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Pumpmolch

 

Pumpmolch[1]

 

von

Max Brettschneider

 

Verlag moderner Lektüre
G.m.b.H.
Berlin SO 26, Elisabethufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright 1921 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H. Berlin.
Druck P. Lehmann G.m.b.H., Berlin SO 26

 

1. Kapitel.

Verlumpt.

Der Student der Jurisprudenz Herbert Dehmolch erwachte am 1. Juli 1914 auf dem Bettvorleger vor seinem Bett mit einem wahrhaft satanischen Kater.

Wenn Herbert mit Kater erwachte, mußte er unbedingt in der Nacht vorher einen Dummen gefunden haben, der ihm entweder Geld gepumpt oder ihn frei gehalten hatte, denn des Herrn Studiosus eigene Portemonnaieverhältnisse gestatteten ihm höchstens ein winziges Räuschchen.

Also: Herbert Dehmolch erwachte. Aber nur langsam; sozusagen in Etappen. Nachdem er dreimal gegähnt hatte, was etwa wie fernes Löwenbrüllen klang, öffnete er die Augen und starrte zur Zimmerdecke empor, schloß sie aber sofort wieder, da sein wertes Ich plötzlich zum Karussell geworden war. Dieses Kreiselgefühl gehört mit zu den unangenehmsten Begleiterscheinungen des ersten Stadiums des sogenannten Katzenjammers, wie von hundert Deutschen etwa achtzig wissen dürften – Damen natürlich ausgenommen.

Nachdem das Karussell sich beruhigt hatte, begann Herbert sich vorsichtig aufzurichten, hob abermals die Lider und starrte mit leerem Blick um sich. Was er sah, war originell, aber nicht schön.

Er befand sich in Unterhosen – in bereits sehr defekten Unterhosen, hatte auch noch die Gesundheitssocken an, deren Zehen- und Hackenlöcher den Füßen genügend frische Luft zuführten, um jede Duftbildung zu verhindern.

Außer Unterhosen und Socken war er jedoch mit – nichts mehr bekleidet. Er hatte mit bloßem Oberkörper auf dem Bettvorleger sich zur Nachtruhe ausgestreckt und seinen Gehrock, die Beinkleider und den steifen schwarzen Hut als Kopfkissen benutzt. Dem Hute war diese unvorschriftsmäßige Verwendung schlecht bekommen. Er glich entfernt einem alten Chapeau Claque.

Links neben Herbert, halb unter dem Bett, stand ein Topf. Ich brauche nicht näher zu erörtern, was für ein Topf. Kochtöpfe stellt man nicht unter das Bett.

Dieses Porzellangefäß nun hatte Herberts alkoholverseuchtes Gehirn offenbar für die Platte des Nachtschränkchens gehalten und deshalb Kragen, Schlips, Portemonnaie, Taschenbürste und acht Pfandscheine darin untergebracht. Da der blaue Schlips in der Farbe nicht echt war, hatte sich der sonstige, nasse Inhalt besagten Gefäßes wundervoll blau abgetönt.

Nachdem Herbert dieses seltsame „Einmacheglas“ genügend angestaunt hatte, wanderten seine Augen geradeaus, wo der Waschtisch – echte Marmorplatte – stand. Über den Rand der Waschschüssel ragten die oberen Teile zweier brauner Schnürstiefel hinweg. Und halb darüber gebreitet lag ein farbiges Oberhemd, besser das Oberhemd Herberts, denn er besaß nur eins.

Herbert war nun doch bereits genügend munter geworden, um über diese Lagerplätze seiner Garderobenstücke mißbilligend den Kopf zu schütteln. Dann sprach er halblaut die wohlbegründeten Worte:

„Muß ich besoffen gewesen sein!“

Ein Versuch, sich auf den Bettrand zu setzen, glückte, obwohl der Magen dabei Anstalten machte, sich energisch zu entleeren. Aber Herbert war ja kein Neuling in derlei Dingen. Er saß eine Weile mäuschenstill, bis sein Inneres sich wieder total beruhigt hatte.

Dann überlegte er, wo er gestern eigentlich gewesen. Dunkel besann er sich, daß er gegen morgen aus einem Bouillonkeller der Elsässerstraße hinausbefördert worden war, weil er die dort genossenen Schnäpse nicht mehr bezahlen konnte.

Allmählich fiel ihm dann auch der weitere Verlauf der feuchten Nacht ein. Wieder in Etappen. Und – dann bekam er plötzlich einen Riesenschreck.

Richtig: gestern am letzten Juni hatte er ja vom Geldbriefträger seinen Monatswechsel, ganze 75 Mark, ausbezahlt erhalten. Und diese 75 Mark hatte er allein – ganz allein restlos in allerlei Lokalen von Berlin N verzecht.

Noch nie hatte er das getan – noch nie! Er hatte doch stets noch wenigstens seine Miete und die Auslagen bezahlt, die seine Wirtin, Frau Buchbindermeister Keil, ihm bis zu jedem Ersten stundete. –

Herbert schüttelte schon wieder mißbilligend den Kopf. – Wie – wie hatte er nur so bodenlos leichtsinnig sein können?! Gewiß – er war ein Sumpfhuhn, aber – die Keil hatte noch nie auf ihr Geld zu warten brauchen.

Hm – wie war das also gekommen – wie nur?! Dann – wie ein Blitz war die Erleuchtung da: er hatte sich gestern abend mit Ilse Keil gezankt; sie waren in Unfrieden geschieden, und sie hatte ihm zum Schluß noch nachgerufen: „Sie verbummeltes Genie, – Sie Pumpmolch!“

Und das hatte ihn so geärgert, daß er gleich bei „Mutter Schmidt“ in der Linienstraße mit Rotwein angefangen hatte, – er, mit Rotwein! bei 75 Mark Monatswechsel!

Pumpmolch hatte Ilse ihn genannt – Pumpmolch!

Eigentlich hatte das Mädel ja recht: er „pumpte“ sich so durchs Leben durch; er war mit der Zeit ein wahrer Erfinder neuer Pumpmethoden geworden. –

Herbert seufzte. Der Seufzer galt der Mutter daheim, die als Witwe eines Beamten aus dem einzigen Kinde durchaus einen „studierten Mann“ hatte machen wollen. Vom ersten Tage seines Studentenlebens an hatte er sich mit monatlich 75 Mark durchschlagen müssen. Zunächst hatte er das auch wirklich ehrlich fertiggebracht, hatte bei Aschinger mittags eine Erbsensuppe für 30 Pfg, und dazu ungezählte Gratisbrötchen gegessen.

Gratisbrötchen! Wer lacht da?! – Heute kostet das Stück „hintenrum“ eine halbe Mark.

Aber – Herbert hatte von seinem Vater wenn nicht Geld, so doch eine gehörige Dosis Lebensfrohsinn geerbt – leider! Und – mit 75 Mark Student und dabei kein Duckmäuser sein – das ist mehr als ein Rechenkunststück! – Mit der Zeit nahm dann der Frohsinn überhand, und Herbert wurde leichtsinnig, – verbummelte.

Er stand jetzt dicht vor dem Referendarexamen, war 23 Jahre alt und wußte von der edlen Juristerei nur eins: daß er im Examen glatt durchsegeln würde! –

All das überlegte er sich jetzt, seufzte abermals und rief dann sehr laut:

„Frau Keil – Frau Keil.“

Im Flur Schritte. Die Tür ging auf. Ein blonder Mädchenkopf erschien.

Dann: „Pfui – Sie sind ja halbnackt!“ und Ilse schlug die Tür wieder zu.

„Ilse,“ brüllte er da. „Liebe süße Ilse – holen Sie mir doch eine große Weiße!“

Keine Antwort.

Herbert stöhnte. „Ohne Weiße krepiere ich! So was von Kater hält ja kein Mensch aus!“

Dann fiel ihm ein, daß er ja weder die Miete noch die Auslagen noch die Weiße bezahlen könne. Es mußte also diesmal schon ohne das erprobte Katermittel gehen.

Er wollte sich waschen. Aber der Anblick der völlig aufgeweichten, in der Schüssel liegenden Schuhe depremierte ihn so, daß er sich auf den nächsten Stuhl setzte.

Da – abermals öffnete sich die Tür. Und diesmal trat die unwahrscheinlich dicke, stets im Morgenrock umherschwebende Mutter Keil ein.

Sie genierte sich vor Herbert nicht. Er wohnte nun schon ein halbes Jahr bei ihr. Daß er „oben“ nichts anhatte, ließ sie kalt. Das Weib in ihr war durch die Sorgen des Alltags längst erstorben, obwohl sie kaum vierzig zählte.

Sie trat ein, schloß die Tür, faltete die Hände über dem ansehnlichen Bauche und sagte:

„Schämen Sie sich nicht?!“

Ein Rundblick durch das Zimmer hatte ihr auch die Raritätensammlung im – Topfe gezeigt.

„Schämen Sie sich nicht?!“ wiederholte sie. „Wenn das Ihre arme Mutter wüßte, Herr Dehmolch! Die denkt, Sie arbeiten zum Examen, und was tun Sie?!“

„Saufen,“ nickte er traurig, denn jetzt hatte der moralische Katzenjammer die Oberhand gewonnen.

„Ja – saufen – und Ihre Sachen versetzen – und – pumpen,“ fuhr Frau Therese Keil fort. „Nur Ihren Gehrock haben Sie noch, dazu ein Paar Hosen mit Löchern in der Sitzgegend, ein Paar Stiefel, ein Oberhemd –“

„Und – acht Pfandscheine,“ fügte er hinzu. „Und – keinen Pfennig Geld –“

Frau Therese horchte auf. „Kein Geld? Wie, – kein Geld?! Gestern brachte Ihnen doch –“

„Gestern! Gestern!“ unterbrach er sie. „Zwischen gestern und heute liegen ein Dutzend Kneipen, ein Dutzend Rotweinflaschen, Schnäpse, echte Biere –“

Sie verstand. Sie faßte in die Morgenrocktasche, holte die Auslagenrechnung hervor.

„Aber dies können Sie doch wenigstens bezahlen – und auch die Miete?“ fragte sie, und aus ihrem blassen, schwammigen Gesicht wich jede Spur von Freundlichkeit.

Oh – Frau Therese war weder hartherzig noch geldgierig. Nein – sie brauchte das, was sie für das einfenstrige Zimmer erhielt, so überaus notwendig.

Ihr Mann war kränklich und konnte nicht viel arbeiten. In der kleinen Werkstatt, die gleichzeitig Ilses Schlafgemach und das Wohnzimmer der Familie war, saßen die drei Keils oft halbe Nächte auf und banden Bücher für schlecht zahlende Verlagsanstalten ein, waren noch froh, wenn es überhaupt Arbeit gab. Das Leben dieser drei Menschen war nichts als Mühe, Entbehrung und Fleiß, – ein Fleiß, der nach dem Groschen haschte, der sich schon belohnt fühlte, wenn man Sonntags Schrippen „mit Butter drauf“ sich leisten konnte. –

Der Leser mag nicht glauben, daß ich diese drei Keils aus der Phantasie hier geschaffen habe. Nein – ich habe sie gekannt, und ich habe ihren Daseinskampf eine Zeitlang miterlebt. Ich weiß, daß sie sich „Krösusse“ dünkten, wenn sie in der Woche mal 50 Mark verdient hatten. –

Herbert blicke scheu zu Boden. Ach – er kam sich in diesem Moment so erbärmlich vor! Er konnte nicht zahlen, und er wußte ja, wie nötig Keils jeden Pfennig brauchten – jeden!

Dann raffte er sich zu einer Antwort auf.

„Nachmittags haben Sie Ihr Geld, liebe Fran Keil, ganz bestimmt, obwohl ich – meinen Monatswechsel gestern vollständig –“

„Herr Gott – die ganzen 75 Mark?!“ schrie sie auf. „Die ganzen 75 Mark haben Sie –“

„– versoffen,“ ergänzte er leise. „Daran läßt sich jetzt nichts mehr ändern. Aber wie gesagt: Nachmittags bekommen Sie die Miete und die Auslagen, – verlassen Sie sich darauf.“

Sie lachte bitter auf. „Und woher wollen Sie’s nehmen?! Wer – wer pumpt Ihnen denn noch was, wer?! Die Alten Herren Ihrer Verbindung kennen den – den Pumpmolch schon zur Genüge! Und –“

Herbert stand jäh auf. „Frau Keil, den Ton verbitte ich mir! Heute ist der Erste. Am Ersten haben Sie Ihr Geld zu verlangen. Aber – dieser Erste dauert bis nachts 12 Uhr. Also – warten Sie gefälligst ab!“

Frau Therese brummte etwas vor sich hin, ging hinaus und schmetterte die Tür zu.

 

2. Kapitel.

Der Koffer.

Herbert war eine Viertelstunde drauf mit seiner Toilette fertig. Er hatte „das“ Oberhemd naß angezogen, ebenso die Schuhe; er hatte sich rasiert und das aschblonde Haar wie immer straff gescheitelt. Die Aussprache mit seiner Wirtin war das beste Katermittel gewesen.

Jetzt im Gehrock sah er recht annehmbar aus. Er war groß und schlank, hatte ein schmales Gesicht, dunkle Augen, eine gutgeformte Nase und einen auffallend hübschen Mund. Daß die Beinkleider „durchgesessen“ waren, sah unter dem Gehrock niemand. Und zur Not konnte er nachher den alten Strohhut aufsetzen, da der „Steife“ ja leider vorläufig erledigt war.

Er wartete jetzt auf den Morgenkaffee. Aber – niemand erschien. Rufen mochte er nicht. Er nahm sich aber vor, nach zehn Minuten auch ohne Kaffee das Haus zu verlassen und – die „Pumptour“ zu beginnen.

Da – es klopfte – ganz leise.

Dann – schob sich Ilse ins Zimmer, in der Rechten – eine große Weiße!

„Mutter ist zum Kaufmann gegangen,“ flüsterte sie hastig. „Verstecken Sie das Glas nachher in Ihrem Koffer –“

Herbert begriff sofort: Ilse hatte von ihren Sparpfennigen die Weiße bezahlt. Und das durfte Frau Keil nicht erfahren!

Er reichte ihr die Hand. „Ilse, ich danke Ihnen. Ich –“

Sie riß ihre Hand förmlich aus der seinen.

„Pfui, pfui, Sie verdienen’s gar nicht, daß – daß –“ Sie begann zu stottern, wurde feuerrot und lief hinaus.

Herbert lächelte. Es war ein fast glückliches Lächeln.

„Kleines Mädel!“ dachte er. „Ich weiß ja Bescheid.“

Er trank – trank förmlich mit Andacht. Diese Weiße hatte sie ihm gespendet – trotz des Streits von gestern abend, wo sie ihm auf ihre kindliche Art hatte ins Gewissen reden wollen.

Das Glas war leer.

Im Koffer sollte er’s verbergen; der stand da oben auf dem Kleiderschrank.

Ein großer Rindlederkoffer war’s, mit einem Überzug von brauner Leinwand; ein Erbstück – vom Vater.

Herbert holte den Koffer vom Schrank, öffnete ihn. Er war tadellos erhalten, wie neu.

Ein Gedanke! Der Koffer! Daß er noch nie daran gedacht hatte, ihn zu Gelde zu machen. –

Gleich darauf verließ er das Haus; den Koffer nahm er mit. Im Laufe der Zeit hatte er es gelernt, derlei Geschäfte abzuwickeln, ohne sich allzusehr übers Ohr hauen zu lassen.

Er bog in die Friedrichstraße ein, betrat dann das Geschäft eines Sattlermeisters. Es war ein sauberer Laden; der Inhaber, klein und buckelig, bediente gerade einen Kunden.

Während dieser sich einen Koffer genau ansah, fragte der Meister den Studiosus, was er wünsche.

Herbert knöpfte den Überzug von seinem Koffer ab. „Verkaufen will ich ihn. Er ist wie neu.“

„Ich kaufe alte Sachen nicht –“

„Alt?! Sie sehen ja, das Leder hat kaum eine Schramme.“

„Hm – das Ding ist unmodern. Aus Gefälligkeit – zwanzig Mark würde ich dafür geben –“

Der Herr, ein älterer Mann, hatte sich umgewandt und zugehört.

„Sie sind Student, nicht wahr?“ fragte er mit einem feinen Lächeln.

„Ja. Und ich brauche Geld.“

Der Herr nickte. „Das braucht man in Ihren Jahren immer. – Ich werde Ihnen den Koffer abkaufen. Ich soll hier für einen etwa gleich großen achtzig Mark zahlen. Sind Sie damit zufrieden?“

„Aber gewiß – sehr!“

„So – dann zeigen Sie mir wohl erst noch Ihre Studentenkarte und geben mir Ihre Adresse an. Ordnung muß sein. Wir sind in Berlin. Sie verstehen –“

„Freilich. Ich fasse das auch nicht als kränkendes Mißtrauen auf. – Bitte – hier meine Karte. Ich wohne Elsässerstraße 132 bei Buchbindermeister Keil.“

Um achtzig Mark reicher und ein Erbstück ärmer, verließ Herbert den Laden.

Im Geschwindschritt eilte er nun seiner Wohnung zu. Aber vor einem Konfitürengeschäft machte er plötzlich halt. –

Frau Therese Keil räumte das „möblierte“ Zimmer auf. Sie mußte dabei immer wieder an Herbert Dehmolch und an ihr Geld denken.

Jetzt öffnete sie den Kleiderschrank und warf den nassen Kragen und den nassen Schlips in das ganz leere Innere hinein. Da fiel ihr Blick auf – ein großes Weißbierglas, das halb mit einer Zeitung bedeckt war.

Hm – wie kam das Glas dorthin?! – Sie nahm es heraus. Es war noch eine Neige Weißbier darin.

Dehmolch hatte doch morgens eine Weiße verlangt, überlegte sie. Und Ilse hatte in ihrer Gutmütigkeit sofort nach der nahen Kneipe laufen wollen. Und – Dehmolch behauptete, keinen Pfennig Geld mehr zu haben.

Frau Therese ging mit dem Glas in die Werkstatt, wo Ilse frisch eingebundene Bücher verpackte.

„Ilse, hast Du Dehmolch eine Weiße geholt?“ fragte Frau Keil fast drohend.

Das blonde Mädel wurde sehr rot.

„Ja, Mutter. Von – von meinem Gelde! Herbert wird’s mir schon zurückgeben –“

„Herbert – Herbert?! Ilse – was soll das?! Hast Du Dich etwa mit Dehmolch irgendwie – eingelassen?!“

Meister Gottlieb Keil hüstelte. Er arbeitete vorn am Fenster.

„Aber Mutter! Eingelassen?! So’n Kind, und – und unser Student ist doch in diesen Dingen ein hochanständiger Mensch. Hätten wir sonst die Spaziergänge gestattet?“

Ilse stand mit gesenktem Kopf da. Trotz des bescheidenen Kleidchens, trotz der mit Kleister beschmutzten Arbeitsschürze sah sie wirklich zum Anbeißen aus. Sie war etwas über Mittelgröße, schlank und von knospender Fülle, hatte die ausdrucksvollen Augen des Vaters und wundervolles blondes Haar, das sie als Kranz aufgesteckt trug.

Zwei Tränen rannen ihr jetzt über die Wangen.

Frau Therese konnte Ilse nicht weinen sehen. Sie nahm ihr eigenes Taschentuch und trocknete die nassen Perlen ab.

„Kind, Kind,“ warnte sie, „wozu soll das führen?! Ich sah das Unheil längst kommen. Nun – nun hast Du Dich in einen Menschen vergafft, der keinen – keinen Schuß Pulver wert ist! Na – Du wirst schon drüber hinwegkommen. Am Ende des Monats schließt ja schon das Semester. Dann fährt er zu seiner Mutter nach Stettin, und dann –“

Ilse schluchzte auf. Und in ihr wehes Schluchzen drang gellend der Ton der Flurglocke hinein.

Frau Therese ging öffnen. Es war ein Depeschenbote mit einem Telegramm für Herbert Dehmolch! Und hinter dem Boten kam jetzt der Student die Treppe empor.

Er riß die Depesche sofort auf, reichte sie dann schweigend seiner Wirtin.

„Deine Mutter vergangene Nacht an Grippe plötzlich verstorben. Komme sofort. Tante Emilie.“

Herbert ging schweigend in sein Zimmer, setzte sich ins Fenster, starrte vor sich hin. – Gestorben – vergangene Nacht! Und er – er hatte zur selben Zeit das Geld verkneipt, das die Tote sich stets am Munde abgespart hatte.

Die Tür öffnete sich ganz leise. Ilse schlüpfte herein, kam auf Zehenspitzen näher.

Herbert blickte sie an. Seine Augen waren umflort.

Sie streckte ihm die Hand hin.

„Lieber – lieber Herr Dehmolch, ich – ich kondoliere Ihnen – ich – ich will Sie auch niemals mehr – Pumpmolch nennen. Ich –“ Sie kämpfte mit Tränen.

„Kleine, liebe Ilse.“ Er zog sie dicht an sich heran. „Kleines, liebes Schwesterchen –“

Er hatte den Arm um sie gelegt, war aufgestanden, küßte sie auf die Stirn.

Dann dachte er an das, was er vorhin für sie gekauft hatte; langte in die Tasche und rechte ihr den flachen Konfekt-Karton.

„Oh – oh – wozu das –“ stammelte sie.

Es klopfte. Vater Keil trat ein, sprach Herbert sein Beileid aus. Auch Frau Therese erschien, sagte nun stockend:

Wenn Sie Reisegeld brauchen, Herr Dehmolch – fünfzig Mark können wir Ihnen leihen.“

Und wieder schrillte die Flurglocke. Es war ein Dienstmann mit einem Briefe für Herbert und – mit dem Lederkoffer.

In dem Briefumschlag steckte ein mit Bleistift geschriebener Zettel:

„Sie gestatten, daß ich Ihnen den Koffer wieder zustelle. Ich bin selbst mal ein vergnügter Studio gewesen, bin aber zur rechten Zeit ein fleißiger Studio geworden.“

Eine Unterschrift fehlte.

Herbert fühlte sich tief beschämt. – „Ein fleißiger Studio geworden!“ Er verstand die versteckte Mahnung des unbekannten alten Herrn.

Jetzt erfuhren auch Keils die Geschichte des Kofferverkaufs. Jetzt bezahlte Herbert die 25 Mark Miete und die 18 Mark für Auslagen. Ihm blieb für die Reisekosten noch genug übrig.

Mittags kurz nach 12 Uhr sagte er Keils lebewohl.

„Ich bleibe höchstens eine Woche in Stettin,“ meinte er. „Ich werde die Wirtschaft meiner Mutter auflösen, und dann will ich etwas anderes ergreifen –“

Ilses Hand behielt er beim Abschied sehr lange in der seinen. Sie sagte nichts, bekam kein Wort über die Lippen. Sie glaubte nicht an ein Wiedersehen.

Den Lederkoffer nahm Herbert mit.

 

3. Kapitel.

Abschied für immer.

Drei Wochen später.

Bei „Mutter Schmidt“ in der Linienstraße saßen die beiden Kellnerinnen am Fenster hinter der Gardine und langweilten sich. – Die rote Else polierte sich die Fingernägel. Die lange Thea beobachtete die Vorübergehenden und machte über jeden ihre Glossen. Dann sagte sie mit einem fast gehässigen Blick auf Else, die bei Herren stets so unverschämtes Glück hatte:

„Der Pumpmolch is jetzt wieder jehörig in Fahrt. Den hast Du auf ’m Gewissen, Else –“

Die rote Else, ein junges, frisches Mädel mit reizenden Grübchen, schaute auf.

„Kann ich was dafür, daß er mich poussiert?! Ich habe mich ihm nicht aufgedrängt. Jetzt hab’ ich ihn gern. Und wenn er für mich was springen läßt – das ist seine Sache. Er ist ’n netter Kerl. Nur –“

Sie polierte weiter.

„Nur?“ fragte die lange Thea.

„Na ja – nur so ’n – so ’n Moralpinsel. Gestern kriegte er wieder das heulende Elend. Dann redet er immer von der dummen Jöhre, der er sein Geld in Verwahrung gegeben hat –“

Thea lachte ironisch auf. „’n ulkiger Mensch ist’s! So ’ne Idee, von einem unreifen Mädel sich so bevormunden zu lassen! Du, Else, glaub’ man, – der liebt die Kleene, ganz sicher. Das Gequatsche von „Schwesterchen“ und so ist doch alles Unsinn. Mit Dir amüsiert er sich. Und lieben tut er doch die Blonde von seiner Wirtin.“

Die rote Else zuckte die Achseln. „Meinswejen! ’s is ’n netter Kerl, und vorläufig hat er auch noch Geld –“

Zur selben Zeit saßen die drei Keils in der Werkstatt am Mittagstisch. Ilse aß so wenig, daß der Vater kopfschüttelnd meinte:

„Mädel, Du lebst wohl von Luft, Liebe und Mondschein?!“

Es sollte scherzhaft klingen, aber des Meistere ernste Augen ruhten dabei voll stiller Teilnahme auf dem blassen Gesicht seines einzigen Kindes.

Frau Therese murmelte: „Wenn der Mensch nie in unser Haus gekommen wäre! Na – zum Ersten muß er raus! Da kann er noch so viel bitten. Es bleibt bei der Kündigung –“

Ilse starrte in den Teller. Ihre Wangen waren eingefallen. Um den Mund lag ein bitterer Zug.

Vom Flur her plötzlich Herberts Stimme: „Bitte den Morgenkaffee!“

„Schon?!“ knurrte Frau Keil bissig. „Es ist ja erst halb eins.“

Sie stand auf und ging in die Küche. Als sie die Kaffeekanne auf das Teebrett stellte, erschien Ilse neben ihr.

„Mutter, ich werde ihm den Kaffee bringen,“ sagte sie tonlos. „Ich habe mit ihm zu reden. Ich will ihm das Sparbuch geben. Mag er auch die letzten 3500 Mark noch vertun –“

Frau Therese seufzte. „Kind, Kind, rede ihm doch nochmals ins Gewissen. Auf Dich hört er noch am meisten.“

„Nein – da ist jedes Wort verschwendet, Mutter. Ich weiß jetzt, wo das Geld bleibt. – Er – er hat ein Verhältnis mit einer Kellnerin. Die Lotte vom Friseur Reschke hat’s mir erzählt. Ihr Vater hat Dehmolch gestern in der Kneipe „Zur Mutter Schmidt“ gesehen, und dort sitzt Dehmolch jede Nacht, bis – bis er die – die rote Else – nach Hause begleiten kann.“

„So ’n – so ’n Lump!“ stieß Frau Therese hervor. „Seiner Mutter Spargroschen – So ’n Lump –“

Ilse nahm das Tablett und verließ die Küche, klopfte bei Dehmolch an.

Er saß in Hemdärmeln auf dem Sofa, las Zeitung.

„Ah – guten Morgen, Schwesterchen,“ rief er ihr, den Harmlosen spielend, entgegen. „Na nu – wieder so ein brummiges Gesicht?! Aber Ilse!“

Sie stellte das Teebrett hin, reichte ihm das graugrüne Sparbuch.

„Ich bin für Sie nur noch Fräulein Keil,“ sagte sie und schritt zur Tür.

„Ilse!“

Sie konnte nicht anders; sie mußte sich doch nach ihm umschaun.

Er war aufgesprungen, zu ihr hingeeilt, griff nach ihrer Hand.

„Lassen Sie das!“ wies sie ihn kalt zurück. „Dreimal in den letzten vierzehn Tagen haben Sie mir hoch und heilig versichert: die gestrige Bummeltour war die letzte! – Und immer wieder haben Sie Geld verlangt – unter allerlei Vorwänden. Ich bin kein Kind mehr! Ich wußte, was ich tat, als ich Ihrer Bitte nachkam und die 6800 Mark für Sie auf der Sparkasse einzahlte; ich wußte, daß Sie sich dadurch vor Ihrem eignen Leichtsinn schützen wollten. Es – es hat nicht viel geholfen. Ich – ich verachte Sie jetzt. Verschwenden Sie noch den Rest des Geldes an – an die Kellnerin –“

Dann war sie hinaus, und Herbert Dehmolch kehrte langsam zum Sofa zurück. Ganz mechanisch begann er zu frühstücken, versuchte zu lesen. Aber selbst die alarmierenden Zeitungsnachrichten von der drohenden Kriegsgefahr konnten seine Gedanken von dem nicht ablenken, was soeben reine Mädchenlippen ihm so ohne jede Erregung scheinbar zugerufen hatten:

„Ich verachte Sie!“

Also so weit war’s nun schon gekommen – so weit! Selbst Ilse ließ ihn fallen. Frau Therese und Meister Keil zeigten ihm ja schon lange, wie sie über ihn dächten.

„Ich verachte Sie!“ – Das trieb ihn nachher ins Freie, in den Tiergarten. Er wollte allein sein. Er wanderte abgelegene Wege, hielt Abrechnung mit sich.

„Liebe, kleine Ilse –“ Wie oft flüsterte er es leise vor sich hin.

Um 3 Uhr war er wieder daheim. Er hatte sich unterwegs in einer Buchhandlung noch ein paar dicke Folianten gekauft, sogenannte Einpaukbücher für das Referendarexamen. Er wollte jetzt fleißig sein, wollte das Examen ablegen, das ihn dann auch berechtigte, die Subalternkarriere einzuschlagen und Gerichtssekretär zu werden –

Drei Tage darauf – und das war der Dienstag vor der Kriegserklärung – sagte Meister Keil abends beim Zubettgehen leise zu seiner Frau:

„Du, Mutter, – jetzt scheint er wirklich vernünftig geworden zu sein!“

„Ja – wo’s zu spät ist!“ meinte sie bitter. „Unser Mädel hat er um jede Lebensfreude gebracht. Sie vergißt ihm das nicht – das mit der Kellnerin! Und – Krieg gibt’s auch. Kein Mensch hofft mehr, daß wir drum rumkommen. Und er muß mit. Er hat ja schon als Einjähriger gedient, ist Unteroffizier. Ach, Vater, wenn er dann weg ist, dann werden wir erst ein Elend mit dem Mädel haben! Dann wird sie sich nicht mehr so zusammennehmen wie jetzt, wo sie ihm doch nur nicht zeigen will, wie’s in ihr aussieht –“

Papa Keil kroch unter das Zudeck.

„Ja, ja – Krieg!“ sagte er mit bangen Seufzen. „Was wird dann aus uns?! Wer läßt dann noch Bücher einbinden?! – Mutter, Mutter – wir haben nie Glück im Leben gehabt. Meine Krankheit – und nun auch noch das arme Mädel –“

Frau Therese brummte nur: „Der Lump – der Lump.“ –

Und wieder vergingen vier Tage. Dann war das Verhängnis da.

Herbert kam an diesem Sonnabend erst spät nachts heim. Er war auf der Kneipe seiner Verbindung gewesen. Dort hatte man Abschied gefeiert – allgemeinem Abschied. – Erst kurz vor 1 Uhr morgens schloß Herbert die Haustür auf, rieb ein Wachszündholz an und stieg die Treppen nach oben, öffnete leise die Flurtür und dann auch die seines Zimmers.

Plötzlich schrak er zusammen. Dort am Fenster bewegte sich etwas. Das Zündholz hatte er soeben fallen lassen müssen. Ehe er noch ein neues anreiben konnte, schwebte eine Gestalt auf ihn zu.

„Ilse,“ flüsterte er ungläubig. „Ilse, Wirklich?!“

Er streckte die Arme aus, umfing sie.

Er hörte ihr Schluchzen. Sie lag an seiner Brust; ihr junger Leib bebte.

„Ilse – so hast Du mich doch noch lieb?“ fragte er glücklich und drückte seine Lippen in ihr blondes Haar.

Sie weinte stärker.

Dann legte sie ihm die Arme um den Hals – mit jäher, leidenschaftlicher Bewegung.

„Du darfst nicht sterben – Du nicht! Du mußt leben – für mich. Ich habe ja nichts auf der Welt als Dich – nichts, was mich glücklich machen kann –“

Sie redete wie im Fieber; sie schmiegte sich an ihn, erdrückte ihn fast. Es war, als ob sie ihn festhalten wollte, damit keiner ihn ihr nehmen könnte.

„Seit zehn Uhr warte ich auf Dich. Dort am Fenster habe ich gesessen. Ich hielt’s im Bett nicht aus. – Ich sehnte mich so namenlos nach Dir –“

Er küßte sie – scheu und sanft, wie eine Heilige.

Ihre Tränen versiegten; ihre Lippen gaben die seinen nicht mehr frei.

Da erst wurde er gewahr, lediglich durch das Gefühl, daß sie fast nichts mehr anhatte, – nur das Nachthemd und darüber ihren Regenmantel.

„Ilse – Du mußt Dich ja erkältet haben.“ flüsterte er besorgt. „All die Stunden hast Du so leicht bekleidet hier gesessen. Aber Liebling!“

Er führte sie zum Sofa. Das Dämmerlicht der klaren Julinacht genügte, sich zurechtzufinden. Er hüllte sie in die Steppdecke des Bettes ein. Dann setzte er sich neben sie, nahm ihre Hände in die seinen.

Sie weinte wieder leise, hatte den Kopf an seine Schulter gelehnt. Er suchte sie zu trösten, zu beruhigen.

Und wieder umklammerte sie ihn, suchte seine Lippen, küßte ihn.

„Ilse – Ilse!“ warnte er leise.

Draußen auf der Straße gab es in dieser Nacht keine Ruhe. Immer aufs neue zogen Trupps vorbei, die Lieder sangen und das Vaterland hoch leben ließen.

Droben in Herberts Zimmer saß Ilse auf des Geliebten Schoß und – weinte und küßte.

Er warnte nicht mehr. Der erste Rausch der Seligkeit dieses Sichfinden hätte ihn fast nachgiebig gemacht. Er wußte, er fühlte es, daß sie sein werden wollte in dieser Nacht – ganz, restlos sein, daß ihr junger Leib sich ihm in keuschem und so heißem Begehren entgegendrängte.

Er blieb fest. – Der Morgen zog herauf. Noch ein letzter langer Kuß.

„Noch eine Nacht habe ich Dich,“ schluchzte sie. „Und noch den Tag – den einen Tag –“

„Ja, – noch morgen, Ilse, – morgen!“

Sie schlich davon.

Herbert trat ans Fenster – Noch morgen! – Sie hoffte darauf. Sie wußte nicht, daß er sie – belogen hatte! Denn schon an diesem Vormittag mußte er sich auf dem Bezirkskommando stellen. Er hatte ihr und sich nur das Abschiednehmen ersparen wollen.

Er zündete die Lampe an; er schrieb sein Testament, dann den Brief für Ilse, einen zweiten für ihre Eltern.

Gegen 5 Uhr morgens schlich er mit seinem Lederkoffer zum Hause hinaus. Als er die Flurtür zuzog, klappte sie lauter, als ihm lieb war.

Ilse fuhr auf ihrem Diwan in der Werkstatt hoch. Sie hatte noch kein Auge zugetan. Das – das war doch soeben ein Geräusch gewesen, als ob –

Mit einem Satz war sie auf den Füßen. Eine furchtbare Angst packte sie. Sie ahnte die Wahrheit.

Sie lief hinüber in Herberts Zimmer.

Leer – leer. – Und – dort die Briefe – das Sparkassenbuch.

Sie las dann – las. Und ihre Tränen tropften auf die noch frische Schrift. –

Bis zum Februar 1915 erhielt Ilse von der Westfront Feldpostkarten und Briefe – alle überschrieben: „Meine süße, kleine Braut –“

Dann blieb jede Nachricht von Herbert aus. Und am 3. März kam endlich ein Schreiben der Kompagnie, daß der Vizefeldwebel Herbert Dehmolch am 6. Februar nach Aussage zweier Leute seiner Patrouille durch Kopfschuß gefallen sei. –

Ilse war auf diese Nachricht vorbereitet gewesen. Sie hatte nie gehofft, daß der Geliebte lebend heimkehren würde. Wie sollte auch gerade ihr das Glück dieser Liebe erhalten bleiben – gerade ihr, wo doch Tausende und Abertausende von Frauen schon ihr Liebstes hatten hingeben müssen.

Sie war gefaßter als ihre Eltern es je gedacht hatten. Ihres Vaters Bruder, ein Tischlermeister aus Küstrin, war schon am Ende des Jahres 1914 nach Berlin übergesiedelt und hatte als weitsichtiger Kopf ganz in der Nähe in der Elsässerstraße leere Fabrikräume gemietet und einen Großbetrieb zur Herstellung von Bagagewagen eingerichtet. Dort arbeitete Ilse nun als Buchhalterin. Auch Vater Keil fand hier eine Anstellung und war bald des unverheirateten Bruders rechte Hand. –

Die Jahre gingen hin. – Deutschland war besiegt. Eine neue Zeit begann.

 

4. Kapitel.

Der Mann ohne Gedächtnis.

Mit einem der letzten Kriegsgefangentransporte aus Frankreich kehrte auch Herbert heim; wenigstens das, was von dem einstigen frischen, gesunden Studenten noch übrig war. Und viel war es nicht! Endlose Monate hatte er mit schwerem Kopfschuß in französischen Lazaretten zugebracht; so und so oft war er operiert worden. Der verfluchte „Boche“ gab ein gutes Versuchskaninchen für Schädeloperationen ab. Trotzdem blieb er am Leben. Aber – er hatte das Gedächtnis verloren, vollständig. Daß er Herbert Dehmolch hieß, wußte er nur, weil er unter diesen Namen als Gefangener in den französischen Listen geführt worden war. Im übrigen konnte er sich auf nichts besinnen, was mit seinen früheren Ich zusammenhing.

Als er sich kräftiger gefühlt hatte, begann für ihn zusagen ein völlig neues Dasein. Es begann mit der einen Tatsache: er hieß Herbert Dehmolch und war zuletzt Vizefeldwebel im 191. Reserveregiment gewesen.

Nun war er wieder in Berlin. Weshalb er gewünscht hatte, gerade bis dorthin gebracht zu werden, – darüber konnte er sich zunächst keine Klarheit verschaffen. In seinem toten Gedächtnis mußte doch noch irgend ein winziges Flämmchen flackern, das ihn dorthin getrieben hatte.

Seine Erinnerung war erloschen. Sonst war er geistig völlig normal. Nur – gealtert war er, trug einen Vollbart, den bereits Silberfäden durchzogen. Und silbern schimmerte auch sein Haupthaar an den Schläfen.

Er wollte seine Vergangenheit, das, was ihm so völlig über sein früheres Leben entschwunden war, nun wieder Stück für Stück aufbauen. Er ging zum früheren Bezirkskommando nach Schöneberg. Dort mußte man ihm doch sagen können, wo er geboren war, wer seine Eltern gewesen. – Dieser erste Versuch war ein Fehlschlag. Man fand nichts über ihn in den Akten und Listen, von denen ein Teil bei der Revolution vernichtet worden war. Und an demselben Tage stahl ihm dann jemand im Gedränge beim Besteigen einer Straßenbahn seine Brieftasche mit seinen wenigen Papieren. – Am nächsten Tage ging er zur Polizei. Man versprach, ihm neue Papiere zu besorgen. Man versprach jetzt so viel und hielt so wenig.

Er merkte: wohin er auch kam, – überall hielt man ihn für einen Simulanten, einen Schwindler.

Gedächtnis eingebüßt – und so vollständig?! Wer glaubte daran?!

Er war mittellos. Drei Tage hatte das wenige Geld nur gereicht, das er besessen. Nun begann die Not, der Hunger.

Seltsam: die Not, das Nachgrübeln darüber, wie er sich Geldmittel verschaffen könnte, rief eine dunkle, ungewisse Erinnerung in ihm wach an den einstigen Pumpmolch.

In seiner abgetragenen Uniform fühlte er sich nicht mehr wohl. Er sagte sich, daß er leichter Arbeit finden würde, wenn er sauber gekleidet war. Gewiß – er hätte sich wie so viele andere als – Bettler etablieren können. Nein – das widerstrebte ihm.

Am vierten Tage vormittags schlenderte er den Kurfürstendamm entlang. Er hatte Hunger, und er hatte auf einem Hofe in einem leeren Möbelwagen genächtigt.

Ein kalter Herbstwind trieb welke Blätter über die Steinplatten des Bürgersteiges. Ein junges, elegant gekleidetes Mädchen ging achtlos an dem schmierigen Manne in Soldatenuniform vorüber.

Herbert hatte nur mit flüchtigem Blick ihr Gesicht gestreift. Dann – blieb er plötzlich stehen, griff an die Stirn, wandte sich mit einem Ruck um und stierte der Dame nach.

Dieses Gesicht – dieses Gesicht! – Dann lächelte er traurig. Weshalb nachsinnen?! Er kannte in Berlin ja niemand. Damen schon gar nicht. Die, die er kannte, waren Leute, mit denen er nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft zu tun gehabt hatte – nur die!

Er ging weiter. Hier, wo nur reiche Leute wohnen, wollte er versuchen, sich Zivilkleidung zu erbetteln – und vielleicht ein warmes Gericht.

Auf gut Glück betrat er ein Haus. Die Haustür war offen. Sonst hätte der Portier ihn wohl kaum vorn eingelassen. – Im Hochparterre links wohnte ein Levysohn, rechts ein v. Winterfeld. Beide Namen gefielen Herbert nicht. Er stieg bis zum ersten Stock hinauf. Hier rechts: Sigurd Kohn, links: H. Sommer.

Sommer! Das klang freundlich, verheißungsvoll.

Herbert läutete. Ein Stubenmädchen mit Häubchen öffnete.

„Kann ich den gnädigen Herrn sprechen?“ fragte er keck. Der alte Unternehmungsgeist des „Pumpmolchs“ war über ihn gekommen.

„Ihr Name bitte,“ meinte das Mädchen und musterte ihn von oben bis unten.

„Herbert Dehmolch,“ erklärte er.

Das Mädchen schloß die Tür wieder. Nach einer Weile erschien dann ein älterer Herr, schaute Herbert scharf an, schüttelte den Kopf und fragte:

„Sie wünschen? – Ich bin der Oberbaurat Sommer. – Sollten Sie wirklich der frühere Student Dehmolch sein, dem ich einmal eine kleine Gefälligkeit erwies?! Aber Dehmolch war noch so jung, und Sie sehen wie ein Vierziger aus.“

Herbert horchte auf. – Gefälligkeit erwies?! – Mein Gott – ob ihn hier etwa der Zufall mit jemand zusammengeführt hatte, der ihn kannte? Und zwar von früher her kannte?!

Was aber – was sollte er nun antworten?!

Und wieder umspielte da das traurige Lächeln seinen Mund. Er hob die Hand, deutete auf die rote Narbe an der linken Stirnseite.

„Herr Oberbaurat, ich heiße Herbert Dehmolch. Und Student mag ich mal gewesen sein. Ich habe das Gedächtnis verloren. Aufs Geratewohl läutete ich an Ihrer Tür. Ich wollte um Zivilkleider bitten und – um was zu essen. Wenn ich Ihnen meine Geschichte erzählt haben werde, meine Leidensgeschichte, werden Sie mich nicht für einen Schwindler halten – vielleicht nicht!“

Der Oberbaurat winkte. „Kommen Sie. Ich habe selbst zwei Söhne im Kriege verloren –“

Er führte Herbert in sein Arbeitszimmer, ließ sofort ein kräftiges Frühstück bringen. Und Herbert erzählte.

Herr Sommer unterbrach ihn mit keinem Wort. Erst als Herbert zu Ende gekommen war, reichte er ihm die Hand und sagte herzlich:

„Sie Ärmster, ich glaube Ihnen. Ein Zufall, mehr schon das Walten einer gütigen Vorsehung, hat Sie gerade mich aufsuchen lassen. – Denken Sie einmal scharf nach. Haben Sie nicht vor dem Kriege in einem Geschäft der Friedrichstraße einen Koffer verkauft? War nicht der Ladeninhaber ein kleiner, buckeliger Mann –?“

Alle Einzelheiten jenes damaligen Zusammentreffens suchte der Baurat recht klar seinem Gaste vorzuführen. Und Herberts Gesichtsausdruck wurde immer nachdenklicher. Dann rief er plötzlich:

„Ja – ja – jetzt weiß ich, achtzig Mark gaben Sie mir damals und – und der Koffer – der Koffer –“ Er stockte.

„Den Koffer schickte ich Ihnen wieder zu, durch einen Dienstmann. Ich habe ein sehr gutes Gedächtnis. Sie wohnten in der Elsässerstraße. Die Nummer des Hauses freilich – die ist mir entfallen. Aber auf dem zuständigen Polizeirevier werden wir sie schon erfahren. – Jetzt bleiben Sie zunächst bei mir. Sie beziehen die sogenannte Plättstube. Ich lasse sie für Sie sofort herrichten. Inzwischen sehen wir mal die noch vorhandenen Anzüge meiner Söhne durch. Auch ein Bad können Sie nehmen, und dann schlafen Sie erst mal gehörig aus. – Kein Wort des Dankes, lieber Freund. Uns hat das Schicksal zusammengeführt, und wir bleiben zusammen –“

 

5. Kapitel.

Erinnerungen.

Nachmittags 3 Uhr saß ein völlig verwandelter Herbert mit am Sommerschen Mittagstisch.

Er hatte sich den Vollbart wegrasiert, hatte nur einen kleinen Schnurrbart stehen lassen. Er war wieder Kulturmensch geworden.

Oberbaurat Sommers Familie bestand jetzt nur noch aus drei Köpfen: ihm, seiner Gattin und der 25jährigen Tochter Melanie.

Die Frau Rat war zunächst mit der Aufnahme dieses etwas romantischen Gastes nicht ganz einverstanden gewesen. Sie war eine kühle, zurückhaltende Natur, wenn auch nicht gerade ohne Herz. Sie söhnte sich jetzt schnell mit dieser „seltsamen Grille“ ihres gutmütigen Gatten aus, als Herbert sich in allem tadellos benahm und dazu noch so interessant über Frankreich zu plaudern wußte.

Melanie, das jetzt einzige Kind ihrer sehr wohlhabenden Eltern, war der waschechte Typ der gesellschaftlich übersättigten jungen Dame aus Berlin W. Sie war groß, überschlank, hatte ein schmales, rassiges Gesicht und dazu ein Paar sehr unergründliche, dunkle Augen, die die Angewohnheit hatten, jeden Menschen, mit dem sie sprach, starr zu fixieren. Sie war nicht schön, aber ihr Gesicht war zum mindesten pikant und ihre abgerundeten, ruhigen Bewegungen und die ein wenig monotone Sprechweise verliehen ihr noch einen besonderen Reiz.

Für ihre Übersättigung und ihre Gleichgültigkeit gegenüber allem, was irgendwie nach Alltäglichem ausschaute, stellte dieser so plötzlich in den Familienkreis hineingeschneite Fremde eine angenehme Abwechselung, zugleich auch etwas Außergewöhnliches dar.

Ein Mann ohne Gedächtnis, ohne Vergangenheit – das fand man nicht alle Tage! Zumal noch einen Mann, der jetzt in Zivilkleidung so ansprechend aussah, der einen so hübschen Mund und so schöne Augen hatte! –

Nach Tisch mußte Herbert Melanie auf einen Spaziergang begleiten. Die Kleidungsstücke des gefallenen Leutnants Felix Sommer paßten ihm wie angegossen, selbst die Lackschuhe, die Leinenkragen. Man konnte sich mit ihm sehen lassen – sehr sogar!

Und er war ein vergnügter, netter Gesellschafter zudem. Jetzt, wo die Nahrungssorgen von ihm genommen waren, kam seine wahre, lebensfrohe Natur wieder zum Durchbruch. Melanie fand ihn sehr bald weit interessanter, als all ihre bekannten Herren insgesamt. Sie war ein reifes wissendes Weib. Sie fühlte, daß dieser romantische Gast an ihrer Seite langsam den „Mann“ in sich erwachen spürte.

Sie führte ihn in eine jener neuerstandenen, übereleganten Dielen in der Nähe der Tauentzienstraße, in denen selbst der Geldbeutel eines fünffachen Millionärs noch eine überaus klägliche Rolle spielt.

In der Diele wurde natürlich getanzt. Melanie und Herbert fanden einen winzigen Tisch ganz für sich allein unweit einer der durch künstliche Efeuwände hergestellten, von Seidenbaldachinen überwölbten Nischen.

Das „feine“ Nepplokal war dicht besetzt. Es war gerade „in Mode“, und dies nur deshalb, weil dort eine Menge Entente-Offiziere in Zivil verkehrten.

Melanie bestellte zwei Mischgetränke, von denen jedes „nur“ 40 Mark kostete. Sie ließ Herbert Zeit, sich den Betrieb anzuschaun. Dann fragte sie:

„Wie gefällt Ihnen dieses besiegte Deutschland?“

Er erwiderte nun leise und zögernd: „Ich wundere mich, daß Sie, gnädiges Fräulein, eine solche Stätte besuchen.“

Mela Sommer war nicht im geringsten verletzt.

„Ich bitte Sie, Herr Dehmolch, – wir Damen aus Berlin W, das heißt, wir Damen aus der Vorkriegszeit, amüsieren uns hier prächtiger als in dem witzigsten Schwank. Prüde sind wir nicht. Prüderie ist überhaupt albern, ist ein Tugendmäntelchen, das man nur bis zum 18. Jahre tragen sollte. Wenigstens in Berlin. Und ich bin 25. – Soll ich vielleicht in ein Cafee gehen, wo die Frauen bei einer Handarbeit sitzen und die Herren Skat oder Schach spielen und die Kellner Papiermanschetten tragen?!“

Herbert mußte lächeln. Melas ganze Art, derartige aus einem Mädchenmunde sonst wie kleine Ungeheuerlichkeiten klingenden Sätze vorzubringen, hatte etwas so selbstsicher Harmloses an sich, daß sie nie dadurch auch nur im geringsten etwas Kokottenhaftes erhielt.

Aber Herberts Lächeln erstarb jäh. Sein Gesicht spannte sich förmlich. Er saß mit dem Rücken nach der Nische hin. Dort hatten soeben die Insassen gewechselt. Auch die Musik schwieg gerade. Und so hatte Herbert denn als Fortsetzung der Sätze Melas sozusagen aus der Nische heraus eine andere Frauenstimme gehört, die im Tone höchsten Widerwillens erklärte:

„Bitte, Herr Doktor, – aber nur fünf Minuten Ich ersticke hier. Alles hier ekelt mich an. – Schütteln Sie nicht den Kopf: ich bleibe eben das Proletarierkind, das beim Anblick dieser schwach übertünchten Vornehmtuerei, bei der überall doch die nackte Gemeinheit hindurchgrinst, und bei dieser schrankenlosen Schlemmerei stets an die denken muß, die anderswo – hungern –“

Herbert hatte mit prüfendem Blick die Insassen der Nische gemustert. Weshalb er das tat, wußte er nicht, ebensowenig, weshalb er sich so plötzlich durch diese Frauenstimme so seltsam beunruhigt gefühlt hatte. Es war wie ein innerer Zwang gewesen, dem sein Körper und sein Kopf mit der halben Rechtsdrehung folgten.

In der Nische befanden sich drei Personen: eine ältere, etwas korpulente Dame mit verschwommenen Zügen, eine jüngere, blonde Dame mit dunklen, ernsten Träumeraugen und ein Herr mittleren Alters mit einem Klemmer auf der Nase und sehr dünnem, blondem Scheitel.

Die jüngere Dame wandte Herbert das Profil zu. Aber seine Augen glitten auch über sie ohne längere Ruhepause hinweg. Nur den Bruchteil einer Sekunde stutzte er. Irgend etwas ging in dieser winzigen Zeitspanne in seinem Hirn vor. Er empfand es wie ein beglückendes Aufleuchten ferner Sonnenstrahlen. Nur so. – Und als er sich Mela wieder zuwandte, lächelte er kaum merklich. Richtig – er besann sich: das war ja dieselbe junge Dame, die er am frühen Vormittag auf dem Kurfürstendamm getroffen und nach der er sich umgeschaut hatte, – weshalb wohl – weshalb?

Er lächelte, denn er freute sich stets, wenn er feststellen konnte, daß sein Erinnerungsvermögen für Vorgänge der Gegenwart völlig normal arbeitete.

Melanie hatte sich zurückgelehnt, rauchte schweigend ein paar Züge, drückte die Zigarette in der Aschenschale aus und erhob sich.

„Ich komme sofort wieder –“

Sie hatte im Vorraum den Kellner bemerkt, der auch in der Nische bediente und der den Begleiter der beiden Damen mit „Herr Doktor“ – wohl als häufigeren, ihm bekannten Gast – angesprochen hatte.

Sie winkte den Kellner beiseite. „Kennen Sie die Damen, mit denen der Herr Doktor dort in der Nische zusammen sitzt – die Korpulente und die Blonde?“

Der Kellner verneinte, erhielt einen Fünfzigmarkschein und versprach, die Namen irgendwie herauszubringen; Herr Doktor Meinert verkehre hier ja häufiger.

Mela kehrte zu Herbert zurück. Er hatte den Kopf tief gesenkt; er übersah, daß Melanie wieder ihm gegenüber Platz nahm; er lauschte nur der Frauenstimme dort in der Efeunische. Seine Augen waren wieder halb geschlossen; sein Gesicht zeigte wieder den ängstlich-grüblerischen Ausdruck.

Jetzt sagte der Herr dort plötzlich: „Aber verehrteste Frau Keil, diese Art Lokale kann eine Weltstadt nicht entbehren. Sie saugen zum mindesten einen Teil des Geldes aus den Taschen der Entente-Offiziere wieder heraus, das die Entente uns abpreßt.“

Frau Keil! – Der Name ging an Herberts Ohr spurlos vorüber. Desto fester prägte Mela ihn sich ein.

Sie störte Herbert nicht, sie beobachtete ihn nur. Sehr bald verließen die beiden Damen und der Herr die Diele. Da erst schien Dehmolch zu erwachen, als die Stimme ihn nicht mehr so merkwürdig verwirrte. Er entschuldigte sich jetzt bei Melanie. Seine Worte waren ernst und traurig.

„Hier in Berlin empfinde ich es weit schwerer als bisher, daß mein Gedächtnis für die Zeit vor dem Jahre 1915 tot ist,“ sagte er unter anderem.

Sie tröstete ihn aus ehrlichem Mitgefühl. „Auch das wird wieder gut werden. Wir werden Ihnen helfen, das Einst wieder zusammenzufügen.“

Dann gingen sie heim den Kurfürstendamm entlang. Melanie war schweigsam geworden. Sie prüfte sich, ihre Empfindungen, Gedanken. Sie wurde sich nicht darüber klar, was es wohl sein könnte, das sie jetzt schon mit feinen Fäden zu diesem Manne hinzog, den sie heute erst kennen gelernt hatte. Sie war über den Durchschnitt klug und lebenskundig. Sie hätte längst verheiratet sein können. Aber sie wollte ihre Selbständigkeit nicht aufgeben, nicht eines Mannes wegen, dem sie sich doch nur ohne wahres Sehnen nach innigster körperlicher und seelischer Gemeinschaft hingeben würde. Ihr Herz hatte bisher keinem Manne in schrankenlosem Verzicht auf diese Selbständigkeit entgegengeschlagen. Sie besaß von ihrer Großmutter her Vermögen. Ihre Eltern hatte sie längst daran gewöhnt, daß sie ihr eigenes Leben lebte. Sie war ein Frauencharakter wie nur die Großstadt, nur Berlin, zur Reife bringt.

Melanie Sommer erklärte dann daheim unter vier Augen ihrem Vater, daß sie gern die Aufgabe übernehmen wolle, die Nachforschungen nach Herbert Dehmolchs ehemaligem Leben einzuleiten und durchzuführen.

Der Oberbaurat war damit sehr einverstanden. Er hatte übergenug dienstliche und gesellschaftliche Verpflichtungen, und er kannte ja seiner Tochter Energie und Umsicht. Davon, daß sie diese Nachforschungen ergebnislos verlaufen lassen wollte, ahnte er nichts.

 

6. Kapitel.

Sei mein!

An demselben Abend war das Ehepaar Sommer zu einer Gesellschaft geladen. Auch Melanie hätte sich den Eltern anschließen müssen, schützte jedoch Kopfschmerzen vor und hatte sich auf ihr Zimmer zurückgezogen.

Der Oberbaurat hatte Herbert, bevor das Ehepaar aufbrach, nochmals dringend gebeten, sich hier ganz wie zu Hause zu fühlen – „Setzen Sie sich noch in mein Zimmer, lieber Freund, – rauchen Sie, lesen Sie – Sie sind hier daheim!“

Herbert hatte es sich denn auch in einem Klubsessel behaglich gemacht und träumte vor sich hin, füllte hin und wieder sein Glas aus der Rotweinflasche, die das Stubenmädchen ihm wohl auf Geheiß des alten Herrn hingestellt hatte.

Das Eigenartige seiner Lage drängte sich ihm immer mehr auf. Er sagte sich, daß er doch unmöglich für längere Zeit die Gastfreundschaft Sommers in Anspruch nehmen dürfe. Er mußte zusehen, daß er eine Beschäftigung fand, einen Erwerb. Aber wo, wie sollte er diesen sich verschaffen?! Sommer hatte ihm ja von der Arbeitslosenfrage genug erzählt.

So grübelte er über Zukunftsfragen nach. – Um ¼10 kam das Stubenmädchen und fragte, ob er noch Befehle hätte; sie und die Köchin wollten noch ein wenig ausgehen.

Er verneinte; war wieder allein. Nicht lange.

Lautlos hatte sich die Tür nach dem Speisezimmer geöffnet. Melanie verhielt sich regungslos und beobachtete Herbert. Auf dem Tische stand eine elektrische Lampe mit farbigem Seidenschirm. Das fein abgetönte Licht machte sein blasses Gesicht noch interessanter. – „Ein hübscher Mann,“ dachte Mela. „Mit dem leicht ergrauten Schläfenhaar sieht er so interessant aus. Um die Lippen, diesen wundervollen Mund, kann man ihn beneiden.“

„Darf ich Ihnen ein wenig Gesellschaft leisten?“ fragte sie nun.

Er zuckte leicht zusammen, erhob sich schnell. – Sie kam näher. Sie hatte einen weiten, tief ausgeschnittenen Morgenrock aus indischer Seide an.

Sie saß dann dicht neben ihm in der Ecke des Ledersofas.

„Hoffentlich hat Ihre Migräne nachgelassen,“ meinte er, als sie nach einer Zigarette griff.

Sie lächelte ihn an. Und trotz des Lächelns hatten ihre Augen wieder denselben starren Blick, der so ein wenig unangenehm-erkältend wirkte.

„Die Migräne habe ich nur vorgeschützt,“ sagte sie ruhig. „Ich wollte mit Ihnen zusammen sein und über Ihre Zukunft sprechen.“

Ihre schlanke Rechte glättete die Seide des Morgenrocks über dem einen Knie. Sie hatte die Beine zwanglos übereinander geschlagen.

„Ich bin sehr vermögend,“ fuhr sie fort. „Und ich sehne mich seit langem aus Berlin hinaus. Ich möchte mir irgendwo eine kleine Villa, ein Landhaus, kaufen – in der Waldeinsamkeit, an einem See, schön gelegen, mit großem Obstgarten. Dort möchte ich leben. Sie sollen sich für mich nach etwas passendem umsehen. Wollen Sie das? Dann hätten Sie doch zunächst Beschäftigung, würden mich auch zu Dank verpflichten.“

„Oh, wie gern tue ich das – wie gern!“ rief er eifrig und rückte den Klubsessel unwillkürlich noch näher, so daß er ihr Knie mit dem seinen berührte. „Verzeihen Sie,“ stotterte er und wurde sehr rot.

„Sie haben mir nicht weh getan,“ meinte sie. Und nach kurzer Pause: „Vielleicht nehme ich Sie auch mit in meine neue Waldeinsamkeit. Kommen Sie, setzen sich hier neben mich auf das Sofa. Was ich Ihnen noch zu sagen habe, soll Hand in Hand geschehen.“

Herbert schaute sie unsicher an. Er begriff nicht recht, was das alles sollte. Er konnte sich nicht denken, daß eine Melanie Sommer hier so etwa die Madame Potiphar spielen wollte.

In Melas Augen war jetzt ein warmer, zärtlich Glanz, nichts von Lüsternheit jedoch. Und das gab ihm die Fassung wieder. Er stand auf, ging um den Tisch herum, nahm auf dem Klubsofa Platz.

Eine schlanke Hand griff nach dem Schalter der Lampe; Brillantringe blitzten auf. Dann – ein leises Knacken.

Das Licht erlosch.

„Ich liebe das Dreivierteldunkel,“ sagte Mela gleichmütig. „Die Straßenbeleuchtung reicht gerade aus, uns auch hier auf dem Tische zurechtzufinden. – Darf ich Ihr Glas wieder füllen?“ Sie tat es, nippte dann selbst daran, hielt es ihm hin. „Trinken Sie – auf unsere Freundschaft.“

Er trank ihr zu. Er empfand nur eins: daß er hier geborgen war und daß sie es gut mit ihm meinte.

„Auf gute Freundschaft,“ sagte er und stellte das Glas wieder auf den Tisch.

Sie rückte näher an ihn heran. Sie nahm seine Hand. Er fühlte die Weichheit der Haut ihrer Finger, deren Wärme. Es war das alles so traumhaft, so unwirklich. Heute morgen war er noch in seinem schmierigen Feldrock und mit genagelten Schuhen als Bettler aus einem Möbelwagen, seinem Nachtquartier, gestiegen, und jetzt saß er mit Lackschuhen und in einem leicht parfümierten, auf Seide gearbeiteten Anzug auf einem Klubsofa neben einer jungen Dame, die ihn Freund nannte.

Neben einem Weibe saß er. Und um sie herum war es fast ganz dunkel. Auf einem Sofa saßen sie.

In seinem toten Gedächtnis regte sich etwas. Da war wieder die Hand, die an dem dichten Vorhang zerrte, der das Einst abschloß. Er spürte es. Der Vorhang gab zuweilen einen winzigen Fernblick frei, fiel aber sofort immer wieder zusammen.

Neben einem Weibe. Dunkelheit – nicht völlige Dunkelheit, – und auf einem Sofa! – Dieses drei war’s, das ihn jetzt beschäftigte; das war jetzt die Hand, die den Vorhang bewegte. Ein ungewisses Ahnen raunte ihm zu: Du hast schon einmal etwas ähnliches erlebt. Wo aber – wann – mit wem.

Er grübelte. Und Mela, die sein Gesicht nicht sehen konnte, die annahm, er höre ihr zu, sprach von ihrem Leben, von ihrem Unbefriedigtsein, von ihrer Sehnsucht nach einer Ehe mit einem Manne, der in ihren Armen keinerlei Erinnerungen an glutheiße, frühere Stunden haben dürfe.

Nur zuweilen drangen einige Sätze davon bis zu Herberts Gedankenschwelle. Zumeist lauschte er auf andere Stimmen, die in seinem Innern wisperten: von irgend einer Nacht – einem Weibe – einem Sofa.

Mela drückte jetzt Herberts Hand, lehnte sich an ihn.

„Wir wollen uns ein molliges Nest bauen – irgendwo, – wo es schön ists. Wir werden glücklich sein – – sehr glücklich –“

Herbert empfand abermals nur, daß Mela hoch über entnervter Lust an pikanten Abenteuern stand. Und er begriff jetzt, was sie ihm anbot: ihre Hand, ihr Vermögen, eine ruhige, zufriedene Zukunft.

„Sie sind so gut,“ flüsterte er. Und – ihre Nähe wirkte. Er fühlte den sanften Druck ihres Schenkels an dem seinen, er fühlte ihren Oberkörper, war umweht von dem Duft ihres Haares.

Er preßte sie an sich. Er fühlte, wie leicht sie bekleidet war. Sie konnte unter dem dünnen Morgenrock nur noch ein einziges Untergewand anhaben.

Ihre Küsse änderten sich. Der Druck der heißen Lippen umschmeichelten jetzt gleichsam die seinen in innigem Flehen.

„Komm‘,“ raunte sie ihm plötzlich zu. „Komm‘,– in meinem Zimmer sind wir ganz ungestört. Wir schließen Deine Tür von außen ab, nehmen den Schlüssel mit. Die Eltern kehren erst so spät heim. Du kannst bis zum Morgen bei mir bleiben, Du Lieber, Einziger, – Du, der nur mir gehört, nur!“

Sie hatte noch mehr hinzufügen wollen. Aber sein Arm, der sie umfangen hielt, und die Hand, die auf ihrer Brust geruht hatte, waren plötzlich wie kraftlos herabgeglitten.

Herbert saß jetzt wie eine Statue da.

Und Mela wartete auf Antwort.

Seine Regungslosigkeit begann sie zu ängstigen.

„Herbert – was hast Du?“ flüsterte sie.

Keine Antwort.

„Herbert!“

Spurlos glitt der halblaute Ruf an ihm ab.

Melas Hand tastete nach dem Schalter der Lampe. Sie glitt von seinem Schoße herab. Die elektrische Birne glühte auf. Melas Augen umtasteten das Gesicht des Mannes, dem sie sich heute hatte hingeben wollen, damit er ganz ihr eigen würde – für immer.

Herbert hatte den Kopf an die Rücklehne des Sofas gestützt. Seine Blicke waren starr – starr geradeaus gerichtet, die Lider halb geschlossen. Auf seiner Stirn standen Schweißperlen. Sein Mund war nur noch ein Strich; die Muskeln der Backenknochen spielten unter der gestrafften Haut.

Denn abermals hatte etwas an dem dunklen Vorhang der Vergangenheit gezerrt. Es waren nicht Melas gierige Lippen gewesen, die die Schleier ein wenig mehr als je zuvor gelüftet hatten, – nicht die gierigen Lippen! Aber die flehenden, bettelnden, schmeichelnden Lippen waren‘s! Und gleichzeitig war noch das andere hinzugekommen:

Ein Weib – Dunkelheit – das Sofa!

Und das – das war vereint die Hand, die den Vorhang hob, die Herbert so ein holdes Mädchengesicht gezeigt hatte, – und dann ein vom ersten Tagesschimmer erfülltes Stübchen mit einem roten Plüschsofa.

Da war der Vorhang wieder herabgeglitten; und da hatte Herbert seinen Arm vom Leibe der Anderen gelöst; da sprang wie etwas Frohes, Helles, wie ein leuchtender Quell, in seinem Innern die Überzeugung auf: Du hast jemand geliebt, namenlos geliebt, bevor Dein Gedächtnis erstarb, – jemand, das holde, blonde Mädchen.

Wer war‘s – wer?! Er wollte es wissen! Er wollte sein Hirn zwingen, ihm zu gehorchen. All seine Willenskraft nahm er zusammen; alles um sich her vergaß er. Er fühlte, wie die Schweißperlen ihm vor ungeheurer Anstrengung über die Stirn rannen; vor seinen Augen blitzten Funken, Feuerräder auf.

„Ich will!“ schrie es in seinem Innern. „Ich will!“

Und dann – jäh zuckte eine noch ganz frische Erinnerung in ihm auf: die Diele, die Efeunische, die blonde junge Dame und die – die Stimme!

Seinen Lippen entrang sich ein Schrei. Er sprang auf, stierte wild um sich.

Mela war mit einem Schreckensruf zurückgefahren. Sie glaubte nicht anders, als daß er den Verstand verloren hätte.

„Die Blonde!“ flüsterte er jetzt. „Die Blonde! Ich – ich muß sie suchen. Sie war‘s! Es war ihre Stimme.“

Mela kam näher. Er schaute sie an, streckte ihr beide Hände hin. Und so Hand in Hand schilderte er ihr in überstürzter Hast, was soeben in ihm vorgegangen.

„Melanie, Sie wollten mir Freundin sein,“ sagte er jetzt. „Beweisen Sie es! – Melanie, helfen Sie mir die suchen, deren Namen ich nicht kenne und die doch ein Stück von mir selbst ist –“

Mela Sommer hatte den Kopf tief geneigt. Sekunden nur kämpfte sie mit sich. Dann ein kaum hörbares Aufseufzen, dann:

„Es hat nicht sollen sein –“ Und lauter, schon wieder monoton und gelassen: „Ich werde Ihnen helfen, Herbert –“

 

7. Kapitel.

Gefunden.

Es war jetzt ¼11 abends. Mela hatte sich im Nu umgezogen und zum Ausgehen fertig gemacht. Herbert war nicht zu halten. „Und wenn es mitten in der Nacht wäre – ich will Gewißheit haben!“ hatte er erklärt. – Mela war ehrlich gewesen, hatte ihm mitgeteilt, daß sie dem Kellner fünfzig Mark gegeben hätte; auch den Namen Keil hatte sie erwähnt. Aber der Name blieb ohne Eindruck auf Herbert.

Sie fanden ein Auto. Kurz nach ½11 betraten sie die Diele. Hier herrschte Hochbetrieb. Kein Stuhl war mehr frei. Aber, dort saß der Herr, der nachmittags mit den beiden Damen in der Nische gewesen. Mela machte Herbert auf ihn aufmerksam. –

Doktor Meinert erhob sich.

„Ich wüßte nicht, was ich Ihnen für Fragen zu beantworten hätte,“ sagte er ablehnend zu Herbert, dessen Namen er nicht verstanden hatte.

„Es betrifft die beiden Damen, mit denen Sie heute nachmittag hier waren,“ erklärte Herbert ungeduldig.

Der Arzt schaute ihn jetzt scharf an. Etwas wie Unruhe zeigte sich auf seinem Gesicht; er meinte nun:

„Verzeihung – ich habe Ihren Namen –“

„Herbert Dehmolch – Dehmolch –“

„Un – unmöglich,“ stotterte Meinert jetzt völlig fassungslos. „Dehmolch? Der frühere Student jur. Dehmolch?“

„Ja – Herbert Dehmolch. Aber bitte – folgen Sie mir doch in den Vorraum. Wir erregen hier ja nur Aufsehen.“

Dann standen Mela, Herbert und der Arzt in einer Ecke des Vorraumes.

„Sie kannten meinen Namen, Herr Doktor,“ begann Herbert mit zitternder Ungeduld. „Woher kannten Sie ihn? Durch die Dame, die Sie „Frau Keil“ anredeten?“

Doktor Meinerts Benehmen blieb sehr eigenartig. Er wand sich förmlich um eine Antwort herum, bis Melanie dann sehr energisch erklärte:

„Sie weichen uns aus. Dort ist der Kellner. – Einen Augenblick.“ Sie eilte in den Hauptraum zurück, kehrte sofort wieder, sagte zu Meinert: „Danke, wir brauchen Sie nicht mehr. Der Rentier Gottlieb Keil wohnt mit Frau und Tochter in demselben Hause wie Sie, Ansbacher Straße 114. – Guten Abend.“ Sie drehte sich kurz um und ging dem Ausgang zu. Herbert folgte ihr, ohne Meinert noch eine Verbeugung gemacht zu haben.

Der Arzt blickte ihnen nach. „Endgültig vorbei!“ dachte er. „Sie hat ihn ja nie vergessen. Und die Gedanken an ihn waren die trennende Wand – das Hindernis der Erfüllung meiner ehrlichen Herzenswünsche.“ – Er kehrte an seinen Tisch zurück, zu seinen beiden Bekannten.

„Kellner – Sekt!“ befahl er. „Ja, Sekt –!“ klärte er seine Tischgenossen auf. „Trinken wir gemeinem auf eine begrabene Herzenshoffnung. Die Hoffnung ins Grab – und aus dem Grabe steigt für jemand anders eine andere Hoffnung auf!“

„Du bist verrückt, Doktor!“ meinte der eine Herr. „Den Unsinn mag ein anderer verstehen. Aber dem Sekt – den verstehen wir zu trinken! Und das bleibt die Hauptsache.“ –

Die Familie Keil hatte der Krieg ebenfalls wie so viele andere aus den dürftigen Verhältnissen herausgehoben und ihnen Wohlstand, Sorgenlosigkeit und ein behagliches Heim beschert. Hier bei Keils war dieser Reichtum jedoch nach all den Jahren des Darbens eine Entschädigung, also etwas, das man ihnen gönnen mußte.

Meister Keils Bruder hatte viel, sehr viel an Kriegslieferungen verdient. Und ehrlich hatte er mit dem ehemaligen Buchbinder geteilt. Dann war der Tod gekommen, hatte ihn jäh hinweggerafft. So fiel denn auch sein Vermögen an Gottlieb Keil; so kam‘s daß der jetzige Rentier Keil seit zwei Jahren in der Ansbacher Straße eine Vierzimmerwohnung innehatte und nun ganz Gelehrter geworden war.

Aber auch bei Keils war das Glück unvollkommen. Die blonde Ilse konnte den Jugendgeliebten nicht vergessen. Ihr Leben war nichts als ein ständiger Kult der Erinnerungen an Herbert. –

An diesem Abend saßen Keils im Speisezimmer um den Tisch herum. Papa Keil studierte die Abendzeitung. Frau Therese schmökerte in der Berliner Hausfrau, und Ilse füllte für den Vater das Formular für die Vermögenssteuer aus. Sie war‘s, die die ganze Vermögensverwaltung in Händen hatte. Sie wußte Bescheid mit derlei von ihrer Tätigkeit als Buchhalterin während der Kriegsjahre her.

Gottlieb Keil schaute von der Zeitung auf, stieß seine Frau heimlich an, zwinkerte ihr zu, deutete auf eine bestimmte Stelle unter „Neues vom Tage“ und schob ihr das Blatt hin.

Frau Therese las, stutzte.

„Bei einem unlängst zurückgekehrten Kriegsgefangenen soll infolge eines Kopfschusses völliger Verlust des Gedächtnisses eingetreten sein. Der Unglückliche hatte Papiere auf den Namen Herbert Dehmolch bei sich, die ihm dann aber gestohlen wurden. Er soll 1915 in den Verlustlisten irrtümlich als tot gemeldet worden sein –“

Frau Therese war blaß geworden. Die Zeitung raschelte in ihren zitternden Händen.

Ilse blickte auf.

„Mama? Fühlst Du Dich nicht wohl?“

Vater Keil hatte die Brille abgenommen, wischte sich über die Augen.

„Mutter, ich denke, wir – wir zeigen‘s ihr,“ meinte er und konnte vor Bewegung kaum sprechen.

Ilse hatte sich schon erhoben. „Was – was habt Ihr nur? – Zeigen – was denn?“

Frau Therese deutete mit unsicherem Finger auf die Zeitungsnotiz.

Ilse beugte sich über den Tisch. Dann sank sie in die Knie, stützte die Stirn gegen die Tischplatte. Ein Schluchzen, – dann:

„Mein Gott, – wenn er‘s wäre. Wenn er‘s wäre!“

Unten vor dem Hause hielt ein Auto. Herbert stieg aus, reichte Melanie die Hand. „Auf Wiedersehen, liebe Freundin –“

Mela fuhr heim, während Herbert den Portier herausklingelte. Er gab dem Manne ein gutes Trinkgeld. „Ich muß unbedingt noch Herrn Keil sprechen –“

„Bitte – eine Treppe rechts –“

Herbert war wie im Fluge oben, läutete – läutete Sturm. Und dachte dabei: „Daß mir der Name nicht einfällt – ihr Vorname! Und ich besinne mich jetzt doch so deutlich auf sie – auf jeden Zug ihres Gesichts.“ –

Im Treppenflur war die Nachtbeleuchtung noch eingeschaltet.

Ilse war auf das anhaltende Klingeln hinausgeeilt; ihr Herz jagte; die frohe Hoffnung drohte ihr vor Seligkeil die Brust zu sprengen. Wer sollte denn auch jetzt noch so spät Einlaß begehren?!

Sie hakte die Sicherheitskette los, öffnete die Tür ganz weit. – Ein Blick nur. Ein gellender Schrei – überlaut – im Übermaß des Glücks.

„Herbert!“

Sie flog ihm in die Arme. Weinte – weinte an seiner Brust.

Da zerriß der dunkle Vorhang.

„Ilse,“ flüsterte er. „Ilse, liebe, kleine Ilse –“ –

Um Mitternacht gingen Vater und Mutter Keil zu Bett. Die jungen Leute wollten doch noch allein sein miteinander.

Und auf dem Sofa des dunklen Speisezimmers saßen zwei, eng umschlungen. Von der Straße drang nur ganz schwach der Laternenschein hinein.

„Weißt Du noch, Herbert, damals – damals – unsere Abschiedsnacht?“ flüsterte Ilse. „Weißt Du noch! In Deinem Zimmer – wir beide, auch auf dem Sofa. – Aber heute – heute –“

Und sie küßte ihn. Und all die treue, hoffnungslose Sehnsucht dieser letzten Jahre lag in diesem heißen Kuß.

 

 

Anmerkung:

  1. Der Titel auf dem Umschlag lautet: Der Pumpmolch.