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Das Orakel der Mockstraße

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

 

Band 272

 

Das Orakel der Mockstraße.

 

Roman von

Walther Kabel.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin S. 14.
Dresdenerstraße 88–89.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.

 

1. Kapitel.

Die aufregende Neuigkeit des Feldherrnviertels.

Winfried Dallmer lachte aus vollem Halse.

„Kinder – hat die Welt je solchen Blödsinn gehört! Und nun gibt sich ein sonst leidlich vernünftiger Mensch noch dazu her, derartige Dinge weiterzuerzählen …!!“

„Danke verbindlichst für diese Einschätzung meiner Person,“ meinte Horst Merkel, indem er sich ein wenig nach dem Kunstmaler hin verbeugte.

„Bitte – gern geschehen! – Ihr Gelehrten habt ja alle so einen kleinen Sparren. Und der deinige ist sogar verhältnismäßig bescheiden ausgefallen, lieber Horst, – Tatsache!“

Der dritte, der in Doktor Merkels Bude sich soeben erst eingefunden hatte, war bisher kaum recht dem Gespräch zwischen seinen beiden Freunden gefolgt, da er die Abendzeitung geradezu gierig überflog, wo er – eine ziemlich überschwengliche Hoffnung! – einen Bericht über sein am Stadttheater in Elbing neuaufgeführtes Lustspiel zu finden hoffte.

Jetzt warf er das Blatt bei Seite, sog kräftig an seiner Zigarette und sagte aus einer Wolke blauen Rauches heraus:

„Ich möchte nun auch gern wissen, worum es sich handelt. Einzelnes von eurer Unterhaltung ist mir ja zum Bewußtsein gekommen. Sprecht ihr etwa über jene schönen Zeiten im alten Griechenland, wo die geistig so hoch stehenden Helenen – und die Römer machten’s nicht besser! – sich aus dem Fluge der Vögel, den Eingeweiden von Tieren, dem verschiedenartigen Klang eines Beckens und aus dem Munde eines steinernen Götzenbildes die Zukunft deuten ließen? – Die braven Leutchen glaubten an diese Orakel, und damit bewiesen sie leider nur zu gut, daß ihre Geistesbildung in mancher Beziehung doch noch recht lückenhaft war. – Ihr ließt da hin und wieder die Worte „Weissagung“, „Orakel“, „Zukunftsdeuterei“ und ähnliches fallen. Also – was war nun eigentlich der Gegenstand eurer Unterhaltung?“

Der Kunstmaler Dallmer, ein reichlich nachlässig gekleideter Mann von vielleicht fünfunddreißig Jahren, lachte wieder so herzlich, als gelte es, einem selbsterfundenen Witz die nötige Anerkennung zu zollen. Das war aber auch seine einzige Antwort auf des Bühnendichters neugierige Frage.

Da erbarmte der „leidlich vernünftige“ Doktor Merkel, seines Zeichens Philosoph, zur Zeit aber aus Geldknappheit Privatlehrer von geistig etwas zurückgebliebenen Schülern bei zwei Mark Bezahlung für die Stunde, sich des armen, enttäuschten Lustspieldichters und erklärte:

„Wir sprachen von dem Orakel der Mockstraße, lieber Nicki. Ein ganz spannendes Histörchen, – – trotz Dallmers Hohngelächter.“

Winfried Dallmer strich sich mit den gespreizten Fingern durch den reichlich langen Schmuck seines edlen Hauptes und warf trocken hin:

„Besonders spannend, da Merkel die glänzende Fähigkeit besitzt, selbst der Schilderung eines achtzehnfachen Raubmordes oder dergleichen Ungeheuerlichkeiten durch tropfenweise, mit philosophischen Bemerkungen gespickte Verabreichung der Geschehnisse auch den letzten Rest von nervenprickelndem Reiz zu nehmen. So recht klug bin ich daher aus der Sache auch noch nicht geworden.“

„Das ist für uns alle drei nur angenehm,“ meinte Nikolaus Malnor, der „vergebliche“ Bühnenschriftsteller, indem er sich eine frische Zigarette anzündete. „Dann kann unser gelehrtes Huhn sein spannendes Ei ja nochmals von frischem legen. Schieß’ los, Horstchen, – wir harren der Dinge, die da kommen sollen, in Ungeduld. Ich witterte schon förmlich den Stoff für ein Kinodrama …“

„Du witterst immer was, Nicki – leider,“ brummte der Maler. „Meist witterst du aber vorbei. Mit deinem Lustspiel „Engelsfüßchen“ war’s auch wieder nichts – nicht mal in Elbing, das zwar durch die Schichauwerft berühmt geworden ist, vielleicht auch durch den Elbinger Käse, sich im übrigen aber zum Promenierort wenig eignet, da es doch für solche Zwecke zu klein ist.“

Nikolaus Malnor machte eine großartig Handbewegung.

„Die Elbinger sind eben an „Engelsfüßchen“ mit ihren zarten, stimmungsvollen Schrittchen nicht mehr gewöhnt, da ihnen tagein tagaus nur das Dröhnen und Hämmern der Schichau-Werkstätten in die Ohren gellt.“

„Hm – ganz fein gesagt!“ lobte Dallmer. „Aber, Doktorchen, nun hast du das Wort für das Orakel der Mockstraße.“

Horst Merkel, eine recht ansprechende Erscheinung strich unsicher die Tischdecke glatt und meinte zögernd:

„Kinder, ihr veralbert mich nachher ja doch nur. Es war vielleicht nicht recht von mir, daß ich mich dazu bewegen ließ, ebenfalls hinzugehen und mir von dem Wunderschrank …“

„Sagte ich’s nicht!!“ unterbrach der Maler ihn mit scheinbarem Grimm. „Sagte ich’s nicht! Da ist er schon wieder mit beiden Beinen in den Mittelpunkt der Sache hineingehopft, anstatt hübsch eins nach dem andern zu berichten. So geht das nicht länger! Ich werde also fragen. –

Von wem erfuhrst du zuerst etwas von dem Rätselding von Schrank? Und wann war das?“

„Vor vier Tagen von meiner Aufwärterin.“

„So – also das hätten wir glücklich. – Was erzählte die Aufwartefrau dir?“

„Nun – sie meinte, ich solle doch mal den Ebenholzschrank fragen gehen, ob der mir nicht einen Verleger für mein philosophisches Werk, das bisher alle Verlagsanstalten leider abgelehnt haben, nennen könne. Die Matullat ist nämlich eine sehr mitleidige Seele. Als sie gerade hier im Wohnzimmers Staub wischte, brachte mir der Briefträger wieder mal meine Arbeit, diese Frucht dreijähriger, anstrengenster Tätigkeit, zurück.“

„Gut – erledigt,“ sagte der Kunstmaler kurz. „Als die Matullat dir diesen Vorschlag machte, fragtest du natürlich, was der Ebenholzschrank denn eigentlich für ein orakelspendendes Ding und wo und wie er zu finden sei – nicht wahr?“

Der Doktor nickte.

„Ja, das brave Weiblein war sogar sehr froh, daß sie ihre Neuigkeiten auspacken konnte. Sie erzählte etwa folgendes: – Seit zwei Monaten wohnt in der Mockstraße, die ja auch zu dem sogenannten Feldherrnviertel gehört, eine alleinstehende, ältere Dame, die aus der deutschen Kolonie Kiautschau zugezogen und die Witwe eines dort verstorbenen Teeplantagenbesitzers ist. In Nummer 13 der genannten Straße mietete sie eine Vierzimmerwohnung im Vorderhause, lebte mit ihrer Gesellschaftsdame ganz zurückgezogen, bewies ihr mitleidiges Herz sehr bald durch unauffällige Gaben an allerlei Bedürftige, die sie sich von dem Armenvorsteher des Viertels nennen ließ, und trug dabei ihr eigenes Gebrechen, – sie ist taubstumm, mit seltsamer Geduld und Würde. Die Dame heißt Bansing, und die Gesellschafterin, die ein Engel an Schönheit ist, hört auf den weit poetischeren Namen Isa von Rosenburg. Dieses junge Mädchen nun vermittelt den Verkehr zwischen Frau Bansing und den Notleidenden. Innerhalb von vierzehn Tagen hatte es sich unter den Bewohnern des Feldherrnviertels bereits so ziemlich herumgesprochen, daß Mockstraße 13 eine stille Wohltäterin hause, an die niemand, der wirklich Not litt, sich vergeblich wende. –

Ich muß nun hier den Inhalt eines Gespräches einschalten, das nach Ablauf dieser ersten zwei Wochen zwischen Fräulein von Rosenburg und der Hausbesorgersfrau Mockstraße 13, die eine gute Freundin meiner Matullat ist, stattfand. Die schöne Isa ist trotz ihres Adels und ihrer vornehmen Erscheinung nämlich keineswegs hochmütig. Im Gegenteil, durch ihre bescheidene Liebenswürdigkeit hat sie sich in kurzem die Zuneigung der meisten Hausbewohner von Nr. 13 erworben.

Frau Fritzke, so heißt die Hausbesorgerin, bat nun eines Vormittags die Gesellschafterin, die gerade sich nach etwas erkundigen kam, sie möchte doch für sie aus dem Losevorrat einer Händlerin, die zufällig bei der Fritzke zu derselben Zeit angeklopft hatte, ein Los ziehen, da „man schließlich auch mal für das Rote Kreuz bei den guten Gewinnaussichten ein Dreimarkstück springen lassen könne“, wie die Fritzke erklärte. –

Aber die Rosenburg lehnte ab. Sie habe kein Glück. Besser sei es, wenn die Hausbesorgerin sich an Frau Bansing wende. Die besitze ein Mittel, um einem Glückszufall so etwas die Wege zu ebnen. –

Ich will die weiteren Einzelheiten übergehen. Jedenfalls nahm die Sache nun folgenden Verlauf: Die Fritzke und die Losehändlerin begaben sich, nachdem Fräulein von Rosenburg Frau Bansings Einwilligung eingeholt hatte, in deren Wohnung hinüber, wo die Hausbesorgerin in ein recht eigentümlich ausgestattetes Zimmer geführt wurde. Dieses will ich nachher näher beschreiben. In dem Raum stand in der Mitte ein schmaler, hoher Ebenholzschrank mit reichen, eingelegten Elfenbeinverzierungen. Frau Bansing, die mit der Hausbesorgerin den Raum allein betreten hatte und die stets einen Papierblock und Bleistift bei sich trägt, stellte die Fritzke einige Schritte vor dem geöffneten, völlig leeren Schranke auf, kritzelte dann ein paar Worte auf einen Zettel und gab diesen der Hausbesorgerin. Zu deren leicht begreiflichen Erstaunen hatte Frau Bansing geschrieben, sie solle den Schrank bitten, ihr die Nummer eines Glücksloses zu nennen. Die Fritzke wurde aus der Geschichte nicht klug. Und wieder schrieb da die alte, taubstumme Dame auf einen Zettel auf, daß die Hausbesorgerin ohne Scheu den Schrank anreden solle, der schon Antwort geben würde. Mit leisem abergläubischen Angstgefühl tat diese es dann auch. Und – siehe da – der Schrank konnte wirklich sprechen. Eine feine, wohllautende Stimme tönte aus seinem leeren Innern heraus und riet der Fritzke, von Frau Bansing ein Los ziehen zu lassen und dieses unbesehen ihr auch bis nach der Ziehung zur Aufbewahrung zu übergeben.

Daß die Hausbesorgerin durch den sprechenden Schrank ganz außer Fassung gebracht wurde, ist leicht begreiflich. Ohne recht zu wissen, was sie tat, zahlte sie nachher im Nebenzimmer an die Losehändlerin drei Mark und überließ Frau Bansing alles weitere. Sechs Tage später war die Ziehung, und zwei Tage nach der Ziehung zeigte Fräulein von Rosenbaum der Fritzke in einer Zeitung, in der die größeren Gewinne der Rot Kreuz Lotterie veröffentlicht waren, eine Nummer, auf die fünfhundert Mark herausgekommen waren, auch gleichzeitig ein Los, das dieselbe Nummer trug. Mit einem Wort, die Hausbesorgerin hatte wirklich gewonnen, und der Rat des Ebenholzschrankes war mehr als vorteilhaft gewesen.

Die Sache sprach sich noch schneller herum, als vorher die Kunde von der Wohltätigkeit der alten, weißhaarigen Dame. Gerade eine Hausbesorgerin ist ja die geeignete Persönlichkeit, derartige Neuigkeiten zu vertreiben. Kurz und gut – heute redet unser ganzes Viertel von dem Orakel in der Mockstraße, und Frau Bansing soll sich kaum mehr vor Besuchern retten können, die dem Ebenholzschränkchen ein Anliegen vortragen wollen.“

Doktor Merkel machte eine kleine Pause und strich sich etwas verlegen über das blonde Bärtchen.

Nikolaus Malnor, der Bühnenschriftsteller, dessen Magerkeit ihn durchaus als Reklamestück für irgend ein „Antikorpulenzmittel“ geeignet erscheinen ließ, hatte schon vorher deutliche Anzeichen von Ungeduld gezeigt, aus denen man schließen konnte, wie gerne er selbst nun einmal zu Wort kommen wollte. Jetzt platzte er auch sofort hastig heraus:

„Daß die Sache diesen Verlauf nehmen würde, war vorauszusehen. Gerade hier im Berliner Westen, wo wenig wirklich vornehme, dafür aber desto mehr vornehm sein wollende, reiche Leute wohnen, mußte es so kommen. Diese übersättigten Genußmenschen hier, diese feisten Geldsäcke und ihr weiblicher Anhang haschte ja nach jeder außergewöhnlichen Zerstreuung, um sich mal einen besonderen Nervenkitzel zu verschaffen. Ich könnte unzählige Beispiele für die Verbohrtheit und den beschränkten Geist dieser „Gebildeten“ anführen. Kein Wunder also, daß diese neue Abart von Kartenlegerinnen Bombenerfolg haben mußte. Jedenfalls ist die Idee mit dem Schränkchen ganz eigenartig. Natürlich ist das Ding nur scheinbar leer und wird eine doppelte Rückwand haben, hinter der ein Helfershelfer der wohltätigen Frau Bansing steckt, und ebenso natürlich wird diese edle Dame sehr gut auf ihre Kosten kommen. Umsonst ist bekanntlich nicht mal der Tod, und die Bansing dürfte recht ansehnliche Sümmchen einheimsen. Es muß jedenfalls eine außerordentlich gewitzte, kluge und menschenkundige Person sein. Erst macht sie durch ihre Mildtätigkeit von sich reden, dann wird die Losgeschichte in Szene gesetzt, die gleich eine erstklassige Reklame bildet. Na – ich fürchte nur, lange wird das Schränkchen nicht den Propheten spielen können. Die Polizei ist verdammt scharf hinter diesem Wahrsagergelichter her, seit durch diese Schwindler schon manches Unheil angerichtete worden ist.“

Doktor Merkel hatte, während Malnor diese Sätze hervorsprudelte, wiederholt die Hand wie abwehrend erhoben und auch des öfteren kräftig den Kopf geschüttelt.

„Du befindest dich arg auf dem Holzwege, lieber Nicki,“ meinte er jetzt lebhaft. „So ein sonnenklarer Schwindel, wie du denkst, steckt doch nicht hinter dieser Neuerscheinung auf dem Gebiete der Wahrsagekunst, ebensowenig wie in dem Ebenholzschrank eine Person steckt. Weiter, du irrst dich in der Annahme, daß die Bansing Bezahlung nimmt. Im Gegenteil. Es ist erwiesen, daß sie sehr beleidigt ist, wenn jemand ihr Geld anbietet. Ich weiß das aus einer ganz zuverlässigen Quelle, von dem Vorstand unseres Polizeireviers, dem Polizeileutnant Grundner, der der alten Dame recht ernstlich auf den Zahn gefühlt hat, aber keinerlei Grund zum Einschreiten fand. Im Gegenteil, auch er erklärte mir gegenüber sehr zögernd, er wisse nicht, was er von der Sache halten solle. –

Doch mir scheint es angebrachter, euch weitere Einzelheiten mitzuteilen, damit ihr euch selbst ein Urteil bilden könnt.“

 

2. Kapitel.

Doktor Merkel und der sprechende Schrank.

Die eben wiedergegebene Unterredung hatte an einem warmen Juniabenden in dem Arbeitszimmer des Privatlehrers stattgefunden, der trotz seiner ständigen Notlage noch immer die Hoffnung hegte, einmal als Dozent sich an einer Universität niederlassen zu können und später ein großes Licht unter den modernen Philosophen zu werden.

Horst Merkel hatte im Gartenhause der Radetzkistraße eine Zweizimmerwohnung inne, die er mit den von seinen Eltern ererbten Möbeln ganz gefällig eingerichtet hatte. Die drei Freunde waren heute bei dem Doktor nach längerer Trennung wieder zusammengekommen, da Dallmer mehrere Wochen lang einem reichen Gutsbesitzer in Pommern das neuerbaute Herrenhaus mit allerlei künstlerischen Wand- und Deckenbildern ausgeschmückt und Nicki Malnor in Elbing die Proben zu seinem letzten Lustspiel „Engelsfüßchen“ geleitet hatte.

Die drei saßen um den großen Mitteltisch herum. Jeder hatte sich dabei nach seinem Geschmack eine Sitzgelegenheit gewählt. Der dicke Kunstmaler war in seinem alten, hohen Korbstuhl halb versunken und rauchte aus einer kurzen Holzpfeife einen Knaster, dessen Duft im Verein mit Nicki Malnors unzähligen, bereits in Rauch und Asche verwandelten Zigaretten eine Luftmischung ergab, wie sie in einer Hamburger Schifferskneipe kaum schlechter sein kann. Der Bühnendichter thronte auf einem hohen Kontorschemel ohne Lehne, hatte die Beine ganz an den Leib gezogen und sah mit seinem mageren, verkniffenen und ganz glatt rasierten Gesicht wie ein böser, auf einem Baumstumpf hockender Zwerg aus. Der Besitzer der kleinen Behausung selbst hatte sich in einen roten, schon etwas verschossenen Plüschsessel niedergelassen und bemühte sich, in dieser etwas tiefen und allzu nachgiebigen Polsterung eine gerade Haltung zu bewahren, da er es nicht liebte, eine nachlässige Stellung einzunehmen, sei es wo es sei, was durchaus seinem ein ganz klein wenig pedantischen Gelehrtencharakter entsprach.

Doktor Merkel bewirtete seine Gäste mit hellem Bier, von dem schon eine ganze Anzahl leerer Flaschen auf dem Tisch stand. Nachdem er jetzt mit seinen letzten Worten den Freunden weitere spannende Einzelheiten zugesagt hatte, versorgte er die Gläser erst wieder mit frischem Stoff, bevor er nach einem kräftigen Zutrunk fortfuhr:

„Den zweiten Fall, in dem der sprechende Schrank sich vorzüglich bewährte und geradezu glänzende Wahrsagefähigkeiten verriet, erzählte mir ebenfalls meine Aufwartefrau, die brave Matullaten, die in dieser Beziehung durchaus Vertrauen verdient, obwohl sie mitunter ihre Neigung für Übertreibungen nicht ganz unterdrücken kann. Nachdem ihre Busenfreundin, die Fritzke, durch den Ebenholzschrank bare 497 Mark – nein, 497,70 Mark, da das Los 3,30 kostet, eingeheimst hatte, trieb das Verlangen, über eine bestimmte Angelegenheit für sie sehr wichtige Aufschlüsse zu erhalten, sie eines schönen Tages nach kurzem ängstlichen Zaudern gleichfalls zu der alten Dame hin, bei der sie sich durch die Fritzke anmelden ließ. Ihr ging es genau so wie dieser. Sie wurde in das merkwürdige Zimmer geführt, vor das Schränkchen gestellt und begann dann, wie sie selbst zugibt, mit angstzitternder Stimme das Orakel zu fragen, ob ihr Mann, der sie vor sechs Jahren verlassen und von dem sie seit fünfeinhalb Jahren keinerlei Nachricht mehr erhalten hatte, noch am Leben sei. Der Schrank erwiderte mit derselben feinen, wohlklingenden Stimme, – so, als wenn ein Engel spricht, erklärte die Matullat mir, daß der Verschollene unter dem Namen Matull in Stettin auf der Vulkanwerft arbeitete und wohl noch munter sei. –

Meine Aufwärterin, die dem Gatten seiner Zeit durch ihre Herrschsucht und Launen – Beweise von beidem lieferte sie am Anfang ihrer Tätigkeit in meiner Wohnung auch mir! – wohl das Dasein recht erheblich verbittert und ihn schließlich beinahe zur Flucht gezwungen haben mag, fiel bei dieser Eröffnung bald auf den Rücken. Bereits am nächsten Morgen fuhr sie dann nach Stettin und …“

Hier machte Merkel absichtlich eine Kunstpause, um die Erwartung seiner Zuhörer noch zu steigern. Ehe er jedoch den Schlußsatz hinzufügen konnte, sagte Dallmer schon gelassen:

„… und fand dort tatsächlich den armen Teufel von ausgerissenem Ehemann nach langer, schmerzlicher Trennung endlich wieder, zog ihn an ihr vor Freude laut pochendes Herz, gelobte Besserung und bewog den zu seinem endlosen Schmerz Wiedereingefangenen, zu ihr nach Berlin zurückzukehren.“

Horst Merkel beugte sich mit einem Ruck höchst überrascht weit vor.

„Ja, woher weißt du denn das alles, Dallmer? So hast du also doch schon von der Geschichte etwas gehört, nicht wahr?“

„Blech! Keine Silbe bis heute Abend. Bis Moabit ist der Ruhm der alten, edlen Dame mit dem Wunderschrank doch noch nicht gedrungen. Und wenn ich soeben deine Mitteilungen in diesem Punkte richtig zu Ende geführt habe, so liegt es lediglich daran, daß ich mir als klardenkender Mensch sagte, die Auskunft des Schränkchens mußte natürlich richtig sein, da dieses bei einer faustdicken Lüge inbetreff des jetzt zur Strecke gebrachten, durchgebrannten Ehemannes seinen ganzen, eben erst durch das Gewissenlos begründeten Ruf aufs Spiel gesetzt hätte. Und dazu sind die Bansings und ihre Helfershelfer doch zu schlau, so weit ich sie nach dem bisher Gehörten beurteilen kann.“

Doktor Merkel nickte zustimmend.

„Was du da eben von „Ruf aufs Spiel setzen“ sagtest, gibt eine genügende Erklärung für deine Kenntnis der tatsächlichen Ereignisse. Zwischen der Matullat und ihrem Herrn Gemahl kam wirklich alles so, wie du eben in deiner altbewährten Spötterart ausführtest. Der Verschwundene ist wieder in Berlin, und weder er, noch seine Xanthippe, weder Frau Fritzke noch ich und das ganze Feldherrnviertel können ergründen, wie das Schränkchen so blitzschnell den Aufenthaltsort August Matulls alias Matullats angeben konnte. Jedenfalls müßt ihr beide nun wohl eingestehen, daß die Sache tatsächlich einen recht geheimnisvollen Reiz hat. Ich habe selbstredend nicht versäumt, meine Aufwärterin bei Gelegenheit der Schilderung dieser ihrer ersten Erfahrung mit dem Schränkchen zu fragen, ob etwa die Bansing oder Fräulein von Rosenburg durch die Fritzke vorher von dem Ehepech der Matullaten unterrichtet worden waren, so daß sie vielleicht Zeit gefunden hätten, nach dem flüchtigen Manne Nachforschungen anzustellen. Nun – es ist bestimmt wahr, daß die Fritzke nie Veranlassung gehabt hat, ihre Busenfreundin den beiden Damen gegenüber zu erwähnen, so daß also von heimlichen, vorher erfolgten Erkundigungen keine Rede sein kann. –

Daß dieser neue Beweis für die seltsame Begabung eines toten, aber sprechenden Gegenstandes den Ruhm dieser noch vermehrte und die Geschichte des Glücksloses hiergegen etwas verblaßte, brauche ich wohl kaum zu erwähnen. Ich habe dann auch noch von einigen weiteren Fällen durch … hm – ja … durch eine bekannte Dame …“

„… junge Dame,“ setzte der Maler hinzu, indem er den Doktor listig angrinste.

„Nun gut, also durch eine junge Dame Kenntnis erhalten, in denen der Schrank gleichfalls Erstaunliches geleistet hat. In anderen Fällen soll das Orakel wieder so unklar gewesen sein, wie dies die Kartenlegerinnen auch meist recht geschickt zu tun pflegen. Wieder andere Damen erhielten auf ihre Fragen überhaupt keine Antwort. Und die Fritzke hat meiner Aufwärterin auch erzählt, daß nicht weniger als fünf Personen an einem Tage sich von dem Schränkchen Glücksnummern aller mögliche Lotterien nennen lassen wollten, daß aber das Orakel hier stets erwiderte, die Zeit für einen Lotteriegewinn sei für die demütig um einen Haupttreffer Bittenden noch nicht gekommen. So gab es also auch Enttäuschte unter der Schar der Gläubigen. Doch in keinem Falle waren, sobald das Orakel sich hören ließ, die erteilte Auskunft geradezu falsch. –

Ich möchte nun noch auf die Erfahrung des Polizeileutnants Grundner kurz eingehen, bevor ich selbst mein Abenteuer mit dem Schränkchen euch berichte. Grundner erfuhr, wie schon damals gesagt, sehr bald von den merkwürdigen Vorgängen in der Wohnung der alten Dame gerade genug, um zu der Ansicht zu kommen, sich näher mit der Sache beschäftigen zu müssen. Da von einem Gewerbe, das die Bansing mit dem Schränkchen vielleicht trieb, keine Rede war, weil sie die Annahme von Geld oder Geschenken schroff ablehnte, da ferner ihre offene Hand für die Armen von allen Seiten hoch gerühmt wurde, ergab sich für den Beamten keinerlei Grund zum Einschreiten. Um aber das Wunderschränkchen trotzdem kennen zu lernen, ging der Polizeileutnant eines Tages in Zivil zu der Bansing, wurde wie jeder Besucher zunächst von Fräulein von Rosenburg empfangen und trug sein Anliegen, daß er gern etwas über seinen während des Aufstandes in Südwestafrika verschollenen Bruder erfahren hätte, vor und wurde dann auch wirklich von Frau Bansing in das Allerheiligste vor das Schränkchen geführt. Hier erlebte er jedoch eine derartige Überraschung, daß er nachher wie ein begossener Pudel abziehen mußte. Kaum hatte er nämlich seine Frage an den Ebenholzschrank gerichtet, als dieser auch schon ohne Zögern antwortete, und dieses Mal in scharfem, erregtem Ton, daß er, Polizeileutnant Grundner, überhaupt keinen Bruder besitze, der je in den Kolonien gewesen sei, daß sein Bruder Franz vielmehr in Köln als Buchhalter in einer Fabrik tätig sei. –

Der Beamte hat mir dies recht genau mitgeteilt und mir auch geschildert, wie er, ganz sprachlos vor Staunen und vollkommen verwirrt, wieder davongegangen sei. Keiner der Besucher der alten Dame wird ja vorher irgendwie nach Namen oder Beruf gefragt, so daß es wohl begreiflich erscheint, wenn Grundner geradezu bestürzt die Wohnung der Bansing verließ. Er hat mir hinterher erzählt, daß die Sache, so lächerlich sie auch sei, doch auf ihn großen Eindruck gemacht habe und daß er leicht begreifen könne, wie weniger kritisch veranlagte Naturen, besonders die leicht zum Aberglauben neigende Frauenwelt, durch die ganze Aufmachung des merkwürdigen Orakels völlig den Eindruck gewinnen müßten, es hier mit etwas Übernatürlichem zu tun zu haben. –

Soweit der Polizeileutnant. Nun zu mir selbst. Als mir damals die Matullat, die mich sehr in ihr Xantippeherz eingeschlossen hat, den Vorschlag machte, mich an das Schränkchen betreffs Unterbringung meiner wissenschaftlichen Arbeit zu wenden, lehnte ich ein solches Ansinnen natürlich kurz hat, indem ich erklärte, zu solchen Albernheiten gäbe ich mich nicht her. Dann aber hörte ich sowohl von jener jungen Dame …“

„… die sicherlich Hella Burgstädt heißt,“ schaltete Winfried Dallmer mit einem spöttischen Lächeln ein.

„Nun ja, also ich hörte von Fräulein Burgstädt und von Grundner soviel Seltsames über das Schränkchen, daß ich kurz entschlossen eines Nachmittags – es ist vier Tage her – nach der Mockstraße 13 ging. Wenn ich nun auch keineswegs hoffte, daß das Schränkchen mir helfen und mir einen willfährigen Verleger namhaft machen würde, so wollte ich mich doch mit eigenen Augen überzeugen, wie auf mich das Orakel wirke. –

Fräulein von Rosenburg öffnete mir. Ich war überrascht von soviel Liebreiz und Schönheit, wie ich sie hier in einer Person vereinigt sah. Stellt euch eine schlanke Blondine von geradezu junonischer Gestalt vor mit ein Paar weichen, dunklen Rätselaugen unter einer von schlicht getragenem reichem Haar gekrönten Stirn, dazu eine edelgeformte Nase und ein paar wundervollen, rote Lippen, und eine Stimme, die einen leicht müden, seltsam anziehenden Klang hat, kurz eine Erscheinung, die jeden sofort in Bann schlagen muß. Das ist Isa von Rosenburg, die alles andere nur nicht den Eindruck macht, als ob sie sich zur Helfershelferin einer gewöhnlichen Betrügerin hergeben könnte.“

Der Maler räusperte sich jetzt sehr vernehmlich und meinte:

„Hm – hm –, was wird nur Fräulein Burgstädt zu dieser begeisterten Schilderung jener blonden Isa sagen, mein lieber Horst?! Hast du deiner … Seelenfreundin auch in dieser Art von der Rosenburg erzählt …?!“

Des Doktors Gesicht war von der über dem Tisch hängenden Gaslampe so hell beschienen, daß man deutlich sah, wie eine lebhafte Röte es überflutete, gleichzeitig aber auch seine hohe, kluge Stirn sich in ärgerliche Falten legte.

„Ich möchte dich doch wirklich bitten, Dallmer, mit etwas mehr Achtung von Fräulein Burgstädt zu sprechen,“ sagte er leicht gereizt. „Du weißt sehr wohl, daß die junge Dame verlobt ist und daß unsere Beziehungen rein freundschaftlich sind.“

Da mischte sich auch Nicki Malnor ein.

„Kinder, laßt doch die Weiber aus dem Spiel. Ich sitze hier wie auf Nadeln und habe nur den einen Wunsch, möglichst bald Horsts Abenteuer mit dem weissagenden Schränkchen zu hören, und ihr vertrödelt die kostbare Zeit mit Nebensächlichem. Für mich ist ja Merkels Erlebnis mehr als nur eine bloße spannende Neuigkeit, ist eine Brotfrage sozusagen, da in meinem Hirn schon der erste Akt eines großartigen Filmdramas mit dem Titel „Das Wunderschränkchen“ oder „Das geheimnisvolle Orakel“ fix und fertig ist.“

Horst Merkel nahm seinen Bericht nach dieser Unterbrechung wieder auf.

„Fräulein von Rosenburg führte mich also zunächst in einen sehr geschmackvoll eingerichteten Raum, bat mich Platz zu nehmen und fragte nach meinem Anliegen. Ich erklärte, ich hätte schon soviel von dem Wunderschranke gehört, daß ich gern auch einmal mein Glück bei ihm versuchen wolle. Als ich mich als höflicher Mensch der jungen Dame vorstellen wollte, wehrte sie ab, indem sie mir ins Wort fiel und sagte, es sei hier nicht Sitte, daß die Besucher ihre Namen nannten. Dann verschwand sie, und nach einigen Minuten trat Frau Bansing selbst ein. Sie ist eine achtungsgebietende Erscheinung, hat volles, weißes Haar, eine noch recht frische Haut und ein Paar Augen in denen sich ein reges Innenleben widerspiegelt. Sie begrüßte mich durch ein freundliches Kopfnicken und winkte mir dann ihr zu folgen. Aus dem Empfangszimmer geht eine Doppeltür in das Allerheiligste. Dieses ist ein langgestreckter Raum, der eigentlich wohl als Speisezimmer dienen soll. Kaum war ich eingetreten, als mein Blick auch sofort neugierig alles das umfaßte, was sich Merkwürdiges meinen Augen darbot. –

Zunächst die Beleuchtung. Vor den beiden Fenstern hingen dichte Vorhänge, die jeden Lichtstrahl von außen abschlossen. Sie waren aus schwerer chinesischer Seide und zeigten dicke Stickereien, die einen Kampf zwischen phantastischen Drachen darstellten. Dicht unter der Decke war eine flache Schale aus violettem Glase angebracht, in der offenbarer ein paar Glühbirnen brannten. So kam es, daß in dem Raum eine lichte, violette Dämmerung von ganz eigenem Reiz herrschte. Ich gebe zu, daß diese Art Beleuchtung äußerst raffiniert gewählt war. Sie hatte etwas Geheimnisvolles an sich und verbreitete eine dem Orte und dem Zwecke angemessene Stimmung. Die Glasschale sah aus wie ein violetter Mond, der von einem dunklen, ausgestirnten Himmel herabstrahlte. Um diesen Eindruck noch zu verstärken, waren die Decke, die Wände und der Boden, kurz alles mit Ausnahme der Fenster, mit dunklem Stoff ausgeschlagen, der leichte Wolkenmuster zeigte. In den helleren Stellen des Gewölbes blitzten hier und da Sterne auf. Diese fehlten lediglich auf dem Bezuge des Fußbodens. So hatte man unwillkürlich das Gefühl, als sei plötzlich alle Erdenschwere von einem genommen und als ob man im unendlichen Weltenraum zwischen zarten Wolkengebilden wandle. Im übrigen befand sich in dem eigenartig herausstaffierten Gemach nichts als der Orakelschrank. Er stand nicht ganz genau unter dem Beleuchtungskörper, sondern ein wenig nach der Rückwand zu. Seine offenen Türen enthüllten dem Eintretenden sofort das leere Innere. Die Höhe des Schrankes schätze ich auf eineinhalb Meter, seine Breite auf ein Meter und die Tiefe auf höchstens vierzig bis fünfzig Zentimeter. –

Frau Bansing hatte ihre Hand leicht auf meinen Arm gelegt und geleitete mich so bis auf drei Schritt vor das Schränkchen, dessen durchbrochene Türen und Seitenteile auch von der Innenseite mit eingelegten Elfenbeinverzierungen, die allerhand Götzen und Drachen darstellten, versehen waren. Ohne Frage hatte ich hier eine sehr alte Arbeit eines chinesischen Kunsttischlers vor mir. –

Absichtlich war ich nicht gerade vor das Schränkchen getreten, sondern etwas zur Seite, um mit den Augen die Tiefe des Orakelschrankes innen sowohl wie außen ausmessen zu können. Davon, daß in dem geheimnisvollen, aus Ebenholz gefertigten und sicher sehr wertvollen Möbel ein Mensch versteckt war, konnte keine Rede sein. Dies stellte ich sehr schnell fest. Inzwischen hatte die alte Dame mir einen Zettel gereicht, auf den sie folgendes in flüchtigen Zügen geschrieben hatte: „Fragen Sie getrost. Aber nur wirklich Wichtiges.“ Dann war sie zurückgetreten und hatte sich links von mir, aber doch gut zwei Schritt hinter mir, an das Fenster gelehnt. –

Die ganzen Umstände waren so merkwürdig, daß ich tatsächlich eine gewisse Scheu empfand, nun auch eine Frage an das Orakel zu richten. Dann aber sagte ich mir, daß dieser ganze Hokuspokus jedem gebildeten Menschen doch eigentlich nur ein vergnügtes Lächeln ablocken dürfte. Da war der Bann gebrochen. Mit vernehmlicher Stimme erklärte ich nun, wie gern ich meine große philosophische Arbeit bei einem Verleger unterbringen möchte und bat um einen Rat, an wen ich mich wenden solle. Nach einer kleinen Weile erklang dann aus dem Schranke heraus eine feine, liebliche Stimme wie die eines heranwachsenden jungen Mädchens, eine Stimme, die sehr deutlich war und doch sanft wie das Wehen eines warmen Frühlingshauches.

„Horst Merkel, der elfte jeden Monats ist dein Glückstag. Vergiß das nicht. Und am elften schreibe an den Verlag Helios in der Werderstraße 19, füge dein Werk bei und warte getrost auf Antwort. Aber befolge meinen Rat genau. Schriftlich verhandle mit dem Verlag, und am elften sende deine Arbeit ab.“

Der elfte – gerade der elfte! – Ihr ahnt ja nicht, wie überrascht ich war. Erst mein Name – woher wußte man den?! – und dann noch dieser Tag, der mir bisher tatsächlich Glück gebracht hat. An einem elften wurde ich als Knabe vom Tode des Ertrinkens wie durch ein Wunder gerettet; nach Jahren rettete ich dann merkwürdigerweise wieder selbst einem Jungen das Leben, auch an einem elften, indem ich ihn kurz vor einem Auto wegriß, selbst aber verletzt wurde. Von dem reichen Vater des Knaben erhielt ich aus Dankbarkeit eine fortlaufende Geldunterstützung, die mir erst die Beendigung meiner Studien ermöglichte. Und so kann ich euch noch verschiedene Fälle nennen, durch die dieser Tag für mein Leben eine Bedeutung gewonnen hat.

Nun war es ausgerechnet der Ebenholzschrank in dem violetten Zimmer, der mich hieran erinnerte. Könnt ihr es mir verdenken, wenn ich abermals das Wehen einer übernatürlichen Macht um mich herum zu fühlen glaubte, wenn ich einen scheuen Blick nach der Frau hinwarf, die hinter mir regungslos ans Fenster lehnte und erhobenen Hauptes starr auf den künstlichen Sternenhimmel schaute, der sich über all diesem Seltsamen wölbte?! –

So kam es dann auch, daß ich meine zweite Frage schon bedeutend zögernder stellte:

„Wird sich mein sehnlichster Wunsch je erfüllen und werde ich es bis zum Lehrer an einer Universität bringen?“

Die Antwort habe ich mir sehr gut gemerkt. Sie lautete folgendermaßen, und rätselvoller konnte kaum die berühmte Pythia in Delphi, das meistbesuchte Orakel des Altertums, sich ausdrücken:

„Kreuze nicht fremde Wege! Das Dunkel bringt dir kein Glück. Gehorche dem, was andere vielleicht verspotten, und du wirst erreichen, was du erstrebst.“

Ich habe nachher umsonst darüber nachgegrübelt, wie ich mir diese Auskunft deuten könnte. Ich fand keine Erklärung. Und doch hätte ich zu gern gewußt, was …“

Der Kunstmaler unterbrach ihn. Aber jetzt war der spöttische Unterton, der stets durch seine Stimme hindurchklang, verschwunden, als er sagte:

„Die Erklärung liegt meines Erachtens sehr nahe. Entschuldige schon, wenn ich jetzt nochmals den Namen Fräulein Burgstädts nenne. Sie ist verlobt, ihr Bräutigam aber seit einem Jahre in Südwestafrika. Und wenn du auch stets von Seelenfreundschaft zwischen euch beiden sprichst, – ich sehe weiter! Du kreuzest also die Wege des Mannes, dem Fräulein Burgstädt später die Hand fürs Leben zu reichen versprochen hat. „Das Dunkel bringt dir kein Glück“ – nun, deine Freundin hat, soweit ich mich erinnere, dunkelbraunes Haar. Schließlich „gehorche dem, was andere vielleicht verspotten“ – das wieder kann nur heißen, du sollst eben dem Orakel der Mockstraße gehorsam sein, das viele für Humbug halten und daher belächeln. –

Ich denke, diese Auslegung des Orakelspruchs ist recht treffend und paßt sich den gegebenen Verhältnissen aufs beste an.“

Horst Merkel saß einen Augenblick ganz regungslos da, dann meinte er unsicher:

„Vielleicht hast du das Richtige getroffen. – Aber ich bin euch noch den Schluß meines Erlebnisses schuldig,“ fügte er hastig hinzu, als ob er eine weitere Erörterung des Orakelspruches verhüten wollte und damit ein näheres Eingehen auf seine Beziehungen zu Hella Burgstädt.

„Hört also. – Wie ich mich dann umwandte, um das violette Zimmer zu verlassen, war Frau Bansing verschwunden. Dafür stand Isa von Rosenburg an ihrer Stelle. Ganz lautlos und sehr schnell hatte dieser Personenwechsel stattgefunden. Die Gesellschafterin führte mich in das Nebenzimmer zurück, und von ihr erfuhr ich auch, woher das Schränkchen stammte. Der Gatte der Frau Bansing hatte es in Asien von einem alten Chinesen erworben. Über dessen geheimnisvolle Eigenschaften ließ Fräulein von Rosenburg sich jedoch nicht weiter aus. Trotzdem verplauderten wir noch gut eine halbe Stunde miteinander, die mir wie im Fluge verging. Schließlich verabschiedete ich mich. Die Eindrücke, die ich aus dem violetten Zimmer mit nach Hause nahm, wirken aber auch heute noch etwas in mir nach. Und … morgen ist der elfte Mai …! Morgen schicke ich mein Werk an den Verlag Helios ab.“

Eine geraume Zeit herrschte jetzt tiefe Stille in dem kleinen behaglichen Zimmer, in dem die drei Freunde schon so oft beieinander gesessen hatten. Es schien, als ob Dallmer und der Bühnendichter nicht recht wußten, was sie zu dem eben Gehörten sagen sollten. Dann gähnte ersterer ein paar Mal sehr laut, erhob sich und meinte:

„Ich bin hundemüde und sehne mich nach meinem Bettlein. Verschieben wir daher die Besprechung des Orakels der Mockstraße auf später.“

Wenige Minuten darauf war Doktor Merkel allein.

 

3. Kapitel.

Winfried Dallmers Argwohn.

Auch Nikolaus Malnor wohnte in Moabit, dem nordwestlichen und zugleich recht alten Viertel der Reichshauptstadt. So schritten denn die beiden ungleichen Freunde, der lange hagere Dichter und der kleine, dicke Kunstmaler, gemeinsam durch die nächtlich stillen Straßen dahin.

Nicki Malnor war es, der dann nach einer Weile sagte:

„Wandern wir hier lieber nicht wie die Ölgötzen stumm nebeneinander her, sondern tauschen wir unsere Gedanken über das aus, was uns doch alle beide rege beschäftigt. – Was hältst du von der Sache?“

„Im allgemeinen oder in bezug auf Merkel?“ fragte der Maler, indem er stehen blieb und über seine frischgestopfte Pfeife ein Streichholz hielt.

„Über beide Punkte möchte ich deine Ansicht hören,“ erwiderte der Lustspieldichter und nahm Dallmer das noch brennende Zündhölzchen ab, um eine Zigarette in Brand zu setzen.

Dann gingen sie weiter in der Richtung auf den Tiergarten zu.

„Schön. Also zunächst im allgemeinen,“ begann der Maler. „Daß diese ganze Geschichte in der Mockstraße 13 zu einem bestimmten Zweck in Szene gesetzt ist und fortgeführt wird, ist sonnenklar. Die Bansing und die Blumenburg, – pardon Rosenburg, dürften ein Paar ganz gefährlich schlaue Weiber sein. Dieser Orakelschwindel ist freilich mit soviel Geschick begründet worden, daß man den Beteiligten so etwas wie Hochachtung zollen muß. Erst geht’s mit der Wohltätigkeit los. Diese schon wird nicht ganz billig geworden sein, da die Bansing doch recht viel Geld hergegeben haben muß, um so schnell im Feldherrnviertel bekannt zu werden. Dann der Trick mit dem Gewinnlose. Erstklassig in seiner Art, ohne Frage. Wie man ihn ausgeführt hat, ist ja gleichgültig. Ist das nötige Geld vorhanden, läßt sich alles machen. Die beiden brauchten ja nur, sagen wir hundert Lose aufzukaufen. Eins davon mußte dann wohl mit Gewinn gezogen werden. Jedenfalls konnte es keine bessere Reklame geben, das betonte ich schon einmal.

Dann ging die Wahrsagerei los – gratis und franko, was man sehr zu beachten hat, da die Polizei sich aus diesem Grunde nicht einmischen konnte. Das violette Zimmer mit der Wolkendekoration ist gleichfalls über jedes Lob erhaben. Ich kann mir so recht vorstellen, wie das alles auf die Besucher wirken muß. –

Nun die einzelnen, hervorstechenden Fälle. Nach dem Glückslos als Einleitung kam die köstliche Auffindung des Matullat in Stettin, dieses ausgekniffenen Ehemannes. Bei einigem Nachdenken verliert auch diese Geschichte jeden geheimnisvollen Reiz. Die Matullat ist die beste Freundin der Fritzke, der Hausbesorgerin von Nr. 13. Dies dürften Bansing u. Komp. gewußt, ebenso auch in Erfahrung gebracht haben, daß der arme Gatte der Xanthippe geflohen ist. Ein gutes Detektivinstitut hat fraglos den bedauernswerten Mann aufgestöbert. Das hat natürlich wieder ein nettes Sümmchen gekostet. Schadet aber nichts. Der Ruhm des Ebenholzschränkchens wurde dadurch ja noch größer. –

Nummer drei: Der Polizeileutnant. Daß dieser sich um die Vorgänge in seinem Revier kümmern würde, war selbstverständlich. Deshalb lag es im Interesse der Bansing, recht zeitig über seine Person und verwandtschaftlichen Verhältnisse Erkundigungen einzuziehen. Du merkst schon, die beiden Weiber arbeiten mit einem ganzen Stab von Hilfskräften und sind auch offenbar reichlich mit klingender Münze versehen. –

Den vierten Fall, bei dem unser braver Doktor Freund eine Rolle spielt, wollen wir zunächst außer Betracht lassen.

Das bisherige Ergebnis der näheren Beleuchtung des Tun und Treibens der beiden Damen ist also folgendes: mit einem anerkennenswerten Geschick und mit recht beträchtlichen Unkosten ist in der Mockstraße eine Stätte eingerichtet worden, die jetzt von Reich und Arm, Dumm und weniger Dumm aufgesucht wird, um sich in großen und kleinen Sorgen und Verlegenheiten Rat zu holen, wobei ein chinesisches Schränkchen der orakelspendende Gegenstand ist, aus dem eine feine jugendliche Stimme hervorschallt. Wie letzteres ermöglicht wird, ob jemand in dem Schranke verborgen ist, oder ob vielleicht ein Sprachrohr von einem Nebenzimmer in das „weissagende“ Schränkchen führt, ist für die Gesamtbeurteilung der Angelegenheit gleichgültig. – –

Wir stehen nun vor der Frage, wozu die Bansing das viele Geld ausgegeben hat, – kurz, wir müssen den Zweck der Sache zu ergründen suchen. An zweierlei hat man da zuerst zu denken, wenn man direkt unlautere Absichten ausschalten will: Die Bansing kann aus selbstloser Nächstenliebe handeln und ihre, wie wir annehmen wollen, hervorragenden Fähigkeiten in den Dienst ihrer Mitmenschen stellen, indem sie diesen mit ihrem Rate beisteht. Die ganze Aufmachung, mit der dies geschieht, soll dann vielleicht nur dazu dienen, eine größere Anzahl von Hilfebittenden herbeizuziehen. Ich glaube, diesen edlen Zweck können wir wohl von vornherein als nicht vorliegend ausschalten. Eine solche Selbstlosigkeit, die mit so großen Kosten verknüpft ist, gibt es nicht, obwohl genug Sonderlinge in der Welt herumlaufen. Diese Möglichkeit fällt also meines Erachtens fort. –

Eine zweite wäre die, durch das Ebenholzschränkchen in unlauterer Absicht Kenntnis von allerlei Familienverhältnissen und anderen Geschehnissen zu erlangen, die sich irgendwie nutzbringend verwerten läßt, besser gesagt, die den auf diese Weise Eingeweihten Gelegenheit zu kleinen Erpressungen, zum Weiterverrat von intimen Geschehnissen gegen Bezahlung, ja vielleicht sogar zur Einmischung in geschäftliche Angelegenheiten gibt.

Du verstehst wohl, lieber Nicki, wie ich dies meine. Kommt dir nicht auch dieser Zweck als der wahrscheinlichste vor?“

Der Bühnendichter warf den Rest seiner Zigarette auf den Bürgersteig, so daß ein kleiner Funkenregen aufsprühte.

„Ich habe ja schon immer gewußt, daß unter deiner lockenumwallten Schädeldecke sich ein ganz gut arbeitendes Hirn befindet, lieber Dicker,“ erwiderte er fast begeistert. „Aber das eben Gehörte war doch das Beste an fein geordneten Gedanken, was du je zu Stande gebracht hast. Alle Hochachtung! Jedenfalls bin ich auch für einen unlauteren, aber sehr geschickt verschleierten Zweck, der durch das Orakel der Mockstraße verfolgt wird.“

„Gut. Gehen wir nun also zu dem Besuch unseres Freundes Horst bei der Bansing über. – Fällt dir bei Merkels Erlebnis mit dem Wunderschränkchen nicht etwas Besonderes auf?“

Malnor dachte angestrengt nach. Dann meinte er kopfschüttelnd:

„Daß ich nicht wüßte! – Worin erblickst du denn etwas, das sich von den anderen und näher bekannten Weissagungen des kunstvollen Ebenholzkastens abhebt?“

„Das will ich dir sofort klarmachen. – Unser Doktor wurde von dem Schränkchen nicht nur mit seinem richtigen Namen angeredet, sondern es wurde ihm auch klar bewiesen, daß die Bansing und ihre Helfershelfer – ich nehme mit Sicherheit an, daß außer der angeblichen Gesellschafterin noch mehrere Personen im Komplott sind – sowohl von weit zurückliegenden als auch neueren Erlebnissen aus seinem Dasein genau Kenntnis besaßen. Denke an den Elften jedes Monats, weiter auch an die Warnung, er solle nicht fremde Wege kreuzen und daß ihm das Dunkel kein Glück bringe, – Äußerungen, die sicherlich auf Hella Burgstädt beziehungsweise deren Bräutigam anspielten.“

„Hm – beim Namen genannt …! – Das tat das Schränkchen auch dem Polizeileutnant gegenüber, wie wir wissen. Dieser Umstand kommt mir kaum merkwürdig vor, offengestanden.“

„Na – bei dem Beamten lag die Sache doch wohl etwas anders als bei unserem Doktorfreund. An dem Vorstand des Polizeireviers, zu dem die Bansing gehört, mußte sie ein weitgehendes Interesse haben; sie mußte damit rechnen, daß er sich auch mal in dem violetten Zimmer einfinden würde. Von Merkel konnte sie nicht wissen, daß er je bei ihr erscheinen werde. Woher also die Kenntnis dieser Einzelheiten aus seinem Leben, woher die Kenntnis, wen das Schränkchen vor sich hatte?“

Die beiden ungleichen Gestalten waren inzwischen in den Tiergarten gelangt, wo sie, um die frische Nachtluft zu genießen, unwillkürlich ihre Schritte verlangsamt hatten. Jetzt blieb Nicki Malnor stehen und starrte nachdenklich in das Licht einer Bogenlampe.

„Donner noch eins!“ meinte er schließlich, „Recht hast du ohne Frage. Die Sache hat einen Haken!“

„Oh, nicht nur einen! Ich möchte dir vorhalten, daß ich noch kurz vor unserem Aufbruch durch einige an Horst gerichtete Fragen festgestellt habe, daß, soweit ihm bekannt, noch keiner der Besucher des violetten Zimmers von der Gesellschafterin aus dem Orakelraum hinausgeleitet und keiner von der Rosenburg hinterher noch in eine längere Unterhaltung verwickelt wurde. Ausgerechnet bei Merkel geschah das nur, bei diesem selben Merkel, über den das Schränkchen sich so vorzüglich unterrichtet zeigte, obwohl Horst doch keineswegs eine Persönlichkeit ist, die man, sei es durch Reichtum, Stellung oder geistige Fähigkeiten, zu den großen Tieren rechnen kann. Im Gegenteil, unser Doktor ist zwar eine Seele von Mensch, aber arm wie eine Kirchenmaus, dazu noch lediglich eine Durchschnittsnatur in jeder Beziehung, wenn er selbst sich auch für ein besonderes Licht hält. Ich habe ihn ja wahrhaftig gern – aber wir beide werden uns doch gegenseitig nicht einreden wollen, daß er etwas Hervorragendes leistet, nicht wahr? Auch sein philosophisches Werk kehrt meines Erachtens mit Recht immer wieder reuevoll zu ihm zurück. Ich habe es gelesen. Alles gut gemeint, alles von großem Fleiß zeugend, was drin steht. Doch das Große, der geniale Zug fehlt vollständig. Kein Verleger wird es ihm abnehmen, da gehe ich jede Wette ein.“

„Na – und der Helios Verlag, den der Wunderschrank vorgeschlagen hat?“ warf Malnor ein.

„Kauft der ihm das Manuskript ab, so weiß ich Bescheid,“ entgegnete Dallmer mit Nachdruck. „Jedenfalls werde ich diese Sache im Auge behalten. Hier ist etwas faul im Staate Dänemark, mein lieber Nicki! Und vielleicht haben wir noch Gelegenheit, unseren Philosophen, der so etwas weltfremd und leichtgläubig ist, helfend beispringen zu können.“

„Unglaublich ist die ganze Geschichte – unglaublich!“ eiferte der Dichter. „Aber – sie gibt auch einen vorzüglichen Stoff für eine Erzählung. Ich fühle den heiligen Funken der Begeisterung, der Schaffensfreude in mir aufglimmen und werde mich gleich zu Hause an die Arbeit setzen. Ich weiß schon, wie ich anfangen werde: „Die violette Schale übergoß mit Zauberlicht das halb ängstliche, halb erwartungsvolle Gesicht eines schlanken Weibes, das in einem seltsamen Raum einem … usw… usw …“ Mitten hinein in die Geheimnisse des Orakels versetzte ich sofort den Leser in meiner Erzählung, und …“

„Ich denke, es sollte ein Filmdrama werden, lieber Nicki,“ unterbrach ihn der Maler auflachend.

„Na, weißt du, mit dem Filmdrama, das geht nicht. Wenn das Schränkchen nicht redend auftreten kann, verliert die Sache allen Reiz.“

„So?! – Wie wär’s denn, wenn du einen Phonographen hinter der weißen Leinwand aufbauen ließest, der das ins Publikum schnarrt, was der Schrank an weisen Worten von sich gibt.

„Hm – der Gedanke ist nicht dumm! Das wäre zu überlegen …!“

 

4. Kapitel.

Der Liebe Zaubermacht.

Am nächsten Vormittag schickte Doktor Merkel seine Arbeit an den Verlag Helios ab, und nachmittags gegen vier Uhr finden wir ihn in seinem Arbeitszimmer dabei beschäftigt, einen wenig begabten Tertianer in die Geheimnisse der griechischen Sprache einzuweihen, eine wahre Steinklopferarbeit, da der Schüler dem Unterrichtsgegenstande offenbar keinerlei Reiz abzugewinnen wußte und immer wieder zum offenen Fenster in den von der Frühlingssonne durchfluteten Hof hinausblickte und sicherlich nur an die glücklicheren Kameraden dachte, die jetzt draußen im Freien irgendwo umhertollen durften.

Endlich war die Stunde vorüber. Beide, Lehrer und Schüler, atmeten heimlich erleichtert auf, da auch Horst Merkel heute nicht in der Stimmung war, den tatsächlich etwas beschränkten Jungen fortdauernd mit ledernen Regeln zu quälen.

Nachdem der Tertianer ihn verlassen hatte, machte der Doktor sich zum Ausgehen fertig und zwar mit einer Hast, die darauf hindeutete, daß er eine wichtige Verabredung oder Besorgung vorhabe. Ebenso eilig, wie er nach Hut und Mantel gegriffen hatte, hastete er dann auch durch die stillen, vornehmen Straßen des Feldherrnviertels dem Kurfürstendamm zu, diesem breiten, stets so überaus gepflegten, alleeartigen Wege, der die Villenkolonie Grunewald mit dem Tiergarten verbindet. Hier bestieg er eine Straßenbahn, die ihn hinaus ins Freie brachte. Eine gute halbe Stunde Marsch brauchte er noch, um an sein Ziel zu gelangen, das kleine Jagdschlößchen Grunewald, das einsam und von seiner reichbewegten Vergangenheit träumend am Südufer des Paulsborner Sees unter leise rauschenden Kiefern liegt.

Hier, an einer Stelle, von der sich der graue schmucklose Bau am vorteilhaftesten dem Auge eines Künstlers darbot, saß abseits vom Wege vor einer Staffelei eine junge Dame, die schon eine ganze Weile an dem halbfertigen Bilde vorbei und über die dunkelgrünen Baumkronen hinweg in die blaue Ferne gestarrt hatte.

Jetzt schreckte die jugendliche Malerin ein in ihrem Rücken erklingender, besonderer Pfiff aus ihren Gedanken auf. Sie wandte den Kopf und nickte dem mit einem vergnügten Lächeln auf sie zueilenden Herrn zwanglos zu. Gleich darauf schüttelte Merkel ihr kameradschaftlich die Hand.

„Das ist heute ein Wetter, – prächtig, nicht wahr, Fräulein Hella?!“ rief der Doktor ganz begeistert. Er, der sonst Damen gegenüber stets von einer beinahe komisch wirkenden Schüchternheit und Unbeholfenheit war, hatte diese Hemmungen seines wahren Wesens Hella Burgstädt gegenüber längst überwinden gelernt.

Nun aber bemerkte er, daß über ihrem selten anziehenden, wenn auch nicht gerade schön zu nennenden Gesichtchen, das mit seinen jugendfrischen Farben so recht in diesen sonnigen Maitag hineinpaßte, eine Wolke schwermütiger Trauer ausgebreitet lag.

Sofort schlug er einen anderen Ton an, wurde besorgt, beinahe ängstlich und fragte zögernd:

„Ist Ihnen etwas Unangenehmes begegnet, Fräulein Hella? Ihre Miene läßt beinahe darauf schließen …“

Sie antwortete nicht gleich, gab ihrem Klappstühlchen eine Drehung nach links und sagte dann:

„Setzen Sie sich dort auf Ihren alten Platz, Herr Doktor, auf den Baumstumpf. Aber nehmen Sie sich in acht. Durch die Wärme ist Harz ausgeschwitzt. Hier haben Sie eine Zeitung. Breiten Sie die über die klebrigen Perlen.“

„Danke herzlichst für die treue Fürsorge. – So, ich sitze. Und nun, bitte, Fräulein Hella, nun machen Sie mal ganz schnell ein fröhliches Gesicht. So schlimm kann das wohl kaum sein, was Sie bedrückt.“

Das junge Mädchen, dem unter dem weißen Strohhut eine Fülle dunkelbraunen Haares hervorquoll, schaute den Doktor jetzt mit einem seltsamen ernsten, durchdringen Blick an.

„Ich glaubte schon, Sie würden heute gar nicht mehr kommen,“ sagte sie darauf ganz unvermittelt. Und nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: „Seit wann unterhalten Sie eigentlich so rege Beziehungen zu dem Orakel der Mockstraße?“

„Rege Beziehungen, Fräulein Hella? – Wie meinen Sie das?“

Wie rot er bei diesen Ausflüchten wurde …! Und wie verwirrt er mit dem Spazierstock spielte …! – Dem jungen Mädchen entging das nicht. Schmerzlich krampfte sich ihr da das arme, ohnehin schon genug gepeinigte Herz zusammen. Doch ihr Gesicht verriet nicht das Geringste davon. Ihre Stimme zu einem gleichgültigen Tonfall meisternd, entgegnete sie:

„Nun, ich glaubte nicht, daß Sie durch den einen Besuch bei dem weissagenden Schränkchen gleich so bekannt mit den beiden Damen werden würden, um nun den häufigen Begleiter der Gesellschafterin zu machen. Ich traf Sie bereits dreimal mit Fräulein von Rosenburg in der Nähe der Kaiser Wilhelm Gedächtniskirche. Sie waren so in die Unterhaltung vertieft, daß Sie mich gar nicht gewahr wurden.“

„Oh, da bitte ich aber vielmals um Entschuldigung, Fräulein Hella,“ stotterte er, nur um etwas zu sagen. In ihm aber wurde das Schuldbewußtsein immer stärker. Es kam ihm vor, als habe er Hella, die doch seine einzige Damenbekanntschaft und verständnisvolle Freundin war, durch diese gelegentlichen Spaziergänge mit der schönen Blonden beraubt, als sei ein erkältender Reif auf ihre Freundschaft gefallen, seit er eingesehen zu haben glaubte, daß es außer Hella auch noch andere Frauen gebe, die sich nicht an seinen Eigenheiten stießen und mit feinem Takt ihm halfen, seine Schüchternheit schnell zu überwinden.

„Daß ich Fräulein von Rosenburg begleitete,“ sagte er schnell, „kam so. Sie war es, die mich, als wir uns zum erstenmal auf der Straße begegneten, ansprach, um Entschuldigung dieserhalb bat und mir erklärte, sie wisse in Berlin gar nicht Bescheid und solle nun für Frau Bansing verschiedene Einkäufe erledigen. Da mußte ich schon aus Höflichkeit ihr meine Hilfe anbieten.“

„Das war das erste Mal. Und die beiden anderen Male? Gab es da wieder Besorgungen zu machen?“

Hellas Augen ruhten abermals mit eigentümlicher Spannung auf Merkels Gesicht.

Im Herzen des Doktors begann sich etwas wie leiser Trotz zu regen. Diese Fragen waren ihm unbequem. Und – was ging schließlich Hella sein Verkehr an? – Aber kaum blitzten ihm diese Gedanken durch den Kopf, als er sich ihrer auch schon schämte. Hatte nicht Hella ältere Rechte an ihn? Verdankte er ihr nicht viele genußreiche Stunden harmlosen Plauderns, war er bisher nicht stets überglücklich gewesen, daß er gerade sie Freundin nennen durfte? – Es war ihm plötzlich, als habe dieses dreimalige Zusammensein mit Isa von Rosenburg seine ganzen Ansichten über das zarte Verhältnis zu Fräulein Burgstädt vergiftet. Seine Stimmung schlug plötzlich um. Jetzt grollte er der Gesellschafterin, daß sie es gewesen, die als störendes Element in diese treue Freundschaft eingegriffen hatte. Und aus diesem Gefühl heraus sagte er mit seiner kräftigen Stimme, die doch so weich und einschmeichelnd klang:

„Wenn ich’s mir heute ruhig überlege, so war’s von der Gesellschafterin vielleicht wirklich so ein wenig …“ Er suchte vergeblich nach einem passenden Ausdruck.

„… ein wenig aufdringlich,“ half sie ihm.

„Nun ja – also etwas aufdringlich, mich auch die beiden anderen Male unter einem durchsichtigen Vorwand anzusprechen, – ich gebe das zu. Man ist aber als Herr unter solchen Umständen in einer gewissen Notlage, und …“

„Oh – Sie brauchen sich doch bei mir wirklich nicht zu entschuldigen, Herr Doktor,“ fiel sie ihm mit einem leichten Achselzucken ins Wort. Und fast ungewollt kam es ihr weiter über die Lippen: „Es ist ja vielleicht auch ganz gut, daß Sie sozusagen Ersatz für mich erhalten, da … mein Bräutigam demnächst aus dem Auslande heimkehrt und ich mich dann ausschließlich ihm widmen muß. Er wäre wohl kaum damit einverstanden, daß Sie weiter so zwanglos mit mir verkehren und täglich fast bei uns als Gast weilen, wie es jetzt geschieht.“

Horst Merkels Kopf schnellte erschreckt hoch. Er wollte diese unwillkürliche Bewegung unterdrücken, wollte auch schnell wieder seinen Gesichtsausdruck verändern, der seine Empfindungen nur zu deutlich widerspiegelte. Es gelang ihm nicht. Und erst in diesem Augenblick wurde ihm völlig klar, was er an Hella verlor. Galt dieses wehe Schmerzgefühl in seinem Herzen wirklich nur dem Ende dieser Freundschaft? Oder … sollte der Spötter Winfried Dallmer, der ein guter Menschenkenner war, doch recht haben, sollte bei ihm, dem kühlen, kritischen Horst Merkel, mit der Zeit aus dieser feierlich ernsten Blume der Freundschaft eine andere, gefährlichere und betäubendere, als je zu erwarten gewesen war, emporgesprossen sein?

Diese Entdeckung verwirrte ihn derart, daß er keine Antwort auf Hellas Bemerkung fand. Erst allmählich kam ihm zum Bewußtsein, daß er doch irgend etwas sagen, daß er notwendig Freude heucheln müsse, weil der Verlobte seiner treuen Kameradin jetzt nach einjähriger Abwesenheit wieder in die deutsche Heimat und zu seiner Braut zurückkehrte.

Das junge Mädchen hatte ihn inzwischen heimlich genau beobachtet und jede Veränderung in seinem Gesichtsausdruck nur zu gut wahrgenommen. In ihren großen, dunklen Augen, die vielleicht das Schönste an ihr waren, blitzte es wie beseligende Genugtuung auf, als sie feststellen konnte, daß er bei der Nachricht von der Heimkehr Max Schellings alles andere nur nicht teilnehmende Freude zu empfinden schien. Und wie er nun so etwas wie einen Glückwunsch vorbrachte, wobei er vergeblich seine Miene seinen Worten anzupassen suchte, da senkte sie wieder den Kopf, um ihm durch den Glücksschimmer auf ihrem Gesicht nicht zu verraten, was Geheimnis bleiben mußte, bis … bis der andere eingetroffen war, dessen Ring sie noch am Finger trug, dessen Bild in ihrem Herzen aber längst verblaßt war.

Nachdem Horst Merkel das, was ein Glückwunsch sein sollte, endlich in gutgesetzten, aber nur zu wenig aufrichtig klingenden Worten zu Stande gebracht hatte, suchte er die weitere Erörterung gerade dieses Gegenstandes dadurch zu vereiteln, daß er ohne jeden Übergang hinzufügte, er habe heute nun wirklich seine philosophische Arbeit dem Verlag Helios eingereicht. Und, um die gedrückte Stimmung zu beleben, meinte er dann noch scherzend:

„Sie sehen, Fräulein Hella, wie sehr ich dem Orakel der Mockstraße vertraue. Eigentlich ist’s ja beinahe eines gebildeten Menschen nicht würdig, auf das zu hören, was einem ein lebloser, durch eine dritte Person natürlich zum Reden gebrachter Gegenstand vorschlägt. Aber bei mir spricht als Entschuldigung so vieles mit. Ich möchte gern weiterkommen, will durch mein Werk mir eine Professur erringen. In der Verzweiflung über die bisherigen Mißerfolge greift man da leicht nach einem Strohhalm, selbst wenn dieser ein wahrsagendes Schränkchen ist.“

Hella nickte zerstreut. Irgend ein neuer Gedanke schien sie zu beschäftigen. Dann fragte sie:

„Haben Sie sich eigentlich mit Fräulein von Rosenburg über das violette Zimmer und seine Geheimnisse unterhalten? Sie muß doch wissen, in welcher Weise das Schränkchen zum Sprechen bewogen wird und wie es kommt, daß es Dinge weiß, die geradezu erstaunlich sind und einen beinahe abergläubisch machen könnten.“

„Die Gesellschafterin erwähnt diese Sache nicht,“ erwiderte der Doktor ernst. „Ich versuchte natürlich, sie so ein wenig auszuhorchen. Sie ließ mich erst ausreden, dann sagte sie ungefähr: „Ich wünschte, daß die Menschen, die zu Frau Bansing kommen, sich bald überzeugen ließen, wie falsch ihre Annahme ist, daß es zwischen Himmel und Erde nichts geben kann, was außerhalb der Grenzen unseres menschlichen Verstehens liegt. Ich bin nicht berechtigt, mich über diesen Gegenstand irgendwie zu äußern, rate Ihnen aber, all Ihre Zweifelssucht und all Ihr Mißtrauen zurückzudrängen und die Hilfe des Ebenholzschrankes in Anspruch zu nehmen, falls Ihnen einmal in einer wichtigen Angelegenheit ein guter Rat fehlt.“ – Das war alles, was sie ihrer Verschwiegenheit abrang.“

Das junge Mädchen schüttelte jetzt wie ungeduldig den Kopf.

„Es ist mir fast unerträglich, daß ich keine einleuchtende Erklärung für all diese Dinge finde,“ meinte sie. „Ich merke, daß mich, gerade weil soviel Merkwürdiges in dem violetten Zimmer einem begegnet, langsam die Scheu packt, an das Orakel der Mockstraße überhaupt zu denken. Und dies ist schon ein sicherer Beweis für die erste abergläubische Regung in mir. Aber ich will nicht an diesen Unsinn glauben – ich will nicht!“

Und nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu:

„Ich will ehrlich sein, Herr Doktor. Ich war vorgestern wieder bei Frau Bansing. Zum zweiten Mal also. Hatte mich das erste Mal die Neugierde hingetrieben, so war es vorgestern schon etwas anderes; da war es schon die Hoffnung, daß das Schränkchen mir Fragen beantworten würde, auf die ich selbst keine Antwort fand. Und denken Sie, dort im violetten Zimmer erfuhr ich zuerst von der Heimkehr meines Bräutigams. Der Ebenholzschrank teilte sie mir eigentlich unaufgefordert mit. Vorgestern lächelte ich innerlich über diese meiner Meinung nach recht anmaßende Prophezeiung, da es mir unmöglich erschien, daß das Orakel hierüber unterrichtet sein könnte, – ich versuchte wenigstens zu lächeln und vor mir selbst die Ungläubige zu spielen, ging aber von Stund an in lebhafter Unruhe umher, bis dann heute morgen die Kabeldepesche mit der Nachricht eintraf, daß mein Verlobter in spätestens vierzehn Tagen in Bremen glücklich zu landen hofft. Sie werden sich leicht vorstellen können, wie mein ganzes Inneres durch diese Bestätigung jener Voraussage des unheimlichen Schränkchens in Aufruhr gebracht wurde. Man muß ja jetzt beinahe an Übernatürliches glauben lernen, ob man will oder nicht. Gegen derartige Beweise einer weitumfassenden Macht gibt es keine Vernunftsgründe mehr. Erklären Sie mir, Herr Doktor, woher das Orakel der Mockstraße über die Absichten meines Verlobten unterrichtet sein konnte, und ich will Ihnen auf Knien danken …! Sie ahnen ja nicht, was in mir vorgeht, wie schwer ich unter diesem Ansturm von Zweifeln, Beweisen und grüblerischen Gedanken, die sich alle um das Schränkchen drehen, leide. Wenn Sie mich vorhin so nachdenklich vorfanden, so trägt nur das violette Zimmer die Schuld daran – nur! – Ach – noch mehr hat der leere Ebenholzschrank, den ich schon zu hassen beginne, mir noch gesagt, hat mir erklärt, daß ich …“

Sie brach plötzlich ab. In ihrer Erregung wären ihr beinahe Worte über die Lippen geschlüpft, die Horst Merkel nie hören durfte, nie und nimmer.

Helle Röte flutete ihr in das reizvolle Gesicht, aus dem die frischen Lippen mit ihren feingeschwungenen Linien lockend hervorleuchteten und den ausdrucksvollen Augen schlimme Konkurrenz machten.

Doktor Merkel entging dieses scheinbar grundlose Unvollendetlassen des letzten Satzes vollständig. Seine Blicke ruhten wie verzückt auf dem Antlitz seiner Freundin. Noch nie hatte er bisher, so oft sie auch zusammen gewesen waren, Hella Burgstädt so betrachtet wie jetzt, noch nie daran gedacht nachzuprüfen, was eigentlich den seltsamen Reiz ihres Gesichtes, ihrer ganzen Persönlichkeit ausmachte. Schon eine Offenbarung hatte er heute erlebt: Die Erkenntnis, daß in seinem Herzen doch wohl andere Gefühle für das junge Mädchen schlummerten als nur die Freundschaft. – Nun kam die zweite Offenbarung: Daß er Gefallen fand an diesen dunklen, leuchtenden Augensternen, daß er sich nach diesen Lippen, diesem taufrischen Munde sehnte, um einmal spüren zu dürfen, wie er … küssen mußte, welche Seligkeit er spenden konnte … – Und gleichzeitig fühlte er etwas wie Haß gegen den Mann in sich aufsteigen, der bald ganz Besitz von diesem holden Geschöpf ergreifen würde.

In diesem Taumel von Gefühlen starrte er ganz unbewußt sie weiter mit Augen an, in denen ständig der Ausdruck wechselte. Und trotz ihrer neunzehn Jahre vermochte Hella sehr gut diese Skala von Empfindungen richtig zu erkennen, ihrer Bedeutung nach einzuschätzen. Und wieder überkam Sie da für eine kurze Spanne Zeit ein unendlicher Glücksrausch, aus dem sie erst des Doktors leise Worte herausrissen, die dieser, halb zu sich selbst sprechend, vor sich hin murmelte, da sie den Abschluß einer langen Reihe sich überstürzender Gedanken bildeten:

„Noch vierzehn Tage also …, nur vierzehn Tage …!“

Da war’s bei ihr mit der Seligkeit vorbei.

Das Bild des anderen tauchte vor ihr auf, ein Kopf mit spärlichem Haupthaar, etwas welken Zügen und ein paar Augen, vor denen sie stets Angst empfunden hatte … Max Schelling kehrte zurück! Alles war aus. Vorüber waren dann die Stunden vertrauter Zwiesprache mit ihrem Freunde, in denen sie soviel gelernt, soviel Anregung gefunden und durch die sie langsam vom unreifen Backfisch zum denkenden Weibe geworden war. War das alles wirklich vorüber, lag es nicht lediglich an ihr diesem unheilbaren Zustand ein Ende zu machen?! Und – war ihr Entschluß nicht sogar schon gefaßt? Wollte sie etwa wieder kleinmütig werden und den Kopf unter das Joch beugen, das von ihr selbst aus jugendlicher Unerfahrenheit errichtet worden war, und ihre Eltern mit scheinbar besten Absichten für das Wohl ihres Kindes fester zu fügen sich bemüht hatten …?!

Mit einem energischen Ruck hob sie den gesenkten Kopf, streckte dem Doktor die Hand hin und sagte:

„Ja, lieber Freund, noch vierzehn Tage! Die sollen aber auch ganz Ihnen gehören, ganz … – Was dann kommt, das wollen wir der Zukunft überlassen.“

Dann sprachen sie von etwas anderem, harmlos und heiter wie früher. Und merkten beide nicht, welch große Wandlung sich heute in ihnen vollzogen hatte, merkten nicht, daß ihre Augen jetzt so ganz anders leuchteten, daß sie sich gegenseitig mit Worten zu streicheln schienen, daß ihrer beider Lächeln selige Hingabe und selige Zärtlichkeit war.

 

5. Kapitel.

Dallmer und das violette Zimmer.

Oben auf dem winzigen Balkon, der zu Horst Merkels kleiner Wohnung gehörte und der wie ein Schwalbennest an der graugestrichenen Mauer klebte, saß Winfried Dallmer in dem altväterlichen Korbstuhl, hatte eine Zupfgeige im Arm und spielte darauf mit großer Fertigkeit allerlei Gassenhauer, sang auch mal halblaut dieses oder jenes Verschen und freute sich, daß sämtliche nach dem Hofe gehenden Küchenfenster der mächtigen Mietskaserne mit vergnügt lächelnden Köchinnen und Stubenmädchen besetzt waren, denen der übermütige, kleine Maler kein Fremder mehr war.

Gerade als der gallige Herr Geheime Rechnungsrat aus dem zweiten Stockwerk des Vorderhauses ein Fenster aufriß und sich wütend diese Klimperei wieder verbat, was mit zu dem Programm gehörte und von so und so viel Seiten mit einem vernehmlichen Kichern begrüßt wurde, betrat Doktor Merkel den Hof und ging durch die sogenannten Anlagen der linken Eingangstür des Gartenhauses zu.

Mit einem Blick hatte er erkannt, daß Dallmer abermals den alten Unfug trieb, durch den er selbst nur Unannehmlichkeiten mit der Hausverwaltung bekam.

Er drohte dem Freunde daher mit dem Finger und verschwand schleunigst hinter der Tür, um nicht von dem Herrn Geheimen Rechnungsrat noch gestellt zu werden, der anerkennenswert grob sein konnte, wenn er gereizt war. Und gereizt war er eigentlich immer.

Winfried Dallmer eilte Merkel bis zur Flurtür entgegen, schüttelte ihm beinahe die Hand aus dem Gelenk und lachte schallend.

„Du, das war eben wieder ein Spaß! Eine Zuhörerschaft habe ich gehabt – großartig! Sogar die Frau Oberstleutnant aus dem ersten Stock stand hinter den Mullgardinen ihres Schlafzimmers und lauschte den verführerischen Klängen meiner Zupfgeige.“

Der Doktor war weniger begeistert.

„Dickerchen, tust du das noch einmal, so entziehe ich dir den Schlüssel zu meiner Wohnung, – das ist sicher!“ meinte er halb scherzend, halb im Ernst. „Du brauchst nur mal etwas Geld in der Tasche zu haben, so weißt du nicht, was du anstellen sollst. Arbeiten wirst du jetzt doch wieder nicht eher, bis du den ganzen Verdienst für die Anpinselung des pommerschen Herrenhauses verjuxt hast.“

„Sehr richtig bemerkt, lieber Sohn!“ sagte Winfried Dallmer grinsend, warf die Zupfgeige auf das alte, steiflehnige Sofa im Arbeitszimmer, wurde plötzlich ganz ernst und sagte:

„Setz’ dich, Horst. Ich habe mit dir zu reden.“ Auch in dem Ton seiner Stimme kam deutlich zum Ausdruck, daß er dem Gegenstände der bevorstehenden Aussprache große Wichtigkeit beimaß.

Dann begann er, nachdem sie Platz genommen hatten:

„Ich bin heute im violetten Zimmer gewesen. Die Gesellschafterin traf ich nicht an. Jedenfalls öffnete mir Frau Bansing und führte mich in den Empfangsraum. Durch Zeichen deutete sie mir an, daß sie taubstumm sei und daß ich ihr mein Begehren aufschreiben müsse. Das tat ich mit den Worten „Ich möchte das Orakel befragen.“ Sie nickte, aber nicht gerade sehr freundlich. Ich schien ihr nicht sonderlich zu gefallen, was mich recht kalt ließ. Dem Schränkchen stellte ich zunächst folgende Frage:

„Werde ich mit meinem Gemälde „Die Angler“ auf der nächsten Ausstellung Erfolg haben?“

Die Antwort lautete recht orakelhaft:

„Dein Streben, Winfried Dallmer, hemmt der Verkehr mit zwei Freunden. Deine Werke werden Anerkennung finden, wenn du diese Bekanntschaft aufgibst.“

Köstlich – nicht wahr? Es machte mir wirklich Mühe ernst zu bleiben. Was ihr beiden, du und Nicki, wohl mit meiner Klexerei zu tun habt?! Ihr seid ja meine einzigen Freunde. Mithin war der Spruch auf euch gemünzt. Nebenbei, ich habe kein Bild „Die Angler“ in Arbeit und auch nie beabsichtigt, ein solches zu malen.

„Ich bitte mir einen Kunsthändler zu nennen, der mir einige fertigte Bilder abnimmt. An wen soll ich mich wenden?“ fuhr ich fort. Nun gib acht. Die Entgegnung ist wichtig:

„Komme wieder und bitte, sobald du deine Freunde aufgegeben hast. Nur wer meinem Rate folgt, wird des Erfolges sicher sein. Horst Merkel hat sich meine Gunst durch Ungehorsam verscherzt. Nach wie vor kreuzt er den Weg eines anderen. Er wird es bereuen, wird seine Arbeit zurückerhalten und es nie zu etwas Großem bringen – nie!“ – –

Du kannst dir denken, daß ich Augen und Ohren gut offen hielt, um dahinterzukommen, wie das Orakel sich betätigte. Die Stimme drang aus dem leeren Schränkchen heraus. Das unterlag keinem Zweifel. Ich sagte mir nun, es müsse mithin notwendig aus einem Nebenraum ein Sprachrohr in den Schrank vom Fußboden her einmünden. Um dies festzustellen, wagte ich einen Gewaltstreich, sprang zu und hob das Ebenholzding auf. Zu meiner großen Enttäuschung bemerkte ich auch nicht die geringste Spur eines Rohres, das in das Schränkchen lief. Dafür geschah aber etwas anderes. Wie ich es noch in den Armen hielt, – es ist ziemlich leicht – gellte mir plötzlich eine Stimme in die Ohren, die keineswegs mehr weich und milde klang:

„Unsinniger, was wagst du?! – Hinaus – fort von hier! Augenblicklich!! Du sollst diese Unverschämtheit bereuen!“

Ich sage dir, Horst, – das war nicht mehr das Organ eines heranwachsenden Weibes. Das waren Laute aus einer kräftigen Kehle, die mir derart in die Ohren dröhnten, daß ich vor Überraschung das Schränkchen beinahe fallen gelassen hätte.

Ehe ich noch recht zur Besinnung kam, hatte die Bansing mich schon am Arm gepackt und zerrte mich hinaus. Dabei war ihr Gesicht ganz unbewegt. Nur den Kopf schüttelte sie verschiedentlich wie bedauernd. – So wurde ich also an die frische Luft gesetzt.“

„Unglaublich!“ meinte der Doktor mit sichtlicher Verlegenheit. „Also du sollst mit deinen Freunden brechen, und ich werde beim Helios-Verlage kein Glück haben, weil … weil …“

„Ja, weil du weiter mit Hella Burgstädt zusammentriffst. – Nun – aus dem, was mir das Schränkchen an Ratschlägen mit auf den Weg gab, lassen sich jedenfalls ganz bedeutsame Schlüsse ziehen. Das ist für uns die Hauptsache.“

Dallmer holte jetzt seine Pfeife hervor, stopfte sie und paffte dann dicke Wolken in die Luft. Nach einer Weile fuhr er fort:

„Wir müssen mal ganz eingehend über diese Sache reden, lieber Doktorfreund. Das Orakel der Mockstraße beginnt ja jetzt, seine wahren Absichten unvorsichtigerweise etwas zu entschleiern. Ich sage: unvorsichtigerweise! Offenbar traut diese Schwindlerbande mir nicht genügend scharfen Verstand zu, um aus diesen Orakelsprüchen richtige Schlüsse ziehen zu können, offenbar denken die Bansing und ihre Helfershelfer, daß so ein armseliger, halbverbummelter Maler wie ich geistig zu träge und schwerfällig ist. Nun – da haben sie sich übel verrechnen. So wahr ich Winfried Dallmer heiße, ich werde herausbringen, was dieses violette Zimmer, dieses Schränkchen und der ganze Hokuspokus eigentlich bezweckt.“

Dann schilderte der Maler kurz den Verlauf der Unterredung, die er auf dem Heimwege in der verflossenen Nacht mit Nicki Malnor gehabt hatte.

„Schon gestern,“ fuhr er fort, „war der Verdacht in mir aufgetaucht, daß womöglich dieser ganze kostspielige Orakelapparat lediglich deinetwegen in Szene gesetzt sein könnte. Für diese meine Annahme spricht sehr vieles. Ich erinnere an den berühmten Elften, deinen Glückstag. Wie genau müssen die Betrüger, die den Schrank zum Sprechen bringen, also in deiner Vergangenheit nachgeforscht haben. Weiter noch: das Schränkchen nannte dir auch gleich einen Verlag, der dein Werk annehmen würde. Natürlich hatte die Bande also Kenntnis von deinem bisher vergeblichen Bemühen, deine Arbeit irgendwo unterzubringen und sahen voraus, daß du mit einer solchen Frage herausrücken würdest. Dann war deine Behandlung als Ratsuchender eine andere wie bei den übrigen „Gläubigen“. Die angebliche Gesellschafterin verwickelt dich in ein längeres Gespräch, während die Bansing selbst verschwindet. Die Hauptsache aber, das Schränkchen hat bei dir eine Bedingung an seine Hilfeleistung geknüpft. Du solltest den Verkehr mit Hella Burgstädt abbrechen. Ähnlich ließ sich heute das Orakel mir gegenüber aus. Weil Horst Merkel nicht gehorcht hat und Hella Burgstädts Freundschaft weiter pflegt, wird er keinen Erfolg bei dem Verlage haben. –

Mithin sehen wir abermals, wieviel den Schwindlern daran gelegen ist, dich und Hella auseinanderzubringen. Aber nicht nur dies, nein, man will uns drei Freunde auch trennen. Über diesen Punkt bin ich mir noch nicht ganz klar, ich meine, über den Zweck dieses an mich gerichtet gewesenen Rates, euch aufzugeben. Wenn wir nun noch hinzufügen, daß das Schränkchen sowohl deinen wie meinen Namen, also den zweier recht unbedeutender Personen, wußte, so gewinnt meine Annahme, daß die Betrüger sich gerade mit dir, also auch mit deinem Bekanntenkreise, besonders beschäftigt haben, immer mehr an Wahrscheinlichkeit. –

Kurz und gut, meine Ansicht geht dahin: Dieser Schwindel zielt lediglich darauf ab zu verhüten, daß sich zwischen dir und Hella Burgstädt zartere Bande entwickeln. Also dürfte der in der Fremde weilende Bräutigam, aus Eifersucht oder Berechnung vielleicht, als treibende Kraft dahinterstecken.“

„Unmöglich!“ entfuhr es Merkel, „ganz unmöglich und völlig unwahrscheinlich! Ich bitte dich, Dallmer, wo wird ein Mann zu diesem Zweck einen solchen Schwindel einleiten und mit erheblichen Geldkosten weiterführen! Nein, Bester, diese Annahme muß irrig sein – muß, und du wirst …“

Er stockte plötzlich. Ihn war etwas eingefallen: die Rückkehr Max Schellings! – Er dachte an die Depesche, die ganz unerwartet diese wichtige Nachricht gebracht hatte, und an die Voraussage der Heimkehr jenes Mannes, den er jetzt als seinen Nebenbuhler betrachtete.

In Gedanken versunken saß er regungslos da.

Der Maler aber wartete geduldig, bis Merkel von selbst weitersprechen würde. Er las die Verwirrung, die Unsicherheit, die Zweifel vom Gesichte des Doktors ab und ahnte, daß er wichtiges erfahren würde.

Horst Merkel war jetzt zu einem Entschluß gekommen. Er sah ein, daß er Dallmer gegenüber vollständig ehrlich sein mußte und nichts verschweigen durfte, da er nun auch selbst beinahe zu der Ansicht hinneigte, Hellas Verlobter könnte seine Hände mit in diesem seltsamen Spiel haben.

So erzählte er denn, daß er heute wieder mit Fräulein Burgstädt zusammen gewesen sei, erwähnte die Depesche und auch die Tatsache, daß das Schränkchen gewußt habe, wie nahe die Rückkehr Schellings bevorstehe.

Bei der Erwähnung der Depesche war Winfried Dallmer erregt aufgesprungen. Als Doktor Merkel jetzt schwieg, rief er sofort:

„Das Telegramm gibt den Ausschlag! – Brauchen wir weitere Beweise?! Eine Verbindung zwischen der Bansing und dem Verlobten Hellas besteht mithin. Und diese Tatsache wieder zeigt, daß meine Vermutung das Richtige getroffen hat: Du allein, Horst, bist für die Schwindler die Hauptperson, um deinetwillen ist die Komödie mit dem Schränkchen veranstaltet worden. Um hierüber Klarheit zu gewinnen, müssen wir uns schon etwas näher mit Burgstädts beschäftigen. Ich kenne nun weder deine Freundin noch die übrigen Familienmitglieder, so daß du mir notwendig schon möglichst genaue Angaben über das machen mußt, was ich für wichtig halte.“

„Ich bin gern bereit, dir alle deine Fragen zu beantworten, soweit ich dazu im Stande bin. Ich fürchte nur, daß wir hier auf falschem Wege sind. Bei ruhiger Überlegung spricht doch so vieles …“

Der Maler schnitt ihm kurz das Wort ab.

„Deine Unsicherheit in der Beurteilung der Sachlage ist leicht begreiflich. Du wirst aber bald sehen, daß Winfried Dallmer wieder mal den Nagel auf den Kopf getroffen hat.“

 

6. Kapitel.

Burgstädts.

Viel war es nicht, was Dallmer über Burgstädts erfuhr. Aber es genügte immerhin, um die Angelegenheit in ein neues Licht zu rücken.

Karl Burgstädt, Hellas Vater, hatte sich als früherer Inhaber eines bescheidenen Kolonialwarengeschäftes zum Großkaufmann emporgearbeitet und besaß jetzt eine der größten und bekanntesten Firmen für Einfuhr aller ausländischen Nahrungs- und Genußmittel.

Doktor Merkel hatte den beiden jüngeren Burgstädtschen Kindern, zwei frischen Knaben, Nachhilfestunden gegeben und war so näher mit der Familie bekannt geworden. Zuerst hatte sich die Dame des Hauses, eine ihren Gatten an Bildung weit überragende Frau von kühl abwägendem, etwas hochmütigem Charakter, dem jungen Gelehrten gegenüber sehr zurückhaltend gezeigt, so daß auch ihr Mann, den sie völlig beherrschte und der gern ihrem Rate in allen außergeschäftlichen Angelegenheiten folgte, den Doktor geflissentlich übersah.

Da war es die damals siebzehnjährige Hella gewesen, die sich Horst Merkels in gewisser Weise annahm und auch bald erreichte, daß der Doktor gelegentlich zu kleineren Festlichkeiten zugezogen wurde, bei denen er dank seiner bescheidenen Art und seiner äußeren Erscheinung, die unbedingt etwas Vornehmes an sich hatte, allgemein gefiel, so daß der Verkehr in der Familie von Tag zu Tag vertraulicher wurde, zumal der Großkaufmann an der Unterhaltung mit dem jungen Manne viel Gefallen fand.

Außer Horst Merkel war auch noch der Prokurist der Firma Karl Burgstädt ständiger Gast in der vornehm eingerichteten Etage, die die Familie in einem der schönsten Häuser der Radetzkistraße bewohnte.

Max Schelling, der sich bereits den Vierzigern näherte, dabei aber mit aller Gewalt noch den Jugendlichen zu spielen suchte, besaß offenbar auf seinen Chef großen Einfluß und war sicherlich wohl auch ein heller Kopf und hervorragender Kaufmann.

Nachdem der Doktor etwa ein halbes Jahr den Burgstädtschen das Schulleben nach Kräften erleichtert hatte, merkte er, daß plötzlich irgend ein Schatten über dem Hause lastete, in dem es bisher recht zwanglos fröhlich hergegangen war. Das Ehepaar litt sichtlich unter einer schweren Verstimmung, die es freilich möglichst zu verheimlichen suchte. Was diese veranlaßt hatte, war für den Doktor kaum festzustellen.

Es lag aber nur zu nahe, daß es sich um Sorgen geschäftlicher Natur handeln müsse.

Ein Umstand war es, der damals Horst Merkel besonders auffiel: Max Schelling ließ sich längere Zeit bei Burgstädts nicht blicken.

Als der Doktor ihn dann wieder eines Tages in dem Hause des Großkaufmannes antraf, konnte er gleichzeitig auch erkennen, daß einmal die gedrückte Stimmung des Ehepaares gewichen zu sein schien und daß der Prokurist plötzlich auch sich in unzweideutiger Weise die Gunst Hella Burgstädts zu erringen suchte. Und allerlei Anzeichen sprachen weiter dafür, daß den Eltern des jungen Mädchens, die bis dahin mit ihrer einzigen Tochter weit ehrgeizigere Absichten gehabt hatten, diese Bewerbung nicht gerade unangenehm war.

Hella selbst, kaum den Backfischkleidern entwachsen, ließ die Dinge ihren Lauf nehmen, ohne Schelling gerade entgegenzukommen. Zwei Monate später war sie des um zwanzig Jahre älteren Mannes Braut.

Kurz darauf übernahm Schelling die Vertretung der Firma in Windhuk, gründete dort eine Zweigniederlassung größeren Umfanges und bezog fortan, wie Merkel zufällig einmal erfuhr, ein geradezu fürstliches Gehalt. –

Nach der Abreise Schellings kam dann jene Zeit, die für Hella und den Doktor in gewisser Weise verhängnisvoll werden sollte. Herr und Frau Burgstädt hielten Horst Merkel für viel zu harmlos und auch für zu ehrenhaft, um ihrer Tochter den zwanglosen Verkehr mit dem jungen Gelehrten zu untersagen, bewiesen hierdurch aber eine Kurzsichtigkeit, die nur zu sehr zeigte, daß sie dem Empfindungsleben zweier junger Menschen, die beinahe jeden Tag zusammentrafen, sehr wenig Verständnis entgegenbrachten. –

So sehr der Doktor sich nun auch sträubte, seine erst heute Nachmittag richtig erkannten Gefühle für Hella Burgstädt dem Freunde zu entdecken, – Winfried Dallmer gab sich nicht eher zufrieden, bis das Herz Horst Merkels wie ein offenes Buch vor ihm lag.

„Es wäre ganz verkehrt von dir,“ hatte er sehr nachdrücklich gesagt, „wenn du mir auch nur das Geringste verbergen wolltest. So, wie wir miteinander stehen, brauchst du dich nicht zu schämen, deine Liebe zu Hella einzugestehen.“

Da hatte denn Horst Merkel die Hand des älteren, welterfahreneren Freundes ergriffen und sich sein bedrücktes Herz ganz frei gesprochen, hatte erzählt, welche Offenbarung heute am Ufer des kiefernumrandeten Sees in der Nähe des alten Jagdschlößchens in ihm aufgegangen, wie urplötzlich die Liebe zu Hella Burgstädt ihm zum Bewußtsein gekommen sei und in welcher Seelenverfassung er sich daher befinde, wo er doch die Geliebte für sich niemals erringen könne.

Schweigend hörte der Maler zu. Und auch als der Doktor seiner Beichte nichts mehr hinzuzufügen wußte, schaute er noch eine ganze Weile nachdenklich vor sich hin. Dann sagte er, und dabei klang durch seine Stimme ein echter warmer, mitfühlender Unterton hindurch:

„Armer Kerl – armer Kerl …! Das Schicksal meint es nicht gut mit dir. – Aber – sei ein Mann, Horst! Trage das Unvermeidliche mit Fassung! Ein wahres Glück ist es ja, daß diese Erkenntnis bei dir so spät gekommen ist. Sonst hätten dir noch mehr Seelenqualen bevorgestanden.“

Und dann ging er schnell, um den Gedanken des Freundes eine andere Richtung zu geben, auf den eigentlichen Gegenstand ihrer Besprechung über.

„Die Schilderung der Zustände im Burgstädtschen Hause, wie du sie vor der Verlobung beobachtet hast, weiter diese Verlobung selbst, lassen nur einen Schluß zu,“ erklärte er. „Anscheinend hat Max Schelling bis zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Weise die Absicht gehabt, sich um Hella zu bewerben. Dann muß irgend ein Ereignis eingetreten sein, was ihn veranlaßte, das Haus seines Chefs zu meiden. Zu derselben Zeit lastet es auf dem Burgstädtschen Ehepaar wie schwere Sorgen. Die düstere Stimmung klärt sich plötzlich wieder auf, und auffälligerweise findet sich dann auch der Prokurist wieder ein und beginnt sofort als von den Eltern begünstigter Freier sich um Hellas Hand zu bewerben. –

Was können wir nun aus alldem entnehmen? Nur eins: Max Schelling ist durch einen Zufall in den Besitz irgend eines Geheimnisses gelangt, das für Burgstädt gefährlich war und das dem Prokuristen die Möglichkeit gab, einen starken Einfluß auf die Entschließungen von Hellas Eltern auszuüben. Mit einem Wort: er zwang Burgstädts, darein zu willigen, daß er als Bewerber um Hella auftrat. Diese ist also nichts anderes als der Preis, für den Schelling sein Schweigen verkaufte. Von Liebe ist demnach bei dem Prokuristen wohl kaum die Rede. Für ihn war’s ein Geschäft, eine Millionensache, weiter nichts. Mithin können wir auch getrost behaupten, daß er jetzt ebenfalls nur aus Angst, diese selben Millionen könnten ihm wieder verloren gehen, sich der Bansing und ihrer Helfershelfer bedient, um dich von Hella fern zu halten, deren er also durchaus nicht so sicher ist, daß er dich nicht als Nebenbuhler fürchtet. Letzten Endes läuft das Orakel der Mockstraße nur auf ein großangelegtes Vorbeugungsmittel hinaus, das den Zweck hat, eine etwa im Aufkeimen begriffene Liebe zwischen Hella und dir rechtzeitig zu zerstören. Und wenn du dir überlegst, lieber Horst, daß es sich hier für Max Schelling um Millionen handelt, – man schätzt Burgstädts Vermögen ja auf gut zehn Millionen, wie ich gehört habe – so fallen auch all die Einwendungen weg, die man gegen meine Ansicht erheben könnte und die sich in der Hauptsache auf die hohen Unkosten dieser Orakelkomödie beziehen. Ich wiederhole nochmals: Schelling muß bei diesem seltsamen Treiben beteiligt, mehr noch, er muß der geistige Urheber und auch der bezahlende Partner dieser ganzen Schwindelfirma sein!“

Doktor Merkel wollte noch immer nicht recht daran glauben.

„Mir erscheint es so undenkbar, daß meiner armseligen Person wegen ein solcher Apparat in Tätigkeit gesetzt worden sein sollte,“ sagte er kopfschüttelnd. „Gewiß – vieles spricht ja wohl dafür, daß die Millionen, die Schelling einst als Schwiegersohn des alten Burgstädt zu erwarten hat, die Veranlassung zu diesem Gaukelspiel gewesen sind. –

Im übrigen ist das alles ja auch so sehr gleichgültig,“ fügte er müde und traurig hinzu. „Was geht mich jetzt noch das violette Zimmer an, wo ich unter der Last dieser unseligen Liebe so schwer trage, der nie die Erfüllung werden kann – nie! Noch vierzehn Tage – dann ist’s auch mit der Freundschaft zwischen Hella und mir aus. Dann kommt der andere, der größere Rechte hat …“

Winfried Dallmer, in dessen Dasein die Frauen eine so geringe Rolle spielten, war in Liebesangelegenheiten ein schlechter Tröster. Merkel tat ihm namenlos leid. Aber diesem Mitgefühl den rechten Ausdruck zu geben, das vermochte er nicht, so nahe seinem Herzen der Freund auch stand. Dessen düstere Miene, die traurigen Augen, die matte Sprache machten ihn unruhig, verlegen. Er zerbrach sich vergeblich den Kopf, wie man dem Ärmsten helfen könne, wie man diese beiden jungen Menschenkinder, die offenbar so gut für einander paßten, allen entgegenstehenden Schwierigkeiten zum Trotz zusammenbringen könne. Und aus solchen Gedanken heraus fragte er dann ziemlich unvermittelt:

„Sage mal, Horst, – glaubst du eigentlich, daß Hella Burgstädt deine Gefühle in gleicher Weise erwidert, daß auch sie dich liebt? Hast du nicht irgend einen Beweis dafür, daß sich auch bei ihr diese Wandlung von Freundschaft zur Liebe vollzogen hat?“

Der Doktor zuckte die Achseln.

„Beweise, – nein! Nur eines merkte ich deutlich, von Freude über die Heimkehr Schellings war bei ihr keine Rede. Als ich heute nachmittag auf sie zuschritt, als ich sie dann begrüßte, fiel mir sofort ihr trauriges, gedrücktes Wesen auf. Möglich auch, daß sie so ein ganz klein wenig verärgert war. Ich mußte ihr nachher so eingehend beichten, wie es gekommen war, daß ich die Rosenburg einige Male bei Besorgungen begleitet hatte. Und ich glaubte feststellen zu können, daß ihr dies nicht ganz lieb war. Doch von ihrem innersten Gefühlsleben ahne ich nichts, weiß nicht, ob ihre Empfindungen für mich wärmerer Natur sind.“

„So – so, – also die Rosenburg hast du angesprochen, schau einer an! Das ist ja ganz neu. Davon hast du mir noch keine Sterbenssilbe erzählt.“

„Nicht angesprochen, Dallmer, oh nein!“ erklärte der Doktor mit einer müden, abwehrenden Handbewegung. „Das gerade Gegenteil ist der Fall, sie sprach mich an!“ Und dann berichtete er genauer, wie die Gesellschafterin sich ihm fast aufgedrängt habe.

„Daß ihr Benehmen tatsächlich so ein wenig unpassend war, wo wir uns doch kaum kannten,“ fügte er zum Schluß hinzu, „wurde mir eigentlich erst klar, als ich Hella die Fortsetzung meiner Beziehungen zu der schönen Isa genau schildern mußte. Bis dahin hatte ich mir ihr Verhalten noch niemals kritisch überlegt.“

„Merkwürdig, daß die Gesellschafterin dir so oft begegnet ist. In einer großen Stadt trifft man sich doch manchmal monatelang nicht, selbst wenn man in demselben Viertel wohnt. – Gehst du denn stets zu derselben Zeit aus?“

„Gewiß. Du weißt ja, wie regelmäßig ich lebe. Mein Tagewerk ist stets dasselbe, stets!“

„Hm – also ist es gar nicht ausgeschlossen, daß die Schwindlerbande Kenntnis davon hat, welche Tagesstunden du zu Spaziergängen benutzt, mithin auch sehr gut möglich, daß die Bande dir aufgelauert hat. – Wo begegnetest du ihr denn?“

„Zwei Mal hier in der Radetzkistraße, das dritte Mal auf dem Kurfürstendamm. Und da überholte sie mich.“

Dallmer lächelte ein wenig überlegen.

„Da haben wir ja eben einen neuen Lichtstrahl gefunden, der das Dunkel erhellt,“ meinte er. „Natürlich hat die schöne Isa auf dich gewartet. An ein zufälliges Zusammentreffen glaube ich nicht nach dem, was ich jetzt weiß. Das Komplott wird immer durchsichtiger. Die Rosenburg will dich in ihre Netze verstricken, damit Hella eifersüchtig wird und es zwischen euch der Blonden wegen zu Mißhelligkeiten kommt.“

Grübelnd schaute der Maler vor sich hin. Horst Merkel aber erhob sich jetzt rasch.

„Beenden wir diese Unterhaltung, die mir nur unnötige Pein bereitet. Und – wenn du mir einen Gefallen tun willst, laß mich allein! Ich muß mich erst mit alldem abfinden, was meine Seele in so traurigen Aufruhr versetzt hat. Bis dahin werde ich ein schlechter Gesellschafter sein.“

Doch Winfried Dallmer blieb ruhig sitzen.

„Du wirst mich nachher begleiten,“ sagte er fast befehlend. „Ich habe mich um acht Uhr mit Malnor im Zoologischen Garten verabredet. Alles andere taugt jetzt für dich, nur nicht die Einsamkeit. Wir werden schon zusehen, der Nicki und ich, daß wir deine Herzensangelegenheiten ins rechte Geleise bringen.“

Merkel blickte den Maler forschend an.

„Was könnt ihr dabei tun? – Gute, liebe Kerle seid ihr. Aber helfen könnt ihr mir nicht.“

„Na – das bleibt abzuwarten!“

Als sie dann das bescheidene Abendbrot einnahmen, sagte Dallmer plötzlich, nachdem sie eben über einen neuen, vielbesprochenen Roman sich unterhalten hatten:

„Daß du von den Helfershelfern der Bansing ständig überwacht wirst, unterliegt kaum einem Zweifel. Mir fällt das gerade ein. Woher sollte das Orakel sonst davon unterrichtet sein, daß du trotz der Warnung vor dem „Dunklen“ weiter bei Burgstädts verkehrst und auch weiter Hellas Beschützer bei ihren Malausflügen spielst?! Das, was mir heute nachmittag das Schränkchen von deinem Ungehorsam und der Strafe dafür mitteilte, ist der beste Beweis für eine dauernde Beobachtung deines Tun und Lassens durch die Verbündeten der würdigen, taubstummen Dame.“

Der Doktor nickte zerstreut.

„Meinetwegen mag man mich mit einem ganzen Heer von Spionen umgeben,“ meinte er gleichgültig. „Mich läßt das völlig kalt. Nun wollen wir aber diesen Gegenstand nicht mehr berühren, Dallmer, – tu’ mir den Gefallen!“

„Gern. Ich weiß ja jetzt auch Bescheid. Sogar ganz genau. Winfried Dallmer ist zwar nur ein halbverbummelter Künstler, aber seine gesunden fünf Sinne hat er doch beisammen. Und vielleicht langen die hin, um einer gewissen Gesellschaft das Spiel gehörig zu verderben.“

In demselben Augenblick schrillte draußen die Flurglocke. Merkel ging nachsehen und kam gleich darauf mit einem eingeschriebenen Brief zurück, den ihm der Postbote übergeben hatte.

„Du – ist das nicht sonderbar,“ sagte er leicht erregt zu Dallmer. „Der Umschlag trägt den Aufdruck des Helios-Verlages. Was mögen die Leute von mir wollen? Ich habe doch erst gestern meine Arbeit abgeschickt. Und in der kurzen Zeit ist doch eine Prüfung ausgeschlossen.“

„Sicherlich der ablehnende Bescheid, den das Schränkchen prophezeit hat,“ erwiderte der Maler kurz. „So öffne doch den Brief. Auch ich bin gespannt, was er enthält.“

Aber Dallmer hatte sich dieses Mal geirrt. Das Schreiben lautete nämlich:

Sehr geehrter Herr Doktor!

Ihre Arbeit, deren Empfang wir dankend bestätigen, ist uns nichts Neues mehr. Wir hatten bereits Gelegenheit sie durchzusehen, als Sie sie vor zwei Monaten dem mit uns in regen Geschäftsbeziehungen stehenden Germania-Verlag in Leipzig eingereicht hatten. Da sich Herr Silbermann, der Besitzer unseres Verlages, zur Zeit auf Kur in Doberan in Mecklenburg aufhält, bitten wir Sie, vielleicht dort persönlich mit unserem Chef Rücksprache zu nehmen, der auf eine telephonische Ansprache von hier uns nicht abgeneigt zu sein scheint, Ihr Werk zu verlegen. Herr Silbermann denkt demnächst nach Nizza abzureisen, so daß Sie gut täten, recht bald nach Doberan zu fahren, falls Ihnen an der schnellen Erledigung etwas liegt.

Hochachtungsvoll

i.V. Herbert Stern.

Horst Merkels Gesicht strahlte.

„Dallmer, wenn ich Glück hätte, wenn der Verlag meine Arbeit wirklich annimmt, – das wäre ja dann der Anfang zum Erfolg!“ meinte er mit vor Freude gerötetem Gesicht. „Natürlich fahre ich nach Doberan. In ein paar Stunden ist man ja da. Diesen Herrn Silbermann will ich schon dazu bewegen, daß er sich die Sache nicht wieder anders überlegt …!“

Der Maler reichte ihm herzlich die Hand.

„Alles Gute, Doktorfreund! Ich gönne dir’s wahrhaftig, daß du schnell berühmt wirst.“

Was er sonst noch dachte, behielt er für sich. Er hatte sich nämlich schon gestern heimlich nach dem Helios-Verlag erkundigt. Und was ihm über diesen gesagt worden war, hatte ihn sehr wenig befriedigt. Es war ein ganz bescheidenes, in Schriftstellerkreisen sogar etwas anrüchiges Unternehmen, da Herr Silbermann zumeist Werke von Anfängen verlegte, die ihn dafür treuer bezahlen mußten, daß sie überhaupt gedruckt wurden. – Wozu sollte er aber Merkel dies mitteilen und ihn dadurch von dem Gipfel seiner frohen Hoffnungen wieder herabstürzen?!

Freudige Teilnahme heuchelnd, ließ er sich jetzt das Schreiben geben und las es nochmals durch.

Hm – also Helios-Silbermann wollte die Arbeit schon geprüft haben, als sie dem Germania-Verlag eingereicht war? Merkwürdig!! – Wenn Silbermann das philosophische Werk damals schon gefallen hatte, weshalb war er denn nicht schon früher mit dem Verfasser in Verbindung getreten? Und auch diese angebliche Reise nach Nizza kam Dallmer verdächtig vor. Wer nach der Riviera will, der geht doch nicht im Juni nach Mecklenburg und später in der heißen Zeit ans Mittelmeer …!

Dann fiel dem Maler etwas ein, wodurch diese Angelegenheit vielleicht weiter geklärt werden konnte.

„Wann hattest du dem Germania-Verlag dein Buch eingereicht?“ fragte er daher, den Brief auf den Tisch legend.

„Wann? – So ungefähr vor acht Wochen. Es sollte der letzte Versuch sein. Und gerade als das Manuskript zurückkam, war ja die Matullat bei mir und machte mir dann den Vorschlag, mich doch an das Orakel der Mockstraße zu wenden.“

„Schon wieder dieses verd… Schränkchen …!“ brummte Dallmer.

„Wie meintest du …? Ich verstand dich nicht …“

„Nichts von Bedeutung. – So, nun wollen wir aber machen, daß wir nach dem Zoologischen Garten kommen. Der Nicki wartet sicher schon.“

 

7. Kapitel.

In Doberan.

Am nächsten Vormittag klingelte der Doktor von einem Zigarrengeschäft aus den Helios-Verlag an und fragte nach der Wohnung des Herrn Silbermann in Doberan.

„Prinz Albrecht Straße 3,“ – gab man ihm Bescheid.

Dann reiste er mittags, von Dallmer und Nicki Malnor an die Bahn geleitet, ab.

Als der Zug schon aus dem Stettiner Bahnhof hinausrollte, rief der Maler nochmals: „Und schreibe ganz ausführlich – verstanden?!“

Der Doktorfreund nickte und winkte.

Die beiden Zurückbleibenden schlenderten langsam die Invalidenstraße entlang und schauten sich nach einer elektrischen Straßenbahn um, die sie nach dem Westen bringen sollte.

„Bin neugierig, was er in Doberan erleben wird,“ meinte Winfried Dallmer und biß auf das Mundstück seiner Pfeife, was bei ihm immer ein Zeichen regen Nachdenkens war.

Nicki erwiderte nichts. Erst nach einer Weile sagte er:

„Wir fahren am besten mit der Stadtbahn vom Lehrter bis zum Zoo. Eine Elektrische dorthin ist hier sehr rar. – Was willst du eigentlich bei Horst in der Wohnung?“

„Die Matullat räumt jetzt dort gerade auf wie täglich. Ich sehne mich nach ihr.“

Der Dichter fragte nicht weiter. Dallmer hatte so seine Stunden, wo aus ihm kein vernünftiges Wort herauszupressen war. Nur eine ärgerliche Bemerkung leistete Malnor sich:

„Mir geht Horsts trauriger Herzensroman sehr nahe. Dich scheint er recht kalt zu lassen. Sonst würdest du nicht in der Laune sein, faule Witze zu machen.“

„Faule Witze?! Weil ich sagte, ich sehne mich nach der dicken Matullat? – Es ist so! Du wirst schon sehen und hören, was ich von ihr will. Im übrigen, mein Söhnchen, gewöhne dir eine etwas vorsichtigere Beurteilung der Stimmung anderer an. Nicht mit Worten nützt man seinen Freunden, sondern mit Taten. Und wenn man sich einen famosen Feldzugsplan zurechtgelegt hat, wie man Bansing und Kompagnie ans Leder gehen kann, darf man wohl aus Genugtuung darüber sich auch etwas scherzhaft ausdrücken.“ – –

Die Aufwärterin Merkels hatte heute die gute Gelegenheit benutzt, einmal gehörig in der kleinen Wohnung reinzumachen.

Als Dallmer und Malnor erschienen, war sie sehr erstaunt.

„Der Doktor hat seine Zahnbürste vergessen,“ erklärte der Maler. „Die sollen wir ihm nachschicken.“

„Zahnbürste?! – Aber Herr Dallmer, ich habe det Ding doch selbsthändig in die Reisetasche eingelegt. Det weeß ik jenau.“

Die dicke Frau mit dem schwammigen Gesicht war durchaus nicht des Malers Liebe. Aber Merkel hielt viel von ihr, da sie sehr sauber und goldehrlich war.

Die Zahnbürste war auf dem Waschtisch nicht zu finden, und die Matullat triumphierte.

„Ich bin doch keene Traumtänzerin, det ich nicht wissen sollte, wat ik tue,“ meinte sie. „Wenn ich sage, sie is injepackt – basta!“

Dallmer nickte ihr freundlich zu.

„Ich weiß, auf Sie ist Verlaß. – Wie geht es übrigens Ihrem Manne?“

„Vorzüglich. Wir leben wie die Turteltauben – janz jewiß, Herr Dallmer! Er wird nie mehr auskneifen. Alle Sonnabend kriegt er sogar den Hausschlüssel mit.“

„So – das freut mich. – Hm, sagen Sie mal, liebe Mutter Matullat, Sie haben Doktor Merkel doch recht gern, nicht wahr?“

„Na ob! Natierlich. Der ist ja auch eine Seele von Mann.“

„So. Und trotzdem haben Sie ihn verraten wie Judas Ischariot einst seinen Meister verriet.“

Das runde Gesicht der Frau verfärbte sich deutlich.

„Wie meinen Sie das, Herr Dallmer?! Ich wüßte nicht, weshalb Sie mir eenen Judas Ischariot nennen dürfen.“

Sie wollte die Empörte spielen. Aber ihre Stimme war unsicher und verlegen.

Der Maler beobachtete sie scharf.

„Als Sie damals bei dem Orakelschränkchen in der Mockstraße waren und sich nach dem Verbleib Ihres Mannes erkundigten, haben Sie da nicht auch etwas aussagen müssen, was sich auf unseren Doktor bezog?“ fragte er ernst.

„Jotte doch – dat wissen Sie?! Aber woher denn?“

„Von dem Schränkchen selbst. Ich war gestern nachmittag dort. Und da wurde mir aufgetragen, Ihnen zu sagen, daß Sie mir gegenüber über die Dinge ruhig reden dürften, die Sie damals dem Schränkchen anvertraut haben. Verstehen Sie mich? Sie sind also Ihrer Schweigepflicht, die Ihnen in dem violetten Zimmer auferlegt wurde, entbunden, sollen jedoch von dem, was wir jetzt verhandeln, kein Wort anderen gegenüber erwähnen.“

„So is die Sache! – Na, offen jestanden, Herr Dallmer, leicht wurde es mir nich, daß ich mich damals so über Herrn Merkel ausholen lassen mußte. Ich habe mir tagelang mit’n beladenen Jewissen rumjeschleppt – wahrhaftig! Und wenn’s nicht jerade der unheimliche Schrank jewesen wäre, hätte ich wie’n Jrab jeschiegen. Aber die Angst vor dem schwarzen Kasten machte mich janz verdreht. Außerdem waren’s ja auch janz harmlose Dinge, über die ich Auskunft jeben mußte.“

„So zum Beispiel auch darüber, wann unser Freund gewöhnlich spazieren geht, nicht wahr?“

Die Matullat nickte nur.

„Und was mußten Sie sonst noch ausplaudern?“ forschte der Maler weiter.

„Allerlei. Ich sollte überhaupt erzähl‘n, wie der Herr Doktor lebte, was er trieb, was für Eigenarten er hat. Ich wurde rein ausjepreßt wie ‘ne Zitrone.“

„Und bei diesem Auspressen haben Sie auch erwähnt, daß unser Freund ein dickes Buch geschrieben hat, das er gern verkaufen möchte, wie?“

„Stimmt! Und ich mußte auch ausknobeln, wohin er’s zuletzt geschickt hatte, um’s drucken zu lassen. Den Zettel mit dem Namen von dem Geschäft sollte ich der Fritzke geben, die doch Mockstraße 13 Hausbesorjerin is.“

„Das Geschäft hieß Germania-Verlag, nicht wahr?“

„Richtig! – Ich fand die Pappe, in die das Buch bei der Rücksendung eingepackt jewesen war, im Papierkorb. Und da war die Adresse druf.“

„Und wie war’s doch mit dem berühmten Elften, dem Glückstag des Doktors?“

„Na, davon hatte Herr Merkel mir mal so rein zufällig wat erzählt. Und im violetten Zimmer fiel mir’s jerade ein. Da kramte ich denn auch das aus.“

„Das Schränkchen hat Ihnen dann strengste Verschwiegenheit anbefohlen, Mutter Matullat, was? Sie durften keiner Seele berichten, was Sie über unseren Freund ausgesagt haben.“

„So ist’s. Und wenn Sie, Herr Dallmer, nicht die Erlaubnis von dem graulichen, sprechenden Ding gehabt hätten, dann wäre ich stumm jeblieben. Mit dem Schränkchen darf man’s nicht verderben. Zur nächsten Berliner Pferdelotterie krieje ich auch’n Glückslos, hat es mir versprochen.“

„Ja – das Orakel bringt Segen,“ meinte Dallmer mit gut gespielter Überzeugung. „Mir hat es auch genützt. – So, nun wollen wir nicht weiter stören, Mutter Matullat. Auf Wiedersehen!“

„Adje, die Herren, adje! Und wenn Sie an meinen Doktor schreiben, so grüßen Sie mal schön von mir.“

Auf der Straße pfiff Dallmer erst die bekannten Takte aus Rigoletto „Ach, wie so trügerisch sind Weiberherzen …“ Dann sagte er:

„Merkst du nicht, Nicki, wie das Schränkchen arbeitet?! Fein, was?! Auf diese Weise spiele ich auch den Propheten und gebe die unglaublichsten intimen Geheimnisse von mir! – Und weiter: Siehst du jetzt ein, daß diese ganze Orakelkomödie nur um unseres Horst willen veranstaltet ist! – Ja, Söhnchen, in der Schläue bin ich dir doch über. Ich war es, der den Braten gleich gerochen und als stark mit Wildgeschmack behaftet erkannt hat. Nun bin ich nur gespannt, was unser Doktorfreund in Doberan erleben wird.“

* * *

Vier Tage später hatte Dallmer den ersten Brief Horst Merkels in den Händen.

Nachdem er ihn gelesen hatte, stürzte er sofort zu Nicki Malnor hinüber, der nur um die Ecke wohnte.

„Was gibt’s, Dicker? Du bist ja ganz außer Atem?“

„Ein Brief von dem Doktorfreund!!“ Und Dallmer schwenkte ihn hoch in der Luft. „Du wirst staunen. Die Geschichte wird immer besser.

Hör’ zu. Ich werde vorlese. –

Doberan, am ersten Abend

Lieber Alter, lieber Nicki!

Damit Ihr nicht wieder sagt, ich verstehe nicht vernünftig zu erzählen, werde ich diesen Bericht wie ein Tagebuch fassen.

Von der Fahrt nach Doberan ist nichts Besonderes zu erwähnen. Das Städtchen selbst, das einen gewissen Ruf als Trinkbad besitzt, liegt eingebettet zwischen weiten Getreidefeldern und wunderbar schönen Buchenwaldungen. Es ist eine Märchenstadt, scheint vor ein paar hundert Jahren eingeschlafen und noch immer nicht wieder erwacht zu sein. Die moderne Zeit mit ihren Kulturerrungenschaften, ihrer Unruhe, ihrem Hasten und Treiben ist Doberan fern geblieben. Saubere, kleine Häuschen, winklige Straßen, ein holpriges Steinpflaster, tiefe Stille überall; dazu ein schattiger Kurgarten, in dem nachmittags ein Orchester von Greisen, geschmückt mit den Denkmünzen der letzten großen Kriege, spielt. Und die Menschen alle so versonnen, so innerlich zufrieden, so freundlich. Nur die Kurgäste und eine durch die Straßen des Städtchens führende Kleinbahn, die wie ein Spielzeug sich ausnimmt und die die Seebäder Brunshaupten und Arendsee mit der Hauptstrecke nach Rostock verbindet, erinnern einen daran, daß man im 20. Jahrhundert lebt.

Nach meiner Ankunft wanderte dich nach dem „Hotel Mecklenburger Hof“, nahm dort ein Zimmer und ließ mir Kaffee geben, den ich vor der Tür unter einem Zelte trank, das den halben Bürgersteig für sich beansprucht. Der Kurgarten liegt gerade gegenüber.

Dann ging ich zu Herrn Silbermann. Er war zu Hause. Nun, ehrlich gesagt, sehr gefallen hat er mir nicht. Der Mann hat so kalte Froschaugen und dazu so ein stetes, höfliches Lächeln um die dicken Lippen. Dabei ist er trotz seiner gut fünfzig Jahre wie ein Jüngling angezogen, um nicht Fatzke zu sagen. – Doch ich will den Herrn nicht zu schwarz malen. Er hat auch seine guten Seiten. Mich empfing er jedenfalls sehr liebenswürdig. Wir sprachen über meine Arbeit, und er lobte sie sehr. Von Philosophie versteht er aber offenbar wenig. Er bedauerte, daß das Manuskript von Berlin aus ihm erst nachgeschickt werden müsse. Bis dahin müßte ich schon in Doberan bleiben, damit wir es zusammen durchsehen könnten. Manches wäre zu kürzen oder neu zu formulieren, soweit er sich erinnere.

Aber die Hauptsache: er will es verlegen, will mir fünfhundert Mark Honorar zahlen und es zunächst in einer Auflage von tausend Exemplaren herausbringen. Und – denkt Euch! – hundert Mark hat er gleich angezahlt, noch ehe wir überhaupt einen Vertrag gemacht haben.

Er bewirtete mich mit einer Flasche Rotwein, sehr guten Zigarren und schlug mir dann vor, in dasselbe Haus zu ziehen, in dem auch er wohnt – der Billigkeit wegen. Zufällig bekam ich sogar noch ein Zimmer neben dem seinen. Es kostet 1,25 Mark mit Morgenkaffee und Bedienung für den Tag.

Gegen halb sieben Uhr abends machten wir dann einen Spaziergang, bummelten durch den Kurgarten und begegneten hier – fallt nicht vom Stuhl, liebe Kerle! – Frau Bansing und der schönen Blonden. Als ich sie erkannte, war ich wahrhaftig wie vom Donner berührt. – Fräulein von Rosenburg blieb stehen, schien freudig überrascht zu sein, ich stellte Silbermann den Damen vor, und wir gingen schließlich gemeinsam weiter.

Da Frau Bansing für eine Unterhaltung ihres traurigen Gebrechens wegen nicht in Betracht kommt, verabschiedete sie sich bald und kehrte in den „Mecklenburger Hof“ zurück, wo sie mit ihrer Gesellschafterin abgestiegen ist. Sie merkte wohl, daß ihre Gegenwart uns verlegen machte, da man sich ja nur schriftlich mit ihr verständigen kann, wenn man eben nicht wie die Rosenburg die Fingersprache beherrscht.

Die Damen sind mit einem Zuge vor mir in Doberan eingetroffen und gedenken hier vier Wochen zu bleiben. Das erzählte die schöne Blonde, die den braven Silbermann ziemlich schlecht behandelte. Er schien ihr nicht zu behagen, vielleicht deswegen, weil er ihr sofort recht süßlich und aufdringlich die Kur machte. Schließlich fühlte er wohl, daß Fräulein von Rosenburg ihn absichtlich „schnitt“ und … verkrümelte sich.

Kaum hatte er sich unter einem Vorwand gedrückt, als die schöne Isa mich ganz entsetzt fragte, wie ich zu dieser Bekanntschaft käme. Ich klärte sie kurz auf, worauf sie ein verständnisvolles „Ach so!“ hören ließ.

Wir schlenderten dann noch eine Stunde durch die stillen Straßen, und nachher geleitete ich die Rosenburg noch bis zu ihrem Hotel, wo Frau Bansing in dem Zelt vor der Tür saß und Zeitung las. Die Aufforderung, bei den Damen Platz zu nehmen, konnte ich nicht gut ablehnen. Außerdem mußte ich doch irgendwo zu Abend essen. Isa spielte dann die Dolmetscherin zwischen mir und Frau Bansing. So wurde es ganz gemütlich. Die alte Dame trägt ihr Leiden wirklich mit bewundernswerter Geduld. Sie hat so ein liebes Lächeln, so gütige Augen, daß es mir schwer fällt an all das zu glauben, was man Nachteiliges von ihr vielleicht annehmen kann.

Als ich dann gegen zehn Uhr in meine neue Behausung Prinz Albrecht Straße 3 zurückkehrte, fing mich Silbermann vor der Tür ab und fragte mich ganz eingehend nach den Damen aus. Die schöne Isa scheint ihm sehr gefallen zu haben. – Aber von dem Orakel erzählte ich nichts? Wozu auch?

So, liebe Kerle, das wäre der erste Tag. Ich schreibe dies bei einer Petroleumlampe und bei offenen Fenstern. Draußen irgendwo spielt jemand Ziehharmonika, allerlei Volkslieder, sehr mit Gefühl und ganz rein. Alles ist hier poetisch, selbst mein Bett, das sicher seine zweihundert Jahre alt sein dürfte. Silbermann schnarcht nebenan schon. Die Verbindungstür unserer Zimmer ist nicht gerade schallsicher. Mich stört das nicht.

Am zweiten Abend.

Das Wetter ist prächtig. Der Sonnenschein hat mich heute früh herausgelockt. Mein Verleger riet mir dann, ich solle doch auch die Brunnenkur mitmachen, die niemand schade. So pilgerten wir denn gegen acht Uhr zur Trinkhalle, wo wir Fräulein von Rosenburg trafen, mit der ich nachher einen Spaziergang in den nahen Wald unternahm. Silbermann wurde von der blonden Isa wieder so ziemlich als Luft behandelt und verabschiedete sich wütend. Mittags erhielt er dann eine Depesche eines Bekannten aus Rostock und fuhr für einen Tag nach der kleinen Universitätsstadt hinüber, in der auch ich zwei Semester zugebracht habe. Die Mahlzeiten habe ich wieder in Gesellschaft der Damen eingenommen. Jedenfalls tut mir diese Zerstreuung hier sehr gut. Sonst nichts von Bedeutung. Nur eins: Es erscheint mir jetzt, wo ich Frau Bansing und ihre Gesellschafterin in Ruhe beobachten kann, immer unbegreiflicher, daß sie wirklich gegen mich mit Max Schelling im Komplott sein sollten. Es sind eben Damen im vollsten Sinne des Wortes. – Gute Nacht, liebe Kerle.

Am dritten Abend.

Silbermann ist wieder da. Aber mein Manuskript leider noch nicht. Er hat heute dieserhalb nach Berlin telephoniert. Sein Geschäftsführer Stern ist verreist und hat meine Arbeit eingeschlossen. Daher kann es noch Tage dauern, ehe ich zurückkehre. Silbermann hat mir zuvorkommender Weise weitere hundert Mark Vorschuß angeboten. Vorläufig brauche ich das Geld nicht. Aber gefreut habe ich mich doch, daß mein Verleger so viel Verständnis für „Börsenleere“ hat. –

Die Luft hier bekommt mir großartig. Ich bedauere nicht, diesen Ausflug unternommen zu haben, da er mir körperlich und seelisch so vortrefflich nützt. Es ist ja vielleicht auch das Beste, daß ich mich abzulenken suche. Mit einer aussichtslosen Liebe im Herzen ist man nur ein halber Mensch.

An Frau Bansing und ihre Gesellschafterin entdecke ich ständig neue Vorzüge. Trotz allem, was gegen die beiden spricht, behaupte ich jetzt doch, daß Ihr ihnen Unrecht tut. Es sind durchaus vornehme, anständige Charaktere. Fräulein von Rosenburg besitzt sogar eine Bildung, die weit über dem Durchschnitt steht. Sie kennt fast die ganze Welt, war sogar ein Jahr in Australien, beherrscht vier lebende Sprachen und ist über die Grundbegriffe der Philosophie besser unterrichtet als ich es als Student war. Ich habe ihr versprechen müssen, ihr Stellen aus meiner Arbeit vorzulesen. Morgen mache ich mit den Damen eine Fahrt im Wagen nach dem kleinen Seebade Heiligendamm.

Nachmittags im Kurgarten hat Fräulein von Rosenburg, die nebenbei bemerkt einer alten pommerschen Offiziersfamilie entstammt, zum ersten Mal mit mir etwas eingehender über das Wunderschränkchen gesprochen. Sie hat mir versichert, daß sie nicht sagen könne, auf welche Weise es zum Reden gebracht werde. Ich hatte bei ihren Worten die deutliche Empfindung, daß sie sich vor dem Ebenholzschrank selbst so etwas ängstigt.

Aber ich fürchte, daß Ihr Euch kaum überzeugen lassen werdet, wie harmlos dieses reizende Geschöpf ist. Ich wünschte nur, ihr würde sie so kennenlernen, wie ich sie jetzt kenne. Wir sind sehr viel zusammen. Und vielleicht gelingt es ihr, das Bild der anderen, an die ich ja nur wie an eine liebe Tote denken darf, in meinem Herzen zum Verblassen zu bringen. – Nächstens mehr, liebe Kerle! –

Euer Doktorfreund“

 

8. Kapitel.

Eine Freundschaft geht in die Brüche.

Dallmer knüllte den Brief in der Faust zusammen und feuerte ihn mitten zwischen das Kaffeegeschirr, das auf dem Tisch stand.

„Was sagst du dazu, Nicki?! Ist das nicht geradezu unglaublich?! Ist dir schon jemals so ein harmloses Gemüt wie unser Horst vorgekommen?! Der Mensch läßt sich tatsächlich vollkommen umgarnen, merkt nicht, daß Silbermann mit den beiden raffinierten Weibern im Bunde steht, daß dieses scheinbare Geschäft zwischen ihm und dem Verleger nur das Lockmittel war, ihn aus Berlin fortzubringen und der Rosenburg Gelegenheit zu geben, ihre Netze nach ihm auszuwerfen. Weit genug hat sie unseren blinden Horst schon, weiß Gott! Muß das eine Schlange sein …! Arme Hella Burgstädt!“

Nicki Malnor hatte inzwischen den Brief an sich genommen und überflog ihn nochmals.

Dann sagte er ironisch auflachend:

„Weißt du, Dicker, dieses Schreiben kennzeichnet die Sachlage in Doberan zur Genüge. Wer darin zwischen den Zeilen zu lesen versteht, weiß genau, was los ist. Man merkt, wie Horst von Tag zu Tag ehrerbietiger von den … „Damen“ spricht. Zuerst heißt es noch „die schöne Isa“, „die Blonde“, „die Rosenburg“, zum Schluß nur noch Fräulein von Rosenburg. – Wahrhaftig – unseren weltfremden Philosophen haben diese – – na sagen wir schon ruhig „Kanaillen“ schön eingewickelt! – Was tun wir nun?“

„Da gibt’s nur ein Mittel. Wir öffnen ihm die Augen, aber gründlich! Ich werde das gleich durch einen Eilbrief besorgen, werde ihm schreiben, daß er ein blinder Narr ist, daß Silbermann ihn absichtlich in Doberan zurückhält, indem er ihm vorschwindelt, das Manuskript könne erst nach Tagen eintreffen und so weiter – und so weiter. Vielleicht sieht er dann ein, daß die Rosenburg nur so tut, als könne sie Silbermann nicht ausstehen, daß Silbermann es war, der die beiden „Damen“ schleunigst nach Doberan beordert hat, nachdem Merkel sich bei dem Verlage nach seiner Adresse erkundigt und gleichzeitig erwähnt hatte, er würde schon mittags nach Mecklenburg abreisen. –

Ist das eine Borniertheit, nicht sofort stutzig zu werden, als er erfährt, daß die Weiber nur einen Zug vor ihm eingetroffen sind, – nicht zu argwöhnen, daß dieser Silbermann ihn absichtlich gleich in den Kurgarten geführt hat, wo die Bansing und ihre angebliche Gesellschafterin natürlich schon auf das Erscheinen ihres Opfers gewartet haben …!! –

Gib mir einen Briefbogen, Nicki! Ich bin gerade in der Stimmung, eine Epistel zu verfassen, die ihre Wirkung kaum verfehlen dürfte.“ – –

Nachher brachten die Freunde den Eilbrief sofort auf das nächste Postamt. Als sie den Schalterraum verließen, sagte Dallmer frohlockend:

„Wetten, daß wir unseren Doktorfreund morgen wieder hier haben?! – Es war sehr gut von dir, Nicki, daß du mich noch zum Schluß daran erinnertest, was wir aus der dicken Matullat herausgelockt haben. So konnte ich dies noch als besten Beweis für die Schwindelmanöver der edlen Damen mit anführen. Na – der brave junge wird Augen machen! Hoffentlich packt ihm die Wut auf die Weiber nicht gleich derart, daß er zu ihnen rennt und ihnen allerlei Liebenswürdigkeiten ins Gesicht schleudert. Das wäre ganz verkehrt, wie ich ihm auch geschrieben habe, da er die Bande dann vorzeitig warnen würde. Nein – die müssen bis zuletzt denken, daß sie noch immer nicht durchschaut sind, – eben bis wir sie bei einer Tat abfassen, die das Strafgesetzbuch huldvollst berücksichtigt. Dann erst machen wir die Klappe zu! Und auf den Augenblick freue ich mich geradezu diebisch!“

* * *

Es sollte anders, sogar ganz anders kommen.

Eine ganze Woche verging, und Dallmer und Malnor erhielten weder von ihrem Doktorfreund eine einzige Zeile noch bekamen sie ihn persönlich zu Gesicht.

Inzwischen hatte der Maler, der sich ernstlich um Merkel beunruhigte, noch zwei Briefe nach Doberan geschickt – ohne jeden Erfolg.

Langsam dämmerte es jetzt bei den fürsorglichen Freunden, die es mit dem Eilbrief so ehrlich gut gemeint hatten, Horst Merkel war „eingeschnappt“, wie man zu sagen pflegt.

Und wirklich traf dann endlich eine Antwort von ihm ein. Diese bestätigte nur zu sehr Dallmers Vermutung, daß die Freundschaft zwischen den dreien einen bösen Riß bekommen habe.

Horst Merkel schrieb:

Lieber Dallmer!

Selbst langjährige Bekanntschaft gibt Dir kein Recht dazu, in Deinen Briefen an mich Dich derart im Ton zu vergreifen. Du magst ja in der besten Absicht gehandelt haben, als Du Deinen Warnbrief unter „durch Eilboten zu bestellen“ absandtest. Doch es wäre besser gewesen, dieses zum Teil fast beleidigende Schreiben erst etwas ablagern zu lassen und dann nochmals zu überprüfen. Vielleicht hättest Du es nachher in den Papierkorb geworfen, wo es sicher sehr gut aufgehoben gewesen wäre.

Auf das Geschwätz der Matullat gebe ich nichts. Ebensowenig auf Eure sogenannten Beweise gegen die beiden Damen und deren Ehrenhaftigkeit. Ihr beide seid einfach voreingenommen. Wie könnt Ihr nur derart scharf über Personen urteilen, die Ihr gar nicht kennt! Und wie könnt Ihr weiter mir so unverblümt den Vorwurf mangelnder Menschenkenntnis machen, als sei ich noch ein unreifer Knabe!

Jedenfalls würdet Ihr mir einen Gefallen erweisen, wenn Ihr Euch nicht ferner in meine Angelegenheiten mischen wolltet. –

mit Gruß – Horst Merkel.

Auch diesen Brief hatte Dallmer dem Lustspieldichter vorgelesen, wobei er manche Stellen recht nachdrücklich betonte.

Als er damit zu Ende gekommen war, schlug Nicki Malnor mit der Faust auf den Tisch und rief:

„Undank ist der Welt Lohn! – Da haben wir’s! Er kündigt uns die Freundschaft! Mag er und hol’ ihn der Henker, den Narren!! Ich jedenfalls rühre keinen Finger mehr für ihn.“

„Das wäre das verkehrteste, was du tun könntest, Söhnchen!“ meinte Dallmer ernst. „Gerade jetzt braucht unser Doktorfreund uns nötiger denn je. Du übersiehst, daß du es mit einem in gewissem Sinne Kranken zu tun hast. Merkel ist für sein Tun jetzt kaum verantwortlich zu machen. Ich kann mich in seine Seelenverfassung sehr gut hineindenken. Gerade er mit dieser aussichtslosen Liebe im Herzen mußte eher wie jeder andere den beiden Weibern ins Netz gehen. Ich bin überzeugt, er sucht Hella Burgstädt mit aller Gewalt zu vergessen. Und da ist ihm jedes Mittel recht. Er ist froh, daß er die schöne Isa gefunden hat, die Balsam in seine wunde Seele träufelt, ihn die frühere Freundin ersetzt und sicher jetzt viele philosophische Schriften liest, nur um sich mit ihm „gebildet“ unterhalten zu können und die ebenso sicher eine glänzende Schauspielerin sein muß. –

Nein, lieber Nicki, ich nehme diesen Brief dem armen Horst nicht übel – nicht im geringsten. Und ich werde jetzt die ganze Sache schleunigst auf irgend eine Weise zum Klappen bringen. Wie, weiß ich zwar noch nicht. Die Erleuchtung wird mir aber schon noch kommen und zwar hoffentlich, bevor Horst eine ganz gefährliche Dummheit macht, worunter ich eine Verlobung mit der Rosenburg verstehe, in die diese sicher einwilligen würde, um dem armen Doktor dann natürlich wieder den Laufpaß zu geben, nachdem der Zweck erreicht ist, das heißt, nachdem Hella durch diese Verlobung eingesehen hat, daß Horst Merkel für sie verloren ist.“

Nicki Malnor seufzte.

„Armer Doktorfreund! Wenn wir dich nur erst wieder glücklich unverlobt in Berlin hätten! – Aber – was soll nun geschehen? Die Sache duldet kaum einen Aufschub. Horst muß aus diesem Traumzustand geweckt werden und zwar schleunigst.“

„Sehr richtig, aber die Frage ist nur, wie man das anstellen soll.“

Sie berieten eifrigst, fanden aber keinen Ausweg. Schließlich meinte Dallmer:

„Geben wir die Sache vorläufig auf. Vielleicht fällt mir nachmittags oder abends was ein. – So, und nun ziehe dich an. Wir wollen mal durch den Tiergarten bummeln. Der steht jetzt in schönstem, frischem Grün. Nachher lade ich dich zu Kempinski ein. Du kennst ja das schöne Lied: „Hat der Berliner sechs Mark fünfzig, so geht er zu Kempinski hin …“ –

Und ich verfüge gerade noch über vierzehn Mark. Die reichen für uns beide. Ich sehne mich ordentlich, daß sie alle werden. Dann beginne ich wieder zu arbeiten. Einen Auftrag habe ich schon: den Bildschmuck eines Romans. Deren Besteller verlangt Lieferung binnen drei Wochen. Also muß schleunigst der letzte Groschen vertan werden. Vorher kriegt mich ja doch niemand zur Arbeit. Und außerdem, vielleicht komm mir beim Wein eine Erleuchtung!“

* * *

Hella Burgstädt wurde mit dem Bilde des Jagdschlößchens nicht fertig.

Und das hatte seinen guten Grund. Gewiß, bei schönem Wetter pilgerte sie noch täglich nach dem Plätzchen am Ufer des Paulsborner Sees hinaus, stellte die Staffelei auf und … malte dann nicht etwa, oh nein. Zusammengesunken saß sie da, starrte mit großen, leeren Augen ins Weite und sann und sann. Aber mit all ihrem Denken kam sie nicht über einen Punkt hinweg, über eine Frage, die förmlich an ihrem Herzen fraß: Weshalb war Horst Merkel so von ihr gegangen, so ganz ohne Abschied, und das gerade jetzt, wo sie ihn so nötig gebraucht hätte, wo seine Nähe, seine Gegenwart ihren Mut immer wieder aufgerichtet haben würde, wo so schwere innere Kämpfe sie ruhelos umhertrieben.

Nur eine kurze Karte aus Doberan hatte er ihr geschickt mit der Mitteilung, daß geschäftliche Dinge ihn dort vielleicht längere Zeit festhalten würden und daß es sich dabei um seine große Arbeit handele. Nicht einmal seine nähere Anschrift hatte er hinzugefügt. Fast sah es so aus, als ob sie ihm nicht antworten solle.

Wieder hockte das junge Mädchen heute an diesem prachtvollen Junitage vor der Staffelei, wieder feierten Pinsel und Palette Nichtstun. In Sonnenlicht gebadet lag die Wasserfläche des Sees da, auf dem wilde Enten im Röhricht schnatterten.

Es war wie ein Zwang bei Hella, daß sie immer wieder den Kopf nach links drehte und zwischen den braunen Stämmen den Abhang hinaufspähte – nach dorthin, woher Horst Merkel so und so oft schnellen Schrittes aufgetaucht war.

Er kam nicht. Und ihre Hoffnung, daß er sie hier eines Tages überraschen würde, daß er unangemeldet zu ihr zurückkehren würde, sank immer mehr in ein Nichts zusammen.

Wieder hatte sie soeben suchend die Anhöhe emporgeblickt, die oben durch das hellere Grün einer jungen Schonung begrenzt wurde. Spaziergänger schritten vorüber, lachende, scherzende Pärchen, ganze Familien, mit Päckchen Kaffeekuchen beladen. Er, der Heißersehnte, blieb aus …

Dann näherte sich ihrem Platze ein einzelner Herr, eine kleine, etwas nachlässig gekleidete Gestalt mit einem Haarwuchs über der geistvollen Stirn, der sofort den Künstler, den Maler verriet.

Der Herr kam gerade auf sie zu, schaute sie schon von weitem seltsam prüfend an; nein, nicht nur prüfend. Hella glaubte in diesen lebhaften Augen noch mehr zu lesen: Mitgefühl und eine gewisse Spannung.

Was wollte der Mann? Wollte er etwa ihr Bild sich ansehen? –

Schnell drehte sie sich weg und schaute über die gleißende Fläche des Sees hinüber nach dem anderen Ufer, wo der Holzbau einer Militärschwimmanstalt lag und woher so und so oft der Lärm lachender junger Kehlen und fröhliche Ausrufe herüberklangen.

Dann – wirklich, der Fremde sprach sie an. Nicht etwa scheu und zögernd, auch nicht mit jener versteckten Unverschämtheit eines Mannes, der ein Abenteuer sucht. In seiner Stimme lag die sichere Ruhe dessen, der ein Recht zu diesem zwanglosen Benehmen zu haben glaubt.

„Fräulein Burgstädt, nicht wahr? – Entschuldigen Sie, gnädiges Fräulein, daß ich die Gelegenheit benutzte, mit Ihnen bekannt zu werden.“

Dann eine kleine Pause. Hella hatte ihm noch immer den Rücken zugekehrt.

„Mein Name ist Dallmer, Winfried Dallmer. Ich bin ein Freund Doktor Horst Merkels.“

Da fuhr ihr Kopf herum. Zu ihm aufschauend, fragte sie schnell:

„Ist irgend etwas geschehen – ist ihm ein Unglück zugestoßen?“

Angst lag in ihrem Blick. Und Dallmer sah auch, daß ihre Lider vom Weinen gerötet waren.

„Ein Unglück? – Wie man es nimmt,“ erwiderte er, indem er sich zwanglos auf denselben Baumstumpf niederließ, auf dem der Doktor so und so oft gesessen hatte.

„Sie können sich wohl denken, gnädiges Fräulein,“ fuhr er fort, „daß mich ein ganz besonderer Grund herführt. Schon zwei Tage habe ich in der Radetzkistraße Ihnen aufgelauert, da ich Sie sprechen muß – – Horst Merkels wegen. Gewiß – ich bin Ihnen ein völlig Fremder. Aber meinen Namen dürften Sie von dem Doktor schon gehört haben.“

Sie nickte nur bestätigend. Und in ihren Augen verstärkte sich der Ausdruck ungewisser Angst immer mehr.

„Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, ist nicht leicht,“ sprach er weiter, indem er seinen weichen Filzhut neben sich auf den Boden legte. „Vielleicht werden Sie mich sehr bald fortweisen. Aber selbst auf diese Gefahr hin muß ich ganz offen mit Ihnen reden, ganz offen! Und ich bitte Sie herzlich: Sehen Sie in mir nicht einen Fremden, sehen Sie in mir vielmehr einen Verbündeten, der es mit Ihnen ebenso gut meint wie mit Horst Merkel. Wenn Sie ehrlich mir gegenüber sind, kann noch alles gut werden. Aber auch nur dann. Ich muß Klarheit darüber haben, wie die Verhältnisse liegen. – Wollen Sie ehrlich sein und mir nichts verhehlen, nichts verargen, selbst wenn ich durch meine Fragen Ihr Zartgefühl verletzen sollte?“

Es war etwas so Warmes, Streichelndes und doch Bezwingendes in seiner Stimme, soviel Gutes und Teilnehmendes in seinen Augen, daß sie halb unbewußt mit einem leisen „Ja“ antwortete.

„Ich danke Ihnen,“ sagte er eifrig. „Nun werden wir ihn noch retten können, denn er befindet sich wirklich in einer Gefahr, die seiner Seele Schaden bringen kann.“

Wieder eine kurze Pause. Dann fragte er leise:

„Lieben Sie Horst Merkel? Und – haben Sie vielleicht schon die Absicht gehabt, die anderen Fesseln als lästig abzuschütteln?“

Helle Röte schoß ihr in das Gesicht. Sie zögerte mit der Antwort. Dann aber dachte sie daran, was ihr Freund ihr von diesem Winfried Dallmer erzählt, wie er ihn geschildert hatte: rauhe Schale, aber ein goldener Kern, – selbstlos, treu, aufopfernd, geist- und witzsprühend, wenn auch zuweilen etwas Spötter.

Und da erwiderte sie ohne Zagen:

„Ich weiß, wen ich vor mir habe und daß nicht müßige Neugier diese Frage an mich richtet. Ja, ich liebe Horst Merkel, und ich werde mich auch freimachen von dem anderen Manne, mit dem ich mich, unreif wie ich damals war, nur verlobt habe, weil es meiner Eitelkeit schmeichelte, so jung schon die Braut eines von all meinen Freundinnen angeschwärmten Herrn zu werden, ohne mir darüber auch nur im geringsten klar zu sein, was dieser Schritt bedeutete. Verstehen Sie mich aber bitte nicht falsch, Herr Dallmer, ich will mir nicht etwa meine Freiheit erkämpfen – denn es wird sogar ein schwerer Kampf mit meinen Eltern werden! – weil ich erwarte, daß Horst Merkel mich dann zum Weibe begehrt, sondern weil ich eingesehen habe, daß ich mit Max Schelling nie glücklich geworden wäre.“

Winfried Dallmer konnte nicht anders, er streckte ihr die Hand hin und sagte bewegt:

„Das war tapfer und ehrlich, gnädiges Fräulein. – Ich danke Ihnen für diese Aufrichtigkeit. Und nun, wo ich Bescheid weiß, sollen auch Sie alles erfahren, worauf Sie ein gutes Recht haben.“

 

9. Kapitel.

Ein Dieb in der Nacht.

Es war eine sehr lange und sehr eingehende Schilderung aller mit dem Orakel der Mockstraße zusammenhängenden Ereignisse, die der Maler dem jungen Mädchen jetzt gab. Nichts verschwieg er ihr. Er sprach auch von seiner Vermutung, daß Schelling durch besondere Umstände einen gewissen Druck auf Hellas Eltern habe ausüben können.

Als er dies erwähnte, nickte sie zustimmend und meinte leise:

„An eine solche Möglichkeit habe ich auch schon gedacht, da es sehr auffallend war, daß besonders meine Mutter, die bis dahin unseren Prokuristen kaum für voll angesehen hatte, plötzlich ihn mit einer Herzlichkeit behandelte, die oft etwas Erzwungenes an sich hatte.“

Nachdem Dallmer seinem Bericht nichts mehr hinzuzufügen wußte, erklärte Hella kopfschüttelnd:

„Sie nehmen es mir nicht übel, Herr Dallmer, aber Ihre Ansicht, daß Schelling als treibende Kraft hinter dieser ganzen Orakelkomödie steckt, kann ich nicht teilen – wirklich nicht! Er kehrt ja nicht etwa ohne Grund, oder wollen sagen, weil er mich zu verlieren fürchtet, nach Europa zurück, sondern weil die Ärzte ihn schwerer Malaria wegen heimschicken. Dies hat er mir und meinen Eltern in einem Briefe mitgeteilt, der schon vor der Absendung der Kabeldepesche unterwegs war. Er ist vorher wochenlang krank gewesen, und eigentlich war seine Rückkehr nur noch eine Frage der Zeit.“

Dallmer beharrte jedoch bei seiner Vermutung.

„Die Zukunft wird es lehren, gnädiges Fräulein, wer recht behält,“ meinte er. „Die Tatsache bleibt ja jedenfalls bestehen, daß für die Bansing und deren Helfershelfer die Person meines Freundes Horst von größtem Interesse ist und daß sie irgend etwas gegen ihn im Schilde führen, wodurch auch Sie in Mitleidenschaft gezogen werden. Wer hierbei den Anstifter spielt, ist ja im Grunde gleichgültig, da für mich die heilige Pflicht bestehen bleibt, unseren Doktor, den diese scheinbar so aussichtslose Neigung für Sie bis in die tiefsten Tiefen seiner Seele erschüttert und daher völlig kopflos gemacht hat, aus den dunklen Netzen von zwei gefährlichen Weibern – entschuldigen Sie schon diesen Ausdruck – zu befreien. Bevor ich Ihnen nun mitteile, was ich zu diesem Zweck zu tun gedenke, noch eine Frage. Hat Ihnen das Ebenholzschränkchen damals, als es Ihnen die Heimkehr Schellings ankündigte, noch irgend welche Fragen vorgelegt oder versteckte Befehle gegeben, die sich auf Ihr Verhältnis zu Horst bezogen?“

Hella nickte eifrig.

„Allerdings. Es waren nun freilich weder Fragen noch Befehle, sondern vielmehr handelte es sich um eine Warnung. Ich solle mich vor einem Menschen hüten, der sich mir unter der Maske der Freundschaft genähert habe und der es nicht aufrichtig mit mir meine, mir vielleicht eine frohe Zukunft zerstören werde. – Dies kann sich ja nur auf Doktor Merkel bezogen haben. – Ich gebe zu, ich war damals wie betäubt bei dieser Eröffnung, ebenso wie ich ruhig eingestehe, daß ich so lange eine gewisse Furcht vor dem Orakel empfinden werde, bis es völlig aufgeklärt ist, in welcher Weise der geheimnisvolle Schrank zum Reden gebracht wird.“

Dallmer lächelte ein wenig.

„Das Schränkchen stellt eine gute Varieténummer dar. Wäre der Trick, durch den es so überraschend wirkt, leicht zu ergründen, dann hätte der ganze Schwindel nie diesen Umfang annehmen können. Auch mir ist es ja noch unklar, wie man sich die Sache zu erklären hat.“

Eine gute Viertelstunde blieben die beiden neuen Verbündeten noch in lebhaftem Meinungsaustausch unter den leise rauschenden Kiefern sitzen. Dann kehrten sie gemeinsam nach der Stadt zurück.

Als Hella daheim anlangte, kam ihr Frau Burgstädt, was sonst nie geschah, bis in den Flur entgegen, wo das junge Mädchen sich gerade vor dem Spiegel das von dem Strohhut herabgedrückte Haar in Ordnung brachte.

Frau Burgstädt war sichtlich erregt. Sie schloß die Tochter in die Arme und streichelte ihr wortlos die Wangen.

„Was hast du nur, Mama?“ konnte Hella sich nicht enthalten zu fragen. Doch eine Antwort blieb aus. Sorgsam wie eine Kranke führte Frau Burgstädt ihre Tochter in ihr kleines Damenzimmer, wo der Großkaufmann beide erwartete.

Und ganz langsam bereiteten die Eltern Hella nun auf die vor einer Stunde erst eingetroffene Trauerkunde vor, bis Karl Burgstädt dann mit der vollen Wahrheit hervortrat: Schelling war an Bord des Dampfers, der ihn in die Heimat zurückbringen sollte, im Hafen von Lissabon gestern Abend an einem neuen Fieberanfall verstorben. Eine Depesche des Kapitäns hatte Burgstädts hiervon benachrichtigt.

Hellas Gesicht blieb unbewegt, wie aus Stein gemeißelt. Dann sagte sie leise:

„Verlangt nicht von mir, daß ich um Schelling trauere, wie sich dies für eine Braut geziemt. Ich habe mich innerlich von ihm längst getrennt. Und wäre dieses Ereignis nicht eingetreten, so hätte ich euch ohnehin heute gebeten, daß ich diese Verlobung, die ein böser Irrtum, eine Leichtfertigkeit von mir war, rückgängig machen dürfte. Ich habe Schelling nie wirklich geliebt – nie! Das habe ich leider erst recht spät eingesehen.“

Herr und Frau Burgstädt mochten eine ähnliche Eröffnung vielleicht vorausgesehen haben. Wenigstens zeigten sie kein übergroßes Erstaunen bei dieser kühlen Aufnahme der Trauerbotschaft durch ihre Tochter.

Diese ließ ihnen zu Zwischenfragen auch keine Zeit. Mit derselben reifen Ruhe, die ihr ganzes Tun und Lassen in der letzten Zeit ausgezeichnet hatte, fuhr sie nach kurzer Pause fort:

„Ich bin kein Kind mehr und kann daher wohl verlangen, daß ihr mir gegenüber ganz aufrichtig seid. Auch euch geht Schellings Tod nicht besonders nahe. Ich merke es euch sehr wohl an. Er ist euch ein Fremder auch als Schwiegersohn geblieben. Zwischen ihm und euch stand eben eine trennende Mauer, die ihr auch durch eure scheinbare Herzlichkeit ihm gegenüber nicht wegtäuschen konntet. Schelling war kein Ehrenmann. Er hat euch die Einwilligung, sich mit mir verloben zu dürfen, abgezwungen.“

Hellas klare Augen ruhten jetzt fest auf dem sich verfärbenden Gesicht ihres Vaters. Ihre Worte hatten diesen wie Keulenschläge getroffen. Ratlos schaute er seine Gattin an, nur um den forschenden Blicken seines Kindes zu entgehen.

Auch Frau Burgstädt hatte die Farbe gewechselt. Verstohlen nickte sie nun ihrem Manne wie aufmunternd zu. Der mochte einsehen, daß volle Ehrlichkeit unter den jetzigen Umständen das beste sei.

Die Stunde der Eröffnungen war da. Schweigend, starr wie vorher, vernahm Hella, daß Schelling großen Zollhinterziehungen auf die Spur gekommen war, die Burgstädts Hamburger Vertreter dort ohne Wissen seines Chefs begangen hatte. Die Sachlage war für den Großkaufmann so ungünstig, daß, wenn die Angelegenheit die Gerichte beschäftigt haben würde, er mitverantwortlich gemacht worden und kaum einer Freiheitsstrafe entgangen wäre. Dies hatte der Prokurist in verwerflichster, aber auch sehr schlauer Weise ausgenutzt. Ohne je zu drohen, hatte er seinen Chef und dessen Gattin doch dahin zu bringen gewußt, daß sie ihn schließlich als Bewerber von Hellas Hand in der Hoffnung willkommen hießen, hierdurch das drohende Unheil von dem bisher so hochgeachteten Namen Burgstädt abzuwenden. Allerdings – daß dieses Verhältnis jeder wirklichen Wärme entbehren mußte, war ja nur zu leicht erklärlich.

Die aufregende Familienszene in Frau Burgstädts Damenzimmer endigte schließlich mit herzlichen Umarmungen, Küssen und damit, daß Hella schweigend ihren glatten Goldreif vom Finger zog und in eine silberne Schale legte.

Wie eine schwere Last war es jetzt von dem Elternpaar genommen, das erleichtert in dem Gedanken aufatmete, sein Kind nicht einem Manne geopfert zu haben, der keinen Anspruch mehr auf die Achtung seiner Mitmenschen hatte. – –

Dallmer, dessen Adresse Hella sich für alle Fälle hatte nennen lassen, empfing zwei Stunden später einen Rohrpostbrief folgenden Inhalts:

Sehr geehrter Herr Dallmer!

Kaum nach Hause zurückgekehrt, teilten mir meine Eltern den Tod Schellings mit, der in Lissabon an Bord der „Alice Woermann“ plötzlich verstorben ist. Nach gründlicher Aussprache mit den Meinen reise ich schon morgen mit der Mutter für längere Zeit nach Cannes. An Schellings Begräbnis teilzunehmen, ist mir aus verschiedenen Gründen unmöglich.

Falls Sie Doktor Merkel sehen, grüßen Sie ihn von mir. Ich selbst werde nicht an ihn schreiben.

Ihre dankbare

Hella Burgstädt.

Am nächsten Abend traf mit dem letzten Zuge in Doberan ein Herr ein, der erst noch auf dem kleinen Bahnhof sein Abendbrot einnahm, bevor er mit seiner Reisetasche nach dem „Mecklenburger Hof“ wanderte und sich dort ein Zimmer geben ließ.

Inzwischen war es bei dem bewölkten Himmel trotz der lichten Juninacht recht dunkel geworden. Auf den Straßen zeigte sich kein Mensch mehr, und auch das Zelt vor dem Hotel war leer. Ungesehen, beinahe gänzlich unbemerkt, hatte der Fremde daher in das Gasthaus seinen Einzug gehalten. Nur der Oberkellner hatte ihn in Empfang genommen und ihm die freien Zimmer gezeigt.

Der Herr schien sehr wählerisch zu sein. Daß er es auf einen Raum abgesehen hatte, der neben den beiden von Frau Bansing und der Gesellschafterin bewohnten Zimmern lag, merkte der Keller nicht. Schließlich erklärte dieser, Nr. 9 würde morgen Mittag frei. Der Herr möge sich also vorläufig mit Nr. 8 begnügen.

„Gut, einverstanden. Also die Fenster von Nr. 9 hier, das jetzt noch belegt ist, gehen bestimmt auf den Kurpark hinaus?“

„Jawohl, mein Herr.“

„Dann nehme ich also bis morgen Mittag Nr. 8. – Muß ich mich gleich in das Fremdenbuch eintragen?“

„Wenn ich bitten dürfte …“ Und der Schwarzbefrackte schoß schon wieder die Treppe hinab.

Winfried Dallmer aber grinste hinter ihm drein.

„Das haben wir fein gemacht,“ dachte er. „Gut, daß ich gleich einen Blick auf die Tafel im Flur warf, auf der so hübsch deutlich mit Kreide hinter den Nummern 10 und 11 der Name Frau Bansings stand.“

In das Fremdenbuch schrieb der Maler sich dann als „Kaufmann Ernst Köhler aus Eberswalde“ ein, bestellte den Kaffee für neun Uhr früh und ging zur Ruhe.

Am nächsten Morgen klingelte er jedoch schon um acht Uhr förmlich Sturm. Der Keller kam herbeigestürzt, wurde aber grob angefahren. Der Hausknecht solle kommen. Der Gast behauptete, er habe einen bösen Kopfkrampf, und jemand müsse nach der Apotheke, um ihm Pyramidontabletten zu holen.

Der Kopfkrampf hielt den ganzen Tag über an. Nur zum Umzug nach Nr. 9 vermochte „Herr Köhler“ sich aufzuraffen. Dann legte er sich gleich wieder ins Bett, ließ sich noch Eis bringen und machte kalte Umschläge auf die Stirn.

Dallmer spielte die Rolle als Kranker so vorzüglich, daß niemand von den Hotelbediensteten auch nur im entferntesten auf den Gedanken kam, hier könne absichtliche Verstellung vorliegen. Leicht wurde ihm die erzwungene Bettruhe allerdings nicht. Aber es mußte eben sein. Er hatte sich vorhin alles genau überlegt. Wenn er nicht der Bansing, der Rosenburg oder gar Horst Merkel in die Arme laufen wollte, sobald er sich aus seinem Zimmer herauswagte, blieb ihm nichts anderes übrig als irgend ein an sich harmloses Leiden vorzutäuschen. Sonst wäre es aufgefallen, wenn er den Tag über auf seinem Zimmer gesessen hätte.

Gegen Abend gab es ein heftiges Gewitter, hinterher Regen und Sturm. Um acht Uhr ließ Dallmer sich eine warme Mahlzeit bringen und sagte dem Keller, daß er nicht mehr gestört werden wolle. Er würde jetzt zu schlafen versuchen. So belästigte ihn dann niemand mehr.

Inzwischen hatte er von dem Stubenmädchen, mit dem er sich durch ein paar harmlose Scherzworte und durch biedere Freundlichkeit schnell auf guten Fuß zu stellen wußte, erfahren, daß die Kopfkrampf-Komödie ganz überflüssig gewesen war, da die Bansing mit ihrer Gesellschaftsdame am Vormittag in Begleitung Doktor Merkels nach dem Seebade Brunshaupten gefahren war und erst mit dem letzten Zuge zurückkehren wollte, der um halb elf in Doberan eintraf.

Dieser Umstand erleichterte aber auch das Vorhaben des Malers ganz wesentlich. Um neun kleidete er sich an, verhängte das Schlüsselloch der nach dem Flur führenden Tür mit einem Taschentuch, überzeugte sich auch, daß sich in der Tür keine Ritze oder dergleichen befand, durch die er hätte heimlich beobachtet werden können, und rückte dann den Schrank von der zweiten Tür ab, die die Verbindung nach den beiden Räumen der Bansing und der Rosenburg darstellte.

Vorher hatte er sich schon durch angespanntes Lauschen überzeugt, daß das Stubenmädchen auch bereits diese Zimmer für die Nacht in Ordnung gebracht hatte. Es war ihm nicht entgangen, daß in Nr. 10 Wasserflaschen und Waschschüsseln frisch gefüllt und Betten glatt gestrichen wurden. Nr. 10 schien also das Schlafgemach der beiden fragwürdigen Damen zu sein.

Nachdem der Schrank weit genug zur Seite gerückt war, versuchte er die Verbindungstür zu öffnen. Sie war jedoch verschlossen. Ein Schlüssel steckte nicht im Schloß, so daß Dallmer einen der mitgebrachten Dietriche nach dem anderen probieren konnte.

Dem Maler war diese Arbeit völlig neu, und so kostete es ihm viele aufregende Minuten, bis der Riegel endlich knackend zurücksprang. Ebenso leise und vorsichtig, wie er bisher in seiner recht ungewohnten Rolle als Einbrecher tätig gewesen war, öffnete er nun auch die Tür, deren breite Füllung nach der anderen Seite ging und vor der ein dichter Vorhang hing. Durch Betasten dieses stellte Dallmer fest, daß jenseits desselben zwei durch einen schmalen Zwischenraum getrennte Betten standen. Nachdem er den Vorhang dann etwas hochgehoben hatte, konnte er, da durch die beiden Fenster noch genügend Licht hineinfiel, das Zimmer überblicken. Es war tatsächlich das Schlafgemach der Bansing und ihrer Gesellschafterin. –

Wie ein richtiger Dieb huschte der Maler nun zunächst in das Nebenzimmer. Offenbar waren dies die beiden Staatsgemächer des Gasthauses. Die ganze Einrichtung sprach dafür. Da er die aus dem Schlafzimmer in den Flur mündende Tür durch einen breiten Kleiderschrank verdeckt gefunden hatte, brauchte er nur der zweiten, die aus dem Wohnraum hinausführte, seine Aufmerksamkeit zu schenken. Sie war verschlossen, und sicherlich hatte das Stubenmädchen den Schlüssel unten wieder an das Brett gehängt, nachdem sie hier mit ihrer Arbeit fertig geworden war.

Dallmer sicherte sich dadurch vor einer Überraschung, daß er den Nachtriegel vorschob. Er rechnete bestimmt damit, daß niemand von den Hotelangestellten mehr hier etwas zu tun habe. Und ehe die beiden Bewohnerrinnen dieser Räume zurückkehrten, konnte noch gut eine Stunde vergehen.

Im Schlafzimmer standen zwei Rohrplattenkoffer. An die machte er sich jetzt heran. Er hatte es auf Briefe abgesehen, die ihn darüber aufklären sollten, mit wem die Bansing eigentlich verbündet war. In den Behältern der Hotelmöbel mit ihren leicht zu öffnenden Schlössern würde sie verfängliche Schriftstücke sicherlich nicht aufbewahren, ebensowenig solche in Berlin zurückgelassen haben. Ein moderner Koffer mit Patentschloß war der sicherste Aufbewahrungsort.

Die Koffer waren natürlich verschlossen. Damit hatte der Maler auch gerechnet. Mit Dietrichen war hier nichts zu erreichen. Es mußte Gewalt angewendet werden. In welcher Weise er dies nötigenfalls tun müßte, damit es nicht auffiel, hatte er mit Nicki Malnor vor seiner Abreise ganz genau überlegt und daher auch das nötige Handwerkszeug mitgebracht. Er ging nicht etwa den Schlössern selbst, sondern den Messingscharnieren der Deckel zu Leibe, bei denen er die Verbindungsstifte nach mühseliger Arbeit herauszog, die die beiden Scharnierteile zusammenhielten.

In dem zweiten Koffer fand er dann etwas, das er sich vorläufig anzueignen beschloß: Eine flache, eiserne Kassette mit einem Geheimverschluß, in der Papiere lagen, wie er durch Schütteln feststellte.

Als er die Messingstifte wieder leidlich eingefügt hatte, so daß nur bei genauerem Hinsehen die Beschädigungen an den Scharnieren bemerkt werden konnten, richtete er den Schein seiner elektrischen Taschenlampe auf das Zifferblatt seiner Uhr, schrak da mehr als erstaunt zusammen. Es war bereits einige Minuten über halb elf. Also hatte er eine Stunde dazu gebraucht, um die Koffer zu öffnen und unauffällig die Deckel wieder zu befestigen.

Eiligst schob er nun im Wohnsalon den Nachtriegel an der Flurtür wieder zurück. Und keinen Augenblick zu früh …! Kaum befand er sich in seinem Zimmer, als er auch schon drüben die beiden Bewohnerinnen eintreten hörte.

Er stand jetzt hinter der bis auf einen schmalen Spalt zugedrückten Verbindungstür, die zu schließen er nicht mehr Zeit gehabt hatte, und wartete auf eine Gelegenheit, wo er dies nachholen könne, indem er damit rechnete, daß die beiden wenigstens für kurze Zeit noch in das Wohngemach hinübergehen würden. Jetzt entledigten sie sich gerade im Schlafzimmer ihres nassen Schuhzeugs. Draußen regnete es noch immer, wenn auch nicht mehr so stark wie bisher.

Dann – er glaubte seinen Ohren nicht trauen zu dürfen! – dann hörte er folgendes leise geführtes Zwiegespräch.

Zuerst sagte eine sehr wohlklingende Altstimme:

„Will denn der Gimpel noch immer nicht auf den Leim gehen, Kind?! – Ich muß dir ehrlich erklären, daß mir diese Rolle als Taubstumme durchaus nicht mehr behagt. Wenn wir nur erst so weit wären, daß ich zu einem berühmten Professor gehen und mich von meinem Leiden erlösen lassen könnte. Ich sehe diesen Strohkopf schon vor mir, wie er mich beglückwünschen wird, wenn ich wieder hören und reden kann …!!“

Die Sprecherin lachte ironisch auf. – Dann erwiderte die hellere Stimme der Rosenburg, sehr leise, sehr vorsichtig, so daß Dallmer die Worte nur eben noch verstehen konnte:

„Ohne Frage macht er mir in den nächsten Tagen eine Liebeserklärung. Ich komme ihm absichtlich nicht entgegen. Aber beeile dich bitte. Wir wollen Merkel unten im Speisesaal nicht zu lange warten lassen. Inzwischen hat er ja sicher für uns ein Abendessen nach der Karte zusammengestellt. Ich habe tüchtigen Hunger. Die Seeluft wird daran schuld sein.“

Bald darauf verließen sie ihre Zimmer wieder.

Winfried Dallmer aber stand da wie zur Bildsäule erstarrt.

Die Bansing war gar nicht taubstumm?! – Das war ja eine nie geahnte Überraschung …! –

Dann raffte er sich auf. Er mußte ja diese Gelegenheit benutzen, die Kassette möglichst schnell wieder in den Koffer zurückzulegen.

Das Geheimschloß war sehr geschickt unter allerlei Knöpfen und aufgenieteten Arabesken verborgen. Aber der Maler hatte bald heraus, wie die Kassette sich öffnen ließ, in der eine ganze Menge Briefe, Urkunden und auch in einem Umschlag einige tausend Mark in Papiergeld lagen.

Hastig sah er die Schriftstücke durch. Von einem fertigte er dann eine Abschrift mit Bleistift an. In einer Viertelstunde war alles erledigt, und er konnte nun die eiserne Kassette wieder dorthin schaffen, wo sie hingehörte.

Während er sich dann in seinem Zimmer zum Ausgehen fertig machte, pfiff er vergnügt einen Gassenhauer vor sich hin, und ebenso vergnügt erklärte er unten im Vorraum des Hotels dem Hausdiener, sein Kopfkrampf sei vorüber und er wolle jetzt draußen noch etwas frische Luft schöpfen, da der Regen ja ganz nachgelassen habe. Er würde nachher klingeln. Der Hausdiener möge nur so lange aufbleiben. – Und dabei drückte er dem jungen Burschen eine Mark in die Hand.

 

10. Kapitel.

Des Orakels Ende.

Gegen zwölf Uhr war’s, als die beiden Damen, mit denen Horst Merkel noch gemeinsam gespeist hatte, sich von ihm verabschiedeten und sich auf ihre Zimmer zurückzogen.

Langsam wanderte der Doktor seiner eigenen Wohnung zu. In den stillen Straßen Doberans hallten seine Schritte so laut durch das nächtliche Schweigen. Erst nach einer Weile wurde er gewahr, daß jemand dicht hinter ihm herging. Er drehte sich unwillkürlich um, ohne jedoch stehen zu bleiben.

Da rief der zweite späte Spaziergänger ihm zu – und bei dem Klang dieser Stimme machte Merkel wie angewurzelt halt:

„‘n Abend, Söhnchen! Wie geht’s?!“

Und gleich darauf streckte Dallmer dem Freunde die Hand zur Begrüßung hin.

„Du – du –?! Was tust du denn hier …?!“ stotterte der Doktor verlegen.

„Hm – eigentlich bisher nur recht Strafwürdiges. – Aber wir wollen weitergehen. Ich muß dich dringend sprechen. Ist Herr Silbermann noch hier?“

„Ja, er fährt aber morgen wieder nach Berlin. Der Vertrag zwischen uns ist noch nicht zustande gekommen – leider! Aber aussichtslos ist die Sache nicht. Silbermann wird schon nachgeben. Er will zuviel aus meiner Arbeit streichen.“ – Merkel sagte das alles so hastig und so unsicher, daß Dallmer deutlich herausfühlte, wie unangenehm dem Freunde diese Begegnung war.

„So – also Silbermann können wir uns sofort greifen. Das trifft sich sehr gut,“ meinte der Maler kurz. „Du wirst ihn also wecken und in dein Zimmer rufen. Dort werde ich dir den Beweis liefern, wie schändlich man dich eingewickelt hat, dich armen Kerl! – Frage jetzt nichts. In Silbermanns Gegenwart erfährst du alles Nötige.“ – –

Der Verleger saß, nur spärlich bekleidet, auf dem Sofa. Er war recht ungehalten darüber, daß der Doktor ihn in seiner Nachtruhe gestört hatte.

Auf dem Tische brannte eine Petroleumlampe. Und in den beiden Plüschsesseln hatten Dallmer und Merkel Platz genommen.

Dann begann der Maler, der trotz der späten Stunde wieder seine geliebte Pfeife rauchte:

„Sagen Sie mal, Herr Silbermann, wie viel hat Ihnen eigentlich die Bansing dafür bezahlt, daß Sie als Helfershelfer bei diesem neckischen Spiel mitwirkten? – Und – ist Ihnen eigentlich bekannt, daß diese edle Dame ebenso gut hört und reden kann wie wir selbst? Weiter, wissen Sie auch, weswegen mein Freund Merkel sich mit der Rosenburg durchaus verloben soll? Und schließlich, sie waren es doch, der sich mit irgend einer bestechlichen Person in Windhuk in Verbindung setzte, – im Auftrage der Bansing natürlich! –, damit dieser die bevorstehende Abreise Schellings recht früh mitgeteilt würde?!“

Silbermann war längst zur Salzsäule geworden. Dann preßte er mühsam hervor:

„Woher wissen Sie das alles …?“

„So, also Sie geben Ihre Mitschuld zu?! – Sehr gut und sehr vernünftig, Verehrtester!“

Der Verleger hatte sich inzwischen wieder gefaßt.

„Mitschuld?! – Was heißt Mitschuld?! Mir kann keiner was anhaben,“ meinte er gleichmütig. „Wenn Sie Kriminalbeamter sind, wofür ich Sie halte, so werden Sie Gesetzeskenntnis genug besitzen, um sich selbst zu sagen, daß mir strafrechtlich nicht beizukommen ist.“

„Leider nicht!“ erwiderte Dallmer, indem er die Frage, ob er zur Polizei gehöre, absichtlich offen ließ. „Nun erzählen Sie uns aber mal, was Sie von der ganzen Geschichte wissen. Sie brauchen die Bansing nicht zu schonen. Der Schwindel ist aufgedeckt. Ich besitze sogar eine Abschrift des wichtigen Testaments.“

„Testament?“ fragte Silbermann erstaunt. „Was hat ein Testament mit der Sache zu tun?“ Man merkte, daß er die Verwunderung nicht etwa nur heuchelte.

„So, also dann wissen Sie doch nicht alles. Unter diesen Umständen wird es wohl das Richtigste sein, meinem Freunde Merkel sowie Ihnen kurz zu schildern, zu welch einer Art Komplott Sie sich, fraglos gegen recht gute Bezahlung, hergegeben haben. Die Angelegenheit läßt sich, so verzwickt sie erscheint, mit wenigen Sätzen aufklären. Aus verschiedenen Papieren und Briefen, die durchzusehen ich … hm – sagen wir – Gelegenheit hatte, ergaben sich folgende Tatsachen:

Frau Bansing heißt eigentlich Frau … Merkel und ist die geschiedene Gattin eines vor Jahrzehnten nach Australien ausgewanderten Bruders des Vaters meines Freundes Doktor Merkel. Die Scheidung wurde in Melbourne von den Gerichten vor zehn Jahren deswegen ausgesprochen, weil die geborene Bansing und spätere Frau Merkel, die nebenbei früher Varietékünstlerin und zwar eine sehr berühmte … Bauchrednerin war, ihrem Gatten so ein wenig nach dem Leben getrachtet hatte, um mit dessen Millionen ungestört ihrem Hange zu üppigstem Lebenswandel nachgehen zu können.

Nachdem sie acht Jahre im Gefängnis über das Unzweckmäßige dieses Tötungsversuches nachdenken konnte, erfuhr sie auf irgend eine Weise, daß ihr früherer Gatte in Ermangelung anderer Verwandter seinen Neffen Doktor Horst Merkel zu seinem Alleinerben eingesetzt hatte, obwohl er seit langem mit seinen in Deutschland lebenden Familienangehörigen jeden schriftlichen Verkehr abgebrochen hatte.

Dann lernte die Bansing die mindestens ebenso raffinierte Isa von Rosenburg auf der Überfahrt nach Europa kennen, und beide entwarfen dann den Plan, Doktor Merkel als Gatten für die Rosenburg einzufangen. Hierbei war ihnen nun die Freundschaft zwischen Hella Burgstädt und Merkel äußerst störend. Deshalb sollten die beiden mit Hilfe des Orakels langsam aber sicher auseinandergebracht werden, ebenso wie die Bansing auch dem in Windhuk weilenden Schelling mitgeteilt hat, daß es ratsam für ihn sei, schleunigst nach Berlin zurückzukehren und etwas auf seine Braut acht zu geben. Die Bansing hatte auch in Melbourne ihre Helfershelfer, von denen sie telegraphisch vor etwa vierzehn Tagen benachrichtigt wurde, daß das Ableben des schwer zuckerkranken Millionärs in kurzem zu erwarten sei.

Aus diesem Grunde mußten Sie, Herr Silbermann, Merkel hier nach Doberan locken, wo die Rosenburg ihn ganz für sich allein hatte und in aller Ruhe umgarnen konnte. –

So, das wäre alles. Und nun danken wir für Ihre anrüchige Gesellschaft, Herr Silbermann! Dort ist die Tür. Guten Abend, Sie Perle aller Verleger! Heute habe ich mit Ihnen abgerechnet. Morgen kommen die beiden … „Damen“ heran! Besonders die „taubstumme“ Frau Bansing, die so geschickt ihre Stimme dank ihrer Bauchrednerkünste aus dem Schränkchen hervordringen ließ und so erst das Orakel der Mockstraße ermöglichte, wird ihre helle Freude an meiner herzerfrischenden Grobheit erleben. – Nochmals – dort ist die Tür, Sie Silber- und Ehrenmann …!!“

* * *

Ein halbes Jahr später fand im Hause Burgstädt eine stille Hochzeit im engsten Familienkreise statt. Man wunderte sich im Feldherrnviertel sehr, daß der schwerreiche Doktor Merkel, den man auf einige zehn Millionen schätzte, mit einer so bescheidenen Feier zufrieden war. Verständige Leute erklärten allerdings mit Recht, es wäre wohl etwas unpassend gewesen, so kurz nach dem Tode des ersten Verlobten Hella Burgstädts eine rauschende Festlichkeit zu veranstalten.

Winfried Dallmer und Nicki Malnor waren ihres aus den Händen Isa von Rosenburgs glücklich geretteten Freundes Trauzeugen und die einzigen Hochzeitsgäste, die nicht zur Verwandtschaft gehörten.

Nachher bei der Tafel hielt der Maler dann eine Rede, durch die er bewies, daß auch ein arger Spötter tiefempfundene, herzbewegende Worte für das junge, schwererkämpfte Glück eines Freundes finden kann. Seine ebenso formvollendete wie geistsprühende Ansprache ließ er in die launig ernsten Sätze ausklingen:

„Und jetzt will ich unserem lieben Paare auch das Geschenk überreichen, das wir, Nicki Malnor und ich, aus dem Zusammenbruch des berüchtigten Orakels der Mockstraße zu diesem Zweck erworben haben.“

Auf seinen Wink wurde ein von zwei Dienern inzwischen hineingetragener hoher Gegenstand, der mit einer seidenen, reichgestickten Decke verhüllt war, den Blicken der Tischgesellschaft sichtbar gemacht. Es war das Ebenholzschränkchen.

„Seien wir gerecht!“ fuhr Dallmer fort. „Im Grunde ist es dieses Schränkchen gewesen, das einem strahlenden Glück durch Enttäuschungen und bittere Herzensnot zu schnellem Siege verholfen hat. Möge es den beiden, denen wir heute unsere besten Wünsche mit auf den neuen Lebensweg geben, auch fernerhin Segen bringen!“

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.