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Zwei Taschentücher (2. Auflage)

 

 

Der Detektiv

 

Kriminalerzählungen

von

Walther Kabel.

 

Band 7:

 

Zwei Taschentücher.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1920 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin.
Druck P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 26

 

Assessor Harst beendete seinen Vortrag, den er seinem Vorgesetzten soeben über die Mordsache Luckner-Birt gehalten hatte, mit den Worten: „Ich glaube, dieses Beweismaterial genügt zur Erhebung der Anklage gegen diesen ebenso raffinierten wie verstockten Menschen, Herr Geheimrat.“

Der Erste Staatsanwalt streckte ihm die Hand hin und sagte herzlich: „Lieber Harst, – es genügt vollauf! Und – es ist wieder einmal Ihr alleiniges Werk, all diese feinen Fäden zu einem Netz vereinigt zu haben, aus dem es für den Täter kein Entrinnen mehr gibt. Ich danke Ihnen. Nur selten findet man unter uns Juristen einen so scharfsinnigen Kopf wie Sie. Ich habe den Herrn Minister bereits auf Sie aufmerksam gemacht, und Ihre Ernennung zum Staatsanwalt dürfte noch vor Ihrer Hochzeit erfolgen, verehrter Kollege. Diese ist doch für nächsten Mittwoch festgesetzt, wenn ich mich recht erinnere. – Auf Wiedersehen! Und – machen Sie für heute Schluß mit der Arbeit! Dieses prachtvolle Maiwetter lädt geradezu ein zu einem Spaziergang, zumal wenn man verlobt ist!“

Noch ein Händedruck, und Harald Harst kehrte in sein Dienstzimmer zurück, wo er das Aktenstück „Luckner-Birt“ wegschloß und sich dann zum Ausgehen fertig machte.[1]

Als er nun in den warmen Mittagssonnenschein hinaustrat, der den Platz vor dem Kriminalgericht in Berlin-Moabit in blendende Helle tauchte, war es genau 12 Uhr mittags. Um halb eins hatte er sich mit Marga vor dem Kaufhaus des Westens verabredet. Sie wollten dort gemeinsam einige Besorgungen erledigen. Er hatte also noch genügend Zeit, ein Stück zu Fuß durch den Tiergarten zu gehen. Inmitten der frischgrünen Lenzespracht schüttelte er gewaltsam alle Gedanken an dienstliche Angelegenheiten von sich ab, zwang sich, nur mit dem geliebten Wesen sich zu beschäftigen, das nun in kurzem sein Weib werden sollte.

Marga Milden war das einzige Kind des Senatspräsidenten Robert Milden und seiner Frau, einer geborenen Gräfin Blinkfeld. Trotz ihrer erst zwanzig Jahre war sie ein völlig ausgereifter Charakter mit ernsten Lebensanschauungen. Jedenfalls hatten sich, als sie den Assessor Harst vor einem Vierteljahr kennen und sehr bald lieben lernte, nicht gerade die Gegensätze wie so oft angezogen, denn Marga und Harald waren in der Hauptsache verwandte Naturen. Als Brautpaar wußten sie in Gegenwart anderer stets zu verbergen, wie leidenschaftlich sie sich zugetan waren. Nur im trauten Alleinsein enthüllten sie ohne Scheu ihre heißen Herzen und schwärmten in schlecht verhehlter Sehnsucht von der köstlichen Zukunft, wo sie sich dann restlos angehören durften.

Auf der Tauentzienstraße vor dem riesigen Sandsteinbau des Kaufhauses des Westens wogte wie immer um die Mittagstunde ein doppelter Menschenstrom auf der Lasterseite auf und ab. Harst schlenderte vor den großen Schaufenstern hin und her und machte seine Studien an den Menschen, die gleich ihm die Auslagen bewunderten. Er verstand sich darauf, aus winzigen Kleinigkeiten treffsichere Schlüsse zu ziehen, und es war eine fast krankhafte Angewohnheit von ihm, selbst im Straßentreiben der Millionenstadt auf alles zu achten, was ihn vielleicht auf die Spur irgend einer entweder schon vollendeten oder erst geplanten Gesetzesübertretung führen konnte. Daher wurde er auch Taschendieben besonders gefährlich. Er durfte sich rühmen, bereits mehr als ein Dutzend dieser Gauner hinter Schloß und Riegel gebracht zu haben.

Jetzt stutzte er plötzlich. War das nicht der Komiker-Maxe, Max Schraut, der doch letztens wieder wegen Handtaschen-Abkneifens ein Jahr Gefängnis bekommen hatte? – Ohne Zweifel: dieser frühere Schauspieler, der schnell zum Taschendieb auf der schiefen Bahn des Lasters herabgesunken war, mußte aus der Strafanstalt entwichen sein! Er trug jetzt eine gar nicht schlechte Verkleidung, spielte den alten, ehrwürdigen Herrn. Für Harsts Augen hatte der falsche Bart aber doch eine zu stumpfe Farbe.

Harst trat hinter den Komiker-Maxe, der es auf eine junge Dame abgesehen zu haben schien, und flüsterte ihm zu: „Gehen Sie langsam voraus in die Nebenstraße, Max Schraut. Aber – keine Dummheiten –!“

Der Taschendieb gehorchte. Er mußte große Geistesgegenwart besitzen. Er war nicht einmal zusammengezuckt bei dem unerwarteten, verhängnisvollen Befehl.

Nun aber begann er den Assessor flehentlich zu bitten, ihn laufen zu lassen. „Ja, ich bin ausgebrochen. Nur deshalb, weil meine alleinstehende Mutter todkrank ist – nur deshalb! Jetzt ist sie gestorben – gestern abend. Ich möchte ihr doch wenigstens das letzte Geleit geben. Dann – mein Wort darauf! – stelle ich mich freiwillig.“

„Und soeben wollten Sie wieder Ihren alten Trick versuchen, Schraut. Sie hatte die kleine Beißzange ja schon in der Hand.“

Der Dieb stöhnte auf. „Die – die Beerdigungskosten,“ flüsterte er, und ein paar Tränen rannen ihm in den falschen Bart.

Harst schaute ihn prüfend an, gab ihm dann einen Hundertmarkschein und sagte: „Nach der Beerdigung melden Sie sich bei mir. Ich wohne Schmargendorf, Blücherstraße 10.“

Dann schritt er davon.

– – – – – – – –

Es wurde eins. Marga erschien nicht. Und sie war doch die Pünktlichkeit selbst. Um halb zwei läutete Harst bei Mildens in der Bismarckstraße in Charlottenburg vom nächsten Zigarrengeschäft an. Seine Schwiegermutter gab ihm den Bescheid, Marga wäre bereits um zehn Uhr von Hause weggegangen.

Er war ein geduldiger und ebenso verliebter Bräutigam. Er hatte sich so sehr auf das Wiedersehen gefreut, zumal er Marga gestern nachmittag daheim nicht angetroffen und abends hatte arbeiten müssen. Noch bis zwei Uhr wollte er warten. Dann mußte er nach Hause. Seine Mutter hatte ihm heute eins seiner Leibgerichte gekocht. – Er schlenderte wieder vor dem Warenpalast auf und ab, ohne viel Hoffnung, daß die Ersehnte jetzt noch erscheinen würde. Sie hatte sicherlich eine ganz dringende Abhaltung. Anders ließ sich diese verpaßte Verabredung nicht erklären.

Um zwei Uhr rief er dann Mildens abermals an. Marga war noch nicht zurückgekehrt. Niemand wußte, ob sie etwas Besonderes vorgehabt hätte.

Leicht beunruhigt machte Harst sich auf den Heimweg. Die Straßenbahn war ziemlich leer. Er stand bequem auf der hinteren Plattform und grübelte über die Gründe nach, die dieses Stelldichein für Marga vereitelt haben könnten. Je länger er alle Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten prüfte, desto besorgter wurde er. Seine Braut, sagte er sich nun mit Recht, hätte ihn niemals vergeblich warten lassen, wenn sie nicht durch Umstände ferngehalten worden wäre, die ihre freie Entschlußfähigkeit ausgeschaltet hätten. Nur ein Unfall konnte hier vorliegen.

Ihm wurde ganz heiß bei diesem Gedanken. Dann wieder suchte er seine Angst zu zerstreuen, tröstete sich mit der Annahme, es läge vielleicht ein sehr harmloser Grund vor. Doch nur Minuten währte diese Selbsttäuschung. Wieder kroch ihm die ungewisse Furcht zum Herzen, in dem nur für weniges Raum war: für Marga, für seine Mutter und für seinen Beruf.

Von seiner Haltestelle der Straßenbahn hatte er noch einen kurzen Weg bis nach Hause. Frau Auguste Harst wohnte noch in demselben alten Gebäude, wo sie an der Seite des Tischlermeisters und späteren Holzhändlers Emil Harst 25 Jahre zufrieden und glücklich gelebt hatte und nun nach dessen plötzlichem Tode ganz in Liebe und Fürsorge für ihr einziges Kind aufging.[2]

In seinem Arbeitszimmer nahm Harst den Hörer von dem auf dem Schreibtisch stehenden Fernsprecher und ließ sich mit Mildens verbinden. Es war jetzt halb drei. Der Senatspräsident kam selbst an den Apparat. – „Lieber Harald, wir fangen an, uns zu ängstigen,“ sagte er ehrlich.

Harst erwiderte, er würde das Polizeipräsidium Berlin anrufen und bitten, bei den Unfallstationen und in den Krankenhäusern Nachfrage zu halten. Das ginge so am schnellsten. Er wäre auf dem Präsidium gut bekannt, und man täte ihm gern diesen Gefallen.

Nachdem dies erledigt war, ging er wieder zu seiner Mutter nach oben. Das Mittagessen war schon aufgetragen. Er berührte es kaum, und es herrschte ein bedrücktes Schweigen während der Mahlzeit. Frau Auguste wußte nur zu gut, daß ihr Junge sich jetzt nicht mehr durch Redensarten würde beruhigen lassen.

Nach Tisch wollte Harst sich zerstreuen, schritt im Gemüsegarten auf und ab und säuberte ein paar Rosenstöcke von Blattläusen. In dem Gärtnerhäuschen am hinteren hohen Holzzaun wohnte seit Jahren die kränkliche Witwe eines früheren Kutschers der Firma Emil Harst mit ihrem jetzt fünfzehnjährigen Jungen. Karl Malke hatte mit Harstschem Gelde das Gymnasium bis Quarta besucht. Doch er kam nicht vorwärts. Das Stillsitzen und Lernen haßte er. Jetzt pflegte er seine Mutter, besorgte allein den kleinen Haushalt und spielte bei Harsts Faktotum für alles. Der langaufgeschossene Junge mit dem altklugen Gesicht war ausgesprochen praktisch veranlagt und ein heller, findiger Kopf. Harst verehrte er, obwohl dieser den bei aller guten Charakterveranlagung recht abenteuerlustigen und unstäten Knaben häufig streng ins Gebet nahm, weil dieser noch immer für einen bestimmten Beruf sich nicht entschieden hatte, während ihm doch dank der Freigebigkeit Frau Augustes jede Laufbahn offengestanden hätte.

Zwischen Harst und Karl Malke herrschte im übrigen ein vertraulicher Ton. Der Junge, der soeben das Unkraut aus den Frühbeeten entfernte, hatte Harst eine Weile beobachtet und sagte nun zögernd: „Herr Assessor, Ihnen muß irgend was passiert sein. Sie sind so unruhig.“[3]

Harst antwortete dem Jungen, erzählte ihm von seinen plötzlichen Sorgen. – Karl hatte eigentlich für Marga nicht viel übrig, da sie es gewesen, die seiner Mutter letztens dringend geraten hatte, eine Verwandte zu sich zu nehmen, damit der Junge irgendwo in die Lehre gegeben werden könnte. Und es hatte Karl viel Tränen gekostet und all seiner Überredungskünste bedurft, ehe die Mutter ihm zugesagt hatte, noch bis zum Herbst ihm diese goldene Freiheit zu belassen.

Jetzt aber fand er doch aufrichtig gemeinte Worte, die seine Teilnahme für seines verehrten Gönners Besorgnis um die Braut verrieten.

Dann eine Stimme vom Wohnhause her, die der alten Malwine:

„Herr Harald – Herr Harald!“

Harst zuckte zusammen. Ein Etwas in diesem Ruf ließ ihn Schlimmes befürchten, irgend eine Nachricht über Margas Verbleib.

Malwines bleiches, verstörtes Gesicht sagte ihm genug. Er stürmte in sein Arbeitszimmer. Dort saß die Mutter im Schreibtischsessel mit tränenumflorten Augen.

„Mein – mein armer Junge!“ brachte sie nur mühsam hervor.

In ihrem Schoß lag der Telephonhörer mit der grünen Seidenschnur. Harst nahm ihn auf, meldete sich.

Sein Studienbekannter und Klubgenosse Kriminalkommissar von Perbram meldete sich.

Harst erblaßte. Ganz schonend teilte ihm Perbram das Furchtbare mit. Marga war vor einer halben Stunde in einer Laube des Laubengeländes an der Bahnstrecke Halensee-Heerstraße mit einer Stichwunde im Herzen tot, ermordet offenbar, aufgefunden worden.

– – – – – – – –

Harst jagte in einem Auto an den Tatort. Eine Reihe von Lauben mit sorgfältig gepflegten Gärtchen zog sich hier an der Bahn entlang. Nur die letzte Laube dicht am Rande des Grunewalds unweit des Bahnhofs Heerstraße war von dem Besitzer aufgegeben worden, sah verwahrlost aus und hatte nicht einmal mehr eine Tür. Es war nichts als eine Bretterbude mit nach hinten abfallendem Pappdach und einem großen Fenster.

Die Mordkommission war vor kaum zehn Minuten eingetroffen und hatte auch einen Polizeihund mitgebracht, der aber völlig versagte. Die Herren machten dem ihnen wohlbekannten Assessor bereitwilligst Platz. Höfliche, teilnehmende und herzliche Händedrücke nahm Harst mit völlig versteinertem Gesicht schweigend hin. Der Photograph hatte seinen Apparat gerade über der mitten in der Hütte liegenden Leiche aufgestellt. Als Harst die tote Marga erblickte, hörte er das leise Knacken des Objektivverschlusses. Das Geräusch empfand er wie einen körperlichen Schmerz. Es machte ihm klar, daß seine Braut jetzt nicht mehr sein eigen war. Sie gehörte der Kriminalpolizei; sie war – ein neuer Kriminalfall geworden.

Er schaute der geliebten Toten in das von einem Ausdruck furchtbaren Entsetzens entstellte Gesicht. Er schloß schnell die Augen. Er merkte, wie alles um ihn herum sich zu drehen begann. Doch seine Willenskraft siegte. Dann sprach er mit dem Vorsitzenden der Mordkommission ganz sachlich über dieses in jeder Einzelheit rätselhafte Verbrechen.

Nichts war in der Laube gefunden worden, das irgendwie auf den Täter hingedeutet hätte, nicht einmal die Waffe, die wahrscheinlich ein langes Dolchmesser gewesen. Der Polizeihund hatte nur dreißig Schritt nach dem nahen Vorort Halensee zu eine Fährte aufgenommen. – Was hatte Marga Milden hierher geführt? – Das war eine der Hauptfragen.[4]

Gewiß – die Leiche war vollständig ausgeplündert worden. Ringe, Brosche, das goldene Handtäschchen mit Inhalt, – alles fehlte. Dennoch erklärte der Kriminalkommissar Stolten, der Spezialist für Kapitalverbrechen war, daß er an einen Raubmord nicht recht glaube. „Der Schmuck ist nur zur Verdunkelung der Tat mitgenommen worden, Herr Assessor,“ sagte er kurz. Er war für seine rücksichtslose Art bekannt. „Da ein Mord aus Rache wohl ausscheiden muß, bleibt nur verschmähte Liebe als Motiv übrig. An diesen Punkt müssen wir uns halten. Helfen Sie mir. Kennen Sie jemand, den Fräulein Milden als Freier abgewiesen hat?“

Harst verneinte. „Meine Braut hat vor mir keinen Bewerber gehabt. Sie war eine so zurückhaltende Natur, daß sie in Herrenkreisen wenig Anklang fand.“

Nachher fuhr Harst zu seinen Schwiegereltern. Diese waren durch den Verlust des einzigen Kindes gänzlich gebrochen. Die Präsidentin hatte man zu Bett bringen müssen. Gleich nach Harst traf Kommissar Stolten ein. – „Ich bitte, mir zu gestatten, das Zimmer der jungen Dame zu durchsuchen,“ sagte er zu dem tief gebeugten Vater.

Harst half ihm und dem Kriminalwachtmeister Salewski, einem der besten Beamten der Berliner Polizei, bei dieser Arbeit. In Margas behaglichem Zimmer packte ihn abermals für Sekunden ein namenloser Jammer, dem er zu erliegen drohte. Stolten sah den halb irren Blick seiner umflorten Augen, sagte leise: „Denken Sie an die Vergeltung, Herr Assessor! Das lenkt die Gedanken wohltätig ab!“

Das war das rechte Wort zur rechten Zeit. – Vergeltung! Marga sollte gerächt werden! – So war er denn jetzt der eifrigste bei dieser peinlich genauen Durchsuchung, der nichts entging, bei der jede Kleinigkeit sorgfältig geprüft wurde, besonders alles, was an Briefen und Schriftstücken vorhanden. Doch – auch diese zweistündige Arbeit war umsonst. Dann fragte Stolten den Präsidenten und die beiden Hausangestellten, die bejahrte Köchin Marie und das Stubenmädchen Helene, beide seit Jahren bei Mildens im Dienst und goldtreu, danach aus, ob Marga vielleicht in letzter Zeit oder gar heute früh von einer ihr fernstehenden Person oder in sonstwie auffälliger Art an den Fernsprecher gerufen worden wäre. Er betonte bei dieser zwanglosen Besprechung, der er alle Förmlichkeit nahm, um die beiden Mädchen nicht einzuschüchtern, daß hier jede, auch die unscheinbarste Beobachtung von großem Wert sein könnte.

Abermals nichts! Das Dunkel, in das dieser Mord gehüllt war, wurde nur noch undurchdringlicher. – Der Präsident, Stolten und Harst vereinbarten nun, daß eine Belohnung von 20 000 Mark für die Ermittlung des Täters oder für sachdienliche Angaben ausgesetzt werden sollte.

Erst gegen sieben Uhr abends war Harst wieder daheim. Seine Mutter nahm die Hände ihres großen Jungen in die [ihren und ließ sich erzählen, was er inzwischen getan hatte.][5]

Die Tage gingen hin. Marga Milden war längst beerdigt; der Mörder aber noch immer unentdeckt. So ungeheures Aufsehen dieses Verbrechen auch zunächst in der Reichshauptstadt erregt hatte, – nur zu bald drängte es der stetig neue Sensationen erzeugende Pulsschlag der Millionenstadt immer mehr in den Hintergrund. Trotzdem blieb der Eifer der Polizei und verschiedener Privatdetektive, die freiwillig der hohen Belohnung wegen sich der Sache angenommen hatten, noch eine Weile der gleiche. Doch: jedes Streben muß früher oder später erlahmen, wenn es auch nicht von dem geringsten Erfolg gekrönt wird. Und so war es hier. Nirgends der kleinste Hinweis auf den Täter, nirgends die Möglichkeit, ein Motiv für diese Ermordung eines jungen, harmlosen Weibes zu finden!

Harald Harsts Gemütszustand änderte sich nicht. Er hatte sich sofort auf längere Zeit von seiner Behörde beurlauben lassen, wollte später seinen Abschied einreichen und auf Reisen gehen. Die abwechselnden Eindrücke fremder Länder und Völker sollten ihm helfen, sein seelisches Gleichgewicht wiederherzustellen. Frau Auguste hatte ihm dies geraten.[6]

Frau Auguste drängte den Sohn immer wieder, abzureisen und zunächst nach Italien zu gehen. Inzwischen waren ja seit Margas Tod zwei Wochen verstrichen, ohne daß in Harald Harsts Seelenzustand auch nur die geringste Änderung eingetreten wäre. Vor- und nachmittags wanderte er auf den Kirchhof an das Grab der Geliebten. Nachmittags verbrachte er zumeist noch eine Stunde in ihrem Zimmer, in dem auf seinen Wunsch nicht das geringste geändert worden war. Dort saß er dann in dem Korbsessel am Fenster und grübelte regungslos vor sich hin. – So auch jetzt. Draußen lachte die Sonne. Aber in Harsts Seele war tiefste Nacht eines Schmerzes, den er nie verwinden würde. Er erhob sich schwerfällig, wollte noch für eine halbe Stunde mit seinen Schwiegereltern zusammensein, die seine Gegenwart als Trost empfanden. Beim Aufstehen schob er das nur aufgelegte Sitzkissen des Korbsessels nach vorn. Es fiel herab, und gleichzeitig auch ein zusammengeknülltes Taschentuch, das Harst schon früher bemerkt hatte. Es war halb unter das Kissen von der Seite geklemmt gewesen. Er hatte es bisher nicht beachtet. Jetzt hob er es mit auf. Unwillkürlich führte er es an die Nase. Es mußte ja eines von Margas Tüchern sein, und er wollte den feinen Heliotropduft einatmen, der allen ihren Sachen ganz unaufdringlich anhaftete.

Plötzlich weiteten sich seine Augen. Sein Kopf fuhr hoch, und mit einem Ausdruck ungläubigen Staunens breitete er das Tüchlein nun aus, sah es sich genauer an, stutzte wieder und schaute sinnend über die gegenüberliegenden Dächer hinweg in das endlose Blau des sonnendurchstrahlten Himmels.

Sein Gesicht veränderte sich langsam. Ein belebter Ausdruck strich die feinen Falten hinweg, die die letzte Zeit um seinen Mund eingegraben hatte. Er verließ das Zimmer, schloß die Tür wie stets hinter sich ab, steckte den Schlüssel zu sich und ging in die Küche, wo das Stubenmädchen am Fenster silberne Löffel putzte. Er fragte Helene, ob Marga dieses Taschentuch gehöre oder ob es vielleicht Eigentum seiner Schwiegermutter sei. Das Mädchen verneinte. „So billiges Zeug besitze ich nicht mal, Herr Assessor,“ erklärte sie. „Es ist son Ding, nur fürs Ansehen berechnet. Und noch der häßliche rosa und hellblau gestreifte Rand!“ Sie nahm es und faltete es auseinander.

„Oh – das ist ja auch Patschuli-Parfüm! Wie zuwider war dieser Geruch dem gnädigen Fräulein! Ich weiß das nur –“ Sie stockte plötzlich und wurde rot und verlegen.

Harst wurde jetzt mit einem Schlage ein anderer, wurde wieder der, dessen scharfer Geist den Aufbau einer Anklageschrift zu einem übersichtlichen, mit den feinsten logischen Schlußfolgerungen ausgestatteten Kunstwerk gestaltet hatte. Das Taschentuch hatte ihn wach gerüttelt. Und des Mädchens verlegenes Rotwerden sagte ihm weiter, daß er hier vielleicht auf etwas gestoßen war, das mit Margas unerklärlicher Ermordung irgendwie im Zusammenhang stand, wenn auch in einem ganz lockeren.

Er blieb äußerlich jedoch ganz ruhig. Er durfte Helene nicht merken lassen, daß er diesem Tüchlein eine besondere Bedeutung beimaß. Sie war ein scheues, ängstliches Ding, und schon bei jenem zwanglosen Verhör durch Stolten hatte sie deutlich gezeigt, daß jeder Polizeibeamte für sie wie für viele Leute trotz des besten Gewissens ein Schrecknis war. Er glaubte bereits ziemlich bestimmt, daß sie über die Herkunft dieses Tüchleins irgend etwas wüßte, war aber auch ebenso überzeugt, daß sie aus irgend welchen Gründen ihn belügen würde, wenn er sie gerade heraus danach fragte. – „Das Tuch lag im Musikzimmer auf der Tastatur des Flügels unter dem Deckel,“ meinte er gleichgültig. „Sie haben ganz recht, Helene, – es ist billigste Schundware. – Habt ihr vielleicht in letzter Zeit eine Reinemachefrau im Hause gehabt. Der mag es dann gehören.“

Bei der Erwähnung des Flügels hatte das Mädchen ihn so überrascht angesehen, wie dies nur jemand getan hätte, der genau Bescheid wußte, daß das Taschentuch gerade dort nicht vergessen sein konnte. – Harst war jedenfalls mit dem Erfolg dieses ersten Versuchs, Helene in die Enge zu treiben, ganz zufrieden. Als das Mädchen nun erklärte, Mildens nähmen nie Reinemachefrauen an, meinte er: „Wer mag es dann hier in der Wohnung nur zurückgelassen haben? Kennen Sie vielleicht die betreffende Person?“ – Sehr hastig verneinte Helene diese Frage, so hastig und so scheu zur Seite blickend, daß Harst ihr jetzt am liebsten zugerufen hätte: „Sie lügen ja!“ – Er hütete sich, es zu tun, sagte vielmehr: „Schließlich ist das ja auch gleichgültig.“ Dann fragte er noch nach dem Ergehen von Helenes Bräutigam, der unlängst in seiner pommerschen Heimat als Zimmerpolier an einem rostigen Nagel sich eine Blutvergiftung zugezogen hatte. Dabei steckte er das Tuch ganz unauffällig zu sich.

Nachher nahm er ein Auto und fuhr nach dem Laboratorium des Gerichtschemiker Doktor Heiker. Dieser arbeitete noch an einer Blutuntersuchung. Harst kannte ihn seit längerem persönlich. Auf Heikers Schweigen konnte er sich verlassen. Er teilte ihm das Nötige mit, zeigte ihm das Tüchlein und erklärte weiter: „Ich fand es in einer Weise zerknüllt vor, daß ich vermute, es muß feucht – vielleicht von reichlich vergossenen Tränen – unter das Sitzkissen geschoben worden sein. Bitte, untersuchen Sie es, Herr Doktor. Tränen enthalten ja wohl außer salzigen noch andere kennzeichnende Bestandteile.“

Dann begab er sich heim. Vor der Gitterpforte des Vorgartens ging ein ärmlich gekleideter, älterer Mann mit dünnem, leicht ergrautem Vollbart auf und ab. Harsts Gedanken waren noch bei Helene Burg und dem Tüchlein. Sonst hätte er den Mann wohl schärfer gemustert. Er war schon an ihm vorüber, als eine leise Stimme ihn anrief: „Herr Assessor – einen Augenblick.“

Harst drehte sich um. Ein prüfendes Anschaun, dann: „Ah – also doch! Ich glaubte schon, Sie würden sich nicht mehr sehen lassen, Max Schraut. – Sind Sie krank gewesen? Ihr Gesicht ist inzwischen ja der reine Totenkopf geworden.“

„Sehr krank, Herr Assessor. Ich bin erst heute früh aus dem Krankenhaus entlassen worden, wo ich mit falschen Papieren wegen Lungenentzündung Aufnahme gefunden hatte. Ich habe deshalb auch der Beerdigung meiner Mutter nicht beiwohnen können. – Aber auch Sie sehen schlecht aus, Herr Assessor, – ganz verändert, ganz grau im Gesicht.“

Harst überlegte kurz. Dann forderte er den Taschendieb auf, mit in seine Wohnung zu kommen. Hier sagte er zu ihm: „Ich müßte Sie nun eigentlich der Polizeibehörde übergeben. Für die Gefängnisluft sind Sie jedoch noch zu elend. Sie sollten sich erst bei mir erholen, wo niemand Sie verraten wird. Ich stelle aber eine Bedingung. Meine Braut ist ermordet worden. Sie scheinen von diesem Verbrechen im Krankenhaus nichts gehört zu haben. Ich beabsichtigte, da der Täter bisher nicht entdeckt ist, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Sie und noch jemand, ein Knabe, sollen mir dabei helfen. – Wollen Sie’s tun?“

Komiker-Maxe begann vor Rührung zu weinen. „Ob ich will! Natürlich! – Herr Assessor, Sie sollen an mir einen treuen Gehilfen haben. Ich bin noch nicht so tief gesunken, um einem Manne wie Ihnen gegenüber undankbar zu sein.“

Max Schraut bezog eins der unbenutzten Erdgeschoßzimmer. Bereits nach einer Stunde fand dort zwischen ihm, Harst und Karl Malke eine längere Besprechung statt. Und noch an demselben Abend übernahm eine Berufspflegerin, die Harst bezahlte, die Wartung der kränklichen Witwe des früheren Kutschers.

– – – – – – – –

Frau Auguste Harst konnte an diesem Abend sich gar nicht genug über die plötzliche Veränderung wundern, die mit ihrem geliebten großen Jungen vor sich gegangen war. Dann erfuhr sie nach dem Abendessen den Grund. Harald erzählte ihr alles, was der heutige Nachmittag ihm gebracht hatte und was er nun weiter plante.

Sie drückte seine Hände. „Recht so, mein Junge, recht so! Nun wirst du wieder aufleben – Gott sei Dank!“

Ja – Harst lebte sehr schnell wieder auf. Am folgenden Vormittag erschien er bei Mildens. Sein Benehmen freilich ließ nicht erkennen, daß er mit fieberhaftem Eifer eine schwache Fährte weiterzuverfolgen sich bemühte. Er schien abermals nur in Margas Zimmer eine Weile seinen schmerzlichen Gedanken nachhängen zu wollen. Er schloß sich ein und begann dann sofort nochmals den zweifenstrigen Raum zu durchsuchen. Damals hatte Kommissar Stolten ja auch jenes buntgeränderte Tüchlein in der Hand gehabt und es als wertlos wieder unter das Sitzkissen an dieselbe Stelle geschoben. Hatte er das Taschentuch auf diese Weise unbeachtet gelassen, konnte ein gleiches leicht auch mit anderen Dingen geschehen sein.

Harst suchte geduldig und mit jener kühlen, klaren Überlegung, die ihm vor Margas Verlust stets zu eigen gewesen. Den kleinen, modernen Damenschreibtisch nahm er zuletzt vor. In der Schublade unter der Platte lagen seine Briefe, die er an Marga geschrieben, obwohl sie sich fast täglich gesehen hatten. Daneben stand eine elegante Stahlkassette, in der der Schlüssel noch von der ersten Durchsuchung steckte. Darin befand sich unter anderem Margas Sparkassenbuch. Harst besichtigte es. Auch Stolten hatte dies getan und es wieder weggelegt. Harst prüfte die Abhebungen jetzt wie alles hier mit kritischem Geist. Dann steckte er das Buch zu sich. Sonst aber fand auch er nichts weiter, das ihm beachtenswert erschienen wäre. Er ging nun zu seiner Schwiegermutter hinüber, brachte das Gespräch unauffällig auf Margas bescheidene Geldbedürfnisse und fragte, ob sie in letzter Zeit wohl größere Ausgaben gehabt hätte. Die Präsidentin verneinte. „Im Gegenteil – eigentlich war sie seit ihrer Verlobung noch sparsamer. Sie wollte, wie sie sagte, doch wenigstens ein paar Pfennige Mitgift Dir mit einbringen, lieber Harald, da wir ja nur die Aussteuer geben konnten.“

Harst verabschiedete sich bald und ging nach der Nebenstelle der Städtischen Sparkasse, nahm den betreffenden Beamten beiseite und fragte, ob diesem Fräulein Marga Milden vielleicht von Ansehen bekannt sei. Der Beamte nickte eifrig. „Sehr gut sogar. Die junge Dame brachte häufig kleinere Beträge. Wir alle hier von der Nebenstelle haben ihren Tod aufrichtig bedauert. Noch am Tage vor ihrer Ermordung hat sie fünfhundert Mark abgehoben.“

„Ja – und zehn Tage vorher vierhundert Mark. – Ich bin ihr Verlobter, Assessor Harst. –Ich danke Ihnen für die Auskunft.“

Harst fuhr weiter zum Polizeipräsidium. Stolten war nicht anwesend, aber Wachtmeister Salewski konnte ihm den Bescheid geben, daß bisher von den Marga geraubten Schmuckstücken nichts bei Händlern oder Hehlern aufgetaucht wäre. Als sie noch miteinander sprachen, trat Stolten ein. Er kam von einem „neuen Fall“. An der Jannowitzbrücke hatte man eine weibliche Leiche aufgefischt, die schon längere Zeit im Wasser gelegen haben mußte und deren Schädeldecke durch Hammerschläge zertrümmert worden war, während das Gesicht – fraglos von dem Mörder – durch Messerschnitte vollständig unkenntlich gemacht worden war. – „Abermals eine ziemlich aussichtslose Sache,“ meinte Stolten mißgestimmt. „Nichts an der Leiche vorhanden, das eine Rekognoszierung erleichtert. Aus der Wäsche sind sogar die Monogramme herausgeschnitten worden.“ Er faßte in die Brusttasche und holte ein in Zeitungspapier gehülltes flaches Päckchen heraus und warf es auf den Tisch. „Nur ein Taschentuch fand ich bei der Toten, die noch jung gewesen sein muß und deren Kleidung billigster Tand ist.“

Harst griff nach dem Päckchen mit einem „Sie gestatten doch,“ wickelte das noch feuchte Tüchlein aus und sagte dann, nachdem er es berochen hatte: „Wie lange gerade Patschuli selbst im Wasser seine Duftkraft bewahrt!“

„Stimmt!“ meinte Stolten. „Auch die Seidenbluse der Ermordeten hat den Geruch noch festgehalten.“

Harst hatte alle Mühe, seine Erregung zu verbergen.

„Die Tote bleibt doch noch einige Zeit im Schauhause?“ fragte er nun. „Ich möchte sie mir ansehen. Seit dem Morde an meiner Braut interessieren mich alle Kapitalverbrechen.“ Dann verließ er das Präsidium.

Stolten sagte kopfschüttelnd zu Salewski: „Merkwürdig! Bisher habe ich nichts davon bemerkt, daß Harst für Morde größeres Interesse hat. Nun – mag er! Für den armen Menschen wär’s ganz gut, wenn er sich bemühte, sein Unglück zu vergessen.“ –

Harald Harst begab sich zu Doktor Heiker. Dieser begrüßte ihn sofort mit den Worten: „Ihre Vermutung trifft zu. Das Taschentuch muß von Tränen ganz durchweicht gewesen sein. Außerdem befindet sich darauf am Rande ein Fleck von roter Fettschminke.“

Harst dankte, zahlte vierzig Mark und kehrte, das von ihm leicht angefeuchtete Tüchlein in der äußeren Jackentasche, nach dem Präsidium zurück. Stolten war noch mit dem Bericht über den neuesten Fall beschäftigt. Das bei der Wasserleiche gefundene Tuch lag neben ihm auf dem Schreibtisch. Harst fragte, ob Stolten es für zweckdienlich hielte, nochmals eine große Anzeige unter Hervorhebung der Belohnung von 20 000 Mark in die Zeitungen einzurücken. Der Kommissar meinte, schaden könnte es nichts, obwohl er die Hoffnung schon beinahe aufgegeben hätte, daß der Mord an Marga Milden jemals aufgeklärt werden würde. Harst nahm das [Tüchlein vom Tisch und besichtigte es, hielt es auch gegen das][7] Licht und sagte so nebenbei:

„Die Ermordete scheint Schminke benutzt zu haben. Ich sehe hier einen rötlichen Schimmer in der einen Ecke.“

„Ganz recht, Herr Assessor. Es wird Schminke sein. Die Tote war ja auch wie eine Theaterprinzessin fünften Ranges gekleidet – alles Schein und Schund!“

Harst entschuldigte sich, abermals gestört zu haben, und fuhr mit der Ringbahn bis Schmargendorf. Er hätte „sein“ Tüchlein, das dem andern ja völlig glich, leicht gegen dieses bei Stolten vertauschen können. Er hatte es auch beabsichtigt, um das andere bei Doktor Heiker gleichfalls auf Spuren von Fettschminke untersuchen zu lassen, aber es war dann nicht mehr nötig gewesen. Er hatte ja selbst die rötliche Stelle in der einen Ecke bemerkt.

Seit Wochen spielte jetzt wieder einmal ein leises Lächeln um Harald Harsts Lippen. Es war ein Lächeln voller Zufriedenheit mit dem, was er bisher erreicht hatte.

In dem alten Hause in der Blücherstraße empfing ihn die Mutter mit der Mitteilung, der Schauspieler hätte bereits zweimal vor kurzem Harald am Telephon verlangt. „Du sollst diese Nummer hier anrufen. Ich habe sie mir aufgeschrieben, mein Junge,“ fügte sie hinzu.

Harst hatte den Komiker-Maxe, den er seiner Mutter als harmlose Zufallsbekanntschaft vorgestellt hatte, denn vor einem Taschendieb und Ausbrecher hätte selbst das mitleidige Herz Frau Augustens wohl gestreikt, sehr bald am Apparat.

„Sie ist mit Koffer, Karton, Hutschachtel und zwei Schirmen um elf Uhr von M’s direkt nach dem Stettiner Bahnhof mit der Straßenbahn gefahren,“ meldete Schraut. „Dann hat sie eine Fahrkarte nach Pasewalk gelöst und sitzt nun im Wartesaal, da ihr Zug erst zwei Uhr dreißig abgeht.“

Harst hätte diese Nachricht nie vermutet. Also Helene Burg machte sich aus dem Staube! – Er hatte sie durch Schraut und den Jungen abwechselnd bewachen lassen, um dahinter zu kommen, mit wem sie verkehrte. Und nun reiste sie ganz plötzlich ab, nachdem er gerade kurz vorher Margas Zimmer durchsucht hatte! Ob er dabei etwa von ihr durch das Schlüsselloch beobachtet worden war? Möglich war’s schon! Er hätte das Schlüsselloch verhängen sollen. Nun – diese plötzliche Fahrt nach ihrer Heimatstadt, wo ja auch ihr Verlobter wohnte, war vielsagend genug.

Harst erteilte Schraut nun den Bescheid, er würde ihm seinen eigenen kleinen Koffer und eine größere Geldsumme durch Karl nach dem Stettiner Bahnhof schicken. „Bleiben Sie ihr also auf den Fersen, Schraut! Und sobald Sie etwas Wichtiges festgestellt haben, sofortige Nachricht durch Ferngespräch. – Auf Wiedersehen – guten Erfolg!“

Dann rief er die Präsidentin an. – „Liebe Mama, eure Helene wollte mir die Adresse einer guten Handschuhwäscherin geben –“ – „Schade, lieber Harald. Sie ist vor anderthalb Stunden auf eine Depesche hin, daß es ihrem Verlobten schlechter ginge, nach Pasewalk Hals über Kopf abgereist. Ich habe den Eindruck, daß sie nicht mehr zu uns zurück will, und werde mich daher leider nach Ersatz umsehen müssen.“ – „Hat sie Dir die Depesche gezeigt?“ – „Nein. – Und – merkwürdig! – vorhin vertraute mir Marie an, daß sie dieses Telegramm für lediglich erfunden hielte. Du scheinst ja auch diesen Verdacht zu hegen.“ – „Vielleicht, Mama. – Wiedersehen.“

Frau Auguste Harst hatte all dies mitangehört und meinte nun ganz verwirrt:

„Junge, hältst du etwa das Stubenmädchen für – für die Mörderin?“

„Aber Mutter! – Ausgeschlossen! Ich sage Dir schon zur rechten Zeit, wer mir mein Lebensglück vernichtet hat und – wen ich vernichten werde!“

Frau Harst eilte nach oben in die Küche an den geliebten Kochherd. Harald ging langsam in seine Bibliothek hinüber. Hier hing an der Wand ein Haustelephon, das nach dem Gärtnerhäuschen führte. Er bestellte den Jungen zu sich. – Karl Malke sah heute wie ein junger Geck aus. Harst schenkte ihm stets seine meist noch tadellosen Sachen, die ein gefälliger Onkel Schneidermeister dem langen, dünnen Burschen dann umarbeitete.

Der Junge war natürlich Feuer und Flamme für sein „neuestes Metier“, wie er sich vornehm ausdrückte. Er durfte Detektiv spielen, kein Wunder, daß ihm dies zusagte! – Zehn Minuten später verließ er eiligst das Haus, fuhr stolz im Auto nach dem Stettiner Bahnhof und traf hier mit Komiker-Maxe zusammen, der noch seine Verkleidung als älterer, einfacher Mann trug.

„Ich beneide Sie, Herr Schraut,“ meinte der Junge ehrlich. „Ich möchte für mein Leben gern an Ihrer Stelle nach Pasewalk fahren. Es wird dort mächtig interessant werden. Wissen Sie, ich denk’ mir, der Herr Assessor hat den Bräutigam im Verdacht –“

„Abwarten, Karl. – Unser Auftraggeber wird im übrigen wohl auch hier noch für Dich lohnende Arbeit finden.“

Karl verabschiedete sich. „Unsre Pflegerin bäckt heute zu Mittag Kartoffelpuffer. Da muß ich zur Zeit zurück sein. Kalt sind die Dinger wie Leder. – Na – alles Gute, Herr Schraut!“

Er schritt dem Ausgang der Vorhalle zu. Dann kam ihm der Gedanke, sich doch noch schnell mal von ferne die im Wartesaal sitzende Helene Burg anzusehen. Er machte kehrt. Oben in der Halle vor den Bahnsteigen blieb er jedoch plötzlich stehen und trat dann hinter den Zeitungskiosk. Er hatte Schraut bemerkt, der im Gespräch mit einem sehr großen, hageren, elegant gekleideten Herrn vor der Tür des Waschraumes stand. Harst hatte ihm nun im Vertrauen mitgeteilt, daß der ehemalige Schauspieler von der Polizei gesucht würde und daß daher niemand etwas von dessen Anwesenheit im Hause erfahren dürfte. Karl hegte aus demselben Grunde ein gelindes Mißtrauen gegen Komiker-Maxe, der doch wohl verschiedenes auf dem Kerbholz haben mußte. Als er ihn nun in so eifriger Unterhaltung mit dem langen Hageren sah, regte sich in ihm sofort der Wunsch, hier mal auch ohne Auftrag handelnd aufzutreten. Er wartete also, bis die beiden sich mit einem Händedruck trennten, und schlich dem Hageren dann nach. Dieser schlenderte der Friedrichstraße zu und stellte sich hier vor ein von Passanten dicht belagertes Schaufenster, in dem als Reklame für ein Spielwarengeschäft mechanische Puppen allerhand Künste zeigten. Der aufgeweckte Junge ließ kein Auge von dem Zylinder-Onkel, wie er ihn bereits getauft hatte, da der Lange eine glänzende Angströhre, dazu auch noch Monokel trug. Karl betrachtete ihn nun sehr genau aus nächster Nähe. Der Hagere hatte ein gelbliches, schmales Gesicht, aufgedrehten schwarzen Schnurrbart und sehr starke schwarze Augenbrauen. Er sah ganz wie ein Italiener aus – nach des Jungen Ansicht.

Dann beobachtete er etwas, das er noch nie in seinem Leben mitangesehen hatte. Nur gelesen hatte er darüber in Zeitungen und Büchern. Doch nun konnte er sich selbst davon überzeugen, daß es wirklich solche Leute mit so unheimlicher Fingerfertigkeit gab.

Sein Ehrgeiz aber wurde noch reger. Er mußte unbedingt herausbekommen, wo dieser lange Zylinder-Onkel wohnte, denn er wollte Harst keine halben Neuigkeiten überbringen. Mochten die Kartoffelpuffer auch kalt werden! –

Harst wunderte sich, daß Karl noch immer nicht zurück war. Die Uhr ging nun bereits auf vier. Er saß jetzt an dem im Bibliothekszimmer stehenden Stutzflügel und spielte Wagner – den Fliegenden Holländer –, wenn auch nur mit leisem Anschlag. Er liebte die Musik, und er besaß ein Gehör, das ihm gestattete, alles auswendig zu spielen. Seit Margas Ermordung berührte er heute die Tasten wieder zum ersten Mal. Vordem hatte er stets am Flügel phantasiert, wenn er eine besonders schwere berufliche Arbeit vorhatte. Niemals flogen ihm bessere, klarere Gedanken zu, als wenn seine Ohren von einer Flut von Tönen umrauscht wurden. Es war, als ob die Töne Brücken bauten von einer Schlußfolgerung zur anderen.

Er spielte – und sein Denken umspielte die bisherigen Erfolge seiner Nachforschungen.

Plötzlich stand er auf. – Er mußte herausbringen, wer die unkenntlich gemachte Tote war, – diese herausgeputzte Frau, die ein Taschentuch bei sich getragen, das dem auf dem Korbsessel in allem glich: Stoff, bunter Rand, Patschuligeruch und rote Fettschminke-Flecken! – Er mußte es herausbringen, koste es, was es wolle. Geld – davon besaß er ja übergenug.

Es klopfte an der Tür nach dem Flur. – Endlich – es war Karl Malke. Harst sah ihm sofort an, daß er besondere Nachrichten mitbrächte.

„Setz’ dich! Lege los! Du bist vollgepfropft mit Neuigkeiten,“ meinte er freundlich.

„Merken Sie mir das denn an, Herr Assessor? – Ne – hab’n Sie ’n Blick! – Es stimmt nämlich!“ Und er erzählte, daß der Hagere vor dem Schaufenster einer Dame aus der Handtasche die Börse herausgefischt und daß jener darauf bei Kempinski zu Mittag gegessen hätte. „Ein Glück, daß ich so ’ne anständige Kluft habe. Sonst hätten sie mich bei Kempinski nich reingelassen. Ich habe dort auch gegessen. Von den zwanzig Mark zu Auslagen, die Sie mir gaben, ist nun nicht mehr viel übrig, denn nachher ging der Lange noch ins Tauentzien-Cafee, dann schließlich nach Hause. Er wohnt Kantstraße 5, drei Treppen in einem Pensionat. Ich hab’ aus dem Sohn vom Hauswart dort auch den Namen rausgelockt? Violinenkünstler Arpad Czigan. – Ein netter Violinenkünstler! Taschendieb ist er – nischt weiter!“

„Du hättest Dir diese Mühe sparen können, Junge,“ meinte Harst. „Trotzdem, wenn Du wieder mal zu solchen Feststellungen Gelegenheit hast, spiele nur abermals den heimlichen Verfolger, – zur Übung! – Den Rest von den zwanzig Mark behalte. Hier hast Du weitere Fünfzig für notwendige Auslagen.“

Karl schob etwas enttäuscht ab. Er hatte gehofft, Harst würde den Hageren von ihm beobachten lassen. Er bedauerte, jetzt wieder „ohne Arbeit“ zu sein. Das Abenteuer heute hatte ihm so viel Spaß gemacht, wenn ihn auch die Kellner so merkwürdig lächelnd bei Kempinski und im Tauentzien betrachtet hatten.

– – – – – – – –

Harst saß wieder am Flügel. Er spielte jetzt Beethoven. Dabei überlegte er, ob er sich mit diesem Arpad Czigan, der ihm nach des Jungen Beschreibung ein völlig Fremder war, näher beschäftigen solle. Dann sagte er sich, daß es in keinem Falle etwas schaden könnte, wenn er sich diesen „Künstler“ selbst einmal ansehen würde, zumal er sich ohnedies für verpflichtet hielt, bei der Kriminalpolizei den Taschendieb anzuzeigen. Da er annehmen konnte, daß der Gauner den gegen Abend wieder lebhafter werdenden Straßenverkehr für sein nur in dichten Menschenmassen auszuübendes Gewerbe ausnutzen würde, schrieb er zunächst an Stolten einen Rohrpostbrief und erklärte darin, aus eigener Tasche eine Belohnung von 5000 Mark dem zuzusichern, der über die verstümmelte Tote nähere Angaben liefern könnte. – Dann fuhr er nach der Kantstraße, kaufte sich dort bei einem Optiker zur Vorsicht eine Sonnenbrille mit grauen Gläsern, um sich für alle Fälle wenigstens etwas unkenntlich zu machen. Es war dies sein erster Versuch auf dem Gebiete der Verkleidungskunst. Es blieb nicht der letzte. Später, als er auch hierin Besseres als der beste Schauspieler leistete, belächelte Harst noch oft diese harmlose graue Brille.

Kantstraße 5 schräg gegenüber lag eine Buchhandlung. Dort vor dem Schaufenster längere Zeit die Bücherschätze sich anzusehen, konnte kaum auffallen. Harsts Geduld wurde auf eine schlimme Probe gestellt. Erst gegen[8] sieben Uhr abends verließ ein Herr, auf den Karls Beschreibung in jeder Einzelheit paßte, das Haus. Im Menschenstrom der Tauentzienstraße, in dem der Hagere nun verschwand, gelang es Harst sehr bald, ihn sich genauer und aus der Nähe anzusehen. Sein Personengedächtnis und seine Fähigkeit, selbst anders zurechtgestutzte Gesichter schnell zu erkennen, bewährte sich auch jetzt wieder.

Arpad Czigan, dachte Harst, du warst früher blond, hattest einen Spitzbart und starke blonde Augenbrauen. Aber ein Taschendieb warst Du auch als Paul Menkwitz, nebenbei auch noch Einbrecher, doch stets ein sehr eleganter. Fraglos hast du auf dem Stettiner Bahnhof Deinen Zunftgenossen Komiker-Maxe wiedererkannt und angesprochen, denn umgekehrt wär’s kaum geschehen. Ich glaube nicht, daß Schraut sich über die Begegnung mit Dir gefreut hat, – genau so wenig, wie Du bei meinem Anblick in Entzücken geraten würdest.

So dachte Harst und hielt sich nun in größerer Entfernung hinter dem „Künstler“. Vielleicht gelang es ihm, Paul Menkwitz alias Monokel-Paul bei einer neuen Fingerfertigkeit zu ertappen. Ein weitergehendes Interesse hatte er nicht an dessen Person. Er hatte zur Zeit nichts Besseres vor, und nur deshalb gab er diese Beobachtung des eleganten Spitzbuben noch nicht auf. Sehr bald sprach ihn dann jedoch ein Bekannter an, der gleich ihm Mitglied des Universum-Klubs war, einer Vereinigung, die neben der Pflege der Geselligkeit auch durch wissenschaftliche Vorträge auf allen Gebieten eine verfeinerte geistige Kost bot. Harst sah gerade noch, daß Monokel-Paul den Laden des Juweliers Birnbacher betrat.

„Lieber Harst, haben Sie kranke Augen?“ meinte der Kommerzienrat Kammler und drückte ihm herzlich die Hand. „Ich hätte Sie beinahe nicht wiedererkannt. Die Brille entstellt Sie sehr.“

„Nur eine ganz leichte Bindehautentzündung.“

Sie schritten zusammen weiter.

„Harst, Sie sollten sich mal wieder im Klub sehen lassen,“ sagte der noch recht stattliche Großkaufmann und schob seinen Arm vertraulich in den des Assessors. „Gewiß, Sie haben Trauer. Aber die Vortragsabende versäumen Sie nicht. Heute abend spricht unser Kriminalist von Perbram – er ist ja wohl ein Schulfreund von Ihnen – über „Moderne Verbrecherjagd“. Das muß Sie als Assessor bei der Staatsanwaltschaft doch auch interessieren.“

Harst erklärte, er würde sich den Vortrag vielleicht anhören. – Dann kam der Kommerzienrat auf Margas Tod zu sprechen. „Wenn die Polizei doch nur Erfolg hätte und den Mörder erwischte,“ meinte er.

„Ich habe wenig Hoffnung. Vielleicht gelingt es einem Privat- oder einem Liebhaberdetektiv, der sich ausschließlich mit dem einen Fall beschäftigt.“

„Lassen Sie mich mit der ganzen Detektivspielerei in Ruhe!“ meinte Kammler geringschätzig. „Die Erfolge solcher Leute möchte ich mal sehen! Ich bitte Sie: wo die mit tausend Hilfsmitteln arbeitende Polizei nichts erreicht, kann doch ein Privatmann erst recht nichts ausrichten! Ich ließe gern eine runde Million springen, wenn mir jemand so ’n Wundertier mal zeigt, das zum Beispiel imstande wäre, Ihre arme Braut zu rächen. Jede Wette gehe ich ein: nur die Polizei fängt den Täter, falls er überhaupt zu fangen ist!“

„Wette – hm?! Vielleicht würde sich’s lohnen,“ sagte Harst sinnend.

Gleich darauf trennten sie sich. Kammler hatte es wie immer sehr eilig. Er war Junggeselle, schwerreich und alles in allem ein Original.

Juwelier Birnbacher wollte gerade den Laden schließen, als Harst noch Einlaß begehrte. Einen so guten Kunden wie den Assessor durfte man nicht abweisen. Birnbacher verriegelte hinter ihm die Tür und zog die Vorhänge zu.

„Herr Birnbacher,“ begann Harst, „Sie könnten mir einen Gefallen tun. Soeben muß ein Herr hier bei Ihnen gewesen sein – groß, hager, Zylinder, Monokel, Perle in der Krawatte.“ – Der Juwelier nickte. – „Würden Sie mir vielleicht sagen, was dieser Herr gewollt hat?“ fragte Harst weiter. „Ich nehme an, er wird Ihnen etwas zum Kauf angeboten haben.“

Birnbacher nickte wieder. „Halb und halb trifft’s zu, Herr Assessor. Er wollte etwas repariert haben. Als ich ihm dann jedoch erklärte, die Reparatur lohne kaum mehr, da sie sehr teuer werden würde, wurden wir schnell über den Verkauf handelseinig.“

„Und – was für ein Gegenstand war’s?“

Der Juwelier zog eine Schublade unter dem Verkaufstisch und legte das Betreffende auf eins der sammetbespannten Brettchen.

Harald Harst griff danach. Birnbacher sah, daß der Assessor für einen Augenblick die Farbe wechselte. Dann sagte Harst schon: „Was verlangen Sie dafür?“

Als der Assessor nun den Laden wieder verließ, hatte der Juwelier zweihundert Mark verdient. Daß Harst von ihm strengstes Stillschweigen über dieses gute Geschäft verlangt hatte, bewies ihm, daß mit dem langen Hageren irgend etwas nicht ganz in Ordnung war.

Harst stieg in der Tauentzienstraße in eine leere Taxameter-Droschke. Er hätte auch ein Auto bekommen können. Aber die langsamere Gangart der Droschke war ihm jetzt angenehmer. Sein Inneres war in einem Aufruhr wie nie zuvor. Niemals hätte er geglaubt, daß man gerade als Detektiv bei der Verfolgung einer zunächst recht unsicheren Fährte Minuten eines so alle anderen Empfindungen verdrängenden Triumphs durchkosten könnte.

Er zwang sich zur Ruhe. – Marga, Du wirst gerächt werden, dachte er. Noch schweben all diese Fäden, die ich gefunden habe, frei in der Luft. Aber ich halte sie bereits an dem einen Ende, und vielleicht kann ich sie sehr bald zu einem festen Gespinst vereinen, in dem dann eine mordgierige Wespe sich zu Tode zappeln wird. –

Die Wagenfahrt tat ihm wohl. Seine Gedanken eilten jetzt voraus zu seinen Schwiegereltern. Es würde nicht ganz einfach sein, von diesen unauffällig die Auskünfte zu erlangen, die er haben mußte. Er wollte Mildens noch nicht in seine Absichten einweihen, obwohl er kaum mehr mit einem Fehlschlag rechnete.

Er fand dann nur die Präsidentin vor. Doch das war ihm lieb. Er begann vom Wetter zu sprechen, erzählte dann, er hätte soeben einen Bekannten getroffen, der leider im Leben gestrauchelt sei. – „Es ist doch recht schmerzlich, wenn man sieht, wie ein Mensch, der einmal zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, immer tiefer von Stufe zu Stufe sinkt,“ meinte er und redete all das zu einem bestimmten Zweck. „Ich kann solchen Leuten gegenüber nie hart sein, wenn sie mich anbetteln. Ein anderer hätte diese fragwürdige Bekanntschaft verleugnet und wäre weitergegangen. Ich bringe so etwas nicht fertig. Ich glaube, Marga glich mir auch in dieser Art von Mitgefühl, liebe Mama.“

Er wartete gespannt auf die Wirkung dieses letzten Satzes. – Da, – die Präsidentin neigte ein wenig den Kopf, seufzte leise und meinte: „Marga ging in dieser Beziehung sogar etwas zu weit, lieber Harald. Wenn Du als Mann mit einer solchen fragwürdigen Erscheinung zusammengesehen wirst, macht das nicht viel aus. Aber ein junges Mädchen, das aus guter Familie stammt, hat mehr Rücksichten zu nehmen.“

„Das klingt ja fast, als hätte Marga Euch gelegentlich durch ihr allzu weiches Herz kompromittiert, Mama –“

„So ist es auch gewesen, Harald. Eine Pensionsfreundin von ihr ist später auf Abwege geraten – durch Genußsucht, Leichtsinn, Arbeitsscheu. Marga hatte gerade dieses Mädchen fast schwärmerisch während des Pensionsjahres in Gotha geliebt. Jene Claire Ruckser war Waise. Ihr Vermögen hat sie auf Reisen mit einem Abenteurer durchgebracht. Dann tauchte sie hier in Berlin auf, drängte sich an Marga heran, bettelte sie an. Marga ist einmal mit dieser auffällig gekleideten Person auf der Straße von Exzellenz von Winterstein gesehen worden. Oh – das gab dann eine böse Szene hier. Mein Mann war empört.“

„Das liegt wohl längere Zeit zurück, liebe Mama?“

„Nur drei Wochen, Harald.“

Harst erinnerte sich jetzt, daß Marga ihm einst in ihrem Photographiealbum das Bild einer ihrer Pensionsschwestern gezeigt und dabei geäußert hatte: „Ein armes, unglückliches Geschöpf!“ – Er hatte damals jedoch weiter kein Interesse für jenes Bild und jenes Mädchen gehabt.

Er lenkte jetzt das Gespräch auf andere Dinge. Nachher ging er in Margas Zimmer hinüber und suchte sich aus den vielen Bildern des Albums dasjenige heraus, auf dem auf der Rückseite stand: „In ewiger, innigster Liebe – Deine Claire. Gotha, Weihnachten 19…“ – Er steckte es zu sich und fuhr nach Hause.[9]

Nach dem Abendessen bestellte er den Jungen zu sich und hatte eine lange Unterredung mit ihm, bei der er ihm das Bild Claire Rucksers zeigte und ihn auf die etwas starke Stupsnase, die großen Augen und die auffallend kurze Oberlippe aufmerksam machte.

Karl war begeistert. „Herr Assessor, Sie sollen sehen: Ich bring’s heraus! Ich bin doch helle!“

„Vermeide jedoch jedes unnötige Aufsehen, Junge. Und vergiß nicht: sobald Du den langen Hageren irgendwo bemerkst, sei besonders vorsichtig.“ –

In den Ballsälen des Nordens in der Chausseestraße wurde gerade ein moderner Wackeltanz von der Hauskapelle gespielt, als Karl den strahlend hell erleuchteten Saal betrat. Oben zwischen dem Kristallkronleuchter schwamm der Tabakrauch in dichten Wolken. Die Luft war erfüllt von Bier- und Weindünsten und einem Gemisch aller möglichen Wohlgerüche. Einige sechzig Paare schoben sich bald nach dem Takte der Musik über das gewachste Parkett hin.

Der Junge in seinem vielfach geflickten Anzug mit dem umgehängten Korb voller Rosen sah ganz wie einer jener Blumenverkäufer aus, die unter dem Deckmantel eines armseligen Gewerbes doch nur Bettelei betreiben und gerade an diesen Stätten der Genußsucht und falscher Eleganz die besten Geschäfte machen. Nirgend fliegt das Geld ja leichter von Hand zu Hand als gerade hier.

Karl schlich mit demütigem Gesicht von Tisch zu Tisch, bot seine Rosen an und wußte die geschminkte Weiblichkeit durch starke Schmeicheleien stets für sich einzunehmen. An jedem Tisch fand er mindestens eine Gönnerin, an die er sich dann stets leise mit derselben Frage wandte: „Kennen Sie vielleicht die Claire Ruckser? – Ein feiner Kavalier will sie gleich im Cafee Steuer sprechen.“ – Dieses Verslein hatte er nun schon unzählige Male hergeleiert, und immer hatte dann die Gönnerin den anderen am Tisch Sitzenden zugerufen: „Wer von euch kennt eine Claire Ruckser?“ – Bereits das fünfte Nachtlokal klapperte Karl nun schon auf diese Weise ab. Bisher ohne Erfolg. Harst hatte die heute Nacht zu besuchenden Tanzstätten und größeren Bars zwischen sich und dem Jungen verteilt und je einen Treffpunkt für 12 Uhr nachts und für 2 Uhr morgens mit ihm vereinbart.

Er selbst hatte sich gegen zehn Uhr abends zunächst in ein Konzertcafee der oberen Friedrichstraße begeben. Hier forschte er sehr geschickt die Kellner aus, denen ja die Stammgäste in dieser Art von Lokalen zumeist mit Namen bekannt sind. Das Geld tat auch hier Wunder. Die Kellner erkundigten sich an verschiedenen Tischen, so daß Harst es nicht nötig hatte, selbst diese unangenehme Aufgabe zu übernehmen. – Zwei Cafees hatte er nun umsonst besucht. Das dritte, unweit der Ballsäle des Nordens gelegene betrat er etwa um halb zwölf. Abermals spendete er den Kellnern je ein Zehnmarkstück und wartete nun, bei einer Eislimonade in einer Ecke allein sitzend, den Erfolg ab. Der Treppenaufgang zu den Billardsälen lag gerade vor ihm. Mit wachsamen Augen verfolgte er das Leben und Treiben in dem nur mäßig gefüllten, großen Raume. Auf der Treppe vor ihm erschien jetzt ein Kellner, dessen Gesicht ihm schon vorhin aufgefallen war. Er hatte diesen blassen, schielenden Menschen fraglos bereits irgendwo und -wann im Gerichtssaal gesehen. Als Angeklagten kaum, denn dann hätte er ihn sofort wiedererkannt. Also wohl als Zeugen. Der Schielende schlenderte der Drehtür des Ausganges zu. Harsts kritische Blicke stellten in den Bewegungen dieses krankhaft bleichen Menschen etwas gemacht Nachlässiges und Harmloses fest. Er hatte den Eindruck, als wollte der Kellner so recht zum Ausdruck bringen, daß er ganz von ungefähr und ganz ohne bestimmte Absicht der Tür zuschritt, hinter deren Radwindfang er nun verschwand. Harst stand auf, trat an das nahe Fenster und spähte an der Seite durch einen Vorhangspalt hindurch, sah den Schieläugigen mit fliegenden Frackschößen über die Straße laufen und war kaum zwei Minuten später hinter dem Manne drein, der seiner Überzeugung nach irgend etwas Besonderes im Schilde führte. Er besann sich jetzt auch, daß jener, als er ihm genau wie den anderen Kellnern zehn Mark heimlich zugesteckt und ihn gefragt hatte, ob ihm eine Claire Ruckser bekannt wäre, leicht zusammengefahren war, dann aber sofort gemurmelt hatte: „Das verdammte Nervenzucken!“ Und er hatte auch wirklich noch verschiedentlich ein paar ruckartige Bewegungen mit dem Kopf gemacht. – Daß dieses Nervenzucken nur eine schlaue Bemäntelung des ersten leisen Zusammenschreckens gewesen, bezweifelte Harst jetzt nicht weiter. Der Mensch kannte Claire Ruckser, das war gewiß.

Harst erkundigte sich bei zwei Streichholzverkäufern nach dem Verbleib des Kellners. Ein Mensch im Frack und ohne Kopfbedeckung, der es so eilig hatte, mußte auffallen, zumal der Fußgängerverkehr hier nur gering war. Er hatte jedoch kein Glück. Der Schielende blieb verschwunden. Harst überlegte, stellte sich dann dem Cafee gegenüber auf die Schattenseite in eine tiefe Haustür. Nach etwa drei Minuten tauchte der bleiche Kellner wieder auf und mäßigte sein Galopptempo erst dicht vor der Drehtür des Lokals, das er dann sehr gemächlich wieder betrat. Der Assessor blieb noch zehn Minuten in seinem Versteck. Es war ja nicht ausgeschlossen, daß der Blasse nochmals das Cafee verließ. –

Die Ballsäle des Nordens lagen nur um die Ecke. Soeben hatte Karl wieder an eine „Gönnerin“ die bekannte Frage gerichtet. Und nun – endlich ein Erfolg! – „Ach – die Film-Claire meinst du wohl, Junge?“ – „Sie soll große Augen und ’ne Stupsnase haben,“ meinte Karl eifrig. – „Stimmt – det is se. Du, sag’ man dem Kavalier, daß die Film-Claire schon lange nach München abjerutscht is. Sie hat ’n Engagement dort jekriegt.“ – Karl war enttäuscht. Aber er war auch schlau genug, diese Quelle weiter anzuzapfen. – „Wissen Sie’s auch janz bestimmt?“ fragte er nun. Da deutete die „Gönnerin“ nach der einen Saaltür hin, sagte achselzuckend: „Der da mit’s Monokel könnt’ Dir wohl ihre Adresse anjeben. ’t is ihr Freund.“

Karl duckte sich plötzlich hinter ihrem Riesenhut zusammen. Das da drüben war der Zylinder-Onkel, der Violinenkünstler! Und jetzt kam auf den langen Hageren sehr eilig ein bleicher Kellner zu. Sie flüsterten miteinander, schritten der Haupttreppe zu. Karl blieb dicht hinter ihnen. Die Treppe hatte eine scharfe Biegung. Und der Junge fing nun ein einzelnes Wort auf, einen Namen, dem eine Verwünschung folgte.

„Harst! Der Teufel hole den Hund!“ –

Harald Harst sah in seinem Versteck nach der Uhr. Gleich zwölf. Und um zwölf wollte er sich mit Karl auf der Weidendammer Brücke treffen. Er schaute sich nach einem Auto um, ging dann zu Fuß der Friedrichstraße zu. Plötzlich hinter ihm eine Stimme: „Sie, Herr, – einen Augenblick –“ – Es war der bleiche Kellner in Hut und Mantel. Er war ganz atemlos, hastete nun hervor: „Gut, daß ich Sie noch gefunden habe. Sie wollten doch was über die Claire Ruckser wissen. Ich war inzwischen in den Borussia-Sälen. Dort hab’ ich mich erkundigt. Die Film-Claire soll jetzt Kellnerin in der Goldenen Traube in der Gartenstraße sein. Wenn Sie zehn Emmchen spendieren, Herr, hole ich sie Ihnen heraus für ’n Momang.“

Harst witterte eine Falle, denn Claire Ruckser konnte nicht Kellnerin sein – seit längerer Zeit nicht mehr! Trotzdem ging er zum Schein auf den Vorschlag des Blassen ein. Er wollte feststellen, in welchen Beziehungen dieser Schielende nun wieder zu dem an Marga verübten Morde stand. – Bis zur Gartenstraße war es nicht weit. Aber Harst hatte Eile, und da konnte es ihm nur recht sein, daß ein geschlossenes Auto jetzt langsam an ihnen vorüberfuhr. Er rief es an. Es war frei. Der Blasse nannte dem Chauffeur das Fahrtziel, öffnete die Tür mit einem höflichen: „Bitte!“ – Harst zögerte. Da erhielt er einen furchtbaren Stoß ins Genick, flog halb in den Kraftwagen hinein, wurde von innen vollends hineingezerrt, spürte zwei Hände wie Eisenklammern an seinem Halse. –

Karl beobachtete in der Vorhalle der Ballsäle stehend, wie der Zylinder-Onkel und der bleiche Kellner sich auf der Straße voneinander verabschiedeten. Da – eine Hand legte sich schwer auf seine Schulter. Er sah sich zwei Herren gegenüber, von denen der eine jetzt sagte: „Wir sind Kriminalbeamte von der Wirtshauspatrouille und hinter Dir schon eine Weile her. Du hast Dich durch Deine fortwährenden –“ – Karl ließ den Beamten nicht aussprechen, denn auch der lange Hagere ging jetzt eilends davon, dem er um jeden Preis auf den Fersen bleiben wollte. Mit knappen Worten klärte er die beiden Beamten darüber auf, daß er im Auftrage des Assessors Harst hier tätig wäre. „Bitte – begleiten Sie mich,“ fügte er hinzu. „Ich lüge nicht. Ich erzähle Ihnen draußen das weitere.“ – Harst! – die Beamten wußten sofort Bescheid: 20 000 Mark-Verlobter der ermordeten Marga Milden.

So kam es, daß sie ebenfalls Zeugen wurden, wie der Hagere ein Auto anrief, mit dem Chauffeur verhandelte, ihm Geld reichte, einstieg, und wie nun dieser Kraftwagen langsam davonfuhr. In einem zweiten folgten sie. Einer von ihnen war neben dem Chauffeur auf den Vordersitz geklettert, hatte dem Manne zugeraunt: „Kriminalpolizei!“ – Das genügte. – Das andere Auto hielt dann an einer menschenleeren Stelle. Zwei Herren wollten zu dem Hageren hineinsteigen. – Der Beamte auf dem Vordersitz hatte gute Augen, sah trotz der Entfernung und trotz des blitzschnellen Überfalles auf den einen der beiden Herren gerade noch genug, rief seinem Nachbar zu: „Los – ran an den Wagen da vor uns – Höchstgeschwindigkeit!“ Und der Chauffeur schob sofort die Steuerung herum.

– – – – – – – –

Im Universum-Klub war der Vortrag des Kriminalkommissars von Perbram längst vorüber, aber der erregte Meinungsaustausch, den er unter den Klubmitgliedern hervorgerufen hatte, dauerte noch immer an, besonders bei einer Gruppe von Herren, die sich im Lesezimmer zusammengefunden hatten. – Soeben sagte Kommerzienrat Kammler zu dem als Gast heute anwesenden Kommissar Stolten:

„Wir beide verstehen uns! – Ganz richtig: Diese Detektivspielerei von Leuten, die nicht die vielseitige Ausbildung unserer Kriminalbeamten genossen haben, ist lächerlich, kann nie in schwierigen Fällen Erfolge zeitigen. – Übrigens besinne ich mich jetzt: ich habe heute nachmittag den Assessor Harst getroffen, der ohne Frage doch ein sehr intelligenter Mensch ist. Aber auch er vertrat heute die Ansicht, auch ein Liebhaberdetektiv könnte, wenn er nur den nötigen Scharfsinn besäße, mehr ausrichten als der ganze große Apparat der Kriminalpolizei. Er scheint sogar Lust zu haben, eine Bemerkung von mir als Anlaß zu einer Wette zu nehmen des Inhalts, daß, wenn überhaupt der Mord an seiner Braut aufgeklärt werden sollte, dies nur durch einen Liebhaberdetektiv geschehen würde.“

„Dies ist auch geschehen!“ sagte Harald Harst langsam und begrüßte die Herren mit einer gemessenen Verbeugung. Er war unbemerkt eingetreten, hatte Kammlers letzte Sätze mitangehört, zog sich nun, ohne sich um die überraschten, teilweise auch etwas verlegenen Gesichter zu kümmern, einen Klubsessel herbei und sagte dann zu Perbram:

„Es tut mir leid, daß ich Ihren Vortrag versäumen mußte, lieber Perbram. Der Detektiv hat mich aber bis jetzt in Anspruch genommen, der nun endlich das Rätsel des Mordes an meiner Braut gelöst und auch – was Sie interessieren dürfte, Herr Stolten – einen zweiten Mord gleichzeitig aufgeklärt hat, nämlich den an der unbekannten, unkenntlich gemachten weiblichen Person.“

Eine Weile tiefe Stille. Aller Augen waren auf Harst gerichtet. Diese Mitteilungen kamen zu unerwartet, wirkten tatsächlich wie eine Bombe. Dann rief Kammler:

„Ich glaube im Namen aller zu sprechen, mein lieber Harst, wenn ich erkläre, daß wir mit freudiger Genugtuung diese Nachricht aufnehmen. Es muß für Sie ein Trost sein, nunmehr zu wissen, daß das Verbrechen an Fräulein Milden gerächt werden wird. – Wer ist denn nun der Täter, und wie heißt jener Detektiv, der hier einmal ausnahmsweise erfolgreicher gewesen ist als unsere tüchtigsten Beamten?“

Harst lehnte sich leicht in seinen Sessel zurück. „Ausnahmsweise, Herr Kommerzienrat?“ meinte er. „Sie sind ein hartnäckiger Gegner aller kriminalistischen Talente ohne Beamteneigenschaft. Doch – davon später. – Ich bin gern bereit, den Herren das Ergebnis und die Hauptmomente der Nachforschungen übersichtlich zu entwickeln, die der – Liebhaberdetektiv, von einem Taschentuch ausgehend, angestellt hat. Er hat sich dabei zweier Helfer bedient, die ich hier der Kürze halber Max und Karl nennen will. Ich werde alles Nebensächliche weglassen, da die Herren selbst imstande sind, sich das Nötige zu ergänzen.

Der Mord an meiner Braut hängt ganz eng mit dem zweiten zusammen. Beide haben dieselbe Vorgeschichte. – Margas Pensionsfreundin Claire Ruckser gerät auf Abwege, fällt einem gewissenlosen Schurken in die Hände, der ihr Vermögen durchbringt, dem sie aber doch mit blinder, unverständlicher Liebe ergeben bleibt. Dieser Paul Menkwitz, Monokel-Paul, wird wegen Taschendiebstahls und Einbruchs in eine Privatwohnung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Er schwört dem, der ihn hat verhaften lassen, und der dann auch Vertreter der Anklage ist, und das war ich, noch im Gerichtssaal in sinnloser Wut Rache. – Vor vier Wochen war seine Strafzeit vorüber. Er vereinigte sich wieder mit jener Claire, die inzwischen als Filmstatistin sich mehr schlecht als recht durchgeschlagen hat. Er weiß von ihrer früheren Freundschaft mit Marga und zwingt sie nun, wobei er einen doppelten Zweck verfolgt, sich meiner Braut zu nähern und sie anzubetteln. Marga hebt von ihrem Sparbuch 400 Mark ab und händigt sie der Pensionsschwester auf der Straße aus. Ihre Eltern verbieten ihr jeden weiteren Verkehr mit der so tief Gesunkenen aufs strengste. Eine Weile läßt Claire meine Braut unbelästigt. Dann verschafft sie sich heimlich Zutritt zu deren Zimmer, als Mildens und die Köchin Marie abwesend sind. Nur das Stubenmädchen Helene weiß von diesem Besuch, verspricht Marga aber, zu schweigen. Claire fleht in wilder Verzweiflung über ihre trostlose Lage meine Braut abermals um Geld an und bittet diese, ihr die Summe in derselben Laube auszuhändigen, in der Marga dann am nächsten Tage von Paul Menkwitz ermordet wird, der sehr wohl wußte, daß der Verlust meiner Braut mich schwerer treffen würde als alles andere. Der Mord war also ein Racheakt von Menkwitz, dem Claire hierbei ahnungslos Helferdienst leistete, denn er hatte ihr geraten, Marga in jene Laube zu bestellen. Um nun Claire, die doch sofort geahnt hätte, wer allein der Mörder meiner Braut sein könnte, für immer stumm zu machen, beseitigt er sie in der Nacht vor Margas Tode, warf die verstümmelte Leiche ins Wasser, vergaß dabei aber eines: aus der Tasche des Kleiderrockes des armen Weibes ein Taschentuch zu entfernen!

Er vergaß ein Taschentuch! Und genau das gleiche Tüchlein hatte Claire damals in Margas Zimmer vergessen. Der Detektiv findet es, findet auch das Sparbuch. Er fragt Helene über die Herkunft dieses billigen, patschuliduftenden Taschentuches aus. Sie schweigt verlegen, will nichts verraten, reist dann unter einem Vorwand zu ihren Eltern, wohin der Helfer Max ihr folgt. – So kommt der Stein durch das Tüchlein ins Rollen. – Der Detektiv erfährt von dem anderen Morde, auch von dem bei der Leiche gefundenen Taschentuch. Beide gleichen sich vollständig. Da ahnt er, daß diese Tote vielleicht die gewesen, die das andere Tüchlein in Margas Zimmer zurückließ. Er forscht Frau Milden aus, hört den Namen Claire Ruckser, hört von einem Abenteurer, mit dem sie ihr Geld verjubelt hat. Vorher schon ist er auf Menkwitz aufmerksam geworden. Dieser verkauft bei einem Juwelier ein goldenes Handtäschchen, dessen Bügel er absichtlich zerbrochen und aus dem er das Stück mit dem eingravierten Namen der Besitzerin entfernt hat. Ich habe trotzdem dieses Täschchen an einigen Fehlern in den Goldmaschen wiedererkannt. So lenkte sich der Verdacht auf Menkwitz. Der Detektiv vermutet in ihm den, der jene Claire arm und ehrlos gemacht hat. Hierüber will er sich Gewißheit verschaffen. Er und sein Helfer Karl besuchen die Stätten, in denen das Laster und das Verbrechen, Leichtsinn und Genußsucht sich ein Stelldichein geben. Er wird dann von dem Bruder des Mörders, einem Kellner, in dieser Nacht in eine Falle gelockt, in ein Auto, das Paul Menkwitz unter dem Vorgeben, er wäre Detektiv und hinter einem Verbrecher her, von dem Chauffeur zur Verfügung gestellt wird. Die Brüder suchen ihr Opfer durch Würgen bewußtlos zu machen. Der Detektiv täuscht eine Ohnmacht vor. Sie wollen ihn fesseln, nachher irgendwie bei Seite schaffen. Plötzlich springt er auf, stößt die Überraschten zurück, schwingt sich aus dem Wagen, wird fast von einem anderen daherrasenden Auto überfahren, das auf Veranlassung des Helfers Karl dem ersten gefolgt ist und in dem sich zwei Kriminalbeamte befinden, die die Brüder Menkwitz festnehmen und nach der nächsten Polizeiwache bringen, wo der Detektiv den Doppelmörder zu einem Geständnis zwingt. Der Detektiv fährt nach Hause, findet hier den Helfer Max vor, der in Pasewalk das Stubenmädchen schnell dazu überredet hat, unterstützt von deren Eltern, die volle Wahrheit zu sagen. – Der Detektiv zieht sich um und – besucht den Universum-Klub. Der Detektiv – bin ich selbst, meine Herren!“

„Ich habe dies sehr bald gewußt!“ ruft Stolten. „Ich gratuliere von Herzen. Sie haben Ihre Sache vorzüglich gemacht!“

Harst wendet sich an Kammler. „Sind Sie nun bekehrt, Herr Kommerzienrat? Oder – nehmen Sie in diesem Falle nur einen zufälligen Erfolg eines der von Ihnen so schlecht beurteilten Privatdetektive an?“

Kammler wiegt den Kopf hin und her. „Ehrlich gestanden, lieber Harst, mich würde nur eine Reihe von Erfolgen überzeugen,“ meint er ausweichend.

Harst erhebt sich. „Meine Herren,“ beginnt er mit jener kühlen Selbstverständlichkeit, die jeder an ihm kennt und zu der jetzt noch eine müde Gleichgültigkeit hinzugetreten ist. „Sie wissen, welch unersetzlichen Verlust ich erlitten habe. Ich werde nie darüber hinwegkommen. Ich war nahe daran, lebensüberdrüssig und trübsinnig zu werden. Da riß mich diese Detektivarbeitet wieder hoch. Sie machte mich mein leeres Dasein vergessen. Jetzt, wo sie erledigt ist, fühle ich bereits wieder jene unsagbare Interessenlosigkeit gegenüber all und jedem, die mich vielleicht zum – Selbstmord treiben könnte. Mein Beruf als Jurist kann mir hier nicht die nötige Ablenkung bieten. Er ist zu sehr eingeengt, zu wenig abwechslungsreich. Ich werde ihn aufgeben. Aber – ich will mir gleichzeitig einen anderen Pflichtenkreis schaffen. Dabei können Sie mir helfen. Kommerzienrat Kammler deutete eine Wette mir gegenüber an. Diesen Gedanken nehme ich jetzt wieder auf. Ich will mich verpflichten, eine größere Anzahl von Verbrechen oder sonstigen Vorgängen, die bisher der Kunst der Polizeiorgane gespottet haben, aufzuklären, – sagen wir zwölf! Ich wette eine Million Mark, daß ich diese zwölf Fälle, die mir nacheinander von meinen Wettgegnern genannt werden und die an Zeit und Ort nicht gebunden sein sollen, erledigen werde. Die Wetteinsätze aber sollen dann an irgend eine wohltätige Anstalt fallen. – Wie gesagt, ich will ein Ziel haben, mir einen neuen Lebenszweck schaffen. Ich will das Verbrechen bekämpfen, Wehrlose schützen, Gestrauchelte aufzurichten suchen. All das kann nur der – Liebhaberdetektiv, der frei von Dienstvorschriften und papiernen Pflichten seine Begabung ausnutzen darf.“

Kammler springt auf. „Harst, – von mir aus angenommen! Ich setze eine Million dagegen! – Zwölf Fälle wollen Sie erledigen – das zeugt von einem starken Selbstbewußtsein! Sie werden Ihre Million loswerden. Ich werde aus der ganzen Welt die verworrensten Rätsel zusammensuchen! Passen Sie nur auf!“

Die Wette wurde dann erst am folgenden Abend schriftlich festgelegt. Auf der Gegenseite beteiligten sich insgesamt fünfzehn Herren mit einer Gesamtsumme von fünf Millionen.

Als Harald Harst nach diesem bedeutungsvollen Abend nach Hause kam, ging er noch zu Max Schraut hinüber. Der war noch wach, hatte auf ihn gewartet.

„Die Wette ist zustande gekommen,“ sagte Harst gelassen. „Mein Abschiedsgesuch an meine Behörde ist auch bereits abgegangen. Ich stelle Ihnen frei, fortan unter angenommenem Namen meinen Privatsekretär und Gehilfen zu spielen oder – ins Gefängnis zurückzukehren.“

„Die Entscheidung ist nicht schwer,“ meinte Max Schraut und griff dankbar nach Harsts Hand. „Ich werde Ihnen ein treuer Helfer sein.“

„Gut denn. – Morgen abend reisen wir nach Pommern. Meine erste Aufgabe lautet: „Das Geheimnis des Szentowo-Sees“. – Und dieser See liegt in Pommern. – Gute Nacht, Schraut. – Übrigens: falls nötig, lassen wir Karl nachkommen. Er hat sich ebenso gut bewährt wie Sie. – Also morgen – auf nach Szentowo!“

 

 

Das Geheimnis des Czentowo-Sees.[10]

 

Harald Harst hatte soeben mit seiner Mutter den Morgenkaffee eingenommen und ihr dabei von der in der vergangenen Nacht im Universum-Klub abgeschlossenen Millionenwette und von seiner ersten Aufgabe erzählt. Frau Harst war glücklich in dem Gedanken, daß ihr Einziger infolge dieser Wette über den Verlust seiner heißgeliebten Braut leichter und schneller hinwegkommen würde, da er sich ja verpflichtet hatte, zwölf seltsame Begebenheiten oder schwierige Kriminalfälle aufzuklären. Während sie dann ihre gewohnte Tagesbeschäftigung begann, die kaum vermuten ließ, daß sie die Witwe eines vielfachen Millionärs war, prüfte ihr Sohn in seiner im Erdgeschoß gelegenen Wohnung, am Schreibtisch seines Arbeitszimmers sitzend, die große Spezialkarte von Pommern, die sein Privatsekretär und Gehilfe Max Schraut ihm frühmorgens hatte besorgen müssen.

Das Dorf Szentowo sowie das gleichnamige Schloß und der See lagen unweit des Städtchens und der Bahnstation Malchin an der Hauptstrecke Stettin-Stolp-Danzig.

Dann sah Harst das Kursbuch ein und entschied sich für den 11 Uhr-Abend-Schnellzug.[11]

Er saß jetzt zurückgelehnt da und schaute sinnend durch das Fenster auf die im hellen Frühlingssonnenschein daliegende Straße hinaus. – Das Geheimnis des Szentowo-Sees. – Das war alles, was seine Wettgegner ihm mitgeteilt hatten. Um welche Art von Geheimnis es sich handelte, dies hatten sie ihm festzustellen überlassen. Es mußten jedenfalls mit diesem See mysteriöse Vorgänge verknüpft sein, die zum mindesten dort in jener Gegend ziemlich allgemein bekannt waren. Und Harst ließ seine Phantasie nun spielen und erwog, wie beschaffen diese Rätsel sein könnten. – Lag ein unaufgeklärtes Verbrechen, etwa ein Mord, vor? – Wohl kaum. Sonst hätten die Wettgegner dieser ersten Aufgabe eine genauere Fassung gegeben.

Es klopfte. Harst rief Herein. Es war Max Schraut, der frühere Komiker und Taschendieb, den er bei den Ermittlungen nach Marga Mildens Mörder bereits als treuen und gewandten Gehilfen schätzen und als reuigen Entgleisten kennen gelernt hatte. Schraut spielte hier im Hause der Frau Auguste Harst den würdigen, älteren, graubärtigen Herrn, während er doch kaum die vierzig erreicht hatte und ohne falschen Bart und Perücke ganz anders aussah. Diese Verkleidung war nötig, denn die Polizei war hinter ihm als entsprungenen Strafgefangenen drein.

„Herr Harst, ich habe soeben die Morgenblätter durchgesehen,“ begann er sofort eifrig und breitete auf dem Schreibtisch die am meisten gelesene Zeitung Berlins aus. „Denken Sie: die ganze Wettgeschichte steht schon haarklein unter Allerneuestes, und selbst unsere erste Aufgabe ist erwähnt, was für uns insofern sehr angenehm ist, als der Verfasser dieses Artikels recht genau über das Geheimnis des Sees unterrichtet zu sein scheint.“ Er deutete dabei auf eine bestimmte Stelle eines längeren Aufsatzes mit der Überschrift: Eine Millionenwette im Universum-Klub.

Harst hatte sich vorgebeugt und las. Besonders interessierte ihn natürlich folgendes:

„– Tatsache ist, daß zuerst im verflossenen Herbst auf dem Grunde des Sees seltsame, wandernde Lichterscheinungen sich nachts zeigten, für die niemand eine Erklärung fand. Dann wurde dasselbe geheimnisvolle Leuchten vor fünf Wochen abermals beobachtet, und es ist seitdem in unregelmäßigen Zwischenräumen zumeist in besonders dunklen, regnerischen Nächten verschiedentlich von einwandfreien Zeugen gesehen worden, so zum Beispiel auch von einem Kriminalkommissar, der in einer nahen Kreisstadt dienstlich zu tun gehabt und die Gelegenheit benutzt hatte, diese etwas rätselhafte Angelegenheit zu prüfen, die in der dortigen Gegend schnell allerlei abergläubische Märchen von einer Seenixe hervorgerufen hat. Jener Beamte wäre dabei fast das Opfer eines ebenfalls geheimnisvollen Unfalls geworden. Als er allein in einem primitiven Nachen, einem aus Brettern zusammengeschlagenen sogenannten Seelenverkäufer, der Stelle zuruderte, wo es in der Tiefe hin und wieder hell aufleuchtete, kippte der Kahn urplötzlich ohne jede erkennbare Ursache um und traf dann den gerade wieder auftauchenden Kommissar, einen vorzüglichen Schwimmer gegen den Hinterkopf, daß der Beamte beinahe die Besinnung verloren hätte. Der Kommissar führt dieses Umkippen des Seelenverkäufers auf einen plötzlichen Schwindelanfall seinerseits zurück. Im Dorfe Szentowo kursieren jedoch allerlei Gerüchte, daß auch einem Gast des Besitzers des Schlosses Szentowo, des Grafen von Lippstedt, genau dasselbe gefährliche Mißgeschick begegnet sein soll, daß dieser Gast, ein Professor, ebenfalls beinahe ertrunken wäre, und daß – die Seenixe auf diese Weise die Neugier der Menschen bestrafe. – Man kann gespannt sein, wie Herr Harst als Liebhaberdetektiv sich mit alledem abfinden wird. Auch uns erscheint es dringlich geboten, jene merkwürdigen Vorgänge aufzuklären, die unseres Erachtens vielleicht doch nicht ganz harmloser Natur sind, wenn sich auch die Sachlage von hier aus kaum zutreffend beurteilen läßt.“

Harald Harst legte die Zeitung auf den Tisch zurück. Er hatte mit steigender Spannung die Zeilen überflogen. Trotzdem behielt sein Gesicht den kühl-gelassenen Ausdruck bei. Und als er nun Schraut mit einem „Wirklich recht eigenartig“ leicht zunickte, verriet auch der Ton seiner Stimme nichts von seinen bereits der Gegenwart weit vorauseilenden Gedanken. Nur eins tat er: er entnahm seiner goldenen Zigarettendose eine jener dicken, etwas süßlich duftenden Zigaretten, die er nur für sich in einer Fabrik nach seinen eigenen Angaben aus bestimmten Tabaksorten herstellen ließ und denen er den Namen Mirakulum (Wunderwerk) gegeben hatte, zündete [sie][12] mit den ihm eigenen gemessenen und doch keineswegs gezierten Bewegungen an, blies ein paar tadellose Rauchringe in die Luft und fügte dann dem „Wirklich recht eigenartig“ ganz plötzlich lebhafter hinzu: „Ah – wir bekommen wirklich Besuch. – Gehen Sie, lieber Schraut, und öffnen Sie dem Herrn die Haustür, der da soeben die Gartenpforte zuwirft.“[13]

Der Herr trat ein. Es war ein schlanker, sehr gut gekleideter, jüngerer Mann, etwa Ende der Zwanziger. Er trug den blonden, starken Schnurrbart lang ausgezogen und hatte ein leicht gebräuntes Gesicht mit einem nie ganz daraus verschwindenden hochmütigen Zug um den schmallippigen Mund.

„von Blenkner,“ stellte er sich Harst vor und nahm dann sofort auf dem ihm angebotenen Klubsessel neben dem Schreibtisch Platz, schlug ein Bein über das andere, schaute sich recht zwanglos in dem mit vornehmem Geschmack eingerichteten Zimmer um und sagte mit einem Blick auf den scheinbar eifrig im Hintergrunde schreibenden früheren Schauspieler: „Könnte ich Sie allein sprechen, Herr Harst?“

„Mein Privatsekretär ist gleichzeitig mein Vertrauter, Herr von Blenkner. – Also bitte: womit kann ich dienen?“

„Nun – wenn’s sein muß, gut. – Ich möchte Sie als Detektiv zu Rate ziehen. Ich habe in der heutigen Morgenzeitung von der Wette im Universum-Klub gelesen und bin dadurch auf Sie aufmerksam geworden. Sofort ohne Zögern eilte ich hierher, um Sie zu bitten, mich in Malchin zu besuchen, bevor Sie nach Szentowo weiterfahren. Malchin ist ja die nächste Eisenbahnstation. Ich bewohne dort ein kleines Landhaus, das wie geschaffen für mich ist, da ich als Privatgelehrter und Schriftsteller Einsamkeit und unverfälschte Natur ringsum brauche. Ich bin ein Neffe des Grafen Lippstedt auf Schloß Szentowo, unverheiratet und halte mir nur eine bereits bejahrte Wirtschafterin. Mir ist nun vor zwei Wochen aus einem in die Wand meines Arbeitszimmers eingemauerten Stahlschränkchen ein Umschlag mit Familienpapieren verschwunden. Diese Papiere sind für mich sehr wertvoll –“ Er ließ sich nun des längeren über diesen Diebstahl aus und schloß dann mit den Worten: „Ich nehme an, Sie werden infolge der Wette und Ihrer ersten Aufgabe sehr bald nach Szentowo reisen. Dürfte ich erfahren, wann und ob Sie eine Verkleidung benutzen werden? – Ich möchte eben rechtzeitig heimkehren, damit ich Ihnen alles an Ort und Stelle nochmals erklären könnte.“

„Morgen abend fahre ich, Herr von Blenkner. Eine Verkleidung halte ich für überflüssig. Ich bin auch gern bereit, mich mit Ihrer Angelegenheit zu beschäftigen. Haben Sie schon anderweit Hilfe in Anspruch genommen?“

„Nein – nein, – ich habe sogar die ganze Sache bisher verschwiegen, weil ich – weil ich selbst versuchen wollte, den Dieb zu entdecken.“

„Wo wohnen Sie hier? – Vielleicht reise ich doch erst einige Tage später. Ich möchte Sie dann benachrichtigen.“

„Ich bin seit einer Woche in Berlin und im Fremdenheim Menkwitz am Schiffbauerdamm abgestiegen.“

„Ah – und dort haben Sie wohl beim Morgenkaffee den Bericht in der Zeitung gefunden und werden sicherlich den Kopf über die etwas ungewöhnliche Wette geschüttelt haben,“ lächelte Harst liebenswürdig.

„Ganz – ganz recht. Beim Morgenkaffee – Hm – Ihre Wette ist nicht ganz ungefährlich, Herr Harst. Mir ist ebenfalls zu Ohren gekommen, daß zwei Herren, die in Szentowo –“ „Oh, das steht ja alles hier in der Zeitung, Herr von Blenkner. – Können Sie mir sonst etwas angeben, was diese Lichterscheinungen anbetrifft und was dieser Artikel nicht enthält?“ – „Bedauere. Ich habe mich gehütet, mich mit der Sache näher zu befassen. Ich will gern noch ein paar Jahre leben.“ Er erhob sich und verabschiedete sich kurz. Als er gegangen war, meinte Harst zu dem ehemaligen Komiker:

„Bitte, nehmen Sie Papier für einen Rohrpostbrief und schreiben Sie. – Anschrift: An Herrn von Blenkner, Schiffbauerdamm, und so weiter. – Sehr geehrter Herr! Da Herr Harst keine Zeit unnötig verlieren möchte, hat er sich entschlossen, doch schon heute abend abzureisen. Sobald seine Arbeit in Szentowo erledigt ist, wird er sich bei Ihnen in Malchin einfinden. Mit vorzüglichster Hochachtung – im Auftrage des Herrn Harst –“ – Hier machte Harst eine Pause, sagte dann: „Sie müssen nun doch umgetauft werden, Schraut. Denn diesen Ihren wirklichen Namen dürfen Sie als mein Privatsekretär nicht mehr führen. Hier bei uns im Hause war das ungefährlich. Meine Mutter und unsere alte Köchin, die ich nun beide in Ihre Verhältnisse eingeweiht habe, sind ebenso verschwiegen wie unser kleiner Bundesgenosse Karl Malke, der für seine fünfzehn Jahre überhaupt ein fast zu frühreifer Charakter – dies nur in gutem Sinne gemeint – ist. – Wie wär’s, wenn wir Sie in Max Schüler umtauften? Meine Mutter ist eine geborene Schüler, und ihr jüngster auf See verschollener Bruder, von dem wir noch verschiedene Legitimationspapiere besitzen, hieß mit Vornamen wie Sie – Max. – Also gut: – Max Schüler fortan! Sie sind ja schließlich auch mein Schüler, wollen sich in die Geheimnisse der praktischen Kriminalwissenschaften einweihen lassen. Unterzeichnen Sie den Brief an Blenkner also: Schüler, Privatsekretär. – Nun – wie hat Ihnen dieser Privatgelehrte gefallen? – Ganz sympathische Erscheinung. – Sie schütteln den Kopf? – Ganz richtig – ein wenig hochmütig und selbstbewußt. Aber auch – nicht ganz wahrheitsliebend, scheint mir!“

„Woraus entnehmen Sie letzteres, Herr Harst?“ fragte der neu erstandene Max Schüler erstaunt. „Und – weshalb sollte er Sie wohl zu belügen versucht haben?!“

Harst stand auf, zog seinen eleganten Hausrock aus und erwiderte: „Er sagte, er wäre – „sofort, ohne Zögern –“ hierher geeilt. Er betonte also, wie er auf der Stelle ohne sich lange zu bedenken, sich auf den Weg gemacht hätte. Er ist ein gebildeter Mann, Schriftsteller, von dem man annehmen muß, daß diese Häufung von Ausdrücken – „sofort, ohne Zögern“ – kein sprachliches Ungeschick gewesen, sondern bewußt geschehen ist. – Wir haben jetzt genau zehn Uhr. Wissen Sie, was vor zweieinhalb Stunden sich ganz unvermutet ereignete?“

„Ah – Sie meinen die eine Wolke, die uns einen kurzen, aber heftigen Regenguß brachte, Herr Harst, – nicht wahr?“

Harald Harst nickte. „Den Regen meine ich, ganz recht. – Haben Sie nun bemerkt, daß Blenkners Lackstiefel recht beschmutzt waren?“

„Allerdings nicht. Ich gab darauf nicht acht –“

„Sie hätten es tun sollen. Die Stiefel deuteten ja gerade darauf hin, daß er ein wenig mit diesem „sofort ohne Zögern“ geschwindelt hat.“

„Jetzt verstehe ich, Herr Harst. Die Regenfeuchtigkeit hätte auf den Straßen durch die Sonne längst beseitigt gewesen sein müssen, wenn er – er traf hier gegen halb zehn ein – wirklich erst sagen wir um neun das Pensionat verlassen haben würde, um zu uns zu kommen.“

„Sie entwickeln sich, lieber Schüler. – Ich behaupte nun sogar, Blenkner ist von dem Regen hier ganz in der Nähe überrascht worden, hat dann, da er ohne Schirm war, im Laufschritt einen Unterschlupf gesucht und sich nachher in unserer Nachbarschaft noch etwa zwei Stunden herumgedrückt, ehe er sich entschloß, mich aufzusuchen.“

Max Schraut-Schüler machte ein verdutztes Gesicht. Harst lächelte unmerklich, ging ins Schlafzimmer und kam fertig zum Ausgehen zurück.

„Ich habe Arbeit für Sie,“ meinte er und füllte beide Fächer seiner Zigarrentasche. „Sie könnten mal sofort im Fremdenheim Menkwitz kurze Freundschaft mit einem der weiblichen dienenden Geister unter Zuhilfenahme eines Zehnmarkscheins schließen und feststellen, wann Blenkner heute ausgegangen ist. Er interessiert mich nämlich mehr als Sie ahnen, lieber Schüler. Er glaubte, er hätte es hier mit – Dummen zu tun. Wir wollen ihm das Gegenteil beweisen. Wer mich in zwei Punkten faustdick belügt, führt irgend was im Schilde und ist alles andere nur kein Ratsuchender. – Ich sage: in zwei Punkten. Nummer eins ist das „sofort, ohne Zögern“. Nummer zwei aber die Geschichte von den gestohlenen wertvollen Familienpapieren. – Ist Ihnen hierbei nichts aufgefallen? – Nein?! – Aber ich bitte Sie! Wenn Ihnen etwas Wichtiges gestohlen wird, werden Sie dann vierzehn Tage untätig bleiben, bis Ihnen zufällig der Name eines bisher ganz unbekannten Liebhaberdetektivs aufstößt?! Gibt es nicht hier in Berlin Privatdetektive von Weltruf? Wird da ein vernünftiger Mensch ausgerechnet auf Harald Harst und den Zeitungsbericht über die Millionenwette warten? – Guten Morgen, auf Wiedersehen.“

Harst ließ den sehr nachdenklich gewordenen ehemaligen Komiker allein und verließ das Haus, ging dann nach rechts die Blücherstraße, diesen noch wenig bebauten Straßenzug des Vorortes Schmargendorf, hinunter und betrat bald durch die Tür des Bauzaunes ein halbfertiges Gebäude, sprach hier mit einigen Ziegelträgern und schenkte jedem zwei Zigarren. Dann benutzte er das nächste freie Auto zur Fahrt nach dem Zeitungspalast des verbreitetsten Blattes der Reichshauptstadt.

Halb zwölf abends. – Den Wartesaal 3. Klasse des Stettiner Bahnhofs in Berlin betrat ein recht bescheiden gekleideter buckliger Mann, der außer einem großen Pappkarton noch einen Violinenkasten trug. Er setzte sich in eine Ecke, bestellte ein Glas Bier und sog an seiner Zigarre, die längst ausgegangen war. Dabei überlegte er so allerlei. – Daß Harst erst später ihm nach Szentowo folgen wollte und daß er nun dort allein zunächst das „Terrain sondieren“ sollte, gefiel ihm gar nicht. Er glaubte sich dieser Aufgabe nicht gewachsen. Anderseits sagte er sich aber, daß seines Herrn Vorschlag, er solle dort in der Verkleidung eines wandernden Musikanten auftreten, recht gut gewesen war. Nur erschien es ihm überflüssig, daß Harst verlangt hatte, er müßte das Haus in der Blücherstraße, in dem Frau Auguste Harst nun bereits ein Lebensalter wohnte, durch den Gemüsegarten und den hinteren Ausgang des Grundstückes verlassen. – Wozu diese Vorsicht? Das sah ja gerade so aus, als nähme sein Herr an, das Haus würde beobachtet!

Es wurde Zeit, sich ein Plätzchen in der vierten Klasse des Personenzuges nach Danzig zu sichern. Schraut-Schüler bezahlte das Bier, nahm Karton und Violinenkasten und schlurfte hinaus auf den Bahnsteig.[14]

Der Andrang zu dem Personenzuge war nicht groß. Er fand in der Vierten ein Eckplätzchen und machte es sich bequem. Nach ihm kamen noch zwei Frauen mit vielen Paketen und ein älterer Mann herein. Dann nach einer Weile noch ein Kollege von ihm, ein rotbärtiger, schlotteriger Mensch mit einer blauen Brille und einer kleinen Drehorgel.

Der Drehorgelspieler nickte ihm, als er den Violinenkasten sah, kameradschaftlich zu und stellte sein Instrument auf die Bank neben ihn, sagte dazu mit heiserer Säuferstimme: „Passen Sie doch ’n bißchen auf meine Quietschkiste auf.“ Dann verließ er den Wagen wieder und kehrte erst zurück, als der Zug sich bereits in Bewegung setzte. Er nahm mit einem: „Na, da wären wir ja!“ neben Schraut-Schüler Platz und holte eine dicke Stulle hervor. – „Möchten Sie was abhaben?“ fragte er. „Ich bin von Frau Auguste Harst gut versorgt worden –“

„Sie – Sie sind’s?“ stotterte der Komiker.

„Vorsicht! – Wir sind Kollegen, die sich hier zufällig getroffen haben. Danach richten Sie sich. – Hier, greifen Sie zu, essen Sie. Wir haben mit dem Bummelzug zwölf Stunden zu fahren. – Glaubten Sie wirklich, ich wollte Sie allein reisen lassen? – Nein, da hätte ich wohl kaum unseren jungen Freund Karl Malke nachmittags mit so viel Aufträgen herumgehetzt und mir von Ihnen nicht noch schnell eine Unterrichtsstunde im Schminken, Bartbefestigen und so weiter geben lassen! – Nicht wahr, die Hausmacher-Dauerwurst meiner Mutter ist großartig! – Wenn der Schaffner die Fahrkarten nachsehen kommt, wollen wir fragen, ob wir nicht hier und in den anderen Wagen Vierter ein wenig musizieren dürfen. Vielleicht haben wir Glück und stöbern einen braven Landsmann aus Szentowo oder Umgegend auf, mit dem wir uns anbiedern können. Sie verstehen, Kollege: so ein bißchen aushorchen nach diesem und jenem! – Übrigens: Blenkner war vorhin auf dem Bahnsteig. Er hat wohl gedacht, wir hätten den Elfuhr-Schnellzug versäumt. Er hatte auch seinen Freund wieder mit, – denselben Mann, der heute nachmittag in der Blücherstraße patrouillierte. Ist Ihnen das nicht aufgefallen? – Nein?! – Aber, Kollege, – Sie wollen doch Detektiv werden! Da muß einem alles aufstoßen, alles, jede Kleinigkeit, auch Kalkspuren am Stiefeloberleder, das einen dann auf einem Neubau hinleitet, wo man durch eine Zigarrenspende erfährt, daß Blenkner dort vor dem Regenguß Schutz gesucht hat.“

„Ah – endlich, Herr –, nein, nicht Herr, sondern Kollege, – endlich höre ich nun auch Näheres über das, was –“

„Ja – alles werden Sie hören. Es ist recht viel. Es ist das Vorspiel für Szentowo. – Also: ich war bei dem Chefredakteur der bewußten Zeitung. Diese verdankt die Einzelheiten über das Geheimnis des Sees einem Briefe mit unleserlicher Unterschrift. Das Schreiben traf gestern elf Uhr abends durch einen Dienstmann ein – eine Stunde nach Abschluß der Wette also, die ja bereits tags zuvor in Anregung gebracht worden, aber noch nicht in ihren einzelnen Bestimmungen festgelegt war. – Wie gesagt: unleserliche Unterschrift. – Einleitende Sätze etwa: „Es dürfte Sie interessieren, daß soeben im Universum-Klub – und so weiter. Ich kann Ihnen nun auf Grund eigener Sachkunde über diese erste Aufgabe, das heißt, über das Geheimnis des Szentowo-Sees, folgendes mitteilen –“ Auf diese Weise war das Blatt imstande, gleich morgens seinen Lesern jene Einzelheiten zu bringen. – Unleserliche Unterschrift und – falsche Adresse! Denn ich habe Markgrafenstraße Nr. 35 das ganze Haus abgeklappert. Da wohnt nicht einer, der Szentowo kennt. – Was hätten Sie nun nach diesen Feststellungen getan, Kollege?“

„Hm – schwer zu sagen.“

„Leicht zu sagen! – Der Briefschreiber muß doch fraglos unter den Mitgliedern des Klubs einen Bekannten gehabt haben – oder selbst zum Klub gehören. Woher sonst die schnelle Kenntnis vom Abschluß der Wette und sogar vom Inhalt der ersten Aufgabe? – Ich fuhr also in den Klub und fragte zunächst den Hauswart, ob gestern abend kurz nach zehn Uhr jemand von den Herren das Klubhaus verlassen hätte. – Antwort: „Ja, Herr Doktor von Beltz – zusammen mit dem Herrn, der schon einige Male in letzter Zeit als Gast hier war.“ – Da wußte ich Bescheid. Dieser Gast konnte es sein, der die Redaktion eine Stunde später benachrichtigt hatte, und dieser Gast –“

„Ich darf wohl den Namen nennen,“ unterbrach Schraut-Schüler ihn schnell. „Es wird derselbe Herr sein, den mir heute vormittag das Stubenmädchen im Fremdenheim Menkwitz als den Intimus Blenkners bezeichnete: der Güterdirektor Bollschwing aus Szentowo.“

„Stimmt – Bollschwing, der hier in Geschäften weilt und der die Besitzungen des Grafen von Lippstedt, des Schloßherrn von Szentowo – denken Sie an den Artikel! – verwaltet, derselbe Bollschwing auch, der vorhin Blenkner die Arbeit abnahm, diesen Zug nach uns zu durchsuchen, – natürlich nur die erste und zweite Klasse, denn mich als Millionärssohn vermutete man nicht dritter oder gar vierter Güte, und der nachmittags unsere Blücherstraße unsicher machte. – So, nun wissen Sie alles, bis auf den Inhalt eines Telephongesprächs nach außerhalb und einen Besuch bei Doktor von Beltz und einen zweiten bei einem Privatdetektiv. Und nun zeigen Sie, daß Sie Schlußfolgerungen ziehen können.“

„Bollschwing und Blenkner stehen zu dem Geheimnis des Sees irgendwie in Beziehung, und – und – Ja, das wäre wohl alles.“

„Hm – etwas wenig, lieber Kollege. – Wir müssen folgendes beachten: Blenkner hat uns belogen. Er hat, wie Sie herausgebracht haben, das Fremdenheim bereits um sieben Uhr morgens gemeinsam mit Bollschwing verlassen, der eine halbe Stunde vorher zu ihm gekommen war. Und – er hatte eine Morgenzeitung überhaupt noch nicht zu Gesicht bekommen, als er mit dem Güterdirektor fortging. – Erst um halb zehn erscheint er dann bei mir, erfindet sehr ungeschickt als Vorwand seines Besuchs die Geschichte von dem Diebstahl und fragt, wann und ob ich in einer Verkleidung zu reisen gedenke. – Ich glaube, diese Frage war der Hauptzweck seines Kommens. Der Nebenzweck aber der, mich von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen, nachdem er umsonst in der Blücherstraße von etwa halb acht an darauf gewartet hatte, daß ich meine Wohnung verlassen und ihm so Gelegenheit geben würde, mich draußen genauer betrachten zu können. In dieser Zwischenzeit wird ihm dann der Einfall gekommen sein, persönlich bei mir vorzusprechen – unter einem Vorwand, den er wahrscheinlich für sehr gelungen hält. – Gewiß, Bollschwing, der mich ja im Klub gesehen haben muß, wenn ich mich auch nicht auf ihn bei der Menge der eingeführten Gäste besinne, wird Blenkner eine genaue Beschreibung von mir gegeben haben. Und nachmittags finden wir dann Bollschwing in der Blücherstraße, wo er doch nur meinetwegen sich stundenlang aufgehalten haben wird. – Was geht aus alledem mit unfehlbarer Sicherheit hervor? Sehr einfach: ein so übergroßes Interesse dieses Freundespaares an dem Manne, der sich anmaßt, das Geheimnis des Sees zu ergründen, daß man notwendig auf den Gedanken kommen muß, diese beiden Herren stehen zu dem Geheimnis in irgend welchen nicht ganz einwandfreien Beziehungen, die sie veranlaßt haben, mir jene etwas stark auffällige Aufmerksamkeit zu schenken. Kurz: sie fürchten mich, wollen daher wissen, wann und ob ich verkleidet fahren werde, und – geben sich alle Mühe, mich schon vor meiner Abreise so etwas dadurch ängstlich zu machen, daß sie – den Kommissar und den Professor für den Zeitungsbericht erfinden. Ich sage – erfinden! Mich hatte es nämlich stutzig gemacht, daß Blenkner heute vormittag bei uns erklärte, auch ihm wäre so etwas Ähnliches mal „zu Ohren gekommen“. Er gebrauchte vorsichtigerweise diese Worte, um sich nicht festzufahren. Mir fielen sie aber auf, da er doch als Neffe des Schloßherrn von Szentowo ohne Zweifel sehr genau über jene Unfälle hätte unterrichtet sein müssen und nicht behaupten durfte, ihm wäre dergleichen nur „zu Ohren gekommen“. Ich wollte sofort Gewißheit haben und ließ mich mit dem Gemeindevorsteher in Szentowo telephonisch verbinden, bat um strengste Diskretion und fragte nach dem Kommissar und dem Professor, die beinahe auf dem See verunglückt wären. Antwort: „Hier ist nichts dergleichen bekannt und auch nicht passiert – ganz bestimmt nicht. Ich müßte das wissen. Der Herr Graf von Lippstedt hat „die Sache“ nur im letzten Herbst durch einen Berliner Detektiv untersuchen lassen, dieser ist aber sehr bald wieder abgereist. Der Detektiv hieß Holzmüller und war ein Berliner.“ – So, Kollege, nun wissen Sie auch, was es mit dem vorhin erwähnten Telephongespräch nach außerhalb für eine Bewandtnis hat, und nun brauche ich nur über die Besuche bei Doktor von Beltz, meinem Klubgenossen, und bei Detektiv Holzmüller kurz zu sprechen. – Beltz lobte – er ist zuverlässig und verschwiegen – Bollschwing über alle Maßen als vornehmen Charakter und tadellosen Ehrenmann. Auch Blenkner ist ihm persönlich bekannt. Über diesen hörte ich ein ähnliches Urteil nur mit der kleinen Einschränkung: sehr adelsstolz und verschlossen. – Dann zu Holzmüller. Der war eine Niete. Wußte nichts – gar nichts von Bedeutung, hatte acht Tage im Schlosse Szentowo, das ganz dicht am See liegt, gut gegessen und getrunken, vierhundert Mark Honorar eingesteckt und – nur ermittelt, daß der See steinigen Grund hat und durchschnittlich acht Meter tief ist. Während seiner Anwesenheit blieb das rätselhafte Leuchten aus. Die Seenixe streikte eben.“[15]

Nachmittags gegen zwei Uhr traf der Zug auf der kleinen Station Malchin ein. Hier stieg auch Bollschwing, ein kräftiger, stattlicher Mann in den besten Jahren, aus und begab sich zu dem auf ihn wartenden leichten Jagdwagen, rief dem Kutscher zu, er solle nach dem Pommerschen Hof vorausfahren und ging dann zu Fuß in das Städtchen hinein, das sich zu beiden Seiten des Bahnhofs hinzog.

Bollschwing schritt sehr eilig dahin. Harst gab Schraut die Weisung, ihn in einer Kneipe, an der sie vorüberkamen, zu erwarten. Mit der Drehorgel auf dem Rücken hielt er sich stets einige dreißig Meter hinter Bollschwing, der bald eine Art Vorstadt betrat, deren Villengrundstücke sämtlich in einer Waldlichtung lagen und an den Forst grenzten. Das letzte Haus war des Güterdirektors Ziel. Es war von Tannen und Buchen dicht umgeben. Harst zweifelte nicht, daß es dasjenige des Schriftstellers Blenkner wäre. Nachdem er die Drehorgel eiligst in einem nahen Gebüsch versteckt hatte, kletterte er von der Seite über den niedrigen Holzzaun und schlich auf das kleine, freundliche Gebäude zu. Der Garten war recht groß, und als Harst nun eine laute Stimme hörte, die wiederholt „Marie – Marie!“ rief, dachte er sogleich an Blenkners alte Wirtschafterin. Er wagte sich weiter vor. Schlimmstenfalls konnte er ja den Bettler spielen.

Marie hatte im Gemüsegarten die Erdbeerbeete in Ordnung gebracht, kam nun Bollschwing entgegengelaufen und wurde von diesem durch Handschlag begrüßt.

Harst lag jetzt hinter einem großen Jauche-Faß. Aber die beiden sprachen so leise, daß er nur wenige Worte verstand.[16]

– – – – – – – –

Es war bereits kurz nach sechs Uhr, als Harst sich – jetzt ohne Drehorgel – zu dem Gemeindevorsteher begab, der gleichzeitig den größten Bauernhof in Szentowo besaß.[17]

Der Gemeindevorsteher Schimmeck war nicht zu sprechen. Seine Frau erklärte Harst, der Herr Graf wäre bei ihrem Manne; er müsse also warten oder später wiederkommen.

Als Harst noch mit ihr im Vorgarten stand, erschien auf der Dorfstraße derselbe Jagdwagen, der den Güterdirektor von der Bahn abgeholt hatte. Jetzt kutschierte eine sehr elegant gekleidete Dame, während hinten stocksteif ein Diener in Livree saß. Der Wagen hielt vor dem Gehöft. Trotzdem blieb Frau Schimmeck ruhig, wo sie war, bückte sich auch und pflücke ein paar Rosenblätter ab, auf denen Blattläuse wie besät saßen. Da rief eine helle Stimme: „Frau Schimmeck, mein Mann ist doch bei Ihnen?“ – „Jawohl, Frau Gräfin.“ Darauf ging sie langsam die Steinstufen zur Haustür empor.

Harst beobachtete alles mit den kritischen Blicken und den ebenso kritischen Gedanken des erfahrenen Menschenkenners. – Hier stimmt irgend etwas nicht, sagte er sich. Die Schimmeck benimmt sich der Gattin des Gutsherrn gegenüber in einer Weise, als gäbe es zwischen ihnen eine starke Abneigung, – mehr noch, als sähe die Bauernfrau jene nicht recht für voll an.

Die Gräfin Lippstedt stieg aus und betrat den Vorgarten. Sie war eine schlanke, große Erscheinung mit einem schmalen, stark gepuderten Gesicht und nachgetuschten Augenbrauen. Harst hatte diese Toilettenkünste mit einem schnellen Blick erfaßt, als er die Dame unterwürfig gegrüßt hatte.

Der Gruß blieb unerwidert. Harst war für die Gräfin Luft. Sie ging auf dem Hauptweg auf und ab, recht ungeduldig und hastig, schaute immer wieder nach der Haustür. Gut zehn Minuten drauf kam der Graf heraus, begleitet von dem Gemeindevorsteher. – „Auf Wiedersehen, lieber Schimmeck. Und – umgehend telephonische Meldung, sobald Sie irgend etwas Neues oder auch nur mit der Sache ganz entfernt Zusammenhängendes hören.“

Schimmeck verbeugte sich wortlos und verschwand wieder im Hause. Der Graf stutzte, als er Harst erblickte, und überhörte sogar die Frage seiner Frau: „Hat er sich nochmals gemeldet, Erwin?“

Graf Lippstedt mochte Mitte dreißig sein. Er war sehr groß, trug Spitzbart, sah auffallend bleich aus und hatte dunkle, strengblickende Augen. Seine Haltung war die eines kränklichen, schwächlichen Menschen: vornübergebeugt mit vorgedrückten Schultern.

„Wer sind Sie?“ fragte er barsch. – Harst zog den schäbigen Filz und erwiderte ganz bescheiden: „Ein Drehorgelspieler – sehr zu dienen. Ich wollte –“

„Ihre Papiere? – Her damit! – Nun – wird’s bald!“

Das war eine böse Patsche für Harst. – Papiere – daran hatte er nicht gedacht.

„Ich – ich habe sie in der Herberge in meiner Drehorgel gelassen –,“ meinte er nun doch recht zuversichtlich.

„Was wollten Sie hier beim Gemeindevorsteher?“

„Um leichte Arbeit bitten. Mein Geschäft geht schlecht.“

Der Graf lachte auf. „Arbeit! Euereiner und Arbeit?!“

Da mischte sich die Gräfin ein. „Erwin, so laß doch den Mann – Bollschwing wartet auf dich.“

„Mag er warten!“ rief er unwirsch. „Du kannst Dir wohl denken, Tilla, weshalb ich –“ Er beendete den Satz nicht, wandte sich wieder an Harst: „Gehen Sie langsam voraus nach der Herberge. Aber – ich warne Sie vor einem Fluchtversuch. Ich trage einen Revolver bei mir. Ich bin hier gleichzeitig Amtsvorsteher.“

Harst verließ den Vorgarten. Der Graf und die Gräfin folgten dicht hinter ihm im Wagen. Vor der Herberge rief Lippstedt: „Holen Sie Ihre Papiere!“ – Inzwischen hatte Harst sich schon überlegt, wie er aus dieser Klemme am besten herauskäme.

Max Schraut saß im Gastzimmer und las in einem alten Kalender. Der Wirt war schnell hinter dem Schenktisch hervorgestürzt und bedienerte nun draußen das gräfliche Paar. „– Her mit Ihren Papieren,“ raunte Harst seinem Gehilfen zu. „Graf Lippstedt will sie sehen. Bisher hat er nach meinem Namen nicht gefragt. – Oh – das fehlte gerade noch!“ Er hatte einen Blick zum Fenster hinausgeworfen. „Er hat einen Gendarm herbeigewinkt. Doch – vielleicht ist’s ganz gut so. – Man wird mich sicher einsperren, Kollege. Gehen Sie zum Gemeindevorsteher und stellen Sie sich als Harald Harst vor. Die Schimmecks sind den Gutsherrschaften nicht sehr gewogen. Bitten Sie Schimmeck um strengste Diskretion und lassen Sie sich alles erzählen, was hier in der Gegend in den letzten Jahren an irgendwie auffälligen Ereignissen vorgekommen ist. Ich werde versuchen, recht bald –“ – Da trat der Gendarm ein – wuchtig, schwerfällig und mit unheilverkündender Miene. Harst ging ihm entgegen. „Herr Wachtmeister, ich will ehrlich sein. Ich besitze keine Papiere. Sie sind mir letztens gestohlen worden.“

„Ach was?! Gestohlen! – Kommen Sie mit.“ – Draußen fragte der Graf den Drehorgelspieler nach dem Namen, schaute ihn dabei in einer Weise an, daß Harst aus diesen bohrenden Blicken, die dennoch eine gewisse ängstliche Unruhe verrieten, die Bestätigung einer Vermutung entnahm, die schon im Garten des Gemeindevorstehers in ihm aufgezuckt war. – „August Müller, gnädiger Herr,“ erwiderte er recht kläglich. – Auch die Gräfin hatte sich nun weit vorgebeugt und musterte Harst mit ähnlichen Blicken.

„Bringen Sie den Menschen sofort nach Malchin ins Amtsgerichtsgefängnis,“ befahl der Graf dem Gendarm. „Ich werde morgen persönlich mit dem Amtsrichter dieserhalb Rücksprache nehmen. Ich schicke Ihnen vom Gut einen Einspänner. Dann sind Sie noch vor Dunkelwerden in Malchin.“

Eine halbe Stunde darauf ratterte ein einfacher Kastenwagen die Chaussee entlang. Harst saß hinten auf einem Strohbündel dem Gendarmen gegenüber. Er war jetzt sehr zufrieden, daß er sich nicht der Papiere Schraut-Schülers bedient hatte, denn er glaubte, abermals etwas entdeckt zu haben, das vielleicht von Wichtigkeit war. Der Graf hatte zu Schimmeck gesagt: „– oder auch nur mit der Sache ganz entfernt Zusammenhängendes –“, und die Gräfin hatte ihren Gatten als erste Begrüßungsworte gefragt: „Hat er sich nochmals gemeldet, Erwin?“ Hierauf verriet der Graf wieder ein recht seltsames Interesse für den Drehorgelspieler, das er dann seiner Frau gegenüber durch den unvollendeten Satz begründete: „Du kannst Dir wohl denken, weshalb ich –“ Schließlich dann noch die scharf prüfenden, mißtrauischen Blicke. – All das genügte Harst zu der Annahme, daß Lippstedt ihn für den hielt, der er in Wirklichkeit war, eben für den Liebhaberdetektiv, der ja bereits einmal von Berlin aus telephonisch mit Schimmeck gesprochen hatte! – Und nun ließ der Graf diesen Detektiv kurzer Hand einsperren, sogar gleich nach dem Amtsgerichtsgefängnis bringen! Wie war dies nun wieder zu bewerten? –[18]

Schraut war froh, daß man ihn ganz unbehelligt ließ. Der Wirt fragte ihn natürlich, was der andere denn auf dem Kerbholz hätte. – „Woher soll ich’s wissen?! Ich bin dem Leierkasten-Kollegen erst auf der Chaussee jenseits Malchin begegnet,“ erklärte der Komiker gleichgültig. „Jedenfalls bin ich ein ehrlicher Kerl. Hier sind meine Papiere, Herr Wirt. – Kann ich wohl bei Ihnen ein paar Tage bleiben. Ich bin mit einem Heulager zufrieden. Und ich helfe auch gern ’n bißchen mit.“ – „Wollen sehen –“

Abends kamen ein paar Bauern zum Skat in die Dorfschenke. Schraut erzählte ihnen gepfefferte Witze und machte Kartenkunststücke. Es ging sehr vergnügt her, und der Wirt merkte, daß Max Schüler ein nutzbringender Gast war. So kam’s denn, daß Harsts Privatsekretär diese Nacht in einem Stübchen neben dem Schankraum in einem sauberen, weichen Bett schlief, während sein Herr mit den Flöhen des Gerichtsgefängnisses zu derselben Zeit einen ebenso erbitterten wie aussichtslosen Kampf ausfocht. – Am Morgen durfte Max Schüler, der Geigenkünstler, den Schweinestall ausmisten. Dann aber zog er es vor, sich zu drücken und zu Schimmeck zu gehen. Dieser arbeitete auf seinem Hof an einem Pfluge. Er war ein älterer, ernster Mann mit der ruhigen Art der alteingesessenen, wohlhabenden Bauern. Sein Gesicht verriet jene Schlauheit, die selbst höhere Bildung entbehrlich macht. Als Schraut ihn nach einigen einleitenden Sätzen fragte, ob er sich auf seine Verschwiegenheit jedermann gegenüber wohl verlassen könnte, meinte Schimmeck bedächtig: „Das können Sie. – Ich merke aus dieser Frage schon, daß Sie kein echter wandernder Musikant sind. Sind Sie etwa gar – Herr Harst? Der Graf sagte gestern zu mir, der Detektiv würde wahrscheinlich in einer Verkleidung herkommen.“

„Ich bin Harald Harst,“ erklärte der Komiker leise. „Nein – danke, – nicht ins Haus. Wir können uns auch hier unterhalten. – Woher weiß der Graf, daß ich in Szentowo auftauchen würde?“

Der Gemeindevorsteher erwiderte, Lippstedt wäre gerade bei ihm im Dienstzimmer gewesen, als Harst vorgestern telephonisch um Auskunft über die angeblichen Unfälle auf dem See gebeten hätte. „Er zeigte gleich ein großes Interesse für Sie, Herr Harst, fragte, ob Sie mich schon früher mal angerufen hätten, und kam dann gestern gegen Abend mit der neuesten Berliner Zeitung zu mir, las mir den Artikel über Sie vor und war sehr aufgebracht darüber, daß – „dieser Unsinn von dem See nun wieder aufgewärmt würde“, wie er sich ausdrückte. Ich soll ihm auch sofort melden, wenn Sie sich hier blicken lassen oder mich nochmals antelephonieren. Natürlich werde ich nun schweigen. Mein Versprechen halte ich. – Hm – Sie möchten wissen, weshalb der Graf es nicht gern sieht, daß über das Leuchten in unserem See gesprochen wird. Ja, das ist nun eigentlich eine merkwürdige Sache, Herr Harst. Bevor ich mich darüber auslasse, will ich noch bemerken, daß unser Graf früher – noch vor einem Jahr – ein sehr gemütlicher Herr war. Dann aber kam seine erste Frau, eine geborene Komtesse Hildegard Hersfeld, bei dem Eisenbahnunglück bei Köslin ums Leben und er heiratete schon nach vier Monaten die jetzige Gräfin Tilla, die bis dahin in Berlin Schauspielerin gewesen sein soll. Er muß sie wohl schon vordem gekannt haben. Seine erste Gattin war kränklich, und er fuhr sehr viel nach Berlin. Im vorigen Sommer hielt die neue Gräfin nach einer Hochzeit, der von der Verwandtschaft nur der Neffe, ein Herr von Blenkner, beigewohnt hatte, hier ihren Einzug. Nun – sie hat es schnell fertiggebracht, sich und leider auch den ganz unter ihrem Pantoffel stehenden Grafen überall unbeliebt zu machen. Sie spielt sich sehr auf, tut als hätte sie niemals Mathilde Mulack geheißen, hat den Neffen schon zwei Wochen nach der Hochzeit ganz vergrault und – den Grafen zu dem gemacht, der er heute ist, – ein zerfahrener, leicht aufbrausender und körperlich ganz heruntergekommener Mann. Sie hätten ihn früher kennen sollen, Herr Harst! Da war er frisch, lebenslustig, da –“ Und Schimmeck redete in dieser Weise noch eine Weile weiter, bis Schraut ihn fragte, was der Neffe für ein Mensch wäre. „Oh, – ein sehr netter Herr. Ein richtiger Neffe vom Grafen ist’s aber nicht, nur ein Sohn einer älteren Schwester seiner ersten Frau. Er ist Schriftsteller und wohnt drüben in der Kreisstadt.“ – „So so. – Was halten Sie von dem Güterdirektor Bollschwing?“ – „Sehr viel. Ein Ehrenmann durch und durch. Wenn der nicht auf den Besitzungen des Grafen nach dem Rechten sähe, wäre längst alles verlottert.“ – „Wir sind vom Thema etwas abgekommen, Herr Schimmeck. Sie wollten mir doch erklären, weshalb es eine merkwürdige Sache wäre, daß der Graf –“ „Ach so, richtig. – Nun, zunächst das Leuchten im See – damit hat’s seine Richtigkeit. Ich habe es selbst wiederholt gesehen. Der Graf hat nun immer so getan, als ob ihm die Geschichte sehr gleichgültig wäre. Den Detektiv Holzmüller ließ er nur herkommen, weil der Amtsrichter Mörner in Malchin – es gibt dort nur den einen Richter – ihm den Vorschlag wiederholt gemacht hat, die Angelegenheit doch untersuchen zu lassen. Er hat immer über die Sache gelacht und gesagt, es wären ganz sicher Sumpfgase, die auf dem Seegrund brennen. Aber, Herr Harst, – aber in Wirklichkeit war er doch wohl anderer Ansicht, da er viele Nächte im verflossenen Herbst und in diesem Frühjahr sich in seinem Boot auf dem See heimlich herumgetrieben hat, nachdem er sehr bald nach dem ersten Auftauchen des Spuks streng verboten hatte, dort zu fischen oder Kahn zu fahren. Ja – er ließ sogar alle anderen Kähne und Boote unter einem Vorwand zerschlagen. Und dabei gab er sich vor den Leuten stets den Anschein, als wäre ihm das Leuchten im Wasser nicht mal eines Wortes wert.“

Schraut hatte sich auf einen Holzklotz gesetzt und überdachte das soeben Gehörte. – Schade, daß der echte Harst nicht hier war. Der hätte vielleicht aus Schimmecks recht vielseitigen Angaben manches Wichtige herausgefunden. Schraut versuchte dies auch, aber umsonst. Er sah nur das eine mit aller Deutlichkeit: das Geheimnis des Sees wurde immer verworrener. – Wie sollte man wohl Blenkner und Bollschwing dazu in irgend eine Beziehung bringen? – Da begann Schimmeck wieder, der inzwischen ein paar Nägel in den hölzernen Pflug geschlagen hatte: „Richtig – eins fällt mir noch ein, Herr Harst, was für Sie vielleicht auch ganz interessant ist. Im letzten Herbst ist der Familienschmuck der ersten Gattin unseres Gutsherrn gestohlen worden. Der Diebstahl wurde von dem Grafen ganz zufällig entdeckt. Die Schmucksachen lagen in einem geheimen Wandfach in seinem Arbeitszimmer, das er selten öffnete. Als er’s nach einigen Wochen wieder mal tat, fand er das Schloß zerstört vor, und der Schmuck war verschwunden. Unser Gendarm hat diese Sache untersuchen müssen. Aber natürlich kam nichts dabei heraus.[19]

Schraut verabschiedete sich gleich darauf. – Wirklich – ein Jammer, daß Harst eingesperrt war, – besser, daß er sich hatte einsperren lassen, denn es wäre ihm ja ein leichtes gewesen, dem Grafen gegenüber die Maske zu lüften. Nun – er mußte wohl seine Gründe gehabt haben, daß er’s nicht tat. – Am Nachmittag half Schraut beim Unkrautjäten im Garten, und erst nach elf Uhr abends, als die letzten Gäste die Dorfkneipe verlassen hatten, stieg er zum Fenster seines Stübchens hinaus und schlich nach dem See hinab.

Es war Vollmond und klarer Himmel. Schraut hatte sehr bald den bewaldeten Teil des Seeufers erreicht und fühlte sich nun hier im Schatten der Baumkronen weit sicherer. – Der See hatte einen Durchmesser von vielleicht zweihundertfünfzig Meter. Stellenweise hatten Erdrutsche am Ufer stattgefunden, so daß eine Menge Kiefern, Eichen und Buchen halb im Wasser standen. Dies sah recht eigenartig aus. – Als Schraut dann das Schloß Szentowo, einen schlichten Bau mit einem einzigen, massigen Turm, sich gerade gegenüber hatte, setzte er sich auf die steile Uferböschung und freute sich des poetischen Bildes, das der stille Waldsee und drüben das Schloß im Mondenschein darboten.[20]

Schraut sog prüfend die Luft ein. Er roch etwas, das er erst kürzlich kennen gelernt, den Rauch einer ganz bestimmten Zigarettensorte. Dieser süßliche Geruch war unverkennbar. Nur Harsts Mirakulum duftete so. Und Harst führte im Futter seines Filzhutes sechs Päckchen Mirakulum mit sich. – Der Wind kam von Westen. Man sah’s am Kräuseln des Wassers. Schraut drehte also den Kopf nach links und – erstarrte zur sitzenden Bildsäule, – denn links, keine vier Schritt von ihm entfernt, lag – der Drehorgelspieler-Kollege lang auf dem Bauch, hatte die Arme aufgestützt auf den weichen Moosboden und nickte ihm nun gemütlich zu. – „Kommen Sie etwas näher herangerutscht, Schüler,“ meinte Harst und blies dabei den Zigarettenrauch von sich. „Es ist nicht nötig, daß wir hier zu laut uns unterhalten. – So, – guten Abend also. Wie geht’s? – Sie wundern sich, daß ich hier bin? – Ich habe obrigkeitliche Erlaubnis dazu. Der Amtsrichter Mörner in Malchin und der Gefängnisaufseher, sein Untergebener, machen sich eine Ehre daraus, mich zu unterstützen. Ich habe mich Mörner zu erkennen gegeben, und zwar, nachdem der Graf heute vormittag bei ihm gewesen und ihn gebeten hatte, mich wegen Landstreichens und Bettelns zur Abschreckung mindestens vierzehn Tage da zu behalten. Der Graf vermutet nämlich in mir jenen Harald Harst, der – und so weiter. Und da er mir auf diese Weise vierzehn Tage Loch verschaffen wollte, natürlich um mich als Detektiv hier kaltzustellen, kann man annehmen, daß er, was das Seeleuchten angeht, Entdeckungen fürchtet, die – ihn vielleicht ins Loch bringen können. – Übrigens habe ich das gräfliche Paar vorhin im Schloßpark bemerkt. Eine etwas späte Stunde selbst für eine Mondscheinpromenade. Doch – hierüber ein andermal. – Waren Sie bereits bei Schimmeck, Kollege? – So, dann erzählen Sie mal, was Sie da erfahren haben. – Aha – der Graf war also während des Telephongesprächs dabei. Hab’ ich mir gedacht. – Die Ehegeschichte – zweite Heirat – kenne ich haarklein vom Amtsrichter. Auch den Diebstahl. Das können Sie sich schenken. – Wie?! Tatsächlich – Schimmeck hat den Grafen und die Gräfin nachts im Boot auf dem See gesehen – und wiederholt? Ah – das ist etwas ganz Neues! Davon weiß Mörner nichts, dem gegenüber Lippstedt ebenfalls immer den Gleichgültigen gespielt hat. Das wirft meine Theorie über den Haufen – schade! Sie war so schön – alles paßte so gut ineinander, sogar der romanmäßige Schatz hatte sich dabei verwenden lassen. Und ich war sehr stolz auf diese Theorie, die mir geradezu zugeflogen kam, als Mörner den Diebstahl erwähnte und die Gerüchte, Blenkner wäre derjenige, welcher – Blenkner ist ein Mann in sehr bescheidenen Verhältnissen. Und der Schmuck gehörte seiner Tante, der Gräfin Hildegard, der ersten Frau, und war gräflich Hersfeldsches Familieneigentum, das er dann in einer schwachen Stunde, um es der neuen Gräfin zu entziehen, die ihn doch mit ihrem Gatten zu entzweien verstanden hat, geraubt und – in den See geworfen haben konnte. Nachher, so hatte ich weiter gefolgert, tat ihm dieses übereilte Versenken der Juwelen leid, und er suchte sie mit Hilfe Bollschwings wieder – im Taucheranzug und mit einer elektrischen Laterne bewaffnet herauszufischen.“[21]

„Sie sind ja so überrascht, Kollege?! – War Ihnen denn nach meinen naturwissenschaftlichen Bemerkungen auf der Chaussee über leuchtendes Holz, Leuchtkäfer und so weiter nicht sofort klar geworden, daß hier nur ein Mann im Taucheranzug mit elektrischer Lampe und ein zweiter, der die Luftpumpe bediente, in Betracht kommen konnten? – Mir kam dieser Gedanke schon in Berlin, und auch Holzmüller hat an diese Erklärung gedacht, wie er mir sagte. Ich wußte nur nicht, was die Betreffenden auf dem Seeboden suchten. Erst Mörners Mitteilungen ließen die Vermutung in mir aufsteigen, Blenkner und Bollschwing hätten hier als Taucher gearbeitet, was technisch durchaus möglich ist, da der See nur acht Meter Tiefe hat und da man einen beliebig langen Luftschlauch als Verbindung zwischen der an Land befindlichen Luftpumpe und dem Taucherhelm benutzen kann. Ich sage: an Land befindlichen Luftpumpe, – denn diese ließ sich hier im Walde leicht ganz versteckt aufstellen, so daß die beiden Verbündeten nicht nötig hatten, ein Boot zu benutzen. – Doch – zurück zu meiner – leider verfehlten – Theorie. Zu dieser paßte ja auch tadellos das Verhalten Blenkners mir gegenüber. Er fürchtete eben, ich könnte hinter den wahren Sachverhalt kommen, und wollte, so glaubte ich, durch Bollschwing hier schnell alle Spuren beseitigen lassen, die die beiden und ihre Tauchtätigkeit hätten verraten können. Des Grafen Lippstedt scheinbare Gleichgültigkeit gegen die Lichterscheinungen im See hatte ich mir wieder so ausgelegt, daß er sehr wohl den ganzen Zusammenhang zwischen dem Diebstahl und dem Seeleuchten ahnte, daß er aber aus alter Anhänglichkeit an Blenkner, den er geradezu geliebt haben soll, die Sache ihren Gang gehen ließ. Als er mich, den Liebhaberdetektiv, nun hier in der Maske des Leiermannes zu erkennen glaubte, hat er wohl ähnlich gedacht wie Blenkner, das heißt gefürchtet, ich könnte wirklich alles aufdecken. Deshalb wollte er mich für einige Zeit – kaltstellen, bis sein Neffe eben die nötigen Vorkehrungen getroffen hätte, mir jeden Erfolg unmöglich zu machen. – Sie sehen, lieber Schraut, – nein, lieber Schüler, daß diese Theorie viel Bestechendes an sich hatte. Doch – jetzt ist sie für mich erledigt, wenigstens in dem Hauptpunkt, dem Suchen nach dem Schmuck. – Sie fragen: weshalb erledigt? – Denken Sie doch mal nach. Wenn der Graf, wie ich annahm, die Dinge laufen lassen wollte, wie sie liefen, wenn er seinen Neffen bei der Taucharbeit nicht stören wollte, dann – dann wäre er doch niemals so und so oft mit seiner Frau, die den Schriftsteller förmlich zu hassen scheint und die ihn somit sicher nicht geschont, die der Graf aber aus diesen Gründen auch nie in seine Ansicht von dem See-Geheimnis eingeweiht haben würde, in dunklen Nächten gerade auf dem See umhergerudert – nein, niemals! – Ich bin hier auf falscher Fährte gewesen, auf ganz falscher. Aber – wo finde ich die richtige?“

Er versank in Nachdenken, rauchte schweigend eine zweite, dritte Zigarette, starrte zu der silbern glänzenden Mondscheibe empor und schien Schrauts Gegenwart völlig vergessen zu haben. Dann sprang er plötzlich auf. – „Kommen Sie, Kollege, ich muß mich mal auf Blenkners Grundstück näher umsehen,“ sagte er. „Der Gastwirt besitzt ein Rad. Es steht im Flur. Holen Sie es. Ich habe mir das des Amtsrichters geborgt. Ich habe es dort an der Chaussee im Gebüsch. – Ich muß Gewißheit haben, ob tatsächlich Blenkner und Bollschwing die Taucher sind. Sie dürften die Ausrüstung jetzt, wo sie doch so lange in Berlin waren, bei dem Schriftsteller verborgen haben. Und – die alte Wirtschafterin wird verraten müssen, was sie weiß? – Wie? – das wird sich finden, – trotz der Warnung, die Bollschwing ihr zukommen ließ.“ –

Gegen elf Uhr vormittags machte Amtsrichter Mörner dem „Gefangenen“ einen Morgenbesuch. Harst war gerade bei einem sehr reichhaltigen Frühstück, das ihm der Gefängnisaufseher besorgt hatte. Die beiden Herren schüttelten sich die Hände, und Mörner nahm dann auf dem Holzschemel Platz, während Harst sich auf den Bettrand setzte. Der Aufseher hatte hinter seinem Vorgesetzten die Zellentür wieder abgeschlossen und war davongegangen.

„Nun, haben Sie in der verflossenen Nacht etwas Besonderes erlebt?“ fragte der Amtsrichter gespannt. „Sie wissen ja, wie sehr mich dieser Fall interessiert, mehr noch Ihre Arbeitsmethode. Bisher glaubte ich stets, wirklich geistvolle Detektive wären nur in Büchern zu finden. Übrigens – auch ich bringe eine Neuigkeit. Der Graf war vor einer Stunde bei mir und fragte, ob wir bei dem Landstreicher – also bei Ihnen – auch eine genaue Leibesvisitation vorgenommen hätten. Dann meinte er etwas zögernd, ihm hätte es geschienen, als ob der Leierkastenmann eine fuchsige Perücke und falschen Bart trüge. Ohne Frage wollte er also auf den Strauch schlagen. Ich blieb ganz ruhig und erklärte, er täusche sich. Haar und Bart wären echt. – Da ließ er ein sehr überraschtes Gesicht sehen. Und nach einer Weile wieder sagte er, als ob er plötzlich milder gegen die Vagabunden gesinnt wäre: „Meinetwegen mag der Kerl auch billiger wegkommen. Drei Tage Loch tun’s schließlich auch!“ – Ich merkte auch, daß er stark beunruhigt war, weil Sie nun doch der erwartete Detektiv nicht zu sein schienen. Er sah überhaupt sehr bleich und geradezu verfallen aus. Was ist nur aus dem einst so blühenden Mann in so kurzer Zeit geworden!“

Harst füllte sich die Kaffeetasse. „Das böse Gewissen kann einem übel zusetzen, Herr Amtsrichter. Lippstedt war ein ehrlicher Mensch, bevor er die Mathilde Mulack vor zwei Jahren in Berlin kennen lernte. Jetzt – Doch davon später. – Ich habe durch den Aufseher morgens eine Depesche unter Ihrem Namen nach Berlin geschickt. Die Antwort dürfte mittags eingehen. Bitte händigen Sie mir dann doch das Telegramm sofort aus.“ Er trank die Tasse leer und bot Mörner eine seiner Mirakulum an. – „Sie sind ja ganz versteinert, Herr Amtsrichter. Vielleicht deswegen, weil ich das böse Gewissen erwähnte? – Oh – ich fürchte, zwei Ihrer Zellen hier werden schon morgen sehr vornehme Gäste bergen. Das See–Leuchten ist nämlich schon aufgeklärt. Sollte heute Herr von Blenkner zu Ihnen kommen, so bringen Sie ihn doch zu mir. Ich habe ihm in dieser Nacht – er ist morgens von Berlin eingetroffen – in seinem Landhaus einen Brief zurückgelassen, des Inhalts, daß es für seine Sache vorteilhaft wäre, recht bald sich mit Ihnen in Verbindung zu setzen.“

Mörner machte ein sehr wenig geistreiches Gesicht zu alldem. Ihm schwirrte förmlich der Kopf. Ganz mechanisch nahm er von Harst das brennende Streichholz für die Zigarette entgegen. Er wollte dann gerade den Mund zu einer Bemerkung auftun, als draußen im Gang schwere Schritte erklangen. Es war der Aufseher, der nun Harsts Zelle öffnete und meldete: „Herr Amtsrichter, Herr von Blenkner wünscht Sie in einer sehr dringenden –“ – „Führen Sie ihn nur hierher,“ unterbrach Harst ihn. „Wir warten schon auf den Herrn.“

Der Aufseher verschwand verdutzt. – „Sehen Sie, da ist er schon,“ meinte Harst zu Mörner. „Das Vorspiel des Dramas ist zu Ende. Der zweite Akt beginnt, denn der erste spielte sich in dieser Nacht zwischen mir und Blenkners Wirtschafterin ab. Sie werden sofort alles hören.“

Blenkner trat ein. Sein Blick ruhte prüfend auf dem rotbärtigen Leiermann. – „Ah – also hier sehe ich Sie wieder, Herr Harst,“ sagte er überstürzt. Dann reichte er Mörner die Hand. – Harst war aufgestanden und bot Blenkner den Platz auf der Bettkante an. „Bitte – setzen Sie sich. Wir werden so manches zu besprechen haben. Ich stehe gern. – Zigarette gefällig, Herr von Blenkner? – Es ist eine Marke, die im Handel nicht zu haben ist, meine Spezialmarke. – Wie haben Sie es in Berlin herausbekommen, daß ich bereits abgereist war? Waren Sie bei mir zu Hause? – Ah – meine gute Mutter erklärte, ich wäre krank. Ganz wie ich’s ihr angeraten hatte. – So so – und dann haben Sie sofort Lunte gerochen, daß der Vogel in Wahrheit ausgeflogen war. – Doch jetzt wollen wir den Amtsrichter nicht länger auf die Folter spannen. – Die Herren werden ja aus den Zeitungen über meinen ersten kleinen Erfolg als Liebhaberdetektiv unterrichtet sein. Die Aufklärung des an meiner Braut verübten Mordes war bedeutend einfacher als dieser Fall hier, den ich sogar jetzt noch nicht vollständig übersehe, obwohl die Hauptpunkte erledigt sind. Daß die Lichterscheinungen im See nur auf eine elektrische, von einem Taucher gehandhabte Lampe zurückzuführen sein konnten, wußte ich sofort, zumal das Leuchten ja wandern sollte und nicht auf einer Stelle beharrte. Ein Mann im Taucheranzug suchte also irgend etwas auf dem Seeboden, und ein zweiter mußte ihm die nötige Luft mittels der Pumpe zuleiten. Zwei waren also ohne Frage dabei mindestens beteiligt, zwei gute Freunde, – zum Beispiel Sie, Herr von Blenkner, und Ihr Intimus Bollschwing –“ Harst entwickelte nun denselben Gedankengang, den er in der Nacht am Seeufer Max Schüler mitgeteilt hatte. „Unterwegs auf der Chaussee riß an meines Sekretärs Rad die Kette. Ich fuhr allein weiter. Ich klingelte dann kurzer Hand Ihre Marie heraus, Herr von Blenkner. All das kennen Sie bereits. Aber dem Amtsrichter ist es neu. Ich stellte mich Marie als Privatdetektiv Meier vor, der in Ihrem Auftrage käme, um die Schritte des anderen Detektivs Harald Harst zu durchkreuzen. – Marie nickte verständnisvoll. „Vor dem Harst hat Herr Bollschwing mich schon gewarnt,“ meinte sie in ihrer Ahnungslosigkeit und – vertraute mir vollständig. Ich sagte ihr nun – und das war ein Versuch auf gut Glück! – Sie hätten mir befohlen, die Taucherausrüstung sofort im Walde zu vergraben, da sie Ihnen in dem jetzigen Versteck nicht sicher genug verborgen zu sein schien. – Marie nickte wieder, nahm die Lampe und führte mich in den Stall, wo in zwei großen, scheinbar mit Getreide gefüllten Kisten all das lag, worauf ich aus war. Als ich so sehr schnell ans Ziel gelangt war, erklärte ich dem alten Frauchen, dies Versteck genüge durchaus; wir könnten die Sachen ruhig in den Kisten lassen. Dann bat ich Ihre Wirtschafterin um etwas Genießbares. So fand ich Gelegenheit, mich mit ihr längere Zeit zu unterhalten. Sie plaudert gern, die Alte, rühmte sich, Ihr volles Vertrauen zu besitzen, und – war spielend leicht auszuhorchen. Ich tat, als hätten Sie mich nur oberflächlich in die Sachlage eingeweiht, und obwohl ich nichts wußte, genügten allgemeine Andeutungen, von dem Frauchen zu erfahren, daß Sie, Herr von Blenkner, den Grafen und seine damalige Geliebte Mathilde Mulack im Verdacht hätten, Ihre Tante, die Gräfin Hildegard, ermordet, im See versenkt und das Märchen erfunden zu haben, sie wäre nach einem Streit mit ihrem Gatten nachts heimlich auf und davon gegangen und sodann bei dem Eisenbahnunglück in Köslin mit umgekommen, wobei dem verbrecherischen Paare die Unkenntlichkeit mehrerer bei der furchtbaren Katastrophe halb verkohlter weiblicher Leichen zu statten gekommen wäre. – Ich dankte der Alten herzlichst für alles Empfangene, wobei sich mein Dank freilich mehr auf die geistige Kost bezog, und verließ das Haus. Marie hatte nun auch unter anderem erwähnt, daß die Überreste der Toten – das heißt also der unechten Gräfin – in der Familiengruft im Park des Schlosses Szentowo beigesetzt worden wären. – Ich sagte nun schon, daß ich, bevor ich meinen Gehilfen Max Schüler am Seeufer traf, bereits das Schloß eine Weile umschlichen und dabei dem Grafen und der Gräfin in der Hauptallee des Parkes begegnet war. Sie gingen auf das Schloß zu und sprachen sehr leise miteinander, aber auch sehr erregt. Es war dies genau eine halbe Stunde vor Mitternacht. – Jetzt, als Marie die Familiengruft erwähnt hatte, kam mir sofort der Gedanke: Das Paar ist vielleicht in der Gruft gewesen, um sich zu überzeugen, ob der Verwesungsprozeß an der Leiche der unechten Gräfin so weit vorgeschritten wäre, daß selbst die genaueste Untersuchung eine Entdeckung dieser Leichenunterschiebung unmöglich machte. – Eine Stunde später – der Morgen begann bereits zu grauen – stand ich vor dem gemauerten, tempelähnlichen Erbbegräbnis der Grafen von Lippstedt. Ich drückte ein Oberfenster ein und kletterte in die kleine Kapelle hinein, stieg in die eigentliche Gruft hinab und – fand hier den Deckel eines Eichensarges beiseite gestellt. Dieser Sarg enthielt einen zweiten aus verlötetem Zinkblech, und – dieser zweite war an den Deckelnähten von sehr ungeübten Händen etwa zur Hälfte gewaltsam geöffnet worden. Die Werkzeuge – Blechschere, Stemmeisen und Hammer – waren in dem Sarge des Vaters des Grafen Erwin versteckt. – Wären Sie nun nicht ebenfalls auf die Vermutung gekommen, meine Herren, daß das Paar hier tätig gewesen? – Das lag so greifbar nahe. – Ich fuhr dann schleunigst heim – hier ins Gerichtsgefängnis zurück. Schlafen konnte ich nicht, wenigstens zunächst nicht. Ich ließ also alles nochmals an meinem kritischen Geiste vorüberziehen, was ich der alten Wirtschafterin an Neuigkeiten verdankte. Und, siehe da, – plötzlich machte mein Denken halt! Marie hatte mir berichtet, daß Sie, Herr von Blenkner, den ersten Verdacht gegen das jetzige Ehepaar Lippstedt deswegen gefaßt hätten, weil Ihre Tante Hildegard in einer Lebensversicherung mit 100 000 Mark eingekauft war und weil der Graf für seine Berliner Geliebte derartige Summen verschwendet hatte, daß Bollschwing als Güterdirektor ihn wiederholt warnen mußte, die Besitzungen nicht allzu stark mit Hypotheken zu belasten, – also deswegen, weil Sie argwöhnten, der Graf hätte es auf die Lebensversicherungssumme abgesehen gehabt. Es ist doch so, nicht wahr?“

Blenkner bejahte. „Ich will hier gleich noch folgendes ergänzen, Herr Harst,“ meinte er, froh, einmal zu Worte zu kommen. „Wenn ich Sie so halb als Gegner behandelt habe, so geschah dies lediglich deshalb, weil wir – Bollschwing und ich – mittlerweile doch zu der Überzeugung gelangt sind, daß mein Verdacht hinfällig ist, wenigstens was das Versenken der Ermordeten in den See betrifft. Ich fürchtete nun – denn wir waren entschlossen, weiter nach der Leiche zu suchen, – daß durch Ihr Eingreifen das verbrecherische Paar gewarnt und daß es alles tun würde, um jede, auch die geringfügigste Spur, die zur Aufdeckung des Mordes führen könnte, gründlichst zu verwischen. Deshalb schrieb ich den Brief an jene Redaktion in Berlin und erfand zwei Bootsunfälle, um Sie abzuschrecken. Gewiß – ich hätte mich Ihnen anvertrauen können. Das wollte ich aber nicht, denn mein Onkel Erwin ist ganz fraglos zu diesem Verbrechen nur verführt worden. Ich wollte, falls Bollschwing und ich die Wahrheit an den Tag gebracht hätten, in aller Stille mit dem Paare abrechnen, um die gräfliche Familie nicht bloßzustellen, wollte eine Scheidung zwischen den beiden erzwingen, um dieses intrigante Weib nicht länger die Nachfolgerin meiner Tante sein zu lassen. – Mein Verdacht entstand damals sofort, als ich erfuhr, daß der Graf behauptete, seine erste Gattin wäre bei Nacht und Nebel davongelaufen und dann mittags darauf bei Köslin mitverunglückt, wo er sie nur an einem Brillantring an der linken, sonst halb verkohlten Hand wiedererkannt haben wollte. Ich bin überzeugt, er hat diesen Ring jener Leiche, die gerade am allermeisten durch das Feuer der brennenden Wagen gelitten hatte, nur übergestreift und auch ebenso dann in die Brandtrümmer, die noch glimmten, den Ehering und ein paar andere Schmucksachen hineingeworfen, um es noch glaubhafter zu machen, daß die sonst völlig unkenntlichen Reste die seiner Gattin wären. Gerade damals hatte er nämlich seine Geliebte hier in Malchin als Sommergast einquartiert, und ich habe festgestellt, daß er am Morgen nach der angeblichen Flucht meiner Tante aus dem Schlosse sehr bleich hierher zu seiner Geliebten gefahren und nach Bekanntwerden der Eisenbahnkatastrophe und ihrer Einzelheiten – Köslin liegt ja nur zwei Stationen entfernt – sehr eilig nach Szentowo zurückkehrte, dann abermals hier nach Malchin kam und nun erst überall erzählte, er fürchte, seine Frau wäre bei der Katastrophe vielleicht mit verunglückt.“

Harst war jetzt anscheinend ein sehr unaufmerksamer Zuhörer. Irgend etwas Neues schien seine Gedanken völlig abzulenken. – „Ich wünschte, ich hätte meinen Stutzflügel hier,“ sagte er jetzt, als Blenkner schwieg. „Ich spiele sehr gern Klavier. Und beim Phantasieren über Wagnermotive – ich liebe Wagner über alles – sind mir schon als Staatsanwaltschaftsasserssor stets die besten Gedanken gekommen. – Bei diesem Morde stimmt etwas nicht, meine Herren. Soeben ist mir eingefallen, daß Marie den Grafen mir ebenfalls – bis auf seine Liebschaft mit der Mulack – als einen untadeligen, gutmütigen Ehrenmann geschildert hat, der für jedermann eine offene Hand hatte und der sich früher größter Beliebtheit erfreute. – Wie sind Sie eigentlich gerade darauf gekommen, daß die Leiche Ihrer Tante in dem See versenkt worden sein soll, Herr von Blenkner?“

„Weil Bollschwing in jener Nacht, als Tante Hildegard aus Szentowo verschwand – überhaupt verschwand, kurz vor Tagesanbruch auf Anstand auf einen Rehbock ging und in der Dunkelheit auf dem See das hellgestrichene Ruderboot, das zum Schlosse gehört, mit einer einzelnen männlichen Gestalt darin auf dem See gesehen hat – ziemlich dicht an der kleinen Anlegebrücke vor der Schloßterrasse, und weil er, bevor er es bemerkte, einen lauten Schrei ebenfalls vom See her hörte. Er kann aber nicht genau sagen, ob der Schrei aus weiblicher Kehle kam. Es war auch mehr ein Ruf, irgend ein Name, der sehr laut geschrien wurde, meint er. Er hat damals diesen Beobachtungen keine Bedeutung beigemessen, und erst als –“

„Schon gut – danke,“ unterbrach Harst ihn, fragte dann: „Trauen Sie Ihrem Onkel Erwin einen Mord zu?“ – „Offen gestanden: nein! Wenn nicht so vieles gegen ihn spräche –“ – „Also nicht, Herr von Blenkner. Das genügt mir, – Ich bin jetzt überzeugt, Ihre Tante ist nicht ermordet worden. Sie befinden sich auf falscher Fährte, genau wie ich, der ich Sie erst für den Dieb des Familienschmuckes hielt und dann ebenfalls einen Mord annahm. – Der Charakter des Grafen und der Schrei sind das ausschlaggebende Moment hier.“ Er rauchte ein paar schnelle Züge. „Was halten Sie überhaupt von diesem Diebstahl?“ – „Er hat nie stattgefunden, Herr Harst. Ich behaupte, die jetzige Frau des Grafen hat ihren Mann dazu zu bestimmen gewußt, ihn zu erfinden, um die Juwelen heimlich in Berlin verkaufen zu können ohne Schädigung des Ansehens ihres Gatten. Bollschwing war es, der im Winter die jetzige Gräfin in Berlin einmal heimlich verfolgt und in einem Goldwarengeschäft hat verschwinden sehen, dessen Inhaber sich dann weigerte anzugeben, was die Dame soeben bei ihm gewollt hätte. Dabei lag aber auf dem Verkaufstisch eine Perlenkette mit einem antiken Verschluß, die nach Bollschwings Beschreibung sehr wahrscheinlich aus dem Familienschmuck stammte.“ – „Das klingt durchaus glaubhaft, zumal doch der Graf anscheinend in letzter Zeit stets stark in Geldverlegenheit war. – Ah – der Aufseher mit einer Depesche. – Aus Berlin – an den Amtsrichter? – Das ist die erwartete Antwort. – Sie gestatten, daß ich vorlese: „Treffe im Auto nachmittags ein. – Wettgegner. Im Auftrage – Kammler!“ – Das ist nämlich der Kommerzienrat Kammler, meine Herren, der eigentliche Urheber der Millionenwette. Er soll an Ort und Stelle erfahren, was es mit dem Geheimnis des Sees auf sich hat und soll, so hoffe ich, genau auch wie Sie beide noch heute – die Leiche der Gräfin Hildegard Lippstedt sehen. – Bitte, fragen Sie nichts mehr, meine Herren. Finden Sie sich um zehn Uhr abends am Ausgange der Stadt auf der Chaussee hinter dem Bahnhof ein.“ –

„Ziehen Sie sich die Schuhe aus, meine Herren. Es geht nicht anders. Wir müssen jedes Geräusch vermeiden.“ So sprach Harst vor der Seitenmauer des Erbbegräbnisses im Park von Szentowo und kletterte dann als erster durch das Fenster in die Kapelle hinein. Mörner, Bollschwing, Blenkner, Kammler und Schraut-Schüler folgten. Sie alle nahmen sich sehr in acht, und so gelangten sie lautlos bis auf die in die Erbgruft hinabführende Steintreppe. Unter ihnen schimmerte Licht. Man hörte metallisches Klirren, lautes Keuchen, das Knirschen einer Stahlsäge, schließlich eine weibliche Stimme:

„Erwin – ich vergehe vor Grauen. Laß doch die Tote, wo sie ist, – ich flehe dich an! Glaube mir, Du hast zu große Angst, daß dieser Harst uns schaden könnte. Wie soll er wohl auf die Vermutung kommen, daß die Tote gerade unten im Zinksarge liegt! – Mein Gott – dieses hier übersteigt meine Kräfte. Ich – ich –“

„Schweig – schweig!! Hast Du nicht den ganzen Plan ersonnen, hast Du mich nicht elend – zum Verbrecher gemacht?! Und jetzt, wo wir die Leiche von hier fortschaffen müssen, da dieser Harst fraglos schon in irgend einer Verkleidung hier herumspioniert – wenn ich nur wüßte, in welcher! – willst Du von Grauen und Angst sprechen, Du – Du, die ich jetzt als meinen bösen Geist verfluche, die mich noch zum Selbstmord treiben wird –“

Da hielt Harst die Zeit für gekommen. Absichtlich räusperte er sich laut, betrat nun die Gruft. Die anderen drängten nach. – Ein gellender Aufschrei der Gräfin.[22]

„Herr Graf,“ begann Harst, indem er auf den Zinksarg deutete, „schon gestern Nacht verriet mir Ihre begonnene Arbeit da, daß Ihre erste Gattin sehr wahrscheinlich mit der unechten Gräfin diese letzte Ruhestätte teile. Die Gräfin Hildegard hat sich aus Kummer über ihre unglückliche Ehe in jener Nacht im See ertränkt. Sie eilten ihr nach, riefen laut ihren Namen, konnten aber den Selbstmord nicht mehr verhindern, fischten die Leiche heraus, die wohl im flachen Wasser gelegen haben wird, verbargen sie, fuhren zu Ihrer Geliebten nach Malchin, die Ihnen dann den Gedanken eingab, die Eisenbahnkatastrophe dazu zu benutzen, den Selbstmord zu verheimlichen und einen Versicherungsbetrug in Szene zu setzen, da die Versicherungsgesellschaft bei Selbstmord die 100 000 Mark nicht auszuzahlen brauchte. – Sie sind dann, als das Leuchten auf dem Seegrunde sich zeigte, häufig nachts im Boot auf dem See gewesen, um diese Erscheinung selbst zu untersuchen, die sie bei Ihrem belasteten Gewissen beunruhigt haben wird. Anderseits wollten Sie aber auch nicht die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf dies seltsame Phänomen lenken, damit nicht etwa Schloß Szentowo und der See der Mittelpunkt Ihnen sehr ungelegener Nachforschungen würden. – Da Sie zu alledem schweigen, nehme ich an, daß ich meine Aufgabe hier restlos erfüllt habe.“

Graf Lippstedt verbeugte sich knapp, wandte sich dann an den Amtsrichter Mörner: „Wir, jene Frau und ich stehen zu Ihrer Verfügung.“ –[23]

 

 

Anmerkung:

  1. In der zweiten Auflage wurden diverse, zum Teil erhebliche Kürzungen vorgenommen, Desweiteren fehlen jegliche Kapitel / Kapitelüberschriften. Die hier verwendete Aufteilung (– – – – – – – –) entspricht nicht immer den Kapiteln der 1. Auflage. Es wurden vom Verlag ebenfalls einige Druckfehler ausgebessert, aber dafür leider auch neue Fehler hinzugefügt sowie auch an manchen Stellen die Interpunktion verändert. Das betrifft hauptsächlich das Weglassen von Gedankenstrichen. Die nachfolgende Auflistung der Fehler / Kürzungen soll dazu einen Überblick geben.

 

 

Kürzungen / Änderungen:

  1. Textkürzung zur 1. A. (1. Auflage)
  2. Textkürzung zur 1. A.
  3. Textkürzung zur 1. A., Textänderung von „Dann antwortete er dem Jungen,“ zu „Harst antwortete dem Jungen,
  4. Textkürzung zur 1. A.
  5. Textkürzung zur 1. A., weiterhin wurde eine Zeile zuviel entfernt (nicht abgeschlossener Satz), deren Text aus der 1. A. ergänzt wurde (in eckigen Klammern).
  6. Textkürzung zur 1. A.
  7. Eine Textzeile fehlt, wurde aus der 1. A. ergänzt.
  8. Textänderung von „kurz vor“ zu „gegen“.
  9. Textkürzung zur 1. A.
  10. Die Schreibweise Czentowo anstelle von Szentowo findet sich im Titel der zweiten Auflage und in Titelverzeichnissen über die zweite Auflage wieder.
  11. Textkürzung zur 1. A.
  12. Fehlendes Wort „sie“ ergänzt.
  13. Textkürzung zur 1. A.
  14. Textkürzung zur 1. A.
  15. Textkürzung zur 1. A.
  16. Textkürzung zur 1. A., Textänderung von „bereits kurz nach sechs Uhr“ zu „bereits nach sechs Uhr
  17. Textkürzung zur 1. A.
  18. Textkürzung zur 1. A.
  19. Textkürzung zur 1. A.
  20. Textkürzung zur 1. A., Textänderung von „Schraut unterbrach hier seine Gedankenreihe und sog prüfend die Luft ein. – Er roch etwas – etwas das er“ zu „Schraut sog prüfend die Luft ein. Er roch etwas, das er
  21. Textkürzung zur 1. A.
  22. Textkürzung zur 1. A.
  23. Textkürzung zur 1. A.