahm ihre Hand und sagte ganz unvermittelt:
„Du, Lonni, die Geschichte von vorhin war meinerseits nur ein Trick, – ich meine die halbe Kündigung. Sieh mal, es könnte nur zu leicht passieren, daß wir mal irgendwie unvorsichtig sind – durch Wort, Blick oder sonst was. Wenn wir es sind, und das kann geschehen, so wird man kaum sofort Verdacht schöpfen, wenn im Hause bekannt ist, wir könnten uns in den Tod gegenseitig nicht ausstehen. Besser ist besser, und – der kluge Mann baut vor! – Nun weißt du, weshalb ich mir heute diese kleine Komödie leistete. Ich tat es auch deshalb, weil – weil ich probieren wollte, wie dieser liebe Racker, dieser süße Racker von Lottchen es hinnehmen würde, daß ich schon wieder weg wollte! Aber leider – leider, es ging ganz spurlos an ihr vorüber – ganz, total, vollständig! – An ihr! Nicht aber an der Gnädigen. Die schaute mich wieder an! Lonni, ich sage dir: Das waren Blicke, die mir das Innere dieser Frau gleichsam öffneten!“
Er lachte leise in sich hinein.
„Dolle Geschichte! Doll – wahrhaftig! Wir hier als –“
Er schwieg plötzlich, erhob sich blitzschnell, eilte zur Tür und deckte einen von Lonnis endlos langen Strümpfen über das Schlüsselloch, kehrte dann auf Fußspitzen zu ihr zurück und flüsterte:
„Die Treppe knarrte. Ich habe Ohren wie ein Fuchs, Augen wie ein Luchs und – aber Spaß beiseite, Kind. Leider muß ich dir nämlich noch etwas sehr Ernstes mitteilen – leider.“
Er raunte ihr mehrere Sätze ins Ohr, in denen die Worte Rostock, Kandidat und Strupf wiederholt vorkamen.
Lonni machte ein ganz bestürztes Gesicht.
„Jetzt wird die Sache brenzlich,“ meinte sie. „Aber dein Plan ist gut. Wir erfahren ja sicher, wann der Strupf hier auf dem Stettiner Bahnhof eintrifft. Und ich werde die Sache dann schon erledigen, falls du gerade nicht abkömmlich bist. Diesen Strupf führt uns wirklich ein –“
Dieser Satz blieb unvollendet, da – an die Tür gepocht wurde – sehr leise! Aber – gepocht wurde, und das ließ die beiden Sünder jetzt vom Bett förmlich hochfahren.
Sie schauten sich an. Karl winkte, beugte sich vor, raunte Lonni in das kleine, rosige Ohr:
„Frage erst, der draußen ist –“
Da – es klopfte abermals – jetzt schon kräftiger.
Lonni ging zur Tür.
„Wer ist denn dort? Ich wasche mich gerade?“
Draußen stand – Herr Georg Lehnertt, hatte in der Rechten fünf wundervolle Rosen, die ersten, die jetzt im Treibhaus frisch aufgeblüht waren.
Der tipptoppe Herr Lehnertt antwortete nun:
„Ich wollte Ihnen nur ein paar Rosen bringen, Lonnichen. Öffnen Sie ruhig. Vor mir alte Ehekrüppel brauchen Sie sich nicht zu genieren, selbst wenn Sie mit Waschungen beschäftigt sind –“
Der kluge Karl wurde zum feixenden Karl, deutete unter das Bett und – verschwand dort sogleich mit Schlangenmenschgeschicklichkeit.
Lonni blickte sinnend vor sich hin. Dann vertieften sich ihre Grübchen; ihre Augen strahlten noch übermütiger auf.
Und –
4. Kapitel
Ein Freund der Jugend.
Und – sie schob den Riegel zurück, nachdem sie ihren Strumpf vom Schlüsselloch schnell auf das Bett geworfen hatte. –
Georg Lehnertt war als Junggeselle ein – ein ganz verfluchter Kerl gewesen! ‚Schürzenjäger‛ als Bezeichnung seiner Vorliebe für die holde Weiblichkeit ist ein viel zu schwacher Ausdruck. Don Juan erst recht. Vielleicht trifft ‚Massenliebhaber‛ leidlich den Grad von Georgs dauernder und tausendfacher Flirttätigkeit.
Erst als er dann sein Klärchen gefunden hatte, die damals noch Modistin war, flaute dieser Riesentrieb, nein –betrieb, allgemach ab. Und in der Ehe war er geradezu ein Mustergatte – das heißt, er war es gewesen. Denn selbst eine so schöne, stattliche, feurige Frau wie Klärchen wird dem Herrn Gemahl so peu à peu was altes.
Es kommt schließlich der Tag, wo er sich nach was Pikanterem sehnt, – wenn ‚er‛ eben so veranlagt ist wie Georg, der Schürzenmassenjäger.
Dieser Zeitpunkt war bei Herrn Georg Lehnertt zugleich mit dem Millionensegen der Kriegs- und der nachfolgenden Schieberjahre eingetreten. –
Geld verdirbt den Charakter, sagt man. Das stimmt. Das weiß ich aus Erfahrung. Hat man nämlich keins – und das ist bei mir der perpetuierliche Zustand –, dann hat man Momente, wo man die Feder hinschmeißt und im Zimmer auf und abrennt und Pläne schmiedet, wie man welches gleich scheffelweise kriegen könnte.
Diese Pläne enden stets mit dem alten Studentenwitz: ‛n alten reichen Tattergreis totschlagen! – Also mit Gedanken an nicht ganz einwandfreie Erwerbsmöglichkeiten. –
So ist’s, wenn man kein Geld hat. Wie es dagegen ist, wenn man welches hat, kann ich mir nur mit Hilfe der gottbegnadeten, schöpferischen Phantasie ausmalen. Dann wird man natürlich weit leichter, wenn man Ehemann ist, zu Seitensprüngen sich verführen lassen, zumal bekanntlich für Geld ohne viel gute Worte zahlreiche Damen nicht abgeneigt sind, derartige Sprungübungen ihrerseits zu unterstützen.
Für Geld ist alles zu haben – alles!
Und das merkte auch der Schürzenmassenjäger, wenn er mit seinen wundervollen Brillantringen in der Untergrund-, Ring- oder Straßenbahn saß und wenn dann von verschiedenen Seiten – weiblichen Geschlechts – ihm sogenannte Blickofferten gemacht wurden, womit bekanntlich zumeist auch der Liebesgeschäftsverkehr beginnt.
Georg war kein Unmensch und war ja auch ein tüchtiger Geschäftsmann. Seine Treue geriet zunächst verschiedentlich nur ins Wanken. Aber – jeden ereilt mal das Schicksal. Und so ging es dann auch dem armen, braven Gatten des feurigen Klärchen.
‚Ein Mal ist kein Mal,‛ dachte er. Und diese Denkungsart ist bekanntlich der erste Schritt auf dem breiten Weg, der zur Verdammnis führt – einer süßbitteren Verdammnis, da das Süße durch die stetige Angst verbittert wird, ertappt zu werden. –
Lonni war, als dieser arme Verdammte jetzt eintrat, zu dessen Enttäuschung total angekleidet.
Er lächelte etwas verlegen. Und diese Verlegenheit beweist, daß Georg noch nicht vollständig auf der breiten Bahn in den Morast kühlgerissener Verführungskunst hinabgerutscht war.
Er reichte Lonni die duftigen Kinder des Treiberhauses, flüsterte: „Der Schönsten die Schönsten –“
Ja – Georg konnte sogar poetisch sein!
Lonni knickste sehr zofenmäßig.
„Ich danke sehr, Herr Lehnertt –“
Er griff nach ihrer Linken. Aber sie wich ihm aus, lief zur Tür, riß sie ganz weit auf und sagte dann abermals knixend:
„Sie täuschen sich, Herr Lehnertt. Sogar sehr!“
Aber sie lächelte dabei so spitzbübisch-harmlos, daß er ihr diesen Wink, sich zu empfehlen, nicht übelnahm.
Nein, er nahm’s nicht übel. Er nahm nur was mit: den Strumpf, der auf dem Bett lag. Mit einem reinen Gaunergriff hatte er ihn an sich gebracht, stopft ihn in die Tasche, warf Lonni noch eine Kußhand zu und – verschwand.
Lonni war froh, daß sie den Gnädigen so leichten Kaufes losgeworden. Den Strumpf würde sie schon zurückbekommen, den mußte Karl dem verliebten Hausherrn eben wegstibitzen.
Sie riegelte wieder zu. Dann tauchte Karl auf, bürstete sich ab und meinte: „Der gute Georg wird doch noch mal von Klärchen erwischt werden! Na – so ganz ‚von ohne‛ ist Frau Klara ja auch nicht!“
„Aber Karl!“ wies ihn Lonni zurecht. „Du traust auch jedem Menschen das Schlechteste zu –“
„Und das mit Recht, Lonnichen! Ich kenne das Leben und die Menschen zur Genüge. Frau Klara macht mir nicht umsonst ‚solche‛ Augen. Ihr Georg ist fraglos bereits ehelich in das Großpapaalter gekommen – und das genügt ihr nicht –“
„Karl – du sprichst zu –“
„Laß nur,“ fiel er lachend ein. „Laß nur! Wir beide können doch offen miteinander reden. Wir haben ein ganzes Jahr Schulter an Schulter gekämpft – wogegen, weißt du.“
Sie nickte ernst. „Ja – wenn uns jetzt nur nicht der Strupf in die Quere kommt –“
Gleich darauf schlich der kluge Karl davon. –
Zu derselben Zeit hatte Lottchen bei Fräulein von Pleißewitz englische Stunde. Das heißt, sie war um elf Uhr dort erschienen, hatte der ‚süßen‛ Pleißewitz gesagt, sie habe heute wieder was anderes vor, und war fünfzehn Häuser weiter Hochparterre rechts hinter einer Tür verschwunden, an der eine Karte mit dem Aufdruck
Bert Linden
hing.
Bert Linden war eine Kinogröße etwa dritten Ranges. Er konnte nur Lebegreise spielen; diese allerdings auch in der Vollendung. Seine Kunst war also recht einseitig, und deshalb bezog er nicht die Gage, die er brauchte, um so leben zu können, wie er lebte. Und er lebte wie ein kleiner Vanderbilt, Gould und so weiter. Jedenfalls wie ‛ne Art Milliardär – im kleinen eben.
Das Geld dazu erwarb er aus eigener Kraft – durch die Macht seiner Persönlichkeit. Er wirkte nämlich auf junge Damen aus Berlin W im Alter von vierzehn bis achtzehn Jahren infolge seiner totalen, so überaus vornehmen körperlichen Niedergebrochenheit derart bezaubernd, daß –
Na – wie er wirkte – in zweifacher Bedeutung gemeint: ‚einwirken‛ und ‚sich betätigen‛ werden wir sofort sehen.
Er küßte Lottchen die Hand, schob ihr einen – längst ‚gesiegelten‛[1] Klubsessel hin, setzte sich auf dessen Lehne und zog Lottchens Köpfchen an sich, nachdem er ihr den Hut abgenommen hatte, streichelte ihr das Haar und wollte mit dem üblichen Phrasenvorrat loslegen.
Lottchen begann jedoch plötzlich zu schluchzen. Und dann erzählte sie, daß nun wirklich so ein ‚ekelhafter‛ Kandidat kommen und all dem Schönen ein Ende bereiten würde; die Stunden bei der Pleißewitz konnte sie dann vergessen, und –
Hm – das war wirklich fatal! Bert Linden machte ein Gesicht – ein Gesicht! Donnerwetter – dieses Lottchen hatte er sich doch für den ‚Hauptschlag‛ reserviert. Die sollte doch mal all seinem Dalles definitiv ein Ende bereiten; die war ja so blödsinnig verliebt in seine totale Abgeklärtheit, daß sie ihn fraglos – heiraten würde.
Und das war ja eben der ‚Hauptschlag‛! Eine Heirat – mit einem Goldfischlein!
Fatal, – scheußlich war die Geschichte. Dieser Strupf konnte alles umschmeißen! Wenn Lottchen ihn seltener sah, war es nur zu leicht möglich, daß sie ihn vergaß!
Scheußlich! – Was war da zu machen?!
Ah – ein Gedanke, – etwas geradezu Glänzendes! Diesen Strupf mußte man der Familie Lehnertt sofort derart verekeln, daß sie für alle Zeiten von Hauslehrern genug hatten.
„Mein süßes, angebetetes Lottimäuschen,“ flötete er und trocknete ihr die Tränen ab. „Hör’ mal genau hin. Dieses Ekel von Kandidat wird deines Vaters Depesche so gegen drei Uhr nachmittags erhalten. Du mußt also heute abend und morgen vormittag scharf aufpassen, wenn seine Antwort eintrifft. Diese Antwortdepesche mußt du – abfangen! Du verstehst: verschwinden lassen. Wenigstens zunächst. Ihr habt doch daheim eine Schreibmaschine. Mit dieser änderst du auf der Depesche die Ankunftszeit um, so daß, falls dein Vater den Strupf abholen will, er ihn nicht vorfindet. Mir aber teilst du die richtige Zeit telephonisch mit. Und das weitere überlaß dann nur mir. Ich werde dieses Scheusal schon derart ‚herrichten‛, daß –“
Lottchen lauschte; Lottchen lachte. Ach – das würde ja einen herrlichen Spaß geben! Schade, daß sie nicht dabei sein konnte. Na – vielleicht ließ sich auch das befingern.
Und der abgeklärtere Bert versprach denn auch, sein Möglichstes zu tun. –
Jedenfalls war Lottchens Laune jetzt wieder glänzend. Und der so unendlich vornehm wirkende ‚Niedergebrochene‛ nutzte diese ihre Stimmung denn auch nach besten Kräften aus – natürlich Geisteskräf ten – selbstverständlich!
Dachten Sie etwa was anderes?! Dann irren Sie sich gründlich. Eine Ruine wie er verkehrt nur geistig, liebt nur platonisch, arbeite nur mit dem Geist, – falls er überhaupt arbeitet!
Millionärstöchter aus Berlin W haben zumeist Sparkassenbücher. In diesem einen Punkte unterscheidet sie sich am wesentlichsten von mir. –
Auch Lottchen hatte eins. Papa Georg vertrat die Ansicht, Kinder müßten sich beizeiten daran gewöhnen, mit Geld umzugehen.
Dieses Sparbuch hatte Lottchen einst ihrem Abgott Bert zur Verfügung gestellt, als sie ihn dabei überraschte, wie er mit einem Revolver neben sich einen Abschiedsbrief an sie schrieb – weil seine Gläubiger ihn morgen lynchen wollten. Da hatte Lottchen geheult und den armen Bert flehentlich gebeten, doch von ihr ein kleines Darlehen vorläufig anzunehmen – und so weiter; sie würde ja nie einer Menschenseele verraten, wo das Geld geblieben sei. Das könne sie ja auch gar nicht, denn sonst müßte sie doch zugeben, wie vertraut sie miteinander stünden.
Bert ließ sich erweichen – sogar sehr, hob erst tausend Mark ab, dann noch mehr – immer mehr.
Der Revolver und der Abschiedsbrief waren eben die einzigen Requisiten für diese Art ‚Erwerb‛ – außer der Macht seiner abgeklärten Persönlichkeit.
Und – Lottchen war nur eine von sehr vielen, die Bert dergestalt ‚ausschlachtete‛. Die Sache war ganz ungefährlich. Die Gänschen hätten sich ja eher die kleinen, verdrehten Köpfchen abhacken lassen, als ihren angebeteten Liebling zu verraten.
Jetzt nun sollte Lottchen abermals mit dem Sparbuch herausrücken. Und – sie versprach’s. Denn der geniale Bert hatte ihr ja wieder soeben versprochen, sie an dem ‚Mordsspaß‛ mit Kandidat Strupf teilnehmen zu lassen. Lottchen wollte nachmittags das Sparbuch bringen und durch den Briefschlitz in die Wohnung werfen.
Denn Bert hatte ja ‚Probe‛. Er hatte immer ‚Probe‛ oder ‚Aufnahme‛, wenn er eins seiner Milchkühchen nicht ‚aufnehmen‛ wollte. Er mußte ja seine Zeit sehr genau einteilen. Zuweilen hatte er gleichzeitig bis zu einem Dutzend Schäfchen ‚in der Schur‛. Waren sie ihres goldenen Vlieses beraubt, so entließ er sie, d. h., er redete ihnen vor, er würde von Privatdetektiven, wahrscheinlich auf Kosten des betreffenden Papas, überwacht, und daher dürfe man ‚vorläufig‛ nicht mehr zusammen kommen.
Schlau – was?! Ja – das Geld liegt wirklich auf der Straße. Man muß es nur aufzuheben wissen und nebenbei ein so – hartgesottener Lump wie Bert Linden sein.
Lottchen wurde dann sehr bald von dem ‚total niedergebrochenen‛ in Gnaden heimgeschickt; er habe vormittags noch eine ‚Aufnahme‛.
Das stimmte. Um zwölf Uhr kann nämlich die kleine, freche Lilli Veitelstein. Und für die sollte heute die bekannte Szene; Revolver und Brief – gespielt werden –
5. Kapitel
Peter Strupfs Empfang.
Lottchen paßte daheim denn auch wirklich sehr genau auf, hielt sich zumeist dicht an der Gartenpforte. Und – sie hatte Glück! Sie erwischte die Depesche, nahm sie dem Boten ab und – ließ sie im Blusenausschnitt verschwinden, wo derlei Dinge am sichersten sind, wenigstens in vielen Fällen. Ausnahmen bestätigen nur die Regel. Aber Lottchen brauchte keinen süßen Frechdachs hier daheim zu fürchten.
Nur – sie war beobachtet worden – vom klugen Karl, der sogar asiatische Berge kannte! Und derselbe kluge Karl behielt sie dann auch weiter im Auge, stellte fest, daß sie die Depesche öffnete und in des Papas Arbeitszimmer die Schreibmaschine benutzte, daß sie ferner das Telegramm dann ganz harmlos dem lieben Papa überreichte, der es nach Durchsicht weglegte, so daß Karl es später lesen konnte.
Er las und – er durchschaute den Betrug! Da hatte ja Lottchen wahrhaftig aus der 8 sehr geschickt eine 10 zurechtgetippt. Und – um zehn Uhr abends traf ein Personenzug aus Rostock ein. Das hatte Lottchen im Kursbuch schlauerweise vorher nachgeschlagen.
So kam es, daß die strategische Lage folgende war:
Herr Lehnertt nahm an, Peter Strupf treffe morgen 10 Uhr abends ein. Er erklärte Frau Klärchen, er würde den Kandidaten abholen. Erkennungszeichen sollte ja ein Stück Papier am Hut sein. –
Karl wußte, daß dies – nämlich die Zeit – gefälscht war. Daher wußte es auch Lonni mit den Grübchen. Und dasselbe erfuhr am folgenden Vormittag der süße Bert, der inzwischen auch das Sparbuch erhalten hatte.
Soweit die ‚Lage‛! Was sich daraus für Komplikationen ergaben, wird sich sofort zeigen. –
Am Tage der Ankunft des Herrn Kandidaten wurde für diesen ein Zimmer hergerichtet. Der kluge Karl und die Gnädige besorgten dies allein. Lonni mußte Unterröcke usw. plätten, war also ungefährlich.
Frau Klärchen wollte eben mal mit dem patenten Karl eine Weile allein sein. Sie wollte Vorbereitungen treffen – für den Abend. Da sollte das Personal außer Karl beurlaubt werden. Georg würde den Kandidaten holen, Lottchen wollte ins Theater, und die beiden Sprößlinge steckte man ins Bett.
Also Vorbereitungen treffen! Drücken wir das genauer aus: Das Vorpostengeplänkel sollte erledigt werden, damit abends der Hauptangriff prompt erfolgen könnte.
Karl merkte, was vorging. Er war ja der kluge Karl. Wenn er ein Möbelstück anderer stellte, half ihm die Gnädige, d.h. sie hinderte ihn mehr, als sie half, denn sie lehnte sich stets haltsuchend an ihn.
Aber – er blieb total hundeschnäuzig – total! Zu dem war er doch nicht zu Lehnertts gekommen! Ganz im Gegenteil!
Anderseits war er aber auch nicht so hundeschnäuzig, daß Klärchen verletzt sein konnte. Nein – er hielt den goldenen Mittelweg inne, der bekanntlich immer der beste ich! Er war erst achtundzwanzig Jahre alt. Und – er neigte mehr der frischen Jugend zu – weit mehr. Er war ehrlich verliebt – in eine andere, seit etwa acht Wochen.
Und seiner Zeit hatte man ihn nur das verrückte Karlchen genannt. Seine Streiche waren berühmtgewesen. Leider kann man sich aber von solchen unglaublichen Einfällen nicht ernähren, höchstens, wenn man Schriftsteller ist. Aber auch als solcher ernährt man sich kümmerlich.
Ich muß das wissen. Und ich habe doch auch Einfälle. Meist taugen sie aber nicht viel, scheint mir.
Karlchens Einfälle waren besser: Der eine, der letzte, war sogar sehr einträglich gewesen. Und es lag ihm gänzlich fern, aus diesem Einfall einen Reinfall werden zu lassen. Deshalb auch die goldene Mittelstraße. Man darf es mit niemandem verderben, wenn man –
Doch davon nachher. –
Und der Abend kam, und der D-Zug aus Warnemünde-Rostock lief in den Stettiner Bahnhof ein. Wer in diesem Zug saß, wissen wir: Peter und die Tigerin, die sich ganz unkenntlich gemacht hatte.
Peter ergriff Schirm und Kofferungetüm und kletterte hinaus. Er war zum ersten Mal in Berlin. Aber – er wurde ja abgeholt! Er hatte keine Angst vor der großen Stadt. Ihm konnte hier nichts zustoßen. Bauernfänger, Taschendiebe, Straßenräuber und – und jene Damen, die ebenfalls auf männliche Börsen Jagd machen, würden sich umsonst um ihn bemühen. Am schwarzen Filzhut, Fassung Bismarck, trug er ja das Stück Papier!
Zur Sicherheit hatte er eine ganze Zeitung unter das Hutband geschoben.
Nun stand er auf dem Bahnsteig neben seinem Koffer und wartete. Sein gleichfalls ererbter Pelerinenmantel, der schon Daniel Strupf fünfzehn Jahre treu gedient hatte, hing ihm malerisch um die Schultern. Unter dem Mantel kamen die schwarz gefärbten ‚Schipperhosen‛ hervor, die, da zu weit für Zivilzwecke, ein Rostocker Schneiderkünstler enger und berauschend schön gemacht hatte, was den ‚Sitz‛ betraf. Wie ein paar riesige Blutwurstpellen umschlossen sie Peterleins Beine und legten sich in zärtlichen Falten auf die genagelten Kommißschnürstiefel, Größe ‚Rheinuferabtreter‛. Jedenfalls wirkte diese Unterpartie durchaus eigenartigsolide. Was oben zu sehen war, wirkte genau so. Der Gummikragen, der von Frau Theodora ‚gearbeitete‛ Schlips, dessen Farbenpracht durch die rote Koralle als Nadel noch erhöht wurde, dann weiter der etwas lange, dünne Hals und über diesem das gutmütige, etwas ängstliche Gesicht mit der Hornbrille und dem ehrbaren, etwas spärlichen, über den Mund herabhängenden Schnurrbart, – und als Krönung des Ganzen der bereits leicht grünlich schillernde, genial gekniffene, zu große Hut – oh, jeder Komiker hätte Peter um das Kostüm beneidet!
Und Peter stand und wartete. Er hatte Beschäftigung. Er trug heute Gummimanschetten, die zu groß waren und die ihm nun dauernd über die Hände rutschen wollten. Hatte er die eine wieder hochgeschoben, glitt schon die andere abwärts. So brauchte er sich nicht zu langweilen.
Und zehn Schritt weiter stand jemand anders: Frau Theodora, die Mutter mit dem verpfuschten Dasein! Sie langweilte sich ebensowenig. Sie beobachtete Peter.
Ah – und ein Zittern ging ihr über den Leib hin! Ah, – da – da war ja schon das Unheil in Gestalt eines Weibes an Peter herangeschlichen.
Nun – das ‚Unheil‛ machte es kurz. Es war Lonni, die dem Kandidaten lediglich ein paar Sätze zuflüsterte, deren letzte lautete:
‚– Sie werden uns nicht verraten. Ich muß mich sofort wieder zurückziehen. Ich habe Lottchen hier bemerkt –‛
Dann verschwand sie. Frau Theodora atmete auf, dachte: ‚Das war offenbar so – so eine, die –! Aber Peter hat abgewinkt!‛
Jetzt erschien ein sehr eleganter, älterer Herr mit grauem Vollbart, goldenem Klemmer, Zylinder, verbeugte sich.
„Gestatten – Lohmann! Ich bin ein Freund Georg Lehnertts. Ich soll Sie empfangen heißen, Herr Kandidat. Diese Nacht müssen Sie noch bei mir logieren –“
Herr Lohmann war ein ganz reizender Mensch. Peter faßte sofort Vertrauen zu ihm. Und Lohmann faßte sogar mit an den Koffer an. Dann ging’s im Auto nach Berlin hinein. Wohin, wußte Peter nicht.
‚Ich wohne Moabits,‛ hatte Lohmann nur gesagt. –
Was war Moabit? Peter hatte keine Ahnung.
Dann kam man in eine kleine, reizende Wohnung.
An der Tür hatte eine Karte gehangen:
W. Lohmann
Privatier
Diese Karte war mit Tinte ausgeschrieben. Und in der Wohnung hatte ‚Lohmann‛ alles beseitigt, was an Bert Linden erinnerte, was den Schwindel aufdecken konnte.
Lohmann wurde immer reizender. Im Herrenzimmer war der Abendbrottisch gedeckt. Und wie gedeckt! Sogar Sardinen standen da. Und Kognak, Likör und – zwei Flaschen Sekt.
Peter aß; Peter trank. Lohmann plauderte über die lieben Lehnertts; er kannte sie ja so genau.
Peter trank – und merkte nicht, daß er sich langsam, aber sicher betrank. Er wurde immer fideler. Die Gummiröllchen hatte er längst als hinderlich auf den Tisch gestellt – längst!
Nun knallte der Sektkorken; nun war auch die Tür nach dem Nebenzimmer etwas offen. Und dort – dort weilte das Publikum: Lottchen!
Lohmann schenkte ein; der Sekt perlte.
Peter hatte in seinem ganzen Leben noch keinen Sekt getrunken. Donner – das schmeckte! Das war ja so mild.
Peter wurde lebhaft. Jetzt erzählte er. Der Wein hatte ihm die Zunge gelöst.
Er erzählte von seinem freudlosen Dasein, von der lieben Mama, von seinem Sklaventum.
Seine eigenen Worte rührten ihn zu Tränen. Er schluchzte zuweilen. Dann kam wieder Wut über seine Unmännlichkeit über ihn.
„Ich – ich war ein Hornvieh, daß ich mir das alles gefallen ließ! Nun ist Schluß damit – endgültig!“
Das ‚Publikum‛ im Nebenzimmer lachte nicht mehr. Nun – Lottchen war leichtsinnig. Aber sie hatte ein weiches Herzchen. Dieser ‚Sklave‛ tat ihr leid. Mein Gott, mußte der arme Mensch ein Leben geführt haben! Sie vergaß ganz, daß es ja der ‚ekelhafte Kandidat‛ war, den sie bedauerte.
Und – allmählich wurde ihr klar, wie – gemein es eigentlich war, diesen dummen Peter hier betrunken zu machen! –
Als Bert Linden einmal höhnisch grinsend bei ihr erschien und sie mit den Worten: „Na, zufrieden, kleiner Liebling?“ an sich ziehen wollte, da stieß sie ihn zurück.
„Ich will nicht, daß du ihn noch – noch mehr betrunken machst,“ flüsterte sie. „Versprich mir, ihm jetzt nur noch Selterwasser zu geben. Versprich es mir, oder –“
„Aber, aber, – Kätzchen, du hast ja plötzlich allerliebste Krallen, und sogar moralische Krallen! Selbstverständlich ist mir dein Wunsch Befehl. Gut – ich werde diesen – diesen Adonis also ernüchtern. Hoffentlich gelingt es mir –“
Lottchen wollte jetzt auch hinausgelassen werden. „Gib mir einen deiner Hausschlüssel – schnell! Und auch mein Sparbuch. Ich will heim. Und ich – ich hätte dies – dies mit tun sollen.“
Sie schluckte an Tränen. „Ich habe ein – ein Telegramm gefälscht, und – der – Strupf – tut mir jetzt so leid – so sehr leid. – Ich – ich bin ja so schlecht –“
Herr Bert Linden feixte im Dunkeln ironisch. So eine dumme Pute! Die kriegte es fertig, sich in diesen Brillenaffen nicht zu verlieben! Na – da würde er schon einen Riegel vorschieben!
Seine Worte lauteten aber etwas anders. „Du hast ganz recht, mein Kleinchen, – man muß Mitleid mit Strupf haben. Ich werde die Geschichte schon wieder einrenken. Hier sind Schlüssel und Sparbuch. Hm – ich habe aus – aus Zerstreutheit gleich – hm ja tausend Mark abgehoben. Na – im nächsten Monat erhältst du alles zurück – sehr wahrscheinlich –“
Dann küßte der ‚Abgeklärtere‛ ihr wieder die Fingerspitzen, Lottchen huschte in den Flur, öffnete die Tür, zog sie hinter sich zu und eilte die wenigen Stufen zum Hauseingang hinab. –
Wir müssen uns notwendig noch einmal nach dem Stettiner Bahnhof zurückbegeben, um uns zu überzeugen, was aus der Frau Professor Strupf und Lonni geworden ist.
Frau Strupf folgte dem eleganten Herrn und ihrem Peter dicht auf dem Fuß. An der Sperre beobachtete sie dann, daß der Elegante, den sie für Herrn Georg Lehnertt hielt, mit einem dichtverschleierten jungen Mädchen einige Zeichen austauschte.
Was bedeutete das?! War dies etwa gar nicht Herr Lehnertt, sondern womöglich irgend ein Verbrecher, der Peter vielleicht in ein sogenanntes übel berüchtigtes Haus verschleppen wollte?!
Jedenfalls, sie gab jetzt noch schärfer auf alles acht! –
So sah sie dann, daß das verschleierte ‚Weibsbild‛ gleichfalls ein Auto bestieg und hinter dem Kraftwagen herfuhr, der ihren Peter und den Eleganten entführte. Kurz entschlossen nahm sie gleichfalls ein Taxameter und versprach dem Chauffeur ein hohes Trinkgeld, wenn er die beiden anderen nicht aus dem Auge verlieren würde.
Aber – mit diesen drei Kraftwagen, die nun nicht Moabit, sondern der Augsburger Straße in Berlin W zustrebten, war es noch nicht genug, denn – die etwas rätselhafte Lonni folgte in einem vierten.
Und diese vier Kraftwagen spien dann auch nacheinander ihren Inhalt aus. Der Elegante und Peter Strupf betraten ein Haus, das verschleierte Weibsbild tat nach wenigen Minuten dasselbe und die Rostocker Tigerin und die mystische Lonni patrouillierten nun getrennt vor diesem Haus auf und ab. Lonni ließ sich jedoch vor der Professorin nicht sehen, da sie sofort gemerkt hatte, daß diese gleichfalls Peter Strupf, dem Eleganten und der Verschleierten nachspionierte.
Sie zerbrach sich den Kopf, wer diese Frau nur sein könnte. Dann kam sie auf das Richtige: Das war die berüchtigte Frau Theodora! –
Denn Lonni war in Rostock durchaus nicht fremd, und der kluge Karl noch weniger.
Die Zeit verstrich. Aber Lonni hatte Geduld – lediglich in Karls Interesse! Sie mußte herausbringen, wer dieser alte Herr war, mit dem die Verschleierte – und das war ja Lottchen – dieses Komplott gegen den Kandidaten geschmiedet hatte, daß mit einer Depeschenfälschung begonnen hatte und nun einen nicht minder eigenartigen Verlauf nahm.
Lonni hatte sich in die Ecke einer Haustür gestellt. Frau Theodora mit ihrer Urgroßmutterreisetasche schlenderte auf und ab.
Aber – die arme Professorin stand bereits Höllenqualen aus! Sie hatte es im D-Zug versäumt, sich an ein gewisses stilles Plätzchen zurückzuziehen. Und das rächte sich nun.
Wenn die Straße nicht so belebt gewesen wäre, hätte sie längst der drängendsten Not gehorchend, sich für Minuten wie ein Hundchen benommen.
Ach – wie sehr sie jetzt die Hunde um ihre Freiheit und Ungeniertheit beneidete. Obwohl sie Hunde sonst haßte.
Kalter Schweiß trat ihr bereits auf die Stirn.
Da – jetzt war die Straße leer! –
Doch – als sie gerade beginnen wollte, tat sich die Tür des betreffenden Hauses auf und – die Verschleierte erschien.
Frau Theodora sprang auf, vergaß Not und Pein und schoß auf Lottchen zu, die soeben die Haustür zudrückte und den Schlüssel ins Loch steckte.
„Ich – ich wohne hier,“ keuchte die Professorin. „Lassen Sie mich bitte ein –“
Sie hatte ja vorhin beobachtet, daß unten links zwei Fenster hell geworden waren, als der Elegante und ihr Peter das Haus betreten hatten.
Jetzt – jetzt würde sie dort eindringen. Und dann –
Lottchen sagte sehr kühl und ahnungslos. „Bitte,“ und Frau Theodora verschwand in der der Tür, die Lottchen dann verschloß.
Pechrabenfinster war’s um die Professorin. Sie tappte nun umher, suchte nach der Treppe, tastete sich an der Wand lang.
Da – eine Fensterscheibe fühlte sie, pochte aus Unachtsamkeit dagegen.
Sofort irgendwoher eine rauhe Männerstimme:
„He – wat is los?“
Portier Schmollke hatte noch nicht geschlafen. Er hörte, daß da jemand dauernd im Flur herumschlich. Und – er fuhr in die Unterhosen, in den Mantel.
Frau Theodora hatte plötzlich Angst bekommen. Sie eilte jetzt die Treppen hinab, wollte oben irgendwo warten, bis der Mann mit der groben Stimme sich wieder beruhigt hatte.
Der Druck in ihr, noch stärker geworden, trat nun mit aller Gewalt in ihr Bewußtsein.
Jetzt – taghell wurde es um sie her. Schmollke hatte die Nachtbeleuchtung eingeschaltet. Und Schmollke fluchte wie ein Berserker. –
Ha – Treppenstufen knarrten. Es hatte sich jemand eingeschlichen. Da oben war jemand.
Also er hinterdrein. Und – vor der eisernen Bodentür kriegte er Frau Theodora dann zu packen.
„Diebesgelichter!“ brüllte der Verfolger. „Na warte – ick wird’ dir zeijen, war ‛ne Berliner Portierklaue is –“
Und – jetzt passierte der Rostocker Tigerin das, was ihr im ganzen Leben noch nicht passiert war, wenigstens nicht als Frau: Sie bekam – Ohrtachteln, – Ohrtachteln, daß ihr ganz schwindelig wurde – und sie konnte ihr Wasser nicht mehr halten. –
Schmollke zerrte sie die Treppen hinab. Als sie weinend ihm zu erklären suchte, wer sie sei und wie sich das alles zugetragen habe, meinte er nur: „Wat bist de?! Professorin?! Du, det kannste eenen aus Dalldorf uff binden, nich Franz Schmollke!“
Frau Theodora bekam jetzt Weinkrämpfe. Aber Schmollke war unerbittlich. Sie mußte mit zur Polizeiwache. Dort konnte sie sich als Frau Professor Strupf ausweisen; dort erzählte sie ihre Leidensgeschichte; dort glaubte man ihr.
Nur Schmollke meinte: „In unser Haus wohnt so ‛n elejanter, alter Herr nich! Da wohnt unten der Bert Linden, der Kinoonkel. Und wat sollte der for ‛n Interesse an Ihren Sohn haben?! Der hält’s nur mit de kleenen Mäjens, det olle Wrack. Wenn ick Ihnen ‛n juten Rat jeben darf, dann nehmen Se sich ‛n Auto und fahren Sie zu den Herrn Lehnertt nach ‛n Grunewald. Der wird schon wissen, ob er Ihren Sohn hat abholen lassen –“
Und Theodora befolgte diesen Rat. Aber – es war nicht mehr die Theodora von einst. Die Ohrfeigen, samt Begleitumständen, die Szene auf der Polizeiwache, wo Sie hatte zugeben müssen, daß Sie an der – Überschwemmung Schuld war, – all das hatte diese Frau innerlich für alle Zeit zerbrochen. Die Tigerin war in Berlin unter den Streichen einer Berliner Portierklaue röchelnd verendet.
Was noch von der einstigen Theodora vorhanden, schmolz dann völlig an der Gartenpforte der Lehnerttschen Villa dahin.
6. Kapitel
Der Retter in der Not.
Der kluge Karl war von neun Uhr abends mit Frau Klärchen allein im Hause. Wenigstens so gut wie allein. Die Knaben lagen ja bereits im Bett, rechneten also nicht mit.
Er war sehr gespannt, was sich nun ereignen würde. Ereignete sich etwas, so hieß es für ihn, mit der allergrößten Diplomatie sich aus der Affäre zu ziehen.
Denn – es durfte sich ja nichts ereignen! –
Dies klingt nur scheinbar als Widerspruch, wie man sehr bald merken wird.
Und es ereignete sich etwas. Frau Klärchen läutete nach der Bedienung. Da nur Karl zugegen war, mußte er sich also hinbemühen. Aber – er wartete, bis die Gnädige zum dritten Mal die Glocke in Tätigkeit gesetzt hatte. Dann erst klopfte er an die Tür des Damensalons an. Das war ein Raum, den ein Künstler von Dekorateur zu einem üppigen Märchengemach hergerichtet hatte. –
Karl trat ein.
Mit einer wahren Grabesstimme fragte er: „Sie befehlen, Frau Lehnertt?“ Und fügte sofort hinzu: „Ich muß mich erkältet haben. Mir – mir ist gar nicht gut!“
Pause.
Schwere Enttäuschung des anderen Teils; schwache Hoffnung auf des Alkohols segensreiche Wirkung.
„Trinken Sie ein Glas Sherry, Karl –“
„Es hilft nichts. Ich habe bereits drei Magenbitter, zwei Kognaks und sechzig Choleratropfen genommen.“
Noch größere Enttäuschung.
Klärchen, die wirklich noch schöne Frau, griff nach einem neben ihr auf der Ottomane liegenden Damenstrumpf.
„Den fand ich in der Brusttasche einer Jacke meines Mannes,“ flüsterte sie. „Mir gehört er nicht. Meine Nummer ist – stärker in der Wade. Jedenfalls: Georg betrügt mich! Dieses Beweisstück genügt.“
Karl stöhnte kläglich.
„Nein – es genügt nicht. Der Strumpf gehört Lonni – meiner Schwester. – Bitte – lassen Sie mich ausreden. Lonni ist meine Schwester. – Wir sind Waisen. Unsere Eltern starben während des Krieges, hinterließen uns so gut wie nichts. Ich war vor dem Kriege Beamter im Reichskolonialdienst. – Kolonien haben wir nicht mehr. Ich fand keinerlei andere Anstellung und pensionsberechtigt war ich noch nicht. Lonni hatte eine Haushaltungsschule besucht. Als wir beide so ziemlich am Verhungern waren, erinnerten wir uns, daß eine frühere Köchin unserer Eltern hier in Berlin Stellenvermittlerin war. Wir wandten uns an sie, kamen dann hierher, wohnten eine Weile bei ihr, und – – da lernte ich von Ansehen Ihrer Tochter Lotte kennen. Es war bei mir – Liebe auf den ersten Blick. Ihre Tochter hat mit Ihnen so sehr große Ähnlichkeit, Frau Lehnertt, und da ist es begreiflich, daß ich mein Herz an sie verlor. Ich bin vor dem 1. April stundenlang vor Ihrer Villa auf und ab gegangen, nur um Fräulein Lotte mal zu sehen. Ein Zufall wollte es dann, daß Sie sich gerade an Frau Schmidt, unsere frühere Köchin, einer Zofe und eines Dieners wegen wandten. Ich schlug Lonni vor, wir sollten zugreifen. Heutzutage muß jeder zusehen, daß er satt wird. Wie – das ist gleichgültig. – So mogelte die gute Schmidten uns dann hier bei Ihnen mit anderen Papieren und unter anderen Namen ein. In Wahrheit heißen wir Leonie und Karl von Schradtbach. – Was den Strumpf betrifft, so habe ich ihn Lonni im Scherz vorgestern weggenommen und ihn dann wahrscheinlich verloren. Herr Lehnertt wird ihn gefunden haben.“
Er trat näher an die Ottomane heran, ergriff Frau Klaras Hand, zog sie an die Lippen.
„Darf ich hoffen, daß Sie Lonni und mir jetzt nicht die Tür weisen, Frau Lehnert?“ sagte er bittend und küßte nochmals diese wohlgepflegte, parfümierter Hand.
Klärchen war eine Mutter anderen Schlages als Frau Theodora. –
Karl mußte neben der Ottomane Platz nehmen. Man plauderte ganz zwanglos und immer heiterer. Frau Klara war froh, daß ihr Georg nun wieder als weißer Rabe dastand. Und als dieser weiße Rabe dann kurz nach halb elf heimkehrte und die beiden so traulich beieinander fand, als Frau Klärchen ihm alles erzählte, auch die fatale Strumpfgeschichte, da drückte er Karl fest die Hand und meinte:
„Diener können Sie bei mir nicht mehr spielen. Aber – Privatsekretär. Und Ihre Schwester wird bei uns Gesellschafterin. Was Lottchen betrifft, so werde ich sie in keiner Weise beeinflussen. Warten wir ab –“
Da – die Glocke begann zu rasseln. Es war die der Gartenpforte. Lehnertt und Karl eilte hinaus. Und der Hausherr flüsterte seinem bisherigen Diener zu:
„Ich danke Ihnen – des Stumpfes wegen! Sie sind ein anständiger Kerl, Herr von Schradtbach!“
Und dann – dann kam’s!
Vor der Pforte auf der Straße hielt ein Auto. Darin saß oder besser lag – der Kandidat Peter, – bis zur Bewußtlosigkeit bes… trunken. –
Der Chauffeur erklärte, ein Herr habe ihm das Fahrgeld gegeben und ihm befohlen, den Bes… trunken nach Hause, Grunewald, Delbrückstraße 115, zu bringen; es sei der Hauslehrer der Familie Lehnertt.
Herr Lehnertt und Karl waren zunächst absolut sprachlos! Dann brüllte ersterer:
„Was, das soll der Hauslehrer sein?! Meinetwegen kutschieren Sie mit dem – dem Süffke nach der nächsten Unfallstation! In mein Haus –“
„Halt,“ meinte der kluge Karl da. „Strupf und ich sind Schulkameraden. Strupf ist kein Süffke. Der muß –“
Da begann der unselige Peter zu gröhlen:
„Du – hast ja keine Ahnung, wie schön ist’s in – Berlin, – du hast ja keine –“
Und gerade jetzt nahte das zweite Auto mit der Frau Professor Strupf. Sie hörte ihres Sohnes Stimme, sprang heraus, eilte hin, sah – sah: – Es war wirklich ihr Peter!
„Peter!“ kreischte sie. „Peter – du bist ja –“
Peter hatte sich aufgerichtet, war auf den Promenadenweg getorkelt.
„Was – wer – wer sind Sie?! Wie – hupp – wie – dürfen Sie – Sie mich duzen?! Sie – Sie –“
Karl hatte ihn schon untergefaßt. „Strupf – ins Haus mit dir! Vor–wärts!“
Aber – leider tauchten gerade jetzt Lonni und Lottchen auf, die sich auf der Straßenbahn getroffen hatten. Frau Theodora erkannte ‚das verschleierte Weibsbild‛ sofort wieder.
„Ah – da – da ist ja die – die Person aus der Augsburger Straße, die mich ins Haus hineingelassen hat!“ schrie sie und flog auf Lottchen zu. „Sie – Sie haben mitgeholfen, Peter zu – zu verführen, Sie haben ihn in diesen Zustand versetzt, Sie –“
Der kluge Karl merkte, daß die Situation für seinen stillen Schwarm brenzlig wurde. Er mußte eingreifen, oder – es gab hier ein Familienungewitter bösester Art. Der Ruf Frau Theodoras war ihm bekannt. Das war eine Frau, die man nicht zu schonen brauchte.
„Es ist die Mutter des Kandidaten,“ flüsterte er Lehnertt zu. „Sie ist zuweilen nicht ganz zurechnungsfähig. Schnell – nehmen Sie den armen Menschen ins Haus. Ich werde die Frau schon loswerden.“
Lehnertt kam sich vor, als wäre er plötzlich so etwa in ein Irrenhaus geraten. Aber er tat, was von Schradtbach wollte. Er verschwand mit Peter im Garten.
„Bitte – ziehen Sie sich gleichfalls zurück,“ befahl Karl dann seiner Schwester und Lottchen und bekam die Frau Professor gleichzeitig am Arm zu packen, damit sie den jungen Mädchen nicht etwa folgte.
„Frau Professor,“ flüsterte er dann, „ich kann Ihnen nur den guten Rat geben, schleunigst nach Rostock zurückzukehren. Sie haben soeben Herrn Lehnertts Tochter gröblich beleidigt, in dem Sie sie mit der Augsburger Straße irgendwie in Verbindung brachten. Herr Lehnertt verklagt Sie fraglos, wenn er Ihren Namen erfährt. Fahren Sie mit Ihrem Auto schleunigst davon und lassen Sie sich hier nie wieder blicken. Ich werde aus alter Freundschaft für Peter schweigen –“
Und – sie fuhr davon. –
Und noch an demselben Abend beruhigte der kluge Karl das leichtsinnige Lottchen, daß nichts – nichts an den Tag kommen würde.
Und sie wieder beichtete – alles: von Gert Linden, von dem Sparbuch und weinte dabei vier Taschentücher naß.
Peter Strupf aber schlief bereits als Alkoholleiche, wachte erst am folgenden Nachmittag auf, wurde von Karl bearbeitet und – besann ich angeblich auf nichts – auf nichts mehr. –
Ein halbes Jahr später, als aus Peter Strupf mit den Wurstpellenhosen längst infolge des erzieherischen Einflusses Karls ein ‚richtig gehender Gent‛ geworden war, fand im Hause Lehnertt eine vergnügte Doppelverlobung statt, bei der Lonni mit den Grübchen und Peterlein das zweite Paar abgaben.
Auch Frau Klärchen war seit der Strumpfgeschichte mit ihrem Georg sehr zufrieden. Der ‚Massenliebhaber‛ hatte eingesehen, daß seine Klara doch noch immer die schönste und begehrenswerteste im Lande war.
In Rostock aber war gleichfalls im Herzen einer verbitterten Frau ein große Wandlung zum Besseren seit der Berliner Reise vor sich gegangen.
Als die Verlobungsanzeige eintraf, schrieb sie einen sehr herzlichen Brief an Peter und Lonni. Und sie wurde dann wirklich die beste Schwiegermutter, die man sich nur denken kann.
Portier Schmollkes Kur, die Polizeiwache und all das übrige, hatten für alle Zeiten geholfen.
Anmerkung:
[1] gepfändeten