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Die Zauberinsel (1. Auflage)

 

 

Erlebnisse einsamer Menschen

 

(Nachdruck, auch im Auszuge, verboten. – Alle Rechte vorbehalten. – Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14. 1916.)

 

Die Zauberinsel.

 

Von W. Belka.

 

„Na – nu kimm do man rut, min Jung!“ brüllte Kapitän Eschler mit seiner Donnerstimme zwischen die im Laderaum der Brigg „Marie“ aufgestapelten Kisten und Ballen hinein, indem er das Licht seiner Laterne über die gerade noch sichtbaren Beine des blinden Passagiers hingleiten ließ, den der Steuermann vorhin bei einem Revisionsgange durch das Schiff entdeckt hatte.

Doch die Beine, um die der rötliche Lichtschein spielte, wurden jetzt nur noch näher an den Leib herangezogen, und ihr Besitzer schien keinerlei Neigung zu haben, sein Versteck zu verlassen, in dem er es nun schon Wochen ausgehalten hatte, denn so lange war es her, seit die Brigg aus dem Hafen von Hamburg mit einer gemischten Ladung für Pernambuco in Brasilien abgefahren war.

Hinter dem Kapitän und dem Steuermann drängten sich einige Matrosen neugierig zusammen. Und einer von diesen sagte jetzt lachend:

„Käpt’n, hei (er) bruck ne andre Inlodung – son por Eimer Woter.“

Eschler, einem Mann in den besten Jahren mit einem blonden Vollbart und blauen, gutmütigen Augen, die nur zuweilen recht streng blicken konnten, schien dieses feuchte Mittel jedoch nicht zu gefallen.

„Jungs, räumt die Fracht weg, dann hebben wir ihn“, meinte er kurz. „Und hebben wir ihn erst, so kriegt hei das Tauend’ zu schmecken, so wahr ich Friedrich Eschler heiße!“

Die Aussicht auf diese etwas handgreifliche Begrüßung schien den blinden Passagier davon zu überzeugen, daß es am ratsamsten wäre, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Langsam kroch er jetzt, mit den Beinen zuerst, aus seinem Schlupfwinkel hervor und stand nun scheu und ängstlich vor den Seeleuten, die ihn mit lebhaftem Interesse musterten.

Ein langaufgeschossener, ärmlich gekleideter Junge war’s mit krankhaft bleichem Gesicht. Um den Mund mit den schmalen Lippen lagerte ein scharf ausgeprägter Zug von Trotz und Verbitterung, und in dem Blick war bei aller Furcht vor den Folgen seiner heimlichen Fahrt doch etwas wie ein stilles Aufbegehren gegen die angedrohte Züchtigung zu lesen.

„An Deck mit dem seltenen Vogel!“ befahl der Kapitän jetzt und verließ den Laderaum. Und hinter ihm stolperten als Gefolge der Steuermann und die Matrosen, die den Jungen in die Mitte genommen hatten, die schmalen Schiffstreppen empor. Oben auf dem Hinterdeck angelangt, wollte Eschler den blinden Fahrgast sofort ins Verhör nehmen. Aber dieser war durch den wochenlangen Aufenthalt in dem dumpfen, finstern Loch derart entkräftet, daß er hier an der frischen Luft ganz plötzlich ohnmächtig zusammenbrach.

„Kein Wunder!“ knurrte Eschler schon halb mitleidig. „Der Bengel mot (muß) jo de ganze Tid (Zeit) getrocknete Plumen und rohen Reis gefreten hebben. Bringt ihn ins Logis (Mannschaftskajüte)! Und wenn hei wedder zu sich gekommen is, findt sich das Weitere.“

Ein kleines, blondes Mädelchen von vielleicht acht Jahren drängte sich da durch den Kreis der Matrosen hindurch und haschte nach des Kapitäns brauner Hand.

„Vater, bitte, bitte, laß den armen Knaben, der sicher recht krank ist, doch in die leere Kammer neben der meinen tragen“, bat sie mit ihrem hellen Kinderstimmchen. „Ich will ihn pflegen, bis er gesund ist. Und dann soll er mit mir spielen. Der Peter, unser Schiffsjunge, ist ein garstiger Bursche und spielt nie mit mir. Bitte, Vater, tu’s doch! Die Mama, die jetzt oben im Himmel ist, hätte sicherlich auch für ihn gebeten.“

Eschler strich zärtlich über den blonden Lockenkopf seines einzigen Kindes hin, das er auf dessen heißes Flehen jetzt zum ersten Mal mit auf eine Seereise genommen hatte. Die durch sein über alles geliebtes Lottchen wachgerufene Erinnerung an die vor einem Jahre verstorbene Gattin gab bei ihm den Ausschlag. Und so wurde Heinrich Marauke wirklich in der Kammer untergebracht. Das Tauende fand keine Arbeit bei ihm. Im Gegenteil – als Kapitän Eschler erst des armen Jungen Lebensgeschichte gehört hatte, beschloß er, auch weiter für den aufgeweckten Knaben, der schon nach drei Tagen sich vollkommen erholt hatte, zu sorgen. –

Heinrich Marauke war nach dem Tode seiner in ärmlichen Verhältnissen lebenden Eltern zu einer entfernten Verwandten in Pflege gegeben worden. Dort wuchs er auf, ohne je ein freundliches, liebes Wort zu hören. Schläge und rohe Schimpfworte waren die einzigen Erziehungsmittel, die ein hartherziges Weib an ihm versuchte. Alle guten Keime mußten hierdurch in dem heranwachsenden Kinde erstickt werden. Dann hatte er vor etwa einem halben Jahre, als seine Pflegemutter ihn abermals in brutalster Weise züchtigte, sich zur Wehr gesetzt und in einem Zustande von sinnlosem Zorn der Frau den Arm zerkratzt. Die Folge war, daß er einer Fürsorgeerziehungsanstalt übergeben wurde, wo er sich jedoch nur noch unglücklicher fühlte und schließlich entfloh. Zu Fuß wanderte er nach Hamburg und schlüpfte hier in einem unbewachten Augenblick in den Laderaum der segelfertig im Hafen liegenden Brigg „Marie“, wo er sich zwischen den Kisten und Ballen verbarg und sich von den Sachen nährte, die in einigen der Stückgüter des Schiffes enthalten waren. Nur des Nachts schlich er zuweilen an Deck und verschaffte sich aus der Kombüse (Küche) das nötige Trinkwasser. – – Bereits eine Woche nach seiner Entdeckung durch den Steuermann war er der allgemeine Liebling an Bord. Überall machte er sich nützlich, und zu jeder Arbeit war er zu gebrauchen. Ausgestattet mit einem trotz der entbehrungsreichen Jugend recht kräftigen und geschmeidigen Körper, besaß er außerdem eine selten schnelle Auffassungsgabe und viel praktischen Sinn. Bescheiden in seinem Auftreten und dankbar für jede geringe Freundlichkeit, bezeigte er Kapitän Eschler gegenüber eine geradezu rührende Anhänglichkeit, die besonders in seiner steten Fürsorge für dessen Töchterlein zum Ausdruck kam. Die beiden Kinder hatten sich bald miteinander angefreundet, und die kleine Lotte konnte sich kaum einen prächtigeren Spielgefährten denken als ihren „Heini“, wie sie Heinrich nach ihrem Geschmack umgetauft hatte.

Die Brigg war bisher vom Wetter außerordentlich begünstigt worden. Erst als man den Äquator passiert hatte, traten starke Nebel und Windstille auf, die es dem Kapitän tagelang unmöglich machten, die Lage seines Schiffes, das durch die Meeresströmungen trotz des fehlenden Windes weitergetrieben wurde, näher zu bestimmen. Am fünften dieser halbdunklen Tage, an denen die Brigg ständig von dichten, wallenden Nebelschleiern umgeben war, fiel dann das Barometer so plötzlich, daß der Kapitän mit dem Herannahen eines gefährlichen Sturmes rechnete und alle Vorkehrungen treffen ließ, um den Elementen mit Erfolg trotzen zu können. Nachmittags gegen fünf Uhr heulten die ersten Windstöße über die See hin, der Nebel zerflatterte und die „Marie“ legte sich vor den ersten Vorboten des Orkanes mit prall gefüllten Sturmsegeln auf die Seite, um sich aber sofort wieder aufzurichten und wie ein angesporntes Rennpferd durch die schnell höher und höher werdenden Wogen dahinzuschießen. Schwarzes Gewölk stand am Himmel, und die Dunkelheit nahm von Minute zu Minute zu. Regenschauer prasselten herab, wie man sie in solcher Stärke nur in den Tropen erlebt. Aber die Brigg, ein erst vor wenigen Jahren auf einer Hamburger Werft erbautes Schiff, hielt sich vorzüglich. Drei Stunden währte das Unwetter nun schon, und Kapitän Eschler hoffte bestimmt, daß der Sturm bald etwas nachlassen werde. Wirklich nahm die Kraft der Windstöße langsam ab. Die Matrosen, die bisher alle Hände voll zu tun gehabt hatten, atmeten erleichtert auf. Leider zu früh …! Wieder kam eine wahre Sintflut vom Himmel herab, und diese Wassermassen, die gleichsam aus Eimern ausgeschüttet wurden, ließen die Umgegend keine zehn Schritte weit erkennen und übertönten auch das Geräusch einer Brandung, die gerade in der Fahrtrichtung des Seglers tobte. Als Kapitän Eschler das Donnern der gegen die Felsen anrennenden Wogen endlich hörte, war das Unheil nicht mehr aufzuhalten. Ein furchtbarer Stoß erschütterte die Brigg, und gleichzeitig brachen schwere Sturzseen über das tief liegende Vorschiff herein, schlugen die beiden Rettungsboote in Trümmer und rissen das Kompaßhäuschen weg.

Kaum zwei Minuten später hatte der Kapitän sein Töchterchen und Heinrich Marauke mit Rettungsringen versehen.

„Gib auf mein Kind acht, Junge!“ rief er dem Knaben noch zu und stürmte dann davon, um auch für die Besatzung zu sorgen.

Ängstlich zusammengeduckt hockten die beiden Spielgefährten im Schutze des Kajütaufbaues. Die kleine Lotte weinte bitterlich und hatte ihr Gesichtchen furchtsam in den Falten von Heinis Jacke verborgen.

Dann nahte eine neue, riesige Welle, ein wahrer Wasserberg, heran. Der Steuermann machte Heinrich durch Zeichen klar, sich gut festzuhalten. Und nun geschah das Furchtbare: Die mächtige Woge riß die Kinder über Bord, hob aber gleichzeitig auch die Brigg von der verborgenen Klippe wie ein Papierschifflein herab und trieb sie in Nacht und Dunkelheit davon.

Heinrich hatte seine kleine Freundin nicht losgelassen. Mit aller Kraft hielt er sie, die ebenso wie er in einen Rettungsring eingebunden war, umklammert. Blitzschnell war die Woge über sie gekommen und trug sie nun auf ihrer Spitze wie ein ungeheures Reittier über den Klippengürtel eines ihnen noch unsichtbaren Felseneilandes hinweg, landete sie in etwas ruhigerem Wasser und ermöglichte es dem Jungen auf diese Weise, dem jetzt wie eine dunkle Wand vor ihm auftauchenden Ufer der Insel zuzuschwimmen. Doch auch hier ging die vom Sturm gepeitschte See noch beinahe haushoch, so daß Heinrich sehr bald in diesem Kampf gegen die zurück flutenden Wassermassen der Brandung ermüdete und bereits den sicheren Tod vor Augen glaubte, als eine zweite Riesenwoge abermals ihn und das kleine Mädchen ergriff und beide weit vorwärts auf das steinige Gestade warf. Eine wohltätige Ohnmacht umfing hier die Sinne der bedauernswerten Kinder, da der rettende Wasserberg sie mit allzu großer Wucht dem festen Lande übergeben hatte. – –

Stunden waren vergangen. Der Tag brach an. Über den jetzt wieder völlig klaren Himmel zuckten die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne hin. Da bewegte sich Heinrich, reckte die Arme, hob den Kopf. Und dann saß er mit einem Ruck aufrecht, blickte verwundert um sich. Neben ihm ruhte auf einem Haufen von trockenem Seetang die kleine Lotte. Um ihr blasses Gesichtchen hingen die noch feuchten blonden Locken wirr herum, und – wahrhaftig! – Da … an ihrem linken Arm trug sie einen Verband aus weißer Gaze, aus dem dünne weiße Brettchen herausragten. Sofort schoß dem Knaben der Gedanke durch den Kopf, daß sie sich den Arm gebrochen, irgend jemand sie inzwischen sorgfältig verbunden und das Glied kunstgerecht geschient haben müsse. – Und weiter sagte er sich, daß die letzte große Woge sie niemals bis hierher getragen haben könne, – bis an diese vor dem Winde durch einige Felsen geschützte Uferstelle, die gut hundert Meter vom Wasser entfernt lag. Nein, derselbe Wohltäter hatte sie an diesen Platz, gebracht und auch das Lager aus den verdorrten Seepflanzen für sie zurecht gemacht.

Wieder blickte Heinrich sich um. Aber er sah nichts als die noch immer recht bewegte unendliche Wasserfläche, die Brandung an dem Klippengürtel und ringsum die trostlosen, grauen Felsen des Gestades, die sich weiter landeinwärts immer höher türmten und eine schroffe Bergkette bildeten. Von einem Menschen entdeckte er keine Spur. Und doch war es ganz sicher, daß die Vorsehung ihnen hier einen unbekannten Freund und Helfer in den Weg geschickt hatte. Wenige Schritte neben ihrem Lager bemerkte er ja jetzt auch ein Häuflein Nahrungsmittel: kleine Brote von der Form einer flachen Semmel, reife Bananen, zwei geöffnete Kokosnüsse, in denen sich noch die erfrischende Kokosmilch befand, ferner auf großen Blättern liegend geröstete Fleischstücke und in einer leeren Konservenbüchse klares Trinkwasser!

Heinrich hatte sich, um diese Herrlichkeiten aus nächster Nähe bewundern zu können, erheben müssen. Jetzt erst fühlte er, wie sehr ihn alle Glieder schmerzten und wie steif seine Gelenke waren. Doch einige rasche Bewegungen machten diesen Zustand schon bedeutend besser. Er bückte sich und griff nach einer Banane. Aber schnell zog er die Hand wieder zurück, eilte zu der kleinen Lotte hin, weckte sie zart und erklärte der sofort in heiße Tränen Ausbrechenden, daß nun jede Gefahr vorüber sei und ein gütiger Unbekannter aufs beste vorläufig für sie gesorgt habe.

„Ganz still mußt Du liegenbleiben, Lottchen, ganz still“, bat er. „Du bist krank, vergiß das nicht! Aber der Arm wird schnell wieder heil werden. – Wo wir uns befinden? – Das weiß ich nicht. Aber nachher will ich mich hier einmal genauer umsehen, wenn wir gegessen haben. Ich verspüre schon rechten Hunger.“

Dann schichtete er den Seetang anders auf, so daß sie nun halb sitzend dalag. Dankbar lächelte sie ihn an, als er ihr die erste geschälte Banane und hinterher noch Fleisch, Brot und ein paar Schlucke von der süßen Kokosmilch reichte. Wie ein Krankenpfleger umsorgte er sie, genau so, wie sie ihn damals in der engen Kammer an Bord der Brigg gehegt hatte. Jedenfalls schmeckte es ihr prächtig, und als Heinrich sie nun fragte, ob der Arm ihr sehr wehtue, schüttelte sie tapfer das Köpfchen und meinte. „Ich werd’s schon aushalten, Heini. Ich bin doch die Tochter eines mutigen Seemannes!“

Da wurde er ganz froh, als er sie so verständig sah. Er begann nun von dem Schicksal der Brigg und deren Besatzung zu reden. Einmal würde er ja doch von dem Kinde danach gefragt werden. So sprach er denn seine Überzeugung dahin aus, daß die „Marie“ bei dem Aufrennen auf die Klippe kaum schwerer beschädigt worden sein könne, da sie so leicht nachher wieder in freies Wasser abgetrieben wäre. Und selbst wenn sie ein Leck gehabt hätte, würde man sie mit Hilfe der Pumpen längere Zeit über Wasser halten können. Die Leute auf der Brigg befänden sich mithin außer jeder Gefahr, und Lottchen brauche sich um ihren Vater nicht weiter zu ängstigen.

Der Kleinen Gesicht hellte sich noch mehr auf. Ihr erschien dieser halbe Schiffbruch jetzt schon wie ein recht hübsches Abenteuer. Ganz fröhlich plapperte sie mit dem langaufgeschossenen Spielgefährten und meinte, sie befänden sich hier rein wie im Zauberlande, wo dienstbare Geister ihnen ein Bett und ein Tischlein deck’ dich hergerichtet hätten. Bald wurde sie jedoch müde, ließ sich von Heinrich mit dessen Jacke zudecken und versprach ganz fest zu schlafen, bis er von seinem geplanten Ausflug landeinwärts zurückgekehrt sei. Als sie eingeschlummert war, nahm der Junge nochmals eine genaue Besichtigung der Umgebung vor. Hierbei entdeckte er zunächst die beiden Rettungsringe, die etwas näher nach dem Strande zu lagen. Dann untersuchte er die Örtlichkeit daraufhin, ob dem Mädelchen, das nunmehr seiner Obhut allein anvertraut war, irgend eine Gefahr während seiner Abwesenheit drohen könne. Die Stelle, wo die mächtige Woge sie beide ans Land geworfen hatte, war nur vom Wasser und den felsigen Bergen aus zugänglich. An den beiden anderen Seiten bildeten die aufeinander getürmten Felsbrocken förmliche Mauern, die gänzlich unersteigbar waren. So konnte er sich denn mit gutem Gewissen auf den Weg machen, ohne für der Kleinen Sicherheit irgend welche Besorgnisse hegen zu brauchen.

Aber welch’ mühsame Kletterpartie stand ihm nun bevor! Es dauerte eine gute Stunde, bevor er nach vielen Umwegen und gefahrvollem Überwinden vieler Hindernisse endlich den höchsten Kamm der etwa siebzig Meter hohen Uferberge erstiegen hatte. Mit vor Anstrengung keuchender Brust blieb er dann eine Weile stehen und betrachtete staunenden Blickes das eigenartige Panorama, das sich ihm von hier aus darbot. Zu seinen Füßen lag eine fast kreisrunde Insel von kaum eineinhalb Meilen Durchmesser. Rings von zackigen Felshügeln umgeben, die sich nach dem Innern zu in mehreren Terrassen allmählich senkten, bildete ihre Mitte ein entzückendes landschaftliches Bild mit Palmenhainen, grünen Wiesenstreifen, dunklen Wäldern aus Nadelbäumen und niedrigen Gebüschgruppen. Sogar der blinkende Spiegel eines seeartigen Wasserbeckens leuchtete zwischen den Bäumen auf. Doch vergebens schaute er sich nach einer menschlichen Behausung um. Zwar schien es ihm, als ob er in der Ferne ein paar Tiere weiden sah, aber genau vermochte er nicht zu sagen, ob seine Augen ihn nicht täuschten. Dagegen erkannte er ganz deutlich, daß nach Norden zu noch zwei weitere, kleinere Eilande lagen, über denen eine Unmenge von Seevögeln kreisten. Diese Inselchen bestanden ohne Zweifel aus nacktem Fels und waren von ihrer größeren Nachbarin nur durch eine wenige hundert Meter breite Wasserstraße getrennt.

Kurz entschlossen begann der kühne Knabe jetzt den Abstieg nach dem Innern der Insel zu. Dieser war bedeutend leichter zu bewerkstelligen als der Aufstieg von der Uferseite her. In zehn Minuten hatte Heinrich die letzte der Felsterrassen hinter sich und betrat einen Palmenhain, der sehr bald in dichtes Gebüsch von allerhand ihm fremden Straucharten überging. Hier und da bemerkte er kaninchenartige Tiere, die bei seinem Nahen blitzschnell in ihren Löchern verschwanden. Immer weiter drang er vor, bis ein großes, von einem aus Zweigen geflochtenen Zaun umfriedetes Haferfeld ihm den Weg versperrte. Also mußte diese Insel bewohnt sein und zwar von Leuten, die hier schon längere Zeit ansässig waren. Das Haferfeld zeigte das deutlich genug. – Nachdenklich blieb er abermals stehen. Er war bereits geistig genügend reif, um sich darüber klar zu werden, daß das Verhalten dieser Inselbewohner, die für ihn und seine kleine Gefährtin bereits so liebevoll gesorgt hatten, zum mindesten recht merkwürdig war. Weshalb hatte sich die Person, die Lottchens Arm so kunstgerecht verbunden und auch die Nahrungsmittel herbeigeschafft hatte, nicht wieder blicken lassen?! Weshalb waren diese Liebesdienste in solcher Heimlichkeit vorgenommen worden?! – Das mußte doch irgend einen Grund haben! Aber welchen – welchen?! –

So setzte er denn seinen Weg fort, umging das Haferfeld und gelangte in kurzem an das Ufer des Sees. Hier erblickte er auf einer nahen Wiese einige Ziegen, die ruhig die frischen Gräser abrupften und kaum den Kopf nach ihm hinwendeten, als er an ihnen vorüberschritt.

Zwei Stunden später machte er sich auf den Rückmarsch, nachdem er die Insel ganz umsonst nach einer menschlichen Wohnung abgesucht und zu diesem Zweck sogar die höchste der östlichen Felsterrassen erklettert hatte. Auch Fußspuren waren nirgends zu bemerken. Dafür entdeckte er aber einige weitere Dinge, die das Bewohntsein dieses Eilandes deutlich verrieten: ein eingezäuntes Reisfeld und eine ganze Menge von Tierfallen, die aus starken, federnden Ästen und Schlingen aus Eisendraht hergestellt waren. Und doch: keine Menschenseele hatte er zu Gesicht bekommen! Manches laute „Hallo!“ war aus seiner Kehle gedrungen. Eine Antwort blieb aus. Da kehrte er niedergeschlagen um, fest davon überzeugt, daß die Insel irgend ein seltsames Geheimnis berge. –

Um die Mittagszeit langte er wieder am Westufer an. Seine kleine Gefährtin schlief noch fest, ermunterte sich aber schnell, als er ihren Namen rief. Neugierig ließ sie sich von ihm berichten, was er indessen erlebt hatte. Wie zwei alte, verständige Leute besprachen sie dann ihre Lage und beschlossen, sofort gemeinsam nach den schönen Palmenhainen und frischen Wiesen aufzubrechen. Darüber, daß die Bewohner der Insel sich nicht sehen ließen, machte sich Lottchen keine Gedanken. – „Wir werden sie schon finden, Heini“, meinte sie altklug. „Vielleicht sind die Leute zum Fischfang auf die See hinaus. – Doch jetzt zeige mir den Weg. Ich will die Ziegen sehen und die Kaninchen und den See. Ach, Heini, herrlich finde ich das alles hier. Der Papa hat mir mal ein Buch vorgelesen, es hieß Robinson Krusoe, und jetzt sind wir auch beinahe solche Robinsons!“

Der große Junge lächelte ein wenig – nur um sie bei guter Laune zu erhalten. In Wirklichkeit ließen ihn die Gedanken an das merkwürdige Verhalten der Inselbewohner nicht los. Und – wie er das schwache Mädelchen mit dem gebrochenen und geschienten Arm über die Uferberge bringen sollte, machte ihm noch bösere Kopfschmerzen. Trotzdem wagte er den Versuch. Sorgfältig benutzte er nur die bequemsten Stellen zum Aufstieg, stützte und hob das Mädelchen von Stein zu Stein, bis sie endlich die Höhe glücklich erreicht hatten. Stundenlang durchstreiften sie dann noch die Insel nach allen Richtungen hin, pflückten sich Bananen, tranken aus einer Quelle, die sie dicht am Seeufer fanden, und freuten sich über die bunten Papageien, die in den Bäumen kreischten und lärmten.

Dann wurde die Kleine stiller und stiller. Besorgt fragte Heinrich, ob ihr etwas fehle. Tränen perlten ihr da aus den Augen.

„Der Kopf ist mir so schwer – so sehr schwer, Heini. Und die Beine wollen gar nicht mehr weiter“, meinte sie mit matter Stimme.

Schnell nahm er sie auf die Arme und trug sie zurück nach der obersten der östlichen Felsterrassen, wo sie vorhin eine kleine Höhle entdecke hatten. Dort wollten sie für die Nacht bleiben. Und eilig holte der Junge nun trockenes Gras herbei und bereitete der kleinen Gefährtin ein weiches Lager. Müde streckte sie sich darauf aus und war in wenigen Minuten eingeschlafen. –

Dann kam die Nacht. Lottchen warf sich unruhig auf ihrem Lager hin und her. Oft schrie sie ängstlich auf, sprach allerhand verworrenes Zeug und atmete schwer und keuchend. Heinrich fand keinen Schlaf. Er saß neben ihr in der tiefen Dunkelheit, hielt ihre gesunde, aber fieberheiße Hand in der seinen und hatte nur einen Wunsch: daß es bald hell werden möchte. Einmal während dieser bangen Stunden war es ihm, als ob er draußen vor der Höhle leise, schleichende Schritte vernahm. Da begann sein Herz schneller zu schlagen, und seine Rechte tastete nach einem der schweren Steine, die er sich als Verteidigungswaffen für alle Fälle zurechtgelegt hatte. Aber da die kleine Kranke gerade in ihren Fieberphantasien laut nach Wasser rief, hörte er nichts weiter.

Wasser …?! Wo sollte er dieses jetzt hernehmen?! Hatte er doch die Konservenbüchse, in der ihr Schutzgeist ihnen das erfrischende Naß gebracht hatte, leichtsinnigerweise am Strande zurückgelassen.

Endlich graute der Morgen. Nachdem es dann ganz hell geworden war, räumte der Knabe die Steinmauer vor dem Höhleneingang soweit weg, daß er gerade ins Freie schlüpfen konnte. Wer aber beschreibt sein Erstaunen, als er auf einem flachen Felsen in nächster Nähe drei mit Trinkwasser gefüllte Konservenbüchsen fand, die durch Einfügen von starken Drahtbügeln zu kleinen Wassereimern umgestaltet waren. Schleunigst reichte er nun seiner Gefährtin, die matt und blaß auf ihrem Lager ruhte, einen erfrischenden Trunk. Auf seine teilnehmende Frage, ob er ihr vielleicht auch ein paar Bananen holen solle, nickte sie nur schwach. So eilte er denn schleunigst dem ersten Palmenwäldchen zu, wo auch zahlreiche Exemplare dieser nützlichen Pflanze vorkamen. Immerhin brauchte er gut zwanzig Minuten, bevor er wieder reich beladen bei der Höhle anlangte. Hier empfing ihn die kleine Lotte sofort mit der Nachricht, daß der unbekannte Schutzgeist inzwischen bei ihr gewesen sei, den Verband des Armes nachgesehen und ihr auch ein Pulver eingegeben habe, wonach sie sogleich frischer und klarer im Kopf geworden sei. Neugierig wollte der Junge natürlich allerlei Einzelheiten wissen. Doch das Mädelchen vermochte nicht viel zu erzählen. In der dunklen Höhle hatte sie das Gesicht des fremden Mannes nur ganz undeutlich erkannt, und gesprochen hatte dieser zu ihr nur wenige, leise Worte in deutscher Sprache. Dafür habe er aber für Heinrich einen Zettel zurückgelassen, der dort mehr im Vordergrunde der Höhle liegen müsse.

Gespannt suchte der Junge sogleich nach dieser schriftlichen Mitteilung, die er auch bald auf einem Steine fand. Es war ein offenbar aus einem größeren Notizbuche herausgerissenes Blatt. Darauf stand folgendes in deutscher Sprache mit Bleistift geschrieben:

„Die östliche Hälfte der Insel zu betreten verbiete ich Euch! Seid Ihr ungehorsam, so werde ich für Euch nicht weiter sorgen. Bis zur Quelle am See dürft Ihr Eure Ausflüge ausdehnen. – Nach zwei Stunden werdet Ihr an der westlichen Ecke des Haferfeldes allerlei Eßwaren und ein paar Decken vorfinden, ferner ein Beil zum Aufschlagen der Kokosnüsse und sechs in Papier gewickelte Pulver. Von diesen Pulvern erhält das kleine Mädchen morgens und abends je eins in Wasser. Ich rechne auf Eure Dankbarkeit. Sucht nicht zu ergründen, wer ich bin. Euer Gehorsam wäre der beste Lohn für mich.“ –

Als Heinrich diese seltsamen Sätze seiner kleinen Freundin vorgelesen hatte, sagte sie nur mit glücklichem Kinderlächeln:

„Siehst Du, Heini, – wirklich wie im Zauberlande ist es hier! Weißt Du, wie wir die Insel daher nennen wollen …? –: „Zauberinsel“!“

Noch lange plauderten sie über den gütigen, geheimnisvollen Fremden und rieten hin und her, wer es wohl sein könne und aus welchem Grunde der Mann sich so ängstlich verborgen halte. Doch sie fanden keine einleuchtende Erklärung. Für sie blieb ja auch das Eine die Hauptsache, daß der Unbekannte ohne Frage ein liebevolles, gutes Herz besitzen müsse. – Dann schlief Lottchen wieder ein, und der Junge durchstreifte nun die Terrassen in der Nähe um zuzusehen, ob er nicht eine bequemere und größere Höhle fände, die sich zur ständigen Wohnung besser eigne. Wirklich entdeckte er dann einige hundert Meter nach Norden zu in einer Felswand eine hohe, luftige Grotte, die nur auf einem schmalen, natürlichen Pfade zu erreichen war, ganz versteckt lag und einen glatten Steinboden besaß. – Inzwischen waren die zwei Stunden reichlich verstrichen, und der Knabe begab sich nach dem Haferfelde hin, um die angekündigten Sachen abzuholen. Zu seiner freudigen Überraschung war die Spende des Unbekannten jedoch weit reichlicher ausgefallen, als er dies anfänglich vermutet hatte. Außer dem Beile lagen noch sauber auf einer Decke ausgebreitet zwei Pakete langer Nägel, ein Hammer, eine kleine Säge, ein starkes Messer und zwei Knäuel Bindfaden von verschiedener Stärke, ferner drei Schachteln Zündhölzer, ein Kochtopf aus Eisen und zwei Blechlöffel. Unter den Nahrungsmitteln befanden sich wieder geröstete Fleischstücke, mehrere von den kleinen Broten, eine Anzahl Reiskuchen, eine Konservenbüchse mit Salz, ein kleiner Sack Reis und sogar eine Büchse mit Zucker. Jedenfalls mußte Heinrich den Weg nach der neuen Grotte zwei Mal hin und zurück machen, um all diese Schätze fortzuschaffen.

In den folgenden Tagen ereignete sich nichts von Wichtigkeit. Das kleine Mädchen erholte sich zusehends und war bald dem Freunde bei dessen Arbeiten behilflich, so gut dies mit dem einen Arme anging. – Heinrich setzte seinen Ehrgeiz darin, die Grotte möglichst behaglich und auch praktisch einzurichten. Aus starken Ästen baute er eine Wand vor dem Eingang, in der er nur eine Tür- und eine Fensteröffnung freiließ. Unter einem nahen, überhängenden Felsen wieder stellte er aus Steinen einen Herd her, so daß sie schon am dritten Tage eine aus gekochtem und gesüßtem Reis bestehende warme Suppe als Mittagsmahl verspeisen konnten. In der Hauptsache aber bestand ihre Nahrung aus Bananen und dem Fleisch der Kokosnüsse. –

Eine Woche war so vergangen. Das Wetter blieb klar und schön, und die Kinder gediehen bei dem steten Aufenthalt in der frischen Luft ganz prächtig. Hin und wieder erstiegen sie auch die höchste Spitze der östlichen Uferberge und schauten auf die weite See hinaus. Aber nur ein Mal erblickten sie in weiter, weiter Ferne die Rauchsäule eines Dampfers. Trotzdem machten sie sich über ihre Zukunft keine Sorgen. Sie rechneten bestimmt damit, daß Kapitän Eschler eines Tages mit der Brigg erscheinen und sie abholen werde. – Inzwischen hatte Heinrich, um den Eingang zu der Grotte noch besser zu verdecken, vor derselben einige Sträucher eingepflanzt, nachdem er in der Decke eine starke Schicht fruchtbarer Erde herbeigeschafft hatte, die er dann mit sauber ausgestochenen Rasenstücken belegte. Ebenso war um den Herd herum von ihm ein Wall von Steinen aufgeschichtet worden, so daß selbst aus der Nähe niemand gewahr werden konnte, daß an dieser Stelle Menschen ihre Wohnstätte aufgeschlagen hatten.

Dann fand er eines Morgens vor der Grotte einen neuen Zettel vor, der auf einen Haufen von allerlei Lebensmitteln gelegt war. Diese abermalige schriftliche Nachricht besagte, die Kinder sollten in den nächsten Tagen ihre Höhle nur nach Eintritt der Dunkelheit verlassen, da ein Schiff mit einer aus grausamen Negern bestehenden Besatzung vor der Insel ankere. Sobald alles wieder sicher sei, würden sie hiervon Mitteilung erhalten.

Das kleine Mädelchen zeigte sich infolge dieser Warnung höchst erschrocken, ließ sich aber von dem Freunde bald wieder beruhigen. Tatsächlich beobachtete Heinrich Marauke dann schon um die Mittagszeit durch die vor der Grotte stehenden Büsche hindurch einige recht zerlumpte Neger, die sich auf der Insel umhertrieben, Früchte einsammelten und auf die Kaninchen – denn daß es wirklich Kaninchen waren, hatte der Knabe inzwischen an einigen in die Fallen geratenen Tieren festgestellt – Jagd machten. Die Schwarzen verschwanden jedoch nach einigen Stunden wieder, tauchten aber auch an den folgenden Tagen wiederholt noch auf, so daß Heinrich erst immer spät abends nach der Quelle sich hinschleichen konnte, um Trinkwasser zu holen und damit für sich und die kleine Lotte eine Reissuppe zu kochen. Während es noch hell war wagte er es nicht ein Feuer anzuzünden, da er den verräterischen Rauch fürchtete. – Am vierten Tage nach dem Erscheinen dieser unbequemen Gäste trieb die Neugier den Knaben dann gleich nach Anbruch der Morgendämmerung auf die östlichen Uferberge. Sorgfältig stets hinter Felsstücken Deckung nehmend, erreichte er unangefochten die Höhe. Inzwischen war es bereits hell genug geworden, um einen großen Dreimaster erkennen zu können, der an einem der benachbarten Felseneilande in einer Bucht vor Anker lag. Zwei Stunden blieb Heinrich auf diesem Beobachtungsposten und bemerkte so, wie eine ganze Menge von Leuten eifrig mit irgend welchen Erdarbeiten beschäftigt war und wie anscheinend die losgeschaufelte Erde mit Hilfe von Schiebkarren nach dem Schiffe geschafft wurde. Als dann jedoch ein Boot von dem Dreimaster abstieß und auf die Ostküste der „Zauberinsel“ zuhielt, zog es der unternehmungslustige Knabe doch vor, schleunigst wieder nach der Grotte zurückzukehren, wo ihn seine kleine Freundin schon sehnsüchtig erwartete. An demselben Tage stellte er noch fest, daß die Besatzung des Segelschiffes nicht ausschließlich aus Farbigen bestand, da dieses Mal sich auch drei mit Gewehren bewaffnete Weiße an der Kaninchenjagd beteiligten.

Dieses Erscheinen des Dreimasters bei der kleinen Inselgruppe hatte zwei wichtige Ereignisse zur Folge, die auf die späteren Schicksale der beiden Kinder einen entscheidenden Einfluß haben sollten. Zunächst überlegte sich Heinrich das merkwürdige Verhalten ihres geheimnisvollen Beschützers nochmals ganz genau. Er sagte sich, daß der Unbekannte einen zwingenden Grund haben müsse, hier auf dem Eiland in völliger Verborgenheit zu leben, und daß jener vielleicht auch die Warnung vor den Leuten des Seglers, unter denen sich doch auch Weiße befanden, nur deshalb ihnen mitgeteilt habe, um eine Zusammenkunft mit den Matrosen zu verhüten, bei der sie diesen dann ohne Frage etwas von dem rätselhaften Bewohner der Zauberinsel erzählt hätten. Mithin schien es so, als ob der Fremde durch ganz besondere Umstände dazu gezwungen war, seine Anwesenheit hier ängstlich zu verheimlichen. Und diese Umstände konnten wieder nur in Vorfällen aus der Vergangenheit ihres Schutzgeistes bestehen, durch die dieser sich erbitterte Feinde geschaffen hatte, vor denen er sich sorgfältig zu verbergen trachtete. – Diese Erwägungen, die dem Scharfsinn des vierzehnjährigen Jungen das beste Zeugnis ausstellten, weckten gleichzeitig bei ihm ein gewisses Mißtrauen gegen den Unbekannten und den heißen Wunsch herauszubekommen, wer dieser Fremde eigentlich war und wo er hier auf dem Eiland hauste. Gewiß – die Dankbarkeit drängte diese Neugier zunächst noch zurück. Aber gerade die vielen langweiligen Stunden, die Heinrich während des Besuches des Dreimasters in der Grotte verleben mußte, führten seine Gedanken immer wieder zu diesem Punkt zurück, so daß er schließlich einen ganzen Plan in seinem Innern entwarf, wie er das Geheimnis, das ihren Beschützer umgab, etwas lüften könne. – Dies war die eine Folge des Auftauchens des großen Seglers. Die zweite aber hing damit zusammen, daß der fürsorgliche Schutzgeist ihnen mit einer neuen Spende von Nahrungsmitteln auch eine einfache Tranlampe und eine große Flasche Tran hatte zukommen lassen. Diese Lampe nun ermöglichte es dem Knaben trotz ihrer bescheidenen Leuchtkraft, auch den Hintergrund der Wohnhöhle, die sich als niedriger Spalt noch tiefer in die Felswand hineinzog, genauer zu untersuchen. Es war am fünften Tage nach dem Erscheinen des Segelschiffes, als Heinrich seiner kleinen Freundin am Nachmittag die Absicht kundtat, er wolle jetzt einmal tiefer in den engen Felsgang eindringen um zuzusehen, ob dieser nicht in eine zweite Höhle einmünde. Auf diese Vermutung war er nämlich dadurch gekommen, daß aus der Felsspalte stets ein recht kühler Luftstrom hervordrang. Das Mädelchen, immer um das Wohl des großen Freundes ängstlich besorgt, suchte ihm dieses Vorhaben eifrig auszureden. Doch Heinrich blieb fest und meinte, sie möge ihn doch begleiten. Vielleicht bekämen sie ganz interessante Dinge zu sehen. Lottchen war nun sofort einverstanden. Nachdem dann die Lampe aufs neue gefüllt war, mußte die Kleine das Beil als Waffe für alle Fälle mitnehmen, während der Knabe mit der Leuchte vorankriechen wollte. Doch bevor er noch in dem dunklen Felsgang untertauchte, gab es noch einen kurzen Aufenthalt, da Lottchen ihn auf ein paar Zeichen aufmerksam machte, die über der Mündung des niedrigen Ganges in die glatte Rückwand der Grotte eingemeißelt und die den Kindern bisher entgangen waren. – Ganz dicht hielt Heinrich jetzt die Lampe mit dem brennenden Docht an diese Stelle des grauen Gesteins heran. Die Zeichen bestanden in einem etwa fünfzig Zentimeter langen Pfeil, dessen Spitze nach unten zeigte und unter dem die Zahl dreißig in römischen Ziffern deutlich zu erkennen war. Unter dieser Zahl war wieder ein zweiter Pfeil zu sehen, der wagerecht lag und mit der Spitze nach Osten wies. Etwa in der Mitte des Pfeilschaftes war die Ziffer zehn eingemeißelt. – Heinrich wußte nicht recht, was er aus diesem Zeichen machen sollte. Daß sie einen bestimmten Zweck hatten, war ihm sofort klar. Aber welchen? – Grübelnd stand er da und überlegte hin und her. Schließlich war es dann Lottchen, seine tapfere, kleine Gefährtin, die ihn darauf brachte, daß der obere Pfeil doch beinahe genau auf die Mündung des Felsganges hindeute, und die Hoffnung aussprach, man würde vielleicht in dem Gange selbst weitere ähnliche Zeichen vorfinden, die die Absicht desjenigen, der sie hier im Gestein verewigt habe, näher erläutern könnten. – Nun, diese Hoffnung erfüllte sich nicht, wie die Kinder bald feststellten. In der allmählich breiter und auch höher werdenden Spalte waren keinerlei Spuren eines von Menschenhand geführten Meißels zu entdecken. Dafür aber gelangten die beiden kleinen Robinsons nach etwa zehn Metern wirklich in eine zweite, geräumige Grotte, in der mancherlei Überraschungen ihrer warteten. In einer Ecke dieser fast genau quadratischen Höhle standen einige Kisten, auf die Heinrich nun sofort lossteuerte. Die Kisten waren aus starkem, nachgedunkeltem Eichenholz gefertigt und mit altertümlichen Eisenzieraten beschlagen, jedoch unverschlossen. Und in ihnen lagen allerlei Gegenstände, die die Kinder nun unter stets erneuten Ausrufen des Erstaunens einzeln herausnahmen und nebenbei auf dem Boden aufschichteten. Da gab es Säbel, Degen und Dolche von mannigfacher Form, ferner Steinschloßflinten und -pistolen, weiter allerlei reichgestickte Gewänder und Mäntel, Ledersäcke voll grobkörnigen Pulvers und Bleikugeln, Fernrohre und allerlei seltsame Instrumente, ganze Bündel von Schiffskarten mit Aufschriften in einer den Kindern fremden Sprache, endlich mehrere dicke Bücher, deren Seiten aus einem faserigen, vergilbten Papier bestanden und mit Aufzeichnungen in roter Tinte bedeckt waren. – Alle Kisten waren jetzt bis auf die letzte entleert. Diese hatte fast die doppelte Größe der übrigen, und es kostete Heinrich nicht geringe Mühe, ihren schweren Deckel zu öffnen und zurückzuschlagen. Ein mit Goldstickerei prachtvoll verziertes Tuch war über ihren Inhalt gebreitet. Als der Knabe jetzt mit einem Ruck den schweren Stoff fortzog, prallte er entsetzt zurück. Beinahe wäre die Lampe seiner bebenden Hand entfallen. Auch das kleine Mädchen stieß einen lauten Schrei des Schreckens aus und umklammerte angstvoll den Freund. Doch der hatte schnell seine alte Keckheit wiedergefunden.

„Habe keine Furcht, Lottchen“, sagte er sorglos. „Der Mann da wird uns nichts tun. Ich weiß, solche Leichen, die nicht verwest, sondern eingetrocknet sind und daher sich wenig verändert haben, nennt man Mumien. – Sieh nur, welch’ prächtige Kleidung der Tote an hat! Und da – an seiner linken Hand blitzen kostbare Ringe. – Wie das funkelt und flimmert! Es müssen Edelsteine sein …“

Scheu wagte sich nun auch die Kleine näher heran. Aber so recht traute sie der Mumie doch nicht in das von einem langen, dunklen Bart umrahmte, bräunliche Gesicht zu sehen.

„Heini, mache den Kasten schnell wieder zu“, bat sie leise. „Der Mann sieht garstig aus.“

Der Junge kam ihrem Wunsche sofort nach. „Man soll den Toten ihre Ruhe lassen“, meinte er, und ließ den Deckel behutsam herab, nachdem er das goldgestickte Tuch wieder über die Mumie gebreitet hatte.

Dann schauten sie sich weiter in der Höhle um, fanden aber nichts mehr, was beachtenswert gewesen wäre. Auch an den Wänden gab es keinerlei neue Zeichen, so sorgfältig der Knabe alles auch ableuchtete. Nun suchten sie aus dem wirren Haufen von Gegenständen sich allerlei heraus, was sie mit in ihre Grotte nehmen wollten: ein paar der langen Mäntel, zwei Pistolen, einen Degen, einen Dolch, einen Pulversack und Bleikugeln. Die Sachen aber packten sie wieder in die Kisten zurück.

Dieses kleine Abenteuer gab dem leicht zum Grübeln geneigten Jungen neuen Stoff zum Nachsinnen. Besonders mit den seltsamen Zeichen über der Mündung des Felsganges beschäftigte er sich in Gedanken immer wieder. Selbst als er nachher in der Nacht auf seinem Lager ruhte und in dem für Lottchen aus geflochtenen Wänden hergestellten Kämmerlein die friedlichen Atemzüge seiner lieben, kleinen Gefährtin vernahm, mußte er fortgesetzt an die Pfeile und die Zahlen an der Rückwand der Höhle denken. Was sollten nur die Ziffern besagen, und weshalb zeigte der obere Pfeil direkt auf den Eingang der Felsspalte und der untere dagegen nach Osten …?! – Eine innere Stimme sagte dem Knaben, daß diese Zeichen geheime Anweisungen zum Auffinden eines bestimmten Ortes enthielten. Und seine lebhafte Phantasie reimte sich einen ganzen Roman zusammen, in dem Seeräuber und verborgene Schätze die Hauptrolle spielten. – – –

Genau eine Woche dauerte die Anwesenheit des Dreimasters in der Bucht des benachbarten, von zahllosen Scharen von Seevögeln aller Art bewohnten Eilandes. Dann fand Heinrich eines Morgens einen neuen Zettel ihres unbekannten Schutzgeistes vor. „Ihr könnt Euch wieder frei auf Eurer Inselhälfte bewegen. Habt Ihr ein Anliegen an mich, so legt ein Blatt Papier mit Euren darauf vermerkten Wünschen auf den großen Stein an der Westecke des Haferfeldes nieder. – Ich warne Euch zu Eurer eigenen Sicherheit davor, etwa vorüberfahrenden Schiffen Notsignale zu geben, da in dieser Meeresgegend nur Fahrzeuge auftauchen, deren Besatzung Euch schlecht behandeln würde. Wartet getrost ab, bis ich Euch selbst den Zeitpunkt angebe, wo Euer einsames Leben hier ein Ende haben soll.“ – So lautete diese neue Benachrichtigung. Neben dem Zettel lagen wieder eine ganze Menge Nahrungsmittel, außerdem einige Bogen Papier, ein Bleistift und zwei deutsche Bücher über Brasilien und Südamerika.

Wieder vergingen zwei Wochen, in denen das Wetter zumeist schön blieb und nur vereinzelte Regenschauer und Gewitter niedergingen.

Heinrich war es während dieser Zeit zu seinem großen Bedauern nicht möglich gewesen, seinen Plan, die Geheimnisse des Fremden zu ergründen, auszuführen. Dies lag daran, daß bei der kleinen Lotte plötzlich ein trauriger Stimmungswechsel stattgefunden hatte. Die Sehnsucht nach dem Vater war bei ihr erwacht, und oft genug weinte sie ganze Stunden lang fassungslos vor sich hin, ohne daß sie sich von dem Freunde trösten ließ. Dieser wagte es daher nicht, das Mädelchen längere Zeit allein zu lassen, besondere nicht in der Nacht, da die Kleine häufig genug in der Dunkelheit von Heimweh befallen wurde und dann stets ängstlich den Gefährten an ihre Seite rief. Gewiß – der verständige Junge versuchte durch allerlei Mittel seine Kameradin zu zerstreuen und ihre Gedanken abzulenken. Er schnitzte ihr Spielzeug und auch Puppen, für die sie dann aus den in den Kisten der zweiten Höhle gefundenen Gewändern Kleider anfertigen mußte. Zu diesem Zweck hatte er von dem Schutzgeist durch einen Zettel eine Schere und Nadel und Zwirn erbeten und auch wirklich erhalten. Ebenso fing er ein paar junge Kaninchen und baute für diese in der Nähe der Grotte an einer versteckten Stelle einen Stall. Aber erst als er Lottchen aus einem Nest zwei junge Papageien besorgt und für diese aus biegsamen Zweigen einen großen Käfig hergestellt hatte, besserte sich ihre Stimmung. Viele Stunden saß sie jetzt bei ihren Lieblingen und schaute deren gewandten Kletterübungen zu. Und unermüdlich plapperte sie ihnen dieselben Worte vor, um ihnen das Sprechen beizubringen.

Trotzdem hatte der Knabe seine Absicht, die Nächte zu geheimen Ausflügen nach dem Ostteile der Insel zu benutzen, keineswegs aufgegeben, ebensowenig wie er die rätselhaften Zeichen an der Rückwand der Grotte vergaß. Verschiedentlich war er wieder in der zweiten Höhle gewesen und hatte diese genau untersucht, ohne jedoch etwas Neues zu entdecken. Er war fest davon überzeugt, daß dieselben Leute, von denen die Kisten mit sicher recht großer Mühe durch den engen Felsgang in das Versteck hineingeschafft worden waren, auch die merkwürdigen Pfeile und Zahlen in den Stein eingemeißelt hatten. Oft genug stand er mit der Lampe in der Hand sinnend vor den seltsamen Zeichen und suchte deren Zweck zu ergründen. Alles Kopfzerbrechen war jedoch umsonst.

Dann, als das kleine Mädelchen durch die lustigen Papageien wieder heiter und froh geworden war, entwarf er einen vollständigen Plan, wie er den Unbekannten überlisten könne. Eines Vormittags legte er auf den bewußten Stein an der Ecke des Haferfeldes, welches inzwischen jedoch wie durch Zauberhand abgeerntet war, einen Zettel nieder und bat um neues Papier, da er seinen Vorrat durch die Führung eines Tagebuches aufgebraucht habe. Am Abend desselben Tages wieder teilte er seiner Freundin mit, daß er in dieser Nacht versuchen wolle, ihr einen ausgewachsenen Papagei zu fangen, da er jetzt einen Baum wisse, wo stets eine ganze Menge dieser bunten Vögel schlafend auf den Ästen sitze. Lottchen hatte gegen diesen Ausflug nichts einzuwenden. Hoffte sie doch, daß ein älterer Papagei das Sprechen schneller erlernen würde. Und einen sprechenden Vogel zu besitzen, darauf war jetzt ihr ganzes Sinnen und Trachten gerichtet.

Heinrich war es längst klar geworden, daß der Unbekannte stets die Nachtstunden dazu benutzte, die für die Kinder bestimmten Gegenstände an dem vereinbarten Platze niederzulegen. Und diese Tatsache gedachte der Knabe in schlauester Weise auszubeuten. Nachdem Lottchen zur Ruhe gegangen und eingeschlafen war, schlich er, noch bevor der Mond aufging, in der Dunkelheit auf Umwegen nach dem Steine hin und verbarg sich in dessen Nähe in einem Gebüsch. Zur Vorsicht nahm er den Dolch und eine der Pistolen mit, die er mit ein paar Kugeln geladen hatte. Dieses Abenteuer machte dem mutigen Jungen kein geringes Vergangen, und mit angespannten Sinnen wartete er auf das Erscheinen des Fremden. Doch gute zwei Stunden vergingen, ehe dieser sich sehr vorsichtig näherte. Inzwischen war der Mond über die Randberge der Insel emporgestiegen und tauchte die Umgegend in sein mildes, bläuliches Licht.

Der Junge lag etwa zwanzig Schritte von dem Steine entfernt. Ganz deutlich konnte er jetzt den geheimnisvollen Menschen beobachten. Dieser war schlank und groß, hatte einen blonden Vollbart und trug einen dunklen Joppenanzug, dazu eine Schirmmütze und ein Gewehr am Riemen über der Schulter. – Nachdem der Mann den Zettel aufgehoben hatte, entfernte er sich ebenso lautlos, wie er gekommen war. Heinrich blieb stets möglichst dicht hinter ihm. Seine Schuhe hatte er ausgezogen, um recht leise auftreten zu können. Nach einer halben Stunde erreichte der Fremde den Fuß der Uferberge im Osten der Insel und begann nun auf einem schmalen Felsgrat eine schroff ansteigende Felswand zu erklimmen, deren oberer, flacher Teil ein breites, mit allerlei Nadelbäumen bestandenes Plateau bildete. Hier mußte der Knabe sehr vorsichtig sein. Drehte sich der Unbekannte jetzt um, so konnte dieser seinen Verfolger nur zu leicht bemerken. Ganz eng schmiegte Heinrich sich daher an den Boden an und kroch auf allen Vieren weiter. Endlich hatte er dann das Plateau erklommen und schlüpfte nun lautlos in den schirmenden Schatten der Bäume, huschte weiter und weiter, bis er wenige Meter hinter dem ahnungslosen Manne niederkauerte, der jetzt vor einer zweiten, im Hintergrunde dieser Felsterrasse sich auftürmenden Bergwand halt gemacht hatte und mittels einer Leine, die am Stamme einer von Schlinggewächsen rings umsponnenen Tanne verborgen war, zu einem etwa sechs Meter höher liegenden Felsvorsprung emporkletterte. Kaum war er oben verschwunden, als auch schon die Strickleiter wieder hochgezogen wurde.

Der wagemutige Knabe sagte sich nun sehr richtig, daß der Fremde ohne Zweifel sehr bald wieder erscheinen werde, um das erbetene Papier nach dem Steine zu tragen. Hatte jener dann seinen Schlupfwinkel verlassen, so blieb Heinrich etwa eine Stunde Zeit übrig, um sich dort oben einmal genauer umzusehen. Daher kroch er jetzt einige Meter zurück und verbarg sich hinter einigen großen Felsblöcken. – Seine Vermutung traf zu. Nach wenigen Minuten schon tauchte der Mann wieder auf und eilte davon, nachdem er die Strickleiter wieder durch die Leine hochgehißt hatte.

Heinrich ließ einige Zeit verstreichen, richtete sich dann auf und schlich nach dem Rande der Felswand hin, um zu sehen, ob der Fremde sich wirklich entfernte. Dieser durchschritt gerade eine offene Stelle zwischen zwei Waldstücken und setzte auch gemächlich seinen Weg nach der Mitte der Insel zu fort. Da erst fühlte der Junge sich ganz sicher. Bald hatte er die in dem Rankengewirr gut versteckte Leine gefunden und holte nun die Strickleiter zu sich herunter. Im Nu stand er auf dem Felsvorsprung. Hatte er doch auf der Brigg „Marie“ oft genug den Mastkorb auf einem noch bedeutend mehr schwankenden Pfade erstiegen. – Von dieser etwa zwei Meter breiten Felsnase führte ein breiter Spalt tief in den Berg hinein. Zum Glück hatte der Knabe eine Schachtel Zündhölzer bei sich, bei deren leider nur zu schnell verlöschendem Schein er vorsichtig weitertappte. Nach etwa fünfzehn Metern mündete der im übrigen ganz bequem passierbare Spalt auf eine nach dem Meer zu gelegene halbkreisförmige und jäh abfallende Terrasse, auf der, angelehnt an die rückwärtige Felswand, ein aus Baumstämmen errichtetes, aber durch davor aufgeschichtete Felsstücke von der Umgebung kaum zu unterscheidendes Blockhaus stand. Die Tür, die mit dünnen Steinplatten ebenfalls benagelt war, ließ sich leicht öffnen, und Heinrich trat nun zögernd in das durch zwei Tranlampen erleuchtete Innere ein. Die Hütte besaß nur ein einziges Gemach, das recht wohnlich eingerichtet war. Tische, Stühle und auch die Bilder an den Wänden schienen aus einer Schiffskajüte zu stammen, ebenso der kleine eiserne Herd in einer Ecke. Sogar einen Teppich gab es hier, der den aus Brettern hergestellten Fußboden bedeckte. Auch das Bett war aus Brettern zusammengeschlagen, und die weiße, leinene Bettwäsche glänzte in tadelloser Sauberkeit. Auf Wandbrettern standen eine Menge Bücher, und überall erblickte der Knabe weitere Kleinigkeiten, die bewiesen, daß der Bewohner dieses Häuschens sich sein Leben ganz bequem auszugestalten verstanden hatte. Selbst an allerlei Waffen, Gewehren, Revolvern und Säbeln, fehlte es nicht, die geschmackvoll gruppiert über dem Bett angebracht waren. Nicht minder reichhaltig war die Küchenecke ausgestattet. Dort hingen Töpfe, Pfannen und Kessel von verschiedener Größe, während dicht daneben in einem Ständer das nötige Geschirr seinen Platz gefunden hatte.

Als Heinrich noch mit fast ungläubigem Staunen dieses behagliche Gemach musterte, ertönte plötzlich hinter ihm eine Stimme, die mit etwas heiserer Stimme ausrief. „Dieb – Spitzbube – Dein Gewissen läßt Dir keine Ruhe …!!“

Entsetzt war der Junge herumgefahren. Doch sein erster Schreck ging schnell in ein harmlos frohes Lachen über, als er nun einen großen Papagei bemerkte, der oben auf einem Bücherregal hockte und jetzt aufkreischend sein Gefieder sträubte, um dann abermals dieselben anklagenden Worte zu wiederholen.

Heinrich kümmerte sich um den Vogel nicht weiter. Etwas anderes nahm seine Aufmerksamkeit in Anspruch. In der Mitte der Hinterwand des Blockhauses hatte er eine schmale Holztür bemerkt, und eilig ergriff er nun eine der Lampen, um nachzusehen, ob es hier wirklich noch andere Räumlichkeiten gab. Als er die kleine Tür öffnete und zuerst spähend hindurchblickte, sah er eine etwa eineinhalb Meter hohe und vielleicht drei Meter breite, dabei aber recht tiefe Felshöhle vor sich liegen, die mit allerlei Gegenständen bis zur Decke angefüllt war. In dieser Vorratskammer gab es außer Fässern und Kisten in allen Größen einen ganzen Haufen zusammengerollter Segel und Taue, ferner die verschiedenartigsten Metallteile eines kleineren Segelschiffes wie Anker, Ketten, Messingbeschläge usw. und schließlich auch einen Schiffskompaß, der auf einem polierten Ständer aufgeschraubt war. In einem anderen Winkel wieder entdeckte der Knabe eine größere Getreidemühle mit Handantrieb, landwirtschaftliche Geräte und weißlich schimmernde Säcke, die ohne Zweifel Mehl enthielten.

Nachdem er sich hier genügend umgesehen hatte, kehrte er in den vorderen Raum zurück. Nochmals ließ er seine Blicke über dieses freundliche Wohngemach hinschweifen, das sich der rätselhafte Fremde mit offenbarem Streben nach einem gemütlichen Heim eingerichtet hatte. Jetzt erst sah der Knabe, daß die Hütte auch zu jeder Seite des Einganges ein Fenster besaß, die ihm vorhin nicht aufgefallen waren, da von außen Holzläden davor befestigt waren und innen leicht geraffte, bunte Gardinen sie halb verdeckten. Diese Fenster stammten ohne Zweifel ebenfalls von einem Schiffe her. Das bewiesen die dünnen Messingstäbe, die wie ein Gitter die Scheiben überwölbten.

Schon wollte Heinrich den Rückweg nach seiner eigenen, so dürftigen Grottenwohnung antreten, als er auf einem Tische vor dem linken Fenster neben der brennenden Lampe ein Schreibzeug bemerkte, vor dem ein dickes Heft mit blauem Deckel lag. Auf das weiße Schildchen dieses Heftes aber war sauber mit Rundschrift geschrieben. „Mein Tagebuch. – 15. April 1903 – Friedrich Goretzki.“

15. April 1903 …!! – Der Junge rechnete schnell nach. Dieses Datum lag volle fünf Jahre zurück. Sollte Friedrich Goretzki etwa schon so lange hier auf der Insel weilen?! – Das mußte er feststellen. Und so schlug er denn das Tagebuch auf und begann das erste Blatt zu überfliegen. Da stand als Überschrift. „15. April 1903. Tag der Ankunft auf der Urossa-Gruppe. – Meine Flucht ist also wirklich geglückt. Nun mag die brasilianische Polizei nach mir suchen …! Sie wird mich nicht finden …! – Das Wetter war für die Überfahrt außerordentlich günstig. Meine kleine, aber seetüchtige Jacht bewährte sich wie schon früher auch jetzt vorzüglich. Mit dem heutigen Tage beginnt nun also mein freiwilliges Robinsondasein. Acht Jahre will ich hier auf der Insel bleiben. Dann dürfte die Welt mich vergessen haben …“

Weiter kam Heinrich mit dieser spannenden Lektüre jedoch nicht. Er hörte draußen vor dem Hause das Poltern von Steinen, die der eilige Fuß eines Menschen aus ihrer Lage verschoben haben mußte. Wie ein Blitz fuhr er empor, zwei Sätze brachten ihn bis zu dem Bett hin, und hastig zwängte er sich nun darunter. – Keinen Augenblick zu früh! Das Knarren der Eingangstür sagte ihm, daß der seltsame Mann wirklich zurückgekehrt war.

Dann begann auch schon der Papagei mit seinem wenig höflichen Begrüßungsruf. „Dieb – Spitzbube, Dein Gewissen läßt Dir keine Ruhe!“

Der Knabe, der jetzt von seinem Versteck aus nur die Stiefel des eintretenden Goretzki sehen konnte, hörte diesem mit trauriger Stimme sagen:

„Warum empfängst auch Du mich immer mit diesen vorwurfsvollen Worten, Jocko?! Ist es nicht genug, wenn mein eigenes Herz sie mir ständig zuflüstert! – Du ahnst ja nicht, Jocko, wie zerstreut Dein Herr schon ist …! War ich doch der Meinung, daß ich vorhin, als ich dem Jungen das Papier nach dem Steine hintragen wollte, die Strickleiter wie immer hochgehißt hätte! Und als ich nun auf dem halben Wege kehrtmachte, um den Kindern noch einige Brote mitzunehmen, sah ich, daß ich die Strickleiter unten hängen gelassen hatte! Soweit ist es mit mir schon gekommen, daß ich mich auf mich selbst nicht mehr verlassen kann …! Ja, Jocko, – das Gewissen – das Gewissen …!“

„Armer Friedrich – armer Friedrich – lieber Jocko, Jocko, Jocko, Jocko“, plapperte der Papagei als Antwort.

Der geheimnisvolle Einsiedler schritt jetzt auf die Tür des Vorratsraumes zu, blieb dann aber plötzlich stehen.

„Wie – das Tagebuch aufgeschlagen auf dem Tische …?!“ rief er in lautem Selbstgespräch. „Und da die Lampe …, ich hatte sie doch anderswo hingestellt, bevor ich fortging …?! – Sollte etwa der Junge …?! Ja – nur er kann es gewesen sein …! Er hat mein Versteck entdeckt, kennt vielleicht schon alle meine Geheimnisse … Womöglich ist er gar noch hier …! Warte Bursche, finde ich Dich, so …“

Und schon hatte er eine der Lampen ergriffen und betrat seine Vorratskammer, um dort nach dem Eindringling zu suchen.

Heinrich klopfte das Herz bis in den Hals hinauf. Was sollte er tun?! Fliehen …? – Ja, vielleicht gelang es ihm, sich heimlich aus der Hütte zu stehlen. Aber – was war damit gewonnen?! Dann würde ihm der unheimliche Mensch, der so sonderbare Reden geführt hatte, bei hellem Tageslicht sicherlich nachspüren, dann mußte er mit seiner kleinen Gefährtin die Höhle verlassen und wie ein gehetztes Wild auf der Insel umherirren …! War’s da nicht richtiger, wenn er dem Manne ehrlich gegenübertrat und ihn wieder zu versöhnen suchte …?!

So kroch er denn unter dem Bette leise hervor, trat in die halb offene Tür der Vorratskammer und sagte mutig:

„Hier bin ich, Herr Goretzki!“

Der Einsiedler fuhr herum.

„Ha – also wirklich – Du bist’s! – Undankbarer, lohnst Du mir so das Gute, das ich an Euch tat …?!“

Heinrich schaute den seltsamen Mann offen an. Und ohne jede Beschönigung erzählte er nun, aus welchen Gründen die Idee in ihm aufgetaucht war, den Geheimnissen des unsichtbaren Bewohners dieses Eilandes nachzuspüren. Und je länger er redete, desto kecker und zuversichtlicher wurde er. Zum Schluß erklärte er dann:

„Sie sehen also, Herr Goretzki, daß es nicht lediglich Neugierde war, die mich dazu trieb, Ihnen nachzuschleichen! Ich mußte wissen, wer uns in so auffälliger Weise davor warnte, vorüberkommende Schiffe herbeizurufen, und wer es uns dadurch unmöglich machte, wieder in bewohnte Gegenden zurückzukehren. Kapitän Eschler hatte mir seine kleine Tochter damals bei jenem verhängnisvollen Sturme anvertraut! Und deshalb war ich verpflichtet, für Lottchen in jeder Beziehung zu sorgen. Dazu gehörte auch, daß ich jede Gelegenheit wahrzunehmen suchte, baldigst von hier fortzukommen. Sie wissen ja nicht, wie sehr die Kleine sich nach ihrem Vater sehnt und wie schwer es mir geworden ist, ihre trübe Stimmung zu zerstreuen. – Wir werden nichts von Ihren Geheimnissen verraten – kein Wort, darauf können Sie sich verlassen! Und ich weiß auch, daß Sie mich wegen dieses Ungehorsams Ihren Befehlen gegenüber nicht bestrafen werden. Sie müssen ein gutes Herz besitzen, Herr Goretzki, – davon haben Sie uns genügend Beweise geliefert. Und deshalb werden Sie auch verstehen, weshalb ein gewisses Mißtrauen gegen Sie mich schließlich hierher führte.“

Der rätselhafte Einsiedler, der etwa fünfunddreißig Jahre alt sein mochte und ein Gesicht mit recht ansprechenden Zügen besaß, schaute den Knaben jetzt prüfend an.

„Wie weit hast Du mein Tagebuch gelesen, Junge?“

„Nur die ersten drei Reihen, Herr Goretzki“, erklärte Heinrich der Wahrheit gemäß.

„So, so …“ – Wieder versank der blonde Mann in trübes Nachdenken. Dann winkte er dem Knaben zu und hieß ihn auf dem anderen Stuhle ihm gegenüber Platz nehmen.

„Diese Nacht wird wichtige Folgen haben“, begann er leise. „Ich will Dir zunächst ganz kurz die Geschichte meines Lebens erzählen. Vielleicht wird mir dann freier ums Herz. – Ich bin in Deutschland geboren und habe eine gute Erziehung genossen. Aber schon als Jüngling fühlte ich eine kaum zu bezähmende Genußsucht in mir. Ernste Arbeit war mir verhaßt. Nachdem ich einige leichtsinnige Streiche begangen hatte, schickte mein Vater mich zu einem Freunde nach Pernambuco, damit ich dort als Lehrling in dessen Bankgeschäft eintreten solle. Mehrere Jahre gelang es mir mit eiserner Energie, ein ordentliches, durch eine geregelte Tätigkeit ausgefülltes Leben zu führen. Inzwischen war ich bis zu der Stellung eines zweiten Kassierers aufgerückt. Aber gerade der stete Anblick größerer Geldsummen weckte wieder alle schlimmen Neigungen in mir. Ein wahres Fieber, möglichst schnell reich zu werden, um dann die Freuden des Daseins mit vollen Zügen genießen zu können, packte mich und ließ mich nicht mehr los. Ich begann heimlich mit meinen geringen Ersparnissen zu spekulieren und – verlor alles. Da reifte denn langsam in mir der Plan aus, mich auf unredlichem Wege in den Besitz eines großen Vermögens zu bringen. In aller Stille traf ich meine Vorbereitungen. Der Freund meines Vaters besaß eine Segeljacht, die er mir häufig auch zu längeren Ausflügen überließ. Bald war ich imstande, die Jacht ganz allein zu bedienen. Während meines vierwöchigen Sommerurlaubs im Jahre 1902 schaffte ich dann, ohne daß jemand etwas davon ahnte, in zahlreichen Fahrten mit der Jacht hier nach dieser Insel allerlei Dinge, die mir zu einem längeren Robinsonleben notwendig erschienen. Die drei Eilande, die man die Urossa-Gruppe nennt, hatte ich schon früher einmal besucht und für meine Zwecke recht geeignet gefunden. Von Pernambuco aus kann man sie bei günstigem Winde in zehn Stunden erreichen. – Nachdem ich hier alles aufgestapelt hatte, um jahrelang in der Verborgenheit leben zu können, wartete ich geduldig, bis sich mir eine Gelegenheit bot, der Kasse meines Chefs eine Summe zu entnehmen, die eines solchen gefährlichen Vorhabens wie mein Plan es darstellte, auch wert war. Beinahe neun Monate vergingen, bevor der Tag anbrach, an dem ich zum gemeinen Diebe werden sollte. Am 14. April 1903 lagen in der Kasse leicht umsetzbare Banknoten im Werte von 800 000 Mark. Abends nach Geschäftsschluß stahl ich diese Summe, und vier Stunden später verließ ich dann heimlich mit der Jacht Pernambuco und steuerte der Urossa-Gruppe zu. Genau um elf Uhr dreißig Minuten vormittags landete ich hier am nächsten Tage. Meine erste Arbeit war, die Jacht sorgfältig zu verbergen. Alles war schon vorher genau überlegt. Einige hundert Meter südlich von meiner Behausung zieht sich eine kleine Bucht mit flachen Ufern ins Land. Dort habe ich mein Schifflein mit Hilfe eines Flaschenzuges und mehrerer Holzrollen auf das Trockene gebracht und es, nachdem ich alles Bewegliche daraus entfernt hatte, mit geölter Leinwand zugedeckt und Steine, Sand und Felsstücke darüber geschichtet. Niemand kann vermuten, daß unter diesem Hügel die Jacht ein vorläufiges Grab gefunden hat. – Dann begann ich mir diese Hütte zu bauen, die kaum entdeckt werden kann, da die Terrasse hier für jeden Unkundigen völlig unersteigbar ist und ich auch so klug war, meinem Hause künstlich das Aussehen eines Felsblockes zu geben. – Doch ich will mich nicht mit Einzelheiten über mein Leben auf dieser Insel aufhalten. Erwähnenswert ist vielleicht, daß ich es war, der dieses Eiland mit Kaninchen und Ziegen bevölkerte. Damit erstere sich nicht zu schnell vermehrten, stellte ich ihnen dauernd mit Fallen, Gift und Schußwaffen nach. – So lange ich noch täglich eifrig zu arbeiten hatte, um mich wohnlich einzurichten, schwieg mein Gewissen. Dann aber begann die Einsamkeit mit ihren Schrecken schwer auf mir zu lasten. In den vielen Stunden der Muße begann die Stimme der Reue immer eindringlicher zu mir zu sprechen. Mein Papagei war es dann, der sich bald zu einem lauten Mahner herausbildete. Aus meinen Selbstgesprächen hatte er einige Worte sich zu eigen gemacht, die er mir nun ständig zurief. Unendliche Niedergeschlagenheit machte mich oft tagelang zu jeder Arbeit unfähig. Immer wieder erwog ich den Gedanken, nach Pernambuco zurückzukehren und mich der Polizei zu stellen. Aber die Furcht vor Strafe und vor dem Gefängnis war stärker als das Gute in mir. So vergingen fünf Jahre. Ich hatte mir ursprünglich vorgenommen, acht Jahre hierzubleiben und dann die Welt als ein inzwischen in Vergessenheit Geratener wiederaufzusuchen. Über die Hälfte dieser Zeit war verflossen, als der Orkan Euch beide dann auf das Eiland warf. Oft genug habe ich Euch heimlich beobachtet und belauscht. Ich sah, wie Du, mein Junge, Dich wie ein liebevoller Vater des kleinen Mädchens annahmst, wie Du sie behütetest und für sie sorgtest. Und gerade Eure kindliche Unschuld regte mich zu Vergleichen mit dem Zustande meines eigenen Herzens an. Noch schwärzer erschien mir jetzt mein Verbrechen, noch verabscheuenswürdiger mein bisheriges Leben. Hatte ich doch den gütigen Freund meines Vaters und meinen eigenen Wohltäter, der mir soviel Vertrauen entgegengebracht hatte, bestohlen! – Immer schlimmer wurden die Gewissensbisse … Und doch – ich vermochte mich zu keinem Entschluß aufzuraffen, um meine Verfehlungen wieder gutzumachen. Den Gedanken, einst mit dem gestohlenen Gelde mir ein behagliches Leben in einem anderen Erdteil zu verschaffen, hatte ich längst aufgegeben. Hier in der Einsamkeit war ich von meiner krankhaften Genußsucht gründlich geheilt worden. Ich war zu der Überzeugung gekommen, daß ernste Arbeit und ehrliches Streben uns einzig und allein volle Befriedigung und Zufriedenheit zu gewähren vermögen. Aber, wie gesagt, – Feigheit war’s, die mich davon zurückhielt, auch die Folgen meines Vergehens auf mich zu nehmen. Auch diese letzte Schwäche habe ich jetzt abgeschüttelt. Vorhin als Du mir berichtetest, weshalb Du mir nachgeschlichen seist, tat ich einen tiefen Blick in Dein Herz, mein Junge! Und da kam die Sehnsucht mit aller Macht über mich, auch wieder hocherhobenen Hauptes und freien Blickes als ehrlicher Mensch durch das Leben gehen zu dürfen, da beschloß ich, diese Insel zu verlassen und meine Tat zu sühnen. Wir drei werden also, sobald wir die Jacht wieder instandgesetzt haben, nach Pernambuco segeln. Und dort werde ich meinem früheren Chef die gestohlene Summe zurückgeben und ihn bitten, mir zu verzeihen. Vielleicht macht er es möglich, daß ich ohne Strafe davonkomme. Wenn nicht, – nun, so werde ich auch die Kerkerhaft zu tragen wissen. – So, und jetzt kehre zu Deiner kleinen Gefährtin zurück, die sich vielleicht schon wegen Deiner langen Abwesenheit Sorgen macht. Morgen früh finde ich mich dann bei Euch ein und nehme Euch mit in meine Hütte, wo Ihr so lange wohnen sollt, bis wir unsere Insel verlassen können.“

Friedrich Goretzki reichte dem Knaben herzlich die Hand und begleitete ihn dann noch bis zu der Strickleiter.

Wie im Traum schritt der Junge durch die stille Nacht nach der Grotte hin. Er konnte noch immer nicht begreifen, daß all das, was er eben erlebt hatte, Wirklichkeit sein sollte. – Ihr Schutzgeist ein Dieb …, aber auch ein reuiger Sünder! Wer hätte das vermuten können …!! –

Lottchen saß wirklich weinend in ihrem Kämmerlein auf ihrem Lager und empfing den treuen Freund nun mit einem unterdrückten Jubelruf. Dann mußte Heinrich ihr sein seltsames Abenteuer erzählen. Und als er damit fertig war, sagte die Kleine leise:

„Ich glaube, Heini, der liebe Gott hat uns hierher geschickt, damit wir einen Unglücklichen auf den rechten Weg zurückführen. Ich werde zu dem Manne sehr lieb sein. Hätte er sich meiner nicht angenommen, so wäre ich vielleicht schon längst gestorben. Er hat mir ja meinen Arm gesund gemacht und das Fieber vertrieben.“ – –

Früh am Morgen erschien der Einsiedler dann wirklich in der Grotte. Und Tränen liefen ihm über die Wangen, als Lottchen ihm ohne jede Scheu entgegenlief, seine Hand ergriff und ihm für all das Gute dankte, das er ihnen erwiesen hatte.

Ganz stolz zeigte ihm Heinrich dann ihre Wohnung, die Küche und auch die prächtigen Gewänder, die sie in den Kisten der zweiten Grotte gefunden hatten.

Goretzki wurde recht nachdenklich, als er bei dieser Gelegenheit von den seltsamen Zeichen über der Mündung des Felsganges hörte. Heinrich mußte die Lampe anzünden, und nun wurden sowohl die eingemeißelten Zahlen und Pfeile als auch die zweite Höhle und der Inhalt der Kisten genau in Augenschein genommen. Besondere Aufmerksamkeit schenkte Goretzki der Mumie des bärtigen Mannes und den vergilbten Büchern, deren Aufzeichnungen in portugiesischer Sprache niedergeschrieben seien, wie er erklärte. Ohne Scheu hob er dann die Mumie aus der länglichen Kiste heraus um nachzusehen, ob diese noch andere Dinge enthielt. Tatsächlich lagen denn auch auf dem Boden dieses merkwürdigen Sarges eine ganze Anzahl von Papieren, die Goretzki nachher ebenso wie die Bücher mit nach seiner Hütte nahm. Auch die Ringe an der Hand der Mumie besichtigte er recht eingehend und teilte dem freudig erstaunten Heinrich mit, daß diese und die Gewänder einen beträchtlichen Wert hätten und daß der spätere Erlös dafür natürlich rechtmäßiges Eigentum der Kinder wäre.

Über die Zeichen in der Felswand sprach er sich nicht weiter aus.

„Ich will erst die Bücher und die Papiere in Ruhe durchsehen“, meinte er. „Wenn ich auch nicht viel Portugiesisch kann, so hoffe ich doch den Inhalt dieser Urkunden übersetzen zu können. Vielleicht erhalten wir dadurch wichtige Fingerzeige, die uns die Enträtselung der Einmeißelungen erleichtern.“

Im Laufe des Vormittags wurde dann der Umzug nach dem Blockhause bewerkstelligt. Lottchen konnte sich gar nicht genug über die behagliche Einrichtung der Hütte wundern. Schnell schloß sie mit Jocko Freundschaft, trotzdem dieser auch sie mit dem üblichen „Dieb, Spitzbube“ begrüßt hatte.

Nach dem Mittagessen führte Goretzki die Kinder nach der kleinen Bucht, in der die Jacht unter dem Hügel verborgen lag. Mit Feuereifer machten sich alle drei nun an die Arbeit, das Segelschiff freizulegen, was auch bis zum Abend erledigt wurde. Es zeigte sich, daß die Jacht tadellos erhalten war. Nur die Farbe war überall abgeblättert, so daß Goretzki beschloß, am folgenden Tage zunächst den Anstrich zu erneuern. Das nötige Material hierzu hatte er ebenfalls schon vor seiner Flucht zusammen mit den anderen Vorräten nach der Insel geschafft.

Nach Eintritt der Dunkelheit kehrten die drei Robinsons nach der Hütte zurück, aßen zur Nacht und sorgten dann für zwei weitere Lagerstätten. Sein bequemes Bett trat Goretzki an die Kleine ab, die denn auch, ermüdet von der Arbeit des Tages, sehr bald unter die Decken schlüpfte und sofort einschlief. Der Einsiedler und Heinrich aber setzten sich an den einen Tisch und prüften beim Scheine der beiden Tranlampen die Bücher und die Papiere. Der Knabe konnte hierbei nicht viel helfen und ließ sich daher von Goretzki aus dessen Bibliothek eine Schilderung der Deutschen Freiheitskriege geben, in die er sich eifrig versenkte, während der frühere Kassierer sich mit der Übersetzung der in portugiesischer Sprache abgefaßten Urkunden abmühte. Nur hin und wieder wechselten sie einige Worte. Goretzki schien sich bei seiner Arbeit, die offenbar seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, nicht gern stören zu lassen. Heinrich gähnte hin und wieder verstohlen, wollte aber doch nicht zur Ruhe gehen, da er sehr begierig darauf war zu erfahren, was die Aufzeichnungen enthielten.

„Du hast mit Deiner Vermutung, die Du mir gegenüber heute Vormittag äußertest, wirklich recht gehabt, mein Junge“, begann jener ernst und sinnend. „Der Tote in der Kiste ist ein portugiesischer Seeräuber namens Porfirio Munez, der in den Jahren von 1680 bis 1703 die Küsten Südamerikas unsicher machte und hier auf unserer Insel seinen Schlupfwinkel hatte. Die Bücher hat er selbst mit Schilderungen seiner Abenteuer und Verbrechen angefüllt. Die anderen Papiere sind Dokumente von Schiffen, die er geplündert hat. Seine Aufzeichnungen gehen bis zum Dezember 1708. Hinter diesen letzten Eintragungen befinden sich noch andere von einem zweiten Manne, der der Vertraute Porfirio Munez’ gewesen zu sein scheint und Alvaro Bastello hieß. – Aus Bastellos Aufzeichnungen ist nun folgendes ersichtlich, was für Dich von großer Wichtigkeit sein dürfte. Warum – wirst Du bald begreifen. – Nach dem letzten Beutezuge im Dezember 1708 erkrankte Munez hier an einer ansteckenden Krankheit, von der dann auch die ganze Besatzung des Piratenschiffes ebenso wie er selbst in kurzer Zeit dahingerafft wurde. Nur Bastello kam mit dem Leben davon, war aber so schwach und kraftlos geworden, daß auch er mit seinem baldigen Tode rechnete. Daher verbrannte er das Freibeuterschiff, nachdem er die Leiche seines Freundes Munez und die wertvollsten Waffen und Kleidungsstücke in der von Dir entdeckten zweiten Grotte untergebracht hatte. Offenbar erst ganz kurz vor seinem Tode hat er dann noch eine allerletzte Bemerkung in das Buch da eingetragen. Ich will sie Dir wörtlich übersetzen.“

Er schlug das vergilbte, in Schweinsleder gebundene Buch auf und fuhr fort:

„Dieser seltsame Satz lautet folgendermaßen:

„Dem, der die Zeichen, die ich über dem Eingange zu der letzten Ruhestätte meines Freundes Porfirio Munez mit vieler Mühe eingegraben habe, findet und richtig zu deuten weiß, vermache ich unsere Schätze, von denen er einen Teil der Kirche meines Geburtsortes Santillo in Portugal stiften soll, damit dort für meine arme, sündige Seele und die meines Freundes Messen gelesen werden. – Alvaro Bastello.“ – “

Goretzki legte das Buch wieder beiseite.

„Dieser Erbe des Seeräubers bist Du, mein Junge“, sagte er dann. „Du hast die zweite Grotte und die Zeichen aufgefunden. Und es kommt jetzt nur darauf an, daß wir die letzteren enträtseln.“

Heinrich hatte sich weit über den Tisch gebeugt und las Goretzki förmlich jedes Wort vom Munde ab.

„Und hat dieser Bastello so gar keine Andeutungen irgendwo eingeflochten, welcher Zusammenhang zwischen den Pfeilen und den Zahlen besteht?“ fragte Heinrich wieder.

„Nichts – kein Wort! Nur befinden sich unter seinem Namen auf dem leeren Teil der betreffenden Seite zwei punktierte Linien. – Da – schau sie Dir an, mein Junge. Ich glaube kaum, daß sie sich auf die Zeichen beziehen.“

Heinrich blickte grübelnd auf die beiden aus kräftigen Punkten zusammengesetzten Linien, die einen rechten Winkel bildeten, dessen senkrechter Schenkel etwa drei mal so lang als der wagerechte, nach rechts gehende war.

Plötzlich schnellte er förmlich von seinem Stuhle hoch.

„Herr Goretzki, ich habe soeben die Punkte gezählt“, rief er ganz aufgeregt. „Die längere Linie enthält dreißig, die kürzere zehn! Und diese Zahlen kommen ja auch in den Zeichen vor. Vielleicht bedeutet jeder Punkt einen Schritt, und …“

Der freiwillige Robinson ließ ihn den Satz nicht beenden.

„Junge – diese Übereinstimmung kann kein Zufall sein! Der senkrechte Pfeil zeigt ja auf die Mündung des Ganges. Möglich ist es, daß man von da aus dreißig Schritte bis ins Innere der zweiten Grotte abmessen soll und dann wieder zehn Schritte nach Osten zu, also nach rechts! – Komm’, das müssen wir sofort untersuchen! Lottchen schläft ja ganz fest.“

Eine Stunde später befanden sie sich schon in der Höhle am Westufer der Insel. Goretzki hatte unterwegs einen Zweig abgeschnitten, der ungefähr die Schrittlänge eines mittelgroßen Menschen besaß. Mit dieser Rute maßen sie nun vom Eingang der niedrigen Felsspalte dreißig Schritt in gerader Richtung nach der zweiten Grotte zu ab und fanden so einen Punkt, der ziemlich genau in der Mitte dieser Höhle lag. Dann wieder nahmen sie zehn Rutenlängen in rechtem Winkel nach rechts. Die auf diese Weise gewonnene Stelle unterschied sich jedoch in nichts von der Umgebung. Auch hier bedeckten kleine Steine, Felssplitter und grauer Staub den ungleichmäßigen Boden der Grotte. Doch als sie das feine Geröll nun mit den Händen eilfertig in weitem Umkreis beiseite gescharrt hatten, kam eine viereckige Felsplatte zum Vorschein, in die ein großer eiserner Ring eingelassen war. Die Platte hatte ein solches Gewicht, daß die beiden Schatzsucher erst einen jungen Baum herbeiholen mußten, um diesen als Hebel benutzen zu können. Und dann gab die Felsplatte endlich den Eingang zu einer Vertiefung von etwa Mannshöhe frei.

Beide, Goretzki und Heinrich, stießen gleichzeitig einen lauten Jubelruf aus, – denn in dieser Vertiefung lagen eine ganze Anzahl von Ledersäcken von verschiedener Größe, – der Schatz der Piraten, bestehend aus alten Goldmünzen, schweren Goldbarren, Edelsteinen, goldenen Tafelgeräten aller Art, wertvollen Schmucksachen und Waffen.

Es dauerte recht lange, ehe diese Kostbarkeiten besichtigt und wieder fortgepackt waren. Goretzki, der von Juwelen etwas verstand, schätzte den Gesamtwert dieser Seeräuber-Beute auf mindestens eineinhalb Millionen Mark. Als er nun Heinrich zu diesem plötzlichen Reichtum herzlich beglückwünschte, erklärte der brave Junge sofort, daß er den Schatz niemals für sich allein behalten, sondern mit Lottchen und dem „Schutzgeiste der Zauberinsel“ teilen werde, nachdem dem Wunsche Bastellos gemäß die Kirche in Santillo eine entsprechende Zuwendung erhalten hätte. Und hiervon ließ er sich weder jetzt noch später abbringen.

In den nächsten Tagen wurde dann eifrig an der Instandsetzung der Jacht weitergearbeitet. Nach Verlauf einer Woche lag diese endlich segelfertig in der kleinen Bucht. Der Abschied von dem Eiland wurde den drei Menschen, die das Schicksal hier zusammengeführt hatte, doch recht schwer. An einem klaren, sonnigen Morgen suchten sie zum letzten Mal all die Stätten auf, die für sie während ihres Robinsonlebens eine besondere Rolle gespielt hatten. Dann stachen sie bei einer frischen Brise gegen neun Uhr vormittags in See. Die Überfahrt nach Pernambuco verlief ohne jeden Zwischenfall. Als sie kurz vor Einbruch der Dunkelheit in dem Außenhafen dieser wichtigen brasilianischen Handelsstadt anlangten und die langen Reihen der dort vor Anker liegenden Dampfer und Segelschiffe passierten, sprang das kleine Mädchen, das bisher neben Goretzki am Ruder gesessen hatte, plötzlich auf und deutete mit vor Freude glänzenden Augen auf eine Brigg, die am Stern mit weißen Buchstaben den Namen „Marie“ trug.

Wenige Worte genügten, um Goretzki zu veranlassen, sofort den Kurs zu ändern und auf den Segler zuzuhalten. Und keine zehn Minuten später hing Lottchen am Halse ihres Vaters, der sein einziges Kind schon als tot tief betrauert hatte. – Kapitän Eschler konnte gar nicht genug Worte finden, um Heinrich und auch dem früheren Kassierer für all die Fürsorge zu danken, mit der sie die Kleine umgeben hatten. Später berichtete er dann, daß die Brigg dem Unwetter trotz des Verlustes des Vordermastes glücklich entronnen und von einem Dampfer nach Pernambuco geschleppt worden sei. Er hatte längst jede Hoffnung auf ein Wiedersehen mit seinem Kinde aufgegeben.

Friedrich Goretzki erstattete seinem einstigen Chef die gestohlene Summe voll und ganz zurück und ging wirklich straffrei aus. Er war in der Einsamkeit jenes Eilandes von Grund auf ein anderer Mensch geworden, und die Summe, die Heinrich ihm dann aus dem Erlös des Piraten-Schatzes schenkte, ermöglichte ihm die Begründung einer großen Plantage im Innern Brasiliens und wurde für ihn der Grundstock zu bedeutendem, durch angestrengte Arbeit erworbenem Reichtum. Kapitän Eschler aber nahm den verwaisten, jetzt jedoch so außerordentlich begüterten Knaben bald an Kindesstatt an, ließ ihm in Deutschland eine gute Erziehung geben und erlebte sowohl an seinem Töchterchen als auch an diesem neugewonnenen Sohne nur Freude.

Die auf der Zauberinsel verbrachten zwei Monate hatten eben in die Herzen der beiden Kinder gerade die Eigenschaften eingepflanzt, die für die Lebensgestaltung jedes Menschen mit die wichtigsten sind: Genügsamkeit, Nächstenliebe und den Glauben an einen gütigen Gott, der unsere Geschick stets zum Besten lenkt.

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Verlagswerbung:

Das Leben und Treiben derjenigen Menschen, welche durch das Schicksal in einsame Gegenden verschlagen wurden, hat von jeher das Interesse der Mitmenschen erregt. Mit welcher Begeisterung sind nicht die Erlebnisse eines Robinson Crusoe, eines Nordenskjöld u. a. von Millionen Menschen gelesen worden. Und mit vollem Recht, denn derartige Erzählungen wirken durch ihren gehaltvollen Inhalt stets befruchtend auf den Geist der Leser.

Bei der Herausgabe unserer

Erlebnisse einsamer Menschen

leiten uns ähnliche Motive. Die Notwendigkeit eines gehaltvollen, billigen, spannenden und trotzdem nach jeder Richtung einwandfreien Lesestoffes kann nicht bestritten werden. Unsere „Erlebnisse einsamer Menschen“ sollen auf die Phantasie durch eine lebhafte Handlung bildend wirken, dann aber den praktischen Sinn wecken und in nie ermüdender Weise die Kenntnis fremder Länder und seltsamer Naturerscheinungen erweitern. Wir glauben unsere Aufgabe voll und ganz gelöst zu haben wie uns die Urteile einer ganzen Anzahl wirklich urteilsfähiger Personen vieler Berufe und Stände, denen wir einige Hefte vorlegten und von denen wir einige umseitig abdrucken, bestätigen.

Die „Erlebnisse einsamer Menschen“ erscheinen wöchentlich in abgeschlossenen Bändchen mit künstlerischem, dreifarbigem Umschlagbild zum Preise von nur 10 Pfg. Sie sind durch jede Buchhandlung zu beziehen, bei Voreinsendung des Betrages auch durch den

Verlag moderner Lektüre, Berlin, Dresdenerstraße 88/89.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin S 14.

 

 

Urteile maßgebender Personen über die „Erlebnisse einsamer Menschen“.

Herr Prof. Dr. V. in M. schreibt:

„… Ich halte sie für durchaus geeignet, den weitesten Kreisen des Volkes, besonders auch der Jugend, in die Hand gegeben zu werden … Die Erzählungen sind auch sehr geeignet, die Charakterbildung der Kinder günstig zu beeinflussen …“

Herr Pfarrer und Ortsschulinspektor H. in B.:

„… Der Inhalt, völlig einwandfrei, ist geeignet, die Persönlichkeit namentlich der jugendlichen Leser zu selbständiger, ernster Betätigung anzuregen und die Lebensanschauung sittlich zu heben und zu fördern. Ich würde daher die Hefte ohne Bedenken der hiesigen Jugend- und Volksbibliothek einverleiben.“

Herr Rechtsanwalt H. in F.:

„… Die von mir gelesenen Robinsonaden stellen meines Erachtens eine durchaus einwandfreie Lektüre dar, die man getrost der Jugend in die Hand geben kann. Sie haben noch den Vorteil, reichlich belehrenden Stoff zu bringen …“

Herr Direktor G. in W.:

„… Sie sind unterhaltend und belehrend. Der richtige Lesestoff in der Hand der ernstgerichteten Jugend.“

Herr Lehrer B. in B.:

„Die mir zur Beurteilung übersandten Bändchen sind eine einwandfreie Unterhaltungslektüre für Knaben von 12 Jahren an.“

Herr Landrichter V. in B., früher Untersuchungsrichter in S.:

„… Die Erzählungen habe ich mit großem Interesse gelesen. Als Unterhaltungsschriften für die Heimat sowohl als auch für das Feld würde ich die billigen und dabei guten Heftchen empfehlen können …“