Olaf K. Abelsen
Abenteuer
Abseits vom
Alltagswege
Einzig berechtigte
Bearbeitung a. d.
Schwedischen von
M. Schraut
– Band 46 –
Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16
Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1929 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16.
Der weißbärtige Kaid mit dem niederträchtig spöttischen Gaunergesicht blinzelte mich in scheinbarem Nichtverstehen fragend an.
„Deine Worte, Herr, sind wie die Schafe, die die Drehkrankheit haben. Sprich deutlicher.“
Er streichelte seinen Bart und deutete mit der anderen Hand, die einen Tschibuk hielt, durch die offene Tür nach draußen, wo an den Nordabhängen des Tales auf kleinen grünen Terrassen neben Pferden und Maultieren und Ziegen auch gefleckte Schafe von jener gedrungenen marokkanischen Spielart weideten, die aus einer immerwährenden Kreuzung von Wildschaf und Hausschaf hervorgegangen sind.
Die armen Tiere waren krank.
Es war dieselbe Seuche, die auch Europa kennt. Die davon befallenen Tiere drehten sich fast auf einem Fleck im Kreise, fraßen wenig, magerten ab und mußten geschlachtet werden.
Kaid Mahmed wußte recht gut, was ich meinte. Aber er wollte nicht verstehen.
Mit diesen braunen Herrschaften kann man nur durch diplomatische Mätzchen verkehren. Die wenigen Stämme, die in den Küstenbergen an der atlantischen Seite Marokkos hausen, sind stark mit Negerblut vermischt und lieben die krummen Geistespfade. Von dem schlichten Wort: „Deine Rede sei Ja oder Nein“ haben sie keinen blassen Schimmer.
Ich saß der offenen Tür am nächsten.
Mahmeds Lehmhütte enthielt Düfte, die ebenso uralt waren wie er selbst und genau so unangenehm wie seine Körperausstrahlung. Baden ist bei den Benguits unerhörter Luxus.
Vom Meere her stieß die Abendbrise das Tal entlang, und die Palmen und Feigenbäume und kümmerlichen Sträucher rauschten mit der fernen Brandung um die Wette.
„Kaid Mahmed, du bist mein Freund“, begann ich von neuem.
„Ja, Herr … Du hast uns viele Reittiere und Sättel geschenkt, die du gestohlen hattest …“ Er streichelte jetzt seine Nase, und seine Stimme hatte warnend-verächtlich geklungen.
Unsere Freundschaft beruhte auf dem sehr dünnen Fundament einer Dankbarkeit, die in den letzten Tagen stark verblaßt war.
Mahmed liebte keine europäische Gründlichkeit. Man könnte auch Neugier sagen.
Mein Blick schweifte zu der Seitenschlucht empor, vor deren dunklem Zugang zwei Krieger in braunen Umhängen und bunten Kopftüchern hockten.
„Gestohlen?! – Kriegsbeute!“, wehrte ich die Grobheit gutgelaunt ab. Aber diese gute Laune war Tünche. Meine Geduld war dem Reißen nahe. Diese Banditen behandelten mich seit Tagen als halben Gefangenen, und Kaid Mahmed hatte mir wiederholt sehr zart nahegelegt, ich solle doch nach Larache reiten, – – mithin ein versteckter Hinauswurf! Ausgerechnet nach Larache, wo man mich unbedingt verhaftet und vor ein Kriegsgericht gestellt hätte! Der Reittiere wegen …! Ganz sauber war die Geschichte nicht gewesen.
„Du bist mein Freund“, begann ich von neuem. „Ich möchte dir Ungelegenheiten ersparen. Heute nachmittag traf ich drüben im Wadi Tessan Spuren von dreißig Reitern …“
Mahmed verschonte seine Nase und schaute mich groß an.
Die dreißig Reiter hatten Eindruck gemacht.
Zur Beruhigung griff der Kaid schleunigst in den Topf mit den faustgroßen, halb gerösteten Zwiebeln und fing zu kauen an.
Ich rückte noch näher nach der Tür hin. Die marokkanische Zwiebel verdient den Namen Stinkknolle.
„Du meinst, Herr …?“, fragte er mit vollem Munde.
„Ich warne dich“, sagte ich einfach. „Es waren spanische berittene Legionäre mit einem Maschinengewehr, und in ihrem Zeltlager befand sich eine Frau, die dir, o Kaid, kaltblütig die Augen ausstechen würde.“
Er rutschte auf seinem Schaffell hin und her und kratzte sich die braune Brust. Es war nötig, – er hatte nicht nur Flöhe.
„Eine Frau …?!“, wiederholte er und würgte den Rest der Pestzwiebel hinab und hustete.
Meine Zeit war gekommen.
„Mahmed, die Spanier werden dich aufknüpfen … Du kannst deine Gefangenen nicht mehr anderswohin schaffen … Euer Dorf wird beobachtet …“
Bisher hatte der alte Edelgauner stets geleugnet, daß in der Schlucht Gefangene steckten, und unsere sogenannte Freundschaft hatte von dem Augenblick an einen Riß bekommen, als ich gemerkt hatte, daß man mich von der Schlucht fernhielt, und ich verlangt hatte, auch sie mir ansehen zu dürfen.
Ich war überzeugt, daß in der Schlucht Leute gefangen gehalten würden, für die Mahmed und Konsorten ein Lösegeld erpressen wollten.
Diese Art gefährlichen Nebenerwerbs ist selbst im gesitteten Jahre 1925 in Marokko noch nicht ausgestorben.
Der greise Kaid legte seine Pfeife weg.
„Herr, rate mir …“
…Wie schon erwähnt, nur mit Diplomatie war hier etwas zu erreichen.
„Raten – dir raten?! Bitte!“
Ich faßte in den Gurt und hielt ihm meine schöne, frisch geputzte Pistole hin.
„Schieße dir eine Kugel vor den Kopf … Ein Strick bereitet Unbehagen …“
Sein Unterkiefer klappte herab … Seine Augen quollen vor …
Angst!!
Aber dieser Bergbanditenchef war nicht dumm.
Plötzlich grinste er …
„Und du, Herr?! Wenn dich die Spanier fangen, werden sie …“
Ich lachte ihm ins Gesicht.
„Kaid Mahmed, mich hängt niemand so leicht! Das weißt du … Ich reite wie der Sturm, ich schwimme wie ein Fisch, ich laufe und klettere wie eine Bergziege, ich schieße und treffe, und ich habe den da, vor dem ihr Angst habt, als Freund.“
Der da, – das war ein Ungetüm von Hund, das war halb Wolf, halb Hund …
Und dieser Treueste der Treuen lag zu meinen Füßen und blinzelte Mahmed vorläufig mit neutralen Blicken an – vorläufig.
Kaid Mahmed wollte abermals nach einer Pestzwiebel greifen. Aber er zog die Hand zurück und sagte schnell:
„Du bist ein großer Krieger … Deine Klugheit übertrifft die Weisheit meiner Jahre … Was soll ich tun, Herr?“
Nun hatte ich ihn so weit, wie ich ihn haben wollte.
„Schicke Wachen oben auf die Talhöhen, Kaid, und dann reden wir weiter …“
Links von ihm hing die Signalsirene von Benguit.
… Ein Kupferkessel, von einem Schiffswrack „gefunden“, vielfach durchlöchert, daher zum Kochen ungeeignet.
Mahmed packte die zugehörigen Kesselpaukenschlegel und schlug einen Wirbel.
Trasso knurrte unmutig, und ich hielt mir die Ohren zu.
Der Kerl trommelte nur piano, – – er hatte Angst, daß der Schall zu weit dringen könnte.
Nachdem er von seinen mehr malerisch als sauberen Kriegern zwanzig als Posten weggeschickt hatte – die Kerle machten ziemlich längliche Gesichter – wurde er selbst fabelhaft liebenswürdig.
Er pries meine Tugenden und Vorzüge, und zum Schluß kam die Hauptsache:
„… Herr, wir wollen miteinander reden …“
„Ich werde fragen …“
Schnell nahm er eine Zwiebel … Ich kannte das schon. Er kaute, die Augen tränten ihm, und die Pestknolle stank bestialisch.
„Wer sind die Gefangenen?“
Er verdrehte die Pupillen wie ein sterbender Hammel …
„Herr, es … es ist ein Greis, den wir schon … fünfzehn Jahre bei uns haben …“
Er log nicht.
Wenn Mahmed schwindelt, hat er Engelsaugen und das Lächeln eines Säuglings.
„Fünfzehn Jahre?! – Wie das?!“
Er kratzte sich und kaute … „Herr, der Mann kam zu uns mit vier Maultieren … Er wollte nach Süden, wo der Dschebel Kainar die Sommerhitze aufsaugt und kein Mensch und kein Tier leben kann …“
„Und er hatte vieles bei sich, was ihr brauchen konntet … Ich verstehe … – Wo fingt ihr ihn?“
„Im Norden in den Bergen …“
„Er war allein?“
„Ja, Herr …“
„Ein Spanier?“
„Vielleicht … Er nannte nie seinen Namen. Er spricht alle Sprachen, er erschoß fünf von uns, und wir hatten ein Anrecht auf sein Gepäck.“
„Nach eurer Auffassung!! Nun begreife ich auch, weshalb hier im Dorfe so viel seltsame Instrumente in den Hütten herumliegen. – Und wer befindet sich noch in der Schlucht?“
Kaid Mahmed hustete…
Sein Atem stockt …
Trasso und ich rutschten noch mehr ins Freie.
„Eine … eine junge Frau …“
Also doch!! Ich hatte richtig gehört.
„Wann nahmt ihr die Frau gefangen?“
… Peinliche Frage …!! Der Banditenchef schaute zu Boden auf seine Beine. Der unappetitliche Anblick seiner nackten Füße in den ungegerbten Sandalen war ihm nichts Neues.
Mir auch nicht. Leider.
„Vor zwei Monaten, Herr …“:
„Allein?“
Abermals mußte eine Zwiebel daran glauben.
„Herr“, schmatzte der weißbärtige Normalmarokkaner (die braunen Herren sind alle einander gleich in gewissen kleinen moralischen Defekten, die man schließlich in der Verfeinerung des Defraudantentums, des Bankbetruges und ähnlicher „Geschäftstüchtigkeit“ auch in Europa findet) – „Herr, sie setzten sich zur Wehr, und …“
„Verstehe …: Tot!! – Und die Frau?“
Kaid Mahmed röchelte vor Verlegenheit …
„Ein … Mädchen, Herr, eine Spanierin …“
„Ihr Name?“
Der alte Gannef holte aus seinem Kittel einen Briefumschlag hervor …
„Da, Herr … lies … Ich kann es nicht lesen …“
Zunächst schüttelte ich den Brief mit weit seitwärts gestreckter Hand gründlich hin und her.
Es war nötig …
Dann las ich die Aufschrift:
Oberst, Riverro, Kommandant von Larache.
Dann zog ich den Briefbogen hervor. Die Bleistiftschrift war kraftvoll und schlicht, der Text englisch …
„Herr Oberst, man hat meine Begleiter ermordet und will mich nur für ein Lösegeld von 200 000 Pesetas freigeben. Setzen Sie sich bitte mit Mr. Simon Smetterlay, London, Strand 15, in Verbindung. Er wird die Summe vorschießen. Da hier bei dem Bergstamm, der mich gefangen hält, ein zweifellos gefährlicher europäischer Abenteurer weilt, kann ich nur durch Zahlung der verlangten Summe meine Freiheit zurückgewinnen und darf Ihnen auch nicht verraten, wo ich mich befinde. – Alix Honoria Gwenda Wilkins, Tochter Lord Albert Farsings.“
Als ich dies gelesen hatte, begriff ich erst, weshalb Kaid Mahmed immer wieder so zart angetippt hatte, ich solle nach Larache reiten.
Ich hätte natürlich den Brief befördern sollen.
„O Mahmed“, sagte ich kopfschüttelnd, „unsere Freundschaft ist wie Butter in der Sonne … Du bist ein Schuft.“
Seine Sprachkenntnisse des Spanischen reichten gerade hin, dieses „Schuft“ mit zu kapieren.
Er … feixte. Es war eine Schmeichelei für ihn.
„Ich bin sehr weise, Herr … Du hättest uns nicht verraten, denn du hast 252 Reittiere gestohlen, und dein Hals ist auch reif für einen Strick.“
Natürlich schätzte er mich nach seiner eigenen Mentalität ein. Er war wohl nur mit Europäern in Berührung gekommen, die seines Schlages waren. Es wäre zwecklos gewesen, ihn anzugrobsen. Die Dinge hier lagen verdammt ernst, auch für mich.
Ich drehte den Briefbogen um und las Miß Wilkins Nachschrift:
„Herr Oberst, belästigen Sie den Überbringer des Briefes auf keinen Fall. Ich bin hier nicht die einzige Gefangene. Das Geld soll dem Überbringer anstandslos ausgezahlt werden. Es hängt unendlich viel davon ab. Ich bitte Sie also, nicht etwa zu versuchen, den Boten durch Drohungen einzuschüchtern.“
Mir war schon so allerhand begegnet. Daß mich aber ein Marokkanerhäuptling als Gehilfe bei einer netten Erpressung hatte benutzen wollen, durfte ich auf das Konto „Besondere Erlebnisse“ buchen.
Der edle Kaid fraß schon wieder Zwiebel.
Das Tal schwamm in Feuerglut des Sonnenunterganges … Die armen Drehschafe waren rosig angehaucht.
Dann stürzte einer der Benguits herbei:
Alarm!!
Er hatte drei Spanier bemerkt, die in einem Seitentale entlangkämen …
Patrouille also …
Mahmed tief aschgrau an …
„Herr“, winselte er, „nimm du die beiden Gefangenen und entfliehe mit ihnen … Du bist klug, du bist tapfer, du bist …“
Ich stand schon auf den Beinen.
„Führe mich in die Schlucht… Lasse drei Pferde satteln …!“
Er erteilte stotternd die nötigen Befehle.
Dann trabte er vor mir her und murmelte Gebete und fluchte auf das Maschinengewehr …
Dreißig Spanier hätten ihn niemals zu dem erhöhten Zwiebelgenuß angefeuert. Aber die moderne Kugelspritze, – die erforderte allein vier Pestknollen als Nervenberuhigungsmittel.
Ein Segen, daß ich nicht dazu verurteilt war, mit Mahmed nachts in einer Hütte zu schlafen.
Abseits von der Heerstraße der Kontinente blüht die seltene Blume Romantik. Abseits von den Pfaden der Touristenscharen, die heute bereits im Luxusautobus die berühmten Oasen Nordafrikas aufsuchen, wo vor zwanzig Jahren noch verwegene Raubritter der Wüste plünderten und mordeten, braust das Blut frisch und belebend durch Körper und Hirn und lehrt die Dinge aus anderer Perspektive betrachten, lehrt aber auch, jeden Umstand für sich selbst auszunutzen, selbst auf Kosten der Wahrheit.
Ich hatte den alten Kaid belogen, als ich von dreißig spanischen Legionären und einer Frau und einem Maschinengewehr redete. Alles, was ich im Wadi Tessan beim heutigen Jagdausflug beobachtet hatte, waren drei lagernde Reiter, von denen der eine allerdings ein Weib in Legionäruniform gewesen war, eine Frau übrigens, die mir im Fernglas ihr fast unheimliches starres, finster drohendes Gesicht enthüllt hatte.
Daß ich aus diesen drei Reitern einunddreißig nebst Kugelspritze werden ließ, war entschuldbar.
Wie gesagt, die Schlucht hatte es mir seit Tagen angetan.
Sie wurde scharf bewacht, trotzdem hatte ich eines nachts den Westrand der Schluchtwand heimlich erstiegen und war sekundenlang droben zwischen den Felsbrocken und Dornen geblieben, obwohl die Aussichten, irgend etwas zu erspähen, sowohl infolge der späten Nachtzeit als auch durch den überwölbten Teil des Schluchtwinkels äußerst gering waren.
Dann hatte ich doch etwas vernommen.
Eine helle Frauenstimme sang halblaut englische Volkslieder …
Eine süße, weiche, junge Stimme war es gewesen, und es hatte geklungen, als ob ein älteres Schwesterlein ein durch unruhige Träume aufgeschrecktes Kind in den Schlaf sang.
In der feierlichen Stille jener Nacht hatte mich der Gesang seltsam ergriffen.
Plötzlich hatte die junge Stimme geschwiegen, und unklar vernahm ich ein Gespräch, das bald wieder verstummte.
Ich mußte umkehren, und von jener Stunde an hatte ich auf eine Gelegenheit gehofft, den alten Gauner Mahmed überlisten zu können, da mit Gewalt hier nichts auszurichten war. Der Stamm der Benguits zählte dreihundert Krieger, und die Kerle besaßen größtenteils moderne Feuerwaffen, die sie allerdings unglaublich vernachlässigten.
Jetzt trabte Kaid Mahmed aufgeregt vor mir her, die Wachen am Schluchteingang, der durch Büsche verdeckt war, ließen auch mich passieren, und zum ersten Male betrat ich das Gefängnis eines Unbekannten, der hier bereits fünfzehn Jahre in strengster Abgeschlossenheit hauste.
Nun, die Schlucht bot trotz ihrer steilen Wände und trotz ihrer geringen Ausdehnung ein freundliches Bild dar. Um eine kleine Quelle und einen winzigen Weiher standen Palmen, Feigenbäume und blühende Büsche. Ziegen weideten auf dem frischen Grase, und unter dem von einer großen Felsplatte überwölbten äußersten Schluchtwinkel bemerkte ich zwei Zelte und ein flackerndes Feuer, an dem die beiden Gefangenen saßen.
Mahmeds Anwesenheit war mir gleichgültig. Er konnte kein Wort Englisch.
Die Abendröte hatte auf diesen Felsenkessel den Abglanz ihres zauberhaften Farbenspiels gespendet. Die Frau am Feuer erhob sich, kam uns entgegen, und in der federnden Leichtigkeit ihrer Bewegungen lag ebensoviel verhaltene Kraft wie in dem Schritt des jungen, sehr jungen und leicht gebräunten Gesichts.
Ihr Leidensgefährte, der mehr einem Eingeborenen als einem Europäer glich und einen überlangen Bart und ebenso langes graues Haar hatte, blieb sitzen. Auch sein Gesicht besaß scharfe, klare Züge.
Ich war erstaunt über die Kleidung der Miß Wilkins, – ihr Reitanzug aus Kordstoff war tadellos sauber und fast neu. Als das Abendrot ihren bloßen Scheitel traf, leuchtete ihr blondes Haar wie Gold.
Sie war eine typische, vornehme Engländerin, in allem. Keine Schönheit, nein, etwas zu selbstbewußt, die Oberlippe zu kurz, die Oberzähne zu kräftig. Trotzdem eine bestechende Erscheinung.
Und – – so jung! Sie konnte kaum Zwanzig zählen.
Sie blieb stehen, musterte mich, – Mahmed war für sie Luft.
Ihre grauen, großen Augen hatten einen sehr eindeutigen Ausdruck von Geringschätzung.
Nun hingen diese Augen an meinem Gesicht. Ich sah, wie ihre Züge sich veränderten, sie öffnete den Mund, sie hätte vielleicht meinen Namen erstaunt ausgerufen, – ich kam ihr zuvor.
„Miß Wilkins, Kaid Mahmed wünscht, daß Sie beide unter meiner Führung dieses Tal sofort verlassen … Packen Sie bitte Ihre Habe zusammen … sofort! Fragen Sie nichts … Wir haben es eilig …“
„Und – – wohin?!“, meinte sie nur.
„An Ihr Ziel, Miß Wilkins … – Schnell also!“
Sie nickte kurz.
„Ich … verstehe … vielleicht, Mister …“
Ihr Blick streifte meinen Wolfsbastard.
„Trasso …!“, murmelte sie … „Ja, ich verstehe …“
Sie kehrte zu dem Graubart zurück, flüsterte mit ihm …
Mein sogenannter Freund Mahmed trippelte ungeduldig hin und her.
„Herr, wirst du mit den beiden entfliehen können? – Herr, es geht auch um dein Leben …“
„Und um das Deine! – Mahmed, ich verlangte vorhin drei gute Reitpferde und zwei gute Packpferde … Sorge dafür, daß deine Leute uns die besten und genügend Proviant geben. Es geht um deinen Hals …!“
Er hustete und lief zum Schluchteingang … Seine Stimme zeterte dort, schalt, schimpfte … Wahrscheinlich hatten seine Krieger die schäbigsten Gäule herbeigebracht.
Trasso, Wolfsbastard mit ruhmvollen Narben, sträubte etwas das Genickhaar. Aus seiner Brust kam ein Grollen, sein Kopf reckte sich empor, bog sich nach hinten, und seine Nase sog die Luft hörbar pfeifend ein.
Miß Wilkins erschien mit einem Bündel aus ihrem Zelt. Hinter ihr drein trabte ein Tier, das Trasso mißfiel, eine halb ausgewachsene Hyäne, – nein, doch keine Hyäne, sondern eine höchst unwahrscheinliche Kreuzung zwischen den der echten Hyäne nur entfernt verwandten Hyänenhund und irgend einer hochbeinigen, langhaarigen Hundeart, vielleicht einem unreinen Bernhardiner. Genau ließ sich dies auf dem ersten Blick nicht feststellen.
Ich nahm Trasso schleunigst an die Leine, denn auch Miß Wilkins’ seltsames Schoßhündchen, das nicht viel kleiner als Trasso war, machte Miene, zum Angriff überzugehen.
Ein scharfer Zuruf des Mädchens genügte jedoch, – das Tier gehorchte aufs Wort, und dann gesellte sich uns auch bereits der graubärtige, knochige und große Fremde zu, der gleichfalls ein Bündel schleppte.
Er betrachtete mich flüchtig, in seinen Augen lag ein merkwürdiger Ausdruck von verbissener Feindseligkeit, nichts von jenem scheuen, in sich gekehrten Blick langjähriger Gefangener, – – und dieser Mann hatte volle fünfzehn Jahre in der Enge dieser Schlucht und in dieser Einsamkeit gehaust …
Wir hatten keine Zeit, irgendwelche Bemerkungen auszutauschen. Kaid Mahmeds kreischende Greisenstimme rief, und sein Zuruf war dringlich und mahnend.
Die Pferde und Packpferde genügten meinen Ansprüchen, – das Abendrot verblaßte, die Dunkelheit brach herein, und mein Abschied von dem teuren Freunde Mahmed entbehrte jeder Phrase.
„Mahmed, – wir brauchen Waffen für die Miß und den anderen Mann!!“
Das war Befehl.
„Ihr sollt haben, was ihr wollt, Herr …“ – der alte Gauner hätte sich ehrlicher ausgedrückt, wenn er gesagt hätte: „Hier sind die einst geraubten Waffen …!“
Miß Wilkins streichelte ihre leichte Repetierbüchse und lächelte den Kaid dabei an …
„Du weißt, – acht Tote, o Kaid!! Acht!!“
Mahmed zog sich schleunigst hinter den dichten Kreis seiner Banditen zurück. Das halbe Dorf war versammelt. Ich war froh, als wir außer Schußweite waren. Ich traute den Kerlen nicht, sie hatten allzu finstere Gesichter.
Meine Ortskenntnis kam mir sehr zustatten. Ich bog in ein Quertal ein, das nach Südost zu verlief und auf eine steinige Hochebene mündete. Wir ritten flottesten Trab, – ich fünfzig Meter voraus, neben mir Trasso, später ging es im Galopp weiter, das Hochplateau war mit Felsgruppen bedeckt, der Boden kahl, und die Benguits sind keine Fährtenleser, sind keine Rifkabylen, sind nur faule Tagediebe.
Die Dunkelheit war da. Es war jene kurze Übergangszeit zur Sternenhelle, die am günstigsten für einen einfachen Trick ist, wie ich ihn beabsichtigte. Ich schlug einen Bogen, kehrte um, – plötzlich erschien Miß Wilkins neben mir …
„Weshalb das, Mr. Abelsen?!“
„Später! – Wir lagern sofort …“
Nach zehn Minuten hielten wir inmitten zerklüfteter Felsen.
„Bleiben Sie hier, Miß, – ich muß zum Dorfe zurück … Die Benguits werden, fürchte ich, meinen frechen Schwindel schnell durchschauen …“
Ich half beim Absatteln der Packtiere. Freund Mahmed war so aufmerksam gewesen, uns auch vier gefüllte Wasserschläuche mitzugeben. Der eine war undicht, das eine Packpferd leckte gierig die Pfütze auf.
„… Ich hoffe, in zwei Stunden zurück zu sein…“, – hiermit trennten wir uns. Ich hatte bisher mit dem alten Graubart, der außerordentlich verschlossen schien, kaum ein Dutzend Worte gewechselt. Ich kannte seinen Namen nicht, Miß Wilkins hatte ihn nur mit „Tom“ angeredet, und das besagte gar nichts, höchstens das eine, daß sie mit „Tom“ während der drei Monate ihrer Gefangenschaft recht vertraut geworden war. Übrigens war der Mann bestimmt kein Spanier, sondern ein Engländer, und mein lieber Freund Mahmed hatte daneben geraten, als er ihn für einen Spanier gehalten hatte. Kaid Mahmed riet trotz der Weisheit seiner Jahre oftmals daneben.
Ich trabte davon, ich ließ Trasso frei, schickte ihn als sicherste Vorhut ein Stück voraus und bog nachher in ein anderes Seitental ein, wo ich die angebliche Patrouille meiner Berechnung nach antreffen mußte. Es war meine Pflicht, die drei Leute, insbesondere die Frau vor den Benguits zu warnen. Ich hatte sie und ihre beiden Begleiter für meine Zwecke ausgenutzt, und es wäre wider mein Gefühl gegangen, das Schicksal der drei irgend einem blöden Zufall zu überlassen. Kaid Mahmed mußte ja über kurz oder lang merken, daß ich mir einige achtundzwanzig Legionäre und die noch mehr gefürchtete Kugelspritze aus den Fingern gesogen hatte.
Die Sterne waren da. Die milde Dämmerung dieser angenehm warmen Nacht zauberte aus den zumeist kahlen Felsen, Felspartien und zerrissenen Talwänden phantastische Ruinen hervor. Es gehörte nur wenig Einbildungskraft dazu, diese toten Naturtürme, Wälle, Bastionen und Burgruinen in eine andere Weltgegend als echte Ruinen zu versetzen: In das endlose Engadin-Tal, wo auf der tiroler Seite auf spitzen Bergkegeln die Mauern trutziger Schlösser von einst durch leere Fensterhöhlen Sonnen- und Mondlicht in das unzugängliche Innere hineinfluten lassen.
Aber für solche Erinnerungen an eine Zeit, in der ich die Welt als Arbeitstier durchstreift hatte, war hier nicht Ort noch Stunde. Ich wußte, was ich von den Benguits zu gewärtigen hatte, wenn sie erst einmal herausfanden, wie frech ich sie an der Nase aufs Glatteis geführt hatte. Zweimalhundertausend Pesetas waren viel Geld, und Miß Wilkins hätte sie bezahlt …
Betrogene Erpresser dieser Art fackeln nicht lange.
Also – Vorsicht, Olaf …!
Und ich richtete mich danach.
Freilich, wäre ich nur immer behutsam Schritt geritten, hätte ich das Risiko verringern können.
Ich hatte Eile.
Ich hatte mir die Zeit genau berechnet, ich wußte, wo die Benguit-Wachen die drei „Legionäre“ erspäht hatten …
Dumpf warfen die Talwände den Widerhall der beschlagenen Hufe meines guten Gaules zurück. Ich vermied nach Möglichkeit den Felsboden, ich suchte sandige Stellen, sie waren selten …
Eine halbe Stunde verging.
Das Haupttal des Benguit-Flusses war nahe. Die Vegetation wurde üppiger, und dann erschien vor mir die erste Gruppe von Palmen und Feigenbäumen. Ich kannte sie, ich hatte hier wiederholt Wildschafe angetroffen, die von den östlichen Bergen herabgestiegen waren und geäst hatten. Aber auch Schakale hausten hier, eine ganze Kolonie, kleines freches Gesindel, das die Nächte mit seinem hungrigen Kläffen entweihte und Wildlämmer einkreiste und zerriß, bevor noch die angriffslustigen Widder ihre Nachkommenschaft schützen konnten.
Trasso, wieder vierzig Meter voraus, hatte vor den ersten Bäumen halt gemacht. Er duckte sich, er schlackerte einen Schakal hin und her, bis der kleine Räuber ihm schlaff zwischen den Zähnen hing.
Ich fluchte …
Eins war Trasso nicht abzugewöhnen, – diese ererbte wilde Jagdleidenschaft, ererbt von seinen Wolfsahnen.
Stolz trabte er mit seiner Beute auf mich zu.
Der scharfe Verweis machte ihm nichts aus. Er ließ den Schakal fallen und verkroch sich gekränkt hinter meinem Gaule.
Schatten flitzten zwischen den Bäumen eilends in ihre Erdlöcher und Felsklüfte. Mit klappernden Hufen machte eine kleine Herde Wildschafe rechts über mir kehrt und schickte lange polternde Geröllbänder in die Tiefe.
Ich fluchte …
Das war nicht jene Stille, die ich brauchte!
Das war ein infamer Lärm, der sich im Tale weithin fortpflanzen mußte.
Meine Stimmung sank. Ich hätte den dreien ja auch längst begegnet sein müssen. Wo steckten sie?!
Mein Gaul, klein, zäh, ruppig und doch für diese Bergwelt das passendste Reittier, schnaubte und drängte auf das flache Gras neben dem Regentümpel zwischen den Palmen zu.
„Verfluchte Kreatur!! Nach links!!“
Ich hieb ihm die stumpfen Sporen in die Weichen, und mit langen Sätzen fegte ich an dem Wäldchen vorüber.
Hundert Meter weiter – ich wußte es – sperrten Dornen das Tal und boten nur einen schmalen Durchschlupf.
Das waren bereits jene niederträchtigen Dornen, die weit über mannshoch werden und armdicke Äste haben, – wundervolle Naturverhaue, wo man sie brauchen kann, aber unüberwindliche Hindernisse, wo sie einem im Wege sind. Nach Süden zu werden sie noch üppiger, und im Dschebel Kainar, den „Sonnenbergen“, von denen Kaid Mahmed so wundervolle Märchen zu erzählen wußte, sollen sie die schmalen Zugänge in das öde Hochland völlig ausfüllen …
Ich fand den schmalen Durchschlupf…
Der Seewind, der das Benguit-Tal entlangstieß, säuselte auch hier mit aller Art von Flöten, und man roch die Nähe des Meeres, obwohl es bis zur Benguitmündung zwei volle Meilen waren und obwohl man den Ozean nur von den höchsten Kuppen erspähen konnte. Es stank nach faulendem Seetang, aber der Geruch war nicht unangenehm, er hatte etwas Kräftiges, Urwüchsiges an sich, und unschwer konnte man sich die Berge aufgehäufter, angespülter Seepflanzen vorstellen, die tagsüber von der Sonne durchhitzt wurden und in deren Tiefen die Wärme noch zunahm, – genau wie in den Düngerhaufen ländlicher Besitzungen, deren Wärmegrade oft genug zur Selbstentzündung genügen.
Mein Gaul tänzelte behutsam durch die schmale Öffnung des Verhaus über trockene Dornenzweige hinweg.
Hinter mir urplötzlich Trassos schärfstes, hellstes Knurren …
Fast wie ein Aufheulen …
Und dann sah ich ein Wettrennen, wie es nur die Wildnis kennt…
Weit vor mir flog ein Reiter in tadellosem Sprung über einen Dornenwall …
Ein zweiter folgte, ein dritter …
Schüsse bellten wütend durch die schweigende Nacht …
Die drei Legionäre waren es, – genauer gesagt die Frau mit dem unerbittlichen Gesicht und ihren beiden Begleitern …
Hundert Meter hinter ihnen fegte eine Reihe von Benguits dahin, allen voran Kaid Mahmed, trotz seiner Jahre wie ein Jüngling in hohem Bocksattel sitzend …
Längst hatte ich mein Pferd zurückgerissen und seitwärts in die Sträucher gedrängt. Einer der Pseudolegionäre sprang auf den Zuruf der Frau wie ein Zirkusreiter vom Gaule …
„Walkin, schießen Sie ..!!“
Also Walkin hieß dieser mittelgroße, sehnige Bursche.
Er schoß, – – und er traf …
Kaid Mahmeds Pferd brach zusammen …
Das nächste brach zusammen …
Walkins Repetierbüchse spie Schuß um Schuß.
Die Marokkaner hielten …
Pferdeleiber wälzten sich hinter den Dornenstreifen …
Wildes Geheul schrillte in die Lüfte …
Mein Blut fieberte …
Aber ich bezwang mich …
Walkins Magazin war leer, er bückte sich, lief zu seinem Pferde, das gehorsam stehen geblieben war, und preschte den beiden anderen nach, immer nur Sandstreifen benützend, immer sich in Deckung haltend.
Die Benguits überschütteten den Dornenwall mit verschwenderischer Kugelsaat. Ich zwang meinen Gaul bis an die Talwand hinter einen Felsen, Trasso knurrte, eine Kugel hatte ihm einen blutigen Strich über den Schädel gezogen, auch mein Burnus hatte Löcher, auch mein Pferd wedelte nervös mit dem linken durchschossenen Ohr. Wir waren noch gut weggekommen, und das Glück blieb uns treu. Kaid Mahmed schickte Späher vor, sie fanden den Verhau unbesetzt, der Reitertrupp jagte weiter, nur fünf Leute kehrten um, zu Fuß, beladen mit den Sätteln der erschossenen Tiere …
Die Frau mit ihren Begleitern hatte Vorsprung gewonnen, mindestens fünf Minuten, und das bedeutete nichts anderes als geglückte Flucht.
Still und verlassen lag das Quertal des Benguit wieder da. Aller Lärm war verstummt. Nur die armen angeschossenen Pferde stöhnten drüben im Todeskampf. Trasso blutete. Ich verband den Streifschuß, und ich rechnete dabei in Gedanken nochmals nach: Ja, es waren etwa hundertfünfzig Krieger mit zwanzig Packpferden gewesen, ein ganzer Heerestroß. Kaid Mahmed hatte die Verfolgung ganz groß aufgezogen, – der Zweck war unschwer zu durchschauen, er wollte um jeden Preis Miß Wilkins und den Graubart Tom und mich sowie die drei Pseudolegionäre wieder einfangen, er wußte nun, daß ich ihn gründlich hinters Licht geführt hatte, und die 200 000 Pesetas konnten vielleicht, so mochte er kalkulieren, 400 000 werden …
Trasso winselte vor Schmerzen.
Streifschüsse brennen wie Feuer …
„Armer Kerl!“ – Ich streichelte ihn, aber ich war nur halb bei der Sache, meine Gedanken beschäftigten sich mehr mit der nächsten Zukunft, ich hatte Kaid Mahmed mit seinen Banditen absichtlich vorübergelassen, jetzt war ich im Vorteil, die Bande ahnte nicht, daß ich mich an ihre Fersen heften würde …
Ich ließ zehn Minuten verstreichen …
Wollte mich gerade in den Sattel schwingen, als ich doch noch, vorsichtig wie immer, einen allerletzten Blick durch die Lücke talabwärts warf.
Zweierlei bemerkte ich: Ein paar Schakale, die sich bereits fleischhungrig an die Pferdekadaver heranschlichen und blitzschnell wieder verschwanden.
Ein einzelner Reiter kam lautlos daher, lautlos, als ob sein Pferd umwickelte Hufe hätte.
Hinter ihm in dreißig Meter Abstand trotteten drei hochbepackte Maultiere. Sie mußten tadellose Dressur haben, daß sie so ganz ohne Führung dem Manne folgten, der nicht viel anders aussah als ich.
Ich trug Eingeborenenkleidung. Er auch. Aber er war kein Marokkaner, – das Mondlicht beschien sein Gesicht, es war das eines sehr sonngebräunten Europäers.
Ohne die toten Pferde zu beachten, passierte er hier die Öffnung in meinem Dornenwall und hielt fünfzig Meter weiter an, äugte scharf umher, horchte und sprang aus dem Sattel. Sein Pferd war ein hochbeiniger Brauner, niemals ein Berbergaul, wahrscheinlich ein Tier spanischer Herkunft.
Dem Braunen waren die Hufe tatsächlich umwickelt gewesen. Der Fremde entfernte die dicke Wollbandage, schob sie in seine Satteltasche und horchte von neuem.
Sein Profil war scharf und kühn, seine Bewegungen selbstbewußt, ruhig, abgemessen, der blonde kurze Spitzbart neueren Datums, noch etwas stachelig …
Das Mondlicht machte die Nacht fast zum Tage.
Ich sah alles …
Seine Waffen waren tadellos, seine Packtiere, ebenfalls hochbeinige Geschöpfe, gut genährt, sicherlich sehr ausdauernd.
Sein ganzes Verhalten deutete auf einen alten erfahrenen Jäger und Fährtenleser hin.
Er gefiel mir.
Trotzdem meldete ich mich nicht …
Das Leben im Abseits hat mich mißtrauisch gemacht.
Ein kühnes, offenes Gesicht ist noch lange kein Beweis für einen offenen Charakter.
Der Mann schwang sich in den Sattel und ritt davon. Seine Packtiere hatte er durch Zuruf noch weiter zurückgeschickt. Es war erstaunlich, wie gut sie gehorchten.
Er trabte langsam gen Süden, entschwand mir, und ich wartete weitere fünf Minuten.
Ich fühlte mich ziemlich sicher, ich war jetzt der allerletzte einer Anzahl von Menschen, die einander feindlich gesinnt sein mußten. Kaid Mahmeds Heerestroß stellte den Feind vor, Feind aller, die hier in den Bergen unbekannten Zielen zustrebten und Ungeahntes beabsichtigten.
Während ich dem Spitzbärtigen Vorsprung ließ, überlegte ich mir das Geschehene nochmals.
Ich kam immer wieder zu demselben Ergebnis.
Da war vor fünfzehn Jahren der Graubart von den Benguits abgefangen worden, ein Engländer.
Der Mann mußte eine größere Anzahl Lasttiere bei sich gehabt haben. Die Benguits hatten ihn ausgeplündert und in die Schlucht gesperrt, und in ihren Hütten hatte ich deutliche Anzeichen dafür gefunden, daß „Tom“ ein Forscher, ein Gelehrter gewesen. Die Banditen Kaid Mahmeds, meines „treuen Freundes“, hatten mit all den Instrumenten nichts anzufangen gewußt, hatten sie zum Teil zerschlagen und das Messing zu Geräten für den Hausgebrauch zurechtgehämmert …
Wohin hatte „Tom“ als Forscher vorstoßen wollen?!
War er wirklich allein gewesen?!
Und dann war ihm vor etwa drei Monaten auf demselben Wege die blutjunge Miß Wilkins gefolgt. Auch sie fiel den Benguits in die Hände, ihre Schutzwache wurde erschossen …
Wohin hatte Gwenda Wilkins, Tochter Lord Farsings, gewollt?!
Ja – – wohin?!
Und wohin hatten die andere Frau mit den strengen Zügen und mit ihren beiden schneidigen Begleitern ihren abenteuerlichen Ritt ausdehnen wollen?! Drei Packpferde hatten sie bei sich, genau wie der letzte dieser Wanderer im Abseits, der Mann mit dem Spitzbart. Welchem Ziele strebten sie entgegen?!
Das waren also insgesamt vier einzelne Parteien, die alle südwärts in die ödesten Gebiete Marokkos hineingeritten waren, – vier Parteien, aber mit Zwischenräumen von vielen Jahren, von Monaten und Tagen …
Wohin wollten sie?
Von der Frage kam ich nicht los.
Ich zweifelte nicht daran, daß sie alle das gleiche Ziel gehabt hatten oder noch hatten.
Ich wußte trotzdem nichts über ihre Absichten.
War etwa Miß Wilkins ausgezogen, um den Graubart Tom zu suchen?!
Nach fünfzehn Jahren?!
Hatten sie sich schon früher gekannt, diese beiden …?!
Gwenda Wilkins mußte ja ein Kind gewesen sein, als Tom in die Schlucht eingesperrt wurde!
Und doch: Sie mußten sich gekannt haben …! Diese Vertraulichkeit zwischen ihnen war nicht nur die Folge einer gemeinsamen Kerkerhaft von drei Monaten.
Und die andere Frau mit den beiden Pseudolegionären?!
Auch Engländer!!
Der eine hieß Walkin …
Die Frau hatte ihm englisch den Befehl zum Schießen zugerufen.
Aus diesen dreien, mit denen ich Freund Mahmed so gründlich hineingelegt hatte, wußte ich mir gar keinen Vers zu schmieden. Hatten sie Gwendas Verbleib nachforschen wollen?!
Schließlich noch der vierte, der einzelne Mann.
Der gab mir am meisten zu denken.
Der mußte den dreien heimlich gefolgt sein.
Der war Verfolger!
Sein Auftreten hier als Zufall hinzunehmen, wäre unsinnig gewesen.
… Alles in allem: Ein sehr seltener Abenteurerroman, dessen Anfangskapitel fünfzehn Jahre zurücklag.
Dies überlegte ich mir.
Selbst im Abseits darf man die Gedanken nicht ungeordnet spazieren führen. Man muß wissen, woran man ist, zumal in einem Lande, wo die Gewehre so leicht losgehen und wo endlose Gebiete nur ein paar Menschen bergen.
– Ich ritt den Weg zurück … Ich mußte nach meinen beiden Gefährten sehen, die freilich den Dank für ihre Befreiung nur durch hartnäckiges Schweigen über sich selbst zum Ausdruck gebracht hatten.
Ich kam auf die Hochebene, ich fand auch unschwer die Felsgruppe, wo die beiden Befreiten mit den Packtieren zurückgeblieben waren.
Von Kaid Mahmeds Heerestroß bemerkte ich nichts mehr.
Ich hatte Trasso in den Sattel heben müssen, er taumelte beim Laufen.
Da waren die Felsen …
Ich erkannte sie wieder …
Da war einer, der einem Geierkopf glich …
Und dann …:
„Bitte, Mister, – – Hände hoch!!“
Das klang fast gemütlich, fast belustigt.
„… Ach so, – Sie haben einen Hund im Arm … Entschuldigen Sie …“
Zwischen den Felsen trat der Spitzbart hervor …
„… Entschuldigen Sie … Ein Irrtum … Sie sind doch Abelsen? Die Spanier in Larache sind verdammt scharf auf Sie … Sie haben jetzt die Ehre, daß ein zweiter Steckbrief gegen Sie läuft … Und darin steht: „Führt einen Hund von wolfsähnlichem Aussehen bei sich und hat ein mageres braunes Gesicht wie ein Abruzzenräuber … – Ich helfe Ihnen … Geben Sie mir nur Ihren Hund … Streifschuß, nicht wahr?! Weshalb spielten Sie auch Kugelfang hinter den Dornen?! – – So, Ihr Trasso soll sauber verbunden werden … Freut mich, daß wir uns getroffen haben, – freut mich weniger, daß dort in den Felsen zwei tote Packpferde liegen … Vergiftet …!“
… Ich kam gar nicht zu Worte.
„Simon Smetterlay ist mein Name … Meine Freunde nennen mich Sim, meine Feinde nennen mich den Satansanwalt … Klingt häßlich … Stimmt aber. Sie verfluchen mich, diese fragwürdigen Herrschaften … Sie fluchen noch, wenn sie den Strick um den Hals haben. – Steigen Sie doch ab … Ich spielte gerade Chemiker … Gerichtschemiker … Die Packtiere sind an Arsenikvergiftung krepiert …“
„Und … Miß Wilkins?!“, fragte ich atemlos.
„Weg!! Futsch, mein Lieber!! Tolle Geschichten … Wird noch toller werden, glauben Sie mir.“
Er führte mich zwischen die Felsen und deutete auf den aufgeschnittenen Leib eines Pferdes.
Nebenbei lagen drei leere Wasserschläuche.
„… Unappetitliche Geschichte, Abelsen … Mageninhalt untersuchen, – – kein Vergnügen! – Erzählen Sie mal ganz kurz …“
Diesem Sim Smetterlay hätte auch der mißtrauischste Ganove sein Herz ausgeschüttet.
Ein Prachtkerl, der Sim.
Ich berichtete…
Er pfiff durch die Zähne …
„Schuft!!“, sagte er …
„Giftmischer!“, empörte ich mich. „Kaid Mahmed hat das Wasser in den Schläuchen vergiftet!“
„Natürlich … Sie erzählten ja, daß der eine Schlauch leckte und der eine Gaul die Pfütze aufsog … – Jetzt kommt Ihr Trasso an die Reihe. Die Schmerzen werden sofort nachlassen … Dann reiten wir weiter, um den Anschluß nicht zu verlieren. Unterwegs fragen Sie mich bitte nicht aus … Schließlich sind hundertfünfzig Benguits doch eine Übermacht, die man so etwas respektieren muß …“
So war Simon Smetterlay, der Satansanwalt.
Er war von meinem Schlage …
Nur mit dem Fährtenlesen haperte es gründlich …
– Trasso wurde auf ein Packtier gebunden.
„Galopp!“, rief Sim …
„Trab!!“, stoppte ich ab.
Nach zwei Stunden passierten wir den Sebu-Fluß.
„Hut ab, Abelsen!!“ lobte Sim. „Sie verstehen von dem Kram doch mehr als ich …“
Wir ritten auf der Fährte der Benguits bis zum nächsten Morgen unverdrossen weiter. Smetterlay wich meinen Fragen aus, obwohl ich doch wußte, daß er Gwenda Wilkins Anwalt war.
Die Berglandschaft wurde immer wilder, unfruchtbarer.
Dann breitete sich vor uns eine wellige Steppe aus, belebt von Wildrudeln.
Eine gut geschützte Bergterrasse diente uns als Lagerplatz.
Smetterlay holte für die Tiere Gras, ich spielte Koch.
Wir aßen … Trasso war munterer und bekam die besten Happen. Sim hatte ein Wildschaf erlegt. Seine Büchse besaß einen ganz modernen Schalldämpfer.
Smetterlay wird etwas gesprächig …
Die Sonne meint es gut … Es ist glühend heiß, und selbst im Schatten der Felsen laufen mir die Schweißbäche den Rücken hinab. Die Pferde haben sich niedergetan. Über der Steppe flimmert die Hitze … Morgens haben wir leider an einem Bache die Fährten der Benguits verloren. Sim meint, die Banditen werden schon erscheinen … Und er deutet in die dunstige Ferne, wo vor dem finsteren Gebirgsmassiv des Großen Atlas ein vereinzelter Höhenzug einsam aus der Wüste herausragt.
„Dschebel Kainar!“, sagt er …
Weiter nichts.
Dann redet er von sich selbst, – schlicht, witzig, vergnügt …
„… Wir sind eine sehr alte Anwaltsfamilie, wir Smetterlays … Ein Smetterlay soll schon in der Arche Noah die Rechtsgeschäfte erledigt haben, damals freilich noch als Affe … als Menschenaffe … Inzwischen sind wir Engländer geworden. Die Firma, deren Chef und Alleininhaber ich zur Zeit bin, hat ihre Büros in London, Strand 15, – das wissen Sie, Abelsen. Ich mache einfach alles, ich kann alles. Mein Büropersonal besteht aus Leuten, die zumeist vorbestraft sind, mein Bürovorsteher ist ein österreichischer Graf, der acht Jahre Zuchthaus hinter sich hat und der einer der gewiegtesten Hochstapler der Welt sein dürfte – ein halbes Genie! Meine Privatsekretärin und erste Stenotypistin betrieb einst den Juwelenraub mit größtem Erfolge, und … – weshalb starren Sie mich so entgeistert an?! Ich bitte Sie, es ist für mich als Rechtsanwalt ein längst überwundener Standpunkt, meine Mitarbeiter nach polizeilichen oder sonstigen Führungszeugnissen auszuwählen. All meine vorbestraften Leute gehen für mich durchs Feuer … Philiströse Moralathleten sind mir ein Ekel und zumeist jämmerliche Nichtskönner und Feiglinge. Ich brauche Kerle, die nötigenfalls für mich in die Bank von London einbrechen, um aus einem Safe belastende Papiere herauszuangeln … Ich übernehme als Strafverteidiger nur exquisite Fälle oder Aufträge, bei denen ein Millionengewinn und ein großes Risiko, das bis zum Zuchthaus gehen darf, herausschaut. Meine vorletzte Mission führte mich bis nach einer südamerikanischen Republik, wo man mich beinahe aufgeknüpft hätte. Aber es blieb bei dem „Beinahe“, und wir werden auch hier mit einem blauen Auge davonkommen. – So, nun kennen Sie mich ein wenig … Ich ernenne Sie hiermit zu meinem Reisemarschall. Sie bekommen nach Erledigung der großzügigen Sache 3000 Pfund Sterling, dazu fünf Prozent der zu erwartenden Beute, die ich auf etwa fünf Millionen schätze, wovon auf uns mindestens anderthalb fallen dürften. – Abgemacht?“
Das war so echt Smetterlay! – Abgemacht?! – – Basta!
„Nicht abgemacht!“, erklärte ich sehr bestimmt. „Sie wissen, wer ich bin …“
„Ja. Abenteurer großen Formats. Nebenbei schreiben Sie Tagebücher. Weiß ich alles. Weshalb wollen Sie nicht?“
Mein Blick glitt die Bergwand empor. Droben links hatte Smetterlay das Wildschaf vorhin erlegt und auch ausgeweidet. Drei Geier, keine Aasgeier, denn die sind hier selten, hatten sich soeben in immer engeren Kreisen herabgeschraubt, um eine billige Mahlzeit zu halten. Jetzt stiegen sie fluchtartig wieder empor, und da ein Geier weder vor einem Schakal noch einem Wüstenfuchs entflieht, mußten dort Menschen aufgetaucht sein.
„… Weil ich mich Ihnen nicht unterordnen kann, Smetterlay, – ich würde dabei zu schlecht abschneiden.“
„Wie soll ich das verstehen?!“ Er fixierte mich mißtrauisch. „Sind Ihnen 3000 Pfund zu wenig?“
„Sogar ein Pfund wäre mir zu viel. Nein, Smetterlay, wenn ich soeben sagte „zu schlecht abschneiden“, dann meinte ich es anders. Sie sind mir zu sehr Rechtsanwalt und zu wenig Abseitswanderer. Ich möchte noch einige Jahre leben … Unter Ihrer Führung hätte ich die beste Aussicht, schon in der nächsten halben Stunde mehr Blei schlucken zu müssen, als mein Kadaver vertragen könnte. Sie geben sich hier einem Sicherheitsgefühl hin, das geradezu leichtfertig ist … Es sind Menschen in der Nähe, und welche Sorte Menschen sich hier in dieser Einöde herumdrückt, können Sie sich selbst sagen. Packen Sie schleunigst die Reste der Hammelkeule weg und satteln Sie die Tiere … Diese Bergterrasse ist eine miserable Festung …“
Ich hatte dabei nur auf die Geier gedeutet.
Er verstand sofort.
Er fragte nichts, er blickte nur flüchtig hin, wie ich das Feuer mit Steinen bedeckte und mich langsam erhob. Ich kannte Kaid Mahmed und seine faulen Benguit-Krieger. Sobald es um eine Menschenhatz ging, waren sie nur allzu lebhaft, und hier ging es sogar um mehr als dies: Sie hatten einen Engländer endlose Jahre gefangen gehalten, sie hatten Miß Wilkins’ kleine Expedition überfallen, – kam dies an die Öffentlichkeit, würde der Stamm der Benguits gründlich zur Ader gelassen werden! Mithin mußten sie alle Mitwisser schleunigst unschädlich machen, und dabei würden sie all ihre teuflische Schlauheit aufbieten und vor nichts zurückschrecken.
Ich half Smetterlay. Fünf Pferde zu satteln und drei davon ordnungsgemäß zu beladen, nahm nur allzuviel Zeit in Anspruch. Zu allerletzt kam Trasso an die Reihe. Ihn oben auf den Gepäckstücken zu befestigen, war eine Preisfrage. Ich hüllte ihn in eine Decke, bettete den Kopf recht weich, und verknotete die Zipfel dieses Sackes um die flach angeordneten Frachtstücke.
Kaum damit fertig, rollten von oben her von der Felswand ein paar Steinchen herab.
Smetterlay fluchte …
„Aufsitzen, – – hinab in die Steppe, Abelsen!! Und dann Galopp!!“
„Und dann die Verfolger dicht hinter uns, – nein, Smetterlay, nichts übereilen … Nehmen Sie Ihr Pferd und die Lasttiere an die Leine … Dort nach links hinab …! Und dann am Rande des Höhenzuges nach Osten. Bisher sind wir nicht bemerkt worden …“
Der Weg, den ich wählte, war durch hohe Felsbrocken markiert. Wir gelangten in die Ebene, die zunächst nur steinigen Geröllboden hatte. Wir erreichten auch eine jener Felszungen, die sich in die Steppe hineinzogen, und an deren Ostseite, wieder gedeckt durch das hohe, zerklüftete Gestein, trabten wir nun nach Süden, machten erst halt, als die erste sandige Bodenwelle uns gezwungen hätte, diese sichere Deckung zu verlassen.
„Warten Sie hier, Smetterlay!“
Der gute Sim war sehr kleinlaut geworden.
Ich kletterte den letzten höheren Felsen empor und stellte droben, lang auf dem Bauche liegend, mein Glas ein, suchte die Berge hinter uns ab und tat dies mit größter Sorgfalt.
Ich konnte beim besten Willen nichts Verdächtiges bemerken.
Sollte dieser beschleunigte Aufbruch zwecklos gewesen sein?!
Nochmals beäugte ich die Felswände und Anhöhen und schwenkte dabei das Glas noch weiter nach links, nach Westen.
Ich hielt den Atem an …
Also doch …!!
Sie kamen!! Die Spitze des langen Reiterzuges erschien aus einem Tale, das gut fünfhundert Meter westlich von unserer Terrasse sich nach der Steppe zu öffnete. Sie ritten zu dreien nebeneinander, ein Stück voraus Kaid Mahmed mit seinen beiden Söhnen, auch schon bejahrten Banditen, die mich nie sehr geschätzt hatten …
Fünfzig Mann, bald hundert Mann, bald hundertfünfzig, – ich zählte sie flüchtig, und die Lust am Zählen verging mir erst, als ich in dem Reitertrupp Miß Wilkins und den Graubart als Gefangene bemerkte.
Am Ende des Trupps folgten die dreißig Lasttiere, alle hoch beladen: Kaid Mahmed hatte sich für einen längeren Feldzug vorbereitet!
Die Benguits ritten einen flotten Trab. Vom Kriegsgeschäft verstanden sie etwas … Sie hatten seitwärts und auch vorn Patrouillen von je drei Mann vorgeschoben. Die Reiterschar änderte die Richtung, fünfzig Mann sprengten voraus, Kaid Mahmed führte sie, er wirbelte seine Büchse wie bei einer Phantasie in der Luft herum, und der gellende Schrei seiner Krieger drang bis zu mir herüber …
Minuten noch, und die Steppe schien wieder leer zu sein. Das wellige Gelände hatte die Benguits verschluckt.
Ich wollte schon wieder hinabklettern, als ich im Sehfeld des Glases an jenem Talausgang ein Tier bemerkte, das ich im ersten Augenblick für eine Hyäne hielt. Es war weder Hyäne noch Hyänenhund, es war Miß Wilkins merkwürdiges Schoßhündchen, – übrigens ein Geschenk des Kommandanten von Larache an die junge Engländerin, wie sie mir selbst erzählt hatte …
Ghost hieß das Tier. Ghost, Gespenst hatte Gwenda Wilkins das bissige Vieh getauft … Ausgerechnet Ghost!! – Weshalb?! Ich hatte sie erstaunt gefragt, wie sie gerade auf den Namen gekommen sei. – Antwort?! – – Schweigen, Achselzucken …
Also dort stand Ghost, hochbeinig, mit kürzeren Hinterläufen, mit hyänenmäßig abfallendem Rücken … Allzu langhaarig, allzu langohrig, allzu buschig die lange Rute …
Ghost hing an seiner Herrin wie mein Trasso an mir hing. Ghost und Trasso waren Feinde gewesen, hätten sich am liebsten zerfleischt.
Und jetzt war diese eigenartige Mischung zwischen echtem Hyänenhund und einer langhaarigen Hundeart seiner Herrin heimlich gefolgt, windete mißtrauisch, drehte mißtrauisch den dicken Schädel mit der stumpfen Schnauze hin und her und beschnüffelte den von der Reiterschar aufgewühlten Boden.
Wie widersinnig ist es doch, daß man häufiger in Tierbüchern die Behauptung vorfindet, die Hyäne besäße einen schlechten Geruchssinn. Nichts verkehrter als dies, denn gerade die in Rudeln jagenden Hyänenhunde besitzen eine äußerst feine Nase, vielleicht die beste aller Raubtiere. Den Beweis hierfür erhielt ich hier und auch später noch.
Ghost hatte bisher hauptsächlich nach Süden zu gewendet. Jetzt plötzlich hielt er den unschönen Kopf steif nach Südost, – und das war die Richtung, wo ich mich befand.
Er hob den linken Vorderlauf, – das war recht hundemäßig. Es drückte seine Unschlüssigkeit aus …
So verharrte er minutenlang.
Dann setzte er sich plötzlich in Trab …
Genau auf uns zu …
Sollte er uns gewittert haben?! Ich hielt dies zuerst für unmöglich.
Freilich, der Wind hatte gedreht, er kam von Südost, war sengend heiß, trocken, fauchte in unregelmäßigen Stößen über die grausame trostlose Landschaft.
Ghost galoppierte jetzt, seine Eile war auffallend, seine Sprünge wurden immer länger, – ich legte das Glas weg, er war dicht heran, und da rief ich, – er mußte mich hören:
„Ghost – – hierher!!“ – Englisch, wie er es von seiner Herrin gewöhnt war.
Ghost hatte auch mich gemieden, als wir mit Miß Wilkins und dem Graubart flüchteten. Ghost hatte mich angeknurrt, sich nie berühren lassen.
Er blieb stehen …
„Ghost – – hierher!!“
Dann trabte er in die Felsen hinein, kam mir aus den Augen, und ich kletterte eilends herab.
Als ich unten bei den Pferden anlangte, deutete Sim Smetterlay stumm auf einen großen Dornenbusch.
Hinter dem Busche lag mein Trasso.
„Ich wollte ihm gerade die Kompresse erneuern, Abelsen … Da – – sehen Sie!!“
Ich sah …
Dicht vor Trasso lag Ghost und leckte ihm unermüdlich die Schädelwunde, und Trasso hielt ganz still.
Die beiden hätten sich früher zerfleischt. Jetzt war die Feindschaft vergessen.
Ich schritt auf die Tiere zu. Irgend etwas würgte mir in der Kehle …
Rührung?!
… Ich habe Tiere stets geliebt, ohne Unterschied.
Ich habe der Eigenart jeglichen Geschöpfes Rechnung getragen. Auch die Giftschlange war für mich nie ein hassenswertes Reptil. Die Natur gab ihr die Giftwaffen mit.
Dem Menschen verlieh die Natur die kritische abwägende Vernunft und die Zunge, die Sprache. Ich habe mehr unter Menschen mit Giftzungen gelitten als unter Giftvipern.
Ghost knurrte mich nicht mehr an. Ghost hatte seltsam gelbliche Augen – nicht schön. Aber als er mich nun anschaute und hundemäßig wedelte, bückte ich mich, kraute ihm den Kopf, kniete nieder und drückte seine Schnauze in meine Achselhöhle. Den Burnus hatte ich zurückgeschoben, und mein Hemd und meine Jacke waren schweißfeucht.
Ghost sog meinen Schweißdunst gierig ein und hielt ganz still.
Sim Smetterlay stand staunend dabei.
„Das sind Abseitskenntnisse, Smetterlay … Ghost wird mir gehorchen!“
Ich erhob mich.
Der Hyänenhund leckte wieder Trassos Schädelwunde.
Smetterlay sagte nur: „Unbegreiflich!!“
„Instinkt!“, sagte ich. „Nur Instinkt, – – behaupten die Menschen …!! Könnte Ghost sprechen, würde er uns einen Vortrag über wahre Nächstenliebe halten!“
Dann erzählte ich dem noch stiller gewordenen Engländer von Kaid Mahmeds großer Kriegerschar …
Der Spanier Diego Vargas, Steuermann eines an den Riffen von Kainar gescheiterten Schiffes, war der erste, der um 1865 in den Gebirgsblock des Kainar einzudringen suchte, den man als nordwestlichen Ausläufer des Großen Atlas betrachten kann.
Dieser selbe Vargas schrieb im Jahre 1867 ein in Madrid erschienenes Buch über seine damaligen Erlebnisse, wurde als Lügner und Aufschneider allseits verhöhnt, und sein Buch erlebte nur eine einzige Auflage. Vargas selbst, durch den Hohn und Spott seiner Landsleute schwer gereizt, verübte ein Attentat auf den Redakteur einer Zeitung, die seine Abenteuer und Beobachtungen für plumpen Schwindel erklärt hatte. Er floh nach England, wurde hier verhaftet und sollte an Spanien ausgeliefert werden. Er starb jedoch vorher an einem schweren Nierenleiden, und da er Simon Smetterlays Vater, der auch Anwalt gewesen, mit seiner Vertretung vor Gericht beauftragt gehabt hatte, gelangte eines der wenigen noch vorhandenen Exemplare seines Buches „Die Geheimnisse des Dschebel Kainar“ in den Besitz der Familie Smetterlay.
– Dies waren die ersten Andeutungen, die Sim Smetterlay mir gegenüber am Abend dieses glutheißen Rasttages über den Gebirgsstock dort vor uns zu äußern beliebte.
Vielleicht hätte er nicht einmal dies Wenige preisgegeben, wenn ich nicht schon nachmittags zu sofortigem Aufbruch gedrängt hätte.
Da hatte er seltsam hart aufgelacht.
„Jetzt am Tage, Abelsen?! Das wäre Wahnsinn!! Wissen wir denn, ob der Dschebel Kainar nicht Augen hat, die bis hierher reichen?!“
„Es wohnen also doch Leute in jenen Sonnenbergen?“, fragte ich prompt.
Er zuckte die Achseln …
„Fragen Sie Ghost! Vielleicht wittert er diese Leute …! – Ich denke, Ihr Freund Mahmed hat Ihnen so allerhand alte Märchen über die „Sonnenberge“ aufgetischt … – Ob es nur Märchen waren?! Wer weiß …“
Dann sprach er von dem Spanier Diego Vargas, dem großen „Lügner“ aus Madrid …
„Der Mann, Abelsen, hat bestimmt nicht aufgeschnitten, der Mann war ein schlichter Seefahrer, dem vielleicht das Schwindeln über Seeerlebnisse sehr geläufig gewesen wäre. Aber mein Vater, der ihn doch persönlich gekannt hat, betonte in seinen nachgelassenen Schriften, daß Vargas nie die Phantasie besessen hätte, sich derartige Einzelheiten aus den Fingern zu saugen. Übrigens habe ich Vargas’ Buch mit in meinem Gepäck, und wenn die Zeit gekommen ist, werde ich Ihnen einzelne Abschnitte daraus vorlesen. Jetzt noch nicht. Ich bin zum Stillschweigen verpflichtet. In wessen Auftrag ich hier weile, können Sie sich wohl denken. Allerdings habe ich noch nie eine Klientin gehabt, die mich so stark mit nur Kostproben ihrer wahren Wünsche abgespeist hat wie Gwenda Wilkins, die Tochter des berühmten Lord Albert Farsing, der während des Weltkrieges nebst anderen Irländern wegen Hochverrats von den Engländern standrechtlich erschossen wurde. Da ich derartige „Nur Kostproben“ nicht sehr schätze, zumal wenn man mir zehntausend Pfund Honorarvorschuß gezahlt hat, wollte ich nicht warten, bis die Frist verstrichen sei. Gwenda Wilkins wollte etwa vier Monate in Larache bleiben … als Touristin … hm ja! Hätten Sie daran geglaubt, Abelsen?! Ich nicht … Ich reiste ihr also nach zwei Monaten nach … In Larache war sie gewesen, gewiß. Der spanische Kommandant erzählte mir, sie sei mit einer kleinen Jagdexpedition nach Süden aufgebrochen. Da wußte ich Bescheid … Und als noch Lady Farsing, Gwendas sehr jugendliche Stiefmutter, mit zwei geradezu berühmten schwerreichen Globetrottern und Sensationsjägern heimlich in Larache eintraf, machte ich mich genau so heimlich hinter den dreien her … – Nun habe ich Ihnen beinahe schon zu viel verraten … Schluß jetzt!“
Ich lag auf dem Bauche auf einer Wolldecke, Smetterlay desgleichen, und Trasso und Ghost nagten an den Schenkelknochen des gemordeten Wildschafes. Unsere Reit- und Packtiere standen abseits im Schatten, und durch eine Lücke zwischen den letzten Felsen konnten wir die wellige Steppe weithin überblicken.
Unwillkürlich saugten sich meine Augen an dem Bergmassiv des Dschebel Kainar fest, unwillkürlich griff ich zum Fernglas und beäugte den dunklen Gebirgsstock mit jäh erwachtem Interesse.
Aber – ich gewahrte nichts Besonderes …
Gar nichts …
Tot, leblos, ohne Spur von Vegetation lag der vereinzelte Höhenzug da.
Nur etwas fiel mir auf …
Soeben war die Sonne hinter einer dunklen Wolkenwand, die über dem nicht allzu fernen Atlantischen Ozean lagerte, untergetaucht, und ein Ausläufer dieses grauschwarzen Gewölks zog sich bis zum Festland und halb über den Dschebel Kainar hin.
„Smetterlay!!“
Der Engländer nahm die kurze Pfeife aus dem Munde …
„Was gibt es?!“
Pomadig, gelangweilt klang es.
„Beschauen Sie mal den Wolkenfetzen über dem Dschebel Kainar!“
Im Nu hatte er sein Glas zur Hand.
„Ah – – die Lichterscheinung!! Genau wie Vargas sie beschreibt!“, rief er ganz aufgeregt.
Lichterscheinung?!
Dies traf nur halb zu.
Ein derartiges Bild vergißt man nicht so leicht.
Die sogenannte „Lichterscheinung“ machte sich in folgender Weise bemerkbar: Der Wolkenfetzen bildete einen grauschwarzen Strich, und genau dort, wo er über dem geheimnisvollen Gebirgsstock lagerte, zeichnete sich auf ihm ein etwa viereckiger hellerer Fleck ab – von riesiger Ausdehnung …
Viereckig ungefähr, nicht rund!
Es sah aus, als ob dort im Dschebel Kainar zwischen den höchsten Spitzen der Berge ein ungeheurer Spiegel läge, der das Tageslicht verstärkt nach oben warf.
Freund Smetterlay und ich, beide mit den Gläsern vor den Augen, beobachteten weiter.
„Es fehlt nur noch der Totenkopf“, murmelte Smetterlay noch erregter …
„Totenkopf?!“
„Still!! Da – – sehen Sie!! Vargas hat nicht gelogen!“
Auch mich packte da ein seltsames Kribbeln in allen Nervensträngen. Es packte mich wie mit tausend feinen spitzen Zangen, und ich, der aufgeklärte Wanderer im Abseits, fühlte das Wehen von irgend etwas Übernatürlichem, das in diesen Einöden sich eingenistet hatte und das uns beiden hier zum ersten Male sein unheimliches Siegel droben auf dem träge ziehenden Wolkenfetzen zeigte.
Ich saß völlig regungslos da … Ich fraß das Bild in mich hinein, – einen besseren Ausdruck für diese Art halb gelähmten Staunens gab es nicht …
Inmitten des Vierecks auf jener dunklen Wolkenfahne zeichnete sich vollkommen klar, wenn auch mit leicht verschwommenen Rändern, ein Totenkopf ab.
Was diesen Totenschädel besonders grausig erscheinen ließ, war der gen Westen gerichtete, herabgeklappte Unterkiefer. Ein bösartiges Grinsen verzerrte den Skelettkopf, und da die Wolke nicht gleichmäßig gefärbt war, sondern hellere und dunklere Stellen hatte, wurde unschwer die Täuschung hervorgerufen, daß dieser Unterkiefer sich bewegte und daß der Totenschädel emsig und höhnisch zu schnattern schien.
„Verdammt!“, murmelte Smetterlay. „Das fällt auf die Nerven!! Her mit der Whiskybuddel, Abelsen!! Diese Spanier, die ihren Landsmann Vargas als Schwindler erklärten, sind zu entschuldigen. Auch ich hielt diese von Vargas mehrfach erwähnte Einzelheit für Gespensterhumbug!“
Er trank …
Ich beobachtete weiter …
Aber die Wolke zerflatterte jetzt sehr schnell in der aufkommenden Abendbrise, das Bild wurde unklarer, und dann war die Stelle über dem Dschebel Kainar am Himmel wieder wolkenfrei.
Mein Gefährte, zweifellos doch der Mann ungewöhnlichen Schlages, schaute mich merkwürdig fragend an.
„Was halten Sie davon, Abelsen? Sie sind doch in der Welt weit genug herumgepilgert. Sie verstehen auch sicherlich von Physik, Chemie und Technik weit mehr als ich …“
Ich überlegte mir die Sache, bevor ich antwortete.
„Es gibt nur eine Erklärung, Smetterlay …“ Ich sprach ganz nüchtern und sachlich. Die tausend spitzen Zangen belästigten mich nicht mehr. „Dort im Dschebel Kainar muß ein ungeheurer Spiegel vorhanden sein, auf dem die Leute, die dort hausen, einen Totenkopf hergestellt haben, daß er eben als Schädel in dem hellen Fleck auf vorüberziehenden Wolken erscheint …“
Ich hatte mir eine von Sims tadellosen Zigarren angesteckt und fügte hinzu:
„Jede derartige Einrichtung muß einen Zweck haben, Smetterlay. Wohnen dort droben Menschen, so wollen sie unbelästigt bleiben und benutzen den Spiegel als Abschreckungsmittel. Ich entsinne mich, daß mir der alte Giftmischer Mahmed unter anderem erzählte, zuweilen erscheine über den Sonnenbergen ein „Geist“, und Mahmed betonte, daß schon sein Vater als Jüngling diesen Geist mit eigenen Augen gesehen hätte. Da nun Mahmed schätzungsweise achtzig Gaunerjahre hinter sich hat, und da sein fraglos ebenso geschäftstüchtiger lieber Papa angeblich hundertzwanzig Jahre lang das Benguit-Tal verunziert hat, müssen jene unbekannten Kainar-Bewohner dort droben mindestens schon hundert Jahre hausen. Vor hundert Jahren aber, mein lieber Smetterlay, war die Technik noch nicht so weit, Spiegel von derartigem Umfang herzustellen, wie zum Beispiel heute in Kalifornien, wo man mit Hilfe riesiger Parabolspiegel die Sonnenwärme technisch ausnutzt. – Nein, meine Deutung der Lichterscheinung kann also nicht zutreffen. Wir müssen den Dingen auf einfachere Weise beizukommen suchen, etwa durch die Annahme, in den Kainar-Bergen läge ein riesiges Hochtal, das dereinst von Glasfluß durch vulkanische Eruptionen überschwemmt wurde. Freilich, auch diese Deutung hinkt, denn vulkanischer Glasfluß in solcher Menge und in so gleichmäßiger Verteilung ist selten, ganz abgesehen davon, daß Vulkanglas niemals derart intensive Spiegelwirkung hätte und außerdem auch mit der Zeit verwittern würde. – Mit einem Wort: Ich finde keine einleuchtende Erklärung. Aber ich werde sie suchen, und zwar im Dschebel Kainar selbst. Nichts wird mich davon abhalten, in den angeblich unzudringlichen Gebirgsstock einzudringen. Derartige Naturwunder, lieber Smetterlay, die noch dazu mit einem ganzen Märchenkranz umgeben sind, reizten mich von jeher, zumal wenn noch nicht, wie hier, die hohen Herren Scharlatane mit üppigen Titeln diesem Wunder zu Leibe gerückt sind. Die meisten Hochgelehrten scheuen das Abseits … Am Schreibtisch, im Schreibsessel ist die Aufgabe hochwissenschaftlicher Gehirnausschwitzungen ungefährlicher …
Smetterlay lachte …
Wurde aber schnell wieder bitterernst.
„Abelsen, Sie sollen das Buch von Vargas lesen … Später … Jetzt ist die Dämmerung da, jetzt können wir aufbrechen … Übrigens liegt vor dem Dschebel Kainar, wie der Spanier erwähnt, ein kleiner Höhenzug, mit dem es auch seine besondere Bedeutung hat. Dort wollen wir vorläufig rasten …“
Die Dunkelheit nahm jetzt sehr schnell zu. Wir beeilten uns nach Kräften, – wir beide sprachen es nicht aus, aber die Sonnenberge wirkten auf uns wie ein Magnet, und was meine Person betraf, so hatte ich sowohl Gwenda Wilkins als auch den Graubart Tom und noch mehr Lady Farsing und ihre Begleiter über dem unheimlichen Totenkopf fast völlig vergessen, desgleichen meinen treuen Freund Mahmed mit seiner Banditenschar.
Es ist mir noch immer so ergangen: Menschenschicksale traten für mich in den Hintergrund, sobald ein Naturrätsel mir seine tausend ungelösten Fragen aufdrängte! Wir Menschen sind staubgeboren und zerfallen wieder in Staub … Die Natur ist das einzig Beständige, und wir Staubkörnchen bedeuten inmitten dieser ewigen Welt nicht viel mehr als Eintagsfliegen.
Wir brachen auf. Trasso hatte sich soweit erholt, daß er nicht mehr als Säugling verpackt zu werden brauchte. Er und sein Intimus Ghost trabten uns voraus. Eine Stunde darauf hatten wir den in einem Tale gelegenen eigentümlichen Höhenzug vor uns. Seine Nordwestseite war kahles Gestein. Aber sein übriger Teil bildete eine hochgelegene malerische Oase inmitten dieser mit spärlichem Halfagras bedeckten weiten Steppe.
Malerische Umgebung …
Nicht zu viel gesagt!
Nein, denn wir thronen hier hoch über der Wüste, wir haben unter größten Anstrengungen diesen Bergrücken erklommen, der wie ein schwärzlicher, oben matt grüner Strich durch den Steppensand verläuft und dessen grüne Kuppe uns lockte.
Was fanden wir hier oben? – Zwergeichen, Büsche, grüne Matten frischen Grases, einige Quellen, die den verwitterten Boden befeuchten und irgendwo wieder versickern.
Was fanden wir weiter?!
Inmitten des südlichsten Eichenwaldes die Reste eines Blockhauses, roh aus Stämmen zusammengefügt, – eine Ruine nur, immerhin noch ein Haus, in dem Menschen längere Zeit gewohnt haben müssen.
Nun wohnen wir hier …
Hoch über der Steppe …
Zusammen mit unseren Tieren, zusammen mit einigen Affenherden, die in den Klüften des schmalen Höhenzuges lärmen und kreischen und wütend sind, weil wir ihre Einsamkeit störten …
Und hier hat Sim Smetterlay ein etwas zerfetztes Büchlein hervorgeholt:
Die Geheimnisse des Dschebel Kainar.
… Hat Seite 52 aufgeschlagen und mir vorgelesen:
„Als ich nach mühseligem Marsch ins Innere einen langgereckten Felsenhügel erblickte, dessen Kuppe freundliches Grün zeigte, hoffte ich, dort oben Wasser zu finden. Ich war halb verschmachtet. Ich erkletterte die zerklüftete westliche Wand, wurde jedoch durch Schüsse zurückgescheucht, und trotzdem ließ man mir an einem Tau zwei gefüllte Wasserschläuche und ein halbes gebratenes Wildschaf herab. Da auch ein zweiter Versuch, den Leuten dort oben meine verzweifelte Lage zu schildern, mißglückte, wanderte ich gen Süden, weil ich im Sande frische Fährten einer Karawane entdeckte. So gelangte ich bis an das eigentümlich geformte Bergmassiv, das man Dschebel Kainar, die Berge der Hitze, nennt …“
Hier klappte Smetterlay leider das Buch allzu eilig zu und verwahrte es wieder in seinem Gepäck.
Jetzt schläft er, und ich – – ich schreibe … Ich habe die erste Wache, bis ein Uhr morgens.
Zuweilen unterbreche ich meine Tagebucharbeit und trete aus der Blockhausruine ins Freie, wo ich Trasso und Ghost, jetzt unzertrennliche Freunde, fünfzig Meter weiter nach Norden an eine Eiche gebunden habe.
Die Affen haben sich beruhigt. Wir werden ihnen ihre Feigenbäume, die zwischen den Eichen wachsen, nicht plündern, – wir sind hier nur vorübergehende Gäste, die gar nicht daran denken, diesen einsamen grünen Fleck mit Beschlag zu belegen. Wir sind Männer, die sich auf der Suche befinden …
Ich stehe am kahlen Südrande der langen Kuppe auf einem vorspringenden Felsen, und über mir leuchtet die volle Mondscheibe und bestreut die Steppe dort unten mit Zauberlicht.
Weshalb, frage ich mich, weshalb wird diese Oase hier oben von den Karawanen, die noch heute wie einst die Wüste durchkreuzen auf uralten Straßen, deren Meilensteine die Gerippe von Menschen und Tieren sind, so sorgsam gemieden?!
Wir entdecken hier oben keine, keine einzige Spur jüngster Anwesenheit von Menschen.
Und was hat mir doch der alte Giftmischer Kaid Mahmed vom Dschebel Kainar alles erzählt?! – Alte, uralte Sagen … Märchen, Mythen …
Die Märchen aus „Tausend und eine Nacht“ können nicht phantastischer sein als Kaid Mahmeds Lagerfeuergeschichten …
Traumhaft schön liegt da zu meinen Füßen die mondhelle Steppe.
Aber alle Träume zerflattern vor der nüchternen Wirklichkeit. Die Wildrudel, die dort unten noch soeben in allem Frieden ästen, gehen flüchtig ab …
Im Nu habe ich das Glas an den Augen … Aus dem Dunst des südöstlichen Horizontes, wo ein dunkler Schimmer den Dschebel Kainar nur andeutet, löst sich ein Seitentrupp auf müden, stolpernden Gäulen …
In endloser Reihe schleichen sie durch die Wüste gen Norden wie ein geschlagenes Heer …
Es dauert fast zu lange für meine begreifliche Ungeduld, bis ich die ersten Reiter erkenne:
Kaid Mahmed, neben ihm einer seiner Söhne, – dicht hinter ihnen zwei Gäule, die zwischen sich eine Art Krankenbahre tragen …
Dann wieder vier Reiter, wieder ein solche Bahre …
Und so wechselt es ab, so geht es fort, Gesunde, Verwundete, Tote …
Die Toten hat man auf einzelne Tiere festgebunden …
Und all das schleicht … schleicht dahin: Abgehetzt, übermüdet, – in Wahrheit eine Kriegerschar nach schwerer, vernichtender Niederlage!
… Bis meine Augen und die Linsen meines Fernglases sich festsaugen an einer Gruppe mitten im Zuge, wo drei andere Gestalten meine Aufmerksamkeit fesseln …
Fesseln …
Ich halte den Atem an, mein Herz klopft schneller …
Es sind Lady Honoria Farsing mit ihren beiden Begleitern, – als Gefangene, umgeben von einem Dutzend junger Benguit-Krieger, deren Ermüdung durch Haß und Wut in brutalste Grausamkeit umgeschlagen ist.
Ich sehe die Kolbenstöße, ich sehe, daß die drei sich kaum im Sattel halten können, – – und wie ein Blitz fährt es in mich hinein: Empörung, Mitleid, Hilfsbereitschaft!
Vergessen ist der Dschebel Kainar, vergessen der Totenkopf auf der Wolke, vergessen ebenso das eherne Anrecht der Natur auf allererste Beachtung.
Dort sind Menschen in Not, dort werden Europäer geschunden, dort geht Kaid Mahmeds geschlagenes Heer heimwärts, und mitten unter Toten, Verwundeten und haßerfüllten Fanatikern stolpern die Gäule der drei Ärmsten, an denen niederste Wut ihr Mütchen kühlt …
Helfen!!
Smetterlay wecken …!!
Und dann hinab in die Steppe und die braunen Schufte zusammenknallen …
Ihnen einen Hinterhalt legen …
Die drei befreien …!
Schon drehe ich mich auf dem Absatz um …
Die volle Körperdrehung unterbleibt …
Mit bloßem Auge habe ich parallel zu dem geschlagenen Heer zwei dünne Striche bemerkt, – an jeder Seite von Kaid Mahmeds traurigem Troß einen, – und diese Striche bewegen sich, huschen durch die nächtliche Wüste wie eilfertige Schlangen …
Ich reiße das Glas an die Augen …
Da … da ist der eine Strich …
Der, der mir der nächste ist …
Nun habe ich ihn vor den Linsen …
Dromedarreiter sind es …
Graue Gestalten auf grauen Prachttieren …
Zwanzig, … vierzig, … sechzig, – ja, sechzig Reiter auf dieser Seite …
Parallel zu Kaid Mahmeds vernichteter Armee, durch Täler galoppierend, unsichtbar für die Benguits …
Sechzig auf dieser Seite …
Sechzig drüben …
Armer Giftmischer …!!
Man wird dich einkreisen, man wird euch niederschießen, diese hundertzwanzig Feinde sind zweifellos finstere Raubgestalten aus dem Innern der Sahara, denn wie kämen sie sonst zu diesen erstklassigen, windschnellen Dromedaren?! Karawanenräuber, heute noch genau so rührig wie vor fünfzig Jahren, nur gefährlicher, weit besser bewaffnet … Erbitterte Feinde jeglicher Zivilisation, grimme Mörder, die vor nichts zurückschrecken … – Selten genug dringt hiervon flüchtige Kunde bis in europäische Redaktionsstuben … Und wenn es geschieht, wird es mit ein paar Zeilen abgemacht, etwa:
Der nach dem Tsad-See durch die Sahara unterwegs befindliche Lastautozug wurde bei Wadi Harka von franzosenfeindlichen Stämmen überfallen und völlig ausgeplündert.
Das besagt wenig und doch unendlich viel.
Das besagt für den Weltfremden, daß eine Autoverbindung von Algerien bis ins Herz Afrikas besteht, daß diese „Autostraße“, die keine Straße ist, den Herren Wüstenräubern allerhand nützliche Dinge und der Hölle einige Dutzend Anwärter liefert. –
„Smetterlay, aufwachen …!! Gefahr!“
Der lustige Sim fährt in der Ecke des verfallenen Blockhauses von seinem Lager hoch.
Wir rennen zu den Pferden … Ich erzähle …
„Abelsen, nehmen wir Trasso und Ghost mit?“
„Nein … Die müssen die Packtiere bewachen …!“
Wir klettern durch die Ostbucht abwärts … Die Gäule rutschen, Gestein poltert, – macht nichts, die grauen Kerle reiten ja an der Westseite entlang …
Weiter …
Smetterlay flucht wie ein Jan Maat von einem Heringsfänger …
Er ist in ein Dornengestrüpp gefallen …
Ich bin dreißig Meter voraus, ich bin unten, – hinauf auf den Gaul, – – Galopp, – Smetterlay brüllt: „Warten Sie, ich habe …“, – mehr verstehe ich nicht …
Die Steppe nimmt mich auf, ich jage gen Norden, zur Linken habe ich den Höhenrücken, – ich will den Dromedarreitern vorauseilen, ich will Zeuge sein, wie sie Kaid Mahmed einkreisen und will versuchen, ob ich Lady Farsing und ihre beiden Gentlemanbeschützer irgendwie heraushauen kann.
Ich finde eine tiefe Regenrinne, mein Gaul gleitet in einer Sandlawine in die Tiefe, und dann presche ich weiter, tadellos gedeckt, bis diese Nord-Süd-Rinne einen scharfen Knick nach Westen macht und mir kahle Felsen den Weg versperren.
Hinein in die Felsen …
Hinaus aus dem Sattel …
Da sind sie, – da kommen sie, Kaid Mahmeds aufgeriebene Armee …
Ein kläglicher Heerbann zieht kaum hundert Meter an mir vorüber …
Dann auch die Gefangenen, noch immer durch Kolbenstöße aufrecht gehalten, festgebunden im Sattel, Arme auf dem Rücken, selbst die Lady …
Und wo sind Gwenda Wilkins und der Graubart Tom?!
Geflüchtet?!
… Sie sind nicht dabei … Auch unter den Toten und Verwundeten nicht …
Ich habe wieder das Glas an den Augen …
Ich sehe alles …
Nur Miß Wilkins, Tom und die Raubritter der Wüste bemerke ich nicht. Auch Sim Smetterlay findet sich nicht ein …
Ich sehe alles …
Mondlicht, Sternenlicht erzeugen halbe Tageshelle. Ich lege das Fernglas weg, es baumelt mir am Riemen vor der Brust, es ist überflüssig geworden …
Die Büchse fliegt hoch … Eine Felszacke dient mir als Auflage …
Nur hundert Meter …
Und die Gäule schleichen und stolpern …
Der erste Schuß knallt …
Das Pferd drüben überkugelt sich nach vorn.
Schuß um Schuß jage ich aus dem Rohr … Arme Kreaturen, – ein Knäuel von Pferdeleibern wälzt sich im Sande, die brutalen Benguits werden zerdrückt, zertrampelt, die übrige Bande reißt aus, und mit lautem Zuruf schwenke ich mein Kopftuch.
„Hallo, – – hierher, – – hierher!!“
Die drei Gefangenen lenken ihre Tiere durch Schenkeldruck, sind bei mir …
Mein Messer fährt durch die Stricke …
„Absteigen!! Hinein in die Felsen!! Es sind Wüstenräuber in der Nähe!“
Die Frau mit den starren finsteren Zügen lacht plötzlich.
Ein fast unheimliches Lachen …
„Wüstenräuber …?! Wohl Dromedarreiter, Mister?“
„Gewiß …!!“
Da wir uns zwischen den Felsmassen eng zusammendrängen müssen, um auch für die Tiere Platz zu schaffen, unterbleibt zunächst jede weitere Unterhaltung. Ich reiche nur den beiden Engländern, die man entwaffnet hat, meine Pistolen und weise ihnen stumm ihre Plätze an.
Ihre Namen kenne ich durch Smetterlay.
Das heißt, den des kleineren der beiden erfuhr ich ja bereits durch Mylady selbst. Walkin, – Allan Walkin.
Der andere, ganz lange, ganz hagere Gentleman nennt sich Jack Pourler. Sein Vater soll in Manchester die größten Webereien besitzen, und der Herr Sohn und Erbe wollte vor einem Jahr, so erzählte Sim, den Atlantik überfliegen und landete statt in Brasilien sehr unfreiwillig auf den Kanarischen Inseln.
Während ich droben auf einem Steinblock liege und nach den grauen Dromedarreitern Ausschau halte, höre ich Mylady mit Mr. Walkin eifrig flüstern.
Ich ahne, es geht um meine Person. Sie zerbrechen sich die Köpfe, wer ich wohl sein mag.
Ich wieder habe wenig Neigung, mein Inkognito zu lüften, denn aus Sims Reden gewann ich immerhin den Eindruck, daß das Verhältnis zwischen Gwenda Wilkins und ihrer Stiefmutter stark getrübt sein müsse und daß Mylady nur deshalb hier nach Marokko gekommen sei, um Gwenda – zart ausgedrückt – nicht aus den Augen zu verlieren.
Minuten verstreichen …
Mein Freund Mahmed ist bereits mit seiner noch mehr dezimierten Kavalkade nach Norden zu im nächtlichen Dämmer der Ferne verschwunden, und da sich auch von den hundertzwanzig afrikanischen Buschkleppern nichts zeigt, nehme ich das Glas zu Hilfe.
Neben mir auf einem Granitklotz liegt der baumlange Pourler, der unentwegt ein randloses Monokel vor dem rechten Auge trägt und ein sehr pomadiger junger Herr zu sein scheint.
„He, Sie …“, sagt er plötzlich … Weshalb zählen wir hier eigentlich die Schakale, die sich bereits an die von Ihnen erschossenen Gäule heranschleichen?! Bisher sind es fünfzehn …“
Von unten mahnt Myladys scharfe Stimme:
„Pourler, etwas höflicher!! Wir sind dem Herrn zu Dank verpflichtet!“
Jack Pourler brummt etwas.
Keine Höflichkeit …
Minuten verstreichen …
Ich sehe nichts …
Nur tote Pferde und Schakale … Und dazu die wellige Steppe, die mit ihren einzelnen Grasbüscheln und finsteren Felsgruppen, deren Spitzen der Mond versilbert, einsamer denn je erscheint.
Mylady flüstert wieder. Und dann:
„Mister, – verzeihen Sie eine Frage … Kennen Sie uns?“
Zuweilen ist Lügen angebrachter als die Wahrheit sagen.
„Nein … Ich nehme an, Sie sind Touristen wie ich …“
Lady Farsing schweigt erst.
„Ja, das sind wir allerdings, Mister … Und damit wir uns persönlich näherkommen: Ich bin Lady Honoria Farsing, und diese beiden Herren sind Allan Walkin und Jack Pourler, zwei sehr bekannte Sportgrößen aus London …“
„Freut mich, Mylady … Mein Name ist Benson, Amerikaner …“
Pourler hüstelt verdächtig.
Mag er hüsteln … Ich werde Smetterlay schon rechtzeitig einen Wink geben, daß ich mich umgetauft habe.
Pourler gähnt diskret und meint: „Ihre Wüstenräuber sind ausgekniffen, Mr. Benson … – Haben Sie vielleicht zufällig eine rauchbare Zigarre bei sich? Dieser Kaid Mahmed hat mir meine Zigarrentasche beschlagnahmt … Übler Wicht!“
Als ich Pourler eine von Smetterlays fein in Staniol gewickelten Importen hinüberreiche, fährt ein Arm von unten empor, und Walkin hat die Silbernudel geschnappt.
„Ich bin der Ältere, Pourler … Vielen Dank, Mr. Benson …“
Der lange Monokeljack sagt etwas von Mundraub und nimmt dankend die letzte meiner Zigarren entgegen. Mein Feuerzeug funkt, die Gentlemen qualmen wie die Schlote, und ich erkläre kurz und bestimmt:
„Ich werde mich nach den Dromedarreitern umtun … Warten Sie hier …“
Daß die drei mir inzwischen nicht verduften werden, weiß ich bestimmt. Ihre Gäule stehen mit hängenden Köpfen da, – – schlachtreif, sozusagen.
„Überflüssig!“, meint der mißglückte Ozeanflieger. „Das waren keine Wüstenräuber, das waren …“
Lady Farsings kalte Stimme zerschneidet ihm den Satz …
„Es waren fremde Dromedarreiter, Pourler!! Merken Sie sich das!!“ …
Müssen die Leutchen mich für dumm halten …!!
Ich weiß es bestimmt: Das waren Leute aus dem Dschebel Kainar, und Mylady und ihre beiden Sportkönige wissen das auch und wollen es verschweigen.
Gleich darauf trabe ich gen Osten wieder in die Regenrinne hinein …
Je weiter ich komme, desto besorgter werde ich um Smetterlay.
Ich gelange an die östliche Schlucht, die noch den bequemen Anstieg bietet. Hier verlor ich Sim aus den Augen.
Ich lasse mein Pferd unten, klimme empor …
Und stutze …
An der Eiche ist nur Trasso festgebunden.
Ghost fehlt …
Auch sein Lederriemen.
Trasso ist merkwürdig aufgeregt. Ich binde ihn los, er läuft unruhig hin und her, und als ich an den Platz gelange, wo die Packtiere standen, ist nur noch eins vorhanden.
Ich laufe in das Blockhaus. Smetterlay hatte hier in seiner Schlafdecke all seine vielfältigen Reiseutensilien ausgebreitet: Rasierzeug, Bürste, Kamm, Kopfwasser, Mundwasser, Zahnbürste, – und so weiter.
Nichts davon ist mehr vorhanden.
Nur die Karbidlaterne brennt noch …
Seltsam!!
Sollte Smetterlay etwa mit polnischem Abschied sich empfohlen haben?!
Ich nehme die Laterne und leuchte den Boden ab … –
Auch draußen …
Da sind unsere Spuren …
Da sind aber auch Spuren fremder flacher Sandalen, – von mindestens zehn Leuten …
Seltsam!!
Ist Sim entführt worden?!
Aber einen Simon Smetterlay entführt man nicht so einfach. Der wehrt sich …
Ich klettere wieder den Bergrücken hinab, Trasso läuft voran, und unten im Geröll entdecke ich frischen Kameldünger.
Also das ist es!! Die Dromedarreiter haben Smetterlay geschnappt!
Oder …?!
Oder sollte Freund Sim freiwillig mit ihnen davongeritten sein?! Spricht hierfür nicht die eindrucksvolle Tatsache, das Sim mir das eine Packpferd mit allerlei notwendigen und nützlichen Dingen zurückgelassen hat?!
Jedenfalls: Dieser merkwürdige Rechtsanwalt, der da von einer Millionenbeute redete und mir einen Anteil verhieß, – dieser Prachtkerl hat mich verlassen, – ob freiwillig, ob unfreiwillig, das wird sich später klären.
Ich wandere auf der Dromedarfährte eine Strecke nach Südost weiter, und im sandigen Boden kann ich die Spuren schließlich unterscheiden: Fünfzehn Dromedare, ein Pferd, zwei Maultiere! Also doch!
Smetterlay ist auf und davon.
Ob gegen seinen Willen?! Nein, wenn die Kainar-Leute ihn überfallen hätten, würden sie selbst durch Sims Bitten sich nicht haben bewegen lassen, mir das eine Packtier nebst Fracht zurückzulassen!
Kopfschüttelnd kehre ich um … Trasso schleicht neben mir. Er grämt sich wohl um den Verlust seines Freundes, des Hyänenhundes. Es war eine eigentümliche Freundschaft zwischen den beiden gewesen. So selbstlos, wie einer dem anderen die besten Happen und Knochen zukommen lassen wollte, so brüderlich besorgt, wie einer um den anderen war, das gibt es zwischen Tieren selten, sehr selten. Einer suchte den anderen in diesen Beweisen von selbstloser Liebe zu überbieten, und gerade mein Trasso, der doch auch echtes Wildlingsblut, echtes Wolfsblut in den Adern hat, schien es dem Hyänenbastard nie vergessen zu haben, daß dessen kühle Zunge seine brennende Streifschußwunde so mitleidig geleckt hatte.
Ja, Trasso ist verändert …
Ist nichts bei der Sache.
Niemals hätte es sonst geschehen können, daß urplötzlich vor uns aus dem Geröll eine überhagere Legionärgestalt mit funkelndem Monokel sich überraschend erhebt …
„Was suchen Sie, Mr. Benson?“, fragt der eisgekühlte lange Brite ironisch.
Trasso knurrt …
„Oh, – haben Sie einen Prachtkerl von Hund!“, lobt Mr. Jack Pourler und kommt näher.
In seinem Mundwinkel glimmt und wippt eine frische Zigarre.
„… Sie entschuldigen, Mr. Benson … Ich war oben im Blockhaus und habe mir erlaubt, die Kiste zu plündern … Die Zigarren sind gut …“
Trasso knurrt nicht mehr. Pourler lockt ihn, streichelt ihn.
„Hm, – Schäferhund und Wolf, schätze ich … Wunderbares Genickhaar … – – Was suchen Sie, Mr. Benson?“
„Zwei meiner Lasttiere nebst Ladung … Die Dromedarreiter haben sie mir gestohlen …“
Pourler schweigt … Dann:
„Mylady und der Klown Walkin werden auch gleich hier sein … Wir verstehen uns aufs Fährtenlesen, Mr. Benson.“
Soll das eine Warnung sein, nicht zu grob zu lügen?! Ahnt er irgend etwas? Weiß er etwas?
Ich versuche ihn auszuhorchen.
Ebensogut könnte man mit einem Zahnstocher einen Stahlblock anbohren wollen. Der Mann mit seiner unerschütterlichen Ruhe und pomadiger Wurstigkeit gibt Antworten, die gar nichts besagen. –
Um Mitternacht sind wir dann droben in der Blockhütte um den Kochkessel versammelt. Mylady sitzt vornehm abseits im Schatten, und ihre etwas bleichen, starren Züge beleben sich nicht einmal bei Allan Walkins wirklich humorvollen Bemerkungen.
Dieser Walkin spielt sich so etwas als Possenreißer besserer Art auf, er umschwänzelt Mylady mit diskreter Verliebtheit, und daß Jack Pourler ihn immer wieder mit bissigen Attacken anfährt, beweist lediglich die diskrete Verliebtheit zweier Männer.
Eine recht aussichtslose Jagd, meine Herren!, denke ich so im stillen und achte auf unsere Nachtmahlzeit.
Es gibt wieder Wildschaf …
Die Hammel wachsen mir bald zum Halse heraus!
Wir essen, und dann wird für Mylady hinten in der Blockhütte ein besonderer Raum durch Flechtwände abgeteilt. Sie zieht sich in ihr Gemach zurück, und wir drei Männer losen die Wachen aus.
Ich ziehe den kürzesten Halm, also erste Wache bis vier Uhr morgens.
Mir nur lieb … Mit Trasso, Büchse, Fernrohr und Laterne und meinem sogenannten Tagebuch verschwinde ich nach der Südecke hin, wo der kahle Felsbalkon guten Fernblick gestattet.
– Komische Leute, meine neue Gefährten … Verschwiegen wie das Grab, verlogen wie Freund Mahmed und doch nicht unsympathisch …
Nein, besonders Honoria Farsing, reife Frau von annähernd vierzig, könnte selbst das abgestumpfteste Männerherz nicht nur erwärmen, sondern sogar in Flammen emporlodern lassen. –
Sie verkörpert einen Typ von Weib, der am gefährlichsten ist – – für Anfänger. Sie erscheint wie Erz, aber hohles Erz, in dem eine fressende Glut schwelt. Wenn sie die langbewimperten Lider hebt und sich unbeachtet glaubt, sprühen ihre Augen und verraten fast zu viel …
Sekunden später können dieselben Augen so eisig blicken, als ob diesem rätselvollen Weibe jegliches wärmere Gefühl fremd wäre.
Und gerade diese Unausgeglichenheit bei ihr lockt wie eine Kerze, die unstet flackert, die Motten herbei.
Wahrscheinlich sind Pourler und Walkin durch ihre vielseitige sportliche Betätigung nicht allzuviel mit dem angeblich zarten Geschlecht in Berührung gekommen und in diesem Punkte ahnungslose Neulinge.
Daß Mylady etwa zehn Jahre älter wie sie, vergessen sie vollkommen. Sie sind blinde Graalsritter modernen Schlages, und sie sind auch moderne Gentlemen und Freunde und fechten den Kampf um das hohe Ziel in aller Vornehmheit aus.
Und doch …: Es sind nur Menschen, nur Staubkörnchen, nur Atome! Ihr Sinnen und Trachten und Wünschen und Begehren wird drüben im geheimnisvollen Dschebel Kainar niemals einen Riß öffnen, der einen Einblick böte in jene unbekannten Sonnenberge oder Berge der Hitze.
Nein, – niemals! Wer den Kainar erobern will, muß sich die Hände rein erhalten von jedem zitternden Verlangen und den Geist frei von jenen ablenkenden Begierden, die im Rahmen seelischen Gleichklangs Liebe genannt werden. –
Das sind so meine Gedanken, während ich hier auf dem Felsbalkon an der Steinwand lehne und mit dem Glase hinüberspähe zu dem viereckigen Bergmassiv, das auf Freund Smetterlays neuesten Karten von Marokko so viele verschiedene Namen trägt: Dschebel Kainar oder Chainar, auch Chai Nar geschrieben, ferner Chan Inar, schließlich auch noch El Schott. Die Größenverhältnisse sind genau so ungewiß. Jedenfalls dürfte die Angabe von etwa einer Meile im Geviert stimmen, ebenso die Form: Ein etwas langgerecktes Viereck, dessen eine Kante nach Norden zeigt, während die westliche Ecke, die längste, bis an den atlantischen Ozean heranreichen soll.
Soll …
Was die Randberge des Massivs angeht, so handelt es sich zumeist um stumpfe Kuppen.
Dies zeigt mir mein Fernglas selbst jetzt bei Mondenschein …
Das Nachtgestirn steht nun ziemlich genau über dem Kainar, und wenn jetzt wieder eine Wolke herangesegelt käme, könnte ich vielleicht feststellen, ob auch das Mondlicht genügt, die Wolke durch den „Kainar-Spiegel“ zu erleuchten und in dem hellen Viereck den Totenkopf hervorzuzaubern.
… Trasso erhebt sich jäh.
Aus dem Gebüsch tritt Lady Honoria hervor, winkt mir und kommt näher.
Sie hat also kaum eine Stunde geschlafen …
Trotzdem ist sie frisch, geschmeidig, federnd in jeder Bewegung.
Sie hat mir gegenüber vielleicht nicht den Mut, diese durchsichtige Komödie hier allein weiterzuspielen, – in ihren Augen hängen Tränen, als sie mich um mein Fernglas bittet.
Wir stehen hier im vollen Mondlicht, und sie fügt mit sanftem Vorwurf hinzu: „Der Kainar hat Augen, Mr. Benson … Und was für Augen!“
Zum ersten Male fällt hier zwischen uns dieser Name. Bisher erwähnte niemand die Sonnenberge.
Ich denke an Freund Sim. Sagte er nicht genau dasselbe? Genau: Der Kainar hat Augen!
Soll ich nun Erstaunen heucheln?!
Nein, – die Frau gibt sich ehrlich und unbefangen, und ich möchte diese erste aufkeimende vertrauliche Kameradschaft nicht trüben. Ich bleibe stumm.
Sie hält mein Glas in der Hand und blickt mich forschend an.
„Mr. Benson, Sie sind nur Tourist?! Irgendwie kommt mir Ihr Gesicht bekannt vor … Wissen Sie etwas über den Dschebel Kainar? Sind Sie in diese Einöde gekommen, um den Kainar zu erforschen? Was Sie uns da über Ihren Aufenthalt bei den Benguits erzählt haben, schien mir recht lückenhaft zu sein …“
Nun, diese Dinge preiszugeben, bin ich nicht bereit.
„Lückenhaft – vielleicht, Mylady … Genau wie Ihr Bericht über Ihre Gefangennahme durch die Benguits …! Außerdem, Mylady, – Sie gaben Jack Pourler einen zu deutlichen Wink, sich nicht näher über die Dromedarreiter zu äußern. Gut, eins weiß ich jetzt: Die Reiter gehörten zum Kainar, und Kaid Mahmed ist von diesen grauen, prachtvoll berittenen Leuten kläglich zusammengeschossen worden, weil er …“ – schnell breche ich mitten im Satze ab. Beinahe wäre es mir entschlüpft: Gwenda Wilkins und der Graubart Tom, – die beiden wurden bisher nicht genannt, die beiden schienen nicht zu existieren, und doch ist Honoria Farsing angeblich nur Gwendas wegen nach Marokko gekommen.
Die Frau tritt schnell dicht vor mich hin.
„Mr. Benson, beenden Sie den begonnenen Satz! Weshalb dieses Blutbad, weshalb flohen die Benguits wie armselige Schakale, weshalb mußte Kaid Mahmed, gedrängt von den Kainaresen, gerade die Richtung einschlagen, wo wir drei lagerten?! Nur deshalb wurden wir gefangen genommen, – es sollte so sein, sie wollte es, – – sie!!“
„Wer – – sie?!“
Lady Farsing hatte mir dieses rätselhafte „sie!“ ins Gesicht geschleudert, – ich warf ihr den scharfen, haßerfüllten Ball zurück …
„Wer – – sie?! Wen meinen Sie?!“
Ich glaubte, sie würde sich nun zusammenreißen und abermals die eisige Maske anlegen …
Ein Irrtum!
Ich hatte einen Vulkan in ihrer Seele unbewußt geöffnet, und sie gab sich auch nicht die allergeringste Mühe, die glühenden Lavafluten irgendwie einzudämmen.
„Weshalb lügen Sie?! Sie kennen ja Gwenda, Sie haben Gwenda selbst befreit, Kaid Mahmed erzählte mir es! Weshalb lügen Sie?! Sie heißen gar nicht Benson. – Sie wissen also recht gut, daß Gwenda nur den Finger zu heben braucht, und auch wir werden ausgelöscht, erschossen, ermordet! Weshalb lügen Sie?! Wir drei haben an den Spuren gesehen, daß Sie hier droben auf diesem Bergrücken mit noch einem Manne zusammengewesen sind … Wer war dies? Wer?! Etwa der Allerweltsschnüffler Simon Smetterlay?! Antworten Sie!! Peinigen Sie mich nicht!! Sie foltern mich ja! Sie haben den Haß zu hellen Flammen geschürt, und jetzt schweigen Sie – – aus Feigheit!! War es Smetterlay?“
… Ihr Atem schlug mir ins Gesicht … Sie sprach all dies in einem Übermaß ungeheurer Erregung …
Sie sprach all das mit halber Stimme … Und das Zischen einer Schlange konnte nicht gefährlicher klingen als diese Töne, die aus einer trockenen, vor Haß ausgedörrten Kehle hervorquollen.
Aus Feigheit!!
Das traf …
„Es war Sim Smetterlay!“, sagte ich kalt und trat mehr zurück, um die körperliche Nähe dieser Frau zu meiden.
Einen Augenblick stand sie starr, beugte den Kopf nach hinten …
Eine krankhafte Blässe entfärbte ihre Wangen …
Und dann sprang sie vor – blitzschnell …
Blitzschnell stieß sie mich über den Rand des Felsenbalkons hinweg in die tödliche Tiefe …
„Fahre zur Hölle!!“, – das war das letzte, was ich hörte …
Nicht das allerletzte …
Trasso heulte heiser auf …
Trasso griff an …
Rächte seinen Herrn … – –
… Und all das, all das des Dschebel Kainar wegen, den noch nie ein Forscher erklommen hatte.
… Fieberdämonen führen um mich her einen wahnwitzigen Reigen auf. Kaid Mahmed, ohne Kopf, aber den eigenen gesunden Gaunerschädel unter den linken Arm geklemmt, spielt den Vortänzer, hinter ihm her hüpft in grotesken Sprüngen Lady Honoria her, der zwischen den nackten Schultern ein greulicher Hyänenkopf, umwallt von ihrem rostbraunen Haar, sitzt … Als dritter folgt ein Mann, den ich nicht kenne, – seine Sträflingsjacke steht über der Brust weit offen, und auf der weißen Haut unweit des Herzens sehe ich acht Kugeleinschüsse … Hinter ihm schließt sich ernst und hochmütig und würdigen Schrittes Gwenda Wilkins an, – es folgen Sim Smetterlay, Walkin, Pourler und zuletzt der Graubart Tom, der den Hyänenhundbastard an der Leine führt …
Aber der tolle Spuk dieser Fieberträume zerflattert allmählich, und in lichten Augenblicken spüre ich die Nähe eines fürsorglichen weiblichen Wesens, höre auch flüsternde Stimmen und andere Gräusche …
Es ist dunkel um mich her. Die Finsternis ist so dicht, daß mir selbst diese lichten Momente als Fieberwahn erscheinen und ich mir daher keine Mühe gebe, irgendwie nachzuprüfen, ob das, was ich fühle und vernehme, Wirklichkeit ist.
Doch auch dieser Zustand geht vorüber …
Jetzt weiß ich plötzlich, daß eine Frauenhand mir kühle Kompressen auf Stirn und Augen drückt, daß es wirklich der Duft reifen Weibestums ist, der mir den Geruchssinn umschmeichelt.
Und dieser Sinn ist empfindlicher denn je, feinfühliger als in normalen Zeiten. Flüchtig grübele ich darüber nach … Ja, es ist eine krankhafte Überempfindlichkeit, und deshalb wittere ich auch Trassos Nähe.
Trasso riecht stets etwas nach Raubtier.
Auch dieses Übergangsstadium zu vollem Bewußtsein erlischt infolge stundenlangen erquickenden Schlafes, und als ich erwache, als ich mich langsam aufrichte, gleitet die Kompresse von meinen Augen und ich blinzele staunend in das rötliche Dämmerlicht, das durch eine gewölbte Felsspalte in die Höhle hineingeistert, als ob draußen irgendwo rote bengalische Flammen brannten.
Es ist das Abendrot …
Und es ist Wirklichkeit, daß ich noch die Schatten schnell enteilender Gestalten gewahre, daß Trasso neben mir sitzt, wedelt und freudig winselt, daß ich dort mein Pferd stehen sehe, daß mein Graslager mit sauberem Linnen bedeckt ist, daß dort im Winkel allerlei nützliche Dinge lagern …
Trasso winselt, winselt lauter, will beachtet sein …
Aber zunächst, – – was ist denn eigentlich mit mir geschehen?!
Was nur?!
Zäh und schwer fließen die Gedanken …
Das Gedächtnis versagt …
Wütende Stiche in den Schläfen rufen ein bedrohliches Flimmern vor den Augen hervor …
Ich gebe es auf, Erinnerungsbilder herbeizuzwingen … Sie werden sich schon von selbst einfinden, wenn ich mich erst wieder ganz frisch fühle. Zunächst fordert mein Freund Trasso sein Recht, seine Zärtlichkeiten, und als er sich dabei ganz nahe herandrängt, gleitet ein Spiegel von der leichten Wolldecke, die meine Beine noch umschmiegt, – ein Handspiegel mit weißer Einfassung und Nickelstütze, ganz neu, so neu wie aus einem Einmarkbasar …
Da habe ich ja die beste Gelegenheit, mir meinen ramponierten Schädel einmal genau anzusehen – im Spiegel!
Ich denke das Wort „Schädel“, – und dieses Wort ist wie eine Schere, die den Vorhang, der über den letzten Ereignissen liegt, zerschneidet.
… Ich bin abgestürzt, – nein, Lady Farsing hat mich von der Felskanzel in die Tiefe gestoßen, und unten prallte ich auf etwas Weiches auf, glitt zur Seite und schlug mit dem Kopf auf und verlor das Bewußtsein. Trotzdem habe ich in diesen Sekunden, wo mir das Los eines tollkühnen Bergsteigers, das Schicksal eines zertrümmerten Leibes gewiß schien, deutlich sechs jener grauen Dromedarreiter erkannt wie eine Vision, und diese Leute hatten ein großes Stück Stoff als Sprungtuch ausgespannt gehabt, – auch darauf besinne ich mich. Nur etwas bleibt unsicher und verschwommen, und das ist die Erinnerung an die mondbeschienenen Gesichter der Leute und auf eine Stimme, die vielleicht die der Miß Wilkins war und die gerufen hat:
„Mein Gott, – – Abelsen!!“
Aber dieses Letzte könnte ich nicht beschwören …
Nein, – nur der Eindruck bleibt, daß auch die fünf übrigen Reiter außer Gwenda Wilkins glatte, bräunliche Frauen- oder Mädchengesichter hatten und daß auch diese fünf ängstlich aufgeschrien haben, als ich trotz des straff gespannten Tuches in das Steingeröll und die Dornen sauste.
Und nun mein Spiegelbild.
Gute Spiegel sind unangenehm ehrlich, ehrlicher als Berufsfotografen und Modeporträtisten.
Schlechte, billige Spiegel verzerren und zeigen dich als verschwollene Fratze.
Ob dieser Handspiegel gut oder schlecht, bleibe dahingestellt.
Mein Gesicht war jedenfalls menschenunähnlich …
Wahrscheinlich war ich in Geröll und Dornen gefallen, denn …, – aber es hätte wenig Zweck, mich selbst als Karikatur zu schildern. Mir genügte jedenfalls die zerschundene Stirn und die Schläfenbeule.
Immerhin hatte diese absolut einseitige Selbstbespiegelung ein Gutes: Ich war entsetzt, und dieses Entsetzen über das, was einmal und immer noch auf Steckbriefen als mein Ich glänzte, trieb mich von meinem Lager in die Höhe. –
So war es …
Derweil sind Stunden vergangen, und ich habe in meiner Niedergeschlagenheit und im Gefühl meiner Ohnmacht aus dem aufgestapelten Gepäck das große Stück Leder hervorgesucht, in das ich meine bisherigen Aufzeichnungen eingewickelt hatte, und habe … zu schreiben begonnen …
Mein sogenanntes Tagebuch ist noch stets etwas sehr kraus ausgefallen. Manchmal geraten die losen Blätter durcheinander, und so mag es auch hier sein …
Da habe ich oben als Überschrift hingesetzt:
Im Dschebel Kainar.
Und die Seite lautet:
Ich habe soeben mit Freund Trasso und mit meinem Reitpferd, das bisher namenlos geblieben, zu Abend gespeist, – Trasso fraß zwei Konservenbüchsen Fleisch, ich aß geräucherten Seelachs und frisches Brot und frische Butter, und der Gaul kaute Gras und Hafer – – echten Hafer.
Wir führen so weit ja ein Schlemmerdasein, aber so tadellos man uns auch mit allen möglichen Delikatessen versorgt hat: Man hat anderseits auch dafür gesorgt, daß der Dschebel Kainar uns lediglich ein winziges Stück seiner Nordostseite zeigte und daß er uns vielleicht nie mehr zeigen wird als dies!
Man hat mein Lazarettzimmer eben raffiniert geschickt ausgewählt und mir eindeutig erklärt: „Bitte, dort hinaus geht es nach Norden! Von den Sonnenbergen wirst du nicht mehr erblicken als dies!“
Dies, dieses … – Und was ist das?!
Wenig … nichts!
Ich glaubte, daß der nach Nordwesten sich öffnende eine Höhlengang, durch den das Abendrot hereinfiel, irgendwohin auf eine Hochebene münden würde. Es war ein Irrtum: Drei Schritt ins Freie, und unter mir stürzte die Felswand wohl hundert Meter tief senkrecht ab in einen Schlund, aus dessen ewiger Dämmerung nur das Gurgeln unsichtbarer Wasser emporklingt.
Drüben, fünfzig Meter weiter, erhebt sich eine ebenso grauschwarze Bergwand und versperrt jede Aussicht.
Selbst der Versuch, etwa über den Höhlenausgang am Gestein emporzuklimmen, wäre Wahnwitz …
Und doch sind die hastig enteilenden Gestalten, die mein völliges Erwachen nicht abwarten wollten, hier ins Freie geschlüpft und verschwunden, so daß die Schlußfolgerung naheliegt, die Leute müssen lange Taue bereitgehabt haben, an denen sie sich entweder in die Schlucht hinabließen oder an denen sie emporkletterten oder emporgezogen wurden, – was wahrscheinlicher ist.
Dann der zweite Ausgang …
Vielleicht stellte er eine noch größere Überraschung dar. – In dem Winkel, wo der Pferdestall für meinen Edelrenner hergerichtet ist, hängt an der hintersten Wand eine dicke, sehr dicke große braunschwarze Kamelhaardecke.
Lüftet man sie, so gewahrt man einen schmalen Felsengang, der nach fünfzehn Meter sanften Abfalls auf eine Talterrasse sich öffnet. Dieses Tal, unten mit Dornendickichten gegen die Steppe hin verrammelt, gewährt Ausblick auf jenen kleinen Höhenzug mit der grünen Kuppe und dem alten Blockhaus, wo Freund Smetterlay und der Hyänenhundbastard Ghost verschwanden und von wo ich mich so gänzlich unfreiwillig verabschiedete.
Das ist aber auch alles, was man sieht: Steppe, Höhenzug, – – unten Dornengestrüpp, – eine Wildnis, die vielleicht nur durch Feuer zu bewältigen wäre.
Trotzdem bin ich, so schwach ich mich noch fühlte, hinabgeklettert und habe festgestellt, daß durch diese Dornen ein schmaler Schlängelpfad läuft – – in die Wüste hinein!
Nur das!
Mithin hat „man“ mich hier mich selbst überlassen, damit ich nachher gehorsam davonreite und den Dschebel Kainar als verbotenes Land meide!!
… Man irrt sich. Man hat mich schon oft zu irgend etwas zwingen wollen. Man hat sich an meiner Hartnäckigkeit noch stets die Zähne ausgebissen und sobald die Zahnlücke erst vorhanden war, schlüpfte ich hindurch und rief mein kühnes „Horrido – da bin ich!!“, in den Höllenschlund. – Aber zur Zeit (denn nun schreibe ich wieder bei Petroleumlicht) ist meine Siegeszuversicht gewaltig gesunken.
Ich schreibe, um mir Mut einzureden …
Trasso, der glückliche, schläft und prustet … schnarcht und winselt. Er macht sich keine Gedanken über all diese Dinge, die nur mehr denn je jenen Magnet verstärkt haben, der „Dschebel Kainar“ heißt.
Magnet …! Der Totenkopf auf den Wolken und die Tatsache, daß diese Sonnenberge unerforscht sind und irgend ein Geheimnis einer uralten menschlichen Siedlung bergen, bilden ja nicht die einzigen Anziehungskräfte für mich. Nein, da ist etwas weit Rätselhafteres, das mir keine Ruhe läßt, das mich in den letzten Stunden immerfort zu noch schärferem Grübeln aufgestachelt hat.
Auch eine Tatsache, die sich nun aus meinem Gehirn trotz aller Benommenheit herausgeschält hat mit so starker Eindringlichkeit, und die zwei getrennte Vorgänge betrifft. Einmal meine Rettung vor dem sicheren Tode beim Absturz von der Felskanzel. Wer, was rettete mich? Ein schnell ausgespanntes Sprungtuch. Wer hielt diese Decke, – wahrscheinlich war es ein Zeltdach – wer?! Mehrere der grauen Dromedarreiter! Und welche Art Gesichter geisterten im Mondlicht unter diesen grauen Kapuzen der grauen flatternden Mäntel?
Frauengesichter!!
Bestimmt war nicht ein einziger Mann darunter!
Hat die Siedlung hier im Dschebel Kainar einen solchen Überfluß an Weibern, daß man etwa von einem Amazonenstaat sprechen könnte?!
Die Frage taucht stets von neuem auf.
Diese Frage ist berechtigt. Jetzt erst habe ich mich darauf besonnen, daß ich gestern nacht im Mondlicht, als ich die grauen Dromedarreiter zuerst auftauchen sah, mit dem Fernglas die Gesichtszüge ebenfalls prüfte, und daß mir halb unbewußt schon da dasselbe aufstieß: Es war auch nicht ein einziges bärtiges Gesicht unter diesen sechzig, die mir die scharfen Linsen des Glases so nahe heranholten!
Und nicht genug hiermit!
Der zweite Vorgang, völlig getrennt von dem ersten, betrifft die sorgsame Krankenpflege in dieser trockenen, luftigen, kühlen Grotte. Wer pflegte mich? – Nur Frauen!
Auch das ist mir nun klar geworden.
Ich hatte ja während meiner Fieberphantasien meine lichten Momente!
Gewiß, mein fieberüberhitztes Hirn konnte in diesen kargen Zeiträumen halben Erwachens Einzelheiten als Erinnerungsbilder nur oberflächlich aufnehmen. Jetzt sind diese Bilder als untrügliche Beweise wieder lebendig geworden: Nur Frauen bemühten sich um mich, und so gewiß ich hier an einem einfachen Tische aus festem Holz sitze und mein Bleistift mit den jagenden Gedanken auf dem Papier gleichen Schritt zu halten sucht: Eine dieser Frauen war bestimmt Gwenda Wilkins, Tochter des standrechtlich erschossenen Lord Farsing! – –
Der Bleistift fliegt in die Ecke …
Ich bin hochgeschnellt, Trasso ist emporgefahren, sogar der Gaul wedelt mißvergnügt und schlaftrunken mit den Ohren …
Ein Griff nach der Lampe, die nur einfache Küchenlampe mit Blechspiegel ist …
– Minuten darauf beuge ich mich über Freund Smetterlay, dessen Gesicht aschgrau ist, dessen Augen geschlossen sind … –
… Der Dschebel Kainar hat mir seine Kriegserklärung in Gestalt dieses Prachtkerls von Sim geschickt, den man morden wollte …!
… Dschebel Kainar, hüte dich!! Man hat sich an meiner Hartnäckigkeit noch stets die Zähne ausgebissen!!
Was treibt Trasso und mich so blitzartig empor …? Schüsse!! Schüsse in der Nacht, deren Knall in den Bergen widerhallte wie ein Gewitterdonner.
Und dann hörten wir den Schrei …
Nur Menschen in Todesnot, in deren Seele trotzdem noch die grimme Wut über eine heimtückische Niedertracht diese Todesangst zurückdrängt, brüllen so grell ihr verächtliches „Feiges Weiberpack!!“ in die unbarmherzigen Klüfte des Kainar hinein.
Mit der Lampe in der Linken stehe ich am Höhlenausgang hart am Rande des Abgrundes …
Stille …
Eine beklemmende, nervenpeinigende Stille, aus der jeden Augenblick das Grauen in irgend einer Gestalt über dich herfallen kann!
… Irgend etwas fällt mir in den Nacken, – ich fahre herum …
Ich sehe ein pendelndes Tau, ich sehe einen Menschen, der an diesem Basttau herabsaust, indem er die Jacke als Schutz für die Hände benutzt …
Nein, – der Mann saust nicht herab, der Mann fällt … fällt samt dem Tau, – – fällt wie ein Bleiklotz an der Steinwand hinab und wird mich mit sich reißen in die ewige Dämmerung oder Finsternis des rauschenden, wassergefüllten Schlundes …
Tod droht uns beiden …
Aber leben wollen wir beide, – werden leben, – und ich beuge mich zurück, lasse die Lampe fallen, sie zerschellt, erlischt, das Glasbassin zersplittert …
Und da kommt der Ärmste bereits angesaust, Beine voran, streift meine Brust, – – ich werfe die Arme um ihn, werfe mich zurück, falle auf Trasso, falle weich …
Nur ein Fetzen Mondlicht trifft das Gesicht dessen, den ich an mich gepreßt halte.
Simon Smetterlay!!
Barmherziger Gott, wie sieht Freund Sim aus! Wie ein Sterbender!!
Jener verachtungsvolle, wahnwitzige Wutschrei „Feiges Weiberpack!“ mag ihm entschlüpft sein, als er merkte, daß menschliche Bestien das Tau droben zerschnitten, wo er es befestigt hatte … irgendwo!
Armer Sim!! Wie übel hat man dir mitgespielt! Blut sickert aus deinem linken Hemdärmel. Man hat dich gehetzt, gejagt, man hat auf dich geschossen … Zehn Zentimeter weiter, und der Armstreifschuß wäre Herzschuß gewesen!
Ich habe kein Licht, keine Lampe mehr, keine Kerze! Aber Zündhölzer habe ich, sogar ein ganzes Paket, und der eine Eichenschemel zersplittert auf dem Steinboden, trockenes Gras meiner Lagerstatt flackert auf, und Holzspäne knistern …
Smetterlay liegt auf meinem Bett, bewußtlos, grau im Gesicht, hat die Zähne so fest verbissen, daß ich alle Mühe habe, ihm etwas Whisky einzuflößen. Ich stütze ihn, er schluckt, er trinkt, Trasso sitzt abwartend dabei, und erst als ich ihn scharf anfahre, gehorcht er und bewacht den Ausgang nach dem Abgrund zu. Smetterlay atmet tiefer, plötzlich schlägt er die Augen auf, ein Schimmer des Erkennens gleitet über seine sich rötenden Züge, hinter uns knistert und knallt das Feuer auf dem grauschwarzen Steinboden, und Sim sagt mit schwerer Zunge:
„Abelsen, verdammt noch mal, ich habe doch schon so allerhand hinter mir! Satansanwalt. – – Sie besinnen sich! Aber dieses Weibsgelichter!!“
Er schüttelt sich …
„Geben Sie mir zu saufen, Abelsen!! Damit ich den Nachgeschmack nach … nach dieser Teufelshatz loswerde! – So … Nun habe ich meine Gedanken bereits ein wenig besser beisammen … – Wie steht es mit einer Zigarre …? Alkohol und Nikotin, – – es gibt Narren, die diese beiden Reizmittel als Gifte bezeichnen. Ich wünschte, diese Sorte Ankläger würde einmal das durchmachen, was ich vorhin erlebte, – – und ich habe doch Nerven aus Patentstahl! – – So, danke, die Zigarre brennt und … hallo, was war das?!“
Wir horchten …
„Das kam aus dem Tale, das sich nach der Steppe hin öffnet … Warten Sie, Smetterlay … Ich bin sofort wieder da …“
Als ich mich an meinem Reitpferd vorüberdrängte und die Decke lüftete, hörte ich genau dasselbe Poltern … Es war der Lärm von Geröll, das ins Gleiten geraten war.
Ich entsicherte die Büchse, schlich tastend den Felsengang entlang ins Freie und drückte mich in den Schatten eines hohen einzelnen Steines. Das Tal unter mir lag zur Hälfte im Mondlicht, zur anderen Hälfte in dichter Finsternis. Die Steppe dagegen, über die sich keinerlei Dach als nur das flimmernde Firmament wölbte, zeigte mir das traumhaft schöne Gemälde einer Wüste, deren grasreiche Striche von beweglichen Flecken äsender Wildrudel bedeckt waren und deren pittoreske Felspartien in diesem bläulichen Silberglanz selbst in der unfruchtbarsten Phantasie die Formen von Tempelruinen, seltsamen Burgen und noch seltsameren Häusern angenommen hätten.
… Abseits vom Alltag …!
Ein Abseits hier an der Grenze der Berge der Hitze des Dschebel Kainar, – im Kainar selbst, – ein Abseits am Rande eines uralten Geheimnisses, dessen Wehen und unbestimmte Klänge sogar Kaid Mahmed zum Märchenerzähler gemacht hat.
Ein Abseits, durch dessen Klüfte vorhin der wilde Fluch eines sonst so besonnenen Mannes wie Simon Smetterlay geschrillt war: „Feiges Weiberpack!!“
Märchen …?!
Hatte nicht der alte Gauner und Zwiebelfresser Mahmed einst am Lagerfeuer am murmelnden Benguit-Fluß von einer Sultana, einer Königin, berichtet, die in den tiefsten Tiefen des Kainar wohne und die über ein gespenstisches Heer gebiete?!
Märchen?!
Weshalb hatte auch Sim etwas von „Weiberpack“ gebrüllt, – – weshalb wohl?!
… So spielten meine Gedanken um gegenwärtige und vergangene Dinge, während meine Augen sich hineinbohrten in die Dunkelheit der unbelichteten Talseite und drunten jeden Dornenbusch mißtrauisch umlauerten.
War es ein Tier gewesen, durch das die Geröllmassen ins Gleiten gekommen waren?! – Überflüssige Frage! Das Tier der Wildnis wird niemals, es sei denn in besinnungsloser Flucht, seine Füße unsicherem Boden anvertrauen.
Da … – wieder das Rieseln, Klingen, Knistern rutschender Steinchen …
Keine zehn Meter von mir …
In der Finsternis …
Ich schließe die Augen, um sie nicht zu überanstrengen, öffne sie wieder …
Jetzt sehe ich etwas …
Es ist doch eine Hyäne, eine von der großen, gefährlichen Art, die nachts mit feiger Frechheit wandernde Frauen anfallen und ihnen das Kind rauben, das sie an der Hand führen.
Der häßliche Hyänenschädel schiebt sich weiter vorwärts, und der mißtrauische Aasfresser und Kinderdieb drückt sich eng an die Schattenseite der Felswand, tut mißtrauisch den nächsten Schritt, steht still, duckt sich zusammen, schleppt da irgend etwas hinter sich her, und die kurzen Hinterbeine schlenkern ganz merkwürdig.
Ich selbst?! – Ich würde am liebsten lachen über diese Maskerade …!
Ich lache nicht. Wir sind hier im Kainar. Im Kainar lacht man nicht. Da brüllt man nur wie Smetterlay: „Weiberpack!!“
… Das, was da Hyäne sein soll, kommt noch näher.
Dann schnelle ich vor, packe zu, erwische eine menschliche Kehle, – ein halb unterdrückter Schrei, ein Rutschen des Hyänenkopfes, und die weit aufgerissenen Augen Allan Walkins, des sensationshungrigen Globetrotters, starren mich wild an …
Ich lockere den Griff etwas.
„Walkin, wenn Sie auch nur röcheln, fahren Sie zur Hölle!!“
Der Gentleman grinst verzerrt …
„Gott sei Dank, – – Sie sind es, Abelsen!“
„Wo kommen Sie her, Mann?!“
„Dorther, wohin Sie mich schicken wollten: Aus der Hölle!“
Sein Legionäranzug sind nur noch Lumpen … Sein Gesicht ist von Dornen zerkratzt, seine Arme, teilweise nackt und blutüberkrustet, stecken voller Dornenstacheln.
Er stöhnt leise …
„Walkin!!“
„Lassen Sie mich ausruhen, Abelsen …! Die grauen Teufel waren dicht hinter mir her … Fragen Sie nichts … Ich sage Ihnen, ich bin vorläufig … verrückt, unzurechnungsfähig …! Verdammt, – – und mir das, mir …!! Vor nichts habe ich mich je gefürchtet, und dann … diese Weiber! Graue Teufel, Abelsen, – – Sie kennen sie ja: Ihre Wüstenräuber! Nette Wüstenräuber, – – Frauenzimmer, Amazonenkorps, – – armer Pourler, arme Lady Honoria, – – beide sind tot … erschossen droben auf dem Höhenrücken am alten Blockhaus …“
Allan Walkin, schwerreicher, waschechter zäher Brite mit trockenem Humor, fügt matt hinzu: „Seit meine Amme vor achtundzwanzig Jahren überflüssig geworden – sie hat mich noch bis zu meinem dritten Lebensjahre betreut und mir, da sie Schottin war, gräßliche Gespenstergeschichten erzählt –, habe ich kein Weib mehr gefürchtet … Aber die Bande, Abelsen, – – das waren sicherlich Nachkommen von des Teufels Urgroßmutter!! Und zu allem Unheil waren die Kanaillen noch stark, schneidig, – – leckere Bissen – – für den Henker! – Es war scheußlich, Abelsen!“
Abelsen nennt er mich jetzt immer?! Für ihn und Mylady und den pomadigen Pourler hieß ich doch Benson!
Walkin hatte sich etwas aufgerichtet. Er zupft die Dornen aus der Armhaut …
„Walkin, woher kennen Sie plötzlich meinen richtigen Namen?“
„Kannten wir längst, Abelsen … Schon von Larache her … Ganz Larache war voll von Ihrem Kriegszuge durch das Rifgebiet. Ihr Kopf ist fünfzigtausend Pesetas wert … mit oder ohne Rumpf, ganz gleich … Mylady wünschte Diskretion … Mylady, glaube ich, hat den maulfaulen Jack und mich gründlich hineingelegt mit ihren Schwindeleien über den Dschebel Kainar und über ihr Stieftöchterchen Gwenda Wilkins … Jack und ich lernten sie von ungefähr in London kennen, bei einem Minister, bei großer festlicher Abfütterung. Wir Narren verliebten uns in diese neu auferstandene Sphinx, und das Ende vom Liede war ihre Bitte, wir sollten sie begleiten … – So, die Dornen bin ich los … Aber die Haut brennt mir, als wenn ich ein Nessusgewand angehabt hätte, und dabei war es doch nur ein Hyänenfell … – Was tun Sie hier, Abelsen?“
„Mondscheinstudien …! Das merkten Sie ja an dem Griff nach Ihrer Kehle. – Und wie fanden Sie den Weg in dieses Tal?“
Ich half ihm auf die Beine. Er taumelte etwas.
„Fanden?!“, meinte er bitter. „Gejagt hat man mich, bis ich mich dort unten in dem hohen Dornengestrüpp verkriechen konnte und ausgerechnet auf die Hyäne stieß … Sie hatte dort ihre Villa, das Vieh, und ich hatte ein Messer … Ende gut, alles gut, – sie starb in Seligkeit und Sünden, und ich zog ihr das Fell ab, erblickte einen Mann droben im Tale und hoffte, es sei der arme tote Jack … Sie waren es, Abelsen, Sie haben seine Figur … Was tun Sie hier?“
„Kommen Sie mit… Jemand wartet. Jemand, der mir indirekt zum Sturz von der Felsenkanzel verhalf … Direkt tat es Mylady, Ihre stille Liebe …“
Allan Walkin wandte mit einem Ruck den Kopf.
„Was soll das?! Ich verstehe Sie nicht …“
„Sie werden verstehen … Kennen Sie Sim Smetterlay?“
„Natürlich! Gegen den sind Jack und ich grüne Anfänger. Netter Kerl, der Sim. Imponiert mir …“
„Hat Lady Farsing denn nie mit Ihnen oder Pourler über Smetterlay gesprochen?“
„Das schon, Abelsen. Sie schien ihn zu fürchten, aber näher ließ sie sich darüber nicht aus. Sie war ja überhaupt sehr verschlossen und hat uns mit Andeutungen abgespeist. Ihr lag wohl in der Hauptsache nur daran etwas, ihre Stieftochter ohne Aufsehen nach England in eine Anstalt zurückzubringen.“
„In eine Anstalt, Walkin?! Was für eine Anstalt? Reden Sie!“
Allan Walkin stützte sich fester auf meinen Arm. Er schaute mich groß an, und er war zweifellos genau so überrascht wie ich.
„Wußten Sie das denn nicht?! Gwenda Wilkins lebte bis vor einem halben Jahre als Geisteskranke in einer der vornehmsten Privatirrenanstalten Englands, dann entfloh sie, und Mylady nimmt wohl an, Smetterlay habe ihr bei der Flucht geholfen und sie auch weiter verborgen gehalten. Smetterlay managert ja alles … Es ist der gerissenste Kunde in Oldengland, und …“
„… trotzdem ein Gentleman, sagt man!“, meldete sich derselbe Smetterlay aus der Finsternis des Felsenganges hinter uns. „N’ Abend, Walkin. Ich habe alles gehört, und ich habe auch noch meinen Senf dazuzugeben … – Hallo, – – das war Ihr Trasso, Abelsen. Da stimmt etwas nicht …“
Ich rannte bereits davon. Trasso röhrte in so bedrohlicher Art, daß ich mit neuen Widerwärtigkeiten rechnete. Das Feuer in der Höhle brannte sehr hell, Smetterlay hatte noch den Rest des Holzschemels in die Glut geworfen, der Lichtschein beleuchtete meinen Wolfsbastard, der draußen auf dem kleinen Felsbalkon wütend nach einem weißen Etwas schnappte, das über ihm in der Luft schwebte. Zuweilen sprang er in die Höhe, – aber das weiße Ding ruckte dann gleichfalls empor, und dieses Ding war ein dicker Briefumschlag, der an einer Schnur von oben herabgelassen worden war. Unter dem Briefe hing noch an derselben Schnur ein Stein, damit der Nachtwind diese leichte Postsendung nicht zur Seite wehen könnte.
Es war ein Brief. Sehr gutes Papier. Die Anschrift, mein Name, mit Maschine getippt, ebenso der Brieftext. Eine Unterschrift fehlte.
Was der Brief enthielt, wußte ich im voraus.
Ich hatte mich auch darin nicht getäuscht.
… Ein zweiter Holzschemel hatte daran glauben müssen.
Um das flackernde Feuer in der Randgrotte des Kainar saßen drei Abenteurer, jeder für sich ein Typ von Mann … Aber Allan Walkin sah doch am meisten nach Stromer aus, und der etwas, etwas weniger abgerissene Smetterlay sagte knurrig und spöttelnd: „Walkin, in dem Aufzuge müßten Sie sich im Strand-Klub sehen lassen!! Sie würden allgemeine Beachtung finden!“
Walkin saugte krampfhaft an seiner Zigarre. „Wir wollen beim Thema bleiben, Smetterlay! Was tun wir? Der Wisch da ist eindeutig.“
Der Wisch lag neben Trassos Kopf in meinem Schoße.
Der Wisch war der Brief.
Smetterlay gähnte. „Tun?! Was sollen wir tun?! – Gehorchen!“
Er blickte mich an. „Na, Sie alter Weltenbummler, – – und Sie?!“
„Gehorchen!“, sagte ich nur. – Was ich dachte, war meine Sache.
In dem Briefe, Schreibmaschine, stand folgendes:
„Mr. Abelsen, Sie, Smetterlay und Walkin werden auf nachstehende Bedingungen eingehen. Sie verlassen alle drei noch in dieser Nacht den Kainar. Sie werden unten im Tale Kleidungsstücke, Pferde, Waffen und Proviant und Wasser vorfinden, außerdem für jeden von Ihnen einen Scheck über 50 000 Pfund, zahlbar an Überbringer durch die Bank von England. Sie haben eine Stunde Bedenkzeit. Im Weigerungsfalle wenden wir andere Mittel an. Zu Ihrer Warnung sei gesagt, daß Kaid Mahmed seine ganzen Krieger im Norden zusammengezogen hat, und daß seine Späher den Kainar umkreist haben. – Sie hätten also gegen zwei Parteien zu kämpfen. – Schlagen Sie sich nach Süden durch und schweigen Sie über Ihre hiesigen Erlebnisse. – Sollten Sie nach einer Stunde nicht aufbrechen, so erleiden Sie dasselbe Schicksal wie Honoria Farsing und Jack Pourler. Wir warnen auch nachdrücklichst vor überflüssigen Schwätzereien, unsere Verbindungen reichen über die ganze Welt, und die geringste Indiskretion zöge Ihnen dreien die tödliche Feindschaft einer Organisation zu, vor der England allzeit Furcht hegte. – Gehorchen Sie!“
– Soeben hatte ich dasselbe erklärt: „Gehorchen!“
Walkin schmiß die Zigarre ins Feuer. „Blödsinn!! Ich nicht!!“
„Ich auch nicht!“, meinte Smetterlay sehr nachdrücklich. „Und Sie, Abelsen, denken ja auch ganz anders als Sie reden! Mann, wir haben noch eine Dreiviertelstunde Zeit. Überlegen wir uns mal, was geschehen ist und was man uns dreien da zumutet …“
Er dämpfte die Stimme noch mehr.
„Tatsache ist, daß ich in London vor sieben Monaten durch ein geheimnisvolles Schreiben nebst Scheck den Auftrag erhielt, Gwenda Wilkins zu befreien. Bis dahin hatte ich von Gwenda Wilkins nur durch knappe Zeitungsnotizen etwas gehört. Ich untersuchte die Sachlage, der Verdacht, daß Lady Farsing eine Gesunde hatte einsperren lassen, bestätigte sich, ich befreite Miß Wilkins, verbarg sie, traf Vorbereitungen für ihren „Ausflug“ nach Larache, – – na, das weitere wissen Sie … Derweil hatte eben Kaid Mahmed Miß Gwenda gefangen genommen, derweil hatte aber auch dieses Mannweib von Lady ihre Gegenmaßnahmen getroffen, und – – der eigentliche Tanz begann, in den wir alle mit hineingezogen wurden. – Wichtig sind die letzten Vorgänge. Während Sie, Abelsen, die Lady und Walkin und Pourler in der Steppe befreiten, hatten mich die Dromedarreiterinnen geschnappt und nahmen mich mit sich. Mit verbundenen Augen schleppte man mich hier in den Dschebel Kainar und sperrte mich droben auf den Randbergen in eine kleine Höhle ein. Meine Wächterinnen waren ältere Weiber, alle bewaffnet, alles Europäerinnen, – Engländerinnen wahrscheinlich. Diese blutgierigen Amazonen älteren Jahrganges kannten aber Sim Smetterlay schlecht. Ich kniff aus, man verfolgte mich, man schoß nach mir, ich fand hier über dieser Grotte das um eine Felsspalte geschlungene Tau und rutschte abwärts, Abelsen fängt mich auf, ich war gerettet. – Nun zu Ihren Erlebnissen, Walkin … Nachdem Lady Farsing in jäh aufflammender Wut Abelsen über den Rand der Felsenkanzel in die Tiefe gestoßen hatte, tauchen auf dem Höhenzug um die alte Blockhütte Vertreterinnen des jüngeren Jahrgangs der Amazonen auf und …“
Walkin fluchte. „Bleiben Sie ernst, Smetterlay! Zum Teufel, es geht und ging um Menschenleben!!“
Sim zuckte die Achseln. „Derlei Dinge darf man nicht ernst nehmen, mein lieber Walkin. Hier steht die Welt sozusagen Kopf, hier stoßen wir auf ein Staatswesen von Weibern, auf einen richtigen Amazonenstaat, der sogar feines Büttenpapier, Schreibmaschinen und Gott weiß was besitzt. All das ist so absurd, so widersinnig, so unmöglich, daß man gut tut, unsere merkwürdigen Feststellungen scherzhaft zu behandeln, sonst glaubt man, man wäre so etwas verrückt geworden. Jedenfalls: Die jungen Damen knallen Mylady und Pourler anscheinend nieder, Sie selbst, Walkin, entfliehen, werden verfolgt, gehetzt, gejagt, und Abelsen trifft mit einer Hyänenhaut zusammen, unter der ein dornengespickter Walkin steckt … – So, hiermit wäre der Tatbestand skizziert. Nun müssen wir auf Diego Vargas, den Steuermann, und sein mir jetzt abgenommenes Buch zurückgreifen. Was schrieb der Spanier über den Kainar im Jahre 1867? Er schrieb, daß auch er nach seinen Versuchen, den Höhenzug im Norden zu erklimmen, und nachdem „man“ ihn mit Proviant versorgt und mit Schüssen verjagt hatte, zur Küste gewandert sei, immer am Nordrande des Kainar entlang unten in der Steppe. Hier fand er eine als Beduinin verkleidete Europäerin, die von einem Löwen angefallen worden war und die Bestie durch einen Schuß nur verletzt hatte. Vargas verscheuchte den Löwen, pflegte die Verwundete, wurde nachts gefangen genommen – – von ähnlich gekleideten Weibern, und … mit verbundenen Augen auf einem Dromedar bis in die Nähe der nächsten marokkanischen Küstenstadt gebracht. Man behandelte ihn gut, aber man verlangte unverbrüchliches Schweigen über seine Erlebnisse. Er kehrte zu Schiff nach Spanien zurück, – – der Rest ist bekannt. – Was hebt Vargas nun in seinem indiskreten Buche hervor: Einmal den „Totenkopf“ auf den Wolken, den auch Abelsen und ich sahen, dann, daß er nur von Frauen wegtransportiert wurde. Deshalb behauptet er, im Dschebel Kainar bestehe ein … Amazonenstaat. Er kam also genau zu derselben Schlußfolgerung wie wir: Amazonenstaat! – Wir aber als moderne, aufgeklärte Menschen sträuben uns gegen diese phantastische Annahme, obwohl die Tatsachen uns eindrucksvoll vorhalten, daß unsere Annahme richtig ist. – Hauptfrage nach alledem: Wem verdankt dieses geheime Staatswesen, ein Miniaturstaat von Weibern, seine Entstehung? Was hat Gwenda Wilkins mit dem Amazonenstaat zu tun, was Lady Honoria?! – Hierauf können wir nichts antworten, gar nichts. Aber wir drei sind nicht von jener Sorte von Menschen, die vor Weibern kapitulieren und ein Geheimnis unerforscht lassen, nur weil man uns droht. Lediglich eins ist mir unangenehm: Wenn wir zum Schein uns entfernen, also die Pferde und den Proviant benutzen, brechen wir ein stillschweigend gegebenes Versprechen, sobald wir heimlich dem Kainar doch auf den Leib rücken. – Wie stellen Sie sich hierzu, Walkin?“
„Hm – auch mir widerstrebt dieser Wortbruch, aber ich habe Pflichten gegen Jack Pourler, der vielleicht noch lebt … Ich stelle diese Bedenken also zurück.“
„Und Sie, Abelsen?“
„Ich?! – Wir befinden uns im Kriege … Da ist alles erlaubt. Ich werde den Kainar betreten, und sollte ich monatelang auf die günstige Gelegenheit warten!“
„Bravo!“ Smetterlay drückte mir die Hand. Ebenso dem schmierigen Walkin. „Also wäre der Dreibund geschlossen … – Abelsen, was schlagen Sie als nächstes vor? Sie sind von uns der erfahrenste in derlei Dingen, bei denen eine Flintenkugel gratis verabfolgt wird …“ – –
… Gegen Morgen eilten drei Männer und zwei Packtiere und ein kräftiger Wolfsbastard gen Norden. Der Himmel war dicht bedeckt … Irgendwo grollte ein Gewitter … Sturmstöße fegten über die Steppe und rissen ganze Sandwolken hoch.
Es war sehr dunkel …
Es blieb dunkel, und die drei Reiter näherten sich auf Umwegen dem bekannten felsigen Höhenzug mit der grünen Kuppe und dem alten Blockhaus. Der eine – ich – kletterte zunächst mit Trasso allein nach oben. Wir fanden nichts Verdächtiges vor, und als der Gewitterregen auf das Dach des Blockhauses herabpeitschte, lagen Smetterlay und Walkin in tiefem Schlafe.
Meine Stunde war gekommen.
Kaum hatte der Regen etwas nachgelassen, als ich, einen ganz bestimmten Gedanken nachgehend, meine Suche begann.
Dieser Gedanke war einfach und klar.
Der Überfall auf Lady Honoria, Walkin und Pourler kurz nach meinem Absturz war so überraschend erfolgt, daß unmöglich die Kainar-Amazonen von außen den Höhenzug erklommen haben konnten. Trasso hätte sie unbedingt gewittert, und wir hatten auch kurz vorher einen Rundgang gemacht.
Ich wußte nun, daß sowohl im kleinen Atlas wie im Großen Atlas weite Höhlengebiete entdeckt worden sind, daß eine dieser Grotten, bei Scheschauen im Rifgebiet gelegen, unter dem Namen „Höhle des Sultans“ geradezu berühmt ist, sich mehrere Meilen weit hinzieht und sich schließlich nach der Uferwand des Sebu-Flusses öffnet, jedoch gemieden wird, da sie gefährliche Abgründe enthält, die seltsamerweise von Salzkrusten überdeckt sind.
Meine Vermutung ging also dahin, daß auch hier oben auf dem Höhenzuge ein Grotteneingang vorhanden sein könnte und daß diese Grotte sich unter der Steppe bis zum Dschebel Kainar erstrecke.
Ich nahm Trasso mit, – es war ohnedies Zeit, wieder einmal drüben von der bewußten Felskanzel Ausschau zu halten und auch den kahlen Nordteil des kleinen Bergrückens zu besuchen, obwohl ich an eine ernsthafte Gefahr nicht glaubte und besonders die Warnung in dem Briefe vor Kaid Mahmed für ausgesprochenen Bluff hielt.
Wir hatten zur Sicherheit auch die Pferde mit in das Blockhaus hineingenommen und dieses nach Möglichkeit durch dicke Äste und Steine und Lehm wieder ausgeflickt.
Als Beleuchtung diente uns eine der beiden Petroleumlaternen, die wir mit unter den reichhaltigen Spenden der Kainar-Herrschaften gefunden hatten, – nebst zwei Kannen Brennstoff. In dieser Hinsicht waren die Amazonen ihren Versprechungen getreulich nachgekommen.
– Jetzt, wo ich dies niederschreibe, will mir der Ausdruck „Amazonen“ noch immer nicht recht in die Feder, besser in den Bleistift. Das Wort hat unbedingt etwas für moderne Verhältnisse allzu Phantastisches an sich, obwohl anderseits wieder gerade die neueste Zeit den Frauen in allen kultivierten Staaten weit umfangreichere Rechte und Aufgaben zugewiesen hat, als dies jemals früher der Fall war. Ganz abgesehen von den politischen Rechten der Frau erinnere ich nur an jene Staaten, die sich auch die Wehrhaftmachung der Frau angelegen sein lassen.
Möglich auch, daß die gewisse Scheu vor der Benutzung des Ausdrucks Amazonen anderen seelischen Quellen entspringt, die nun sehr bald in mir aufgehen werden sollten.
Der Regen hatte aufgehört. Es war überhaupt nur ein Gewitterstrichregen gewesen, und die bleigraue Morgendämmerung, die infolge der dichten Wolkendecke noch immer anhielt, zeigte mir im hellen Sande der Steppe den verhältnismäßig schmalen Strich der Regenbahn, der als unklarer, noch nasser Streifen auf den Kainar zulief …
Ich stand nun also wiederum auf jener verhängnisvollen Felsenkanzel, von der mich Lady Farsing durch ihren überraschenden Angriff in die Tiefe gestürzt hatte. Das war dieselbe Lady gewesen, die in England ihre Stieftochter jahrelang in eine Privatirrenanstalt auf das Zeugnis einiger Ärzte hin eingesperrt gehabt hatte. – Weshalb?! Das wußte selbst Smetterlay nicht. Scheinbar nicht aus Eigennutz, denn das große Vermögen ihres Stiefkindes war ihrem Verfügungsrecht ohnedies entzogen gewesen. Gwenda Wilkins sollte an „Wahnvorstellungen“ gelitten haben und schon mit fünfzehn Jahren einen abenteuerlichen Fluchtversuch aus Farsing-Castle, dem Stammsitz der Familie an der Südküste Irlands, unternommen haben: Im offenen Motorboot, ganz allein!! Damals sollte sie geäußert haben, sie sei nur einem „Ruf in die Ferne“ gefolgt. Übrigens – und das hatte Smetterlay besonders betont – waren vorher noch andere Befreiungsversuche im Interesse Gwendas von Unbekannten vorbereitet worden und mißglückt, dann erst hatten sich wahrscheinlich dieselben Leute ganz geheimnisvoll um Sim Smetterlays Hilfe bemüht – mit bestem Erfolg. –
Das Bild der Steppe bot außer dem nassen Regenstreifen nichts Besonderes dar, es sei denn, daß man die Sandfontänen beobachten wollte, die der immer kräftigere Nordoststurm emporfegte und als Staubwolken über die Ebene führte.
Ich verließ die Kanzel und durchschritt das Eichenwäldchen.
Die Affen, die hier in den Klüften hausten, waren bereits bei der Morgenmahlzeit und plünderten die Feigenbäume und die wenigen Obstbäume, suchten Beeren und stoben bei meinem Erscheinen unter dem üblichen Wutgezeter auseinander.
Der Nordteil des Höhenrückens, unfruchtbar, noch zerklüfteter und durch eine dünne Steinwand nach der Steppe zu wie durch eine Kulisse begrenzt, die das Grüne der Kuppe verbergen sollte, war der Ausgangspunkt meiner Suche nach dem vermuteten Höhleneingang.
Diese Arbeit war schwer, mühsam und verhieß nur ein Zufallsergebnis, selbst mit Hilfe von Trassos tadelloser Nase.
Ich hatte die Arbeit überschätzt.
Auf gut Glück war ich in die Stein- und Dornenwildnis eingedrungen.
Noch keine zwanzig Meter, und der gelangweilt umherschnüffelnde Trasso blieb stehen, sträubte etwas das Nackenhaar, wedelte, winselte und schoß mit der Nase dicht am Boden vorwärts und verschwand.
Ich bückte mich … Dort, wo mein treuer vierbeiniger Freund sich gebückt hatte, wo er die ersten Zeichen freudiger Erregung verraten hatte, fand ich etwas, das Verdacht erregen mußte.
Das feine Geröll war zu einem Haufen zusammengekratzt worden.
Ich warf das Häuflein mit der Fußspitze auseinander, – ich wußte bereits, was ich finden würde: Unrat, – – von Ghost, dem Hyänenhundbastard.
Ghost hatte die Eigentümlichkeit, seinen Unrat sauber zu verscharren. Übrigens eine Eigentümlichkeit der Hyänenhunde, die längst bekannt ist.
Ghost war seit jener denkwürdigen Nacht verschwunden. Ich wähnte ihn zusammen mit Gwenda Wilkins im Kainar. Ich hatte doch Gwenda selbst neben meinem Krankenlager in lichten Momenten zu sehen geglaubt.
Und jetzt entdeckte ich hier ganz frischen Unrat, und Trassos ganzes Benehmen wies unzweideutig darauf hin, daß Ghost sich noch in nächster Nähe befand.
Ich eilte weiter, kletterte über einige Steine und sah meinen Trasso inmitten eines dichten Dornengestrüpps, das in der Mitte eine freie Stelle hatte, wütend an der dort stehenden vereinzelten Felszacke kratzen.
Ein kühner Sprung von einer Steinspitze brachte mich neben ihn. Er kümmerte sich nicht um mich, kratzte nur noch eifriger und stieß dabei winselnde Laute aus, die seine Sehnsucht nach Ghost bekunden sollten. Als ich ihn beiseite drängen wollte, wurde er etwas ungemütlich.
Ein leichter Jagdhieb, und er war vernünftig, sah seine grobe Insubordination ein und wedelte mich bittend an.
Ich bückte mich wieder, untersuchte den Steinboden, und … fand frischen Kameldünger …
Merkwürdig, – hier oben Dromedardünger?!
– Bisher hatte, um dies gleich vorauszuschicken, die Person Gwenda Wilkins’ mir wenig Interesse abringen können. Dazu hatte ich das recht herrische und verschlossene Mädchen in zu schlechtem Andenken.
Wir waren uns seelisch trotz der gemeinsamen Flucht in keiner Weise nähergekommen, und auch Smetterlays Mitteilungen über Gwendas unklare Schicksale und seine warme Sympathie für sie hatten hieran nichts ändern können, ebensowenig meine Annahme, Miß Wilkins könnte mich gesund gepflegt haben.
– Es mag nun eine Eigentümlichkeit derer sein, die wie ich seit Jahren in innigster Berührung mit der Natur und ihren Geschöpfen im Abseits leben, daß alle diese Weltflüchtigen verblüffend schnell und folgerichtig denken lernen.
Wo Ghost, da auch Gwenda!
Davon war ich überzeugt.
Und wo mein Trasso an einer scheinbar fest mit dem Boden verwachsenen schmalen Felszacke kratzt, gibt es bestimmt etwas zu entdecken.
… Nun gut, – sehen wir uns die Geschichte in aller Ruhe an.
Der Steinboden hier inmitten der Dornen ist nach Norden zu etwas gewölbt. Auf der Spitze dieser Kuppe steht die Felsnadel, die wie ein Baumstrunk aussieht.
… Trasso winselt.
Sein Herr kriecht auf allen Vieren umher, denn das Licht ist miserabel, das Gewölk zieht ganz tief, und der Sturm umheult den Höhenzug mit unregelmäßigen Fanfarenstößen, die Dornenbüsche rauschen und knistern wie Palmenwedel, und zuweilen fegt sogar eine Sandfontäne von der Steppe her ihren Pulverstaub über den einsamen Bergrücken.
Ich suche weiter.
Daß hier ein Eingang in die Tiefe vorhanden, weiß ich bereits.
Sonst würde Trasso sich nicht so auffällig benehmen.
Schließlich glaube ich, auf den richtigen Dreh gekommen zu sein.
Man müßte genauer sagen: Auf die richtige Hebelwirkung der Felszacke.
Wie ich darauf komme?
Nun, die Felsnadel zeigt eben deutliche Spuren schweißiger Hände, die das Gestein wie mit einem Fetthauch überzogen haben.
Und die Steinzacke steht etwas schräg nach Süden zu!
Ich nehme Trasso an die Leine, binde ihn fest.
„Hinlegen!!“
Er gehorcht …
Er wäre mir sonst wie ein Blitz in die Tiefe hinabgesaust zu seinem Freunde Ghost.
Ich packe die Felsnadel oben und ziehe sie wie einen Hebel vorwärts.
Es geht spielend leicht.
Ich bin starr vor Staunen.
Ich habe doch bereits so manche seltsame Verschlußvorrichtung für Höhlenzugänge kennen gelernt!
Dies hier?!
Ein genialer Einfall!
Die Felszacke hebt eine Steinplatte des Bodens, genauer einen Teil der Felskuppenoberfläche mit empor, und vor mir gähnt eine Öffnung von etwa zwei Meter Länge und anderthalb Meter Breite, – mit sanfter Steigung zieht sich ein Naturstollen abwärts, der offenbar vielfach gewunden in die Tiefe geht.
Ich steige ganz leise hinab, mache vor der ersten Biegung halt und horche.
Undeutlich dringt das Schnauben von Dromedaren zu mir empor …
Noch undeutlicher Stimmengewirr …
Soll ich es wagen, ganz allein hier einzudringen …?
Ich überlege noch …
Mein Blick fällt auf einige Eichenpfähle, die in einer Ecke liegen … Sollten dies die Stützen sein, die den Steinverschluß langsam wieder zu- zuklappen gestatten?
Ich horche wieder …
Dann mustere ich abermals prüfend dieses oberste Ende des Stollens und die Eichenpfähle. Unter den Hölzern kommt ein Stück braunen Stoffes zum Vorschein – ein Burnuszipfel …
Ich hebe drei Pfähle an …
Ein Totengesicht grinst mir entgegen.
Es ist ein jüngerer Benguitkrieger – – erstochen.
Weshalb hat man die Leiche hier verborgen?!
Weshalb verbarg man sie nicht draußen im Geröll?!
Sollte etwa …
Sollte etwa diese Höhle hier nur den einen Ausgang haben, sollte der Verschlußstein nicht mehr zu lüften sein, wenn man ihn herabfallen läßt und droben niemand vorhanden ist, der den Felshebel bedient?!
Sind die Menschen dort unten eingesperrt?!
– Minuten später habe ich meine seelische Einstellung gegen Gwenda Wilkins vollkommen geändert.
… Ich habe die mitgenommene Laterne angezündet und schleiche den Stollen abwärts, nachdem ich Trasso nochmals völlige Ruhe anbefohlen hatte.
Diese natürliche Wendeltreppe verläuft in unregelmäßiger Breite und mit ebenso unregelmäßigem Gefälle nach unten … Hier und dort gibt es eine Art Treppenpodest, eine größere, horizontale Erweiterung des Stollens, und auf diesen Podesten sind Fässer, Kisten und Blechkannen aufgestellt.
Aus einer Felsspalte noch weiter unten rieselt Wasser hervor und folgt als dünnes Bächlein der Treppe …
Dann werden die verworrenen Töne unter mir immer deutlicher, und mit einem Male rieche ich neben dem Schweißgeruch von Dromedaren den unangenehmen Qualm von blakenden Petroleumlampen.
Ebenso plötzlich gewahre ich einen Lichtschein und dicht vor mir zwei gelbrote feurige Augen …
Ghost!!
Ein Glück, daß ich damals den Hyänenhundbastard meinen Achselschweiß einsaugen ließ. Das Tier hätte mich hier unversehens angefallen, und Ghost ist nicht weniger kräftig als mein Trasso.
Ghost kommt näher … Sein Schweif wedelt freundlich …
Hinter ihm erscheint eine schlanke Gestalt: Gwenda Wilkins!
Meine Laterne beleuchtet uns drei.
„Abelsen, – – Sie?!“
Es klingt wie ein Stoßseufzer der Erleichterung.
Gwenda ist bleich und matt …
„Abelsen, haben Sie droben die Steintür gefunden und offen gelassen?“
… Überflüssige Frage das! – „Ja, Miß Wilkins, – und Sie sind hier halb gegen Ihren Willen auf der Flucht vor den Benguits eingesperrt worden?“
Sie nickte nur, tritt zurück, winkt, und dann überblicke ich das weite Felsengemach hier unten, – es muß in einer Höhe mit der Steppe draußen liegen, es hat schmale Felsritzen, durch die der vom Sturm aufgewehte Sand hereingeweht wird wie schnell zerflatternde Rauchwolken. Im Hintergrunde stehen sieben Dromedare, neben ihnen liegen am Boden fünf gefesselte Benguitkrieger, an der rechten Wand erkenne ich Lagerstätten, einfachste Holzpritschen mit Grasmatratzen. Das eine Bett ist belegt, vier graue Gestalten mit jungen Gesichtern, von Wind und Sonne gebräunt, drängen sich um das Krankenlager, nehmen wenig Notiz von mir. – Mein Blick fliegt weiter, – Holztische, Schemel, Warenballen, Bündel von Halfagras für die Dromedare füllen die Winkel dieses Verstecks.
Gwenda Wilkins, nun ebenfalls in den grau-bräunlichen, der Wüstenfarbe angepaßten Burnus gekleidet, sagt schwermütig: „Sie liegt im Sterben, Abelsen … Es ist eine der Getreuen …“
Die Dromedare schnauben … Ghost reibt seine stumpfe Schnauze an meinem Schenkel … Eine seltsame Stimmung hat sich meiner bemächtigt.
„Eine der Getreuen – aus dem Amazonenstaat Kainar?“, frage ich etwas scheu.
Die Sterbende stöhnt.
Gwenda nickt mit schmerzlichem Lächeln.
Die Gestalten um das Bett drüben treten etwas zurück und falten die Hände. Das Mädchen auf dem Lager regt sich nicht mehr. Die Augen sind geschlossen, kein Atemzug hebt die junge Brust.
Die Fittiche des Todes wehen über uns hinweg, und eine reine Seele ist hinübergegangen in das andere Land, aus dem es keine Rückkehr gibt …
Gwenda schreitet still zu dem Totenbett, kniet nieder und scheint zu beten.
Die Kainaresinnen, im ganzen fünf, betrachten mich forschend.
Seltsam, – unter den Kapuzen quillt mutwillig zumeist rötliches oder rostbraunes Haar hervor. Die Gesichter sind hart, selbstbewußt, fast stolz … Frische der Jugend leuchtet aus klaren sprechenden Augen.
Miß Wilkins erhebt sich, streicht leicht über die Stirn der Toten und wendet sich mir zu. Ihre Züge haben sich gefestigt, und ihre Worte klingen bestimmt und vielleicht etwas herrisch.
„Abelsen, nun sind Sie also doch in diese Geheimnisse mit hineingezogen worden, die wir vor der Welt ängstlich verbergen, obwohl wir selbst das parteiischte Urteil über unser Tun nicht zu fürchten hätten. – Wie steht es droben auf dem Höhenzuge?“
Ich berichte kurz. Als ich den Brief erwähne, der uns drei Männern die Bedingung sofortigen Abzuges stellte, sagt Gwenda hart und feindselig:
„Ihr Werk! Nie gab es eine Frau, die so von Ehrgeiz und Herrschsucht zerfressen war wie sie! Sie hat mich vertrieben, Abelsen, – der Kainar ist meine wahre Heimat auf Grund eines heiligen Rechtes eines Mannes, der auch Lord Farsing hieß. Ich darf Ihnen nicht alles mitteilen – noch nicht. Wollen Sie mir helfen? Vielleicht erobere ich mir mein Reich zurück.“
Ich erwiderte nur: „Kainar bedeutet für mich Sinn und Zweck der Gegenwart. Wir helfen Ihnen …“
Dann schreiten wir den Stollen empor, hinter uns her trottet Ghost.
Als Trasso seinen Freund erblickt, gerät er außer sich, aber sein langgezogenes Freudengeheul wird übertönt von dem Trompeten des zum Orkan anwachsenden Sturmes, der mit tollem Jaulen und Winseln die Klüfte füllt.
Die Steppe unter uns ist eine einzige Wolke fliegender Sandmassen …
„Samum!“, – und Gwenda stützt sich auf meinen Arm.
Die Dornenbüsche verneigen sich ganz tief vor der Allgewalt der Natur, morsche Eichen brechen polternd zusammen, – selbst in dieser Höhe fühlen wir die fliegenden Körnchen feinsten Staubes, und eilends streben wir dem schützenden Blockhause zu, umgeben von steter Gefahr durch stürzende Stämme.
In der Tür lehnt Sim. Erkennt uns. Sim Smetterlay streift urplötzlich all seine vielleicht erkünstelte kühle Temperamentlosigkeit ab und kommt Gwenda entgegengeeilt, breitet die Arme aus, und das Mädchen, aufgerührt bis in den verschlossensten Seelenwinkel durch die Prüfungen der letzten Tage, umklammert ihn und zollt ihrem Weibestum uralten Tribut: Tränen!
Ich lasse die beiden allein, finde Walkin wach und beim Vorbereiten einer Mahlzeit…
„Aufbruch!! – Walkin, – keine Fragen!! Schnell die Gäule satteln! Alles mitnehmen! Es geht zum Kainar zurück.“
„Sie sind verrückt, mein Lieber“, sagt der Engländer belustigt. „Bei dem Orkan?! Wissen Sie, was ein Samum ist?!“
„Weiß ich! Gehorchen Sie!“
„Von mir aus, – – meinetwegen! Aber es ist sicherer Tod!“
Sim und Gwenda erscheinen.
„Abelsen, – – Samum!!“, warnt auch Smetterlay.
„Beeilt euch!! Zum Glück Samum! Der Kainar hat ja Augen, doch diese Augen sind blind zur Zeit, der Samum fegt auch das Bergmassiv zu! Beeilt euch!“
Ich erteile weitere Anordnungen.
Da werden auch die Zaghaften lebendig, meine Siegeszuversicht reißt sie mit, und ich selbst kämpfe mich bis zur Felsenkanzel durch, von wo ich den besten Überblick über die Steppe habe.
Steppe?!
Nichts davon …
Nichts …
Nur fliegender Sand …
Aber das, worauf ich hoffe, ist doch eingetreten …
Ich sehe es …
Da ist die breite Bahn der Regenwolke, die vorhin ihren Inhalt über die Wüste ergoß und den Sand durch Nässe dunkler färbte.
Dort kann selbst dieser Orkan die Sandmassen nicht emporwirbeln, dort ziehen nur Sandnebel hin, – man erkennt den passierbaren Streifen ganz deutlich.
Die frische Feuchtigkeit der Regenwolke hat einen Weg freigehalten, einen Weg ins Abseits, einen Weg zum Kainar, zum geheimnisvollen Amazonenbergland, zwischen dessen unzugänglichen Kuppen irgendwo ein Riesenspiegel liegen muß … –
Zehn Minuten später tragen wir den toten Benguit ins Freie und führen die fünf Benguitkrieger mit dicht verbundenen Augen in die Blockhütte, damit sie das Geheimnis des Höhleneinganges nicht erfahren. Mögen sie später zusehen, wie sie sich zu ihrem Stamme zurückfinden.
Auch die Dromedare sind oben, die fünf Mädchen, – die Tote unten bleibt allein …
Die Tiere schnauben ängstlich, Ghost und Trasso haben die Schwänze eingekniffen, der Wüstensturm erfüllt die Luft mit den unmöglichsten Geräuschen, – – wir steigen in die Steppe hinab, Schritt für Schritt, Schleier vor den Gesichtern, auch die Tiere mit verbundenen Augen …
Jeder Schritt abwärts bringt uns der Gefahr näher.
Der nasse Regenstreifen beginnt erst weiter nach Südost zu, wir haben mindestens fünfhundert Meter Gefahrenzone zu passieren, wir seilen uns an, damit wir uns nicht verlieren, – dann erstickt uns der wehende Sand, man sieht nicht die Hand vor Augen, trotzdem traben wir, – – nur hinaus aus dieser Hölle, – – die Gäule stolpern, die Dromedare schreien in ihrer Angst, – – nur weiter!
Sandwolken fliegen heran, die in ihrer Geschlossenheit festen Mauern gleichen … Sie fallen über uns her wie Lawinen, – die Tiere bocken, brutale Hiebe treiben sie weiter …
Ich bin etwas voraus, und urplötzlich merke ich, daß wir den gangbaren Weg erreicht haben …
Nur feinster Sandstaub stiebt hier dünn durch die Luft, und wir halten, überblicken unsere kleine Schar …
Keiner fehlt.
Wir lösen die Seile, die uns zusammenhielten, und dann jagen wir davon, den Sturm im Rücken, rechts und links neben uns das Verderben, die aufgerührte Wüste, – vor uns den Kainar …
Irgendwo …
Wir sehen alles durch Schleier … Wir fühlen das Brennen der Augen … Wir galoppieren an Schakalen, an Antilopen vorüber, an Wildschafen, Wildziegen, die ebenfalls hier Schutz gesucht haben.
Eins der Mädchen, vielleicht die hübscheste der fünf, übernimmt die Führung, bleibt neben mir.
„Mr. Abelsen, fünfhundert Meter rechts von dem Tale, das Sie kennen, liegt ein zweites, durch das wir bequemer in den Kainar gelangen – und sicherer …“
Das Mädchen biegt rechts ab …
Der Weg, der kein Weg ist, muß verlassen werden … Abermals beginnt der Kampf mit den grausamen Sandstürmen, abermals seilen wir uns an – alle, Pferde, Dromedare, Packtier, Ghost und Trasso.
Hier, wo der Kainar bereits seine steinigen Ausläufer in die Steppe schickt, sind Sandschanzen aufgeweht, in denen wir versinken … über die wir stolpern …
Oft genug stockt der Zug …
Trasso muß herausgebuddelt werden, – eins der Packpferde reißt sich los und verschwindet.
Arme dumme Kreatur, – du bist verloren …
Im nächsten Monat wird nur noch dein Skelett die Wüste schreckvoll zieren. –
Die ersten Felsen dann, – wir sind unter Wind, aber auch hier noch Sandnebel, – hier heult der Samum noch barbarischer in das Tal hinein, tobt seine Wut aus, weil das Gestein ihm widersteht, weil es hier nichts emporzuschleudern gibt, weil nur die Dornenstauden sich artig verbeugen vor Seiner Majestät Samum dem Einzigen!
Wir klettern empor … Höher, immer höher.
Schleichpfade, die nur ein Eingeweihter kennt, – Dornendickichte scheinen unpassierbar, Felsblöcke versperren anscheinend jeden Schritt.
Das Mädchen im Dromedarsattel, Irla heißt sie übrigens, bewährt sich weiter.
Wir gelangen in eine Schlucht …
Sie wird breiter … ist oben überwölbt. Im Halbdunkel lagern wir, völlig erschöpft, völlig ausgepumpt, mit brennenden Augen, spröden Lippen …
Smetterlay holt Wasser … Ein Bergbach rieselt dünn herab, – spärliche Büsche wachsen hier …
Wir sind erledigt – für Stunden …
Wir husten Sand und Schleim aus, wir haben nur einen Wunsch: Schlafen!
Der Samum mit seiner berüchtigten dünnen Hitzeluft erzeugt diese Übermüdung.
Aber – – wir sind im Kainar, und es müßte schon besonderes Pech bedeuten, wenn die Bande angejahrter Amazonen, die hier nun Lady Farsing als Herrin anerkennen und ein Schreckensregiment ausüben, uns in diesem Felsendom entdeckte …
Die Whiskyflasche und der Becher kreisen. Wir leben auf. Walkin qualmt bereits eine Zigarre … Gwenda und Smetterlay sitzen abseits in diesem Abseits, und wir anderen schauen nicht hin.
Die Mädchen lächeln über die vielen Küsse …
Sie sind zutraulich, dankbar und freundlich, diese grauen Mädchen mit den blanken Augen, Walkin hat sich bereits an unsere pikante, übermütige Führerin herangemacht, aber seine Versuche, sie auszufragen, scheitern kläglich, – nur mit den anderen Versuchen, ein wenig zu flirten, hat er mehr Glück.
Das Wildschaf, das ich unterwegs geschossen habe, wird bratenreif gemacht. Die Mädchen sammeln trockene Dornen, – ein Feuer loht, zwei Zelte werden aufgestellt, Pferde und Dromedare kauen Gras und Hafer, und das Lagerbild nimmt geregelte Formen an, während über uns der Orkan mit schrillem Pfeifen weiterorgelt.
… Wir haben sechs Stunden geschlafen, Ghost und Trasso haben unseren bleiernen Schlummer bewacht, und nun sitzen wir – man denke! – bei frisch aufgebrühtem Kaffee und tadellosen englischen Zwiebacken im Abendrot vor Gwendas Zelt. – Freilich, in diesen Schlund fällt durch die enge Gewölbeöffnung von oben nur ein schmaler Streifen dieses wundervollen zarten rosigen Lichtes herein, fällt auf Miß Wilkins’ entblößten Kopf, um den das reiche, tizianrote Haar in zwei Zöpfen zu einem dicken Knoten geschlungen ist.
Die Musik des Wüstensturmes ist längst verstummt. Die Steppe hat ihren Frieden wiedergewonnen, aber ihr Bild ist verändert. Vorhin war ich draußen, Ausschau zu halten, und obwohl mir die Gewalttaten eines über eine Sandfläche hinwegbrausenden Orkans nichts Neues mehr sind, staunte ich doch über diese Veränderungen des stillen Panoramas: Haushohe Sandschanzen überall, die meisten mit nach Süden geneigten Kämmen, – andere Stellen wieder so sauber gefegt, daß überall der nackte, noch unverwitterte Steinboden hindurchgrinst mit schwärzlichen Flecken. Ich hatte mein Glas auf die kleine grüne Blockhaus-Kuppe gerichtet, ich suchte umsonst nach dem freundlichen Walde dort oben, nach den Eichen, Feigenbäumen, blühenden Büschen … Ich sah nur geknickte Stämme, und über deren zum Tode verurteilten Blattschmuck lagerte der Sandstaub in schweren Schichten.
Die Steppe war leer bis auf einige Schakale.
Leer jedenfalls dort, wo nicht jener Strich der Regenwolke sich hinzog, der noch jetzt zu erkennen war: Der seltsame Weg zum Kainar, jener Abseitspfad, der uns das Eindringen in die Sonnenberge ermöglicht hatte.
– Nun hielten wir Nachtmahlzeit.
Über unserem kleinen Kreise lastete das Bedrückende ungeklärter Fragen. Selbst Smetterlay, der nun doch wahrlich Anspruch auf Gwendas volles Vertrauen gehabt hätte, war wortkarg und verstimmt. Er hatte mit mir, als wir die Pferde vorhin versorgten, ganz ehrlich gesprochen: „Abelsen, von Gwenda ist nichts zu erfahren … Es wäre zwecklos, irgendwie noch in sie zu dringen. Auch die anderen Mädchen werden schweigen. Wie wir da helfen sollen, begreife ich nicht.“
„Ich erst recht nicht, Sim …“, – und dann hatte das ungemütliche Mahl begonnen.
Ein ganz bestimmter Gedanke bohrte fast schmerzhaft mit zäher Hartnäckigkeit in meinem ausruhten, für alles empfänglichen Hirn. Eine Frage, die lebendig bleiben mußte, weil sie dem Ursprung dieses Geheimnisses des Kainar, dieses Amazonenstaates nachspürte: Woher waren einst diese Engländerinnen gekommen, die hier in dem unzugänglichen Bergmassiv sich eine neue Heimat geschaffen hatten, woher bezogen sie ihren Nachwuchs, die späteren Generationen, denn erwiesenermaßen war der Kainar insgeheim seit mehr als hundert Jahren in dieser Weise bewohnt! Woher der Nachwuchs?! Lebten doch Männer in diesen Bergen, wurden hier doch Ehen geschlossen, Kinder gezeugt und großgezogen?! Und wenn dem so wäre, bohrte derselbe Gedanke weiter, – wie kam es, daß die Kriegerscharen hier, diese tadellos berittenen Dromedargeschwader, nur aus Weibern bestanden? Wo blieben die männlichen Säuglinge, die hier vielleicht das Licht einer engen Umwelt erblickten, die sich nur auf den Kainar und dessen Umgebung beschränkte? –
Je weiter das bedrückte Mahl in diesem kleinen Kreise vorschritt, je mehr das Abendrot verblaßte, desto stärker griff eine Gereiztheit uns drei Männer an, der wir nicht widerstehen konnten. Smetterlay mied Gwendas scheue Blicke, Allan Walkin wurde zu dem Mädchen Irla, unserer Führerin in dieses Versteck, geradezu unliebenswürdig, und ich selbst hatte mich infolge dieser Gereiztheit soeben zu einem Entschluß durchgerungen, dem ich nun scharf und jeglichen Widerspruch ausschließend Ausdruck verlieh.
„Sobald es dunkel ist“, erklärte ich, „werde ich mich weiter in den Kainar hineinwagen – allein! – Irla, Sie werden mir ungefähr den Weg zu eurer Siedlung beschreiben. Jack Pourler und der Graubart Tom, diese geheimnisvolle Persönlichkeit, müssen befreit werden. Ich habe auch noch eine Rechnung mit Lady Farsing zu begleichen, – auch das wird geschehen. Sprechen Sie, Irla! Wo liegt eure Siedlung, eure Stadt, euer fragwürdiger Staat? Miß Wilkins bleibt stumm … Reden Sie!“
Das Mädchen Irla, das genau wie ihre Altersgenossinnen in allem Gwenda mit deutlichem Respekt begegnet, schaute verwirrt und scheu auf des verschlossenen Lord Farsings Tochter.
„Die Sultana hat es verboten“, sagte sie bedrückt.
Sultana?!
Wir drei Männer, Abenteurer im Abseits, starren Gwenda an.
Sultana?! – Hatte nicht mein Freund, der Obergauner Mahmed, in seinen Kainarmärchen einst denselben Ausdruck gebraucht? – Er hatte es getan …
Hatte nicht Gwenda selbst in der Grotte drüben im Höhenzuge angesichts der sterbenden Kainaresin etwa dasselbe angedeutet? – Sie hatte es getan. Ich entsann mich nur nicht mehr genau darauf.
War es nicht so gewesen, daß sie irgendwie hatte durchblicken lassen, ihre Stiefmutter hätte sie nur verdrängt und zur Flucht mit den wenigen Getreuen gezwungen? – Also Palastrevolution in einem Weiberstaate! Ein ungemütlicher Gedanke, wenn man berücksichtigte, daß Frauen als Herrscherinnen die blutgierigsten, gewissenlosesten, lasterhaftesten Zerrbilder im Leben der Völker darbieten. Eine Katharina von Rußland, eine Semiramis von Ägypten, eine Elisabeth von England sind die unsympathischsten Vertreterinnen dieser Art Königinnen.
„… Die Sultana hat es verboten …“
In der Schlucht lastete Dämmerung.
Die Gesichtszüge waren verschwommen …
Gwendas Blässe fiel trotzdem auf …
Trotzdem, – sie warf den Kopf etwas in den Nacken …
„Ich habe es verboten“, sagte sie beherrscht, „weil ich keine Menschenleben weiter opfern will. Ich verzichte auf meine verbrieften Rechte, um Blutvergießen zu verhindern. Wir können nichts gegen diese Übermacht ausrichten, – die Verantwortung übernehme ich nicht. Ich habe mir alles reiflich überlegt. Wir werden umkehren, und der Kainar wird aus unserem Gedächtnis gestrichen werden müssen, – darum bitte ich euch alle, auch dich, Sim …! Wir beide haben uns gefunden, ich liebte dich, du liebtest mich, – wir werden glücklich werden ohne den Kainar! Ich flehe euch an: Gebt es auf, gegen etwas anzukämpfen, das übermächtig ist, weil es … nicht greifbar ist! Sie, Freund Abelsen, können dieses Bergmassiv kreuz und quer durchwandern, Sie würden nichts finden, nichts … als Felsen, Salz, ein paar Bäume, keine Siedlung, keine Stadt, keinen Staat … – Wir werden umkehren … Es bleibt dabei.“
Sekunden herrschte beklommenste Stille.
Dann sprang Walkin auf die Füße, lachte grell …
„Ach so, – – ich verstehe!!“, meinte er feindselig und voll grimmen Spottes. „Weil Sie, Miß Wilkins, sich Ihren Sim erhalten möchten, sind Sie so außerordentlich rücksichtsvoll, auch für unser Leben zu fürchten! – Sie täuschen sich! Allan Walkin hat sich nie an einen Unterrock gehängt und sich den klaren Blick durch Weiberflausen trüben lassen! Und Smetterlay wird sich ebenfalls für Ihre Liebe bestens bedanken, oder aber – er wäre nicht mehr Sim, der Satansanwalt! Und der dritte da, Freund Abelsen, den weiß ich bestimmt auf meiner Seite!“ Er hatte sich immer mehr in eine wilde Wut hineingeredet, und ich verargte ihm diese leichte Entgleisung nicht. Ich fühlte etwa dasselbe. „… Wenn Sie Schäferstündchen halten wollen, Miß Wilkins, – – bitte!!“, fauchte er die Sultana an. „Doch wir, Abelsen und ich, werden …“
„Schweigen Sie, Walkin!“
Smetterlay hatte sich gleichfalls erhoben.
„Sie beleidigen mich, Walkin …! Mag ich Miß Wilkins lieben oder geliebt haben, – in aller erster Linie bin ich Mann! Und dieser Mann, Gwenda …“, wandte er sich an die starr dasitzende Sultana, „hält denen die Treue, die seine Mitstreiter sind. Abelsen rettete mir das Leben, als er mich, den Abstürzenden, auffing … Abelsen und Walkin und ich waren uns darüber einig, diese Geheimnisse hier restlos aufzudecken. Daran hat sich nichts, nichts geändert. – Wähle also, Gwenda: Entweder die volle Wahrheit und dazu die Unterstützung unserer Absichten, oder … du verlierst mich!“
Wiederum sekundenlange Stille …
Eines der Mädchen hatte eine Laterne angezündet. Der Lichtschein irrte über Gwenda Wilkins Gesicht. Sie lächelte schmerzlich und doch auch unendlich bitter-ironisch …
„Ihr werdet sterben, Sim … Wir alle werden sterben …“ Sie sprach ganz leise. „Ihr werdet nichts erreichen … Eure Neugier ist entflammt. Ihr überschätzt euch … Ihr haltet trotzige Neugier für Tapferkeit … für Mannestum! – Was wollt ihr suchen? Leere Täler?! Wollt ihr deshalb verbluten?! Oder vielleicht … für ein Säuglingsheim?!“
Smetterlay beugte sich rasch zu ihr herab.
„Was sagtest du?! Säuglingsheim?!“
„Es war … ein Scherz“, erwiderte Gwenda ausweichend. „Ich wiederhole: Wenn Abelsen in den Kainar eindringt, wird er bemerkt werden, und dann wird man nach uns anderen suchen, und das Ende wird dasselbe sein, wie die arme Rala es fand – eine Kugel! Prunkt nur mit eurem Mannestum, – – das Sterben wird niemandem leicht … Wenn es zu spät ist, werdet ihr an meine Worte denken!“
Walkin lachte schneidend. Er hatte soeben die vor dem Zelte der Mädchen aufgestellten Büchsen der Mädchen mit dem Fuße umgeworfen und beiseite geschoben.
„… Es fehlt nur noch, Miß Wilkins, daß Sie gegen uns drei Männer Gewalt anwenden …! Wirklich, das fehlt nur noch! Aber aus dem Spaß wird nichts! – Abelsen, nehmen Sie Ihnen auch die Pistolen ab! Verdammt, – wir sind keine albernen Hahnreis!! Smetterlay, Ihre ärgerlichen Blicke prallen an mir ab … Mit sanftem Gesäusel erreichen wir nichts.“
Vielleicht bemerkte nur ich, daß in Gwenda Wilkins langen Wimpern schwere Tränen hingen.
Ich begriff vielleicht als einziger ihren Seelenzustand. Ich wollte die Dinge nicht auf die Spitze treiben, ich suchte zu vermitteln. Sollte dieses glückliche, junge Paar, dieser Prachtkerl Sim und diese besorgte Gwenda, wieder getrennt, entfremdet werden …?!
„Miß Wilkins“, erklärte ich herzlich, „Sie überwerten die Gefahr … Haben Sie Vertrauen zu mir. Wenn Sie Irla befehlen, mir auch nur das eine mitzuteilen, wie ich aus diesem Versteck irgendwie droben auf die Steilwände gelange, genügt es mir. Ich übernehme die Verantwortung. Wir müssen Pourler und den Graubart heraushauen. Lady Farsing mag zunächst ungeschoren bleiben …“
Ich hatte ihr die Hand hingestreckt. Sie blickte mich zaudernd an, dann schlug sie doch ein …
Der Frieden war wieder hergestellt.
Das Mädchen Irla erklärte auf meine Frage, daß es droben im Kainar keine Hunde gebe, daß sie mir den Weg weisen würde, – jede weitere Antwort verbot Gwenda mit müder, wenig hoffnungsfreudiger Stimme und zog sich in ihr Zelt zurück. Smetterlay stand abseits … Er grollte mir. Ich hatte seine Begleitung abgelehnt.
Der Himmel war noch immer bewölkt.
Graue Schleier verdeckten die Mondscheibe, nur wenige Sterne waren sichtbar.
„Nehmen Sie Trasso in den Rucksack“, hatte mir Irla geraten. „Der Anstieg ist steil und beschwerlich.“
Sie hatte den Mantel abgeworfen. Darunter trug sie einen hellgrauen Anzug, eine Art Sportanzug, sehr praktisch und bequem. – Ich war ähnlich gekleidet. Unter den Spenden der Kainaresinnen hatten wir ja auch genügend Wäsche und Anzüge gefunden.
Das Mädchen Irla kletterte voran. Dort, wo das Tal in die Schlucht überging, wo für den Uneingeweihten die Felsen gleich glatten Granitmauern unerklimmbar schienen, fanden sich verborgene, unmerkliche Stufen, – uralt, das sah ich, – uralt auch die in Löchern des Gesteins eingelassenen ebenso verborgenen Handgriffe aus Bronze.
Lautlos klommen wir höher und höher …
Unten im Schatten standen Smetterlay und Walkin, die mir stumm die Hand gepreßt hatten.
Auch Ghost war bei ihnen und winselte leise.
Gwenda war unsichtbar geblieben.
Das Mädchen Irla machte halt, rief mir halblaut zu: „Jetzt kommt die schlimmste Stelle … Hier fehlen die Handgriffe …“
Trassos sechzig Pfund auf meinem Rücken wurden immer lästiger.
Die Nacht war heiß, die Luft allzu dünn und trocken.
Bäche von Schweiß brachen mir aus den Poren hervor.
Wir klebten am Gestein wie die geschickteren Wildziegen … Unter uns gähnte die schwarze Tiefe mit spitzen Zacken … Die Finger bluteten, die Muskeln schmerzten, das Herz jagte vor Überanstrengung. Das Mädchen Irla beeilte sich zu sehr, bog um eine Felsennase, verschwand.
Ein jäher Verdacht …
Sollte sie etwa …?! … – Nein, ein Tau rollte mir entgegen, eine Schlinge glitt über den Rucksack, und der Kainaresin gestählte Muskeln halfen mir …
Ich war oben zwischen hohen Steinen, ich knickte fast in die Knie …
Sie half wieder. Trasso kam an die Leine, und dann schlich sie voraus, deutete in ein flaches Tal hinab und wies mir die Richtung an.
Bevor sie zögernd umkehrte, flüsterte sie noch hastig:
„Meiden Sie das Salz, Mr. Abelsen …! Viel Glück!“
Sie enteilte.
Salz?!
Schon vorhin war die Bezeichnung gefallen: Salz! – Was sollte das?!
Nun, – ich würde ja sehen!
Jetzt war ich im Kainar, nicht nur am Rande. Die Steilwände lagen dreihundert Meter hinter mir.
Aber der Kainar hatte Augen, und ich war mir meiner Verantwortung voll bewußt. Ich durfte nichts, auch gar nichts an Vorsichtsmaßregeln außer acht lassen. Ich nahm das Fernglas und suchte das Vorgelände ab. Ich verlängerte Trassos Riemen bis auf zehn Meter und schickte den Hund dann voraus. Jede Deckung wurde ausgenutzt, offene Stellen überwand ich kriechend.
Es war ein mühseliges, nervenaufreibendes Vordringen. Zwei Täler hatte ich hinter mir, eine halbe Stunde war verflossen. Wenn ich nicht fehlgegangen war, mußte ich nun dort droben auf das „Tor“ stoßen. Irla hatte es mir als natürlichen Torbogen beschrieben, – und der Durchschlupf wäre der einzige Zugang in die inneren Kainarberge von dieser Seite.
Das nächtliche Panorama einer öden Steinwildnis blieb stets dasselbe. Armseliges Gestrüpp, ein paar verkümmerte Palmen, zuweilen noch kläglichere Steineichen, zuweilen ein Schakal, – – das war alles.
Alles – und nichts …
Von Menschen keine Spur.
Keine Spur von bebauten Flächen, von weiser Ausnutzung der Wasserrinnsale zur Bewässerung.
… Da war der Torbogen …
Ich duckte mich ganz tief. Das Mädchen Irla hatte entweder bewußt oder aus Unkenntnis die Unwahrheit gesprochen. Das war kein natürliches Tor, kein Zufallswerk der Allmutter Natur, das war ein aus einer schmalen Steinkulisse ausgehauener Durchlaß, zu dem geröllbedeckte Steinstufen emporführten – eine Treppe … Menschenwerk, uralt … Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende hatte diese Treppe überdauert … Sie hatte der Zeit getrotzt …
Und was lag hinter dem Torbogen? – Das Mädchen Irla hatte gesagt: „Die Gefahr!!“
Weiter nichts.
Ich band Trasso an einen Stein, befahl ihm, sich niederzutun.
Ich kroch die Stufen hinan … Steinchen rieselten herab und erschreckten mich.
Der Himmel war lichter geworden, der Mond grinste mich an …
Und dann schob ich mich durch den Torbogen und … lehnte mich schnell an das Gestein.
Es flimmerte mir vor den Augen, in den Ohren brauste das Blut, ich keuchte vor Atemnot, vor Erregung.
Auch das ging vorüber.
Ich biß die Zähne in die Unterlippe, – – das Bild schräg unter mir wurde klarer …
Eine tote Stadt zog sich dort drüben an der Talwand empor …
Terrassenartig lagen tote Steingebäude übereinander, – leere Türöffnungen, leere Fenster, – – tot, leblos, einer fernen, fernen Vergangenheit angehörend.
Mein schreckhaftes Staunen ebbte ab zu ehrlicher Bewunderung und Freude über dieses großartige Bild einer Unmenge von Felsenbauten, für die Ewigkeit errichtet.
Ich hatte tote Städte in anderen Weltteilen gesehen als Zeugen untergegangener Kulturepochen, eingebettet in Urwälder, überwuchert von bunten Ranken.
Was mich hier so unendlich packte, war die Kahlheit dieser bebauten Terrassen. Da war kein Baum, kein Strauch. Da waren nur Felsen, Steingebäude und mattes Mondlicht.
Eine tote Stadt …
Eine tote Stätte, die heute noch von Leben und Arbeit zeugte.
Mein Fernglas brachte mir die Einzelheiten näher …
Greifbar nahe …
Erinnerungen wurden wach … In Mittelamerika hatte ich mit tapferen Gefährten einst einen Bergsee geöffnet und ausfließen lassen, weil wir auf dem Grunde des Sees – – auch eine Stadt erkannt hatten, in deren Straßen Gestalten wandelten, – – Menschen …
Alles hatte damals seine natürliche Klärung gefunden.
Hier?!
Keine Menschen …
Mein Fernglas schwenkte mehr nach links, wo das Tal sich vertiefte und dann in flachem Plateau zu den Bergkuppen anstieg, die mir dorthin den Ausblick verwehrten.
Aber auch dort keine Spur von irgend einer neueren Siedlung. Nur dürftige Zeichen von Vegetation und seltsam helle Flecken, die fast wie Schnee schimmerten: Salzablagerungen stark salzhaltiger Quellen!
Also doch Salz!
Nochmals beäugte ich das Tal … Ich suchte, suchte nach Menschen, nach Rauch von Herdfeuern, nach irgend etwas, das den Kainar bewohnt erscheinen ließ.
Ich holte Trasso … Er war gleichgültig, unlustig, – es gab hier nichts zu jagen, die Leine war ihm lästig, die Trennung von Ghost ärgerte ihn …
Ein Zufall blieb es, daß ich der Außenwand des Torbogens Beachtung schenkte. Da waren verwitterte Kerben, kaum noch als Buchstaben zu erkennen.
Lateinische Wortfetzen suchte ich aus der Inschrift zusammen. Das meiste mußte ich mir ergänzen.
Unter der Regierung Kaiser Neros, der die Nazarener den wilden Tieren zum Fraße vorwarf, entkommen hundert Verbannte nebst Weib und Kind in diese Berge.
Der Rest war unleserlich. Aber das mühsam Entzifferte genügte mir. Ich hatte eine Stadt vor mir, die von verbannten flüchtigen Christen erbaut worden war.
Genügte das wirklich?! – Und die jetzigen Bewohner des Kainar, der Weiberstaat?! Waren das Nachkommen jener Nazarener?! – Wohl kaum, denn die Kainaresinnen, die ich kannte, hatten alle einen ausgesprochen nordischen Typ. Es waren der Sprache nach Engländer, dem zumeist rötlichen Haar nach Irländer.
… Eine tote Stadt der Verbannten hatte ich gefunden.
Eine moderne Stadt, in der Schreibmaschinen und Büttenpapiere, feinste Leinen, gute Kleider, Getreide, Kaffee und vieles andere benutzt wurden, blieb mir verborgen.
Aber ich gab die Sache nicht auf, – nein, bisher hatte der Kainar mir immer noch nicht sein Innerstes gezeigt.
Wir schlichen in das Tal hinab.
Wir schlichen uns in die tote Stadt hinein wie Diebe, und wir wandelten in der Vergänglichkeit, wir erblickten ein Pompeji, das niemals unter dem Aschenregen eines Vulkans erstickt und versunken war, und doch eine tote Stadt, in der wie bei dem mühsam ausgegrabenen Pompeji der Tod eine grausame Ernte gehalten und die Bewohner sterbend hingesunken waren, – – hier lagen Skelettreste, dort lagen Skelettreste, gelbweiße Totenschädel schimmerten unter Gebeinen von Tieren, – und so sah es in all diesen Häusern aus, deren Höfe noch die altmodischen Zisternen und die Überbleibsel eines großangelegten Röhrensystems vorwiesen.
Merkwürdig genug: In dieser erstorbenen Stadt der Verbannten fand ich keine Spur von Staubschicht, – alles war trocken, sauber, gleichsam wie frisch abgestäubt. – Mich, den früheren Ingenieur, interessierte diese gewiß eigenartige Erscheinung.
Und die Ursache? – Es konnte nur auf die Lage der Stadt zurückzuführen sein, nur das! Hier mochten über die Kuppen noch so schwere Stürme hinwegbrausen: Kein Staubkörnchen erreichte diese Terrassen!
Und das andere, das große Massensterben?! Eine Seuche etwa, eine Epidemie?! Oder Naturgewalten ähnlich denen, die einst Pompeji vernichtet hatten?! Also Gasausbrüche eines Vulkans – – Erstickungstod? – Es gab hier keine Vulkane … Ich hatte nie davon gelesen. Auch in Kaid Mahmeds urältesten Märchen fand sich keine Andeutung davon. Trotzdem schien mir das wahrscheinlichste eine „Vergasung“ der Stadt durch Erdgase zu sein, die urplötzlich irgendwie, im Innern der Erdkruste angesammelt, gerade hier ein Ventil nach außen gefunden haben könnten.
Erst später sollte ich sehen, daß meine letzte Annahme zutreffend war.
Wir verließen die tote Stadt und benutzten einen breiten, künstlichen Weg, der in einer Höhe mit den mittleren Terrassen nach Südost als echte Bergstraße weiterlief, und jene Biegung des großen Tales umrundete, die mir den Fernblick bisher versperrt hatte. Die Straße stieg an, krümmte sich, und mit einem Male hatte ich das Innere des Kainar vor mir, die oben flachen Kuppen begrenzten unendliche Hochebenen, deren erster Anblick mich genau wie vorhin bei dem alten Torbogen vor der Stadt der Verbannten die Felswand als Rückenstütze wählen ließ.
… Wir wollen gerecht sein.
Wenn irgend jemand den breiten Massen, die einen Widerwillen gegen trockene Reiseschilderungen und wissenschaftlich aufgezäumte „Naturwunder“ empfinden, die Kenntnis der großen Salzwüsten in Nordafrika mit ihren zu gefrorenen Seen erstarrten Salzsümpfen in volkstümlicher Art vermittelt hat, so war es der deutsche Schriftsteller Karl May. Sein Verdienst auf diesem Gebiete ist unbestritten, daran ändern auch seine sonstigen Unzulänglichkeiten nichts.
Die bedeutendsten dieser Salzsümpfe, Schott genannt, ziehen sich durch das südwestliche Algerien bis nach Tunis hinein und bis in die Nähe des Golfes von Gabes hin. Sie sind alle lediglich Reste eines ungeheuren, inzwischen ausgetrockneten Binnenmeeres von sehr hohem Salzgehalt, sie alle liegen bis zu vierzig Meter unter dem Spiegel des Mittelländischen Meeres, und auf einem dieser Schotts schwimmt das Salz noch heute in einer Kruste von einem Meter Dicke und darüber.
Kühne Kollegen von mir, Ingenieure, aber nur halbe Abseitswanderer, hatten einmal den Plan ausgetüftelt, die Landenge von Gabes zu durchstechen und die Wasser des Mittelmeeres in diese 140 000 qkm große Tiefebene zu leiten und dadurch die unfruchtbare Sahara sowohl durch Verdunstung wie durch direkte Bewässerung in Kulturland zu verwandeln.
Dazu gehörte Geld. Und die Geldmänner geben keine Millionen und Abermillionen her, wenn die Zinsen erst in vielleicht dreißig Jahren zu erwarten sind.
Das Unternehmen scheiterte, all die Vermessungsarbeiten waren umsonst gewesen, die Großbanken knöpften ihre Taschen zu, und nur einer verdiente daran, dessen Namen mir entfallen ist: Ein Deutscher, der einen Roman schrieb, in dem er das Gewollte Tatsache werden ließ, in dem er in die Sahara ein gewaltiges Wasserbecken hineinzauberte und – soweit ich mich besinne – die Nomaden der Wüste zu wilden Aufrührern umstempelte, die den Einbruch des Meeres in ihre Oasen mit Blut vergalten. –
… Und hier war ich im Dschebel Kainar, auf einem Hochplateau, – – was sah ich hier?!
Träume … –
Träume, fast an meine schwedische Heimat im Winter erinnernd, wenn die großen Nordlandseen unter jäher Kälte urplötzlich gefrieren – ohne Schneefall, so daß die Ufer ohne winterlichen Schmuck bleiben.
Träume … zu Salz hier erstarrt …
Salz war die helle blanke Fläche dieser Ebene.
Auch ein eingetrockneter Salzsee …
Nichts anderes!
Und überall aus dieser im Mondlicht schillernden erstarrten ungeheuren Salzdecke ragten schwarze Felsenpfeiler wie Klippen hervor.
Der Schott Kainar erschien durch sie wie punktiert.
– Der Himmel war noch lichter geworden, die Mondsichel lag frei, unzählige Sterne funkelten über mir. Unter mir lag … das Salz! – Nun wußte ich es: Dies war „das Salz“, das Gwenda Wilkins, die Sultana, gemeint hatte. Davor war ich gewarnt worden.
Auch jetzt ebbte mein allzu jähes Staunen in augentrunkene Bewunderung ab. Nirgends auf Erden gab es ein Bild wie dieses, – eine einzige, glatte endlose Fläche einer einzigen Salzkruste!
Sonderbar verzerrt und unwirklich lag die Silberbahn des Mondes über dieser hellen, weißlichen, blanken Ebene.
Blank war sie … Nicht blank wie ein Spiegel, aber doch blank genug, am Tage das Sonnenlicht zurückzuwerfen auf einen vorübersegelnden Wolkenfetzen.
Und der Totenkopf in der Lichterscheinung?
Ich hatte wieder mein Glas zur Hand genommen, und ich fand auch für den „Totenkopf“ eine einfache Erklärung.
Ziemlich genau inmitten des Salzsees lagen da größere Felsmassen, – Inseln, könnte man sagen, flach, eigentümlich geformt, eigentümlich angeordnet zueinander, und diese Anordnung mußte dergestalt sein, daß sie Flecken in dem Widerschein der Sonne erzeugten, eben den „Totenkopf“.
… Trasso drängte sich näher an mich heran …
Winselte ganz leise …
Winselt so, als ob es ihm unbehaglich zumute sei …
Und da kommt wirklich droben am Firmament, wo stärkere Luftströmungen herrschen, ein schwarzer Drache angesegelt und frißt den Mond und die Sterne …
Die Umwelt versinkt in Finsternis.
Der Kainar-Spiegel erlischt …
Schillert nur noch …, – – ich wollte denken und schreiben: Nur noch wie polierter Stahl!
Ich denke den irrigen Gedanken nicht zu Ende.
Durch Hirn und Körper geht es wie ein Schlag.
Ich kneife die Augen kleiner …
Ich reiße das Fernglas hoch …
Was bedeutet das?!
Dort unter mir, wo jetzt nur matter, polierter Stahl bescheiden schimmern dürfte, leuchtet der Schott Kainar bis auf einen schmalen Uferstreifen in mildem Glanze, als glühten unter der dicken Salzkruste unzählige Lichter …
Was bedeutet das?!
Durch meinen Kopf taumelnde Vermutungen wie erblindete unreife Kinder.
Die Salzkruste ist durchsichtiges, ist milchiges Eis …
Gut, das stimmt!
Aber dieses Leuchten?!
Diese Lichter?! Es müssen zahllose Lampen sein, große elektrische Bogenlampen oder noch größere Gaslampen, vielleicht Karbid, obwohl auch diese Annahme hinfällig erscheint gegenüber der Tatsache der Menge der Lichtquellen.
Kein Wunder, daß gerade ich, dereinst Ingenieur, also auch halber Fachmann für diese Fragen, zunächst lediglich der Wesensart dieser Beleuchtungsanlage in Gedanken nachspüre. Der Anblick dort unter mir erinnert ja an eine mittelgroße Stadt, die man bei bedecktem Himmel und dünnem, alles verschleierndem Regen mit der Flugmaschine überfliegt.
Es ist auch bestimmt eine Stadt dort unter der Salzkruste verborgen, es ist bestimmt die Stadt der Amazonen, deren Lichter zu mir emporgeistern …
Das Bild packt, rüttelt die Seele auf, beflügelt die Phantasie, – gerade weil es so rätselvoll ist. Das Bild läßt mich alles andere vergessen, sogar die Gefahren, die mich hier umdrohen. Der Kainar hat ja Augen, und diese Augen können nur Wachtposten droben auf den Kuppen sein mit tadellosen Ferngläsern. Ein so geheimnisvoller Staat wie dieser wird sich zu schützen wissen, muß sich schützen, muß jeden Fremden fernhalten, – und hat dies bisher getan.
Ein glücklicher Zufall nur hat die wachsamen Augen des Kainar geblendet, als unser kleiner Trupp sich ihm zu nähern wagte: Der Wüstensturm, der Samum! Ohne diese aufgerührten Sandmassen und ohne die nasse Bahn des Regens wären wir niemals in jene Schlucht gelangt, wo nun meine Gefährten lagern.
… Und wie ich so nachdrücklicher als bisher an die Augen des Kainar denke, beschleicht mich ein Unbehagen, ein Gefühl der Unsicherheit.
Wieder benutze ich das Fernglas …
Suche die nächsten Anhöhen ab, überblicke die schillernde Salzfläche.
Trasso sitzt eng an mich gedrängt und winselt unmerklich …
Ich werde etwas nervös. Ich habe keine Nerven, – hier bekommt man sie. Hier überfluten schier unlösbare Fragen das Hirn, und dieses überhitzte Hirn leitet sein Übermaß von Gedankenfülle weiter bis in die feinsten Nervenstränge.
Trasso winselt …
Die unendliche Salzfläche leuchtet …
Ich beginne zu verstehen, was in seiner Tierseele vorgeht. Er ist klug, auch ihn ängstigt dieses Fremde da, diese Salzdecke, unter der ungezählte Lichter glühen und mithin geheimnisvolles Leben unsichtbar pocht, – wie ein matter Pulsschlag.
Er fährt hoch … Im Nu sind die nach hinten gelegten Ohren steil aufgerichtet, der Kopf schiebt sich vor, die Nackenbürste erscheint, das Winseln wird zum Knurren …
Mein Glas fliegt an die Augen, ich stelle die Linsen ein, – – dort in der Mitte des Salzsees von einer der großen Inseln naht eine Gestalt mit seltsam gleitenden Schritten, – eine der Amazonen, graubraun gekleidet wie all diese Weiber … An den in den üblichen Sandalen steckenden Füßen gewahre ich lange, flache Hölzer, – eine Skiläuferin, könnte man sagen … Hölzer, Bretter, die nur die eine Bestimmung haben dürften, auch die dünneren Stellen des Salzsees gefahrlos passieren zu können und die Last des Körpergewichts auf einen größeren Raum zu verteilen.
Etwas unsicher bewegt sich die Gestalt auf mich zu. Die Salzdecke ist glatt, fast ohne Staubablagerungen, – diese Salzdecke muß eine andere chemische Zusammensetzung haben als die der gewöhnlichen Schotts.
Die Bretter gleiten aus, die Gestalt taumelt oft, die Frau benutzt die Büchse als Krückstock, sie kommt nur langsam vorwärts.
Der Mond ist immer noch verhüllt … Aber der schwarze Wolkenfetzen, der ihn fraß, kriecht weiter, – es wird heller, und mit dieser zunehmenden Helle schwindet das unterirdische Leuchten, die Lampen des Himmels gleichen die Kraft der künstlichen Lichtquellen aus.
… Trasso knurrt nicht mehr. Dazu ist er zu klug …
Trasso bemerkt wie ich, daß die Frau dicht neben uns das Felsenufer erreichen wird.
Wir liegen nun lang am Boden. Steingeröll deckt uns. Wir warten …
Mein Fernglas will Verfolger der Frau finden, denn die Hast des Weibes ist verdächtig, erinnert an einen Flüchtling.
Das Weib ist allein …
Der Mond trifft sie mit mildem, versöhnlichem Lichte, enthüllt ihre Züge. Unter der grauen Kapuze erkenne ich in jähem Staunen das scharfe, verschlossene, trotzdem so seltsam anziehende Gesicht Honoria Farsings, die ihr Kind, ihre Stieftochter, in eine Irrenanstalt einsperrte, weil ihr Ehrgeiz und ihre Herrschsucht diese wahre Sultana des Kainar, Gwenda Wilkins, ausschließen wollte von einer mir noch unklaren Thronfolge.
Also Lady Farsing! – Sie kommt mir gerade recht:
Lady, mit Ihnen habe ich noch eine schwerwiegende Rechnung auszugleichen! Lady, denken Sie an die Felsenkanzel, von der Sie mich bei dem Stichwort Smetterlay hinabstürzten – – auf ein Sprungtuch, und das ahnten Sie nicht, das verdarb Ihnen den Erfolg!
Mylady hat das Ufer erreicht, bindet die Hölzer ab, verbirgt sie im Geröll und schleicht davon, will in das Tal der toten Stadt hinab.
Zwei eilige Schatten huschen ihr voraus und verlegen ihr den Weg.
Aber diese eiligen Schatten stutzen, sinken zwischen den Ruinen zusammen.
Über dem uralten Bergweg, den hier einst die Verbannten Nazarener angelegt haben, nähert sich ein endloser Reiterzug … Voran reitet mein treuer Freund Mahmed, der edle Kaid der Benguits, neben ihm sein ältester Sohn, ein ganz gefährlicher Bursche, dem ich so ziemlich alles zutraue …
Ich überfliege den Trupp, – es sind mindestens zweihundertfünfzig Krieger, und ich kann mir unschwer vorstellen, daß auch sie den Samum benutzt haben, um sich in den Kainar hineinzuschleichen.
Lautlos nahen die Reiter … Die Hufe der Tiere sind umwickelt … Langsam nahen sie, äußerst vorsichtig …
Krieg dem Kainar!! Kaid Mahmed will die Schlappe wettmachen, Kaid Mahmed hat die Niederlage nicht vergessen.
Krieg dem Kainar!!
Und Trasso und ich?! Und Mylady?!
…Ich habe auf Honoria Farsing nicht geachtet.
Trasso knurrt…
Mylady schiebt sich neben mich. „Abelsen, Sie …?! Gott sei Dank …!“, – die Kehle versagt ihr fast.
„Zurück, Mylady! Zurück, bevor die Benguits uns bemerken!!“
Alle Feindschaft ist vergessen. Honoria Farsing hat mich als willkommenen Verbündeten begrüßt.
Wir kriechen rückwärts, klettern hinter der Biegung in eine enge Felskluft, haben den Salzsee wieder vor uns.
Allmählich verdunkelt sich der Mond, – nur für Minuten … Unten leuchten die Lampen der Kainar-Stadt unter der Salzkruste … Ihr Licht erlischt scheinbar wieder …
Links von uns Kaid Mahmeds Alarmruf:
„Unsere Späher sprachen die Wahrheit! Dort wohnen die, die wir austilgen werden!! Äxte her! Beile her! Herab von den Gäulen! Wachen auf die Höhen dort!!“
… Krieg dem Kainar!!
Die „Salzstadt“ soll gestürmt werden …
Honoria Farsing, wie ich hinter einem schnell aufgehäuften Steinverhau liegend, dessen Lücken uns genügend Überblick über die nunmehr so bewegte Szenerie gewähren, flüstert atemlos:
„Wie wir zueinander stehen, Abelsen, wissen wir … Aber dieses feindselige Verhältnis zwischen uns muß sich ändern. Ich bereue ehrlich, ich habe viel gefehlt in meinem Leben, ich habe schwere Schuld auf mich geladen, – ich bin bekehrt worden, ich habe mich selbst in all meiner Erbärmlichkeit erkannt … – Verzeihen Sie mir!“
Ihre Hand tastet nach der meinigen, ihre Finger sind eiskalt, ihre Stimme zittert.
Aber ihre Worte rauschen an meinen Ohren vorüber und finden nur halb den Weg über die Schwelle zum Hirn.
Diese Schwelle ist belagert von vielen Gestalten, die da unter uns alle Zurüstungen treffen, in die verborgene Stadt einzudringen.
Kaid Mahmeds rachegierige Krieger lassen keinen Raum in meinem heißen Kopfe für die Richtigkeiten einer Reue, die zu spät kommt.
Die Benguits schleppen gefällte Bäume herbei, – der Hufschlag der Lasttiere dröhnt, Stämme poltern das Ufer hinab …
Eine Holzbrücke über das Salz wollen sie bauen, und dann sollen die Äxte und Beile ihnen einen Zugang bahnen.
Dieser Zwiebelfresser Mahmed war nie dumm. Er besitzt die urwüchsige Pfiffigkeit des halben Wilden und die rasche Auffassungsgabe eines klaren Hirns, das nie in stickigen Städten verpestete.
… Neben mir flüstert Honoria Farsing weiter.
„Abelsen, ich weiß nicht, inwieweit Ihnen Gwenda die Wahrheit eingestanden hat … Angesichts dieser bitterernsten Gefahr für ein hundertjähriges Werk der Nächstenliebe darf ich nicht länger schweigen …“
Jetzt horche ich doch hin …
Drüben werden die Baumstämme auf das Salz geschoben … Der Kaid kommandiert … Hundert seiner Krieger sichern auf den Anhöhen diese Arbeit …
Der Mond verkriecht sich wieder. Die Salzdecke beginnt zu leuchten …
„Was wissen Sie, Abelsen?“
„So gut wie nichts, Mylady …“
… Es ist schwer, seine Aufmerksamkeit gleichzeitig auf zweierlei so verschiedenartige Vorgänge zusammenzufassen, auf eine Art Beichte, die gleichzeitig ein Geheimnis lüftet, und auf die in tollem Draufgängertum eifrigst arbeitenden Benguits.
Noch immer schleppen die Marokkaner Baumstämme auf die Salzdecke und verlängern die Brücke und den festen Halt für die mit Äxten versehenen Leute.
… Lady Farsing spricht weiter. „Die Farsings sind ein uraltes irländisches Geschlecht … Sie haben sich stets für die Unabhängigkeit der grünen Insel eingesetzt, obwohl man sie von London aus durch Ehrungen aller Art dem Volke zu entfremden und ihren Kämpfergeist zu schwächen suchte … Die irischen Freiheitsbestrebungen reichen weit in die Vergangenheit zurück. Jedenfalls war es um das Jahr 1818 ein Lord Farsing, der während des von Metternich geleiteten Wiener Kongresses, wo man nach der Ära Napoleon die Neuordnung in Europa in schwülstigen Reden und kläglichen politischen Schachergeschäften herbeiführen wollte, den Versuch unternahm, Irlands Recht auf Selbstverwaltung gegenüber dieser Kanaille von berufsmäßigen Diplomaten und Volksbetrügern nötigenfalls durch bewaffneten Aufstand zu erzwingen. Aber England war auf der Hut, in aller Stille nahm man Lord Farsing fest, setzte ihn mit seiner Familie und seinen Getreuen auf ein Schiff und wollte all diese Menschen in den kaum erst erschlossenen Gebieten Kanadas für immer als Verbannte begraben. Unterwegs meuterte ein Teil der Besatzung, Lord Farsing nahm den Dreimaster unter seinen Befehl und lief auf gut Glück die Küste von Afrika an, um hier eine Kolonie zu gründen. Er besaß nicht weniger als acht Töchter, jedoch nicht einen einzigen Sohn. Er selbst war ein Mann von ungeheurer Lebensenergie, von nimmermüder Arbeitskraft und erstaunlichem Weitblick, dazu praktisch veranlagt und die geborene Führernatur. Das Schiff mit den Verbannten landete in einer öden, klippenreichen Bucht, in die wie ein gewaltiger Wellenbrecher ein Ausläufer eines Gebirgszuges sich hineinschob: Ein Teil des Dschebel Kainar!“
… Lady Honoria machte eine Pause …
Mir nur erwünscht … Es gab drüben übergenug zu sehen … Die ersten Axthiebe erklangen, und kaum hatte ihr dröhnender, klingender Schall sich fortgepflanzt, als urplötzlich all die tausend Lampen unter der Salzdecke erloschen.
Da stellten die Benguits von selbst die Arbeit vorläufig ein … Sie mochten ahnen, daß sie einen groben Fehler begangen hatten, sie waren gehört worden, und die Bewohner der Kainar-Stadt waren auf dem Posten.
Minuten verstrichen. Jeden Augenblick rechnete ich mit einem wilden Geknatter von Schüssen, mit einem offenen Kampfe, der auf beiden Seiten blutige Opfer fordern mußte.
Die Marokkaner hatten sich schleunigst wieder auf das feste, felsige Ufer zurückgezogen. Kaid Mahmed schickte einzelne Späher über die Salzdecke des unendlichen Schotts bis zu den Inseln hin. Aber nichts ereignete sich. Alles blieb still, – – zu still für meinen Geschmack.
Lady Honoria flüsterte von neuem: „Zu allem Unheil erhob sich ein Sturm, und jener Lord Farsing steuerte kühn in die Klippen und Riffe hinein und entdeckte dabei zu seinem Erstaunen in den Ausläufern des Kainar eine geräumige Wassergrotte, die sich landeinwärts in das Bergmassiv fortsetzte. Er mit einigen seiner Leute brach dann zu einem Erkundungsgange auf, nachdem der Dreimaster, freilich mit geknickten Mastspitzen, in der Wassergrotte verankert worden war. Die Höhle besaß, wie der Lord feststellen konnte, eine gewaltige Ausdehnung und dazu noch eine Eigentümlichkeit, die sich mit Worten schwer schildern läßt. Jedenfalls entschloß er sich, den Kainar fernerhin als sein Eigentum zu betrachten und in seinen Tiefen die geplante Niederlassung zu gründen. Um das Geheimnis dieser Kolonie strengstens zu hüten, verlangte er von der Schiffsbesatzung sowie seinen gleich ihm verbannten Leuten einen Eid, der den damaligen Gebräuchen gemäß des Eidesbruch mit dem Tode zu strafen drohte. Ein Teil der Leute weigerte sich aus ganz bestimmten Gründen, – aus Habgier, aus Verlangen, nach den Genüssen einer kultivierten Welt und aus Angst vor der ungewohnten, ihnen unheimlichen neuen Umgebung …“
„Sie hatten Gold gefunden“, flocht ich ein …
„Ja … Gold …!!“
Und als ob die Benguits, die nun wieder die Salzdecke betreten hatten, dieses raubtiergleiche, verderbliche eine Wort durch neue Axthiebe unterstreichen oder zerschlagen wollten: Aufs neue dröhnte die Salzdecke, aufs neue pflanzte sich der Schall weit fort, verfing sich in den Randbergen und wurde durch Echos hundertfach zurückgeworfen …
„… Gold!! – Und da … kam es zum Kampfe, Abelsen … Zu einer entsetzlichen Schlächterei, an der sich auch Farsings kraftstrotzende Töchter beteiligten. Farsing siegte … Vierzig Tote versenkte man in der Bucht, zwanzig Verwundete siechten dahin, und die übrigbleibenden Gesunden waren der Lord, seine Frau und seine Kinder, seine streitbaren Töchter. Damals, so berichtet die geheime Chronik der Farsings, entstand in Lord Farsings Geist der Plan eines … Amazonenstaates. Er hatte eingesehen, daß Männer sich für seine Absichten nicht eigneten, daß Männer stets durch den Glanz des Goldes geblendet werden würden. – Sein Vorhaben war phantastisch, doch Farsing war der Mann danach, es durchzuführen …“
… Fast jedes der Worte Lady Honorias wurde von einem dröhnenden Axthiebe begleitet.
Große Stücke Salz wurden losgetrennt …
Der Lärm dieses Einbruchsversuches in die verborgene Stadt erfüllte das weite Tal des ausgetrockneten Salzsees.
Doch nicht ein einziger Schuß fiel …
Die Amazonen meldeten sich nicht …
Frecher und kühner wurden die Benguits … Immer mehr Krieger belasteten die Baumstämme. Die Salzdecke schien sicher, und jede Vorsicht schwand.
„… Lord Farsing ward zum Wohltäter kinderreicher irländischer Familien … Mit dem Dreimaster holte er heimlich von den irländischen Küstendörfern all die Kinder ab, die man ihm, dem Freiheitshelden und Spender reichen Entgelts, gern überließ …“
Jetzt vergaß ich doch die Benguits über dem, was ich aus Lady Honorias Munde hörte.
Säuglingsheim!, hatte Gwenda Wilkins gesagt.
Und es traf zu.
Es war auch phantastisch, es war wie ein Stück Mittelalter: Kinderkauf!!
„… Als Farsing in den fünfziger Jahren starb, lebten in der Kolonie bereits achtzig jüngere Mädchen, und als Sultana von Kainar hatte er seine älteste Tochter bestimmt. Gleichzeitig hatte er angeordnet, daß nach Erlöschen seiner direkten Nachkommen die Mädchen aus der Familie seines Bruders Thronfolgerinnen je nach Eignung werden sollten. – So sonderbar es Ihnen auch scheinen mag, Abelsen: Nicht nur das Geheimnis des Kainar wurde bis heute streng bewahrt, sondern auch der Amazonenstaat an sich erlitt keinerlei innere Erschütterungen, etwa durch Unzufriedenheit der heranwachsenden oder bereits durch die Last der Jahre hinwelkenden Mädchen, ebenso wurden auf die bisher übliche Art für Nachwuchs stets gesorgt …“
Lady Honoria, die nur zuweilen einen Blick nach den Benguits hinübergeworfen hatte, brach jetzt jäh ab …
„Abelsen, – – das ist Wahnwitz!! Abelsen, das führt zur Katastrophe!!“
Sie rief es fast zu laut.
Aber der Kaid Mahmed und die Seinen wähnten sich bereits Sieger.
Der Mond war inzwischen wieder aufgetaucht, und wir konnten nur zu genau beobachten, was die Leute trieben und was dort geschah.
Die eng zusammengeballte Masse von beinahe zweihundert Männern bildete einen engen Kreis, in dessen Mitte das ausgehauene Loch gähnte.
Von unserem erhöhten Beobachtungsposten gewahrten wir, daß man Taue in die Öffnung der Salzdecke hinabließ …
„Abelsen, es ist der tiefste Teil des ehemaligen Seegrundes!“, raunte die Lady halb verzweifelt. „Wenn die Salzdecke bricht, stürzen die …“
Sie schwieg.
Urplötzlich waren die Benguits zurückgeprallt und zerstreuten sich.
Ein paar dünne Knalle hatte ich gehört: Büchsenschüsse! – Vier der Leute, die an den Tauen hantiert hatten, rutschten getroffen und schreiend in die Tiefe und verschwanden …
Ein Wutgebrüll folgte … Wieder hallten die Echos in den Bergen wider, und schon glitten auch mehrere Marokkaner bäuchlings an das Loch heran und feuerten ihre Pistolen ab, – was sinnlos und zwecklos war! Kaid Mahmed rief sie zurück, er wollte weitere Verluste vermeiden, und offenbar plante er auch irgend eine andere Teufelei, von der er sich mehr Erfolgt versprach.
Das, was Lady Honoria mir soeben noch über die Entstehung des abenteuerlichen Amazonenstaates erzählt hatte, war jetzt gegenüber dem eigentlichen Beginn der Kämpfe um die Amazonenstadt vorläufig völlig in den Hintergrund gedrängt worden. Da die Schüsse verstummten, flüsterte sie mir noch einige erläuternde Sätze zu, ich hörte jedoch kaum mehr halb hin, meine Aufmerksamkeit galt ausschließlich dem Treiben der Benguits …
„… Vielleicht könnte es herzlos und sogar selbstsüchtig erscheinen, Abelsen, daß man Säuglinge aus kinderreichen Familien durch Geld den Eltern abkauft … Aber sowohl der erste Farsing hier, der erste Sultan des Kainar, wie auch seine Nachfolgerinnen waren viel zu hochherzige Menschen, um irgend etwas zu tun, das auch nur den geringsten Schatten auf ihren Charakter hätte werfen können … Es gab da in der armen Fischer- und Bauernbevölkerung Irlands übergenug kleine Wesen, die infolge Unterernährung dem Siechtum verfallen wären. Es gab da elternlose Kinder, uneheliche Kinder, die den Müttern zur Last fallen mußten. Und noch eins: Sie wissen, daß ein Geheimbund der Irländer bestand, und man wählte die Kinder nur aus den Mitgliedern dieser politischen Kampfpartei aus, man brachte die Säuglinge hierher, wo die trockene Wüstenluft im Verein mit der Nähe des Atlantik und sorgsamster Pflege aus den kleinen Geschöpfen kraftstrotzende lebensfrohe junge Mädchen werden ließ, die sich hier durchaus glücklich fühlten. Nur eins blieb ihnen versagt: Die Rückkehr in die große Welt da draußen, und somit auch … das Glück der Liebe, der Umgang mit dem anderen Geschlecht. Sultan Farsings Weisheit hatte hierfür Ersatz geschaffen: Geregelte Tätigkeit, Kampfspiele, Jagden draußen in der Steppe, nächtliche Ritte weit in die Sahara hinein, – sein Gesetzbuch für den Kainar stellt ein Meisterstück kluger Überlegung und tiefer Menschenkenntnis dar … Gewiß, Zwistigkeiten konnten nicht ausbleiben, und in einem Punkte hatte Lord Farsing den Frauencharakter nicht zweckmäßig beurteilt: Die ältere Generation der Kainaresinnen, die bereits Verblühten, die … alten Jungfern könnte man sagen, waren harte Kritiker an dem Schicksale, das ihnen beschieden gewesen, – die Reihe der Jahre ließ bei vielen die Erkenntnis der Leere ihres Daseins und einer nur halb freiwilligen Gefangenschaft erwachen …“
… All das klang als menschlich so leicht verständliche Unzulänglichkeiten dieses einzigartigen „Kinderhortes“ von den Lippen Lady Honorias, gleichzeitig wie eine Entschuldigung für die letzten Vorgänge hier im Kainar, für die Palastrevolte, für Gwenda Wilkins Vertreibung und für die Parteinahme des älteren Jahrgangs für diese Frau, die hier neben mir und Trasso hinter der Steinbrustwehr auf nacktem Felsen ruhte und mir in kurzen Strichen ein Bild von den inneren Zusammenhängen der Entstehung und Fortführung eines seltsamen Gemeinwesens entworfen hatte.
Ich ließ das Fernglas nicht mehr von den Augen …
Vier Benguits schleppten soeben einen Ledersack nach dem Loche in der Salzdecke hin.
Mond und Sterne strahlten klarer als bisher …
Kaid Mahmed und sein ältester Sohn öffneten den Sack mit auffälliger Sorgfalt … Sie griffen hinein, sie holten die erste Stielhandgranate hervor, die zweite, die dritte … immer mehr, verteilten sie unter eine Schar geübter Krieger.
Wie die Benguits zu diesen Kriegswaffen gekommen waren, bedurfte keiner Erklärung: Jahrelang hatte der Rifkrieg in allernächster Nähe getobt, jahrelang hatten die Benguits Gelegenheit gehabt, Munitionstransporte zu überfallen und selbst diese gefährlichen Explosionskörper kennen zu lernen … –
Der Kampf um die verborgene Stadt trat in das entscheidende Stadium …
Kaid Mahmed stand fünf Schritt vor dem Loche, zog die erste Handgranate ab, wartete die vorgeschriebene Zeit mit gehobenem Arm, und – – ich zählte mit …
Ich hatte die Büchse vorgeschoben, – die Handgranate würde niemals in dem Loche verschwinden und unten explodieren. Ich rechnete mit der Hilfe der Kainaresinnen, ich hätte abgedrückt …
… Ein anderer kam mir zuvor.
Irgendwo knallte ein Schuß … Kaid Mahmeds zwiebelduftende Hand ließ die Granate fallen, der Arm sank schlaff herab, und der Kaid sprang schmerzbrüllend zurück … Abermals stob der Kreis der Benguits zurück …
Nicht schnell genug … Die Handgranate explodierte, der Kaid hatte sich noch rechtzeitig niedergeworfen, – – rechtzeitig?!
Nein …! – Das Verhängnis nahm seinen Lauf, die ohnedies durch die Axt- und Beilhiebe und die allzustarke Belastung durch so zahlreiche Männer bis zum Bersten beanspruchte Salzdecke brach infolge der Sprengwirkung in einem Umkreis von fünfzig Meter zusammen, und Menschen, Baumstämme, sogar Lasttiere glitten zugleich mit den Salzschollen unter gellendem Angstgeschrei in die unbekannte Tiefe.
Poltern, Dröhnen, Schreien, Knirschen und Prasseln verstummte erst nach Sekunden …
Eine geradezu unheimliche Stille folgte dann, – jene lähmende Stille, die uns angesichts einer menschenfressenden Katastrophe das Blut in den Adern gefrieren läßt.
Die auf den Anhöhen verteilten Benguitkrieger rühren sich nicht. Die wenigen, die von der Salzdecke sich hatten an Land flüchten können, rannten in besinnungsloser Panik zu ihren Gäulen, sprangen in den Sattel und jagten davon, – die uralte Kunststraße zur toten Stadt hinab, – – bis von den Inseln und Felsen des Salzsees Gewehrfeuer die Luft mit seinen kurzen, abgehackten, rollenden Salven erfüllte und überall die Mündungsblitze aufleuchteten … Überall …
Da gab es auch für die übrigen Benguits kein Halten mehr. Die Panik griff um sich, in wenigen Minuten war die Anhöhe frei, einzelne Reiter preschten davon, ganze Trupps galoppierten von dannen, – – der Kampf um den Kainar hatte ein jähes Ende gefunden, Verwundete schleppten sich über die schroffen Abhänge, rollten zu Tal, blieben liegen, jammerten, kreischten, heulten …
Die Hufschläge der Flüchtenden verklangen …
Von einer der größeren Inseln des „Totenkopfes“, die uns am nächsten lag, tauchten mehrere graue Gestalten auf … Ihre Zahl wuchs …
Und fast gleichzeitig erschienen auf dem kleinen Plateau, das etwa das Ende der uralten Bergstraße darstellte, drei Personen und ein merkwürdiger Hund, hinter ihnen noch einige wohlbekannte Gefährten: Die fünf Mädchen, unter ihnen Irla, die Führerin, Allan Walkins stiller Schwarm.
Die drei vordersten aber waren Gwenda Wilkins, Smetterlay und der reiche Globetrotter Walkin. Gwenda, den beiden Männern mit ihrem Hyänenbastard ein paar Meter voraus, war erkannt worden: Vom Salzsee her, über dessen schillernde Decke flinke Gestalten hinweghuschten, ertönten Laute freudiger Begrüßungsrufe …:
„Heil der Sultana Gwenda!!“
… „Mein Werk, mein Friedenswerk“, sagte Lady Honoria leise. „Abelsen, mag ich auch aus blindem Ehrgeiz gefehlt haben, – ich sah zur rechten Zeit ein, daß ich nur tiefsten Unfrieden in die Reihen der Kainaresinnen getragen hatte! Nur die Betagten, Alten, Verbitterten stellten sich auf meine Seite, die frische Jugend ließ sich nicht verlocken durch Versprechungen, die nur leere Phrasen waren. Die Jugend hatte ein stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl, und nur die anmaßenden, angeblich reiferen Amazonen, die nach dem Tode der letzten Sultana hier die Macht willkürlich unter sich verteilt hatten, folgten meinen Befehlen … Aber ich fühlte, daß meine Autorität auf Sand aufgebaut war, – – und um nicht noch weiter Zwietracht zu säen, verzichtete ich auf den berühmten, hier berüchtigten Thron von Kainar und überließ meinem Stiefkinde ihre ererbten Rechte … Sie werden darüber noch Näheres hören, Abelsen … Es ist hier im Kainar, in diesem kleinen Staat von rund vierhundert Menschen nicht viel anders als draußen in der großen Welt …“ –
… Es war hier doch etwas anders als draußen in der großen Welt …
Es war hier eine Welt für sich, eine Zauberwelt, ein phantastischer Amazonenstaat tief unter einer meterdicken Salzdecke.
… Ich sitze jetzt hier in einem der Zimmer der Kainar-Stadt … Häuser kennt diese Stadt nicht.
Ich sitze an einem eisernen Gartenklapptisch, der als Schreibtisch hergerichtet ist … Auf dem Tische brennt eine Stehlampe mit grüner Glocke.
Nichts fehlt hier, nichts …
Dieses Zauberreich, das die Einbildungskraft eines Jules Verne erfunden haben könnte, verfügt über alle, alle technischen Neuerungen.
Geld, Gold ist ja im Überfluß vorhanden, und der Staat Kainar beschaffte insgeheim alles, was er brauchte, so auch die Maschinen für die große Lichtanlage …
Es ist der Abend nach der Nacht des Kampfes um den Kainar.
Ein wundervoller Tag liegt hinter mir …
Die Nacht ist wieder da, und ich schreibe – seit Stunden.
Mein Hirn ist aufgerührt von all dem Seltsamen, – – mein Tagebuch wird wieder etwas kraus werden, denn – – womit soll ich nun beginnen, um all das festzuhalten, was der Rest der verflossenen Nacht und dieser dahingegangene Tag mir an unauslöschlichen Eindrücken schenkten?
Soll ich lang und breit ausführen, daß der Sultana erster Befehl dahin lautete, für die Verwundeten zu sorgen und Verwundete und Tote wegzuschaffen in die uralte steinerne Stadt im Nebentale, damit keiner von ihnen über diese Stadt unter der Salzdecke zu viel erführe?
… Dieses Rettungs- und Hilfswerk nahm Stunden in Anspruch. Wir Männer halfen, wir waren nun wieder unser fünf, oder genauer: Plötzlich fünf!
Jack Pourler, der lange dürre Gent mit dem unvermeidlichen Monokel, war zusammen mit Tom, dem Graubart, aufgetaucht, – als soeben Freigelassene.
Ich muß mich schon wieder verbessern: Graubart Tom stimmte nicht mehr.
Mr. Thomas Rallay, äußerst würdiger Schloßvogt der Lords von Farsing-Castle, hatten seinen Vollbart restlos entfernt, war sauber rasiert, sauber gekleidet und erzählte mir, als wir beide den toten Kaid unter den Salzstücken hervorholten und wegtrugen, äußerst gemessen und etwas stark im Kathederenglisch seine Schicksale.
„Mr. Abelsen, die Herzensgüte Lord Farsings, des Vaters der Honourable Gwenda Wilkins, hat mich von jeher mit den Beweisen eines Vertrauens überhäuft, das mir schlichtem Manne die Seele erwärmte, mir aber gleichzeitig auch eine schwere Bürde auflud. Mylords erste Gattin starb kurz nach der Geburt des einzigen Kindes dieser überaus glücklichen ehemaligen Gemeinschaft … – – Bitte, fassen Sie den Kaid bei den Schultern an, ich werde die Beine anheben … so … – Als die Honourable Gwenda zehn Jahre zählte, erhielt Seine Lordschaft die Nachricht, daß die Sultana Gwenda die Dritte hier verschieden sei. Farsing-Castle stand mit Kainar dauernd in funkentelegraphischer Verbindung, sogar trotz des inzwischen ausgebrochenen Weltkrieges, der doch eine noch schärfere Überwachung der irischen Unabhängigkeitspartei herbeiführte. Somit war nun unsere kleine zehnjährige Gwenda den alten Gesetzen von Kainar zufolge Thronerbin und Sultana geworden. Leider heiratete Seine Lordschaft kurz darauf eine Standesgenossin, die – ich möchte nicht respektlos erscheinen – ihrem Charakter nach wenig zu ihm paßte, und der er, was noch bedauerlicher war, das hundertjährige, so ängstlich behütete Geheimnis der Existenz dieses Staates hier anvertraute. Das Verhältnis zwischen den beiden Ehegatten gestaltete sich sehr bald infolge der brennenden Eifersucht Lady Honorias auf ihr Stiefkind, das seine Lordschaft vergötterte, höchst unangenehm, – milde ausgedrückt … – So, Mr. Abelsen, nun können wir den Kaid festseilen und emporziehen lassen … – Hallo, – bitte, – – ihr da oben!! Aufgepaßt!! – Gerade um diese Zeit hielt es Mylord für angebracht, mich nach Kainar zu senden, damit ich hier nach dem Rechten sähe. Da der Weg zu Schiff des Krieges wegen allzu unsicher schien, benutzte ich den Landweg … Kaid Mahmed nahm mich gefangen, und alle Versuche, aus jener Schlucht im Benguit-Tale zu flüchten, scheiterten an der Wachsamkeit der Benguits … – Dort unten liegt noch ein Marokkaner, Mr. Abelsen … Klettern wir über die Salzblöcke hinab … – Es trifft nun nicht zu, daß ich volle fünfzehn Jahre Gefangener der Benguits war, – nein, es handelt sich nur um etwas über zehn Jahre … Kurz nach meiner Gefangennahme wurde mein Herr wegen Hochverrats standrechtlich erschossen. Ich erfuhr dies erst, als durch ein sonderbares Spiel des Zufalls urplötzlich meine verehrte junge Herrin meinen Kerker in der Schlucht mit mir teilen mußte. – Sie, Mr. Abelsen, befreiten uns dann, und so groß unsere Dankbarkeit Ihnen gegenüber auch war, wir mußten schweigen, und dies selbst auf die Gefahr hin, sehr undankbar zu erscheinen. Sie werden dies alles nun begreifen, hoffe ich, und besonders mir meine Verschlossenheit verzeihen …“
„Sehr gern, Mr. Rallay!“
Ich schüttelte dem Braven derb die Hand.
„Bitte, – nennen Sie mich Tom“, sagte er höflich. „Tom ist für mich ein Ehrentitel …“
Unsere aufschlußreiche Unterhaltung hatte hiermit ein Ende.
Dort, wo die Benguits die Salzdecke aufgebracht hatten und der Einsturz erfolgt war, befanden sich auf dem Grunde des ausgetrockneten Sees zahllose große Felsen, die uns bisher bei den Bergungsarbeiten den Ausblick versperrt hatten … Aber auch hier hingen an den Steinpfeilern, die als Klippen durch die Salzschicht hindurchreichten, große Bogenlampen, deren Leitungsdrähte sauber montiert und nur zum Teil gerissen waren.
Nachdem wir diese Hindernisse umgangen hatten, gelangten wir in einen völlig flachen Teil des einstigen Seebodens, und schon hier entdeckte ich die ersten untrüglichen Anzeichen dafür, daß die Hauptursache der Entstehung dieser salzüberkrusteten Riesenhöhle doch vulkanischer Art gewesen sein mußte: Ich fand Lavateile am Fuße einiger der natürlichen Steinpfeiler, die das Salzgebäude stützten!
Auch Irla, ein vielfach gebildetes Mädchen mit klarer, knapper Ausdrucksweise, bestätigte mir, daß in den Aufzeichnungen des ersten Sultans von Kainar, jenes Lord Farsing, eine ähnliche Theorie niedergelegt sei.
Bevor ich den Gesamteindruck des Amazonenstaates Kainar und einige besonders bemerkenswerte Einzelheiten wiedergebe, muß ich diese Theorie zumindest andeuten.
Ich sprach bereits von den Schotts, deren Salzdecke auf dem Wasser schwimmt. Zweifellos hatte dieser Riesensee hier einst eine gleichfalls schwimmende, sehr dicke Salzdecke besessen, bevor das darunter befindliche Wasser abfloß oder gänzlich verdunstete.
Dieses Abfließen des Seeinhalts konnte nur auf vulkanische Veränderungen, Verschiebungen und damit zusammenhängende, jäh entstehende Abflußkanäle zurückzuführen sein. Hierfür sprachen nicht nur die Reste von Lava an den Felsenpfeilern, sondern auch insbesondere die Wärme des Bodens: Seine Temperatur war höher als die der hier lagernden, durch versteckte Öffnungen in dauernde Bewegung gehaltenen Luftschichten.
Daß die enorme Masse der Salzdecke bei diesem jähen Abfließen des Wassers nicht eingestürzt war, lag an den besonders günstigen Verhältnissen, also an den zahllosen Felsenzacken, die gleich Säulen oder Riffen durch die Decke hindurchragten oder doch mit ihren Spitzen in diese Salzdecke hineinreichten.
Das Salzgewölbe war also so gründlich abgestützt gewesen, daß ein Einsturz nach dem Verschwinden des Wassers gar nicht erfolgen konnte.
Was blieb nun auf dem Seegrunde zurück, nachdem der stark salzhaltige Inhalt des überwölbten Beckens sich verlaufen hatte? – Die Frage beantwortete uns nebst anderen ebenso wichtigen die gut unterrichtete Irla, die längst wieder mit ihrem ersten und einstigen Verehrer Frieden geschlossen hatte:
Geröll und Goldkörner!!
Ein unschätzbarer Reichtum an Gold, der dann leider nach Lord Farsings Aufzeichnungen zu den ernsteren Zwistigkeiten und offenen Kämpfen geführt hatte.
Und was bedeckte jetzt hier diesen Boden?
…Als ich den ersten Blick über diese fast erntereifen Getreidefelder geworfen hatte, hatte ich wirklich zu träumen geglaubt. Mein zweiter Gedanke war gewesen: Es kann sich nur um hohe, dichte Gräser handeln, die so bescheiden sind, in diesem Zwielicht oder künstlichem Licht zu gedeihen …!
Ein Irrtum!! – Es waren Getreidefelder, und nichts konnte die ungeheure Schaffensfreude jenes ersten Lord Farsing besser beweisen, als die Urbarmachung eines Steinbodens, den man erst künstlich zu schneller Verwitterung zwingen mußte.
Arbeit, immer wieder Arbeit, – das war jenes Farsing Leitmotiv gewesen! Draußen in der Kainar-Bucht gab es übergenug faulenden Seetang und Vogeldünger. Er ließ Schiebkarren herstellen, er mischte den zur Gärung neigenden Seetang mit dem ebenso scharfen Guano, er zog die Wärme des Bodens mit in Rechnung, er suchte draußen in den Klüften des Kainar nach wirklicher Erde, nicht nach Sand … Viele Jahre verstrichen. Dann wagte er die erste Aussaat. Würde das spärliche Tageslicht, das auf die Äcker durch die Salzdecke fiel, genügen, um die Saat zum Keimen, die Keime zu Ähren und die Ähren zu Fruchtträgern zu machen?! – Die erste Ernte war spärlich … Die zweite etwas besser. Und dann starb der Lord, seine älteste Tochter wurde Sultana, – auch sie starb, aber unter ihrer Nachfolgerin erhielt das unterirdische Reich elektrische Beleuchtung, und bald darauf versuchte man es mit der Bestrahlung der Felder mit schwacher künstlicher Höhensonne. Der Erfolg war verblüffend. War so verblüffend, daß nun jeder Fußbreit Boden ausgenutzt wurde, daß man wertvolle Reitdromedare ernähren und züchten konnte … Ein bewaffnetes Amazonenkorps hatte längst bestanden, aber die „grauen Dromedarreiter“, dieser Schrecken der umwohnenden Marokkanerstämme, waren in dieser Form erst etwa dreißig Jahre vorhanden.
… Wir schritten durch reifende Kornfelder gen Westen auf schmalen Wegen, gelangten auf eine breitere Straße und gewahrten hier den ersten elektrisch betriebenen Sprengwagen, aus dessen Strahlrohr ein feiner Regen die nächsten Felder bewässerte.
Alle Lampen brannten … Da es Lampen mit Quarzröhren und Quecksilberfüllung waren, hatten unsere Gesichter eine unangenehme Leichenfarbe.
Dann begann die eigentliche Stadt. Zuerst die Weideplätze für die Dromedare, Ziegen, Schafe und Kühe … Ich zählte allein dreißig Milchkühe.
Unsere Unterhaltung war verstummt. Wir Männer, mit Ausnahme Toms, hatten zu viel zu schauen. Nur Irla erklärte uns dieses und jenes, und Gwenda und Smetterlay waren eng umschlungen ein Stück zurückgeblieben.
Kainar sah das erste junge Liebespaar!
Man denke: Das erste! Das erste junge Liebespaar …! –
Die Liebe war bisher hier verpönt gewesen.
… Wir bogen in eine „Straße“ ein, die mehr ein Korridor mit unzähligen Türen war. Hier lagen die Wohnräume der Erwachsenen, blitzsaubere Zimmer, freilich ohne Fenster und genau wie mein Gastzimmer nur als „Box“ zu betrachten. Die Verteilung der Räume entsprach einmal dem Tätigkeitsfeld einer bestimmten Gruppe, dann aber auch dem Alter. Die betagtesten Kainaresinnen und die Kinder wohnten dicht an dem breiten Übergang von der „Salzstadt“ in die Wassergrotte, wo die feuchte Ozeanluft und das Wüstenklima am bekömmlichsten waren.
Die Kindersäle, die Lehrsäle und der sogenannte „Sultanapalast“ befanden sich gleichsam in einem höheren Stockwerk. – Hiermit hatte es eine besondere Bewandtnis. Mir war schon längst die Frage aufgestoßen, wie die Bewohnerinnen von Kainar mit ihren Dromedaren in die Steppe gelangten, ohne den Schott passieren zu müssen, was doch bei der Unsicherheit der Tiere auf glattem Salzboden nicht nur zeitraubend, sondern auch gefährlich gewesen wäre. Hier nun wurde diese Frage von selbst gelöst. Da der ehemalige Salzsee in beträchtlicher Höhe über dem Meeresniveau gelegen hatte, fiel auch der Felsengang zur Wassergrotte des Kainarvorgebirges recht steil ab. Rechter Hand an dieser Übergangsstelle von „Salzstadt“ zur Wassergrotte, die als jetzige sehr breite Öffnung nur durch vulkanische Einflüsse entstanden sein konnte und den See hatte auslaufen lassen, lag eine versteckte große Steinpforte, die ins Freie und zwar in ein Tal der Uferberge führte. Neben dieser Pforte lief innen eine Treppe in eine zweite Höhle, die über der Wassergrotte gelegen war. Dieser Höhlenraum, in den man Fensteröffnungen nach außen gesprengt hatte, war durch Mauern geteilt. In der Mitte befand sich der sogenannte Sultana-Palast, das heißt ein großer Beratungssaal mit goldenem Thronsessel, Baldachin und seidebespannten Wänden, sowie vier Zimmern für die Sultana, – rechts und links davon lagen die Säuglingssäle, deren Ausstattung bis ins kleinste allen hygienischen und sonstigen Anforderungen genügte. Zur Zeit hatte Kainar einundzwanzig Kinder unter einem Jahr und etwa achtzig im Alter von ein bis siebzehn Jahren zu betreuen. Mit siebzehn Jahren wurden die Kainaresinnen mündig und in die Arbeitsabteilungen aufgenommen. Den Schulunterricht erledigten besonders befähigte ältere Bewohnerinnen der Salz-Stadt.
Wenn ich nun noch erwähne, daß in dem Hafen der Weiberkolonie, der Wassergrotte, zwei mittelgroße Frachtdampfer sowie der als Museumsstück und heilige Tradition sorgsam behütete alte Dreimaster ankerten (jenes Segelschiff also, mit dem Lord Farsing um 1820 hier gelandet war), glaube ich meiner Pflicht als Chronist genügt zu haben.
Der Himmel verzeihe mir, daß ich vielleicht für die, die einmal diese Zeilen gedruckt lesen, diese Einzelheiten in so trockener Art aufzählen mußte. Mir selbst erscheinen sie nicht trocken, denn bei jedem Wort baut sich gleichsam vor meinem geistigen Auge ein anderer Teil der Zauberstadt Kainar auf …
Gewiß, – hätten und würden die Dinge einen anderen Verlauf genommen haben, oder nehmen können, so würde sich Gelegenheit geboten haben, das dem Verderben, dem endgültigen Untergang geweihte Wunderreich allmählich in Verquickung mit spanischen Vorgängen wie ein Kinostück „ablaufen“ zu lassen.
Aber Gwenda Wilkins hat vorhin beim gemeinsamen Abendessen nochmals erklärt, Kainar würde morgen um diese Zeit nicht mehr vorhanden sein. Zu näheren Angaben fand sie sich nicht bereit …
Und der heutige Tag? – Nun, ich habe alles, alles allein nochmals gründlich in Augenschein genommen, und ich bin auch wieder droben auf dem Schott gewesen … in den Bergen. Die Benguits sind abgezogen, die ihnen nachgeschickten Späherinnen haben sie stundenlang verfolgt und sind dann umgekehrt.
… So darf ich denn für heute die Feder weglegen.
Ich werde auch eine frische Zigarre anstecken, werde die Büchse und Freund Trasso nehmen und jetzt im Mondesglanz nochmals droben den endlosen schimmernden Schott Kainar besuchen, der morgen – ein Jammer! – nicht mehr existieren soll …
Trasso ist allemal bereit zu einer nächtlichen Wanderung, wenn ich die Büchse umhänge und den Pistolengurt umschnalle. Dafür hat er sehr feine Augen.
Still und lautlos schleichen wir durch die Straße der Kabinenstadt gen Osten den Feldern zu. Hier brennen nur vereinzelte Lampen. Man spart elektrischen Strom … Dumpf und gleichmäßig erklingt hinter uns das Arbeiten der Maschinen der weitverzweigten Lichtanlage.
Wir haben die Felder erreicht, hoch und dicht mit schweren Ähren steht das Korn zu beiden Seiten des Weges, und die Quarzlampen droben an den Steinpfeilern unter der Salzdecke spenden wieder ihr künstliches Sonnenlicht und zwingen dem kunstvoll gedüngten Boden die Frucht ab.
Vielleicht ist gerade diese einsame, stille Mitternachtsstunde die geeignetste, den ganzen Zauber dieser seltsamen Welt zu erfassen. – Eine Welt?! Ja – eine Welt für sich im Abseits! Das ist es …
Vieles schauten meine erstaunten, begeisterten Augen in fernsten Erdenwinkeln. Ein Vineta mit wandelnden Menschen sah ich im Wasser schimmern, aber nie fand ich auch nur entfernt Ähnliches wie hier. Eine Stadt der Verbannten in dem einen Tale, tot, starr, starre Steinbauten: Ein Zeichen von Vergänglichkeit! – Eine zweite Stadt fand ich im großen weiten Nebentale, einen Amazonenstaat und doch letzten Endes nur ein Säuglingsheim, in dem die schwächlichen, kränklichen Geschöpfchen zu kraftvoller Blüte heranwuchsen: Das Werk eines einzigartigen Menschenfreundes!
Und gerade dies sollte man nicht vergessen, nie unberücksichtigt lassen, wenn man an die Stadt unter der Salzdecke zurückdenkt: Ein Menschenfreund, ein Kinderfreund schuf sie, dem alle selbstsüchtigen Gedanken fehlten. Ihm stand ja das hier in Hülle und Fülle gefundene Gold zur Verfügung, er hätte in Luxus und weitab von jeder Gefahr seine Tage beschließen können.
Nein, er setzte all seine Arbeitskraft ein für eine wahrhaft große Idee!
Das entschuldigt alles bei diesem ersten Farsing, der hier mit Schiebkarren und Spaten arbeitete und diese Äcker und Felder dem harten Boden abrang …
So umspielten meine Gedanken die Vergangenheit. Ich maßte mir nicht an, Gericht zu halten über Tun und Lassen dieses Abenteurers Farsing. Für mich stand sein Werk als Werk der Nächstenliebe da, und inmitten dieses feinen ureigensten Schaffens, dieser Kornfelder, wandelte ich jenen großen Felsen zu, die droben über der Salzdecke die Inseln und „den Totenkopf“ bildeten … –
Trasso verrät Unruhe … Ich schüttele diese Gedanken ab … Wir stehen bereits am Fuße der Steintreppe, die in dem einen Felsen auf den Schott emporführt.
Was bedeutet das?! Oben die Steinklappe müßte doch geschlossen sein! – Sie ist offen … Die Sterne sehe ich flimmern, bleiches Mondlicht fällt herein …
Was bedeutet das?!
Da … auf den Stufen frischer Dromedardünger …
Was bedeutet das?!
… Trasso knurrt …
Ich reiße die Büchse von der Schulter …
…Über den Schott läuft eine frische breite Fährte gen Süden … Die dünnen schmalen Sandstreifen, die nur stellenweise die Salzschicht bedecken, zeigen mir die Spuren von Dromedaren und von jenen flachen Sandalen, wie die Kainaresinnen sie tragen. Die Spuren sind ganz frisch, ich zähle etwa dreißig Tiere und fünfundzwanzig Frauen, die die Dromedare gen Süden geführt haben. Also sind zumindest einige Lasttiere dabei, und diese Tatsache widerlegt meine anfängliche Vermutung, die Sultana Gwenda könnte eine neue Patrouille zur Sicherung des Kainar in die Steppe geschickt haben. Außerdem widerspricht ja auch die Marschrichtung dieser Annahme.
Ich finde andere Stellen auf dem Schott, wo diese kleine Schar den Kameldünger möglichst sorgsam entfernt hat: Ein Beweis für die Heimlichkeit des unklaren Unternehmens!
Ich beeile mich … Ein ganz bestimmter Verdacht ist in mir aufgetaucht und gewinnt immer schärfere Umrisse. Ich habe die Szene in der vorigen Nacht nicht vergessen, als Stiefmutter und Stieftochter sich neben dem in das Salz geschlagenen Loch gegenübertraten. Lady Honoria, belastet mit doppelter und dreifacher Schuld skrupelloser Intrigen, von denen die ärgste die Einsperrung Gwendas in ein Irrenhaus gewesen, hatte nicht einmal zu Worte kommen können, als sie um Vergebung ihrer Verfehlung bat. Gwenda winkte schroff ab. „Zwischen uns ist jedes Band zerschnitten …“
Wer die Vorgeschichte kannte, durfte ihr diese Härte und Unnachgiebigkeit nicht verargen. – Ich bedauerte Lady Honoria trotzdem. Nachher hatte sie sich fern von uns gehalten und zumeist in der Abteilung des älteren Jahrgangs einsam ihren trüben Gedanken nachgehangen.
Aber nicht allein Lady Honoria wurde gemieden, sondern auch mit ihr zugleich jene kleine machthungrige Clique, die ihr Beistand geleistet hatte. Von einer Bestrafung dieser ehrgeizigen, sinnlosen und gewissenlosen Weiber, denen auch der Tod der armen Rala, die ich selbst hatte sterben sehen, zuzuschreiben war, hatte Gwenda Abstand genommen. Diese Außenseiterinnen und Störenfriede wurden genau so gemieden wie Honoria.
Lag da der Gedanke nicht sehr nahe, daß diese Weiber und die mit geächtete Honoria in aller Stille sich entschlossen hatten, den Kainar zu verlassen? War das Gewissen bei ihnen allen vielleicht doch durch bessere Einsicht zu einem solchen Machtfaktor geworden, daß sie alle … freiwillig in eine unbekannte Verbannung zogen?! – Denn eine Flucht in der Absicht, bewohnte Gegenden aufzusuchen, war dies nicht … Wohin hätten sie sich ohne Geldmittel wenden sollen?! Und Geld oder Gold besaßen sie nicht. Die Schatzkammer von Kainar wurde eng bewacht.
Ich beeilte mich noch mehr, ich wollte Gewißheit haben … Trasso und ich erreichten das Ufer des Schott, ein Tal stieg hier zu den Randhöhen an, und als ich schweißtriefend die höchste Kuppe erklommen hatte und das Fernglas gen Süden richtete, gewahrte ich weit draußen in der hellen Steppe einen Dromedarreiterzug, der in flottem Trab die Richtung nach Südost einhielt, also mitten in die Anfänge des Sand- und Steinmeeres der Sahara hinein. Es waren ohne Zweifel die Flüchtigen, und ihre Absicht war nun offenbar geworden, meine Vermutung traf zu: Sechsundzwanzig Kainaresinnen mit Lady Honoria an der Spitze zogen dort in die freiwillige Verbannung, hatten sich ihre Strafe selbst bestimmt.
Sie zurückzuholen war unmöglich. Sie hatten mindestens eine Stunde Vorsprung, und bevor ich den geheimen Ausschlupf aus dem Kainar-Massiv gen Süden gefunden hätte, würde sich dieser Vorsprung um Stunden erweitert haben.
Das klare Mondlicht lag auch dort weit, weit fern über der Wüste, wo nur einzelne Gebirgszüge den Weg der Fliehenden einsäumte. Der Horizont war dunstig, und wieder einmal verlebte ich hier die seltsame Erscheinung, daß die Dromedarreiterinnen in diesen Dunst wie Gespenster höher und höher zu schweben schienen, immer undeutlicher wurden und gleichsam dem Firmament entgegeneilten und als sich auflösende Schatten sternenwärts entschwanden.
Ein eigentümliches Gefühl beschlich mich bei dieser Beobachtung.
Es schien, als ritte diese freiwillige Schar in das unbekannte Jenseits hinein.
Doch anderes riß mich los von so nutzlosen Gedanken.
Die Schlucht liegt im Schatten … Gestalten bewegen sich dort, – zehn, zwölf, – – noch mehr. Alte liebe Bekannte sind es: Benguits! Und das leise Pochen und Hämmern und die Eilfertigkeit der braunen Banditen weist klipp und klar auf eine große Schurkerei hin. – Dann taucht einer der braunen Lieblinge auf der mondbeschienenen Seite auf. Wahrhaftig: Kaid Mahmeds zweites Söhnchen, ein anmaßender Bursche, der sich unendlich viel darauf einbildet, europäische „Bildungsstätten“ besucht zu haben. Was er dort lernte, hat aus einem Banditen einen vielverheißenden Ganoven gemacht.
Ich blicke schärfer hin …
Und dann begreife ich …
Ich sehe die ganz, ganz schwachen Dämpfe, die der starken Quelle entströmen, – ich als Ingenieur erfasse den teuflischen Plan sofort: Wenn die Burschen dort die dünne Steinwand nach dem Kainar zu wegsprengen, fließt das warme Quellwasser auf den Schott hernieder!!
Und ebenso blitzartig erinnere ich mich da an Gwendas Entschluß, die Salzstadt zu zerstören! – Über das „Wie“ hatte sie nicht einmal Sim Smetterlay Aufschluß gegeben, hatte nur erklärt: „Die Natur wird die Naturwunder vernichten!!“
Sollte auch sie an diese Quelle gedacht haben?!
… In der Schlucht blinken flackernde Lichter auf … Das Pochen und Hämmern ist verstummt. Die Kerle haben ihre Sprengladungen verkeilt, nun sollen die Zündschnüre glimmen …
Schießen, – hineinfeuern in die Bande?!
Dazu ist es zu spät … Diese heimtückischen Schleicher verkriechen sich bereits am anderen Ende der Schlucht, um den Erfolg abzuwarten …
Also – – hinab mit mir!! Sehen können sie mich nicht … Es wird ein wildes Rennen, Springen, Stolpern …
Links hinter mir dort droben lauert die warme Quelle, lauern die Sprengladungen …
Wir erreichen den Schott, wir hasten über die Salzfläche, und dann – – urplötzlich ein einziger Knall, als sollte der ganze Kainar bersten …
Ich fahre herum … Ich sehe eine ungeheure Kaskade von Felsstücken gen Himmel fliegen, und daß diese gewaltige Sprengwirkung, deren Luftstoß mich und Trasso glatt zu Boden wirft, nicht allein den von den Benguits angebrachten Sprengladungen zuzuschreiben sein kann, sagt mir schon allein meine Fachkenntnis.
Dort droben, das weiß ich nun, waren schon früher Dynamitpatronen reichlich in den Rissen der trennenden Wand verteilt worden – von den Kainaresinnen! Und dieses Dynamit ging mit hoch, und die armen dummen Teufel von Benguits, die den Schott in warmem Quellwasser ersäufen wollten, werden wohl schon durch den Luftstoß der Explosion ausgelöscht worden sein, ganz abgesehen von dem Steinhagel, der nun wie Sperrfeuer schwerster Kaliber herniedersaust.
Trasso und ich können gerade noch die Treppe hinabschlüpfen, die von der einen Insel in die Salz-Stadt führt …
Gerade noch …
Und dann nimmt das Verderben seinen Anfang.
Zentnerschwere Bomben zerschlagen die Salzdecke, – wir rennen durch die Felder wie gehetzt, neben uns, vor uns fahren die Steingeschosse in die Salz-Stadt herab, verwüsten die reiche Ernte, zerschlagen die Quarzlampen …
Nur die Wohnstadt bleibt verschont, – – aber in der Stadt ist längst alles an Bewohnern in emsiger Tätigkeit, der Knall der Explosion hatte alle geweckt, und zielbewußt und ruhig kommandiert Sim Smetterlay, was geschehen soll. Die Tiere werden auf die Dampfer geschafft, ebenso die Kinder … Die wertvollste Habe folgt, – das Gold der Schatzkammer, der Goldthron von Kainar … Wir arbeiten wie die Kulis, wir wissen, daß das Ende von Kainar naht … Die warme Quelle überflutet den Schott, löst das Salz auf, ergießt sich bereits über Wege und Straßen und sickert in die Wassergrotte hinein …
– Es war nur ein flüchtiger, hastiger Abschied von den Freunden. Ich lehnte es ab, einen der Dampfer zu besteigen. Ich habe mir zurückbehalten, was ich brauche, um im Abseits weiterleben zu können …
Nächster Band: