Sie sind hier

Das Glück unterm Dach

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

 

Band 264

 

Das Glück unterm Dach.

 

Roman von

W. Kabel.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin S. 14.
Dresdenerstraße 88–89.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

 

1. Kapitel.

Der Gymnasialprofessor Heinrich Loßner ging aufgeregt in seinem Arbeitszimmer auf und ab, murmelte ärgerliche Worte vor sich hin und schwenkte dabei des öfteren einen Brief in der drohend erhobenen Rechten, den er soeben gelesen hatte und dessen Umschlag, säuberlich aufgeschnitten, auf der Schreibtischplatte lag. Die Adresse dieses Briefes lautete jedoch merkwürdigerweise nicht auf den hageren, graubärtigen Schulmann, sondern „Herrn cand. med. Erwin Loßner, z. Zt. Berent, Westpr.“

Und dies war des Professors ältester Sohn. –

Loßner, der Ältere drückte jetzt auf den Knopf der elektrischen Hausleitung. Bald darauf erschien ein rotwangiges, derbes Mädchen, das noch einen Kochlöffel in der Hand hielt.

„Herr Professor wünschen?“

„Ist mein Sohn Erwin zu Hause?“ fragte er unfreundlich.

„Nein. Der junge Herr ist vor einer halben Stunde in die Stadt gegangen. Aber Herr Max sitzt auf seinem Zimmer und arbeitet – wie immer!“

Dem sonst so hellhörigen Schulmann entging heute die leise Geringschätzung, die die langjährige Köchin des Hauses Loßner in die beiden letzten Worte legte.

„So soll Max zu mir kommen,“ befahl der Professor nach kurzem Nachdenken.

Das Mädchen verschwand, und Loßner trat nun an das offene Fenster und schaute mit gekrauster Stirn auf die Straße hinaus, die im hellen Mittagssonnenglanz eines klaren Julitages dalag. Spatzen balgten sich auf dem holprigen Pflaster um ein paar Brotstücke, die die Kinder der nahen Gemeindeschule fortgeworfen hatten.

„Die Vagabunden in der Vogelwelt!“ dachte der Professor. Und spann diesen Gedanken mit ingrimmig geballten Fäusten weiter auf die Menschheit aus.

„Künstlervolk – auch alles Vagabunden!“ knurrte er vor sich hin und lachte böse auf.

Dann hörte er hinter sich die Tür seines Zimmers ins Schloß fallen. Sein jüngerer Sohn Max stand vor ihm.

„Du wünschest, Papa?“

Die beiden glichen sich trotz des großen Altersunterschiedes auffallend. Beide trugen sie das harte, widerspenstige Haar hochgekämmt und eine goldene Brille vor den Augen, die bei ganz unbestimmter Farbe in gewissen Momenten einen recht stechenden Ausdruck annehmen konnte. Auch der breite, unschöne Mund mit den dünnen Lippen und die dicke Nase war ihnen gemeinsam, ebenso die stets etwas vornübergebeugte Gestalt und die schwerfälligen Bewegungen der mageren Körper.

Der Professor hielt seinem Sohne den Brief hin.

„Da – lies! Eine nette Geschichte!“

Max Loßner brachte das Schreiben, das einen Firmenaufdruck trug, dicht an die kurzsichtigen Augen. Nach einer Weile ließ er es sinken.

„Also Schulden hat er gemacht,“ meinte er spöttisch. „Einen Frackanzug – und gleich auf Seide – einhundertunddreißig Mark, ein Sündengeld. Ein Sportpaletot – auch auf Seide – neunzig Mark. – Ja, ja – unser Erwin hat vornehme Neigungen! Für Bügeln von Beinkleidern stehen in der Rechnung auch zwölf Mark – zwölf Mark! Und die Gesamtsumme dreihundertundzwölf Mark – ganz hübsch für den Sohn eines Gymnasialprofessors!“

„Er soll sich nur nicht einbilden, daß ich das bezahle …!“ polterte der ältere Loßner. „Ich denke gar nicht daran! – Einen Frack auf Seide muß er haben – auf Seide! Ein Wahnsinn ist’s!“

Die Tür nach dem Korridor hatte sich leise geöffnet, und ein schlanker, blonder junger Mensch trat ein, der die letzten Worte notwendig noch hören mußte.

Die beiden anderen fuhren gleichzeitig mit den Köpfen herum.

„Ah – da bist du ja,“ begann der Professor sofort, riß Max die Schneiderrechnung aus der Hand und hielt sie seinem Ältesten mit zornfunkelnden Augen entgegen.

„Hier – was soll das! … Dreihundertundzwölf Mark!! Du sinnloser Verschwender, du leichtsinniger …“

„Gestatte, Papa!“ – Erwin Loßner hatte das Schreiben an sich genommen und überflog es schnell.

„War die Rechnung an dich adressiert, Papa?“ fragte er mit leicht erhobener Stimme.

Der Professor wurde verlegen.

„Nein. Ich habe den Brief aus Versehen geöffnet,“ erklärte er, den Kopf mit den harten Zügen mit einem Ruck wieder hebend.

„Bei deiner großen Sorgfalt, mit der du selbst die kleinsten Dinge verrichtest, ist das merkwürdig,“ warf Erwin zweifelnd hin.

Der Professor hob den Arm zu einer Geste, als wolle er ein Verdammungsurteil sprechen.

„Und wenn ich ihn auch absichtlich geöffnet hätte – ich habe ein Recht dazu!“ stieß er erregt hervor. „So lange du noch in meinem Hause lebst, stehst du unter der Aufsicht deines Vaters – merke dir das.“

Erwin Loßners schmales, feinliniges Gesicht überflog eine schnelle Rötel, und in seinen dunkelbraunen, sonst meinst etwas verträumt schauenden Augen flimmerte plötzlich ein seltsames Leuchten.

„Unter Aufsicht – als fünfundzwanzigjähriger Mensch?!“ sagte er rasch. „Das dürfte deinerseits ein Irrtum sein! Ich bin volljährig – vergiß das bitte nicht.“

Der Professor verzog den Mund.

„Hörst du, Max, – volljährig – volljährig!!“ Seine Stimme schwoll an. „So lange du von mir abhängig bist, hast du zu gehorchen – aufs Wort! Ich war von vornherein schon viel zu gutmütig dir gegenüber! Nie hätte ich dulden sollen, daß du im Berlin zu Anfang deines Studiums in eine schlagende Verbindung eintrats, daß du noch dort deine Zeit in lockerer Gesellschaft, mit sogenannten Künstlern, die deinen Verkehr fast ausschließlich bilden, totschlägst, anstatt wie Max billiger und solider in Königsberg, in meiner Nähe, zu leben! Ein Geck bis du geworden in diesem Sündenbabel Berlin, ein leichtsinniger Bursche, der das Geld seines sparsamen Vaters mit vollen Händen fortstreut …“

Erwin Loßner lachte beinahe fröhlich auf. Und dieses Lachen verschlug dem Professor die Rede.

„Mit vollen Händen …! – Papa, übertreibe doch nicht; das Kunststück, von einhundertundfünfundzwanzig Mark Monatswechsel – Geld mit vollen Händen ausstreuen, das soll mir mal einer vormachen!“

„So – so – einhundertundfünfundzwanzig Mark …!! Und wer soll diese wahnwitzige Rechnung bezahlen …? – Wer? Willst du mir das vielleicht erklären?!“

Der Professor zitterte jetzt förmlich vor Ingrimm.

„Ich – wer sonst?!“ sagte Erwin einfach. „Wäre dieser Schneider nicht allzu besorgt gewesen, so hätte dir diese Rechnung erspart bleiben können, Papa. Ich erwarte täglich den Bescheid von der Redaktion des Universums, der ich eine längere Novelle vorgelegt habe, und ich hoffe, daß meine Arbeit angenommen wird.“

Der alte Loßner trat einen Schritt zurück und stützte sich mit beiden Händen auf die Schreibtischplatte.

„Novelle – Novelle – also trifft die Vermutung deines Bruders Max wirklich zu …!!“ keuchte er mit hervorquellenden Augen. „Dazu also benutzt du deine Zeit – zum Schriftstellern, zu unnützem Tun …! Eine Novelle …! – Bursche, bist du denn schon völlig vom rechten Wege abgewichen, daß du …“

Erwin ließ ihn nicht weitersprechen. Er wußte, daß diese Stunde die Entscheidung über seine Zukunft bringen würde. Und die Stunde des Kampfes sollte ihn bereit finden.

Mit erhobener Stimme unterbrach er den Vater.

„Genug hiervon! Schon zwei Mal hast du mich verächtlich mit Bursche bezeichnet – ohne jeden Grund! Du warst es, der mich dazu zwang Medizin zu studieren. Meinen eigenen Lebenswünschen verschlossest du dein Ohr. Ja – ich habe geschriftstellert – und mit Erfolg! Meinst du denn, diese meine Anzüge könnte ich von meinem Monatswechsel bezahlen! Meinst du, daß meine etwas verfeinerten Ansprüche an Lebensführung durch dein Geld befriedigt werden …?! –

Ich eigne mich zum Philister nicht, der mit verrannter Pedanterie seinen geistigen Horizont absichtlich mit einem hohen Zaune gegen die Außenwelt abschließt! Ich stehe mitten im Leben, ich kenne es und will es weiter ergründen in seinen unzähligen, wechselnden Formen, das Leben, das man Daseinskampf nennt und das jedem Menschen sein besonderes Gepräge aufdrückt. –

Ich kann dieses Studium nicht beenden, für das ich nicht das geringste Interesse hege. Mit tausend Armen zieht es mich zu der Menschheit Höhen hinauf, wo nur die Könige – und die freien Künstler wandeln.“

Das Gesicht des alten Loßner sah wie versteinert aus. Und im Hintergrunde lächelte sein jüngster Sohn schadenfroh.

„Du bist bereits durch und durch vergiftet von den Anschauungen deines Freundeskreises,“ sagte der Professor kalt. „Ich weiß kein Mittel, einen erwachsenen Menschen wieder auf den Pfad bürgerlicher Ehrbarkeit zurückzuführen. Baue dir meinetwegen deine eigene Zukunft aus! Nur auf Geld rechne dann nicht weiter von mir.“

Erwin, der gern im guten mit seinem Vater sich auseinandergesetzt hätte, streckte ihm jetzt in einer letzten Aufwallung kindlicher Liebe und Dankbarkeit herzlich die Hand hin.

„Ich danke dir, daß du mich eine Laufbahn einschlagen läßt, die allein meiner ganzen Denkungsart und meinen Fähigkeiten entspricht. Ich werde …“

Doch der alte Loßner hob wie von Ekel geschüttelt beide Hände abwehrend hoch.

„Was du tun wirst, ist mir jetzt völlig gleichgültig,“ erklärte er schneidend. „Wir sind fertig miteinander. Bedanke dich bei deiner Mutter, die dir diesen Hang zu einem durch keinerlei ernste Arbeit ausgefüllten Leben als Erbteil hinterlassen hat.“

Dieser letzte Satz wirkte auf den jungen Studenten wie ein Peitschenschlag. Wieder glomm in seinen Augen das eigene Flimmern auf, und der Blick, den er jetzt in das Gesicht seines Vaters bohrte, ließ diesen sich fast scheu zusammenducken.

„Schmähe nicht eine Tote, die mir heilig ist!“ stieß er heiser hervor, – „eine Tote, für deren Gedankenwelt du allerdings nie Verständnis haben konntest! – Entfremdet sind wir uns schon lange! Aber diese deine Äußerung über meine Mutter zeigte mir erst so recht, welcher Abgrund uns trennt.“

Dann zwang er sich gewaltsam zur Ruhe.

„Ich werde noch heute dieses Haus verlassen. Aber eine Bitte habe ich noch, hinter der ein gesetzliches Recht steht. Zahle mir das Erbteil meiner Mutter aus. Ich brauche das Geld notwendig zur Begründung meiner neuen Existenz, sonst würde ich dieses Ansinnen nicht an dich stellen.“

Dunkle Röte schoß dem alten Loßner in das harte Gesicht. Seine Augen irrten unstät über das Zimmer mit seiner mehr als bescheidenen Einrichtung hin. Der Geiz, dieser krankhafte Geiz, der ihm schon von Jugend an im Blute lag, streckte seine Krallen aus und preßte das Herz des verknöcherten Schulmannes geradezu schmerzhaft zusammen. Und etwas unsicher erwiderte er dann, den Mund zu einem überlegenen Lächeln verziehend

„Erbteil … Erbteil?! Und die Kosten deines Studiums …?! Längst ist alles dahin, diese paar tausend Mark. Es war einmal mehr, aber deine Mutter mußte ja spekulieren, unsichere Papiere kaufen … Bedanke dich bei deiner Mutter, daß du jetzt mittellos dastehst.“

Erwin wollte etwas erwidern. Das konnte ja nicht stimmen, was sein Vater da behauptete. Noch nie war zwischen ihnen von dem hinterlassenen Vermögen gesprochen worden. Aber er wußte, daß seine Mutter kurz vor ihrem vor zehn Jahren erfolgten Tode eine entfernte Verwandte mit einigen neunzigtausend Mark beerbt hatte und ohne Testament gestorben war. Mithin hätten ihm gesetzlich über fünfunddreißig-tausend Mark zugestanden. –

Doch in dieser Stunde diese Geldangelegenheit weiter zu erörtern widerstrebte ihm.

Längst hatte er die seinem Vater entgegengestreckte Hand sinken lassen, da sie offenbar absichtlich übersehen wurde.

„Lebt wohl,“ sagte er zögernd, indem der seinen beiden nächsten Blutsverwandten nach einander eine steife Verbeugung machte. „Du Max,“ fügte er hinzu, „wirst vielleicht einmal noch bereuen, daß du heimlich gegen mich gehetzt hast, anstatt vermittelnd und ausgleichend einzugreifen.“

Der jüngere Loßner blickte scheu wie ein geschlagener Hund zu Boden, ohne etwas zu erwidern. Nur mit einem geringschätzigen Lächeln versuchte er es, woraus aber nur ein abstoßendes Grinsen wurde.

Dann fiel die Tür hinter Erwin Loßner zu. –

In dem kleinen Fremdenzimmer packte er dann eilig seinen Koffer, während tiefe Traurigkeit über den Verlust des Elternhauses und ein freudiges Gefühl endlicher Befreiung in seiner Seele miteinander stritten. Auch der Abschied von der alten Köchin wurde ihm schwer.

Darauf verließ Erwin die langgestreckte Mietskaserne, die ein Bauunternehmer hier in dem ländlichen Vorort klugerweise vor einigen Jahren errichtet hatte. Hastig schritt der junge Student dem weit draußen liegenden Friedhofe zu, um dem Grabe der Mutter noch einen Besuch abzustatten. Nachdem auch dieser schwere Gang erledigt war, begab er sich zur Post und legte am Briefschalter eine Anweisung nieder, damit alle Posteingänge für ihn nach Danzig unter der Adresse des Justizrates Faber nachgeschickt würden.

Um zwei Uhr nachmittags fuhr er nach einem bescheidenen Imbiß auf dem Bahnhof mit dem Bummelzuge nach Danzig, wo er gegen halb sechs anlangte. Hier gab er seinen Koffer in der Gepäckaufbewahrungsstelle ab und machte sich dann sofort auf den Weg nach dem Bureau seines Verbindungsbruders Faber, mit dem ihn trotz des großen Altersunterschiedes eine herzliche Freundschaft verband.

 

2. Kapitel.

Erwin Loßner war von dem Justizrat, einem Manne mit glattrasiertem, sehr ausdrucksvollem Gesicht, auf das freudigste begrüßt worden. Faber hatte für den jungen Studenten, der in seiner ganzen Art so etwas gewinnend Offenes und Liebenswürdiges besaß, von Anfang ihrer Bekanntschaft an sehr viel übriggehabt. Doch als Erwin ihm nun berichtete, daß er sich auf eigene Füße zu stellen gedenke, und auch den Inhalt der Aussprache mit seinem Vater genau erwähnte, da schüttelte der Rechtsanwalt bedenklich den Kopf.

„Ich fürchte, lieber Loßner, dieser Weg zu den Höhen der Menschheit, zu freiem Künstlertum, wird ein Dornenweg werden,“ meinte er ehrlich.

Als praktischer Mann fragte er dann sofort, ob sein junger Freund auch genügend Geldmittel besäße, um eine Weile auch ohne Verdienst durchhalten zu können.

Erwin mußte leider verneinen.

„Meine ganze Barschaft beträgt vierzig Mark. Ich hoffe aber bestimmt darauf, daß das Universum meine Novelle annimmt. Gegen fünfhundert Mark Honorar sind mir dann sicher. Schon in den nächsten Tagen muß ich Bescheid erhalten.“

„Hoffentlich einen günstigen,“ fügte Faber hinzu. Dann entnahm er seiner Brieftasche drei Hundertmarkscheine.

Bevor er aber noch mit seinem gutgemeinten Anerbieten herausrücken konnte, sagte Erwin Loßner schon bittend:

„Zerstöre nicht unseren bisher so ungezwungen herzlichen Verkehr, lieber Faber, indem du mir ein Darlehen geben willst. Ich nehme es unter keinen Umständen an. Du wirst mir das nicht verargen, so wie ich dich kenne. Ich will mich allein durchringen zu besseren Tagen – ohne fremde Hilfe.“

Schweigend steckte der Anwalt das Geld wieder fort. –

Nach einer Weile fragte er dann, als ob ihm eben ein glücklicher Gedanke gekommen sei:

„Wo gedenkst du deinen Wohnsitz aufzuschlagen? Hast du schon einen Entschluß gefaßt?“

„Nein. Jedenfalls aber muß es hier irgendwo in meiner westpreußischen Heimat sein und zwar an der See. Ich liebe das Meer über alles. Es gibt mir Stimmung und Anregung.“

„Dann paßt es ja tadellose,“ rief Faber erfreut. „Bleibe hier in Danzig. Die See hast du in der Nähe, außerdem die weiten Wälder um Olivia herum. Vorhin kam mir eine Idee, wie ich endlich eine meiner bisher stets leer gebliebenen Wohnungen in einem meiner Häuser am Hansaplatz loswerden könnte. Es handelt sich um zwei Ateliers, die ich in die Bodenräume einbauen ließ in der Hoffnung, daß sich unter den Studenten der technischen Hochschule künstlerisch veranlagte Leute finden würden, die ein billiges Atelier brauchen können. Diese Spekulation war falsch. Die Ateliers – zu jedem gehört noch ein kleiner Wohnraum und eine winzige Küche, wurden nie begehrt. Ich biete dir also eines von ihnen als Wohnung gegen einen monatlichen Mietspreis von zwanzig Mark an.“

„Und woher soll ich die Möbel nehmen?!“ warf Erwin Loßner zögernd ein.

„Oh – dafür laß nur mich sorgen. Bei uns auf dem Boden steht so allerlei herum, was wir entbehren können. Ich wette, daß sich daraus eine Einrichtung, und dabei eine ganz nette, unschwer zusammenstellen lassen wird.“

Hocherfreut schüttelte der Student dem gütigen Justizrat jetzt die Hand.

„Gut – ich nehme dieses Anerbieten an. Nur – auch die Möbel bezahle ich dir! – Ich bin dir ohnehin zu großem Dank schon verpflichtet.“

„Pedant!“ lächelte Faber. Und doch gefiel ihm dieser Zug an seinem jungen Freunde. In dem steckte ein vorzüglicher Kern. Das hatte er längst gemerkt. – –

Nachher nahm der Justizrat seinen Verbindungsbruder mit in sein Heim, wo dieser ebenso herzlich von Frau Faber und dem einzigen Kinde des Ehepaares, einem frischen, achtzehnjährigen jungen Mädchen, willkommen geheißen wurde. Beide kannten Erwin von einigen Besuchen her, die er gelegentlich dem gastfreien Hause des sehr begüterten Anwalts abgestattet hatte.

Beim Abendessen wurden dann in zwangloser Weise Loßners neue Lebenspläne besprochen, wobei die Justizrätin, die als Tochter eines Großkaufmannes sehr praktisch und nüchtern dachte, ehrlich erklärte, sie hätte es für richtiger gehalten, wenn Erwin sein halb vollendetes Studium zu Ende geführt und dann nebenbei versucht haben würde, sich literarische Lorbeeren zu erwerben.

Der Rechtsanwalt selbst äußerte sich jetzt nicht mehr hierzu, wenn er auch in seinem Innern seiner Frau vollständig recht gab. Dagegen lobte Irma Faber begeistert diesen Entschluß Loßners, sogar mit Redewendungen, die ihre Mutter veranlaßten, dem einzigen Kinde einen verweisenden Blick zuzuwerfen, da Irma dabei zu deutlich zeigte, ein wie tiefgehendes Interesse sie der sympathischen Erscheinung des bisherigen Studenten entgegenbrachte.

Dann kam der Justizrat auch auf die Wohnungs- und Möbelfrage zu sprechen. Frau Faber, bei der die Jahre leider eine allzu große körperliche Fülle erzeugt hatten, deren Gesicht aber noch immer frisch und rosig war, erklärte sich sofort bereit, gleich morgen früh die nötigen Einrichtungsgegenstände von den Bodenräumen in das eine Atelier schaffen zu lassen.

Erwin mußte dann, so sehr er sich auch sträubte, die Nacht in dem Faberschen Fremdenzimmer zubringen. Gerade angenehm war ihm diese übergroße Liebenswürdigkeit der Familie des Justizrates nicht. Er wollte sich keinerlei Verpflichtungen aufladen, wollte völlig frei in jeder Beziehung sein. Aber eine Ablehnung war nicht gut möglich. Desto fester nahm er sich vor, jede Kleinigkeit zu bezahlen, die Fabers ihm zur Instandsetzung seiner neuen Wohnung aus ihren überflüssigen Sachen heraussuchen würden.

* * *

Am nächsten Abend war er in dem geräumigen Atelier bereits völlig eingerichtet. Er hatte sich von den beiden freistehenden Künstlerheimen das links neben der Bodentreppe liegende ausgewählt, da die Aussicht aus dem breiten, schrägen Glasfenster hier eine bessere war.

Als nachmittags gegen vier Uhr der Möbelwagen angelangt war, der die von Fabers gespendeten Sachen brachte, hatte sich Loßners doch eine leise Beklemmung bemächtigt. –

Wie sollte er wohl all diese Dinge bezahlen, die bei dem Justizrat schon in die Rumpelkammer verbannt worden waren, und die doch noch sämtlich sich so gut erhalten und zum Teil sogar wertvoll zeigten.

Als die Arbeiter gegen sechs Uhr die letzten Stücke die fünf Treppen schweißtriefend emporgeschleppt hatten, gab er ihnen ein reichliches Trinkgeld und ging dann sofort daran, sein Heim gemütlich herzurichten. Hierzu besaß er viel Geschick und Geschmack. Nägel und einen Hammer hatte er schon vorher eingekauft, und er hantierte nun in Hemdsärmeln und ohne Kragen und Krawatte, vergnügt allerlei Melodien pfeifend, herum, hing die Bilder an die Wände, befestigte die Portieren und stellte die Nippessachen auf.

Wie er dann gerade auf einem Stuhl stand und hochausgereckt einen Stahlstich, der Friedrich den Großen darstellte, über der in das kleine Schlafzimmer führenden Tür festnagelte, öffnete sich hinter ihm die andere Tür, die auf den Treppenflur mündete, und eine junge Dame trat unbefangen ein, hinter der noch ein grobgeschnittenes, älteres Frauengesicht erschien.

Erwin Loßner schaute überrascht auf die Besucherin, die jetzt mitten in das Atelier hineinkam, sich musternd umblickte und dann mit einer seltsam verschleiert klingenden Stimme fragte:

„Sie sind wohl der Dekorateur? – Wer zieht hier eigentlich ein?“

Die junge Dame hatte bisher nur die eine Hälfte von Loßners Gesicht gesehen. Erst als dieser sich jetzt noch mehr herumdrehte, bemerkte sie auf seiner linken Wange die beiden roten Durchzieher, diese bleibende Andenken an die Mensuren seiner Studentenzeit.

Helle Röte flutete ihr da in das feine, von einem leicht gewellten, blonden Scheitel umrahmte Gesicht. Doch ehe sie noch eine Entschuldigung für ihr formloses Eindringen vorbringen konnte, war Loßner schon von dem Stuhl herabgesprungen und hatte mit höflicher Verbeugung erwidert:

„Ich selbst bin hier eingezogen, meine Gnädige, und ich spiele auch höchsteigenhändig für mich den Dekorateur. – Sie gestatten, Erwin Loßner, Schriftsteller.“

Das junge Mädchen, das kaum viel über achtzehn Jahre zählen konnte, hatte inzwischen seine gesellschaftliche Sicherheit wiedergefunden.

„Entschuldigen Sie bitte, mein Herr, daß ich ohne anzuklopfen eingetreten bin,“ sagte sie, für Loßners Vorstellung mit einem leichten Kopfneigen dankend. „Bisher waren die beiden Ateliers unbewohnt und wurden daher von den Einwohnern des Hauses zuweilen zum Wäschetrocknen benutzt.“

Dabei deutete sie auf die einfach angezogene Frau, die mit einem großen Korb voll frischgewaschenen Leinens noch immer in der Tür stand.

Erwin Loßner hatte inzwischen Zeit gefunden, auch die Gestalt der blonden Madonna, wie er die junge Dame sofort im stillen getauft hatte, eingehender zu mustern. Sie war etwas über Mittelgröße, und die fest anliegende Wirtschaftsschürze ließ ihre Schlankheit und dabei doch ausgeglichene Fülle sehr vorteilhaft hervortreten. Das Gesicht konnte man keineswegs als schön bezeichnen. Dazu war nicht genug Ebenmaß in diesen feinen Zügen vorhanden, das dunkle Augenpaar fast zu groß und die Färbung der Wangen zu durchsichtig blaß. Trotzdem besaß dieses Antlitz etwas eigenartig Anziehendes, vielleicht dadurch, daß um den roten Mund ein herber Zug von schmerzlichem Entsagen und heimlicher Sorgen lagerte.

Loßner hätte mit der jungen Dame zu gerne noch ein paar Worte gewechselt. Aber mit einem kühlen „Also bitte – entschuldigen Sie!“ verließ sie jetzt das Atelier und zog hinter sich die Tür ins Schloß. –

Abends, kurz nach sieben Uhr, fand sich dann wie versprochen der Justizrat bei Loßner ein. Er war freudig überrascht, als er sah, wie behaglich der angehende Schriftsteller sich seine beiden Räume ausgestattet hatte.

„Loßner – ohne Frage hast du recht viel Geschmack!“ meinte er, seinem jungen Freunde derb die Hand schüttelnd. „Nie hätte ich geglaubt, daß aus unseren alten Sachen sich ein so gemütliches Heim noch herrichten läßt. Und die Hauptsache, du hast es verstanden, deiner Wohnung gleich eine persönliche Note zu geben. Die flott geraffte Dekoration aus dem türkischen Schal mit dem Damenbildnis in der Mitte hätte kein Berufsdekorateur so gefällig anordnen können.“

Neugierigen betrachtete Faber die von einem dunklen Eichenrahmen umgebene künstlerische Photographie.

„Ein Gesicht, aus dem man viel herauslesen kann,“ sagte er nachdenklich.

„Es ist meine verstorbene Mutter,“ erklärte Erwin leise.

Nochmals betrachtete der Justizrat das Bild. Dann meinte er kopfschüttelnd:

„Ich habe deinen Vater ja auch kennen gelernt, – vor einem halben Jahre war’s. – Nein, die beiden Menschen paßten nicht zu einander, da gebe ich dir recht. Gestern erwähntest du ja so einiges über die Ehe diener Eltern. –

Doch – lassen wir diese Erinnerungen. – Ich habe eine freudige Überraschung für dich. Hier diesen Brief des Universums brachte der Postbote nachmittags, und gleich darauf kam auch der Geldbriefträger, der dir fünfhundertundachtzig Mark aushändigen wollte.“

Erwin hatte inzwischen den Brief geöffnet.

„Hier steht’s tatsächlich …: „gleichzeitig weisen wir Ihnen den Betrag von fünfhundertundachtzig Mark an und bitten um gelegentliche Empfangsbescheinigung. Die Redaktion.“ –

Na, – also doch gesiegt! Besser kann ich mein neues Dasein ja kaum beginnen.“

Er strahlte förmlich.

„Nun brauche ich meinen selbstgewählten Beruf wenigstens nicht ganz mittellos zu beginnen!“ fuhr er fort. „Ich bitte dich also auch, lieber Faber, mir freundlichst bei Gelegenheit den Preis der Möbel und der anderen Sachen nennen zu wollen. Wenn ich alles auf einmal auch nicht werde begleichen können, so will ich diese Schuld doch in monatlichen Raten erledigen.“

Der Justizrat hätte gern widersprochen und die ganze Einrichtung diesem prächtigen Menschen zum Geschenk gemacht. Er kannte ihn aber schon genügend, um zu wissen, daß Loßner liebenswürdig dankend ablehnen würde. –

Bald darauf verabschiedete er sich. Erwin begleitete ihn noch bis zum Hauptbahnhof, dem gegenüber das stattliche Gebäude lag, in den der Justizrat wohnte. Für den jungen Schriftsteller gab es ja vor Geschäftsschluß noch allerlei zu besorgen, was in seiner Wirtschaft noch fehlte, Bettwäsche, Handtücher und manches andere.

Mit der Frau des Hauswarts, der unten im Erdgeschoß neben der Portierloge wohnte, hatte er schon gesprochen. Sie wollte ihm sein Heim gegen eine monatliche Vergütung von zehn Mark in Ordnung halten. Der Justizrat hatte ihm diese Frau Pollneck warm empfohlen. Halb neun erschien sie bei ihm, brachte die bestellte Kanne Petroleum mit und bezog das Bett. Auch sie schlug die Hände überm Kopf zusammen, als sie sah, was aus dem Atelier in so kurzer Zeit geworden war.

„Nee – ist’s die Möglichkeit! Das sieht hier ja direkt fein aus, Herr Loßner!“ erklärte sie begeistert.

Erwin, der behaglich eine Verdauungszigarre rauchend in einem der Plüschsessel saß, lächelte Frau Pollneck freundlich zu. Für ihre Anerkennung hatte er nicht viel Gedanken. Ihn beschäftigte etwas anderes viel zu sehr. Die schlanke Madonna war’s. Zu gerne hätte er gewußt, wie sie hieß, in welchem Stockwerk sie wohnte und anderes mehr.

So begann er sie denn vorsichtig anzuzapfen. Und es kostete keine besondere Mühe, alles zu erfahren, was er nur wollte. –

Die blonde Madonna war die jüngere Tochter des früheren Gutsbesitzers v. Marow, der sich stets als frühere Reserveoffizier eines Gardekavallerie-Regiments „Herr Rittmeister“ nennen ließ. Marows bewohnten die Sechszimmergelegenheit in der dritten Etage. Die Töchter führten mit Hilfe einer älteren Köchin die Wirtschaft, da Frau v. Marow, eine geborene Gräfin v. Sarfeld, vor vier Jahren gestorben war.

Diese Auskunft hätte Loßner schon genügt. Aber die Portierfrau, erst einmal im Zuge, kramte noch mehr aus.

„Das Fräulein Hilde, die Jüngere, Blonde, ist ja nun sehr nett,“ berichtete sie, halb in der Tür nach dem Schlafzimmer stehend und ein Kopfkissen in einen Bezug zwängend. „Die hat allemal auch für unsereinen ein freundliches Wort. Aber die Ältere, Agathe, die nickt kaum, wenn man Guten Morgen sagt. Hilde soll ihrer Mutter rein aus dem Gesicht geschnitten sein, – und aus dem Charakter auch, wie Auguste, die Köchin von Marows, behauptet. Und die muß es ja wissen, wo sie doch schon fünfzehn Jahre bei der Familie ist. Ja – und der Herr Rittmeister, – na, da könnte man Bände erzählen. Der spielt noch immer den Dreißigjährigen, färbt sich den Schnurrbart und rennt jeder Schürze nach. In der ganzen Stadt ist er deswegen berüchtigt. Beinahe schreien die Jungens auf der Straße hinter ihm her. Weiber und Karten haben manches schon ruiniert, Herr Loßner! Mehr sag’ ich nicht! Mit der letzten Monatsmiete sind die Marows auch noch im Rückstand. Aber – das bleibt unter uns, nicht wahr? –

Mir tut nur immer Fräulein Hilde leid. Die ist so fleißig, schneidert sich fast alles selbst und auch noch so manches für die Ältere. –

Wo wollen Sie eigentlich mit dem Kopf hin liegen, Herr Loßner? Nach dem Fenster zu?“

„Natürlich, Frau Pollneck. Sonst scheint einem ja die Morgensonne direkt ins Gesicht.“

„Was auch nicht schadet! Im Sommer ist das der billigste Wecker,“ meinte die Portierfrau, klopfte die Kissen noch schön locker und verschwand dann mit einem: „Nun muß ich aber machen, das ich meinem Alten was zu Abend gebe.“ – –

Erwin Loßner trat an das schräge Atelierfenster, dessen große, eisengefaßte Lüftungsklappe offenstand, und lehnte sich mit dem Oberkörper hinaus. Unter ihm lagen die blumengeschmückten Beete und kiesbestreuten Wege des Hansaplatzes. Hob er den Blick, so sah er nicht allzu fern die rauchenden Schornsteine und die breiten Docks der Kaiserlichen Werft sich gegen den in rötliche Färbung getauchten Abendhimmel deutlich abheben. Sogar ein Stückchen der Mottlau, die für Danzig den Innenhafen darstellt, blinkte zwischen den Häusermassen nach Osten zu auf.

Über dem Ganzen lag Stimmung. Das fühlte Erwin Loßners Dichtergemüt sofort. Und diese feinen Schwingungen seiner Seele verdichteten sich bei ihm sehr bald zu einer heißen Schaffensfreude.

Ja – diese Stunde war es wert, in ihr auch den Schreibtisch einzuweihen, der bisher wohl nur des Justizrats ernster Berufsarbeit gedient hatte. Eine Idee zu einer neuen Novelle trug der junge Schriftsteller ja schon seit Wochen mit sich herum. Daher zündete er nun schnell die Petroleumlampe an, suchte sich Papier heraus, stellte die Zigarrenkiste in Reichweite und setzte sich.

Die Außenwelt war jetzt tot für Erwin Loßner. Die Gestalten seiner Phantasie umgaben ihn, und er verlieh ihnen Leben, – Sprache, Bewegung, Charakter, ganz wie er es wollte. Ein König war er, ein Selbstherrscher, der in einem Geisterreich ganz nach seinem Gefallen regierte. –

Am nächsten Vormittag gegen zehn stellte sich der Geldbriefträger pünktlich ein. Und wieder eine Stunde später erschien ganz überraschend die Justizrätin mit ihrer Tochter, um „das Wunderheim“ in Augenschein zu nehmen, von dem ihr Gatte den ganzen gestrigen Abend mit so begeisterten Ausdrücken gesprochen hatte.

Irma Faber, die von ihrem Vater das widerspenstige, dunkle Haar und von der Mutter den frischen Teint zu einem in seiner Gesamtheit etwas sinnlich wirkenden Gesicht geerbt hatte, verhielt sich heute sehr schweigsam und verschlang Erwin Loßner dafür desto eifriger mit den Augen, – diesen Augen, in deren Tiefe ein heimliches Feuer zu glimmen schien, das einem leidenschaftlichen, vielleicht durch eine nicht streng genug durchgeführte Erziehung allzu sehr den Augenblickseingebungen folgenden Herzen entsprang.

Nach einer halben Stunde verabschiedeten sich die Damen wieder. Loßner bedankte sich nochmals für all die ihm bewiesene Güte bei der Justizrätin, die darauf mit dem liebenswürdigsten Lächeln erwiderte:

„Erwähnen Sie doch derartige Selbstverständlichkeiten nicht so oft, Herr Loßner. Gewiß – lieber wäre es mir ja gewesen, diese Möbel hätten zur Ausstattung der Wohnung eines jungen Arztes gedient. Doch – hoffen wir, daß es Ihnen als Schriftsteller ebenso gut geht, wie es Ihnen als Arzt bei Ihren ganzen Anlagen sicher gegangen wäre.“

Dann schritt sie durch die Tür auf den Flur hinaus, während ihre Tochter dem jungen Schriftsteller nochmals die Hand reichte und ihm dabei einen Blick spendete, der vielleicht etwas zu viel verriet. –

Als Loßner wieder allein war, warf er sich in den einen Sessel und starrte verdrießlich vor sich hin.

Was diese brave Frau Faber in ihrer soliden Spießbürgerlichkeit nur immer an seinem neuen Beruf herumzumäkeln hatte. Die konnte einem wahrhaftig mit ihren Redensarten die Stimmung gründlich verderben. Und ihre Tochter …?

Jetzt lächelte Erwin vor sich hin. – Fräulein Irma besaß nicht sehr viel Geschick, ihre Absichten zu verbergen. Offenbar wollte sie mit ihm so eine kleine, harmlose Liebelei „zum Zeitvertreib“ anfangen. Schon vorgestern Abend hatte sie ja für ihn in einer Weise Partei ergriffen, die recht eindeutig war. Nun heute wieder dieser Händedruck und dieser Blick …!! –

Eigentlich hätte er sich ja darauf etwas einbilden können. Und – die Million, die der Justizrat besaß, war auch nicht zu verachten.

Loßner lächelte nicht mehr. Seine Gedanken gingen plötzlich ernstere Wege. Er dachte an eine Zukunft, in der Irma Faber die Hauptrolle spielte – Irma und … das Geld, diese größte Macht der Erde. Wie verführerisch diese Zukunft war …! Ein Erfüllen aller Wünsche, die seine schönheitsdurstige Seele hegte, – ein vornehmes Heim, anregenden gesellschaftlichen Verkehr, weite Reisen und … nebenbei die Arbeit, seine geliebte Arbeit, wobei er sich dann nur an wahrhaft Großes heranzuwagen brauchte, ohne Rücksicht auf sein jetziges Motto: Verdiene genug – und schnell!

Plötzlich sprang er auf und sagte laut vor sich hin:

„Pfui Deubel!“

Das Zauberwort, mit dem er seine eigenen Gedanken verurteilte, vertrieb all diese lockenden Bilder mit einem Schlage.

Schnell setzte er sich an den Schreibtisch und ergriff wieder die Feder, nachdem er noch einmal die letzten Worte durchgelesen hatte, die er seinen Helden in der neuen Novelle sprechen ließ:

„… Sehen Sie, gnädige Frau, – ein Künstler, der es zu Großem bringen will, muß frei sein, ganz frei und unabhängig – selbst vom Weibe, von der Liebe. Das Zusammenraffen aller Kräfte allein bringt ein Werk hervor, von dem der Künstler sagen kann: „Ich gab mein Bestes dazu!“ – Die Frau im Leben des Malers, Dichters oder Bildhauers ist nur ein schädlicher Magnet, der einen Teil der Schaffenskraft an sich zieht.“

 

3. Kapitel.

Vierzehn Tage waren vergangen.

Inzwischen hatte Erwin Loßner manches erlebt – trübes und freudiges. Auf einen an seinen Vater gerichteten Brief, in dem er ganz ausführlich sein neues Heim und die Art, wie er dazu gekommen, geschildert hatte, war keinerlei Antwort eingetroffen, obwohl er zum Schluß in dem Schreiben um Verzeihung bat, falls er den Professor irgendwie gekränkt haben sollte.

Nachdem er zehn Tage auf eine Antwort gewartet hatte, mußte er einsehen, daß sein Vater alle Beziehungen zu ihm abgebrochen haben wollte. Nun machte auch er unter das Kapitel „Familie“ einen dicken Strich. Aufdrängen tat er sich niemandem. –

Unter seinen bei Antritt der Studentenferien in Berlin zurückgebliebenen Sachen, die er sich jetzt nach Danzig hatte nachschicken lassen, befand sich auch eine dicke Mappe mit kleineren Arbeiten, – Skizzen, kurzen Novellen und Erzählungen, die seinen Ansprüchen an Inhalt und Form nicht genügt hatten und die daher nie einer Redaktion vorgelegt worden waren. All diese Werkchen seiner Feder sah er nun in Stunden, wo er nicht die wahre, begeisternde Schaffensfreude spürte, nochmals durch, schickte sie dann an ein Danziger Abschriftenbureau und erhielt sie in sauberer Maschinenschrift zu einem nicht allzu hohen Preise zurück. Nun erst sandte er sie in die Welt hinaus – hierhin und dorthin, um neue Verbindungen anzuknüpfen, wobei er sich nach den Ansprüchen der Zeitschriften und Zeitungen, die leicht aus deren Inhalt hervorgingen, richtete. Immerhin wurde es so ein Dutzend Manuskriptsendungen, die er unterwegs hatte, und daher legte er sich, um eine Kontrolle über das Schicksal seiner Arbeiten, über Ausgaben und Einnahmen zu haben, ein praktisch eingeteiltes Kontobuch an, das er gelegentlich auch dem Justizrat zeigte und das diesen zu der Bemerkung veranlaßte: „Ordnung regiert die Welt, lieber Loßner! Gut, daß du das rechtzeitig auch als Schriftsteller erkannt hast.“ –

Mit Fabers war er überhaupt häufiger zusammen. Sonntags machten sie gemeinsame Ausflüge in die Umgebung, und auch in der Woche begleitete er die beiden Damen zuweilen nach Zoppot, wo man auf der Terrasse des neuen Kurhauses Kaffee trank und den Klängen der Kurkapelle lauschte.

Irma Faber hatte bei jeder nur sich bietenden Gelegenheit deutlich gezeigt, wie sie über Erwin Loßner dachte. Sehr bald daher hatte sich zwischen beiden eine gewisse Vertraulichkeit herausgebildet, die bei dem jungen Schriftsteller jedoch nie den Charakter guter Kameradschaft verlor, während Irma es mehr darauf anlegte, Loßner wenigstens einmal aus seiner kühlen Ruhe herauszubringen, was ihr jedoch nie gelang. Die Justizrätin, die bald gemerkt hatte, daß der jugendliche Freund ihres Mannes ein viel zu ernst denkender Mensch war, um aus ihres verwöhnten Töchterleins so harmlosem – scheinbar so harmlosem! – Neckton falsche Schlüsse zu ziehen, ließ Irma ruhig gewähren.

Durch Fabers lernte der Schriftsteller verschiedene andere Familien kennen, die ihn aufforderten seinen Besuch bei ihnen zu machen, was er auch tat, um sich einen Verkehrskreis zu schaffen. Einmal traf er dann auch, als er gerade mit den beiden Damen des Justizrats auf dem Zoppoter Seesteg promenierte, den Rittmeister v. Marow mit seinen Töchtern.

Am 17. August reisten Fabers dann vier Wochen nach Borkum.

Eigentlich war Loßner hierüber ganz froh. In den letzten Tagen hatten die Damen ihn denn doch etwas reichlich mit Beschlag belegt, um einen Begleiter zu haben. Außerdem merkte er auch, daß Irmas Entgegenkommen ihm gegenüber immer häufiger jene Zukunftsbilder in ihm auftauchen ließ, die er stets wieder durch das warnende und anklagende „Pfui Deubel!“ zu bannen suchte. –

Zwei Tage nach der Abreise seiner Bekannten erhielt er am Morgen gleichzeitig drei Briefe von verschiedenen Redaktionen, – Glücksbriefe. Seine Arbeiten, drei Erzählungen, waren angenommen, und das Honorar mußte in kurzem eintreffen.

Mit einem Gefühl von Stolz und Freude trug er in sein Kontobuch in die Spalte „Einnahmen“ die Beträge ein, zusammen einhundertundachtzig Mark. – Wenn es ihm weiter so gut ging, würde er nie Not leiden! Im Gegenteil! –

Inzwischen war ja auch seine neue Novelle fertig geworden, die er für noch gelungener in der ganzen Durchführung der Charaktere hielt als die letzte, die ihm fünfhundertundachtzig Mark eingebracht hatte. Über-dies war sie länger, und wenn die „Woche“, der er sie eingeschickt hatte, sie erwarb, konnte er mit weiteren hübschen blauen Scheinen rechnen.

Nach Beendigung dieser Arbeit, die ihm geradezu aus der Feder geflossen war, hatte er sich nun auch an seinen ersten Roman herangewagt, der hauptsächlich in einem großen Krankenhause spielen und die schweren inneren Konflikte eines zwischen die Mühlsteine Pflicht und Liebe geratenen Arztes schildern sollte. Hierbei wollte er seine Erfahrungen als ehemaliger Student der Medizin verwerten, und so hoffte er das Milieu ganz wahrheitsgetreu wiedergeben zu können. –

Gleich nach dem Eintreffen der drei „Glücksbriefe“ erschien Frau Pollneck, um die morgentliche Reinigung seines Heimes vorzunehmen.

Loßner, dessen Kaffee gerade fertig geworden war, nahm sein erstes Frühstück ein, während die Portierfrau zunächst das Schlafzimmer aufräumte und dabei durch die offene Tür allerlei Neuigkeiten ihm mit ihrer kräftigen Stimme erzählte.

Nach einer Pause fragte sie jetzt, indem sie das Wasser aus der Waschschüssel plätschernd in einem Eimer goß:

„Wissen Sie auch, Herr Loßner, daß heute gegen zehn Uhr vormittags ein Zeppelin nach Danzig kommt und sogar auf dem kleinen Exerzierplatz landen wird? – Das müßten Sie sich doch ansehen! Wenn ich Zeit habe, klettere ich nachher auf das Dach. Heute morgen steht noch in der Zeitung, daß ein paar Flugzeuge der Marinefliegerstation Putzig dem Zeppelin entgegenfahren wollen.“

Loßner stellte die eben geleerte Kasse hin.

„Ich habe zwar in Berlin schon genug Zeppeline beobachten können – aber da ich’s von hier aus so schön nah nach dem Dache habe, kletterte ich vielleicht auch hinauf.“

Und er tat es wirklich.

Als Loßner, bewaffnet mit einem von seiner Mutter geerbten Opernglas, die Treppe zu der Dachluke hinaufkletterte, sah er auf den grob behobelten Holzstufen dicke Teertropfen wie schwarze Tränen liegen. – Wie schwarze Tränen …! Unwillkürlich kam ihm dieser Gedanke. Er vergaß ihn ebenso schnell. Erst später fiel er ihm wieder ein, – später, nachdem dieser Ausflug auf das Dach bereits so viele wirkliche Tränen gekostet hatte.

Der Schriftsteller hatte sich, um die Zeit auszunutzen, ein Buch und das Morgenblatt mitgenommen. Von letzterem breitete er nun den Annoncenteil über einen niedrigen Luftschacht und setzte sich vorsichtig darauf. Noch ein Blick nach Westen, woher der Zeppelin erwartet wurde. Dann begann er zu lesen.

Doch nicht lange. Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn schnell eine Wendung machen:

Seine blonde Madonna tauchte soeben über dem Rande der Dachluke auf!

Noch hatte sie ihn nicht bemerkt, da sie eifrig bemüht war, ihr Kleid vor einer Berührung mit dem schwarzen Anstrich der Luke zu schützen.

Da sprang Loßner ritterlich zu, um ihr behilflich zu sein. Sie schaute erst erschreckt auf. Dann aber reichte sie ihm ohne Ziererei die Hand und ließ sich mit einem kleinen Schwung auf das Dach heben.

„Ich danke Ihnen, Herr Loßner,“ sagte sie etwas außer Atem. Und wie entschuldigend fügte sie hinzu:

„Teerflecke lassen sich so schwer wieder fortbringen.“

Hilde v. Marow besaß eine sehr zwanglose, sichere Art. Ihrem ganzen Sichgeben merkte man die tadellose Erziehung und den Verkehr in den besten Gesellschaftskreisen an. Doch über ihrem Wesen lag es stets wie müde Traurigkeit. Selten nur huschte ein Lächeln über ihr blasses Gesichtchen, wenn Loßner eine scherzhafte Bemerkung machte.

Nach einer Weile entschuldigte er sich dann bei ihr, eilte in seine Wohnung hinab und kehrte mit einem Schemel zurück, den vielleicht einmal die Justizrätin mit Kerbschnitzereien geschmückt und ihrem Gatten zum Geschenk gemacht hatte.

Hilde errötete leicht, als er ihr den bequemen Sitz zurechtrückte und sie Platz zu nehmen bat.

„Ich bin es so gar nicht gewöhnt, daß man für mich sorgt,“ meinte sie bitter. „Desto wohltuender berührt mich diese Ihre Aufmerksamkeit,“ setzte sie schnell hinzu und streckte ihm die Hand hin.

Ihre Blicke trafen sich und ruhten einen Moment ineinander. Dem Schriftsteller schien es, als ob ein stummes, schwer zu enträtselndes Flehen ihm aus Hildes Augen entgegenstrahlte. Sie waren sich gegenseitig noch zu fremd. Sonst hätte er das getan, wozu ihn sein Herz mit aller Macht drängte, ihre Hände in die seinen genommen und gebeten: „Ich will Ihr Freund sein! Sprechen Sie sich Ihre bedrückte Seele einmal frei von dem geheimen Kummer, damit ich Ihnen raten und helfen kann!“

Aber wie durfte er das wagen! Es wäre eine grobe Taktlosigkeit gewesen, und er hätte sie dadurch vielleicht nur scheu und zurückhaltend gemacht. –

Wie auf einer Insel befanden sie sich hier auf dem großen, flachen Dach. Die zu ihnen heraufdringenden Geräusche des Straßenverkehrs klangen wirklich wie das Branden gegen eine flache Küste. Aber dieses Bewußtsein der Einsamkeit brachte die beiden nur schneller einander näher. Sie merkten bald, daß etwas Verwandtes in ihren Seelen wohnte, daß dieses und jenes Wort die feinen Saiten gleichmäßiger Stimmungen in Schwingungen versetzte.

Der Zeppelin wollte und wollte nicht kommen. Schon zweimal hatte Hilde ängstlich gesagt, daß sie jetzt fortmüsse. Vater und Schwester könnten zurückkehren, die sich auf dem Exerzierplatz das Landen des Luftschiffes mitansehen wollten. Aber trotzdem blieb sie immer wieder.

Dann begann er, durch eine Frage ihrerseits dazu angeregt, von seinem neuen Berufe zu sprechen. Unwillkürlich streifte er hierbei auch mit einigen Bemerkungen die Ehe seiner Eltern, erzählte von seiner Mutter, die als Kind eines für die Kunst begeisterten Hauses den damaligen Oberlehrer Loßner wohl nur geheiratet hatte, um versorgt zu sein, und die dann für diese Unklugheit an der Seite des kleinlichen Mannes so bitter büßen mußte.

Als er dann einen Augenblick schwieg, sagte Hilde v. Marow leise:

„Auch meine Mutter ist an dem Elend ihrer Ehe zugrunde gegangen. Und doch war der Grund der gegenseitigen Entfremdung zwischen meinen Eltern ein viel traurigerer.“

Als sie das so vor sich hin sprach, gruben sich um ihren Mund zwei harte Linien.

„Es ist ein Unglück für ein heranwachsendes junges Mädchen, wenn ihm schon so frühzeitig der Glaube an Liebe und Treue genommen wird,“ fuhr sie wie im Selbstgespräch fort. „Nur zu leicht kommt man da zu der Überzeugung, daß Liebe allein nicht satt macht und daß die Weltklugheit jedem Weibe gebietet, nicht mit dem Herzen, sondern mit dem kühlen Verstande ihre Wahl zu treffen, um später als Entschädigung wenigstens ein glänzendes Leben führen zu können.“

Loßner hatte sich sofort an das erinnert, was die Portierfrau ihm von den Neigungen des Rittmeisters erzählt hatte. Nur Qualen wohlbegründeter Eifersucht konnten es gewesen sein, die das Dasein der geborenen Gräfin von Sarfeld vergiftet hatten. Darauf wies ja auch Hildes Andeutung hin. –

Soweit hatte er sie richtig verstanden. Aber ihre letzten Sätze begriff er nicht völlig. Sollte es denn wirklich wahr sein, daß seine blonde Madonna derartige Ansichten als ihre eigene Überzeugung aussprach, daß auch sie der Stimme der abwägenden Klugheit eher folgen wollte, als der gebieterischen eines tiefen, beseligenden Gefühls..?! –

Nein, – sie hatte in ihrer traurigen Verbitterung das alles wohl nur so hingeredet. Und daher sagte er auch jetzt:

„Gnädiges Fräulein, daran glauben Sie ja selbst nicht, daß ein Leben in Luxus und Pracht den Hunger nach jener Liebe betäuben kann, die zwei Menschen zu einem Ganzen zusammenschweißt, die ihnen Vater und Mutter ersetzt und zugleich Freundschaft, Kameradschaft und seliges Genießen ist.“

Eine Antwort blieb sie ihm schuldig. Aus der Ferne war plötzlich das Surren der Propeller des Luftschiffes vernehmbar geworden. Nun belebten sich auch die Nachbardächer mit tücherschwenkenden Menschen.

Majestätisch zog das Luftschiff über die Stadt dahin. Die beiden Flugzeuge, die ihm entgegengefahren waren, hatte es weit hinter sich gelassen.

Dann war auch dieses Schauspiel vorüber, und Hilde verabschiedete sich. Ohne daß er es eigentlich wollte, drängte sich da abermals über Loßners Lippen eine Bemerkung, die sie kaum mißverstehen konnte.

„Ich wünschte, morgen käme wieder ein Zeppelin nach Danzig,“ sagte er, als er ihre Hand in der seinen hielt.

Sie erwiderte nichts, sondern eilte flüchtig die Treppe hinunter. Auf die Teerflecke gab sie kaum acht. Es war, als ob sie ihm möglichst eilig entrinnen wollte.

 

4. Kapitel.

Vier Tage regnete es und stürmte dann darauf. Der Herbst schien seinen Einzug rechtzeitig ankündigen zu wollen.

Er hatte Hilde seit jenem Zeppelintage, – seit dem Ausflug nach der schwarzen Insel, wie er es nannte, nicht wieder gesehen. Heute am fünften Tage klärte sich der Himmel endlich auf, die Sonne brach durch die jagenden Wolkenfetzen und der Sturm legte sich. Abends – am Nachmittag hatte er zu seiner Erholung einen längeren Spaziergang unternommen – erwähnte Frau Pollneck dann so nebenbei, daß Fräulein Hilde morgen früh wieder einmal nach dem kleinen Seebade Brösen hinausfahren wolle zum Baden. Die Auguste hätte ihr das erzählt.

Ob die Portierfrau ihm absichtlich dies berichtete, konnte Loßner nicht herausbekommen. Schließlich war es ihm auch gleichgültig. Die Hauptsache, er wußte jetzt, wo er ein Zusammentreffen mit Hilde herbeiführen könne! –

Gegen zehn Uhr vormittags traf er sie, als sie gerade aus der Badeanstalt kam und sich irgendwo in den Sand hinlegen wollte, um ihr mitgebrachtes Frühstück zu verzehren.

Bei seinem Anblick schrak sie leicht zusammen und wurde wie mit Blut übergossen. Er tat, als sei diese Begegnung eine rein zufällige, bat höflich, ihr Gesellschaft leisten zu dürfen und nahm ohne weiteres ihre Tasche mit dem noch nassen Badeanzug an sich.

So verlebten sie zwei selten harmonische Stunden am Strand der Danziger Bucht. Ihr Frühstück hatte sie brüderlich mit ihm geteilt, und dafür mußte sie eine seiner Zigaretten rauchen. Man merkte, sie hatte Übung darin. Auf seine Frage, ob eine gute Zigarette nicht wirklich einen Genuß bedeute, schüttelte sie jedoch den Kopf.

Er begleitete sie dann noch bis zu dem kleinen Bahnhof. Beim Abschied war er dieses Mal schon kühner.

„Noch nie hat mir das Frühstück so gut geschmeckt wie heute,“ meinte er mit listigem Lächeln. „Es wäre also schon ein Gebot der Menschlichkeit, gnädiges Fräulein, es recht bald wieder mit mir hier am Strand zu teilen, nicht wahr?“

Der Zug lief gerade in den Bahnhof ein.

Ohne auf den scherzenden Ton einzugehen, erwiderte sie schnell:

„Mein Vater und meine Schwester wissen bisher nichts von unserer Bekanntschaft und dürfen es auch nicht wissen, Herr Loßner. Treffen wir uns zufällig, so bleibt mein Gewissen rein. Aber Heimlichkeiten – nein, – bitte muten Sie mir das nicht zu.“

Noch ein Händedruck, und sie eilte mit einem „Auf Wiedersehen!“ auf den Bahnsteig.

… Auf Wiedersehen! – Das sollte ihm zeigen, wie dankbar auch sie dem Zufall sein würde, der sie gelegentlich wieder zusammenführte. – –

Erwin Loßner aß dann im Brösener Kurhause zu Mittag und suchte nachher wieder dieselbe Stelle in den Dünen auf, wo er mit Hilde zusammen diese köstlichen Stunden verlebt hatte. Er wollte sich heute mal etwas gönnen, sich gehörig ausfaulenzen und erst abends nach der Stadt zurückkehren.

Er streckte sich lang in den Sand und schlief auch sehr bald fest ein. Gegen fünf Uhr nachmittags schritt er dann wieder dem Kurhause zu und wollte auf der offenen Terrasse Kaffee trinken, änderte aber plötzlich seine Absicht und fuhr mit dem nächsten Zuge nach der Stadt zurück. –

Der Grund – an einem Tische vor dem Kurhause hatte der Rittmeister mit seinen beiden Töchtern gesessen und bei ihnen ein kleiner, dicker Herr, der sehr eifrig mit der steif in ihren Stuhl zurückgelehnten Hilde sich unterhielt – besser, auf sie einsprach.

Der kleine, dicke Herr aber war Alfred Meyerhof, der Erbe des Getreideexportgeschäftes Meyerhof & Co., ein auf seines Vaters Millionen lächerlich eingebildeter Strohkopf. Loßner hatte ihn einmal in Zoppot durch Fabers kennen gelernt, und eine halbe Stunde genügte vollständig, um dem Schriftsteller von Alfred Meyerhofs Charakter und Fähigkeiten das rechte Bild zu geben. –

Die glückliche Feiertagsstimmung war dahin. Der Himmel schien plötzlich wieder bewölkt, die Sonne verfinstert. So kehrte Loßner in sein kleines Heim zurück. Und immer wieder mußte er daran denken, was Hilde ihm damals von der Weltklugheit gesagt hatte, die jedem Weibe gebiete, nicht mit dem Herzen, sondern mit dem kühlen Verstande ihre Wahl zu treffen …

In seinem Briefkasten fand er dann zwei Ansichtskarten aus Borkum von Irma Faber vor mit vielen herzlichen Grüßen, außerdem einen Brief aus Berent mit der Handschrift seines Bruders.

Gespannt riß er den Umschlag auf. Max schrieb, daß er Aussicht habe, bei dem Generaldirektor Weiß eine Stelle als Hauslehrer zu erhalten, die sehr gut bezahlt würde. Er müsse sich aber vorher noch vorstellen. Zu diesem Zwecke gedenke er morgen Abend in Danzig einzutreffen und bitte seinem Bruder um ein Nachtquartier. –

„Besten Gruß, auch von Papa“ stand darunter.

Erwin Loßner ballte den Brief zusammen und warf ihn mit einem Gefühl des Ekels in den Papierkorb.

Jetzt, wo es galt, die Hotelkosten zu sparen, konnten sie an ihn schreiben …! – Und morgen Abend wollte sein lieber Bruder eintreffen …? Also heute dem Datum des Briefes nach! Ein schlechter Tagesabschluß – aber was half’s! –

Den Bruder vom Bahnhof abzuholen, dazu konnte der Schriftsteller sich doch nicht überwinden. Mochte jener allein den Weg zu ihm finden. –

Um halb neun Uhr klopfte es dann, und Max Loßners vornübergebeugte Gestalt schob sich zögernd ins Zimmer.

Erwin war kühl, aber nicht unfreundlich. Er hatte zum Abendessen allerlei gute Sachen eingekauft und sogar ein paar Flaschen Rotwein besorgt. Mochte Max nur merken, daß es ihm recht gut in dem neuen Beruf ging.

Der Kandidat der Philologie, der in seinem schwarzen Bratenrock wie eine Karikatur aussah, zumal er zu dem endlos langen Hals einen soliden Umlegekragen und eine Krawatte trug, die sicher in Berent selbst fabriziert war, tat ganz so, als seien sie damals vor drei Wochen in bestem Einvernehmen auseinander gegangen.

Im Laufe der Unterhaltung erfuhr Erwin dann, daß der Generaldirektor Weiß vor kurzem erst nach Danzig zugezogen war und hier in demselben Hause in der ersten Etage wohne. Sein Schreck bei dieser Nachricht war nicht gering, und er schickte ein heimliches Stoßgebet gen Himmel, daß Max doch die Hauslehrerstelle nicht erhalten möge! Diesen in solcher Nähe für längere Zeit haben, womöglich sogar täglich sehen, – das fehlte ihm gerade noch! –

Doch das Schicksal war tückisch. Der Herr Generaldirektor fand entweder an des Kandidaten kriecherischer Bescheidenheit oder an dessen vorzüglichen Zeugnissen Gefallen – vielleicht auch an beidem; und übertrug ihm die Erziehung seiner drei Söhne, die trotz ihrer Jugend bereits von mehreren Gymnasien wegen dummer Streiche entfernt worden waren. –

Erwin nahm auch diese Nachricht mit Fassung hin und brachte es sogar fertig, dem Bruder zu diesem Erfolge zu gratulieren, fügte allerdings sofort hinzu:

„Wir werden uns ja wenig sehen, obwohl wir in demselben Hause wohnen, da meine Arbeit keine beliebige Unterbrechung durch Besuche verträgt. Sonntags können wir hin und wieder zusammensein. Das genügt ja auch.“

Max Loßner stammelte ein verlegenes „Natürlich – natürlich!“ Aber in seinem Innern kochten die Wut – und der Neid! Dieser Erwin war doch geradezu ein unverschämter Glückspilz. Wie hübsch der hier wohnte, und was der sich alles leisten konnte …!

Am Nachmittag reiste der Kandidat wieder ab. Seine Stelle bei dem Generaldirektor der ostdeutschen Ziegelei-Genossenschaft sollte er erst am 1. September antreten.

Eine halbe Woche ging hin. Hilde traf er während dieser Zeit nur einmal flüchtig auf der Treppe. Da wurde die Sehnsucht nach seiner blonden Madonna immer stärker in ihm. Es ging nicht anders – hier mußte die Portierfrau Vorsehung spielen. Aber offen anvertrauen wollte er sich ihr nicht. Er kannte die Schwatzhaftigkeit dieser Hausbesorgerinnen zur Genüge.

Auf allerlei Umwegen gelangte er dann auch wirklich ans Ziel. Er fing die Sache so geschickt an, daß Frau Pollneck schließlich erzählte, Fräulein Hilde fahre aus Sparsamkeit nur jeden dritten Tag vormittags nach Brösen, während die stolze Agathe eine Monatskarte nach Zoppot besitze und sich dort im Kurgarten stets lebhaft von Offizieren den Hof machen lasse. „Für die fängt der Mensch ja überhaupt erst beim Leutnant an,“ fügte sie bissig hinzu.

Am nächsten Vormittag regnete es. Daher versuchte Loßner erst am zweiten Tage nach dem Gespräch mit der Portierfrau sein Glück, obwohl der Himmel nicht sehr vertrauenerweckend aussah. Und Hilde kam wirklich. Aber heute war sie nicht die heitere Madonna vom letzten Mal – nein, ihr zartes Gesichtchen sah noch trauriger als sonst aus und der wehe Zug um den Mund trat nur zu deutlich hervor.

Trotzdem leuchteten ihre Augen auf, als sie Loßner erblickte.

„Endlich!“ sagte er lebhaft und streckte ihr herzlich die Hand hin. „Ich glaubte schon, der Zufall würde mir nie wieder hold sein.“ –

Doch heute wurde alles so anders als damals – so ganz anders. Es begann leicht zu tröpfeln, und so mußten sie sich in die Glasveranda des Kurhauses flüchten, in der jedoch nur wenige Tische besetzt waren. Ganz hinten in einer Ecke nahmen sie Platz, wo der große eiserne Ofen sie halb vor den Blicken Neugieriger verbarg. Und Hilde war so einsilbig und so zerstreut. Erst ganz langsam wurde das anders, als er sie mit lieben, gutgemeinten Worten, ohne irgendwie aufdringlich zu werden, tröstete und ihr sagte, sie möge doch in ihm ihren besten Freund sehen und durch eine offene Aussprache sich von dem schweren Druck befreien, der auf ihr laste und ihr jeden Frohsinn raube.

Ohne daß er es recht wußte, hatte er, während er ihr zart wie ein liebevoller Vater zusprach, ihre Hände sanft gestreichelt. Sie litt es, und ihre Augen schwammen in Tränen. Fühlte sie doch seit langer Zeit wieder einmal, daß ein Mensch es wahrhaft gut mit ihr meinte.

Dann hob sie plötzlich den bisher gesenkten Blick und sagte leise:

„Wie weich Sie sein können …! Ihre Worte sind wie Orgelklänge, heben einen empor aus der Alltagsmisere. Ich finde keinen besseren Vergleich. Trotzdem – meinen Kummer muß ich allein weitertragen. Aber eines will ich beherzigen, was Sie soeben sagten „Lerne die Stunde genießen!“ – Ja, freuen wir uns dieses kurzen Beisammenseins! Wie heißt es doch in jenem Studentenliede, das wie eine Verherrlichung des Leichtsinns klingt und doch soviel Lebensweisheit enthält. Komme, was …“

„… was kommen mag,
Sonnenschein, Wetterschlag,
heute ist heut – heute ist heut!“

ergänzte er schnell. – – –

* * *

Die nächsten Wochen gingen für Erwin Loßner in angestrengtester Arbeit dahin. Noch drei Mal traf er mit Hilde in Brösen zusammen. Ihr Gemütszustand schien sich gebessert zu haben. Bisweilen konnte sie fast ausgelassen fröhlich sein, verfiel dann aber plötzlich ohne jeden Grund in müde Traurigkeit, die freilich nicht lange anhielt.

Nie wurde ein Wort von Liebe zwischen ihnen gesprochen. Und doch wußten beide, wie es um ihre Herzen bestellt war. Ihre Blicke, der lange, zärtliche Händedruck sagten genug. Erwin nannte sie jetzt „Fräulein Hilde“, – das war aber auch die einzige Vertraulichkeit zwischen ihnen.

Inzwischen hatte auch Max Loßner seine Tätigkeit bei dem Generaldirektor in der ersten Etage begonnen. Er war erst nach vier Tagen bei seinem Bruder zu einem kurzen Antrittsbesuch erschienen, sprach lediglich von der reizenden Familie seines Brotherrn und von seinem hübschen Zimmer, das man ihm angewiesen hatte. Über die „reizende“ Familie hatte Erwin von Frau Pollneck das gerade Gegenteil gehört.

Nach einer knappen halben Stunde verabschiedete der Kandidat sich wieder. Erwin war froh, als er ihn die Treppe hinab stolpern hörte. Mit keinem Wort hatte jener den Vater erwähnt, und Erwin fühlte keinerlei Veranlassung, für das unerbittliche Familienoberhaupt ein besonderes Interesse an den Tag zu legen.

 

5. Kapitel.

Loßner saß gerade beim Abendbrot, als die Portierfrau eintrat und dann zunächst berichtete, daß der Herr Kandidat heute unten bei Generaldirektors zum ersten Mal einen „dieser frechen Bengels“ gehörig mit dem Rohrstock „verarztet“ habe, wie sie sich ausdrückte.

„Na, da hat’s dann hinterher einen schönen Krach mit der Gnädigen gegeben, Herr Loßner. Die hält ihre Pflanzen ja für harmlose Veilchen, während es doch richtige böse Brennesseln sind. Ihr Bruder solle die Jungens nicht anrühren – eine derartige Erziehungsmethode litte sie nicht – na und ähnliches mehr. – Der Herr Kandidat mußte klein beigeben, soll aber mit einer Beschwerde bei dem Herrn Generaldirektor gedroht haben, der im Gegensatz zu seiner Frau viel vom Hauen hält – und mit Recht! –

Das war der erste Krach. Und den zweiten hat mein Mann bei Rittmeisters gemacht – von wegen rückständiger Miete. Für zwei Monate hat der Herr v. Marow nun schon zu zahlen, und wenn morgen unser Justizrat wieder da ist, dann soll mein Alter die ganzen Mieten für September ihm aushändigen. Nun aber fehlen doch die zweihundertundsechzig Mark von Marows, obwohl der Rittmeister bestimmt versprochen hatte, mein Alter würde das Geld am 17. spätestens auf Heller und Pfennig erhalten. Überhaupt – Schulden haben die – an allen Ecken und Enden. Schneider, Fleischer, Bäcker, – die ganze Lieferantengarde wartet schon seit Monaten. Keiner will mehr pumpen – keiner! Das nimmt da mal ein Ende mit Schrecken, sagt mein Alter.“

Loßner hatte schon mehrfach den Versuch gemacht, den Redefluß der Frau Pollneck zu unterbrechen. Aber gegen ihre Zungengeläufigkeit und Organstärke war schwer aufzukommen. Jetzt endlich konnte er ärgerlich dazwischenrufen:

„Ich habe Ihnen schon mal erklärt, daß Sie mir keinen Hausklatsch zutragen sollen. Die Miteinwohner sind mir höchst gleichgültig.“

Sie wollte gerade das Geschirr abräumen, blieb nun aber neben dem Tisch stehen und lächelte ihn verschmitzt an.

„So – gleichgültig, Herr Loßner? Na – na! Das reden Sie man einem andern vor! Aber ich kann schweigen – wahrhaftig, ich rede zu keinem darüber – zu keinem. Und dem Julius habe ich auch gesagt, er soll den Schnabel halten, sonst passiert was! Ich kann sehr eklig werden, sehr. Und mit Ihnen meine ich es gut, Herr Loßner!“

„Danke verbindlichst, Frau Pollneck, daß Sie mir Ihren Schutz und Schirm angedeihen lassen. Aber zu Ihrem Sohn Julius werden Sie lieber nicht eklig, er ist ein braver Mensch. Letztens, als er mir am Sonntag vormittag hier die elektrische Krone in Stand setzte, haben wir uns recht gut unterhalten.“

„Na, so lange er den Mund hält, passiert ihm auch nichts. Aber wenn er nur zu einem Fremden eine einzige Silbe davon erwähnt, daß er Sie und Fräulein Hilde drei Mal mittags in Brösen auf dem Bahnhof hat stehen sehen, dann … dann …! Er kommt doch jeden Mittag mit dem Zuge aus Neufahrwasser hier zu Tisch zu uns, – und da hat er Sie vom Zuge aus beobachten können.“

Jetzt zuckte Loßner doch leicht zusammen.

Frau Pollneck merkte das sehr wohl und sagte daher schnell:

„Keine Angst, die alte Pollnecksche redet gerne und viel, aber was sie nicht erzählen will, das quetscht niemand aus ihr heraus!“

Leiser fügte sie dann hinzu:

„Herr Loßner – wirklich, ich meine es gut mit Ihnen. Machen Sie sich und Fräulein Hilde doch das Leben nicht unnütz schwer. Der Rittmeister läßt ja doch nicht locker, bis sie diesen Meyerhof heiratet, der reinweg verrückt nach ihr ist. Auguste hat mir erzählt, wie der Rittmeister bisweilen tobt und Fräulein Hilde anschreit, daß sie die ganze Familie ruiniere. –

So sind aber die feinen Herren Väter. Erst verspielen sie ihr Geld und bringen es mit Weibern durch, und dann muß eine Tochter die Karre wieder aus dem Dreck ziehen, – verzeihen Sie schon, schön klingt das nicht, aber wahr ist’s, Herr Loßner. Die Auguste sagt, ihr dreht sich manchmal das Herz im Leibe vor Erbarmen um. Das Fräulein Hilde ist ja viel zu still und bescheiden. An die Agathe wagt der Rittmeister sich gar nicht heran. Die würde ihm schon heimleuchten, ist ja allerdings auch schon heimlich verlobt mit einem Oberleutnant von den Leibhusaren, der aber auch nichts haben soll. – Ja, ja, Herr Loßner, das ist wieder mal so ein Stück menschlichen Elends!“

Erwin saß wie versteinert da. Und erst nach einer Weile sagte er ganz heiser:

„Bitte, Frau Pollneck, tun Sie mir einen Gefallen und kommen Sie später nochmals zu mir, oder besser, ich werde heute hier schon allein alles besorgen. Ich muß jetzt allein sein – gehen Sie wirklich.“

Still schlich die Frau hinaus, drückte leise die Tür hinter sich ins Schloß.

Und als sie die Treppe hinunterstieg, murmelte sie vor sich hin:

„Den hat’s …!! Ganz blaß sah er aus. Der arme Mensch!“

Loßner war kaum allein, als er auch schon aufsprang und dann riß er die Luftklappe des Fensters auf und lehnte sich hinaus. Die kühle Abendluft tat ihm wohl.

Hilde … Hilde …! – Am liebsten hätte er diesen Namen laut hinaus-geschrien ins Weite. – Mit aller Macht war plötzlich die Sehnsucht nach Hilde über ihn gekommen. Nun war ja das Rätsel gelöst, nun wußte er ja, welches Leid sie quälte …

Arme Hilde, arme süße Madonna …! Ja, wenn er sie jetzt hier gehabt hätte, wenn sie jetzt plötzlich eingetreten wäre. Die Arme würde er ausgebreitet haben, würde … würde …

Er lachte bitter auf. Wozu sich etwas ausmalen, was nie Wirklichkeit werden konnte! Und – selbst wenn er seine Arme schützend um sie breitete, ihr die Tränen wegküßte, ihr sagte, daß er sie über alles liebe; wozu sollte das führen, was nützte er ihr damit …?! Sie an sich ketten für immer, sie heiraten, – durfte er das wagen, wo er selbst den erst den Kampf mit dem Dasein aufgenommen hatte und nicht wußte, ob das Glück des Anfanges ihm treu bleiben würde …?! – Nein, niemals! Doch ein schneidendes Weh blieb zurück. Nur nicht an Hilde denken, nicht daran, was sie litt!

Morgen kommen Fabers. Da mußte er mit zwei Sträußen für die Damen auf den Bahnhof gehen und sie empfangen. Das war er ihnen schuldig. Und hocherfreut mußte er auch tun, daß sie nun endlich wieder da waren …, hocherfreut – in seiner jetzigen Stimmung, die morgen, übermorgen – vielleicht für Monate sich kaum ändern würde …

Draußen schlug eine Kirchturmuhr neun. Und gleich darauf begann auch das Glockenspiel des Rathausturmes mit dem Stundenchoral. Der Südwind trug die Klänge bis hierher herüber, – nicht alle, aber die Melodie war unverkennbar:

„Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren …“

Noch war der letzte Ton nicht ganz verhallt, als er hinter sich die Tür nach dem Treppenflur leise knarren hörte.

Sein Kopf flog herum.

„Hilde!“

Alle Sehnsucht der letzten Stunden lag in diesem Schrei, alle Qual seines Herzens, all die jubelnde Freude, daß das Erträumte Wirklichkeit geworden war. Vergessen waren all die guten Vorsätze – alles – alles –

Er breitete die Arme aus …

„Hilde!“

Da lag sie an seiner Brust, schmiegte sich an ihn wie ein armes Vögelchen, und weinte – weinte …

„Mein Liebling – es wird ja alles gut werden! Beruhige dich nur … Wir werden fest zueinander halten … Ich verlasse dich nicht, nie – nie mehr!“

Er wußte kaum, was er sprach …

Und dann hob sie den Kopf, lächelte selig, reckte sich höher und bot ihm ihre keuschen Lippen …

Da – was war das …?! – Sie fuhren auseinander. Es klopfte … – Jetzt wieder …

Mit zwei schnellen Schritten schob Loßner die Geliebte in den kleinen Nebenraum. Mit aller Gewalt zwang er sich zur Ruhe, setzte sich schnell an den Schreibtisch und rief, als tue er dies schon zum zweiten Mal:

„Herein – zum Donner! Wie lange soll ich denn schreien!“

Des Kandidaten dürre Figur erschien in der Tür.

„Störe ich, Erwin?“

Der krampfte die Finger zusammen und hätte am liebsten gebrüllt:

„Scher’ dich zum Teufel!“

Aber die Klugheit siegte. Er erhob sich und ging dem Bruder entgegen, reichte ihm die Hand und sagte kurz:

„Du siehst, ich arbeite. Aber ein paar Minuten knapse ich mir schon ab.“

Max Loßner schaute sich wie suchend um.

„So – du arbeitest. Mir war es ganz so, als hörte ich hier Stimmen. Ich glaubte schon, du hättest Besuch.“

„Stimmen?! Das ist wohl ausgeschlossen,“ erwiderte er schnell. „Es kann nur die meine gewesen sein. Ich lese häufig Stellen aus dem Manuskript mir selbst laut vor.“

Max Loßner berührte diese Sache nicht weiter, sondern sagte jetzt:

„Ich wollte eigentlich heute etwas länger bei dir bleiben. Aber wenn du nicht Zeit für mich hast …“

„Entschuldige schon – aber ich bin heute gerade sehr in Stimmung. Das muß ich ausnützen. Komme bitte morgen. Ich halte dann ein kaltes Abendessen bereit. Wann teile ich dir noch mit.“

„Also dann – gute Nacht. Und – viel Vergnügen –, wollte sagen, viel Erfolg bei der heutigen Arbeit!“ –

Als er draußen war, reckte sich unwillkürlich Erwins rechter Arm mit geballter Faust drohend empor.

„Schleicher!“

Erwin stieg ein Würgen in der Kehle hoch! Und den – gerade den als Mitwisser eines Geheimnisses zu haben, das Hildes Ruf aufs äußerste gefährden konnte …!! Hatte sich denn alles gegen ihn und die Geliebte verschworen …!

So wurden seine Gedanken wieder zu ihr hingelenkt, die sicherlich in größter Angst und Aufregung im Nebenzimmer stand. Er öffnete die Tür nach dem Flur und lauschte in das Treppenhaus hinab. Seines Bruders schwere Schritte waren trotz des Läufers noch deutlich zu vernehmen. Jetzt wurde es still, und gleich darauf fiel eine Tür ins Schloß.

Zur Vorsicht drehte er den Schlüssel um, so daß sie vor Überraschungen sicher waren. Dann erst eilte er hin und zog Hilde in das Atelier hinein.

„Ängstige dich nicht, Liebling, – es war nur mein Bruder …,“ sagte er tröstend und wollte sie recht lieb in seine Arme nehmen. Doch sie wehrte ihm, schaute ihn aus tränenumflorten Augen bittend an und ließ sich ermattet in den nächsten Sessel fallen.

Er merkte, die selige Stimmung, die dieses schnelle Sichfinden, dieser scheue erste Kuß wie einen Glücksrausch bei ihnen erzeugt hatte, daß alle Widerwärtigkeiten und alles Leid um sie her versanken, war verflogen. Nichts konnte sie mehr zurückzaubern. Die graue, trostlose Wirklichkeit lastete wieder auf ihnen und machte sie ernst und nachdenklich.

Dann begann Hilde zu sprechen, ganz leise, als sei die Angst von vorhin noch immer in ihr rege. Er hatte sich denselben Schemel, auf dem sie damals oben auf dem Dach gesessen, herbeigeholt, hockte nun dicht neben ihr und hielt ihre Hände in den seinen.

„Es war doch nicht recht von mir, Erwin, daß ich diesem Gefühl völliger Verlassenheit nachgab und zu dir kam … Ein junges Mädchen abends allein bei einem Herrn …!! – Die Welt würde uns mitleidlos verurteilten, mich am allermeisten! Was würde es da helfen, daß wir beide vor uns selbst rein dastehen …?! Nichts – nichts! Nein – ich hätte stärker sein sollen als meine Sehnsucht … Aber die Gelegenheit war so günstig … Ich bin allein zu Hause. Auch Auguste ist zu Bekannten gegangen … Und da dachte ich immerwährend an dich, immerwährend … Halb unbewußt bin ich die Treppe hinaufgehuscht …“

„Liebes, wozu diese Selbstvorwürfe …! Du hast …“

Aber sie unterbrach ihn schon.

„Wir haben nicht lange Zeit für einander und manches zu besprechen …Ich weiß, daß auch du mir nicht helfen kannst … Aber ich hoffe hier neue Kraft für den Kampf zu finden, den ich allein durchfechten muß.“

„Quäle dich nicht, Liebling, – ich weiß ja alles bereits … Heute abend hat Frau Pollneck mir erzählt, was du zu leiden hast, wie dein Vater dich zu zwingen sucht, jenen Meyerhof zu heiraten. Wir werden fest zu einander halten, – dann muß ja alles gut werden … Ich verlasse dich nicht … Ich werde arbeiten für uns beide, für unsere Zukunft … Und wenn ich dann sehe, daß ich wirklich etwas leiste, daß ich es wagen darf, ein eigenes Heim zu begründen, dann wirst du mein für immer …“

Wie er das alles so hinsprach, da glaubte er auch daran. Und sie tat es auch, ließ die Hände sinken, lächelte glückselig unter Tränen ihn an und küßte ihn …

Ganz tapfer war sie wieder geworden.

„Papa kann mich zu keiner Ehe zwingen,“ sagte sie bestimmt. „Und – behandelt er mich zu schlecht, so laufe ich davon. Das habe ich mir schon manchmal überlegt. Unser früherer Inspektor Wichert wohnt als Rentier in Dirschau. Und er und seine herzensgute Frau würden mich gleich aufnehmen. –

Sieh, Lieber, wenn ich nur weiß, daß wir einig sind, dann werde ich nicht mehr kleinmütig sein, – einig daran durchzuhalten, was auch kommen mag.“

Sanft befreite sie sich aus seinen Armen.

„Jetzt muß ich fort, Erwin, ich muß …! – Leb wohl …! Und – ehe ich’s vergesse, – unsere Köchin wird dir hin und wieder ein Briefchen zustellen. Sie ist ganz zuverlässig. Auch du schreibe mir, wenn du Zeit hast. Aus deinen Zeilen werde ich immer wieder Kraft und Mut schöpfen.“

Dann schlang sie die Arme um ihn. Ihre Lippen fanden sich wieder …

Wie schwer dieser Abschied war, wie unendlich schwer. –

Loßner stand wieder allein in dem matt erleuchteten Gemach, ganz verträumt. Zuletzt hatte sie ihm noch einen kleinen Gegenstand in die Hand gedrückt. Jetzt beschaute er ihn sich unter der Lampe.

Ein goldenes, flaches, altertümliches Medaillon war’s, und innen hinter den dünnen Gläsern lag auf der einen Seite eine Locke, auf der anderen eine winzige Photographie, – Hildes Kopf.

Also selbst daran hatte sie gedacht, ihm eine kleine Überraschung zu bereiten. Tiefe Rührung machte sein Herz weich und sehnsuchtsvoll.

„Madonna, meine liebe, kleine Madonna,“ flüsterte er, nahm die blonde Locke vorsichtig heraus und küßte sie … –

Zehn Minuten später saß er am Schreibtisch, und die Feder eilte hastig dahin, gute Gedanken flogen ihm zu, Satz reihte sich an Satz. Und nicht eher hörte er auf, bis er den Schlußstrich unter seinen Roman machen konnte.

Die Kirchturmuhr draußen verkündete gerade die dritte Morgenstunde.

Eilig ging er nun zu Bett. Vor dem Einschlafen aber überlegte er sich noch, daß er den einen Satz in dem Roman notwendig ändern müsse, da die darin ausgesprochene Ansicht falsch war, wie ihm das frohe Schaffen dieser Nacht bewiesen hatte. Nein – die Frau im Leben des Dichters war doch kein schädlicher Magnet, der einen Teil der Schaffensfreude an sich zieht. –

Frauenliebe begeistert, befruchtet die Phantasie, ist ein Zaubertrank, – so mußte der Satz lauten!

 

6. Kapitel.

Als der Wecker am Morgen wie immer um sieben schnarrte, stellte er ihn schlaftrunken ab und drehte sich auf die andere Seite. Heute konnte er es sich ja erlauben, bis in den Vormittag hineinzuschlafen.

Ein sehr energisches Klopfen weckte ihn dann. Es war der Geldbriefträger, dem er nur notdürftig angekleidet öffnete, und der ihm schmunzelnd siebenhundertundzwanzig Mark hinzählte, das Honorar für die lange Novelle, die er hier in seinem neuen Heim als erste Arbeit geschrieben hatte. Freudestrahlend händigte Loßner dem Manne ein Dreimarkstück als Trinkgeld aus.

„Ich habe nichts dagegen, daß Sie recht oft kommen,“ meinte er scherzend. –

Siebenhundertundzwanzig Mark …! – Das war eine Überraschung! Auf soviel hatte er doch nicht gerechnet! – Im Briefkasten fand er dann auch das Schreiben der Redaktion. Zum Schluß stand darin: „Wir bitten um häufige Vorlage von Arbeiten.“

Wie diese Bitte ihn stolz machte! Also er leistete tatsächlich mehr, als er sich selbst zugetraut hatte. Gerade diese Zeitschrift war ja für überaus wählerisch bekannt. – –

Am Vormittag begab er sich dann zu einem in der Nähe wohnenden Auktionator, der mit in seine Wohnung kommen und die Möbel und selbst die Bilder und Nippes abschätzen mußte, wobei eine genaue Liste der Einrichtung angelegt wurde.

Dann ging Loßner in ein Goldwarengeschäft und kaufte für Hilde ein mit kleinen Saphiren besetztes Medaillon, das er ihr noch heute durch die Köchin zustellen lassen wollte.

Abends holte er dann Fabers, bewaffnet mit zwei Rosensträußen, von der Bahn ab. Die Begrüßung war äußerst herzlich und zwanglos. Der Justizrat war von Seeluft und Sonne tiefgebräunt und befand sich in vorzüglichster Stimmung. –

Frau Faber erklärte wiederholt, man habe ihn in Borkum doch sehr vermißt. Und Fräulein Irma drückte ihm heimlich die Hand und schaute ihn mit Blicke an, die Loßner fast verwirrten.

„Du kommst natürlich mit zu uns zum Abendbrot,“ erklärte der Justizrat, nachdem er einem Gepäckträger den Schein zur Erledigung der Kofferfrage ausgehändigt hatte. „Wir haben uns eine ganze Menge zu erzählen. Ich muß doch wissen, wie es dir in der Zwischenzeit ergangen ist.“

Bis gegen elf Uhr blieb Erwin bei Fabers. Dann verabschiedete er sich. Es trieb ihn mit Macht nach Hause. Er wollte allein sein. Dieses leichte Geplänkel mit Irma, die ihn kaum aus den Augen ließ und auf deren vertraulichen Ton er einzugehen sich halb und halb verpflichtet fühlte, kam ihm wie ein Verrat an der Geliebten vor.

Daheim betrachtete er dann lange die kleine Photographie.

„Ich werde arbeiten – für dich, mein Liebling!“ sprach er zu dem Bildchen. Und es war wie ein Gelübde.

Dann begann er den Roman durchzusehen, änderte hier und da einiges und strich ganze Stellen heraus, die ihm zu langwierig erschienen. Wieder saß er bis nach zwei Uhr morgens auf. Auch der folgende Tag war dieser Arbeit des Korrigierens gewidmet. –

Als Frau Pollneck abends bei ihm erschien, war das Erste, womit sie herausplatzte, die große Neuigkeit, daß der Herr Justizrat den Rittmeister heute gleich wegen der rückständigen Miete schriftlich aufgefordert habe, zum 1. Oktober auszuziehen.

Loßner, der am Schreibtisch saß, erwiderte nichts, legte aber die Feder hin und lehnte sich in den Stuhl zurück.

„Arme Hilde,“ dachte er. „Das werden jetzt wieder böse Tage für dich werden!“

Nachher irrten seine Gedanken immer wieder zu der Geliebten hin. So flott wie vorhin schritt die Durchsicht des Romanes nicht mehr vorwärts. –

Dann klopfte es vorsichtig, und Loßner lief förmlich zur Tür und riß sie auf.

Aber es war nur die Köchin von Rittmeisters, die Erwin schnell einen versiegelten Brief überreichte und dann wieder mit einem freundlichen „Wir haben Gäste!“ die Treppe hinuntereilen wollte. Trotzdem mußte sie noch schnell das Medaillon für Hilde mitnehmen und ein paar Zeilen, die er für sie am Nachmittag geschrieben hatte.

Nur zögernd öffnete Loßner den Brief. Er ahnte, daß der Inhalt seine aus dem Gleichgewicht gebrachte Stimmung noch mehr beeinflussen würde. Beim Lesen merkte er denn auch, daß Hilde sich alle Mühe gegeben hatte, ihre Verzagtheit zu verbergen.

„Papa hat für heute abend den aufdringlichen M. eingeladen. Ich werde wie eine Marmorstatue sein, kalt und stumm, wenigstens äußerlich. Aber meine Seele wird sich bei Dir befinden. Ich werde fort-während an Dich denken. Wenn so die große Sehnsucht nach Dir mich überkommt, klopft mir das Herz stets in schnelleren Schlägen. Und ganz heiß scheint es zu werden. Ich spüre ordentlich seine Wärme.“

Und an einer anderen Stelle stand:

„Als der Brief von dem Justizrat kam, hat Papa getobt. „Wucherer“ hat er den Justizrat genannt, „Plebejer“ und anderes mehr. Und Agathe stimmte ihm natürlich bei. Dabei ist Faber doch ganz in seinem Recht. Kein Mensch borgt uns noch etwas. Wie das noch enden soll, weiß ich nicht. Natürlich bekam ich wieder die üblichen Vorwürfe zu hören. Agathe weinte und rief ein über das andere Mal, ich sei nicht wert, Marow zu heißen, da ich keinen Familiensinn besitze. Ich müsse M. heiraten, sonst würden wir uns bald am Bettelstab befinden. Ach, es war wieder so widerwärtig. Aber ich blieb fest und erklärte, keine Macht der Erde würde mich dazu bewegen, diesem Menschen meine Hand zur Ehe zu reichen. Da hat Papa mich beschimpft, bis Auguste, wohl absichtlich, kam und mich in die Küche holte. Vor Auguste fürchtet Papa sich. Die nimmt kein Blatt vor den Mund. Und hinauswerfen kann er sie zum Glück nicht, da sie noch für ein halbes Jahr Lohn zu bekommen hat und ihre Invalidenkarten auch seit langem nicht beklebt worden sind.

Agathe hat nun heute an Onkel Sarfeld nach Berlin geschrieben und ihn um Hilfe gebeten. Ich fürchte jedoch, er antwortet überhaupt nicht. Papa hat uns mit der ganzen Familie meiner Mutter auseinandergebracht, und Reichtümer besitzt Onkel auch nicht.“ –

Müde senkte Loßner den Kopf. Eine tiefe Mutlosigkeit überkam ihn plötzlich. Er war noch zu jung, und sein bisheriges Leben war auch ohne größere Erschütterungen hingeflossen, so daß er noch nicht die Widerstandskraft besaß, um den Angriffen eines übellaunigen Geschicks mit der nötigen Ruhe begegnen zu können.

Er zergrübelte sich vergeblich den Kopf, wie er das Los der Geliebten freundlicher gestalten könne. Es gab ja nur einen Weg, sie völlig frei zu machen von dieser Umgebung, die ihre zarte Mädchenseele langsam zermürbte, den Weg des Erfolges, den er selbst finden mußte!

Und in diesem Gedanken nahm er seinen Roman wieder zur Hand und versuchte ihn weiter durchzulesen. Aber nur zu oft legte er die Feder hin, da er merkte, daß er kaum begriff, was er las. Es kostete ihn gewaltige Anstrengung, nicht ständig daran zu denken, daß ein paar Treppen tiefer seine blonde Madonna sich von dem Millionenerben umwerben lassen mußte, daß sicher Agathe und der Rittmeister jede Miene Hildes belauerten, ob sie sich auch nicht allzu abweisend verhielt …

Für den nächsten Abend hatte er seinen Bruder eingeladen. Gegen acht Uhr fand Max sich bei ihm ein, aß für drei und erzählte kauend zumeist von der Auseinandersetzung, die er mit der Frau Generaldirektor über Erziehungsfragen gehabt hatte.

„Heute mittag ist nun der Vater dieser drei Rangen von einer Geschäftsreise zurückgekehrt,“ sagte er triumphierend und legte sich den Rest des kalten Büchsenhummers auf. „Ich trug ihm den Fall vor, und dieser Mann, der doch nur eine mittelmäßige Bildung besitzt – von Kant und Schopenhauer hat er keine Ahnung! – stellte sich, durch meine überlegene Beweisführung schnell gewonnen, vollständig auf meine Seite, eine Tatsache, deren Folgen die sein dürften, daß Frau Weiß mich zunächst eine Weile „schneiden“ wird, wie man zu sagen pflegt. Doch hoffe ich, auch sie bald bekehren zu können, da sie sich von mir abends häufig gute Bücher, die ich auswähle, vorlesen und erklären läßt, wobei stets eine Gelegenheit sich bietet, ihr auch einen kleinen Vortrag über Kindererziehung zu halten.“

Nach Tisch räumte dann Frau Pollneck das Geschirr ab, wobei sie Loßner heimlich in der kleinen Küche einen Brief zusteckte.

„Von Fräulein Hilde! Auguste hat nicht Zeit heute. Marows packen und ziehen schon Anfang nächster Woche nach Langfuhr, wo der Rittmeister eine ganz billige Vierzimmerwohnung gemietet hat.“

Der Kandidat hatte sich inzwischen eine Zigarre angezündet und den Siphon dunklen Bieres auf einen Stuhl neben den Tisch gestellt.

„Eigentlich könntest du mir doch mal einige Stellen aus deinem ersten Roman vorlesen,“ meinte er. „Wenn ich auch nicht gerade ein berufener Kritiker bin, so werde ich doch merken, wie die Arbeit auf den gebildeten Durchschnittsleser wirkt.“

Erwin war von dieser Bitte keineswegs erbaut, fühlte sich aber anderseits auch wieder ein wenig geschmeichelt durch dieses Interesse seines Bruders, hoffte auch, daß Max vielleicht an den Professor nach Berent günstig über das umfangreiche Werk berichten würde. Der Bruch mit dem Vater ging ihm doch, obwohl diese völlige Entfremdung sich ganz allmählich vorbereitet hatte, recht nahe, wie er des öfteren daran merkte, daß er ängstlich in Gedanken nachprüfte, ob er dem Vater gegenüber damals bei jener letzten Aussprache auch nicht zu schroff gegenübergetreten sei. –

So tat er denn dem Kandidaten den Gefallen und las hier und da bestimmte Teile vor, wobei er nicht etwa die besten auswählte, sondern möglichst Gespräche, Stimmungs- und Naturschilderungen sowie Szenen aus dem Krankenhause untereinander abwechseln ließ. Die weggelassenen Stellen ergänzte er durch eine kurze Inhaltsangabe, damit sein Bruder auch den Aufbau der Handlung leicht übersehen konnte.

Als er dann das letzte Blatt bei Seite legte, schaute er den Kandidaten erwartungsvoll an. Mittlerweile war es Mitternacht geworden.

Max Loßners Augen hatten einen verdächtigen, feuchten Glanz angenommen. Und dann platzte er heraus:

„Du – allerhand Achtung! Auf dich als Bruder kann man ja stolz sein! Die Arbeit ist wie aus einem Guß, die Charakteristik der Personen scharf und fest durchgeführt, die Handlung spannend und teilweise sogar aufregend.“

Er war leicht angetrunken und daher ausnahmsweise wirklich ehrlich.

Erwin streckte ihm dankbar die Hand hin.

„Es freut mich, daß du so urteilst, gerade du. Das wird für mich ein Ansporn sein.“

Er legte das Manuskript in die Schublade seines Schreibtisches zurück. Morgen würde er es dem Abschriftenbureau bringen, und in einer Woche konnte es dann weggeschickt werden.

Der Kandidat hatte inzwischen Zeit gefunden, auch anderen Gedanken in seinem Innern Raum zu geben, – Gedanken, die bei seiner Charakterveranlagung nur zu leicht in ihm lebendig wurden: Neid und Mißgunst.

Kaum hatte er dieses uneingeschränkte Lob ausgesprochen, da ärgerte er sich schon darüber. Früher hatte er den Bruder seines Äußeren wegen schon oft glühend beneidet. Er sah sehr wohl, daß dieser aus ganz anderem Holze geschnitzt war wie er selbst. Und nun bewies Erwin ihm noch, daß er ihn auch geistig unendlich weit überragte.

Diese Gewißheit fraß an seinem Herzen wie ein körperlicher Schmerz. Jetzt noch an dem Roman herummäkeln – das konnte er nicht gut. Aber er besaß ja ein anderes Mittel, seinen verborgenen Haß an dem vielbeneideten Bruder auszulassen. In seinem alkoholbenebelten Hirn vermochte er dabei die Worte nicht mehr recht abzuwägen. Und so sagte er jetzt, als Erwin wieder am Tische Platz genommen hatte:

„Du – nebenbei bemerkt – als ich damals abends bei dir war, da hast du mich ein wenig beschwindelt. So dumm bin ich doch nicht, wie du denkst, – ach nein, mein Lieber.“

Er versuchte es dabei mit einem überlegenen Lächeln, und doch wurde es wieder nur das alte, häßliche Grinsen, – schadenfroh, lauernd und triumphierend.

Der Schriftsteller schaute ihn scharf an.

„Ich weiß nicht, wo du hinauswillst,“ meinte er gleichmütig und doch eines weiteren Angriffes gewärtig.

Und der kam, – plump, übereilt und unklug.

„Tja – lieber Erwin, es gibt ja natürlich Damenbesuche, die unter allen Umständen geheim bleiben müssen – unter allen Umständen! So war es ja auch damals. Na – ich kann schweigen. Mich geht die Sache ja auch nichts an. Ich bin ein anständiger Kerl, und was man durch einen Zufall erfährt, soll man für sich behalten.“

Nun war es heraus. Erwin saß ein Weile wie betäubt da. Und nur eine Frage drängte sich ihm immer wieder in diesen Sekunden des Schweigens auf. Was wußte sein Bruder noch mehr? Etwa daß es Hilde v. Marow gewesen war, die abends bei ihm geweilt hatte …?! – Das mußte er um jeden Preis herausbekommen.

Und so fragte er leichthin:

„Ein Zufall? – Ich verstehe noch immer nicht recht.“

„Ja, ein Zufall, mein lieber Erwin.“ Schadenfreude funkelte jetzt hinter den Brillengläsern hervor, nichts weiter. „Als ich die Treppe emporstieg, verlor ich hier oben auf der obersten Stufe meinen Bleistift, den ich spielend zwischen den Fingern gedreht hatte. Er rollte ein Stückchen abwärts, und als ich ihn dann gerade erwischt hatte, hörte ich leichte, flüchtige Schritte unter mir und das Rascheln von Frauenröcken. Da bin ich schnell hinter den vorspringenden Schornstein neben dem Eingang zu den Bodenräumen geschlüpft – unschuldige Neugier war’s von mir. Die Schritte machten vor deiner Tür halb. Die Unbekannte klopfte, trat ein, und gleich darauf hörte ich dich laut zwei Mal „Hilde“ rufen.“

Loßner tanzten feine Sternchen vor den Augen. Seine Finger öffneten und schlossen sich krampfhaft.

Dieser Schleicher – dieser gemeine Spion, – und das nannte er Zufall!! – Am liebsten wäre Erwin aufgesprungen, hätte zugepackt und diesen jämmerlichen Wicht mit Gewalt hinausgeworfen. –

Doch das durfte nicht sein – Hildes wegen! Max war zu allem fähig. Also hieß es klug und berechnend sein.

„Na,“ meinte der Kandidat, als Erwin für seinen Geschmack ungebührlich lange schwieg, „nun siehst du also, wie ein Zufall so manches ans Licht bringt!“

Und salbungsvoll setzte er hinzu:

„Du gehst gefährliche Wege, Bruder! Laß dich warnen. Rittmeisterstöchter sind kein Besuch für Junggesellen. Der Ruf einer jungen Dame muß einem heilig sein.“

Ein würgendes Gefühl des Ekels stieg Loßner in die Kehle hoch. Und doch erwiderte er fast leichtfertigen Tones, der ihm recht gut gelang trotz des Sturmes in seinem Innern:

„Eigentlich hast du recht, Max … Aber Liebe macht unverständig. – Im übrigen, bitte gib mir dein Ehrenwort, daß diese Sache ganz unter uns bleibt!“

Der Kandidat trommelte mit den Fingern an seinem Glase.

Dann sagte er:

„Wozu unter Brüdern gleich so feierlich, Erwin? Daß ich dir keine Ungelegenheiten bereiten werde, ist doch selbstverständlich.“

Schnell sprach er von etwas anderem. Und bald darf verabschiedete er sich. –

Als Erwin wieder allein war, riß er als erstes die Luftscheibe ganz weit auf, öffnete auch im Schlafzimmer die Fenster und ließ die Zugluft den Zigarrenrauch hinaustreiben, und mit dem Zigarrenrauch den Odem dieses Menschen, den er gezwungen war Bruder zu nennen und der ihn jetzt in der Hand hatte wie einen Willenlosen, der ihn mit dem einen Wort „Hilde“ ganz nach Belieben lenken konnte … –

Dann nahm er den Brief der Geliebten aus der Tasche und las ihn andächtig durch. Hilde bedankte sich für das Medaillon mit Worten, die ihn tief bewegten. Wie mußte sie sich gefreut haben! –

Und weiter schrieb sie:

„Der gestrige Abend war eine Pein ohne Ende. M. brachte mir sogar Rosen mit, die Agathe dann in eine Vase stellte. Papa machte mir, als M. gegangen war, eine böse Szene. –

Ich verfolge jetzt aber eine andere Taktik – seit gestern. Ich sagte, ich hätte Kopfschmerzen gehabt und kaum recht begriffen, was gesprochen wurde. Da ließen sie mich in Ruhe. – –

Liebster, was soll nun bloß werden, wenn wir erst in Langfuhr wohnen? Ich kann Dir ja meine Briefe durch die Post senden. Aber Du? – Auguste wird selten in die Stadt kommen. Da dachte ich an postlagernde Briefe. Schreibe mir also bitte unter „H.V.M. 999“ an das Postamt Langfuhr. Immer Mittwoch und Sonnabend nachmittag werde ich nachfragen gehen. –

Mir ist heute so furchtbar schwer ums Herz. Die Gewißheit, Dich mit mir unter einem Dache zu wissen, hatte etwas so Beruhigendes für mich. Hin und wieder muß ich Dich sehen – sonst vergehe ich vor Sehnsucht. Beizeiten können wir uns im Langfuhrer Walde treffen. Dort gibt es so versteckte Plätzchen, wo wir sicher sind. – –

Onkel Sarfeld schickte heute ein Telegramm: „Tue weder jetzt noch später etwas.“ –

Ich ahnte diesen Bescheid. Sarfelds wissen ja nur zu gut, wie Papa sich an meiner Mutter versündigt hat.“ –

Der Schlaf floh Erwin Loßner in dieser Nacht lange Zeit. Und nachher träumte er wirres Zeug. Daß Max Hilde heiratete, daß er selbst mit Irma Faber sich verlobte und der Rittmeister ihn in einem Duell erschoß …

 

7. Kapitel.

Wochen waren seitdem wieder vergangen.

Marows wohnten längst in dem nahen Vorort, und wie verabredet, flatterten Briefe zwischen den Liebenden hin und her, durch die die Sehnsucht nacheinander nur noch vermehrt wurde.

In einem dieser Briefe hatte Hilde dem Geliebten mitgeteilt, sie habe das unbestimmte Gefühl, als ob sie von Vater und Schwester heimlich bewacht werde. Vielleicht hätten diese erfahren, daß sie mit einem Herrn zuweilen in Brösen zusammengewesen sei. Sie wage es daher nicht, Erwin irgend wohin zu einem kurzen Wiedersehen zu bestellen, da Agathe ihr letztens, als sie zur Post gehen und sich einen seiner Briefe abholen wollte, ihr ohne Zweifel nachgeschlichen sei.

Die aus ihren Zeilen hervorleuchtende Stimmung war sehr ungleich. Oft voller Zuversicht, dann wieder fast trostlos und verzweifelt.

Auch ihm hatte die Liebe sehr bald einen Teil seiner früheren, für sein Schaffen so förderlichen geistigen Sammlungsfähigkeit geraubt. Auch bei ihm wechselten die Stimmungen wie draußen das Herbstwetter. Nie ließ er Hilde jedoch merken, daß sein Glaube an die Zukunft, eine gemeinsame Zukunft, mitunter schon arg erschüttert war. Die Zuversicht, die er ihr gegenüber damals abends gezeigt hatte, als sie in ihre Herzensnot zu ihm geeilt war und die mehr aus den ganzen Umständen, als aus einem festen Glauben an das, was er sprach, herausgewachsen war, zerbröckelte langsam in der harten Mühle der Wirklichkeit. Kleine Enttäuschungen kamen, die nach den ersten, so schnell aufeinander folgenden Siegen ihn hart mitnahmen. Von den kleinen Erzählungen und Skizzen hatte er die Hälfte zurückerhalten – mit einem gedruckten Anschreiben der Redaktionen.

„… haben wir leider keine Verwendung.“

So oder so ähnlich stand da stets zu lesen. –

Verstimmt packte er die Manuskripte wieder ein und sandte sie anderswohin.

Der große Roman war längst unterwegs. Er arbeitete jetzt gleichzeitig an drei Novellen. Er nannte das selbst „fabrikmäßigen Betrieb“, aber es mußte sein. Seine Kasse hatte eine Auffrischung dringend nötig. Seit vierzehn Tagen war der Geldbriefträger nicht mehr bei ihm erschienen, und sein Barbestand an schnödem und doch so notwendigem Mammon betrug nur noch einhundertundzwanzig Mark. Dabei standen ihm gerade jetzt zum Winter größere Ausgaben bevor.

Sein Bruder war in diesen zwei Wochen nur ein Mal wieder bei ihm gewesen und berichtete stolz, daß er sich mit der Frau Generaldirektor völlig ausgesöhnt habe und daß er die drei Jungens jetzt nach Herzenslust prügeln dürfe, die denn auch jetzt einen Heidenrespekt vor ihm besäßen. Er fragte so nebenbei auch, ob Erwin bereits wieder etwas von seinen Arbeiten verkauft hätte, worauf dieser ehrlich erwiderte, daß er einige seiner Anfängergeschichten zurückerhalten habe. – –

Heute war nun wieder ein Montag. Eine neue Woche begann.

Loßner schlief bis gegen zehn Uhr vormittags. Am Abend vorher hatten Fabers ihre erste Gesellschaft gegeben, und er war erst gegen vier Uhr morgens heimgekehrt – mit etwas wirrem Kopf, da man ziemlich viel durcheinander getrunken hatte.

Als er erwachte, hörte er den Regen gegen das Fenster peitschen. Da war es im Bett desto behaglicher. Die Schläfen schmerzten ihn, und sein Magen war wie umgekehrt.

Dann fielen ihm allerhand Einzelheiten des vergangenen Abends ein. Er hatte Irma zu Tisch geführt, und sie trank sich recht früh einen niedlichen, kleinen Sektschwips an, war sehr vergnügt, ohne doch aus der Rolle zu fallen. Nur – nur so ein ganz klein wenig zudringlich war sie nachher ihm gegenüber geworden, als in dem ausgeräumten Salon getanzt wurde. Beim Walzer schmiegte sie sich vorsichtig an ihn, sang ihm leise den Text dieses neuen Berliner Schlagers ins Ohr:

„Oh du lieber, o du guter, oh du herzallerliebster Schatz …“ –

Er ging jetzt sehr streng mit sich zu Gericht, während er sich schnell ankleidete, um endlich an die Arbeit zu kommen. Wie er dann gerade den Kopf in der Waschschüssel hatte und die Alkoholgeister durch das kalte Wasser zu vertreiben suchte, zuckte blitzschnell noch eine Erinnerung an den gestrigen Abend durch sein Hirn.

Irma … Der kleine Damensalon neben dem Billardzimmer, Faber war ein Künstler in der Handhabung des Queues, – sie beide allein – ja, was hatte sie da doch halb scherzend, und doch mit so forschendem Blick gesagt – was, – irgend eine Bemerkung, die ihm verräterische Röte ins Gesicht trieb und ihn zu einer Notlüge zwang – was doch nur …?

Richtig …! So war’s. Ganz unvermittelt sprach sie’s aus, als er ihr die angeblich schlecht sitzende Chrysantheme an dem Kleide anders feststecken mußte und dabei dicht vor ihr stand.

„Sie waren während unserer Reise viel in Brösen, Herr Loßner, nicht wahr? – Haben Sie sich denn dort nicht allein gelangweilt …?!“

Und er hatte erwidert:

„Ich langweile mich nie und nirgends, Fräulein Irma.“

Wieder der scharfe, durchdringende Blick von ihr:

„In den Dünen gibt es ja auch so wunderschöne Plätzchen.“

Da hatte er schnell den Kopf gesenkt und erkannt, daß sie mehr wisse, als sie andeutete. –

Um elf klopfte es.

Der Postbote war’s mit einem flachen Paket.

Kaum hatte Erwin auf dem Adressenabschnitt den Absender gelesen, als ihn ein heißer Schreck durchzuckte. Sein Roman kam zurück …

Er reichte dem Boten ein Trinkgeld, machte dazu eine Bemerkung über das Wetter – alles wie im Traum. Er wußte kaum, was er sprach und tat. Die Enttäuschung lähmte ihn förmlich.

Ganz mechanisch schnitt er den Bindfaden entzwei, faltete die starke Pappe auseinander. – Sauber eingewickelt hatte man seine Arbeit, so sorgsam, als sei es ein Wertstück …!! – Obenauf lag ein Brief. Sicherlich die gedruckte Ablehnung, höflich, und doch niederschmeternd.

Nein – er hatte sich getäuscht. Da stand in Maschinenschrift:

„Sehr geehrter Herr!

Wir sind nicht abgeneigt, Ihre Arbeit zu erwerben, müssen Sie aber bitten, die von uns fein mit Bleistift angestrichenen Stellen als allzu realistisch zu ändern. Wenn sich auch unser Lesepublikum lediglich aus Angehörigen der gebildeten Stände zusammensetzt, so können wir doch als Familienzeitschrift keinerlei Veröffentlichungen bringen, die für die heranwachsende Jugend nicht geeignet sind.

Im übrigen haben wir auch aus dieser Arbeit – wie aus den drei bisher von uns geprüften Novellen – ersehen, daß Sie ein starkes, ursprüngliches Talent von persönlicher Eigenart besitzen.

Die vorgeschlagenen Änderungen haben durchaus keine Eile, da wir zur Zeit noch reichlich mit Stoff versehen sind.

Hochachtungsvoll

Redaktion des Universums“

Loßner starrte lange Zeit auf diesen Bescheid hin, zerlegte die Sätze, prüfte jedes Wort … Er wußte nicht recht, was er daraus machen sollte. –

„wir sind nicht abgeneigt …“ – „haben durchaus keine Eile …“ –, klang das nicht wie eine überzuckerte Ablehnung trotz des anerkennenden Satzes in der Mitte! –

Dann blätterte er das Manuskript durch, zählte die Seiten, die für den Geschmack der Reaktion zu frei waren. Im ganzen 32 – also keine geringe Arbeit, zumal er nicht einfach das Bemängelte wegstreichen, sondern ändern sollte.

Bedrückt legte er den Roman in die Mappe zu den beiden Durchschlägen, die er hatte mitanfertigen lassen, und nahm wieder die Feder zur Hand, um endlich wenigstens die Novelle zu beenden. Er brauchte ja Geld … Geld …!!

Für übermorgen hatte er eine Einladung zu Kommerzienrat Wiesinger, eine der Familien, die er durch Fabers kennen gelernt hatte. Kurz entschlossen setzte er sich hin und schrieb ab. Er sei krank – täte ihm sehr leid – er würde sich noch persönlich entschuldigen kommen. Ein ähnlicher Brief ging an den Justizrat. Er fühle sich überarbeitet, habe einen Schwächeanfall gehabt und wolle bis auf weiteres daher ganz zurückgezogen leben und sich schonen.

Als er diese beiden Briefe dann selbst in den nächsten Kasten geworfen hatte, war ihm leichter ums Herz. Das Schuldgefühl Hilde gegenüber wenigstens hatte er so beseitigt. Leider blieb ja noch immer genug, was auf ihm lastete.

Nachdem er im Automaten-Wirtshaus dicht am Bahnhof für siebzig Pfennig, scheu in eine Ecke gedrückt, zu Mittag gegessen hatte, kehrte er nach Hause zurück, um zunächst eine Stunde zu schlafen. Im Briefkasten schimmerte hinter dem durchbrochenen Blech der weiße Umschlag eines Briefes.

Ein Schreiben von Hilde …! –

Er legte es auf den Sofatisch und machte es sich erst bequem, bevor er zu lesen begann. In der ersten Zeit hatte er ihre Briefe stets ungeduldig geöffnet und sofort durchflogen, wo er sich auch befand. Das war anders geworden. Etwas wie ein leises Furchtgefühl beschlich ihn jetzt stets, wenn er auf dem Umschlag ihre großen, langgezogenen Buchstaben sah, die für ein junges Mädchen fast zuviel Charakterreife verrieten.

Heute hatte dieses scheue Unbehagen vor gewissen Teilen des Inhalts wirklich eine Berechtigung. Der Brief war wie ein einziger qualvoller Schrei: „Hilf mir – erlöse mich – ich kann nicht mehr, bin mit meiner Kraft beinahe zu Ende!“ –

Meyerhof verkehre jetzt fast täglich bei ihnen, und da der Papa wieder über einige Mittel verfüge und nachts erst spät heimkehre, nehme sie an, daß der süßliche Millionenerbe, der sie mit Blumen und Aufmerksamkeiten überschütte, ihm helfend unter die Arme gegriffen habe. Ihr täglich Brot seien nach wie vor Vorwürfe, Bitten, Beschwörungen von Seiten des Vaters und Agathes. Besonders letztere lasse ihr kaum eine ruhige Minute. Daher sei auch schon der Verdacht in ihr aufgestiegen, daß Agathe womöglich von Meyerhof gewisse Zusicherungen auf das nötige Kommißvermögen erhalten habe, falls es dieser gelingen sollte, sie zu einer Ehe mit dem späteren Millionär zu überreden. Ohne Kommißvermögen könne Agathe ja vorläufig gar nicht an die Verwirklichung ihrer eigenen Herzenswünsche denken, und vielleicht gebe sie sich deshalb zur Verbündeten Meyerhofs her. –

Müde und niedergeschlagen schloß er den Brief weg und legte sich auf den Diwan. Doch die Gedanken vertrieben den Schlaf, kreisten stets um denselben Punkt. Wie kannst du ihr helfen, wie? –

Ja, wenn er seinen Roman verkauft haben würde, dann hätte er ihr vielleicht den Vorschlag machen können, aus dem elterlichen Hause zu den Inspektorsleuten zu flüchten, hätte sie dort unterstützt, bis sich die Verhältnisse irgendwie klärten. Aber jetzt …?! Er mußte sich selbst ein-schränken, und wann er wieder ein größeres Honorar erzielen würde, war gar nicht abzusehen.

Da litt es ihn nicht länger auf dem Diwan. Er eilte zum Schreibtisch und schrieb an sie, viele Seiten, daß er einen Teil der Schuld trage, wenn sie jetzt so leiden müsse, daß er aber auch desto fester zu ihr stehen wolle.

„… Mein armes Lieb, – ich denke eben an den Zeppelintag. Ich habe ja alle trauten Erinnerungen, die uns gemeinsam sind, wieder aufgefrischt. Als ich damals die Treppe zur Dachluke emporstieg, lagen die schwarzen Teertropfen so aufdringlich deutlich auf den Holzstufen. Wie dunkle Schicksalstränen – das schoß mir damals durch den Kopf. Und nun ist auf jenen Tag wirklich das Leid gefolgt. –

Leid und viele, viele Tränen, die Deine lieben Augen vergießen…“

Alles sprach er sich heute vom Herzen – ganz offen. Daß der Roman nicht angenommen, daß er mit seiner Arbeit jetzt nicht zufrieden sei und er die Überzeugung habe, schwerere Zeiten würden auch für ihn kommen.

„Fehlschläge können ja nicht ausbleiben. Aber ich war eben durch die ersten schnellen Erfolge zu sehr verwöhnt worden. Daher drücken die ersten Enttäuschungen auch so schwer. Doch die Hauptsache, den Mut habe ich nicht verloren! Es wird auch wieder anders werden! Und es muß anders werden! Wo ein so herrliches Ziel winkt wie Du es bist, kleine süße Madonna, da ist auch die Energie vorhanden, es zu erweichen durch tausend Hindernisse …“ –

Der Brief an Hilde war beendet. Und Erwin Loßner fühlte sich wie erfrischt. Jetzt noch eine Tasse Kaffee – und dann an die Arbeit! Er fühlte – die Schaffenskraft war wieder da. Es trieb ihn zum Schreibtisch hin, und, während das Kaffeewasser auf dem Gasherd leise in dem Kessel sang, überlegte er sich schon möglichst knappe, eigenartige Schlüsse für die drei „Fabrikarbeiten“. Vielleicht gab er ihnen auf diese Weise noch einen gewissen Wert. – –

Zwei von den Novellen wurden heute fertig, und die dritte beendete er am nächsten Vormittag. Dann nahm er den Roman vor, gönnte sich keine Minute Ruhe. Die Stimmung mußte ausgenutzt werden.

 

8. Kapitel.

Drei Tage später. –

Ein Freitag, – wieder Regen und Sturm und dazu ein Thermometerstand, der gebieterisch einen warmen Ofen forderte.

Die Portierfrau erschien auch bald darauf, schleppte schnell Brennmaterial von ihren eigenen Vorräten die Treppen hinauf und stopfte den Kachelofen im Atelier gehörig voll. Sie liebte den Schriftsteller auf ihre Art, mit einer etwas derben Fürsorge, die Erwin doch stets richtig einschätzte.

Gerade als der Ofen zu bullern begann und die Innentür sich schon gerötet hatte, kam ein Bote des Abschriftenbureaus und brachte die drei Novellen und die umgearbeiteten Romanseiten.

Loßner bezahlte die Rechnung gern, obwohl sein Kassenbestand immer kläglicher zusammenschmolz. Sofort setzte er sich hin, sah die Abschriften durch und fügte die neuen Blätter dem Romanmanuskript bei. In einer Stunde waren die vier Arbeiten durchgesehen und konnten abgeschickt werden.

Doch ihm fehlte es an Bindfaden und einem Pappumschlag. Die Umhüllung, in der der Roman zurückgekommen war, mußte Frau Pollneck in ihrer Ordnungsliebe mitgenommen haben.

So zog er denn den Ulster an und eilte, das Fehlende einzukaufen. Die Flurtür ließ er unverschlossen. Frau Pollneck mußte ja jeden Augenblick mit den Teppichen zurückkommen, die sie heute wie jeden Freitag durchklopfen wollte. Außerdem würde er ja auch in wenigen Minuten wieder da sein.

Ohne Schirm schritt er mit hochgeklapptem Kragen schnell über die Straße und den Hansaplatz. Bald hatte er alles zusammen, was er brauchte. Auch einen neuen Vorrat Papier kaufte er ein. Die arbeitsfrohe Stimmung hielt ja noch immer an, und er wollte heute gleich eine Erzählung beginnen, zu der ihm eine eigenartige Idee gestern abend ganz von selbst zugeflogen war.

Vor seiner Tür wieder angelangt, schüttelte er die Nässe von Mantel und Hut ab und trat dann ein.

Die Portierfrau legte gerade die Teppiche aus und meinte kopfschüttelnd:

„Bei dem Regen ohne Schirm – aber Herr Loßner! Nun habe ich hier eben aufgewischt, und jetzt …“

Erwin unterbrach sie fast rauh. Sein Blick hatte den Schreibtisch gestreift. Die große Schublade war halb herausgezogen, und der Inhalt lag verstreut auf dem Boden.

„Wer hat denn da in meinen Sachen herumgewühlt!“ rief er und musterte argwöhnisch die Portierfrau.

„Na – ich sicher nicht!“ meinte sie mit dem Fuß eine Falte des Teppichs glättend. „Ich habe mich auch genug gewundert, als ich die Bescherung sah.“

Dann blickte sie Erwin ganz erschreckt an.

„Sollte hier ein Dieb rumgekramt haben, Herr Loßner? Eigentlich kann’s ja gar nicht anders sein. Sehen Sie doch mal schnell nach, ob Ihnen was fehlt.“

Der Schriftsteller hob die Papiere, die Kästchen mit allerlei Kleinigkeiten auf und ordnete sie wieder in die Schublade ein.

Kein Zweifel, hier war ein Spitzbube tätig gewesen; seine silberne Zigarettendose, ein Andenken aus seiner Studentenzeit, das Schächtelchen mit den Briefmarken, ein goldenes Armband mit dem Farbenschildchen seiner Verbindung darauf, und eine Blechbüchse mit alten Silbermünzen waren verschwunden.

Dann sah er sich im Zimmer um. Doch da stand noch alles an seinem Platz. – Als er Frau Pollneck dies Ergebnis seiner Prüfung mitteilte, begann sie sofort weinerlich zu jammern:

„Mein Gott, Herr Loßner, nun werden Sie womöglich noch denken, daß ich es gewesen bin. Aber ich kann jeden Eid schwören, und fragen Sie auch …“

Erwin schlug ihr freundschaftlich auf den breiten Rücken.

„Sie sind verdreht! Ihnen würde ich mein ganzes Vermögen anvertrauen!“ sagte er beinahe herzlich.

Vermögen …?! – Das Wort ließ ihn an seine Kasse denken, die in dem oberen Fach des Schreibtisches zusammen mit Hildes Briefen eingeschlossen war. Doch bald hatte er sich überzeugt, daß der Dieb nicht die Zeit gefunden hatte, hier ebenfalls nachzusuchen.

Frau Pollneck erging sich jetzt in allerlei Vermutungen, wer sich wohl hier eingeschlichen haben konnte.

„Bodenlos frech ist der Kerl gewesen!“ meinte sie empört.

„Ärgern Sie sich nicht,“ erwiderte Loßner schon recht gleichgültig. „Der Verlust ist zu verschmerzen. Trotzdem werde ich die Sache natürlich der Polizei melden.“

Er war schon wieder ganz Schriftsteller, dachte an das Einpacken der Manuskripte, die schnell fort sollten.

Auf dem Sofatisch breitete er den Pappbogen aus, legte Siegellack und Bindfaden bereit. Dann ging er die wenigen Schritte zum Schreibtisch, wo in einem der offenen Fächer des Aufsatzes die fertigen Arbeiten in einer Mappe lagen.

Lagen …? – Ja, wo waren sie denn?! – Er wurde unruhig, sein Blick eilte hin und her. Er warf nun die Papiere auf der Schreibtischplatte durcheinander – nichts – nichts.

Wenige Minuten später hatte er die Gewißheit, daß auch die vier Manuskripte gestohlen waren.

Vernichtet sank er in einen Sessel.

Die Portierfrau fragte nun schon zum dritten Mal:

„Fehlt noch was, Herr Loßner?“

Er nickte nur ganz mechanisch.

„So sagen Sie mir doch, was es ist?“ drängte sie, mitleidig sein verzweifeltes Gesicht betrachtend.

„Die Arbeit vieler Wochen,“ erwiderte er dumpf. –

Dann trieb es ihn abermals empor. Wieder begann er das nutzlose Suchen. Und dabei legte er sich immer dieselbe Frage vor:

„Ein gewöhnlicher Dieb wird keine Manuskripte stehlen, – wer also war der Schandbube?“

Seines Bruders Gesicht tauchte vor ihm auf. Es war wie ein Blitz, der das Dunkel erhellte. –

Sofort verwarf er diesen Verdacht jedoch wieder. Nein –einer solchen Gemeinheit war Max wohl doch nicht fähig. Erwin wollte daran nicht glauben, wies diese Gedanken fast gewaltsam von sich. Aber in einem Winkel seines Gehirns setzten sie sich doch fest und lauerten dort, bereit, ihn jeden Augenblick wieder zu überfallen. –

Er rannte zur nächsten Polizeiwache, brachte überstürzt sein Anliegen vor. Die Beamten ließen sich aus ihrer Ruhe jedoch nicht herausbringen. Man würde sofort einen Kriminalbeamten schicken. Er möge nur vorausgehen.

Erwin aß heute nichts zu Mittag. Er ging wie im Dämmerzustand umher.

Dann kam eine große Mattigkeit über ihn. Er warf sich auf den Diwan und schlief ein. Als er erwachte, war es bereits dunkel. –

Es dauerte lange, ehe er sich in die Wirklichkeit zurückfand. Er hatte von Hilde geträumt, von der rauschenden See, den weißen Dünen. Sie hatten Hand in Hand dagesessen als Mann und Frau, glücklich und sorgenlos wie die Kinder.

Und nun das langsame Sichbewußtwerden, daß dieses Glück nur ein lockendes Spiel seines von allen Fesseln logischen Denkens befreiten Gehirns gewesen sei und daß das neidische Schicksal ihm die Geliebte gerade heute ferner denn je entrückt habe. –

Stumpf wie ein Schwerkranker erhob er sich, schaltete das Licht des Kronleuchters ein und schaute nach der Uhr. – Gleich sechs war’s. Dann wurde ihm bewußt, daß Hilde seit Tagen nicht mehr geschrieben hatte, seit jenem letzten, so verzweifelten Brief, den er sofort ausführlich beantwortet hatte.

Er ging in den Treppenflur hinaus und sah im Briefkasten nach. – Endlich …! Es waren ihre großen Buchstaben und auch der ganz zarte Duft von Veilchen, der allen ihren Briefen entströmte.

Heute hatte er Eile ihre Zeilen zu lesen, hoffte, daß es dann lichter in seinem Innern werden würde.

Vier Seiten waren’s, vier Seiten voller Tränenspuren. Und der Inhalt …?!

Loßner las und las. Das konnte ja nicht sein … Las wieder und begriff langsam. –

Ein Abschiedsbrief … Sie gab ihn frei – für immer …!

„Montag nachmittags hat Papa mich beinahe geschlagen. Und in seiner Wut schrie er mir ins Gesicht, daß er sehr wohl wisse, wer mir im Kopf stecke. Meyerhof hat erfahren, daß wir in Brösen mehrmals zusammen waren, und er hat’s Papa hinterbracht. –

Ich kann Dir die Szene nicht beschreiben, die sich zwischen uns abspielte. Papa drohte, er würde zu Dir gehen und … Dich durchpeitschen. „Und wenn er mich zum Duell fordert, knalle ich diesen … nieder.“ –

Ich sah, es war ihm ernst mit dieser Drohung. –

Da habe ich alles eingestanden und habe alles versprochen, was er und Agathe von mir verlangten. Nur Dich sollten sie in Ruhe lassen! –

Ich mußte mich zu Bett legen, so krank fühlte ich mich. Mittwoch schickte ich dann Auguste nach der Post, damit sie Deinen Brief abholte. –

Liebster, ich danke Dir dafür, danke Dir umso mehr, als Du mir unabsichtlich durch Deine Zeilen die Augen geöffnet hast. Ich sehe jetzt ein, daß für einen Schriftsteller, der sich einen Namen machen will, eine Liebe wie die unsrige, aussichtslos fast und mit schweren Kämpfen verknüpft, ein Hemmschuh ist. Ahnungslos, daß ich die tiefere Bedeutung doch begreifen würde, schreibst Du mir ja, „Du seiest mit Deiner Arbeit jetzt unzufrieden, eine Zeit der Erschlaffung Deiner schöpferischen Phantasie sei eingetreten, und dies bereite Dir Sorgen …“ …

Ich gebe Dich frei, Liebster, ganz frei. Es ist ein schweres Opfer! Aber gerade weil ich Dich so über alles liebe, darfst Du durch mich nicht zugrunde gehen! Meyerhof hat Papa auch erzählt, daß in den Danziger Rechtsanwaltskreisen mit Bestimmtheit davon gesprochen werde, Justizrat Faber werde Dir seine Tochter zur Frau geben. Oh – Agathe suchte durch so raffinierte Mittel Dich schlecht zu machen. Ich habe auch nicht einen Augenblick den Glauben an Dich verloren – nicht einen Augenblick! Nur eingesehen habe ich, daß ich auch in diesem Punkte zwischen Dir und einer sorgenlosen Zukunft stehe …

Scheibe nicht mehr an mich. Wenn Du diesen Brief erhälst, habe ich Langfuhr bereits heimlich verlassen. Ich werde Meyerhof nie heiraten. Ich verabscheue ihn. Denke an mich wie an eine liebe Tote und … werde glücklich! …“ – – –

Zwei Stunden später, gegen acht Uhr, kam der dürre Kandidat den Bruder besuchen.

Erwin saß noch auf demselben Platz, hatte sich kaum gerührt. Hildes Brief lag auf dem Teppich vor ihm.

Jetzt mußte er sich zusammennehmen, sich aufrütteln.

Max Loßner erzählte, daß das ganze Haus schon von dem Diebstahl wisse. Er drückte Erwin fest die Hand und sprach ihm sein Bedauern aus, – alles in einer Art und Weise, daß der Ältere sich tief beschämt fühlte. Max fand heute wirklich Töne, die aus dem Herzen kamen. Beinahe war der Schriftsteller ihm dankbar, daß er ihn sofort aufgesucht hatte – beinahe. Lieber hätte er diese Stunde ja der Erinnerung an Hilde geweiht.

Max gab sich redliche Mühe, ihn durch ernsten Zuspruch etwas aufzurichten. Dabei trank er fast die ganze Likörflasche aus und rauchte ein halbes Dutzend Zigarren.

Dann brach er auf. –

Erwin Loßner aber nahm das Medaillon, das er an einer Seidenschnur auf der Brust trug, hervor und versenkte sich in den Anblick des kleinen Bildes, sprach mit Hilde leise, als ob sie bei ihm sei …

„Ich weiß, wo ich dich finden kann … Bei den Inspektorsleuten in Dirschau … – Wie heißen sie doch? – Richtig – Wichert, – so war’s! Gleich morgen komme ich zu dir, meine kleine Madonna, gleich morgen …!“

Und dieser Plan stimmte ihn fast froh …

 

9. Kapitel.

Aber er fand sie nicht. Mit der Überzeugung, daß er sie anderswo suchen müsse, fuhr er wieder ab. Dies und eine Verringerung seiner Kasse um beinahe zwanzig Mark waren die einzigen Erfolge dieser Reise.

Tage vergingen nun, in denen Loßner seine Wohnung kaum verließ. Er arbeitete nichts, brütete meist nur vor sich hin oder lief, gehetzt von seiner Sehnsucht, wie ein gefangenes Raubtier in dem Atelier auf und ab. –

Eigentlich hatte er erwartet, daß der Rittmeister zu ihm kommen und ihn zur Rede stellen würde. Er freute sich auf diesen Augenblick. Wenn noch niemand Herrn v. Marow die ungeschminkte Wahrheit ins Gesicht gesagt hatte, – er wollte es tun. –

Doch nichts geschah. –

Dann dachte er an die Köchin von Rittmeisters. Vielleicht wußte die, wo Hilde geblieben war. Er steckte sich hinter Frau Pollneck, erzählte ihr sein Herzeleid.

Die brave Alte blickte ihn traurig an.

„Die Auguste, – lieber Herr Loßner, die kann Ihnen auch nicht helfen. Ich weiß es ja schon ein paar Tage, aber ich wollte nicht reden, wo ich nicht gefragt war. Die Auguste ist am Donnerstag entlassen worden, und Montag war der große Krach bei Marows. Sie hat auch keine Ahnung, wo Fräulein Hilde ist. Ich habe nämlich an Auguste geschrieben.“

Also auch diese kleine Hoffnung zerrann in ein Nichts. –

Inzwischen war auch der Justizrat ein Mal bei ihm gewesen. Er hatte Erwin sehr verändert gefunden, – blaß, magerer und still. Von dem Diebstahl der Manuskripte erfuhr er erst bei Gelegenheit dieses Besuches etwas, tröstete seinen jungen Freund so gut er konnte und bat ihn dringend, abends zu ihnen zu kommen. Man würde ihn schon wieder aufheitern. Aber Loßner lehnte herzlich dankend ab. Und um Faber seinen wirklichen Gemütszustand zu verheimlichen, zwang er sich zu einem Lächeln und meinte:

„Laß mir noch ein paar Tage Zeit. Dann bin ich wieder der Alte und komme vielleicht häufiger zu euch, als euch lieb ist.“ – –

Die Tage schlichen hin. Langsam legte sich bei Erwin die dumpfe Verzweiflung, wandelte sich in eine milde Trauer.

Dann kam der Tag, wo er sein letztes Zehnmarkstück wechselte. Vergeblich hatte er gehofft, daß inzwischen diese oder jene Redaktion eine von den kleinen Erstlingsarbeiten annehmen würde, die er nun schon an die dritte und vierte Stelle geschickt hatte, wobei seine Honorarforderung stets bescheidener geworden war. Alle diese Anfängerversuche kehrten getreulich stets wieder zu ihm zurück. Da steckte er sie schließlich in den Ofen. Wozu sollte er weiter das Porto an sie verschwenden!

Von seinem Großvater hatte er eine goldene Uhr nebst Kette geerbt. Beides wanderte aufs Leihamt. Hundert Mark erhielt er dafür. Nun wagte er es wieder einmal sich satt zu essen, speiste im Bahnhofsrestaurant, wo der Oberkellner ihn hocherfreut begrüßte und fragte, ob er denn verreist gewesen sei. Er bejahte mit einem eigentümlichen Lächeln. –

In einer Anwandlung von Leichtsinn trank er sogar eine halbe Flasche Rotwein. Ein Zufall wollte es, daß der Justizrat gerade einen reichen Mandanten, einen Majoratsbesitzer, zur Bahn brachte und ihn derart „schlemmen“ sah. Faber nickte ihm freundlich zu und kam auch nachher einen Augenblick an seinen Tisch, machte ihm Vorwürfe, daß er jetzt wie ein Einsiedler lebe und erklärte kurz, er würde ihn abends abholen und mit sich nach Hause nehmen. –

Die geringe Menge Alkohol hatte Wunder gewirkt. Als Loßner nach Hause kam, packte er die fünf neu entstandenen Skizzen und Novellen kurz entschlossen ein und schickte sie an das „Universum“ ab. Dabei fiel ihm ein, daß er eigentlich doch verpflichtet sei, der Redaktion mitzuteilen, aus welchen Gründen er ihr den Roman nicht wieder einsenden könne. So schrieb er denn einen besonderen Brief, schilderte den Sachverhalt und fügte hinzu, daß er die Hoffnung endgültig aufgegeben habe, je wieder in den Besitz seiner ersten großen Arbeit zurückzugelangen. –

Nachdem er dann eine Stunde geschlafen hatte, setzte er sich wie-der an den Schreibtisch. Hildes kleines Bild lag wie immer vor ihm. Zum erstenmal seit langer Zeit fühlte er heute etwas von der früheren begeisterten Schaffensfreude in sich. In dunklen Umrissen hatte ihm schon ein paar Tage lang die Idee zu einem neuen Roman vorgeschwebt. Jetzt plötzlich traten diese Umrisse scharf hervor, er sah die einzelnen Gestalten in greifbarer Deutlichkeit an sich vorüberwandeln, sah sie kämpfen, leiden, hassen und lieben, griff zur Feder und schrieb auf einen neuen Bogen mit kühnem Schwung als Titel darauf: „Die Insel der Erkenntnis“.

Als Faber um halb acht Uhr bei ihm eintraf, saß er noch am Schreibtisch. Eilig wusch er sich dann die Hände, bürstete das Haar glatt und ging in sein Wohnzimmer zurück, wo der Justizrat auf ihn wartete. –

Frau Faber empfing ihn etwas kühl. Sie war offenbar verletzt, weil er sich so lange bei ihnen nicht hatte sehen lassen. Er entschuldigte sich nochmals und in so herzlicher Weise, daß sie ihm die Hand reichte und sagte:

„Schon gut …! Sie sind eben einer von den wenigen Menschen, denen man gar nicht böse sein kann.“ – So wurde das alte freundschaftliche Verhältnis zwischen ihnen wieder hergestellt. –

Aus Irmas Benehmen wurde Loßner nicht recht klug. Sie war scheu, wich seinen Blicken aus und schien ihre frühere Lebhaftigkeit ganz verloren zu haben. Bei Tisch mischte sie sich kaum in die Unterhaltung. Nur als man über den so tief bedauerten Verlust des Romans sprach, sagte sie zu Erwin mit bewegter Stimme:

„Sie dürfen noch nicht alle Hoffnung aufgeben, Herr Loßner. Wie wär’s, wenn Sie einmal in den hiesigen Zeitungen eine Anzeige einrückten und eine Belohnung dem zusicherten, der Ihnen die Arbeiten wieder verschafft. Sie könnten ja auch dem Diebe versprechen, daß Sie ihn nicht anzeigen wollen. Vielleicht hätte dieses Mittel Erfolg.“

Faber war ganz begeistert von diesem Vorschlag.

„Irma, Mädel, – die Sache wäre zu überlegen, besonders was die Höhe der Belohnung anbetrifft. Dreihundert Mark müssen es mindestens sein!“

Doch Loßner schüttelte den Kopf.

„Bedenke folgendes, lieber Faber, wenn der Dieb eine Ahnung von dem Wert der Manuskripte gehabt hätte, so würde er sie mir sicherlich zum Kauf angeboten haben. Für ihn sind sie ja nichts als Makulatur. Veröffentlichen kann er sie nirgends, ohne sich der Gefahr aufzusetzen, daß man dann auf ihn als den Täter aufmerksam würde. Er hat aber nichts von sich hören lassen, mithin dürfte er die verräterischen Manuskripte längst vernichtet haben.“

Gegen dreiviertel elf Uhr verabschiedete Erwin sich. Daheim angelangt, machte er es sich bequem, um dann noch zu arbeiten. Jetzt erst sah er, – was ihm in der Hast des Aufbruchs entgangen war, daß er Hildes offenes Medaillon auf dem Schreibtisch hatte liegen lassen. Mithin konnte es sehr gut möglich sein, daß Faber das Bildchen, als Erwin im Schlafzimmer seine Hände wusch, sich angesehen hatte. Loßner wäre dies nicht gerade angenehm gewesen. Von seinen Herzensangelegenheiten sollte niemand etwas erfahren. – –

Inzwischen war der November mit leichtem Frost und Schneefall angerückt. Wieder ein Freitag – vor diesem Wochenende hatte Loßner jetzt beinahe eine abergläubische Scheu! – aber ein Freitag mit hellem Sonnenglanz, der die in der Nacht frischgefallene Schneedecke draußen noch leuchtender erscheinen ließ. –

So fand Erwin die Welt heute vor, als er erwachte. Damals an jenem Unglücksfreitag, an dem der Roman gestohlen wurde und nachher Hildes Abschiedsbrief eintraf, da hatte es geregnet und gestürmt, und der Himmel war grau und düster gewesen ohne einen einzigen helleren Fleck.

Loßner hatte länger geschlafen als gewöhnlich. Schnell kleidete er sich halb an, heizte selbst den Ofen im Wohnzimmer und beendete dann seine Toilette. Inzwischen war auch der Kaffee fertiggeworden. Ehe er sich jedoch zum Frühstück niedersetzte, ging er noch und schaute in den Briefkasten. Ein Brief vom „Universum“ war darin. Hastig riß er den Umschlag auf.

„Wir bedauern außerordentlich, daß Ihnen das Mißgeschick mit dem Roman widerfahren ist. –

Ihre uns am 29. Oktober zur Prüfung vorgelegten fünf kleinen Arbeiten haben wir angenommen. Das Honorar im Betrage von zweihundertundzehn Mark geht Ihnen mit gleicher Post zu. –

Ihre Zustimmung vorausgesetzt, werden wir die fünf Arbeiten als Ganzes unter dem Titel „Die das Leid kennen …“ veröffentlichen. –

Ihren nächsten Roman nehmen wir gern zur Prüfung entgegen.“

Es fehlte nicht viel, und Loßner hätte Frau Pollneck, die eben eintrat, mit einem lauten „Hurra!“ begrüßt.

Die wackere Alte, die weit mehr Gemüt besaß als ein großer Teil der sogenannten Gebildeten, sah es Erwin sofort an, daß ihm dieser Morgen etwas Frohes gebracht hatte.

 

10. Kapitel.

Um elf Uhr fand sich der Geldbriefträger ein. Kaum war er gegangen, als Loßner auf der Treppe draußen das Poltern hastiger Schritte hörte. Schnell schloß er das Geld weg. Da klopfte es auch schon.

Auf sein „Herein“ erfolgte nichts. Er rief nochmals, ging dann zur Tür und schaute hinaus. Drei Knaben standen mit verlegenen Gesichtern vor ihm.

„Na, meine kleinen Herren, – Sie wünschen?“ fragte Loßner freundlich.

Einer stieß den anderen an. Dann gab der Älteste sich einen Ruck und platzte heraus:

„Wir sind die Söhne von Generaldirektor Weiß.“

„Ich kenne euch, Jungens. – Aber bitte – hereinspaziert! Ich nehme an, daß ihr mir von meinem Bruder eine Bestellung auszurichten habt.“

Schüchtern traten die Knaben näher, und Erwin drückte die Tür hinter ihnen ins Schloß.

„So, – nun mal raus mit der Sprache! Was gibt’s denn?“ meinte er vertraulich.

Wieder bekam der Älteste zur Aufmunterung ein paar Rippenstöße. Schließlich griff er in seine Beinkleidtasche und holte ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt hervor, breitete es auseinander und zeigte mit dem Finger auf eine auffällige Anzeige.

„Deswegen kommen wir,“ sagte er zaghaft.

Loßner nahm erstaunt das Blatt in die Hand und überflog die Annonce.

300 Mark Belohnung!

Derjenige, der aus dem Hause Hansaplatz Nr. 4 aus dem Atelier die graue Mappe mit Inhalt am … Oktober dieses Jahres mitgenommen hat, wird gebeten, sich unter untenstehender Chiffre zu melden. Unannehmlichkeiten entstehen für ihn nicht daraus. Bei Rückgabe der Mappe erhält er obige Belohnung, ebenso wie der, der die Rückgabe der Mappe auf irgend eine Weise durchsetzt.-

Meldungen unter C. L. F. 100 an die Expedition der Zeitung.

Loßner starrte ungläubig auf diese Annonce hin. Dann dachte er sofort an Irma Faber. Nur sie konnte die Anzeige eingerückt haben, nur sie …! Wieder bewies sie ihm so, welch’ lebhaftes Interesse sie für ihn hatte.

„Ihr wißt also, daß ich es bin, dem die Mappe gestohlen worden ist,“ begann er, dem Ältesten freundlich zunickend. „Es war ein schwerer Verlust für mich.“

Die drei Brüder starrten ihn ernst und mitleidig an. Dann platzte der Älteste heraus:

„Wir haben die Mappe mit Ihren Arbeiten darin gestern gesehen, Herr Loßner. Und da haben wir uns verabredet, heute vormittag zu Ihnen zu gehen, weil doch Ihr Bruder“ – durch dieses eine, letzte Wort zitterte es wie tiefer Haß – „jetzt auf der Stadtbibliothek ist und erst Mittags zurückkommt.“

Erwin glaubte zu träumen.

„Ihr – ihr habt meine Mappe gesehen? Wo denn, wo?!“

„In dem Koffer des Herrn Kandidaten liegt sie – ganz zu unterst.“

„Erzählt – Jungens, erzählt!“ rief er mit bewegter Stimme. –

Nun kam alles an den Tag. Aus dem zunächst etwas unklaren Bericht des Ältesten ging folgendes hervor:

An jenem Freitag Morgen war Max Loßner während der Unterrichtsstunde nach dem Boden gegangen, um sich aus seiner dort aufgestellten Bücherkiste ein Geschichtswerk zu holen. Er hatte sich hierzu, da es auf dem Bodengang stets zog und er um seine Gesundheit sehr besorgt war, seine Lodenpelerine umgelegt. Als er wieder zurückkam, traf er im Flur der Weißschen Wohnung mit dem jüngsten Knaben zusammen, schrie diesen sofort grob an, wie er dazu käme, sich aus dem Unterrichtszimmer zu entfernen. Später auf der Straße hatten die Brüder das merkwürdige Benehmen ihres Peinigers unter sich besprochen, und dabei erwähnte der Jüngste noch, der Kandidaten habe im Flur ängstlich eine graue, große Mappe unter seinem Umhang zu versteckten gesucht, während er das dicke Geschichtswerk offen in der Hand trug. Mit der Mappe war er dann in seinem Zimmer verschwunden und betrat erst nach einer Weile den Raum, der als Schulstube hergerichtet war. –

Die Knaben hatten den Vorfall bald vergessen und dachten auch an nichts Arges, als im ganzen Hause von dem Diebstahl bei dem Schriftsteller gesprochen wurde. Sie wußten, daß ein Roman mitverschwunden war, stellten sich aber darunter ein gedrucktes Buch vor. Erst als der Älteste, ein eifriger Briefmarkensammler, dann vor zwei Tagen in der Zeitung nach der Adresse einer Markenhandlung suchte und dabei auf die ins Auge fallende Annonce stieß, in der eine graue Mappe erwähnt war, tauchte in ihm der Verdacht auf, ihr verhaßter Quälgeist könne vielleicht der Dieb sein. Gestern nun hatte Max Loßner, als er nachmittags spazieren ging, aus Versehen einmal seinen Kofferschlüssel stecken lassen, und diese Gelegenheit war denn auch von den Knaben sofort benutzt worden.

So entdeckten sie die graue Mappe, die, in eine Zeitung eingeschlagen, unter der Leibwäsche ganz unten lag. –

Loßner drückte jedem der Jungen dankbar die Hand, gab ihnen noch genaue Verhaltungsmaßregeln und schickte sie dann fort. – –

Als der Kandidat um halb ein Uhr zurückkehrte, sagte ihm der Weißsche Diener, er möchte zu dem Herrn Generaldirektor in dessen Arbeitszimmer kommen. Er würde schon erwartet.

In dem Zimmer des Hausherrn befanden sich zu des Kandidaten Überraschung noch Erwin und ein Fremder. Der Generaldirektor beachtete Max kaum und sagte nur scharfen Tones:

„Sie werden hören, was jener Herr dort von Ihnen wünscht. Im übrigen sind Sie sofort entlassen. Sie räumen noch heute Ihr Zimmer.“

Max Loßner wurde bleich. Scheu blickte er zu Boden. Er ahnte, daß sein falsches Spiel entdeckt war.

Der Fremde hatte inzwischen bereits zu sprechen begonnen.

„Ich bin der Kriminalwachtmeister Müller. Hier meine Legitimation. Sie haben Ihrem Bruder am … Oktober dieses Jahres verschiedene Gegenstände entwendet, darunter einen Roman und drei Novellen in Maschinenschrift. Die Sachen haben Sie in Ihrem Zimmer verborgen. Ihr Bruder will nun von der Stellung eines Strafantrags gegen Sie als Verwandten Abstand nehmen, wenn Sie freiwillig Ihre Schuld eingestehen und die Gegenstände herausgeben. – Wollen Sie dies tun?“

Max nickte nur. Sein Gesicht war vor ohnmächtiger Wut verzerrt. Doch er wagte nicht eine Silbe zu sagen.

Fünf Minuten später eilte Erwin mit den Schätzen fest an die Brust gedrückt die Treppe zu seiner Wohnung empor. Und wieder eine Viertelstunde später verließ Max Loßner mit seinem Koffer und der Bücherkiste das Haus Hansaplatz Nr. 4 auf Nimmerwiedersehen. –

Noch an demselben Tage ging der wiedergefundene Roman als Eilgutpaket an das „Universum“ ab. Auch die drei Novellen schickte er an drei Zeitschriften ein, die nicht allzu anspruchsvoll waren, da er zu diesen Arbeiten doch kein volles Vertrauen hatte. Und gegen Abend suchte er dann den Justizrat in dessen Bureau auf, berichtete ihm freudestrahlend die Ereignisse des Vormittags, ließ aber die Frage offen, durch wen die Annonce eingerückt war, die soviel Segen gestiftet hatte. –

Am Sonntag morgen traf ein Brief aus Berent ein – von dem Professor.

Neugierig, aber doch mit der leisen Vorahnung einer unangenehmen Nachricht, konnte er nur verwundert den Kopf schütteln. Wie war etwas Derartiges nur möglich …! War das wirklich Leichtgläubigkeit oder absichtliches Nichteinsehenwollen?!

Der Professor schrieb – ohne Anrede:

„Für Dein Verhalten Deinem Bruder gegenüber finde ich keinen passenden Ausdruck. Du bist nicht wert, den Namen Loßner zu führen – vielleicht es nie wert gewesen! Als Max, dieser strebsame, fleißige Mensch, damals die Manuskripte verschwinden ließ, tat er es lediglich in der besten Absicht. Er wollte verhüten, daß unter unserem Namen ein sogenannter Roman veröffentlicht wurde, der Stellen enthielt, die mit ihrer freien Schilderung des Liebeslebens und der Vorgänge in einem Krankenhause jeder Moral ins Gesicht schlugen und zeigen mußten, daß der Verfasser ein leichtfertiger, schlecht erzogener und in seinen ganzen Anschauungen tief gesunkener Mensch sei. Vor der Schmach, als der Vater dieses Verfassers bekannt zu werden, suchte Max mich zu schützen. Wenn er Dir diese Gründe des scheinbaren Diebstahls, der sich somit als eine aus wahrer Kindesliebe entsprungene Tat erweist, nicht mitgeteilt hat, als Du es wagtest, ihn sogar einem Kriminalbeamten gegenüberzustellen, so geschah dies aus einem Gefühl des Stolzes heraus, das ich vollkommen begreife. –

Ich wünsche nicht, daß Du je wieder den Versuch machst, Dich uns zu nähern. –

Professor Heinrich Loßner.“

Erwin steckte den Brief nicht in den Ofen, wie er erst beabsichtigte, sondern in seine Brieftasche. Vielleicht war es doch besser, derartige Dokumente über die Familienverhältnisse aufzubewahren. – –

Dienstag morgen kam ein Schreiben der Redaktion des „Universum“ an. Ihm lag ein Verlagsvertrag bei, den Loßner unterschrieben zurücksenden sollte, falls er mit den Bedingungen einverstanden war.

Und ob er einverstanden war …!! Achttausend Mark bot ihm das „Universum“ für seine Arbeit mit allen Rechten, wobei er dann noch für jedes verkaufte Exemplar der späteren Buchausgaben fünfzig Pfennig erhalten sollte. –

Er unterschrieb den Vertrag, machte sich zum Ausgehen fertig und eilte nach dem Landgericht, wo der Justizrat vormittags stets anzutreffen war.

Faber saß gerade im Anwaltszimmer und verzehrte sein Frühstück. Als er Loßner erblickte, eilte er ihm entgegen, und dann gingen sie in dem langen Flur auf und ab und tauschten gegenseitig die Neuigkeiten aus.

Nachdem Loßner den Justizrat auch den Brief seines Vaters zu lesen gegeben hatte – zunächst wurde natürlich das Thema „Roman“ und „Achttausend Mark“ eingehend und herzlich behandelt –, zog Faber seinen jungen Freund in eine stille Fensternische und begann, indem er gleichfalls einen Brief aus der Brusttasche nahm:

„Hier – lies bitte! Dieses Schreiben dürfte dir noch besseren Aufschluß darüber geben, wie du mit deinem Vater daran bist.“

Loßner ahnte nicht im entferntesten, welch’ neue Überraschung ihm bevorstand.

Das Schreiben trug oben in der linken Ecke einen Stempel

„Justizrat Naroschin, Berent, Westpr.

Rechtsanwalt und Notar“

und lautete:

„Verehrter Kollege! Auf Ihre Anfrage vom … d.M. teile ich Ihnen mit, daß die von mir in der Sache Loßner eingezogenen Erkundigungen einen vollen Erfolg gehabt haben. Professor Loßner hat das Vermögen seiner Frau im Betrage von fünfundneunzigtausend Mark seiner Zeit durch Vermittlung des hiesigen Getreidehändlers Kohn in vierprozentiger preußischer Staatsanleihe angelegt und dürfte die Staatspapiere in seinem Schrankfach der Norddeutschen Kreditanstalt in Danzig aufbewahren. Seine Behauptung, die verstorbene Gattin habe den größten Teil ihres von einer Tante ererbten Kapitals verspekuliert, ist unwahr. Da kein Testament der Frau Loßner vorhanden ist, gilt die gesetzliche Erbregelung, nach der dem Schriftsteller Erwin Loßner nach Abzug der Studienkosten zum mindesten noch zweiundzwanzigtausend Mark zustehen dürften. –

mit kolleg. Gruß

Ihr Naroschin.“

Als Erwin die Hand mit dem Brief jetzt sinken ließ, lachte ihn der Justizrat vergnügt an.

„Siehst du – so bin auch ich heimlich für dich tätig gewesen. Du wärest ein Tor, wenn du jetzt nicht sofort die Regelung der Erbschaftsangelegenheit fordern würdest. Gib mir Vollmacht, und du brauchst dich um nichts zu kümmern. Zweiundzwanzigtausend Mark sind kein Pappenstiel, mein lieber Erwin, besonders wenn man dadurch das Fundament zu einem eigenen Heim legen kann.“

Faber zwinkerte dem überrascht aufschauenden Freunde vielsagend zu.

„Ja – eigenes Heim – mit allem Drum und Dran – mit einer reizenden, geliebten Frau, deren Bild ein alter verknöcherter Jurist letztens auf deinem Schreibtisch liegen sah, wodurch ihm vieles klar wurde. – Brauchst nicht verlegen zu werden! Du siehst ja nun, wie auch ich das Meinige versuche, um aus euch ein Paar zu machen. Im übrigen rate ich dir – geh’ mal heute, am besten jetzt gleich, zu uns und laß dir von Irma so einiges berichten. Ich habe mir gestern das Mädel mal ordentlich ins Gebet genommen, und da hat sie eingestanden, daß sie die Anzeige eingerückt hat und daß … Doch – laß es dir selbst von ihr erzählen.“

Er drückte ihm nochmals kräftig die Hand und eilte dann ins Anwaltszimmer zurück, während die schwarze Robe ihm wie ein Paar Fledermausflügel umflatterte.

 

11. Kapitel.

Irma und der junge Schriftsteller saßen sich in dem kleinen Damenzimmer gegenüber.

„Also Papa schickt Sie zu mir, Herr Loßner?“ fragte sie nochmals, indem ihre Finger unruhig sich ineinanderschlangen und wieder lösten.

„Ja, Fräulein Irma. Er machte mir gegenüber Andeutungen, die mir völlig unverständlich sind. Sie sollten mir etwas erzählen, – doch sicher etwas Wichtiges.“

In des jungen Mädchens Gesicht wechselten Röte und Blässe.

„Papa straft mich hart. Ich hätte Ihnen das alles gern geschrieben. Aber er verbot es mir.“ –

Sie sprach ganz leise und stets mit gesenktem Blick.

„Ja – aber um was handelt es sich denn in aller Welt?!“ meinte Loßner, indem er ihre Hand ergriff und leise drückte. „Wir sind doch stets gute Freunde gewesen, Fräulein Irma, und einem Freunde gegenüber sollte einem die Zunge leicht sein.“

Da schaute sie ihn offen an. In ihren Mienen war ein fester Entschluß zu lesen. Und schnell begann sie:

„Als wir kaum aus Borkum zurückgekehrt waren, erzählte mir eine Freundin, daß Sie sich häufiger in Brösen mit Fräulein Hilde v. Marow getroffen hätten. Dann waren wir einmal im Ratskeller mit Alfred Meyerhof zusammen. Ich wußte, daß er sich um Hilde bewarb, und auch, daß der Rittmeister nichts sehnlicher als das Zustandekommen dieser Ehe wünschte. Da nun habe ich Meyerhof gesagt, weswegen er so wenig Aussichten bei Fräulein v. Marow habe und nannte Ihren Namen, Herr Loßner, als den des begünstigten Bewerbers.“

Ihre Blicke irrten schon wieder über das Muster des Teppichs hin.

„Das war schlecht von mir – bodenlos schlecht,“ fuhr sie mit zitternder Stimme fort. „Aber die Reue kam bald – sehr bald. Und um an Ihnen gutzumachen, was ich durch meine Zuträgerei angerichtet hatte, zergrübelte ich mir den Kopf, wie man Ihnen den Roman wieder beschaffen könne. Deshalb setzte ich auch die Anzeige ein, als Sie selbst sich davon nichts versprachen. –

Noch mehr, ich habe Meyerhof auch dazu bestimmt – er hält mich ja für seine Verbündete! – mir zu sagen, wo Hilde v. Marow sich befindet. Vorgestern hat er’s mir verraten. Hilde ist damals zu ihrem Onkel, dem Geheimrat Grafen Sarfeld, geflüchtet, – nach Berlin, und dort hat man sie, nachdem sie dem Bruder ihrer Mutter all die Quallen gebeichtet hatte, die sie daheim erdulden mußte, liebreich aufgenommen. Der Graf schrieb dann sofort an den Rittmeister, daß er das Kind seiner Schwester bei sich behalten werde. Nunmehr scheint der Rittmeister denn auch endlich eingesehen zu haben, daß aus dieser Heirat nie etwas werden kann. Er hat zum ersten Januar die Verwaltung des Gutes eines reichen Bekannten übernommen, während die älteste Tochter ebenfalls notgedrungen – den Marows sollen von den Gläubigern fast sämtliche Möbel verkauf worden sein – eine Stelle als Gesellschafterin in Stettin annimmt.“

Irma schwieg. Scheu blickte sie jetzt auf Loßner, der dicht vor ihr saß und ganz geistesabwesend an ihr vorbeischaute.

Hilde in Berlin …! Eigentlich hatte er von alldem, was Irma sagte, nur dies eine richtig begriffen …: – in Berlin …! –

Dann nahm er sich zusammen. Er war ja nicht allein … Von der Zukunft konnte er ja noch nachher genug träumen, wenn der Schnellzug ihn nach der Reichshauptstadt trug … Erwin Loßner erhob sich und streckte dem jungen Mädchen beide Hände hin.

„Ich danke Ihnen, Fräulein Irma, so recht innig aus übervollem Herzen! Bleiben Sie meine Freundin, und – werden Sie später auch Hilde eine liebe Gefährtin!“

Er fühlte, wie ihre Finger in den seinen bebten, sah die Qual ihres Herzens in ihren zuckenden Mienen, den in Tränen schwimmenden Augen.

Schnell verabschiedete er sich. Kaum hatte er den kleinen Salon verlassen, als Irma sich aufschluchzend in den nächsten Sessel fallen ließ …

* * *

Am nächsten Mittag klingelte Erwin Loßner an der Flurtür des Geheimen Oberregierungsrates a.D. von Sarfeld, dessen Wohnung er aus dem Berliner Adreßbuch leicht erfahren hatte.

Dem öffnenden Mädchen gab er seine Karte und wurde dann in einen etwas altmodisch eingerichteten Salon geführt. Gleich darauf trat der Graf ein, eine stattliche Erscheinung mit weißem Vollbart und jener ruhigen und doch liebenswürdigen Vornehmheit, die den wahren Aristokraten auszeichnet.

Er begrüßte den Besucher durch eine Verbeugung und wies mit einladender Handbewegung auf einen der Sessel.

Erwin, der in dem tadellos sitzenden Frack eine vorzügliche Figur machte, war nicht im geringsten befangen und hielt sich nicht lange bei der Einleitung auf, sondern schilderte kurz, aber mit warmen Worten die Geschichte seiner Liebe zu Hilde und erwähnte zum Schluß, daß der jetzt durchaus so gestellt sei, sich einen eigenen Herd zu gründen.

„Ich weiß nun allerdings nicht,“ fuhr er fort, „wie ich es möglich machen soll, von Hildes Vater die Einwilligung zu unserer Eheschließung zu erreichen. Ich fürchte, er wird sich hartnäckig weigern.“

Da unterbrach ihn der Geheimrat mit einer beruhigenden Handbewegung.

„Das lassen Sie meine Sorge sein, Herr Loßner. Er wird einwilligen. Im übrigen – Ihren Herzensroman kannte ich schon von Hilde. Und es freut mich von ganzem Herzen, daß Sie in der Lage sind, mein liebes Nichtchen bald zum Traualtar zu führen. Sie hat sich unaussprechlich nach Ihnen gesehnt, blieb aber ihrem Vorsatz getreu und ließ nichts von sich hören. –

„Ich darf ihm den Weg zum Erfolg nicht versperren,“ sagte sie zu mir so und so oft, wenn ich sie mit verweinten Augen antraf und ihr riet, wenigstens ein Mal an Sie zu schreiben, damit es ihr leichter ums Herz würde. –

Sie ist mit meiner Frau spazieren gegangen, muß aber bald zurück-kehren.“ –

Und Hilde kam – ganz ahnungslos. Onkel Sarfeld ging den Damen in den Flur entgegen, nahm Hilde bei der Hand und führte sie zur Salontür.

„Geh mal hinein – vielleicht freust du dich ein wenig …,“ sagte er und schob sie sanft durch die Tür.

„Hilde …!!“ – Den jubelnden Ruf hörte der Graf noch. Die Augen wurden ihm feucht. Er gönnte dem lieben Geschöpfchen dieses Glück wahrhaftig, obwohl er selbst drei unversorgte Töchter hatte. –

In dem altmodischen Salon aber hielten zwei sich umschlungen, küßten sich wie Verschmachtete, lachten und weinten, schauten sich immer wieder an und stammelten Zärtlichkeiten, wie nur eine solche Stunde reinster Seligkeit sie über die Lippen treibt …

* * *

Am 30. Januar, kaum neun Wochen später, fand dann bei dem Geheimrat eine stille Hochzeitsfeier und Haustrauung statt. Und mit dem Nachtzuge reiste das junge Paar noch an demselben Abend nach Danzig, dem neuen Heim – dem gemeinsamen Heim entgegen, denn neu war es ja nicht.

Hilde hatte von einer anderen Wohnung nichts wissen wollen.

„Mag’s in dem Atelier auch noch so eng sein – wenigstens eine Zeitlang will ich dort, in derselben Umgebung, wo wir uns fanden, wo wir die ersten Zärtlichkeiten tauschten, weilen …“

So hatte Hilde gebeten, und Erwin stimmte sofort zu. Fühlte er doch, welch’ zartem Erinnern an die Zeit ihres Liebesfrühlings dieser Wunsch entsprang. – –

Um sieben Uhr morgens war der Zug in Danzig, und ein Taxameter brachte das junge Paar dann nach Hansaplatz Nr. 4.

Frau Pollneck hatte wieder einmal gezeigt, wieviel sie für Erwin Loßner übrig hatte. Die Treppen waren mit Blumen bestreut, die Ateliertür bekränzt, und darüber hing ein großes Transparentschild, hinter dem drei Lichte brannten und die roten Buchstaben des „Glück und Segen!“ ordentlich leuchten ließen.

Und neben der geschmückten Tür hatten sich Auguste, die frühere Köchin des Rittmeisters, und die Portiersleute mit Blumensträußen in den Händen aufgebaut, und als Hilde und Erwin nun etwas atemlos um die Treppenbiegung kamen, da schallte ihnen aus drei ehrlichen Kehlen ein „Herzlich willkommen!“ entgegen. –

Dann waren sie allein …

Der gedeckte Kaffeetisch, die Blumen darauf, die dampfende Kanne – alles fand erst später Beachtung …

Erwin Loßner hielt sein Weib umschlungen, küßte ihr die Tränen des Glücks weg und flüsterte …:

„Kleine, liebe Madonna – nun habe ich doch gesiegt!“ – –

* * *

Das „Glück unterm Dach“ ist nie kleiner geworden, auch dann nicht, als Loßners längst zwei Treppen tiefer in die Fünfzimmerwohnung übergesiedelt waren.

 

Druck: P. Lehmanm G. m. b. H., Berlin.