„Das Grab der Diamanten“
in Band 20 VK-Leihbuchausgabe im Gegensatz zu Band 40 Taschenbuchausgabe
„Im Niemandsland“.
Zufall …?! Wer wollte mir einreden, daß hier in der Steinkammer, wo nur das eine größere Loch nach Osten zeigte, eine der Revolvergranaten der „Vandalia“ zufällig den Weg durch dieses Loch gefunden und so die eine Ecke des Tresors glatt wegrasiert und die Tür gesprengt hätte … zufällig?!
Schachmatt lehnte da an dieser offenen Tür Christian Jensen Land und blickte uns ernst entgegen. Das Aussehen des blassen und erschöpften Mannes wirkte erschütternd und verwirrend zugleich und wurde doch zurückgedrängt in all seiner Aufdringlichkeit durch etwas noch weit Verblüffenderes: ein förmlicher Bach von Edelsteinen aller Größen hatte sich aus der gesprengten Pforte des Stahlschrankes auf den Boden ergossen und schillerte dort wie ein funkelnder breiter Streifen, wie eine Quelle im Sonnenglanz, flirrend, gleißend, verheißungsvoll und doch atemberaubend in der Fülle ihres unschätzbaren Wertes!
Und dicht daneben ein Mann wie ein Wrack, ein Mann, der fünf Jahre in den Tiefen der Erde unter seinen Urvettern gelebt hatte – wie zur Strafe für – ja, wofür?!
Dann belebte sich sein müder Blick, er reckte die Hand empor und sprach:
„Ich will beichten Abelsen … Ein Wunder ist geschehen … Helfen Sie, daß noch ein zweites geschieht…“
Gerade da ein leichter Schritt. Er verstummte. Hilda stand vor uns. Sie stutzte. Ihre Augen flehten. Seine Augen wurden warm und etwas scheu und schuldbewußt. Er nickte ihr zu. Alle Härte war dahin. –
„Ich hatte kein Recht, dich zu richten, mein Herz war kalt geworden und unfähig, gerecht abzuwägen, Hilda … Die fünf Jahre im Erdinnern mögen mich sehr verändert haben …“
Hilda Land war Weib und Gattin. Ihr Herz kannte nur die Freude über das Wiedersehen neben all der Sehnsucht und Nachsicht. Sie eilte zu ihm, sie kniete vor ihm, – – ich wurde hier überflüssig. Monte und ich schritten davon, setzten uns hinter den Tresor auf einen Felsblock und tauschten hier unsere Ansichten untereinander aus, wie dies so oft schon geschehen war, das heißt: Ich flüsterte meine Gedanken in seine Stummelohren, und er schaute mich verständnisvoll an und rieb seine Schnauze an meinem Knie … –
„Stell dir vor, alter Monte, du wärest in den Tresor geflüchtet und könntest dann nicht mehr heraus, sähest den Tod vor dir und hörtest doch die Klopftöne derer, die dich retten wollten … Du wärst verzweifelt und hättest schon mit dem Leben abgeschlossen … Und dann kommt eine Granate und befreit dich und schafft dir die Luft zum Atmen und den Anblick dessen, was wir hier sehen: ein Gewölbe, Gestein und den rinnenden Strom der Diamanten! – Male dir das aus und du wirst begreifen, daß der Geschützkampf mit der „Vandalia“ doch wohl etwas mehr war als nur grobe Sensation oder dergleichen … –
Es war eben Schicksalswalten! Es sollte so sein. Christian Land sollte beichten können und … sühnen … –
Und noch eins: Das ist Schicksal, das ist Weltgeschehen, Weltenvergehen … Neuland tauchte auf, erweiterte sich … Die Erde spie halb verhungerte, halb menschliche Geschöpfe aus … Eine grüne, fruchtbare Insel versank, – nur das Niemandsland blieb übrig … – Und dazu die anderen Menschen, vom Geschick mit hineingeworfen als Mitspieler in diese Tragödie der Weltenwehen, aus denen Neuland kam und alte Land verschwand … Tragödie der Geldgier nebenher … – Ein gigantischer Zug des Schicksalhaften liegt in alledem … Begreifst du das, Monte?!“
Monte, nur einen Hund, hatte in den Augen ein merkwürdiges Leuchten. Ein ganz anderes Leuchten als die Frau, die nun erschien und uns holte zu ihrem Gatten, der nun wieder ihr gehörte … –
Dann erzählte Christian Land:
„… Diamantenmarkt: je höher das Angebot, desto mehr sinken die Preise… –
Hätte das Diamant-Minen-Syndikat nun alle Steine, die gefunden wurden, auf den Markt geworfen, wäre ein verhängnisvoller Preissturz unvermeidlich gewesen. Man suchte nach einem Ausweg, die Steine als minderwertig unter das Publikum zu bringen. Man setzte sich mit Benito Armada, dem Besitzer einiger Diamantengruben in Ecuador, in Verbindung. Armada ließ den Tresor bauen, gewann mich für seine Pläne, und ich kaufte die „Vandalia“, ließ mein Weib daheim und übernahm auf offener See, unweit Kapstadt, die Steine. So fuhren wir mit dem Tresor im Schlepptau gen Osten, kamen bis zu den Galapagos, wo ein Orkan von unerhörter Wut über uns herfiel, den Tresor abriß und in die Turmklippe warf. – Ich rettete mich auf dieselbe Klippe, geriet in Gefangenschaft der Urvettern, und die wracke „Vandalia“ suchte, nachdem sie ausgebessert worden war, unter Johannsens Führung mit dem Stahlnetz jahrelang nach dem „schwimmenden“ Tresor, – doch der schwamm schon lange nicht mehr, der lag hier in diesem Gewölbe als beständige Anklage wider mich. –
Hilda hatte sich Johannsen angeschlossen, nachdem er ihr mitgeteilt hatte, wie es sich mit dem Tresor und seinem Inhalt verhielte. Sie glaubte die Wahrheit vor der Öffentlichkeit verschweigen zu müssen … Und gerade dies habe ich ihr zum Vorwurf gemacht, ausgerechnet ich, dessen Redlichkeitsgefühl in den Jahren der Gefangenschaft wohl erwacht, aber auch in die Irre gegangen war. Meine Schuld vergaß ich, Hildas Schuld, ihre angebliche Schuld, erschien mir doppelt groß!
Wir gehen alle nur immer Irrwege, lieber Abelsen … Wir suchen nach dem Guten unter dem Druck der Umstände und versagen dann kläglich … Bis die Liebe wie bei mir Erlöserin wurde – jetzt endlich!“
Er hatte Hilda den Arm um die Schultern gelegt, und sein glückliches Lächeln bewies mehr als alles andere die völlige Wandlung seiner umdüstert gewesenen Seele. –
„Was soll nun mit den Steinen geschehen?“, fragte ich leise und widerstrebend.
„All das war doch ein unerhörter … Schwindel, Abelsen … Ja, ein Betrug! Und ich hasse diese Steine nun und wünschte, daß …“
… Ein jähes Aufheulen Montes verschlang seine letzten Worte.
Dumpfes Grollen entstieg der Tiefe … Der Boden unter uns schwankte …
Die Titanen der Unterwelt meldeten sich abermals …
Wir stürmten davon wie gehetzt, wir kannten die Gefahr, wir mußten diese Stätte verlassen, die, jetzt unterhöhlt, jeden Augenblick in sich zusammenbrechen konnte. Wir ließen die blinkenden Schätze zurück, ich trug den Mann mit den blassen Wangen und den nun wieder so starren Blicken, ich vernahm sein heiseres Raunen: „Abelsen, die Diamanten werden nie mehr Unheil anrichten …!!“
Und er behielt recht … Hinter uns brach das Gewölbe zusammen unter ohrenbetäubendem Lärm.
Wir hetzten über das Trümmerfeld, das allmählich ins Gleiten kam … Wir wurden mitgerissen wie ein Nichts, wir klammerten uns an einen großen, flachen Block und benutzten ihn als … ja … als Schlitten … Er sauste zum Ufer abwärts wie ein Rammbock und stieß alles rundum beiseite … Er war wie ein mörderischer Kampftank mit einer Besatzung von Kämpfern des Lebens.
Ganz Neuland – Niemandsland war in Bewegung wie ein schweratmendes Geschöpf im Todesringen … Der Boden ringsum hob sich, senkte sich, veränderte seine Gestalt immerfort. Kam nicht zur Ruhe … Der Lärm steigerte sich zu einem andauernden Getöse … Die Erdrinde blähte sich auf, wollte wieder verschlingen, was sie einst hergegeben hatte an die Oberfläche …
Und aus Schlünden, die unsichtbar und neu entstanden, kroch die stinkende Odemflut eines schwefligen Qualms, schwarz und gelbgestreift wie ein Raubtier, hüllten alles ein und versperrten jede Umsicht. Immer dichter und dicker wurde diese Wolkendecke … Das Grollen in den Tiefen verstärkte sich zu einer Reihe von Explosionen … Steinmassen flogen empor, fielen nieder und glichen Geschossen, die uns bestimmt schienen …
Aber wir sollten nicht sterben … Wir erreichten den Strand und prallten dort fast mit Johannsen zusammen.
„Hallo, – also doch … gerettet!!“, begrüßte er uns. „Schnell an Bord!“
Mark Oldens und Diavolas Stimmen kamen aus dem Dunst: „Hier liegen die Boote … Hierher!!“
Die Finsternis wuchs. Der Rauch der unterirdischen Feuer quoll immer reichlicher aus den Schlünden und beengte die Brust … John Johannsen hatte mir den wunden Mann aus den Armen genommen und war entglitten wie ein Gespenst …
Mit einem Male war ich mit Monte allein. Und unsere Beine umspülten die Wogen und klatschten an die Bordwände eines kleinen Bootes. Wir sanken tiefer ein wie in Morast … Nein, wir sanken nicht ein, – nur das neue Land schickte sich an, die Heimkehr in die Tiefen des Ozeans anzutreten …
Nun saßen wir im Boot und waren allein …
Ringsum nur Lärm und Getöse und quirlende Wasser und heisere Schreie verängstigter Vögel …
Und Rauch … Rauch … Rauch und Finsternis … – Das Boot schwankte hin und her und taumelte wie trunken, aber es trug uns, Monte und mich, über die Stelle hinweg, wo noch vor Minuten der Tresor gelegen hatte, wie eine Quelle, glitzernd und gleißend: Diamanten!
Stunden vergingen … Das Boot trieb in der Dunkelheit wie ein müder Wanderer im Kreise, bis der Kiel knirschte und schrammte und … ich zurückfuhr …
Ein nasser Busch, ein grüner, nasser Zweig, hatte mein Gesicht gestreift … –
…Wie ein müder Wanderer im Kreise … So trieb das Boot … Vielleicht einen halben Tag … –
Wer wollte die rinnende Zeit abschätzen, wenn Himmel und Meer so gar keinen Anhaltspunkt boten, die tropfenden Minuten, die versickernden Stunden irgendwie zu kontrollieren?!
Möglich, daß der schwefelige Dunst, in dem Monte und ich dahintaumelten gleich Blinden, mit dazu beitrug, meine Gedanken mehr zu konzentrieren, als man es in einer solchen Lage zu tun pflegt.
Das Boot trieb im Kreise, und mein Denken zog in diesen endlosen, ungewissen Zeiträumen ebenfalls immer engere Kreise. Gewiß, die oft überlauten Explosionen in der Nähe und das zuweilen hoch aufschäumende Meer ließen mich häufiger zu dem Riemen greifen im nimmermüden Selbsterhaltungstrieb …
Auch Trieb. Und das Denken trieb auch im Kreise … –
Aber diese Unterbrechungen durch den Gebrauch der Ruder wurden beständig seltener. Dann dachte ich abermals rückschauend den Abschnitten des eigenen Daseins nach und vergegenwärtigte mir alles, was in diesen endlosen Wanderjahren über die ganze Erde hin mir zugestoßen an Merkwürdigem und Lehrhaften für des Daseins allerletzten Sinn …
Ja, – das war’s: Im Kreise immer enger liefen die Gedanken und spürten der Frage nach, ob unser Leben wirklich nur uns geschenkt dazu, daß wir es vergeuden in allen seinen Tagen und Monaten und Jahren nach unserem selbstsüchtigen Behagen?! –
Konnte das der Sinn des Lebens sein, daß ein Mann wie ich sich damit begnügte, nur immer den Wanderer im Abseits zu spielen?! –
Es war ein Spiel. Ein Spiel nach eigenem Wunsch ohne ernstes Streben, die mir bescherten Fähigkeiten irgendwie nutzbringend zu verwerten! Ein Spiel mit Gefahr und mit der Freude an der beständigen Abwechslung, – ein ruheloses Vagabundentun, nur entschuldbar vielleicht durch die Tatsache: Du bist ein Heimatloser durch Zwang, – man will nicht, daß du seßhaft wirst und dich nützlich machst!
Wirklich entschuldbar?! –
Ich hätte meinen Prozeß wieder aufnehmen lassen können, und man hätte mich freisprechen müssen, so wie die Dinge nun lagen seit langem …
– Hatte nicht also doch in meinem ganzen Tun und Treiben ein gewisser Egoismus gelegen?! Eben ein Nachgeben nach der Seite des eigenen Ichs hin, die nur immer dieses Ich in den Vordergrund drängt und darüber jene Pflichten vergißt, die schließlich jeder reife Mann anerkennen muß als die Grundlage eines Gedeihens einer Gemeinschaft des Strebens für alle, nicht für sich selbst!
… So irrten meine Gedanken im Kreise … so! Und das war in meiner Lage, hier im treibenden Boot, etwas so Sonderbares, daß ich innerlich immer wacher wurde, – ja, wacher! – bis mir die zweite Erkenntnis kam.
Meine Uhr war stehen geblieben: „Du befindest dich an einem neuen Wendepunkt deines Daseins!! Der bisherige Abschnitt ist vorüber, – diese Zeit steht still, sie steht und fließt nicht mehr weiter, – die Uhr ist abgelaufen! Diese Uhr! Eine neue mußt du aufziehen!!“
Seltsam all das … – Wie kam es, daß gerade heute, wo das Niemandsland versunken, wo nun doch ein Zufall mich wieder mir selbst überlassen und die Freunde von mir genommen hatte wie wesenlose Gespenster, – – wie kam es, daß diese Wandlung in mir sich so allmählich vollzog und immer klarer sich herausarbeitete zu dieser eindeutigen Erkenntnis: „Dein Dasein war nur immer dein Wunsch – nur! War nur immer ein Nachgeben und sich treiben lassen ohne tieferen Sinn!!“ –
Ein Mann und ein Hund in einem Boot und dazu diese unwahrscheinliche Helligkeit in mir trotz aller Dunkelheit um mich her … – seltsam! –
War das versunkene Neuland doch nur das gewesen, was die Natur ihm aufgeprägt als Stempel: Steinig und hart und nutzlos und unfruchtbar – – wie mein eigenes Dasein …?! Mußte es wieder in die Tiefe gleiten als Übergangserscheinung, damit etwas Besseres an seine Stelle trete?! In mir selbst, in der Zielsetzung meines Lebens?!
Wo sollte ich das Bessere hernehmen?! – Schwamm ich hier nicht in der Finsternis und im Nebel des Schwefeldunstes der Titanenarbeit der Vernichtung?! Wo und wie die neue Uhr aufziehen und die neue Zeit beginnen?!
… Und da war’s, daß der grüne, nasse Zweig meine Wange streifte und mich hochschrecken ließ. Da war es, daß das Boot strandete und festlag mit einem Male … Und daß ich zugriff und mich festhielt an dem grünen Busch und staunte über dieses Grün und die Blätter, die mit feinem Schlick überzogen schienen, als hätten sie unter der Oberfläche des Meeres geruht in den Tiefen, wohin nun wieder Neuland verschwunden …
Monte sprang mit einem Satz ans Ufer und stob freudig bellend von dannen. Sein Blaffen verklang. Mein Rufen war zwecklos. Ich zog das Boot auf das Gestade und … wunderte mich … Ein grenzenloses, ungläubiges Staunen war in mir. Noch zweifelte ich. Ich tappte vorwärts. Ich glaubte, hier dieses Ufer zu kennen. Ich stolperte über etwas, betastete das Etwas. Es war ein Vulkanglasstück, unter dem ein zerbrochener Schiffsschemel lag! –
Erinnerungen an meine gläserne Hütte auf Santa Renata tauchten in mir auf … Sollte wirklich die Natur sich dieses Wunder erlaubt haben und sollte … – – da zerriß jäh die Wolke des Qualms, und der nächste Windstoß schon gab die Aussicht frei …
Es war die Nordbucht von Santa Renata – ohne Zweifel! Dort war der Berg, dort hatte einst meine Hütte aus Kristall gestanden, dort verhielt nun oben mein Monte, und sein Körper zeichnete sich scharf gegen den sonnenklaren Himmel ab wie eine Statue. Regungslos verhielt das kluge Tier und blickte zu mir herab und schien zu bitten: Komm und sieh! –
Ich ging und ich sah …
Es war Santa Renata, das Grüne, das Fruchtbare, das dem Meer wieder Entstiegene – wie ein Vogel Phönix aus dem erneuernden Aschenbad! – Ich erblickte noch mehr: Dort im Osten, wo die Sonne aufgeht, erhob sich nun mitten aus dem Meer ein einzelner Kegelberg mit matt glänzenden Lavawänden, und der Berg qualmte und rauchte aus der Spitze und spie Feuer und bildete so ein Dauerventil für die Gluten der Tiefe und bot Gewähr, daß Santa Renata nunmehr nicht abermals ein Opfer würde, wie es einst geschehen, ein Opfer der Dämonen der Unterwelt, denn diese gierigen Dämonen konnten sich jetzt Luft machen in ihrem Wüten durch den Vulkanschlund dort in der weiten Ferne gen Osten …
Monte rieb den Kopf an meinem Knie und bellte freudig … Die Sonne strahlte und wärmte – und all die grünen Gewächse würde sich wieder erholen zu einstiger Fruchtbarkeit … –
Ich setzte mich und schaute in die Weite und dachte der endlose Stunden, in denen meine Gedanken gekreist und sich in mir das andere Wunder vollzogen hatte: Das der besseren Einsicht!
Da begriff ich das ganze Geschehen, das mir bisher so dunkel und unklar gewesen: Meine bisherige Lebensuhr war stehen geblieben, aber eine andere Uhr war angesprungen, die es zweckvollen Lebens! –
Die Zeit des Vagantentums war verklungen, und ein neuerer Sang und Klang bewegte meine Seele und gab ihr neuen, anderen Schwung! Santa Renata war zurückgekehrt, damit es mir Heimat würde. – Dies begriff ich nun!
So saß ich im Sonnenglast und schaute träumerisch in die Ferne und beobachtete, wie aus dem neuen Vulkan noch immer die Lava die Wände entlangfloß und unten im Wasser feinen Dampf erzeugte … In diesen Dampfschleiern brach sich das Sonnenlicht und zauberte ein Stück eines buntfarbigen Regenbogens hervor, hinter dem sich allmählich etwas anderes hervorschob: Ein dunkler Schiffsrumpf, ein großer Dampfer mit geknickten Schornsteinen und gekappten Masten und halb zerstörter Brücke – und vielen Menschen an der Reling, die alle zu meiner Insel herüberstarrten und als Passagiere eines sinkenden Wracks hier bei mir Rettung erhofften.
So war’s!
Ich lief zur Bucht, kletterte ins Boot, lotste nachher das Schiff in die Bucht und half, es auf flachem Strand aufsetzen, damit es nicht wegsackte. Es war ein Auswandererschiff, nach Argentinien bestimmt, mit dreihundert Menschen an Bord, zumeist Deutschen, zumeist Familien. – –
Meine Uhr war stehen geblieben …
Ich habe die neue aufgezogen, und seitdem sind Monate dahingegangen …
Der wahre Sinn des Lebens ist Arbeit zum Nutzen aller und Ausnutzen der eigenen Gaben für alle … –
Das tue ich jetzt. Die Auswanderer sind auf meiner Insel geblieben, und ich bin ihr Oberhaupt und der erste ihrer Arbeiter und auch der letzte …
Weshalb sie bei mir blieben?! – Es sind zumeist Deutsche … Fast alle. Und er, dem sie bisher gehorcht hatten als ihrem Wortführer, hieß Johannsen und – das Schicksal muß es so gewollt haben! – und ist ein Bruder von John Johannsen, dem Vertrauten Frau Hildas. Harold Johannsen hat eine blonde Tochter, nicht mehr ganz jung, herb und seltsam ernst – aber schön wie ein Märchen aus Nordland. Sieglinde heißt sie und wird Linda genannt. Linda hörte mir zu und zog meine Worte, als ich die Schiffbrüchigen zum Bleiben zu bewegen suchte, in sich ein, – ich sah es ihr an. Ich hatte damals ganz schlicht gesprochen von der großen Wandlung in mir und hatte nur betont, daß das Geschick zuweilen denen einen Wink gäbe, die es liebe.
Hier war ein Land, das niemandem gehöre und das wir uns untertan machen könnten für alle …
Vielleicht verstanden damals nur wenige mich ganz, aber die meisten fühlten wohl, daß es hier um Zusammenhänge ging, die man nicht mißachten dürfte. Da entschieden sie sich zum Bleiben – und blieben und sind hier und gaben dem neuen Dasein einen Inhalt. Meinem Dasein, das nunmehr nicht weiter im Abseits sich verliert, sondern im Alltag des Mühens und Arbeitens und Sichsorgens für die, die mir gehorchen und die auf Renata die Kolonie gründeten, unser Reich – mein Reich … –
Monate sind seitdem dahingegangen. Wir haben vom Festland Vieh und anderes geholt und holen immer mehr … Wir sind reich, denn dieser Boden von Renata ist doppelt und dreifach gesegnet … Das Bad im Pazifik hat der Insel nicht geschadet, nein, der Boden verheißt dreifache Ernte.
Mein Haus auf den Hängen des Berges, wo einst meine Glashütte stand, blickt hinweg über die Täler in frischem Grün mit arbeitenden Menschen und weidendem Vieh und über das Meer, das sein Wahrzeichen – den neuen Vulkan, – zeigt, die Gewähr, daß Renata nimmer zurückgleitet dorthin, wo nun Neuland wieder ruht – Niemandsland!
Oft steigt die herbe Linda Johannsen zu mir empor und leistet mir Gesellschaft und hilft mir, wenn ich mir den Kopf zergrübele, wie den Bewohnern meines Reiches noch mehr genützt werden könnte durch dieses und jenes, damit jeder zufrieden sei …
Oft sitzen wir dann im Sonnenfarbenspiel des Untergangs des Tagesgestirns und spähen über die See und schweigen und denken und verraten nicht, was wir denken. Linda ist spröde und zurückhaltend und schaut mich nur zuweilen so eigentümlich prüfend an. Sie scheint mit sich zu kämpfen, als wollte sie mir etwas Besonderes anvertrauen … ja müßte sogar, und als ob sie den Mut dazu doch nicht fände.
Gestern, wieder Monate später, nach der zweiten reichen Getreideernte, haben wir abermals droben so nebeneinander gehockt zwischen den frischen Gräsern, und Linda hat Monte noch zerstreuter als sonst den Kopf gekraut und schließlich gefragt:
„Schreiben Sie noch immer Tagebuch, Herr Abelsen?“
„Ja … Ich werde nun jedoch sehr bald damit aufhören und meinem deutschen Freund die letzten Seiten schicken. Dann wird Olaf Karl Abelsen für die ferne Welt tot sein und nur der neue Olaf hier wird leben … –: Der Wanderer im nutzbringenden Alltag!“
„Schade drum…“, meint sie leise. „Aus Ihren Tagebüchern sprach eine so warme Liebe zur Natur und zu den Tieren und zu den … Menschen … Ja, auch zu den Menschen!“
Ich denke erst nach, bevor ich entgegne:
„Wenn ich heute nach all den letzten Erfahrungen diese Tagebücher niederschreiben würde, dann dürften sie doch anders ausfallen als einst, wo ich noch in dem Wahn lebte, man könnte in vielem mit dem Kopf durch die Wand und brauchte nur immer auf sich selbst Rücksicht zu nehmen. Das Leben ist nicht so, wie es sich auch in meinem Kopf einst widerspiegelte, – es ist ganz anders. Sein Sinn ist Arbeit an sich selbst und für sich und andere, all das in richtigem Verhältnis, damit niemand und nichts zu kurz kommt dabei! Der Sinn des Daseins ist der ehrliche, stete Versuch, einen Ausgleich zu schaffen zwischen Selbstzucht und deren Folgeerscheinungen und der Pflicht, allen Mitmenschen nach Kräften zu helfen, damit sie zu derselben Einsicht gelangen!“
„Ja, so mag es sein …“, nickt sie nur und stützt den Kopf in die Hand und sinnt vor sich hin.
… Darüber bricht die Nacht an.
Und drüben aus der Spitze des Vulkans schießen heute besonders kräftige und helle Flammen empor und erleuchten das Meer weiter denn je und werfen auch einen schwachen Schimmer auf Lindas ernstes Profil.
„Haben Sie jene Jane, die Jane von der Zauberinsel Malmotta, sehr geliebt?“, fragt das Mädchen an meiner Seite dann wieder.
Ich erschrecke. Ich hatte zu ihr nie von Jane oder Malmotta gesprochen.
„Woher wissen Sie, Linda?“
Ich warte eine geraume Weile auf Antwort. Ich habe mich in letzter Zeit mehr als je mit Jane beschäftigt in meinen Erinnerungen, im Geist mit ihr gesprochen – und Jane gebeten, daß sie mir verzeihen möge. Aber das Leben gehöre nun einmal den Lebenden …
„Ich weiß … Ich las über Malmotta … Ich las alles von Ihnen … Und daher bat ich meinem Vater, hier zu bleiben – deshalb!“
… Also das war’s! Das war ihr kleines Geheimnis … – oder – war es doch ein großes?! Nicht nur ein kleines …?!
Ich starre in die Ferne nach dem feurigen Berg hinüber und hoffe, Linda würde noch mehr zu sagen und zu beichten haben.
Dann erhebt sich Monte und legt Linda die Pfoten auf die Schultern, wie Hunde es tun, wenn sie einen Traurigen trösten wollen. Da erst merke ich, daß Linda ganz leise weint …
„Weshalb Tränen, Linda?!“
Sie beugt den Kopf in Montes Nackenfell und flüstert:
„Weil ich fürchte, daß Sie sich sehr einsam fühlen nach dieser großen Liebe zu Jane, zu der Jane von Malmotta …“
Linda war herb und spröde und schön wie ein Märchen …
Bisher … – schön blieb sie … Sie blühte sogar noch mehr auf … Aber herb und spröde?!
Nein!
… In dieser Nacht finde ich den zweiten Sinn des Daseins: daß der Mann naturbestimmt eine Ergänzung braucht, wie dies schon die alten Ägypter in ihrem Isis- und Osiris-Kult zum Ausdruck brachten, – die einzig gegebene Ergänzung, durch eine Frau, durch die Ehe, durch die Fortpflanzung seines Ich’s im Schoß der Familie …!
… Der Wanderer im Abseits steigt Arm in Arm den Berg der Erkenntnis hinab in die grünenden Täler bewußter Pflichten.
Abelsen, der Abenteurer, wurde zu Abelsen, dem Siedler, dem nützlichen Mitglied der großen menschlichen Gemeinschaft … – –
Hiermit enden meine Tagebücher … – –