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Banditen des Olymp

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 273

 

Banditen des Olymp

 

Erzählt von

Max Schraut

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1929 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin SO 16.

 

1. Kapitel.

Der Mann, der die Depesche stahl.

So elend er sich damals auch fühlte, er hatte doch noch Interesse für das merkwürdige Auslandstelegramm. Am Nachmittag suchte er dann Professor Grabert, Blinddarmspezialist, auf, lehnte meine Begleitung energisch ab und meinte, am besten wäre es, der Wurmfortsatz würde operativ entfernt, das Ding belästige ihn schon eine ganze Weile, er habe nur nicht darüber gesprochen. Seit heute nacht seien die Schmerzen jedoch bedenklich geworden.

Daß Haralds Mutter in äußerster Sorge auf telephonischen Bescheid wartete, daß die Stimmung bei uns sehr gedrückt war, – kein Wunder weiter. Um sechs rief dann der Professor persönlich an. „Kein Grund zur Beunruhigung, vorläufig Bettruhe und genaue Beobachtung …“

Als Frau Harst und ich um halb sieben in Graberts Privatklinik eintrafen, fanden wir unseren Patienten im obersten Stockwerk in einem Zimmer mit Balkon untergebracht. Er lag im Bett, trug einen neuen dunklen Schlafanzug, hatte eine Eisblase auf dem Bauche und meinte bedauernd, die Depesche könnte unter diesen Umständen in den Papierkorb wandern.

Inzwischen hatte unsere Mathilde bei ihren abendlichen Einkäufen schon dafür gesorgt, daß unser Kaufmann, der Briefträger und der Fleischer die betrübende Kunde als Allerneuestes weiterverbreiten konnten. Mathilde ist gewiß eine Perle, aber Perlen im Alter von etwa sechzig pflegen nicht mehr ganz dicht zu halten. Wir merkten dies, als wir gegen acht heimkehrten. Vier Leute sprachen uns an, und Frau Harst konnte nur bestätigen, daß ihr großer Junge tatsächlich einige Tage in der Klinik bleiben müsse.

Nach dem Abendessen, das sehr still verlief, fragte ich nochmals telephonisch an, ob etwa Fieber eingetreten sei. Die Schwester beruhigte mich: Keine Spur, – mein Freund würde bei Diät und Ruhe sicherlich um eine Operation herumkommen. – Dies zerstreute unsere Sorgen ein wenig, und der späte Gast, der sich gegen neun Uhr durch Mathilde melden ließ, wurde höflich und zuvorkommend wie stets empfangen. – Auf der eleganten Besuchskarte las ich:

Marchese Silvio Emanuel Pragazza,
Legationssekretär,
Venedig,
Pragazza-Palast.
z. Z. Berlin-Dahlem,
Parkstraße 99.

Der Marchese, ein jüngerer Herr mit melancholischen Augen und vorbildlich sitzendem Abendanzug, entschuldigte sich in mäßigem Deutsch der späten Störung wegen. – Daß Harst nicht anwesend, enttäuschte ihn schwer, – ich als Ersatz genügte ihm nicht recht. – Sehr schmeichelhaft für mich.

„Sie haben es sicherlich in den Zeitungen gelesen, Herr Schraut, daß Miß Jane Malling, der Star der Hollywood-Grandsteaple-Filmkompagnie, vor fünf Tagen samt einigen anderen Filmleuten von griechischen Banditen in die Berge verschleppt worden ist und daß der bekannte Räuber Arbulos Ahlenzos ein Lösegeld von einer Million Dollar, zahlbar innerhalb vierzehn Tagen, gefordert hat?“

„Gewiß, Herr Marchese … Wir lasen es. Harst meinte, es sei eine vorzügliche Reklame,“ erwiderte ich gemessen. Emanuel Pragazza hatte denn doch zu deutlich erkennen lassen, daß ich für ihn als Autorität in speziellen Fällen nicht viel galt. Ich bin nicht empfindlich, aber der Marchese schien mich mehr als besoldeten Sekretär (was ich längst nicht mehr bin) zu betrachten. Ohne direkt hochfahrend zu sein, behandelte er mich doch mit einer gewissen verletzenden Herablassung.

Er streifte langsam die Handschuhe von seinen schmalen Händen. „Ihr Freund befindet sich in einem recht bedauerlichen Irrtum, Herr Schraut,“ erklärte er plötzlich etwas schärferen Tones. Ihm schien Harsts Annahme eines Reklametricks arg zu mißfallen. „Ich habe absolut sichere Nachricht erhalten, daß die Verschleppung der sechs Mitglieder der Filmexpedition Tatsache ist, daß der berüchtigte Bandit nie umsonst droht, seine Gefangenen für immer verschwinden zu lassen, falls das Lösegeld nicht prompt bezahlt wird oder die Polizei sich einmischt, und daß in diesem Falle dieser Unmensch einen der Eseltreiber bereits als Warnung an einen Baum einer Wegekreuzung aufgeknüpft hat. Dieser Ärmste, selbst ein Grieche und nur für die Expedition gemietet, war der sechste Gefangene. Von einem abgenutzten Reklamekniff kann nicht die Rede sein. Mich selbst geht die Sache insofern sehr viel an, als ich mit Jane Malling verheiratet bin, was der Presse zum Glück nicht bekannt ist. Nur wenige Vertraute wissen darum. Wir heirateten hier in Berlin im März dieses Jahres, als die Hollywoodleute sich auf der Durchreise nach Griechenland befanden und sich hier vierzehn Tage aufhielten. Ich lernte Jane gleich am ersten Tage im Teeraum des Esplanade-Hotels kennen, ihre Schönheit berauschte mich, ihr Charme äußert sich nicht nur auf der Leinwand, – nach acht Tagen waren wir ein glückliches Paar, meine engen Beziehungen zur hiesigen italienischen Botschaft räumten alle Schwierigkeiten hinweg, aber mein Reichtum vermochte Jane doch nicht von ihrem Kontrakt zu entbinden, und da ich soeben erst einen längeren Urlaub gehabt hatte, konnte ich meine junge Gattin unmöglich begleiten, gab ihr jedoch meinen Kammerdiener Guiseppe zum Schutze mit, einen älteren Mann, der meiner Familie bereits dreißig Jahre treu gedient hat und der mir, dem letzten Pragazza, mehr Freund als Untergebener ist. Guiseppe gelobte mir, Jane wie seinen Augapfel zu hüten, nun befindet er sich mit unter den Gefangenen des Arbulos Ahlenzos. Ich beabsichtige, morgen mit einem Flugzeug nach Nordgriechenland zu reisen, und wollte Ihren Freund bitten, mich zu begleiten. Ich bin nicht der Mann, der einem Briganten ohne weiteres eine Million Dollar zahlen läßt, – das Schuldkonto dieses Ahlenzos ist ellenlang, es ist höchste Zeit, daß er und seine Bande vernichtet werden, und ich werde es tun.“

Der Marchese sprach die letzten Sätze in völlig verändertem Tone. Man spürte, daß dieser elegante Weltmann mehr Energie besaß, als sein Gesicht auf den ersten Blick verriet. Hinter dem träumerischen Schleier seiner dunklen Augen sprühten die Funken einer rücksichtslosen Tatkraft, und der Satz, den er nun hinzufügte, bildete den Schlußpunkt eines ohne viele Phrasen ganz kurz angedeuteten Planes, der nach allem, was man bisher von Arbulos wußte, kein harmloser Spazierrit werden konnte.

„Ahlenzos war noch ein ganz junger Bursche, als von den Räubern des Olymp der deutsche Ingenieur Richter verschleppt wurde. Dieser Fall liegt viele Jahre zurück. Arbulos leistete schon damals den Banditen Spionendienste. Auf seinen Kopf ist nunmehr eine Belohnung von zehntausend Drachmen ausgesetzt, die einer wohltätigen Anstalt zugute kommen sollen.“

Er erhob sich. „Ihr Freund hätte fraglos mitgemacht, Herr Schraut. Es ist sehr schade, daß er erkrankt ist. sehr schade …! – Darf ich einmal Ihr Telephon benutzen?“

„Bitte sehr …“ Ich deutete auf den Schreibtisch und rückte ihm auch den Apparat und den Schreibsessel zurecht. Er verlangte das Amt Brabant und dann die Nummer 19 91. „… Es ist die Nummer meiner Villa.“ sagte er leise zu mir. „Hallo – hier Pragazza …“ Zu meinem Erstaunen gebrauchte er jetzt die deutsche Sprache … „Bist du es, Mafalda? Bestelle doch Aristide, daß er sofort den Flugplatz Tempelhof davon verständigt, daß …“ – Pause, – er beugte sich über die Schreibtischplatte und sprach dann hastig weiter: „– daß das große Flugzeug nicht nötig ist, es genügt eine kleinere schnellere Maschine, da die Herren Harst und Schraut mich nicht begleiten können … Du hast mich verstanden? – Also bitte sofort … Es wäre eine unnötige Ausgabe … Ich fahre von hier in den Klub.“

Er hängte ab und stand auf. „Verbindlichsten Dank, Herr Schraut … Wollen Sie bitte Ihrem Freunde meine aufrichtigsten Wünsche zu seiner baldigen Genesung ausrichten.“ Eine gemessene Verbeugung, – der Herr Marchese hatte bereits den Türgriff in der Hand, … wandte sich nochmals um … Ich hätte es beinahe vergessen, ich erhielt da heute früh aus Trikkala[1] in Nordgriechenland eine merkwürdige Depesche …“

Jetzt log er bestimmt. An die Depesche hatte er bereits gedacht, als er die Pause in dem Telephongespräch eintreten ließ, denn gerade vor ihm hatten ja sowohl das an Harald gerichtete Auslandstelegramm, Aufgabeort ebenfalls Trikkala, sowie zwei Bogen Papier, bedeckt mit Harsts Lösungsversuchen der schwierigen Chiffreschrift, gelegen. Der Marchese mußte diese Blätter unbedingt gesehen haben, er mußte auch ebenso bequem den Namen Trikkala gelesen haben, mithin schauspielerte er jetzt, als er einen plötzlichen Einfall vortäuschte.

„… Sie erreichte mich, kurz bevor ich zur Botschaft fahren wollte, Herr Schraut, ich wollte Sie Ihrem Freunde gern vorlegen, aber ich denke soeben erst daran, daß ich sie daheim liegen ließ … Sie ist nämlich teilweise in Zahlen niedergeschrieben, der ganze englische Text daher ohne Zusammenhang und sinnlos, was um so bedauerlicher ist, als ich überzeugt bin, daß die Depesche sich auf Janes Entführung bezieht.“

Er schaute mich dabei mehr nachdenklich als forschend an. Alles in allem war er ein ziemlich gerissener Gentleman, fand ich, obwohl seine Überleitung zu dem Thema Depesche etwas plump gewesen war. Ein unbestimmtes Mißtrauen gegen diesen Menschen stieg in mir auf, niemand konnte mir das verargen, – ich erwiderte daher vorsichtig:

„Harst erhielt auch ein Telegramm aus Trikkala – seltsames Zusammentreffen!“

Er nickte schwach. „In der Tat, seltsam. Ich möchte nicht aufdringlich erscheinen, – aber die Verschleppung meiner Gattin wird vieles entschuldigen. Kann ich die Depesche sehen? Es wäre doch recht bedeutsam, wenn sie zum Beispiel genau denselben Text aufwiese wie die meine.“

Der schlaue Fuchs fand bei mir jedoch keine Gegenliebe.

„Ich muß unendlich bedauern, Herr Marchese … Harst hat es mir ein für allemal zur Pflicht gemacht, keinerlei Schriftstücke Fremden vorzulegen – schon aus Diskretion nicht, da wir doch in den meisten Fällen von Leuten in Anspruch genommen werden, die sich aus diesem oder jenem Grunde nicht an die Polizei wenden möchten.“

„Das sehe ich vollkommen ein …“ – er öffnete die Tür und trat in den Flur, nahm seinen Mantel vom Haken der Garderobe und zog ihn an. Es war ein schwarzer leichter Mantel mit kurzer Pelerine, ein Frackmantel aus Seide, – ich habe nie ein so vornehmes Ding besessen und Harald erst recht nicht.

Nach einigen Redensarten, wie sie nun mal beim Abschied üblich sind, riegelte ich die gut gesicherte Haustür auf, der Marchese verneigte sich … „Oh – meine Handschuhe,“ meinte er lächelnd. „Ich bin sehr zerstreut.“ Er kehrte um, die Handschuhe lagen auf der Schreibtischecke, er nahm sie an sich, hüstelte dabei stark, und konnte doch nicht vermeiden, daß ich das leise Knacken hörte. Ich stand hinter ihm, – jetzt hatte ich einen klaren Beweis für seine Hinterhältigkeit, ich legte ihm die Hand auf die Schulter, er wandte sich jäh um …

„Bitte, lassen Sie Ihre Momentkamera besser hier, Herr Marchese …“ meinte ich ironisch und griff nach dem Telephonhörer, griff aber auch sicherheitshalber mit der linken Hand in die Schlüsseltasche …

„Sie Narr!“ sagte er grob, – und die Begleitung zu dieser Bemerkung war ein blitzschneller Fausthieb, dem auch ein Berufsboxer erlegen wäre. Die Herzgrube ist nun einmal eine Stelle, die bei jedem sehr empfindlich sein dürfte.

Als ich leidlich wieder mein eigenes Ich geworden, hatten sich der Herr Marchese und mit ihm die Depesche sowie Haralds Lösungsversuche der Chiffreschrift vollständig verkrümelt. Meine Rolle als Harsts Generalvertreter hatte außerordentlich blamabel geendet – vorläufig. –

Ich raffte mich also auf, ging zum Schreibtisch, rief die Nummer Brabant 19 91 an, die der Herr Marchese gleichfalls benötigt hatte, und erhielt von einer groben Männerstimme einige Liebenswürdigkeiten per Draht versetzt, in denen die erklärenden Sätze vorkamen, daß „ich mich nich’ von m’ jrünen Schnösel von wejen Flugzeug und so verkohlen lasse“, – worauf ich sehr höflich meinen Namen nannte und von dem nun ebenfalls in Höflichkeit ersterbenden Herrn August Muffelberg, Schuhmacherei, sehr um Entschuldigung gebeten wurde …

Ich hängte ab, blätterte im Fernsprechverzeichnis: Es gab keinen Marchese Pragazza!

Ich fragte zur Vorsicht noch bei dem Pförtner der Italienischen Botschaft an und war natürlich auf einen gleichen Mißerfolg vorbereitet. – Irrtum: Marchese Silvio Emanuel Pragazza sei Legationssekretär, wohne Dahlem, Parkstraße 99, in eigener Villa …

Von einer Verheiratung des Herrn Marchese sei dem Pförtner allerdings nichts bekannt.

„Schluß. Danke verbindlich.“

Mithin war ich von einem Burschen hineingelegt worden, dem es lediglich auf die Depesche und Harsts Lösungsversuche angekommen war. Der Mann hatte Glück gehabt, aber auch er konnte mit dem Raube nichts anfangen, denn die Lösung war Harald bisher nicht geglückt.

In diese meine flaue Stimmung platzte als angenehme Ablenkung Freund Tobias Remmele hinein, einer unserer „wertvollsten“ Bekannten, denn Tobias war Besitzer eines kleinen Goldwarengeschäftes in der Berkaer Straße hier in Altschmargendorf, – Junggeselle, etwa fünfzig, weit gereist, bierehrliche Haut, seit langem gelegentlicher gern gesehener Abendgast zum Schoppen Bier und – Hauptsache – äußerst bildungshungrig und brillanter Rätselrater. Er hatte es in der Kunst, Rätsel im Nu zu lösen, verblüffend weit gebracht.

„Harst ist krank?“ – er schüttelte mir teilnehmend die Hand. Dann schnupperte er auffällig. „Hm – das Parfüm kenne ich …!“

Allerdings hatte der „Herr Marchese“ eine sehr starke Duftwolke zurückgelassen.

„… Einer meiner besten Kunden, lieber Herr Schraut … Feinste Nummer, so was wie ein Fürst, Italiener … Hat letztens noch zwei Ringe gekauft … Wohl zu ’ner Spritztour mit irgendeiner Saisongattin. Marchese Pragazza aus der Parkstraße …“

Ich drückte Tobias Remmele in einen Sessel.

„Wissen Sie auch,“ sagte ich kummervoll, „daß Sie meinem Selbstgefühl soeben einen weit ärgeren Stoß versetzt haben als der falsche Marchese?! Tobias, Tobias, beschreiben Sie mir den Saisongatten. Und gnade Ihnen Gott, wenn die Beschreibung so ausfällt, daß ich mich dann gar nicht mehr in diesen verrückten Dingen zurechtfinde!“

Remmele schielte ängstlich nach der Tür. „Lieber bester Herr Schraut, in Zehlendorf gibt es ein wunderschönes Sanatorium für solche Leute …“ Dann wollte der Feigling flüchten. Zum Glück trägt er stets Schwalbenschwanzröcke, ich erwischte einen Zipfel, und Remmele wurde bleich. „Schon gut … schon gut, – also dunkle melancholische Augen, römische vornehme Nase, kleines schwarzes Bärtchen, etwas dicke Lippen, energisches Kinn, schlank, elegant, sehr schmale Hände, sehr gemessen-weltmännisches Auftreten, leidliches Deutsch und …“

Ich starrte Tobias entsetzt an.

„Er war’s!“ keuchte ich nur … „Er war’s!! Ich muß unbedingt …“

… Draußen schrillte schon wieder die Flurglocke. – Mathilde, Köchin und Zofe und Diener in eins, lag längst in den Federn.

Ich ging also abermals öffnen.

Vor mir stand … der Marchese Silvio Emanuel Pragazza – – genau derselbe Boxer von vorhin, genau derselbe Anzug …

„Sie gestatten, daß ich mich vorstelle,“ sagte er höflich-kühl. „Marchese Pragazza … Herr Schraut – Ist Ihr Freund daheim?“

 

2. Kapitel.

Arbulos Ahlenzos neueste Tat.

Silvio Emanuel Pragazza hörte meinen Bericht schweigend an. Tobias warf hier und da eine Frage ein. Tobias hatte seinen Kunden mit zwölf tiefen Bücklingen begrüßt.

„Nun werde ich erzählen,“ sagte Pragazza mit leichtem Kopfschütteln, wodurch er sein Erstaunen über meine Schilderung andeuten wollte. „Ich erhielt in der Tat heute früh halb acht eine Depesche aus Trikkala … Der Inhalt blieb mir ebenfalls unverständlich. – Ich kenne Miß Malling gar nicht. – Um acht ließ sich dann bei mir ein Herr melden, der sich als Kriminalkommissar legitimierte. Ein Schwindler habe, erklärte er, meinen Namen zu Betrügereien mißbraucht. Er bat um das Telegramm und verabschiedete sich wieder. Ich war bis vor einer Stunde durchaus überzeugt, daß der Herr wirklich ein Beamter gewesen sei. Im Klub erfuhr ich jetzt, es gäbe keinen Kommissar Brandtmeier in Berlin. Ich rief daraufhin den Juwelier Mende, Unter den Linden, an, wo der Gauner ein Kollier unter meinem Namen erschwindelt haben sollte. Mende wußte von nichts. Daraufhin kam ich zu Ihnen, denn mir ist nun klar geworden, daß der falsche Kommissar es lediglich auf die Depesche abgesehen gehabt hatte. – Das ist der einfache Hergang, Herr Schraut.“

Ich wußte beim besten Willen nicht, was ich dazu sagen sollte. An den Worten des Marchese war nicht zu zweifeln. Anderseits war die Ähnlichkeit zwischen ihm und seinem Doppelgänger von vorhin so außerordentlich groß, daß es ausgeschlossen erschien, ein Gauner konnte sich, gestützt auf eine entfernte Gleichheit der Gesichtszüge und der Gestalt, hier bei uns als Marchese Pragazza Zutritt verschafft haben. Allerdings: Ein Unterschied bestand doch, und zwar in der Stimme. Der jetzige Besucher Pragazza hatte einen weichen, angenehmen Bariton, während die Stimme des anderen heller, schärfer, schriller geklungen hatte.

Der Marchese lächelte mich amüsiert an.

„Zweifeln Sie noch, Herr Schraut?!“ meinte er harmlos. „Meine Tante Mafalda, die mir den Haushalt führt, sowie mein Kammerdiener Aristide können jederzeit bestätigen, daß ich die Depesche erhielt, daß ein Herr sie mir wieder abnahm, eben der falsche Kommissar, – meine Klubfreunde können Ihnen ferner …“

Ich winkte verlegen ab. „Nein, ich zweifele durchaus nicht, Herr Marchese. Wie sollte ich auch?! Ich bin nur bestürzt über die Frechheit dieses Fremden, der nicht nur Ihre Person, Ihre Eigenart, Ihre Kleidung so trefflich kopiert hat und der – das ist der Hauptpunkt – zwei Telegramme an sich brachte, die doch bestimmt mit der Entführung Miß Mallings irgendwie zusammenhängen.“

Tobias Remmele äußerte seinerseits mit Nachdruck: „Auch ich kann als Zeuge für Sie auftreten, Herr Marchese. Ich kenne Sie bereits fünf Monate. Ich kenne auch Ihren älteren Diener Guiseppe, der …“

Pragazza hob plötzlich die Hand. Seine Miene verriet Schreck und Verwirrung.

„Sie erinnern mich rechtzeitig an den braven Guiseppe, Herr Remmele. Das Tollste bei der Geschichte ist, daß Guiseppe tatsächlich vor drei Wochen Urlaub nahm um seine Verwandten in Italien zu besuchen. Er hat seitdem nichts mehr von sich hören lassen. Ich habe zweimal an seine verheiratete Tochter geschrieben, bisher jedoch keine Antwort erhalten. – Am besten ist wohl, wir verständigen die Polizei, Herr Schraut. Diese Dinge fallen mir auf die Nerven. Ich bin ja als Diplomat an mancherlei geheimnisvolle Affären gewohnt, – diese hier geht jedoch mich persönlich etwas an, denn das Verschwinden Guiseppes ist nun in ein ganz neues Licht gerückt. Ich möchte sogleich die Behörden benachrichtigen. Mein Auto wartet draußen. Die Sache beunruhigt mich stark. Mein alter Name ist hier in eine schmutzige Geschichte mit verwickelt worden, – ich muß die Polizei zu Rate ziehen, mein Chef könnte mir sonst mit Recht Vorwürfe machen …“

Er stand vor mir und drückte mir zum Abschied die Hand. „Ihrem Freunde meinen Gruß und meine besten Wünsche zu baldiger Genesung, lieber Herr Schraut. Ich bin nur gespannt, was bei alledem herauskommen wird. Sie würden mich natürlich sehr zu Dank verpflichten, wenn Sie sich dieser Sache ebenfalls so ein wenig annehmen wollten. Meine Telephonnummer ist Pfalzburg 90 38, – ich kaufte die Villa ja erst vor einem halben Jahr und versäumte es, im Fernsprechverzeichnis meinen Namen anstelle der Firmenbezeichnung des Vorbesitzers, der Herr war Direktor einer Aktiengesellschaft Rapax, eintragen zu lassen. Sie erreichen mich auch telephonisch im Europa-Klub, den Sie wohl kennen werden.“ – Auch Tobias gab er die Hand. Sein verbindliches Wesen, das trotz aller Gemessenheit eine wohltuende Wärme ausstrahlte, mußte Sympathie erwecken. Ich begleitete ihn bis zu seinem Auto, einem hellen großen Opelwagen, – der Diener Aristide riß die Tür auf, das Auto rollte davon, und ich konnte mich wieder Tobias Remmele widmen.

Remmele ist einer jener Selbstgebildeten, die im Auslande Blick und Sinn geweitet haben und den Dingen des Lebens mit offenen, kritischen, klugen Augen gegenüberstehen. – Sein Äußeres ist das eines Gelehrten, der auf Kleidung und Körperpflege sehr viel gibt, sein etwas blasses Gesicht mit dem leicht ergrauten Schnurrbart, den hellen Augen hinter blanken Kneifergläsern und der winzigen Nase zeigt stets einen liebenswürdig-nachdenklichen Ausdruck. Er ist kein Original, er will es auch nicht sein, er hat seine Eigenheiten wie alle Junggesellen. Rührend ist seine Fürsorge und Liebe für die Tochter seines verstorbenen Bruders, die ihm die kleine Wohnung in Ordnung hält, vorzüglich kocht, ihn im Geschäft vertritt und dabei durchaus kein hausmütterliches Schattenpflanzchen genannt werden kann. Ihr pikantes Gesichtchen, ihre bescheidene, geschmackvolle Kleidung, ein natürlicher Liebreiz haben schon so manches Männerauge angezogen, aber Isolde Remmele mag wählerisch sein. Außerdem: Was sollte wohl auch der Onkel Tobias ohne sie anfangen?! Er hat sie großgezogen, er hat ihr eine Erziehung angedeihen lassen, die vielleicht über den Rahmen seiner Verhältnisse hinausgeht. Ich vermute, daß Remmele weit wohlhabender ist, als er vorgibt. Sein Uhren- und Goldwarengeschäft erscheint mir stets mehr als Kulisse, vor der ein alter Gehilfe, eine treue Seele, den Eindruck respektabler Ehrbarkeit noch erhöht. Niemals sah ich Tobias mit einer eingeklemmten Lupe am Arbeitstisch über das feine Räderwerk einer Uhr gebeugt. Er lebt sein Leben in inniger Gemeinschaft mit der Natur, er geht viel spazieren, er kennt die Wälder um Berlin wie seine Westentasche, er kennt jedes Stadtviertel, jeden Vorort, jede Straßenbahnlinie, sein Begleiter ist sein graubrauner Hund Ajax, eine sehr gelungene Mischung zwischen Riesenpintscher und Wolfspitz.

Das ist also Tobias nebst Anhang.

Dieser Tobias saugt jetzt sinnend an einer Zigarre und hört aufmerksam zu, wie ich die beiden bisher über Arbulos Ahlenzos neuestes Räuberstückchen erschienenen Drahtmeldungen vorlese. Ich tue es, um mein Gedächtnis aufzufrischen. Tobias und ich werden die Dinge nachher gründlich erörtern.

„Trikkala, Nordgriechenland, 5. Mai. – Räuberromantik am Olymp. – Entführung der Filmdiva Jane Malling. – Der berüchtigte Bandit Arbulos Ahlenzos, der bereits eine ganze Reihe ähnlicher einträglicher Überfälle sich geleistet hat, entführte vorgestern mittag sechs Mitglieder der amerikanischen Filmgesellschaft, die zur Zeit in den südlichen Schluchten des Olymp bei den wenig besuchten Ruinen des Zeustempels von Antolax die Hauptszenen zu einem neuen Film drehte. Die Expedition der Grandsteaple-Filmkompagnie, Hollywood, hatte seit acht Tagen ihr Zeltlager unweit der Ruinen aufgeschlagen. Die Gegend dort ist völlig einsam, schwer zugänglich und liegt außerhalb der gewohnten Touristenstraßen. Die Filmleute waren vor Arbulos gewarnt worden, hatten daher Waffen mit, hatten auch Eseltreiber in Trikkala gemietet, die das Gelände gut kannten und als Wachtposten benutzt wurden. Niemand vermutete Ahlenzos in der Nähe, da er nach seinem letzten Streich über die bulgarische Grenze geflüchtet sein sollte. Wie der Überfall geschah, ist noch nicht bekannt. In Trikkala traf heute früh ein Amerikaner zu Pferde ein, der die Unglücksbotschaft überbrachte und die Gendarmerie alarmierte. Verschleppt sind der Leiter der Expedition Mr. Connawoor, die Diva Jane Malling, zwei Filmoperateure, der zweite Regisseur Godwin und ein Eseltreiber. Ahlenzos hat das nette Sümmchen von einer Million Dollar als Lösegeld verlangt, zahlbar in zwei Wochen. Nach den bisherigen Erfahrungen mit Ahlenzos erscheint es aussichtslos, etwa den Boten, der das Geld in Empfang nehmen soll, abfangen zu wollen. Zweimal hat man dies versucht, beide Male fand man zwei Tage drauf einen der von dem Briganten verschleppten Unglücklichen erschossen oder erhängt auf, und das Lösegeld mußte doch bezahlt werden. – Nähere Nachrichten werden wir unseren Lesern morgen bringen.“

„Trikkala, Nordgriechenland, 7. Mai. Drahtmeldung unseres W.-C.-Korrespondenten. – Der Bandit Ahlenzos warnt schon vorher!! Über die Verschleppung der Filmkünstler, insbesondere der Diva Jane Malling, wäre noch folgendes nachzuholen: Der Überfall fand statt, als die sechs entführten Personen sich zufällig vom Zeltlager entfernt hatten. Die Banditen hatten die Wachtposten vorher gebunden und geknebelt. Es kam zu einer kurzen Schießerei, bei der einer der Amerikaner verwundet worden sein soll. Die bitterernste Lage der Gefangenen erhellt am besten daraus, daß der Bandit den Eseltreiber Manilos bereits an einem Kreuzwege an einem Baumast aufgeknüpft und dem armen Burschen das Taschentuch Miß Jane Mallings an der Brust befestigt hat. Man hat daher auch vorläufig die Suche nach den Banditen wieder eingestellt, da zu befürchten ist, daß Ahlenzos noch einen zweiten seiner Gefangenen opfert. – Arbulos soll schon als Knabe mit Briganten verkehrt und ihnen Spionagedienste geleistet haben. Er hält seit drei Jahren Polizei und Gendarmerie dauernd in Atem, nachdem er längere Zeit verschwunden war. Seine Herkunft ist genau so geheimnisvoll wie seine ganze Persönlichkeit. Man weiß nicht einmal, ob sein Name Arbulos Ahlenzos nicht lediglich entliehen und er gar nicht mit jenem jungen Taugenichts aus Trikkala identisch ist. Er tritt nur maskiert auf, geht fast elegant gekleidet und hat fraglos in den entlegenen Dörfern und Gehöften überall Anhänger. – Die Filmkompagnie, der griechische Staat und Amerika werden eben die Riesensumme aufbringen müssen, falls man die fünf Gefangenen je wiedersehen will.“

Ich legte die Zeitungen weg. Tobias trank einen Schluck Sauterne, schaute in das feingeschliffene Glas und meinte fragend: „Ob der Doppelgänger des Marchese gelogen hat, als er vor Ihnen behauptete, Guiseppe befinde sich mit unter den Gefangenen?!“

Mein überraschter Blick nötigte Tobias die zusätzliche Bemerkung ab: „Guiseppe ist doch seit drei Wochen beurlaubt und verschwunden. Wir haben heute den elften Mai, Herr Schraut. Mithin verließ Guiseppe Berlin an demselben Tage wie die Filmexpedition. Merken wir uns das. Irgendeine Verbindung zwischen diesem Guiseppe und den Briganten und den Filmleuten muß es geben. Ich wollte, Harst wäre gesund. Es wäre ein Falk nach seinem Geschmack. Schon diese Depeschen aus Trikkala geben zu denken.“

Ich nickte. „Sogar sehr …! – Schade, daß sie von dem Doppelgänger entwendet wurden. Meines Erachtens ist der Absender eine Person, die mit aller Vorsicht zur Befreiung Jane Mallings und der anderen das ihrige beitragen wollte. Aber – beide Depeschentexte waren absolut unverständlich. Harst saß heute früh eine Stunde am Schreibtisch und mühte sich ab, die Chiffreschrift zu enträtseln. Dann stellten sich die Schmerzen noch stärker ein, und in der Klinik sagte er, ich könnte das Telegramm in den Papierkorb werfen … Hätte ich es nur getan!!“

Das Telephon schrillte … Ich fuhr nervös zusammen, eilte zum Schreibtisch und meldete mich:

„Hier Schraut, Blücherstraße 10 …“

„Hier Lücke … – N’Abend, Schrautchen … Das ist ja wieder mal eine ganz tolle Sache. Der Marchese war bei mir. Ich habe Nachtdienst. Ich bin genau informiert, aber Ihnen kann ich eine geradezu unglaubliche Neuigkeit vorsetzen: Jane Malling hat hier in Berlin am 8. März tatsächlich einen Marchese Pragazza geheiratet, natürlich nicht den echten. Die Ehe ist abends vor dem italienischen Generalkonsul geschlossen worden. Das junge Paar bezog dann drei möblierte Zimmer in einem feudalen Pensionat. Am 16. März reiste Jane Malling mit den Filmleuten nach Athen. Ihr Gatte blieb hier. Der Generalkonsul schwört, es sei der echte Pragazza gewesen, den er doch persönlich gut kannte. Der Marchese lachte ihn am Telephon aus, denn nachweislich ist der Legationssekretär erst am 8. März spät abends von seinem Urlaub heimgekehrt, erkrankte dann an Grippe, lag fast zwei Wochen zu Bett, – alles unumstößliche Tatsachen, denn ich habe sogar seinen Arzt angerufen, – – was sagen Sie nun?!“

„Gar nichts!“ –

Als ich Tobias Remmele dann Doktor Lückes Meldung mitteilte, wurde sein Gesicht noch nachdenklicher. „In einer Kriminalgeschichte müßte sich nun die überraschende Tatsache ergeben,“ sagte er mit der feinen Ironie eines klugen Kopfes, „daß Silvio Emanuel einen verschollenen Zwillingsbruder hat oder gar sein Vater einen unehelichen Sohn besaß, der alle Merkmale der Pragazzas erbte, moralisch sank und jetzt den internationalen Schwindler spielt, – der ein hochintelligenter Mensch ist, der seinen bevorzugten Bruder haßt, der mit Arbulos Ahlenzos Beziehungen unterhält, der …“

„Hören Sie auf, Tobias! Solche Fälle sind vorgekommen. Es gibt auch Fälle verblüffender Ähnlichkeit zwischen Menschen, die gar nicht miteinander verwandt sind. Lücke wird natürlich diese Möglichkeiten einer Blutsverwandtschaft zwischen dem Marchese und dem Doppelgänger genau prüfen, Lücke ist einer der besten Kriminalkommissare, Beobachtungsgabe, streng logisches Denken und Phantasie arbeiten bei ihm Hand in Hand, er wird nichts außer acht lassen, was die Sachlage klären kann. Der Marchese ist über jeden Verdacht erhaben, etwa eine Doppelrolle zu spielen, – ein Mann, der, wie Sie sagen, schwerreich ist, und zur diplomatischen Laufbahn braucht man Vermögen, wird nicht bis Griechenland hin dunkle Fäden aus Eigennutz spinnen, das ist widersinnig, und der schlichteste Beweis für des Marchese Unbefangenheit ist wohl seine Depesche, die ihm auch geraubt wurde, die auch Chiffern enthielt, von der er hier offen sprach und die eben an den Falschen gelangte, – das ist’s. Nicht dem Marchese galt das Telegramm, sondern dem Doppelgänger, und irgendein Versehen des Absenders ließ die geheime Nachricht an den Unrechten gelangen, während der eigentliche Adressat, der Doppelgänger, irgendwie hiervon sofort Kunde erhielt und das Telegramm schleunigst holte und nachher auch das an Harald gerichtete. Wenn eine zweifelhafte Persönlichkeit aus dem Haushalt des Marchese hier überhaupt in Betracht kommt, ist es dieser Guiseppe, der in Italien seine verheiratete Tochter besuchen wollte und in Wahrheit nicht in Venedig eintraf.“

Tobias Remmele strich seinen Schnurrbart glatt. „Lieber Herr Schraut, alles ganz schon, – – ich bin nicht Spezialist in solchen Dingen, ich kann nur Rätselraten, mögen sie auch noch so verzwickt sein, – aber ich würde, entschuldigen Sie meine Einmischung, mich einmal um Nummer 19 91 Brabant bekümmern, um den Krüppel August Muffelberg, Schuhmacherei, Forkenbeckstraße, erstes noch massives Grundstück der Laubenkolonien, Eigentümer Herr Muffelberg, dort ansässig seit Ende November, wo er das Haus von eines Kleinrentners Erben erwarb.“

Tobias war stolz auf diesen Vorschlag. Ich mußte ihm leider einen Dämpfer aufsetzen. „Herr Muffelberg, lieber Tobias, war vornotiert. Wollen Sie mich begleiten?“

„Das ist selbstverständlich. Wenn Sie Muffelberg kennen würden, würden Sie einige präparierte Wurststücke mitnehmen. Er hat vier Tigerdoggen, er fährt im Rollwagen eigener Konstruktion, – ob schon je ein Paar Schuhe zur Reparatur seine Werkstatt sahen, bezweifele ich. Sie kennen gerade die Westecke der Laubenkolonien gar nicht, Ihr Gemüsegarten liegt dem Ostteil gegenüber, sonst wäre dieser August Ihnen wohl längst aufgefallen – wie mir, der ich so viel unterwegs bin.“

Ich schaute Remmele lange an. „Mir scheint,“ sagte ich ernst, „Ihr Goldwarenladen sieht Sie auch sehr wenig. Fräulein Isolde beklagte sich letztens recht bitter bei Frau Harst, daß sie so oft allein sei. Was treiben Sie eigentlich, Tobias?“

Er hielt meinem scharfen Blick ruhig stand. „Wollte ich Sie einweihen, Schraut, müßte ich sagen: Ich suche!“ erwiderte er leise, und seine Züge wurden düster und gramvoll.

„Was suchen Sie?“

Er schwieg erst. Dann antwortete er zu meinem Erstaunen: „Ich suche die Frau, deren Kind Isolde ist, – meine Frau, denn ich war verheiratet …“

„Unmöglich!!“

„Kommen Sie, ich erzähle Ihnen mein Leid unter dem klaren Maiensternhimmel.“

 

3. Kapitel.

Tobias lüftet etwas die Maske.

Wir verließen das Haus durch den Hintereingang. Der Mond schien schräg in unseren Hof hinein, die Bäume, die erst Knospten trugen, warfen lange Schattenstriche auf den hellen Kies, der vorgestern frisch aufgeschüttet worden war. Im Hühnerstall gackerte eine verschlafene Henne, oben im Taubenschlag gurrte zärtlich-träumerisch eine unserer Brieftauben, – der holde Friede der Maiennacht lag weihevoll über den sprießenden Sträuchern und Büschen. Die Fenster unserer beiden Gewächshäuser und der Mistbeete spiegelten das Nachtgestirn in blanken Bahnen wieder. Gestern noch hatten wir hier fleißig gearbeitet, Harald hatte zu unserer oder besser zu Mathildes Bequemlichkeit nach dem einen Gewächshaus Drähte gespannt und unser Haustelephon bis hierher gelegt, hatte eine kleine Glocke über der Tür befestigt, damit Mathilde uns rascher verständigen konnte, falls Besuch käme. Der Apparat stand im Vorraum des Gewächshauses auf einem Tisch, auf dem wir auch unsere Pflanzen umtopften. – Ich zeigte Tobias die Drähte. „So … so,“ sagte er, „– gestern also, … merkwürdig, wie Ihr Freund so außerordentlich für die dicke treue Mathilde sorgt.“

„Gar nicht merkwürdig, – er brauchte Beschäftigung, einen faulenzenden Harst kenne ich nicht.“

„Stimmt, ein ruheloser Geist, ein dauernd auf der Lauer liegender Löwe … – Lachen Sie nicht, Schraut, – wenn ich auch nur Rätsel raten kann, man wetzt doch das Hirn bei dieser Beschäftigung. Ich kenne einen berühmten Anwalt, der in seinem Auto auf der Fahrt von Gericht zu Gericht stets einige Rätsel in Arbeit hat, keine Kinderrätsel, sondern geistvolle Einfälle findiger Köpfe … Würden Sie mir mal das Gewächshaus aufschließen, – der Schlüssel hängt doch wohl noch immer an dem Nagel unter dem Dach, – würden Sie dann so liebenswürdig sein und nochmals in Harsts Arbeitszimmer zurückkehren und meine Isolde anrufen und ihr mitteilen, daß es heute wohl recht spät werden wird. Wundern Sie sich nicht über diese Bitte, ich erkläre Ihnen das nachher, und ich bin überzeugt, meine Erklärung wird Sie über einen bestimmten Punkt sehr beruhigen.“

Tobias Remmeles Person erschien mir plötzlich in ganz neuem Lichte. Ich betrachtete ihn etwas mißtrauisch, ich hatte das Gefühl, daß er irgend etwas herausgefunden hätte, das mir bisher entgangen war.

„Der Schlüssel hängt dort, – gut, ich werde telephonieren …“ meinte ich zerstreut. Was mochte Tobias entdeckt haben?!

„Nein, kommen Sie mit hinein,“ sagte er sehr ernst. „Nehmen Sie auch Ihre Knallbüchse zur Hand, Schraut. Da auf den Fenstern, Schraut, – das war nicht nur der Glanz des Mondes, das war … Innenbeleuchtung, glaube ich … Ich kann mich täuschen, aber ich täusche mich selten, wenn ich erst einmal die erste Silbe eines Rätselwortes gefunden haben … Meine einzige Waffe ist hier dieses Lederetui für meine große Meerschaumzigarrenspitze, über die Sie schon oft gewitzelt haben. Gewiß, es ist ein uraltes Stück von urgroßväterlichen Abmessungen, aber, Freund Schraut, daß ich zwei solcher Etuis und nur eine Spitze mein eigen nenne, das haben Sie beide doch noch nicht gemerkt. Heute steckte ich das zweite zu mir, – da, wer mir die Liliputrepetierpistole hineingelegt hat, weiß ich nicht, vielleicht ich selbst, ich möchte mir aber keine Anklage wegen unbefugten Waffenbesitzes zuziehen, – sollte es nötig sein, schießen Sie zuerst, Schraut …“

Ich tastete bereits nach dem Schlüssel. Ich war ein wenig verblüfft über diese neue Seite des bisher so harmlosen Tobias: Er schleppte eine Pistole mit sich! Niemals hätte ich ihm das zugetraut! Man lernt die Menschen doch recht spät gründlich kennen. Die Idee mit der Meerschaumspitze war übrigens nicht schlecht.

Ich fand den Schlüssel, öffnete und griff sofort nach dem Lichtschalter. Ein Knacken – und nur eine einzige Lampe von im ganzen sechs flammte hier im Vorraum auf, das langgestreckte Gewächshaus blieb dunkel, die Tür dorthin war nur halb geschlossen, und der Duft von Veilchen, Narzissen und Goldlack wäre wunderholder Frühlingsgruß gewesen, wenn nicht in der Luft noch der dünne Rauch einer süßlichen Zigarette gehangen hätte.

„Tobias, hier war jemand!“ – meine Stimme flüsterte die Worte mit dem feinen Timbre mühsam unterdrückter Erregung.

Remmele nickte und schob sich an mir vorüber. „Eine von Harsts Mirakulum, Schraut!“ fragte er schnuppernd. „Nein, ich irre mich … Das ist englischer Dreck … So fade-süß riechen die Mirakulum nicht.“ Er stieß die Tür nach dem Innenraum vollends auf, indem er gleichzeitig seinen Hut von unten über die frei hängende elektrische Lampe schob, so daß der Lichtschein nur die Decke traf und wir im Finstern standen. „So – nun gehen Sie telephonieren – bitte!! Gehen Sie doch!! Hier im Gewächshaus ist bestimmt niemand mehr. Es war jemand hier, aber wir kamen zu spät, und Harsts neue Anlage diente einem Fremden! Gehen Sie!“

Seine merkwürdig energische Art machte mich stutzig. „Nun gut,“ meinte ich nur und trat zum Schein wieder ins Freie, entfernte mich wenige Schritte und kehrte um.

Ich wurde so Zeuge eines sehr eigentümlichen Zwischenfalles. Tobias schraubte die Lampe in der Fassung so locker, daß auch sie erlosch, schaltete dann einen Leuchtstab ein, nahm seine Waffe in die rechte Hand und suchte das Gewächshaus nach dem Eindringling ab. Zuerst fand er nichts. Aber links neben der Tür lagen zwei Strohmatten, – er hob sie empor, und der Lichtkegel zeigte auch mir, dem heimlichen Lauscher, Isolde Remmeles schlanke Gestalt und ihr pikantes Gesichtchen. Sie hatte sich rasch aufgerichtet, und was sie nun halblaut ohne jede Verlegenheit hervorstieß, gab mir neue Rätsel auf …

„Onkel, lch danke dir, daß du Herrn Schraut weggeschickt hast … Ich konnte nicht anders, ich muß endlich die Wahrheit erfahren, – – du … du … bist … mein Vater – – mein Vater!! Herr Gott, ich – – habe noch einen Vater, – – und ich habe es gefühlt, daß du …“

Sie hatte sich ihm an die Brust geworfen. Tränen erstickten ihre Stimme …

Tobias sagte innig, – und auch seine Stimme schwankte: „Kind, Kind, es wäre besser gewesen, du hätten die Wahrheit auf andere Art gehört … Mein liebes, liebes Mädel, – nur keine Tränen …! Du darfst nicht hierbleiben … Daheim wollen wir uns aussprechen … Beeile dich … – geh’, – – Schraut darf dich nicht sehen, – es ist ein verzweifeltes Spiel, das ich hier wage … Geh’, mein Kind …“

Er küßte sie …

Und ich – ich schlich davon wie ein Dieb und doch auch wie ein Sieger. Ich hatte Dinge soeben vernommen, die ich mir nie hätte träumen lassen. Ich lief zum Hause, hinein in Haralds Arbeitszimmer, – es war ja Unsinn, Isolde anzurufen, Isolde war ja gar nicht daheim, trotze dem tat ich’s, bekam zu meiner maßlosen Verblüffung auch Anschluß …

„Hier Max Schraut …“

Dann das Wunder: Isoldes weiche feine Stimme:

„Guten Abend, Herr Schraut … Ist Onkel bei Ihnen?“

Mir blieb der Atem weg. Wie war dies möglich?! Isolde war doch erst auf dem Heimweg, und von uns bis zur Berkaer Straße braucht sogar ein Auto etwa fünf Minuten!!

Ich riß mich zusammen …

„Ja, Ihr Onkel ist hier und läßt Ihnen sagen, daß es vielleicht recht spät werden wird, Sie sollen sich keine Sorgen machen …“

„Danke, Herr Schraut … Gute Nacht … Einen innigen Gruß Ihnen beiden …“

Knack, – sie hatte abgehängt.

Sie?!

Wer?! – Isolde?! Ausgeschlossen!

Wer also?!

Ich eilte abermals über den Hof – hin zum Gewächshaus. Vor dem Tische mit dem Apparat saß auf dem Holzstuhl Tobias Remmele. Alle Lampen brannten, – er hatte den Hörer des Hausapparats noch am Ohr, blickte zu mir auf und sagte mit schlichter Selbstverständlichkeit: „Es ist schon so, wie ich vermutete … Harst hat nicht nur eine Telephonleitung gelegt, sondern auch irgendwo in seinem Arbeitszimmer ein Mikrophon aufgestellt … Ich hörte genau, wie Sie die Tür öffneten, was Sie sprachen, – ich höre noch immer das dumpfe Ticken Ihrer englischen alten Standuhr, – bitte, überzeugen Sie sich! Alles, was dort im Zimmer heute verhandelt wurde, konnte hier jemand ablauschen – und hat es zum Teil abgelauscht.“

Ich riß ihm den Hörer förmlich aus der Hand. Ich horchte … Tobias hatte recht: Ich vernahm das Ticken der Uhr, ich hörte sogar jetzt das Surren, mit dem die Standuhr das Schlagen einleitet … Dann schlug sie: Elf Uhr – – elf Schläge!

Ich legte den Hörer weg und meinte kopfschüttelnd: „Das hat Harald mir verheimlicht! – Wer horchte hier, Tobias?!“

Er erwiderte gelassen: „Zwei waren’s, Schraut. Über beide weiß ich Bescheid. Aber ich bin zum Schweigen verpflichtet.“

Nun, die eine kannte ich: Isolde! – Aber die zweite Person?!

Ich wollte gleiches mit gleichem vergelten und sagte lächelnd: „Ich dringe nicht weiter in Sie, Freund Tobias, aber ich glaube, die eine Person kenne ich bestimmt.“

Er erhob sich. „Wohl kaum, – und wenn, – es wäre nicht weiter schlimm, es wäre nur eine Durchkreuzung meiner Pläne, jedoch keine Vernichtung dieser Plänen Gehen wir …“

Ich schloß ab und hängte den Schlüssel an den Nagel. Wir verließen den Garten und wanderten die Forkenbeckstraße empor. Tobias erzählte:

„… Es sind nun zweiundzwanzig Jahre her. Ich war damals in Venedig …“

„Venedig?!“

„Ja … Ich hatte Arbeit bei einem Österreicher gefunden, der ein größeres Geschäft unweit des Palazzo Pragazza besaß. Bei den Pragazzas diente ein Mädchen aus einem lombardischen Grenznest … Sie gefiel mir, wir heirateten in aller Form, in Venedig schenkte sie mir meinen Liebling – – Isolde. Drei Monate später verschwand sie. Eine trügerische Fährte lockte mich nach Tunis, mein Kind überließ ich meinem Bruder, der es als sein eigen aufzog. – Ich hatten mit Lucretia überaus glücklich gelebt, nicht der geringste Schatten war aus unsere Ehe gefallen, – ich hegte gegen niemand Verdacht, ich konnte nur vermuten, daß meine Frau … entführt, geraubt worden war. Volle sieben Jahre habe ich sie gesucht, – der Vater des Marchese Pragazza lebte damals noch und spendete mir die Geldmittel. Dann gab ich’s auf, kehrte heim, mein Bruder war gestorben, ich nahm Isolde zu mir, ich scheute mich, ihr die Wahrheit zu gestehen. Was sollte ich ihr sagen?! Es war besser, sie blieb bei dem Glauben, daß mein Bruder ihr Vater sei. In meiner Seele war langsam, langsam wie eine Giftschlange, die sich nicht recht ans Licht wagt, ein Verdacht aufgekeimt, Lucretia konnte doch heimlich einen Liebhaber gehabt haben und mit ihm auf und davon gegangen sein. Ich kaufte dann das Geschäft in der Berkaer Straße, der alte Marchese starb, ich wechselte noch einige Briefe mit seinem Sohne, ich war den Pragazzas ja zu großem Dank verpflichtet, – und wieder nach Jahren, eben vor fünf Monaten, betrat der junge Marchese meinen Laden und begrüßte mich mit aller Herzlichkeit. – Dies ist in kurzem die Geschichte meines verpfuschten Daseins, lieber Schraut. Sie wissen nun, weshalb der Marchese so häufig mich besucht, – wir sind ja alte Bekannte, er war damals ein Knabe freilich, aber sein Interesse für mich ist das gleiche, das mir sein Vater entgegenbrachte.“

Er schwieg, – wir waren unten an der steilen Böschung angelangt, – links oben lag die Laubenkolonie und August Muffelbergs Grundstück, die Schuhmacherei. Ich stand mit dem Rücken nach dem Monde hin, – Tobias stand im vollen Licht. Ich sagte nachdrücklich: „Tobias, Ihre Geschichte ist ein Sieb, nur ein Sieb. Ich wette, Sie haben jetzt doch eine Spur von Ihrer Frau gefunden. Ist es so?!“

Er schaute zu Boden. „Nein, es ist nicht so … Ich habe jedoch etwas sehr Seltsames herausgefunden, also doch etwas gefunden. Der Mann, der sich hier August Muffelberg nennt, ist … der Hausmeister aus dem Palazzo Pragazza.“

Er blickte mich an. „Er ist’s bestimmt, Schraut … Und er spielt hier nur den Krüppel. Es ist ein geborener Schweizer. Alex Staubacher heißt er … Er mag etwa sechzig sein, – – er läßt sich nie blicken, ein halbtauber Geselle sitzt in seiner Werkstatt dort oben und – – tut nichts. Ein Zufall ließ mich eines abends vor einem Monat Staubacher erkennen, als ich droben den schmalen Pfad am Zaun entlangging. Seitdem spüre ich diesen dunklen Dingen mit zäher Beharrlichkeit nach, zumal der Marchese – geben Sie acht! – oft genug die Schuhmacherei bei Dunkelheit betritt. – So, nun wollen wir Herrn Muffelberg einmal gründlich auf die Hühneraugen treten.“

„Halt, Tobias! Und Isolde?!“

„Ach so, – Sie meinen ihre Antwort, obwohl sie noch gar nicht daheim war! Da fragen Sie am besten meinen Gehilfen, der mit Isolde gut Freund und ein Bastler auf jedem Gebiet ist. Möglich, daß die beiden eine Gramophonplatte vorbereitet haben, die dann Isoldes Stimme und Antwort wiedergab. Es wird wohl so sein. Es wird hier noch mit ganz anderen Mitteln gearbeitet, sage ich Ihnen …! Einer schleicht dem andern nach, jeder hat sein Geheimnis, – kommen Sie, Schraut, diese Nacht ist noch nicht zu Ende, sondern beginnt erst.“

Als wir über den Zaun klettern wollten, sahen wir als erstes die vier Tigerdoggen in ihrem geöffneten Zwinger wie tot liegen.

Remmele betrachtete die mächtigen Tiere. „Er hat ihnen den Schlaftrunk bereits gereicht, Schraut.“

„Wer?!“

Er führte mich an das Hinterfenster, das matt erleuchtet war.

In der Stube vor dem einfachen Tisch saß auf einem schäbigen Sessel Harald Harst und … schrieb.

„Das ist … er!" flüsterte Tobias. „Ich wünschte, jeder hätte einen so gesunden Blinddarm wie Ihr schlauer Freund, der sogar Professoren für seine Pläne gewinnt.“

 

4. Kapitel.

Der Mann, der schreibt …

Ich starrte nur stumm durch das schmierige Fenster in die kleine Stube mit ihrem bunt zusammengewürfelten Möbelkram und überlege mir Haralds Taktik. Ich bin überzeugt, daß auch er auf diesen seltsamen Schuhmacher längst aufmerksam geworden war und aus bestimmten Gründen in der Klinik als Kranker für einige Zeit untertauchen wollte. Sein Zimmer dort hat einen Balkon, und vom Balkon zum Dach und vom Dach hierher – für ihn ein Katzensprung.

Aber die andere Seite dieses fein vorbereiteten Spieles: Wie bitterernst muß die Sache sein, deretwegen Harst seine geliebte Mutter und mich so schwer ängstigte und … narrte.

Remmele flüstert schon: „Ich wußte, daß Harst hier sein würde, – und vorher war er im Gewächshaus und horchte die Gespräche ab … Er weiß, daß wir kommen werden.“

Ich zweifelte nicht daran. – Harst trug denselben Anzug und denselben leichten Mantel und den modefarbenen Velourhut wie am Vormittag, als er allein zu Professor Grabert gefahren war. Er saß vornübergebeugt, hatte den Hut ins Genick geschoben und schrieb und überlegte, schrieb abermals, rauchte, nahm eine neue Zigarette aus einem Staniolpäckchen, war ganz in seine Arbeit vertieft. – Was schrieb er?

„Stören wir ihn nicht,“ meinte Tobias leise. „Wir könnten inzwischen noch etwas anderes erledigen. Es macht den Eindruck, daß er vorläufig hierzubleiben gedenkt. Kommen Sie, Schraut. Ich kann Ihnen noch mehr zeigen, was Sie überraschen wird. Es ist nicht weit bis zur Parkstraße, und die Villa des Marchese enthält ein Geheimnis, das noch in keiner Rätselecke einer Zeitungsbeilage gestanden hat, obwohl es sich um Dinge handelt, die die Polizei längst beschäftigen müßten, und die Öffentlichkeit ist in diesem Falle die Polizei.“

„Warten Sie!“ Ich schüttelte seine Hand ab. „Mir gefällt dieses Bild nicht.“ Ich blickte abermals in die Stube hinein und prüfte jede Einzelheit.

Auf dem Tische stand eine billige elektrische Schreibtischlampe, deren Birne in einen Verbindungsstecker eingeschraubt war. Diese Birne mußte gelockert sein, sie brannte nicht, und die Tischlampe beleuchtete nur gerade die nächste Umgebung. Der übrige Raum lag im Halbdunkel da. Wenn die Fensterscheiben nicht so unglaublich verschmutzt gewesen wären, hätte man wohl die Einzelheiten besser unterschieden. Ich drückte den Kopf näher an die Scheiben, und der unklare Argwohn, daß hier nicht alles so wäre, wie es sein sollte, steigerte sich infolge einer geringfügigen Feststellung. Harst saß sehr unbequem in dem alten hohen Sessel, er saß viel zu weit zurück, er konnte nur schreiben, wenn er sich ganz weit vorbeugte. Seine Bewegungen hatten etwas Gezwungenes, – so, als ob ihn etwas behinderte.

Remmele wurde ungemütlich. „Machen Sie, was Sie wollen, Schraut,“ zischte er mir zu. „Ich habe Ihnen mehr eigene Initiative zugetraut. Sie kleben an Harst wie Weicheisen am starken Magnet. – Gute Nacht … Ich bot Ihnen eine vortreffliche Chance, aber Sie …“

Mein scharfer Blick in sein finsteres Gesicht ließ ihn verstummen.

„Tobias, Harst ist unfrei!“

Er fuhr leicht zurück. „Wie meinen Sie das?“

„Harst ist an den Sessel festgebunden! Schauen Sie genau hin … Um die Hüften läuft ein Strick. Die Füße sind an die Tischbeine gefesselt. Ich wette, daß ihm gegenüber, für uns unsichtbar, ein Mann mit einer Waffe aufpaßt und ihn ständig bedroht. – Wollen Sie mich von hier weglocken?!“

Ich hatte unmerklich die Hand gehoben, und Tobias Remmele blinzelte erbleichend in das dunkle drohende Mündungsloch. „Freund Tobias, Sie spielen hier eine sehr verfängliche Rolle … Sie haben mich heute schon einmal getäuscht. Isolde war auch in dem Gewächshaus. Was Sie mir erzählt haben, verdient ein Fragezeichen. Ich begreife nicht recht, was hier vorgeht, aber das eine weiß ich: Harst muß aus dieser Lage befreit werden!“

Er packte meinen Arm. „Um Gotteswillen, wollen Sie ihn töten?!“ keuchte er, und dieser heisere Flüsterton war nicht Komödie. „Hier sind Kräfte am Werke, die aus den schändlichsten Winkeln der menschlichen Seele emporwachsen. Ich gebe zu, ich verschwieg Ihnen vieles. Aber ich kämpfe für mein Recht, – und jeder hat das Recht, seine Ehre zu verteidigen. – Schraut, beurteilen Sie mich nicht falsch … Ich fürchte für Harst …! Wie sollen wir ihn befreien?! Glauben Sie mir, die Leute kennen keine Rücksicht. Falscher Ehrbegriff hat schon genug Unheil angerichtet. Ich will Ihnen gern helfen, obwohl ich dann gegen meine eigenen Interessen handele. Seien Sie überzeugt, wir befinden uns ebenfalls schon in Gefahr …“ Er blickte sich scheu um und musterte den kleinen Stall, den Hundezwinger und die drei Pyramiden Brennholz. „Diese Stille hier, Schraut, birgt tausend Gefahren … Ich übertreibe nicht. Harst ist in eine Falle geraten, wir vielleicht auch, – dieses Haus ist gut gesichert, ich weiß es. Der Marchese tut nichts halb. Diese uralten Adelsgeschlechter aus Venedig tragen noch die finstere Grausamkeit jener Zeiten als Erbteil im Blute, als man in Venedig unbequeme Gegner durch Gift und Dolch und durch erkaufte Meuchler beseitigen ließ. Würde man die Kanäle dort einmal trocken legen, kämen mehr Skelette in Ledersäcken zum Vorschein, als selbst die Geschichtsforscher sich’s träumen lassen.“

Seine Worte hatten die Kraft der Wahrheit. Auch ich begann zu begreifen, daß wir genau wie Harst bereits eingekreist waren.

Und all dies in dieser wundervollen klaren Mainacht, die, erfüllt von kräftigem Erdgeruch, hier am Rande der weisen Grünflächen mit ihren zumeist blitzsauberen Häuschen den Frühlingsodem auch den Menschen ins Blut trieb und alle Sinne zu erhöhter Tätigkeit anregte. – Gewiß, kaum dreihundert Meter weiter auf der breiten Prachtavenue pulste das Leben der Großstadt. Aber hier?! Hier patroullierten keine Beamten, keine Wächter, die auf Villeneinbrecher fahndeten. Hier war die Einsamkeit ländlicher Gefilde, mochten auch die Häuser der Reichen, die öffentlichen Bauten und die Reihenkasernen einer Zeit oder Zweckmäßigkeit noch so nahe sein. – Hilfe?! Woher?! – Jeder gedämpfte Schuß würde ungehört verhallen, jeder Schrei unbeachtet bleiben. Vergaserexplosionen eilender Autos und Lastzüge mit Traktoren täuschten so oft kleine Feuergefechte vor. Altschmargendorf ist Stätte des Friedens, ist Außenbezirk, ist nicht die Metropole Berlin, in der das Verbrechen an jeder Straßenecke lauert. – Ich kam mir unendlich hilflos vor. Ich hatte das sichere Gefühl, daß etwas geschehen würde, daß unsichtbare Augen uns belauerten, daß die, die einen Harst in den Hinterhalt gelockt hatten, auch mit uns fertig werden würden. – Wir standen noch immer dicht vor dem unverhüllten Fenster, wir standen auf dem feuchten, schmierigen Deckel einer schrägen Öffnung, die zu einem Kellerfenster führte, – über einer Kartoffelrampe, die das Einschütten der Kartoffeln erleichtern sollte.

In solchen Minuten hasten die Gedanken in blinder Eile. Ich erinnerte mich, daß ein solcher Holzdeckel schon einmal Harst und mich in eine abscheuliche Lage gebracht hatte, – ich zog Tobias rasch zur Seite, nur zwei Schritt … auf festen Boden. Meine Hand umkrallte die Pistole in nervöser Spannung, meine Augen glitten umher, durchforschten die Schattenwinkel des kleinen Hofes, und aus dieser Überreizung der Nerven erwuchs mir schließlich jene grimme Tollkühnheit, die selbst so bedächtige Naturen, wie ich es bin, überfällt. Ich prüfte das Stubenfenster … Es war geteilt, aber es war kein Doppelfenster, und die Zwischenleisten würden unter der Wucht eines Sprunges mit zerbrechen. Ich hatte das Abwarten satt, ich wollte die Lage so oder so klären. In der Stube war die Gefahr geringer als hier draußen.

Ein paar hastig geflüsterte Worte verständigten Tobias, der mich daraufhin mißbilligend anschaute. Ich hatte schon den leichten Mantel aufgeknöpft, hatte ihn mir halb über den Kopf gezogen, Anlauf, – – mochte werden, was da wollte, ich setzte zum Hechtsprung an, – ich brauchte mich nicht anzustrengen, das Fenster lag niedrig, – – Scheiben klirrten, ich flog wie ein praller Sack in die Stube, war im Moment wieder auf den Beinen … Pistole hoch … Dorthin, wo tatsächlich ein Kerl saß: Der uns unsichtbar gebliebene Wächter …

„Hands up!!“ brüllte ich, – vielleicht verstand der Schuft kein Deutsch …

Und dicht hinter mir war Tobias eingedrungen …

„Der … Schustergeselle!“ sagte er atemlos …

Der Mann auf dem Rohrstuhl hatte die Arme gehorsam hochgereckt.

Der schreibende Mann am Tische legte den Bleistift hin und meinte kopfschüttelnd:

„Der Glasermeister wird sich freuen. – Sehr nett von euch, – nur überflüssig …“

Er schob einen Bogen Papier zur Seite. und unter dem Papier kam ein Pistölchen zum Vorschein, das genau dem Remmeles glich und in jedem Ärmel Platz hatte.

 

5. Kapitel.

Die Taube.

„Bindet den Herrn Peter Porsch,“ befahl er dann. „Die Umstände gestatteten mir nicht, mich selbst von den Stricken zu befreien, ich mußte mich darauf beschränken, Herrn Porsch zu bitten, seine Pistole wegzuwerfen. Dort liegt sie auf dem Bett. Herr Peter Porsch hat mir nachher keine Schwierigkeiten mehr bereitet, er war äußerst seßhaft und friedfertig, nachdem ich ihn entwaffnet hatte. – Tobias, knoten Sie mir die Stricke auf.“

Der Wechsel der Gesamtlage kam etwas plötzlich, er hatte etwas unbedingt Komisches an sich, zumal Porsch, ein kleiner buckliger Mensch mit scheinheiligem feisten Gesicht und tückischen Augen, nun sofort eine große Jammerarie anstimmte und etwas verworrene Entschuldigungen vorbrachte. Ich band ihn an den Rohrstuhl fest und riet ihm freundlichst, erst einmal bei einem Diplomaten das Lügen und das Verdrehen gründlich zu lernen. „Zum Beispiel bei Ihrem Brotherrn, dem Marchese,“ schloß ich anzüglich. Worauf er mich ehrlich-verständnislos anglotzte. „Ich kenne keinen Herrn namens Marchese,“ erklärte er mit Berliner Friedrichshain-Idiom. „Wer ist das?“

Meine gute Laune hielt an. „Ich freue mich unbeschreiblich, daß Sie nicht halbtaub sind, Herr Porsch. Über den Marchese wird Harst mit Ihnen reden. Mir genügt es vorläufig, daß ich Ihre Stimme wiedererkenne. Unser Telephon daheim ist sehr laut, und der Marchese sprach mit Ihnen wegen des Flugzeugs und nannte Sie Mafalda. Was ein Frauenvorname sein dürfte, Herr Porsch.“

„Das hatte Muffelberg mir alles befohlen,“ winselte das kleine Scheusal. „Ich armer Krüppel war Wachs in seinen Händen …“

„Sprechendes Wachs, – ich rief ja Ihre Nummer hier nachher noch an, und da entgleisten Sie mit der Bildung und sprachen von grünem Schnösel und so …“

„Auf Befehl – beim Andenken meiner unseligen Großmutter, die mich erzog,“ klagte er weinerlich.

Ich fiel ein. „Herr Porsch, Sie werden außer des Teufels Großmutter noch die ganze Höllenbesatzung zu Zeugen anrufen, das wird langweilig.“ Ich wandte mich dem Tische zu. „Was schreibst du da, Harald?“

„Auf Befehl: Ich versuche zwei Depeschen zu entziffern … Interessante Arbeit. – Danke, Tobias … Es saß sich sehr unbequem in diesem Sessel. Die Federn des Sitzes drückten, und ich habe nie zu viel Fett am Ende des Rückgrats gehabt.“ Er lehnte sich zurück und entnahm einem Päckchen eine neue Zigarette: „Englische Opiumnudeln! – Darf ich euch eine anbieten? Ach so, Sie rauchen ja nur Zigarren und Pfeife, Meerschaumpfeife mit … Blättchenpulver …“ Er zwinkerte Tobias vielsagend zu. „Sie sind ein schlauer Fuchs …“

„Danke – Sie aber erst!!“ Remmele schien noch mehr hinzufügen zu wollen, Harst winkte ab. „Herr Peter Porsch ist leider nicht so taub, wie es zuweilen nützlich und angenehm wäre …“ Er packte seine Schreiberei zusammen. „Herr Porsch, erzählen Sie jetzt Ihre Lügengeschichte nochmals. Lügen Sie aber nicht zu faustdick. Jede Übertreibung schadet. Herr August Muffelberg, Ihr Chef, engagierte Sie wann?“

Porsch, ein Klümpchen Unglück, stotterte mit nachdrücklich betonter Biederheit: „Das Leben hat mir hart zugesetzt, sehr hart …“

„Das heißt, Ihre Photographie genießt den Vorzug, im Verbrecheralbum aufbewahrt zu werden,“ warf Harst gemütlich ein.

„Oh, ich hatte Pech, Herr Harst … Justizirrtümer schlimmster Art brachten mich wegen Falschmünzerei in Verdacht …“

„Schau’ an, also das ist Ihr Spezialgebiet! – Nun – und diese Stellung hier?“

„Ich … ich kam vor sechs Wochen aus dem Zuchthaus, ich wußte nicht, wie ich mein Dasein aufs neue aufbauen sollte, – ich traf in einer Kaschemme August Muffelberg, – er hatte Mitleid mit mir …“

„Mitleid?!“ Harst schaute gedankenvoll seinen tadellosen Rauchringen nach. „Wenn man das Wort trennt, hat man „Mit Leid“ daraus gemacht, – mit Leid endete dieses verfängliche Engagement als untätiger Schuhflicker, wie Sie jetzt sehen. Schuhe haben Sie hier nie geflickt, aber man kann Ihnen nun verschiedenes am Zeuge flicken, mein Lieber. Ich wurde auf diese merkwürdige Schuhmacherwerkstatt freilich erst vor einer Woche aufmerksam, da sie nicht einmal draußen ein Reklameschild besitzt, sondern nur im Vorderfenster ein winziges Plakat. Und dann die Telephonleitung!! Nicht ein einziger der Kleinsiedler hier leistet sich diesen Luxus, und weiter: Tobias Remmele schnüffelte hier herum. Ich opferte ein paar Nachtstunden und freute mich, auch Tobias stets auf dem Posten zu finden, es war ein nettes Versteckspiel … Dann bekam ich Blinddarmschmerzen, ich hielt es für zweckmäßig, mich selbst auszuschalten, nachdem die Depesche heute früh eintraf. Gestern legte ich eine Leitung in weiser Voraussicht kommender Dinge, da ich den Marchese Pragazza vorgestern hier in dieser Stube zu seinem Vertrauten Muffelberg sagen hörte, Harst sei bei alledem der unangenehmste Faktor, – eine große Schmeichelei für mich, die ich durchaus zu würdigen wußte. Rücksichtsvoll wie ich stets bin, zog ich mich in die Klinik zurück.“

Man mußte es Porsch zugestehen, daß er zu alledem ein ungeheuer dummes Gesicht machte.

„Ich kenne keinen Marchese …“ betonte er und wurde knallrot vor Eifer. „Sie werden mir’s nicht glauben, aber es ist so … Ich habe hier gefaulenzt, ich habe bis gestern von Muffelberg keinerlei Aufträge erhalten, die irgendwie zweifelhafter Natur waren. Erst gestern abend erklärte er mir, er würde verreisen, und ich solle das Haus gut bewachen. Dann …“

„… ja, dann …“ nickte Harst, „dann befahl er Ihnen heute abend, wie Sie sich bei telephonischen Anfragen zu verhalten hätten, – das erzählten Sie mir schon. Sie sollten allgemeine Redensarten gebrauchen oder grob werden, also das Rezept für alle Parlamentarier mit feisten Diäten.“

Peter Porsch grinste. „Sie gefallen mir eigentlich, Herr Harst, Sie haben Witz, Sie sagen einem peinliche Dinge mit buntem Zuckerwerk umhüllt. – Was sagen Sie dazu. daß Muffelberg mich regelmäßig jeden Abend um zehn oben in mein Kämmerchen einschloß, daß das Fenster dort Innenladen aus Eisen hat und daß die Tür mit Blech benagelt ist und zwei Patentschlosser besitzt?! Was sagen Sie ferner dazu, daß mein Chef mich jeden Abend untersuchte, ob ich nicht ein Messer mit nach oben genommen hätte?! Wie finden Sie es, daß dieser falsche Krüppel – Ihnen gegenüber bin ich ehrlich – bei mir einen Restposten im Walde versteckt gehaltener falscher Dollarnoten beschlagnahmte und daß er mich dadurch fest in der Hand hatte! Ich hätte die Blüten natürlich verbrannt, denn wer fünf Jahre Zuchthaus hinter sich hat, wer im Leben ganz allein dasteht wie ich …“ – seine Stimme schwankte leicht – „der ist kuriert, – ich wollte raus aus dem Sumpf, ich hatte das Bestreben, ehrlich zu bleiben, ich hätte ihm beinahe die Hand geküßt, als er mir Arbeit und Unterkunft bot. – – und was wurde aus alledem?! Nun sitze ich wieder drin, ich habe Ihnen. wie mir Muffelberg heute abend telephonisch weiter befahl, aufgelauert, ich habe Sie schändlich gezwungen, sich an den Tisch zu setzen. Sie mußten die Depesche, die ich Ihnen vorlegte, ebenso wie die Abschrift Ihrer Depesche, die Sie bei sich hatten, zu lösen versuchen … und dann kehrten Sie den Spieß um, dann mußte ich meine Pistole wegwerfen … – ich wünsche Muffelberg zum Teufel!!“

Harst nickte leicht und schaute den kleinen Kerl lange an. „Sie scheinen nicht zu lügen … Und was sollte werden, wenn ich die Telegramme entziffert hätte?“

„Muffelberg hat angeordnet, Sie nachher in den Keller einzusperren … Ich sollte dann die Nummer Pfalzburg 90 38 anrufen und vorsichtig Bescheid sagen und die Lösungen in eine Hülse tun und eine unserer fremden Tauben aufsteigen lassen … Da in dem Schrank ist das Seidenpapier, auf das ich die Lösungen schreiben sollte. Wir haben hier fremde Tauben im Stall, die immer sehr mäßig gefüttert und im Dunkeln gehalten werden.“

„Das ist – allerlei!“ sagte Harald verwundert. „Ich möchte wissen, was die Leute nicht bedacht haben! – Und wenn ich die Lösungen nicht fände? Oder wenn ich mich weigerte, – oder wenn jemand mir zu Hilfe käme?!“ Porsch leckte sich die trockenen Lippen. Aber er wollte ehrlich bleiben. „Herr Harst, es war wirklich an alles gedacht – an alles! Man rechnete sehr wohl mit Herrn Schraut und mit noch jemandem, und das wird dort Herr Remmele sein, – man hatte vor dem Fenster das Kellerfensterbrett hergerichtet … die Herren wären in ein tiefes Loch gerutscht, der Deckel draußen betätigte eine kleine Glühbirne, – dort ist sie … Ich sah sie aufleuchten, aber da hatten Sie mich schon in Ihrer Gewalt … – Haben Sie Mitleid mit mir. Herr Harst, seien Sie nachsichtig, ich verspreche Ihnen feierlich, daß ich …“

Harst erhob sich. „Gut, – vielleicht bedeutet dies wirklich einen Wendepunkt in Ihrem Leben, Peter Porsch! – Hier sind die Lösungen … Schreiben Sie … Und dann steigt die Taube auf. – Daß wir beobachtet werden, glaube ich nicht. Sie bleiben nachher hier im Hause. – Nein, mein Alter, – – Hand weg. Die Lösungen haben zwei Fassungen, und die nun „den Leuten“ zugestellt werden, sind nicht die richtigen. Die Überraschung reserviere ich mir.“

Seine Instruktion für Porsch war klar und verständlich. Wir drei schlichen durch die Gärten davon, kletterten über Zäune, gelangten gegen ein Uhr nach Dahlem in die Parkstraße und in den schmalen Kiefernpark.

Die Villa des Marchese war durch zwei Hunde gesichert. Harst verzichtete darauf, sie zu betreten. Eine der Kiefern bot ihm Ausblick auf den über der Garage angebrachten Taubenschlag.

Als wir ihm auf den Baum hinaufhalfen, erschien Herr Günther Garlant. Sein Auftauchen komplizierte die Entwicklung ein wenig.

Herr Oberwachtmeister Garlant gehörte zu Schmargendorf und war ein junger, hübscher, frischer Mann mit klugem stillen Gesicht.

„Was tun Sie hier, Herr Remmele?“ fragte er traurig.

Daß er sich um Isolde bewarb, war uns kein Geheimnis.

Daß er Tobias Remmele hier bei verdächtigen Turnübungen abfaßte, mußte ihm peinlich sein. Er war in Zivil, – aber sein gesunder Ehrgeiz trieb ihn auch außer Dienst viel auf die Straße. Darin glich er denn leidenschaftlichen Spaziergänger Remmele.

Harst stand ganz oben und sagte leise:

„Herr Garlant, Sie haben mich nicht erkannt … Ich bin der blinddarmkranke Harst, ich stehe auf Schrauts Schultern, und Schraut benutzt wieder Remmele als Leiter. Uns ist eine Taube weggeflogen.“

Günther Garlant meinte aufatmend:

„Ich glaubte schon, Sie wollten Äpfel pflücken, Kienäpfel oder Tannenzäpfchen. – Wo ist die Taube?“

„Sie kommt erst, Garlant. Meine Armbanduhr zeigt fünf nach eins, genau um Viertel nach zwei läßt jemand sie auffliegen. Ich will nur sehen, ob sie ihren Stall findet, wovon ich überzeugt bin, und wer sie dann aus dem Stalle holt.“

„Das klingt sehr geheimnisvoll, Herr Harst.“

„Ich sage Ihnen, es ist das seltsamste Geheimnis, dem ich je nachspürte,“ erwiderte Harst und schwang sich noch höher empor, so daß ich den armen Tobias endlich entlasten und von seinen Schultern herabspringen konnte. Garlant fing mich auf. „Herr Schraut, ich bin sehr froh, daß mich kein Zufall hierherführte.“

Es war hier ziemlich dunkel. Er lachte leise.

„… Denn endlich darf ich doch einmal mit dabei sein – endlich!!“

Kein Zufall?“ fragte ich, und ich wußte schon, was er antworten würde.

 

6. Kapitel.

Die Frau im Auto.

Eine geraume Weile schwieg er, senkte etwas verlegen den Kopf und blickte dann wieder auf. „Herr Remmele war nicht gerade sehr liebenswürdig zu mir.“ meinte er leise. „Meine Besuche in seinem Laden fanden nicht recht seine Billigung …“

Tobias sagte gereizt: „Als Mensch schätze ich Sie sehr. Herr Garlant, das wissen Sie. Als Bewerber um Isolde mußte ich Sie … hinausgraulen. Ein Oberwachtmeister, ein Polizeibeamter ist mir als Gatte für das Mädel nicht genehm. Sie kamen zu häufig, – ich habe meine Gründe dafür, Ihnen das Haus zu verbieten. Das Thema ist für mich erledigt.“

Günther Garlant, der in Zivil eine tadellose Figur machte, erwiderte jetzt ebenso bissig:

„Aber der Marchese Pragazza, – der darf stundenlang bei Ihnen sich herumdrücken, – – natürlich, ein reicher Herr, urältester Adel, Legationssekretär …“ Dann änderte er ebenso unvermittelt den Ton: „Ein Blick in meine Personalakten würde Ihnen einen unerwarteten Aufschluß über meine Familie geben, Herr Remmele. Ich habe bisher darüber nie gesprochen … Vielleicht kann ich mich in jeder Beziehung mit dem Marchese messen. Heute sitzen Grafen und Barone und Doktoren und Ingenieure aus bitterer Not am Steuer von Autotaxen, heute finden Sie überall Gebildete, die eine Stellung bekleiden, die ihnen nur vorläufiger Unterschlupf ist. Was den Marchese angeht, Herr Remmele: Mag auch die Eifersucht mich veranlaßt haben, ihm nachzuspüren, – was ich dabei entdeckte, wird Ihnen eine heilsame Lehre sein. Pragazza ist verheiratet.“ – Er sagte es nicht mit dem billigen Triumph des kleinlichen Eifersüchtlings, nein, er warnte nur.

„… Sollte ich etwa weiter zusehen, Herr Remmele, wie dieser Pragazza Isolde den Hof machte, bei Ihnen immer wieder allerlei kaufte, sich in Ihr Vertrauen einschlich und …“

Tobias stieß plötzlich einen merkwürdigen Ton aus. Es konnte ein hämisches Auflachen, – es konnte aber auch ein halb verschluckter Fluch sein. Er legte dem jungen Mann die Hand auf die Schulter.

Ich dem Menschen trauen – ich?! Garlant, wenn einer ihm nicht traut, bin ich’s!!“

Die Hülle fiel von Tobias Seele, und der kalte erbarmungslose Haß leuchtete auf wie ein glimmender Funke, der jeden Moment zu steiler Flamme emporschießen kann …“

„Garlant, wenn dieser Kerl es je gewagt hätte, seine falschen Katzenaugen zu Isolde zu erheben, hätte ich ihn … erwürgt!“

Der junge Beamte warf mir einen ratlosen Blick zu.

Um uns her standen die kerzengeraden, braune schwarzen, borkigen Stämme als stumme Zeugen dieser seltsamen Szene, drüben aber, jenseits des Gitters der Villa, wo das Dach der Garage und das Türmchen des Taubenschlages undeutlich zu erkennen waren, blitzte setzt ein Licht auf, wurde heller, eine Leiter wurde an das Dach gelehnt, ein Mann stieg nach oben, öffnete die Tür des Türmchens und beugte sich hinein, – das Licht in seiner Hand verschwand: Er holte die Brieftaube heraus, er nahm ihr das dünne Röhrchen ab, in dem die unrichtige Lösung der unverständlichen Depeschen aus Trikkala enthalten war.

„Da!!“ sagte Tobias nur.

Wir drei starrten hinüber, – es war Pragazzas Villa, und die Telegramme waren die Fäden, die bis zu den Felsschluchten des Olymp sich über Länder und Gebirge spannten, es waren die Verbindungsglieder einer Kette, die noch nicht völlig zusammengefügt war. Arbulos Ahlenzos, auch ein Glied, fehlte noch, – es fehlten noch allzu viele Glieder, die erst geschmiedet werden sollten.

„Da!!“ preßte Tobias abermals hervor …

Wir sahen’s …

Der Mann mit der Laterne stieg wieder hinab … Ein Blick auf das Leuchtzifferblatt meiner Armbanduhr: Genau vier Minuten nach ein Viertel zwei!

Es war die Taube gewesen, es mußte die Taube sein …

Silvio Emanuel Pragazza war überführt. –

Remmele meinte voller Hohn: „Der Narr!! Einer der besten Spürhunde war auf seiner Fährte, ein eifersüchtiger junger Kerl lauerte ihm auf, und ein alter Mann mühte sich desgleichen, diesem Schurken die Maske vom Gesicht zu reißen! Der Narr!“

Über uns ein vorsichtiger Zuruf …

„Los – ich will hinab …!“

Garlant spielte diesmal „Untermann“, ich kletterte ihm auf die Schultern, Harst rutschte tiefer, glitt an uns entlang, und wir vier traten hinter ein paar Nußsträucher.

„Nun haben sie die Depeschen,“ sagte Harald, und er klopfte seinen Mantel ab. „Schraut und ich müssen jetzt anderswohin … Der Marchese will fliegen. Die vier Stunden bis zur Abfahrt möchte ich zur Klärung einer Angelegenheit benutzen, die mit Pragazzas Doppelgänger zusammenhängt.“

Günther Garlant pfiff leise durch die Zähne. „Doppelgänger – nicht schlecht!! Was ist das denn wieder für ein neuer Schwindel des Herrn Marchese?!“

„Vielleicht nur ein von mir am Telephon belauschter Versuch zu retten, was noch zu retten ist.“

„Hm – sein Frauchen wohl?!“ meinte Garlant geringschätzig. „Feine Reklame in den Zeitungen für diese Jane Malling-Pragazza!! Von Briganten verschleppt – eine Million Dollar Lösegeld, – das duftet übel nach Impressariokniffen! Ich werde niemals an diese Entführung glauben, und wenn ich …“

Harst fragte schnell: „Wissen Sie bestimmt, daß der Marchese die Filmdiva geheiratet hat?!“

„Ganz bestimmt. Ich weiß alles darüber, Herr Harst. Der Marchese hatte Urlaub, war in Bremen, als der Dampfer die Hollywood-Gesellschaft ausschiffte, – er lernte Jane kennen, – haben Sie Bilder von ihr gesehen? Man kann sich schon in sie verlieben, wenn man … blind ist – eine jener süßlichen Fratzen, wie die Yankees sie auf der weißen Leinwand schätzen, ein ganz neuer Star, für den man schleunigst eine neue Gesellschaft mit dem verrückten Namen Grandsteaple-Kompagnie gründete. Im Filmkurier stand’s, und die Zeitschrift ließ durchblicken, daß das ganze eine oberfaule Gründung sei, anrüchig – – duftet nach dem Gelde irgendeines amerikanischen Kriegsschiebers … – Pragazza, wie toll in Jane verschossen, konnte nicht schnell genug mit ihr Flitterwochen feiern, aber er schämte sich wohl, seinen alten Namen neben dem dieses blonden Stars in der Presse zu finden, er hat Beziehungen, keine Seele erfuhr von der heimlichen Hochzeit, – der Generalkonsul Mattuso befingerte alles, Pragazza ist ja eine große Nummer im italienischen Zukunftskalender. – Anderen blieb’s verborgen, mir nicht, ich habe auch Beziehungen, es ist Tatsache: Der Marchese heiratete sie, acht Tage wohnte er mit ihr unter anderem Namen in einem feudalen Pensionat, dann muß es kurz vor Janes Abreise nach Griechenland einen bösen Krach gegeben haben, – weshalb, weiß ich nicht, ich weiß nur, daß Pragazza ganz verstört das Pensionat verließ … Er war nicht am Zuge, als die Filmleute gen Griechenland fuhren, er schickte nur seinen alten Diener Guiseppe Razzoni heimlich – heimlich mit, – den sah ich auf dem Bahnhof. – Im Grunde konnte man den blinden Tor bedauern, – so albern einem Mädel ins Garn zu gehen, dem’s doch nur darum zu tun war, Frau Marchesa zu werden!“

Harst klopfte dem jungen Eiferer beschwichtigend auf die Achsel. „Garlant, – wir alle haben mal eines Weibes wegen eine Dummheit gemacht – alle! Auch ich, Schraut, Tobias, Sie selbst! Sie lieben Isolde. Eifersucht war in diesem Falle sehr nützlich, ausnahmsweise, denn Sie haben mir meine eigenen Vermutungen und Erkundigungen bestätigt. Der Marchese ist als Mitglied der italienischen Botschaft exterritorial, das heißt, er untersteht in keiner Weise unseren Gesetzen, er kann tun und lassen, was ihm beliebt, wenn er nur mit seinen Behörden nicht in Konflikt gerät oder ein Verbrechen begeht. Hiervon kann wohl keine Rede sein, da ich ihm die Vorfälle in der Schuhmacherei nicht weiter nachtrage.“

Tobias Remmele lachte schrill. „Kein Verbrechen?! Nun, dann sind Sie nicht ganz im Bilde, Herr Harst! Ich werde den Kerl ins Loch bringen, – ich werde …

"Nichts werden Sie! Verstehen Sie mich, Freund Remmele! Nach Hause werden Sie gehen, und morgen wird Garlant bei Ihnen ein gern gesehener Gast sein, – ich wünsche dies, und ich …“

„Ein Auto!“ rief Garlant leise … „Da, – die Pforte ist offen … Der Wagen gleitet ebenso still auf die Straße, wie die Tore sich öffneten … Gut geschmiert – alles, die Kerle da sind …“

„Tobias!!“ – aber Harsts scharfer Zuruf blieb unbeachtet, Tobias rannte zwischen den Stämmen hindurch, Harst hinterdrein, – Tobias benahm sich wie ein Toller, sprang auf das Trittbrett, hielt dem Chauffeur die Pistole entgegen …

„Stoppen Sie, Sie Schurke!“

Harst riß ihn zurück … Harst packte mich bei der Schulter …

Das Auto fuhr schneller, ich schwebte halb in der Luft … gewann festeren Halt, klammerte mich an den Türgriff, sah im Innern undeutlich eine weibliche Gestalt, die sich ängstlich in eine Ecke schmiegte.

Als der Wagen in die Heydenstraße einbog, hingen wir noch immer auf dem Trittbrett. Der Chauffeur machte keinen Versuch, uns abzuschütteln. Harsts Pistole war ihm bedenklich nahe, und er gehorchte wortlos jeden Befehl.

„Fahren Sie in die Forckenbeckstraße, dann halten. Sie auf mein Zeichen.“ – Harst schwang sich neben ihn, und ich verschwand im Wageninnern, die Tür knallte zu, und die Frau stieß einen leisen Schrei aus. Ich wollte nicht ganz stumm bleiben. „Fürchten Sie nichts,“ meinte ich höflich. „Ihnen wird nichts zustoßen …“ Im Augenblick fiel mir nichts Besseres ein.

Die Frau war dicht verschleiert und weinte. Ich vernahm ein paar Worte, die wie ein Stoßgebet klangen, italienische Worte.

Wenn der Schein der Straßenlaternen über das Auto hinglitt und durch die Fenster fiel, erkannte ich einen dunklen Mantel, Lackhalbschuhe und am Hinterkopf der Frau schneeweißes volles Haar. Der Hut, den sie trug, war ganz tief herabgezogen und sehr breite krempig.

„Sind Sie Mafalda Pragazza, die Tante?“ fragte ich, als der Wagen bereits unserem Gemüsegartenzaun sich näherte. – Keine Antwort … Das leise Schluchzen wurde stärker.

Das Auto hielt. – Harst sprang herab und rief mir zu: „Öffne die Einfahrt!“

Er behielt den Chauffeur dauernd im Auge. Es war ein Mann in mittleren Jahren, bartlos, in tadele loser Livree.

Der Wagen glitt langsam bis auf unseren Hof, ich schloß die Zauntüren und lief hinterdrein, Harald war stets neben dem Chauffeur geblieben.

„Sie sind der Diener Aristide?“ fragte er den Chauffeur, als das Auto im Schatten unserer alten Bäume gestoppt hatte und der Mann ausgestiegen war.

„Jawohl, Herr Harst.“ Aristide schien sich sehr unbehaglich zu fühlen.

„Wer ist die Dame? Wohin sollten Sie sie bringen?“

Aristide zauderte, und Harald fügte hinzu: „Waren Sie schon mal im Gefängnis?!“

„Bei Gott – nein!“ rief der Mann entsetzt. „Ich bin nur in den vornehmsten Häusern Diener gewesen, und überall gab es da kleine Heimlichkeiten …“

„Dies hier sind große Heimlichkeiten,“ erklärte Harald schroff. „Antworten Sie also!“

„Die Dame galt in der Villa für die Tante des Herrn Marchese, ich zweifele jedoch daran, sie durfte nie allein und nie am Tage und nie ohne Schleier ausgehen. Ich sollte sie zu dem Schuhmacher Muffelberg hier ganz in der Nähe bringen.“

„Gut.“ Harst öffnete die Autotür. „Bitte, wollen Sie aussteigen, Signora. – Schraut, geh’ voran … Auch Sie kommen mit, Aristide, Sie werden telephonieren.“

In seinem Arbeitszimmer nötigte er die Frau in einen Sessel. „Wir müssen die Sache erst einrenken, Signora,“ meinte er. „Aristide wird die Villa anrufen und melden, daß alles in Ordnung ist. – Wer befand sich in der Villa, wer holte die Taube aus dem Schlag?“

„Taube?!“ Der Diener schüttelte den Kopf. „Ich weiß nichts von einer Taube, Herr Harst. In der Villa waren anwesend der Hausmeister Staubacher …“

„… also Muffelberg, was dasselbe ist.“

Aristide bekam große Augen. „Dasselbe?! Staubacher und der Schuhmacher sollen …“

„Weiter bitte. Wer noch?“

„Die Signora Mafalda, dann die Köchin, die Zofe und ich. Die Köchin und die Zofe schliefen, der Chauffeur Tino war beurlaubt. Staubacher hatte mir spät abends erklärt, ich würde wahrscheinlich noch das Auto lenken müssen, der Herr Marchese wolle vielleicht verreisen. Ich schlief in Kleidern in der Garage, als der Hausmeister mich weckte und mir den Befehl erteilte, die Dame zu Muffelberg zu bringen, den ich nie gesehen habe, ich traf immer nur den buckligen Gesellen Peter Porsch an. Staubacher hatte schon das Tor geöffnet, ich fuhr davon, und …“

„Danke. – Jetzt rufen Sie die Villa an und sagen Sie Staubacher, daß Sie die Leute, die Sie anfielen, glücklich abgeschüttelt haben. – Sollten Sie nachher noch anderswohin?“

„Ich sollte vor dem Klubgebäude warten.“

Aristide machte keinerlei Schwierigkeiten. Er telephonierte. Harst stand dicht neben ihm und horte mit. – Anscheinend war der Hausmeister durch Aristides Angaben voll befriedigt. Der Diener schien den Marchese wie vereinbart auch jetzt noch vom Klub abholen zu sollen.

Harst klopfte Aristide leicht auf die Schulter. „Brav gemacht! Kommen Sie mit. Oben mein Laboratorium hat Eisenladen und eine eiserne Tür – alles mit Patentschlössern. Sie werden dort auf dem Diwan schlafen, und morgen, hoffe ich, ist alles wieder geregelt. Das Laboratorium ist eine Zelle, aber eine sehr komfortable. Los denn, folgen Sie mir.“

Der Diener nickte. „Gern, Herr Harst. Ich fürchte, ich war da in eine etwas sehr dunkle Geschichte wider Willen verwickelt. Ich habe erstklassige Zeugnisse, und …“

„… Ich werde Ihnen ein noch erstklassigeres ausstellen, Aristide, – hier, nehmen Sie sich Zigarren und Zigaretten und ein Buch mit … Es ist ein Kriminalroman von Elgar Waldlace, Titel „Die Frau, die in der Mansarde schnarcht“, anscheinend eine Parodie auf Edgar Wallace … Damit Sie gut schlafen, Aristide.“

Der Diener verneigte sich. „Zu liebenswürdig, Herr Harst … Ich lese sehr gern.“

 

7. Kapitel.

Die Ehre des Namens.

Die Frau im Sessel saß ganz still da, hielt die Hände im Schoße gefaltet und starrte mit tief gesenktem Kopf vor sich hin.

Ich war etwas befangen ihr gegenüber. Harst hatte sie mit größter Höflichkeit behandelt. Ich wußte nicht recht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte. Das Schweigen zwischen uns war drückend und peinlich. Belanglose Redensarten hätten in dieser ungeklärten Lage taktlos gewirkt, selbst wenn die Frau in die dunklen Machenschaften des Marchese eingeweiht gewesen wäre, was wohl anzunehmen war. Der Marchese selbst war mir ein Rätsel. Es gab keinen Doppelgänger, das stand nun fest. Emanuel Pragazza hatte diesen Doppelgänger gespielt, um die Depesche und Harsts Lösungsversuche vom Schreibtisch stehlen zu können. – Weshalb lag ihm so viel an dem durchaus unklaren Telegramm? Weshalb hatte er mich angelogen und vorgetäuscht, der „Doppelgänger“ habe auch ihm die Depesche aus Trikkala in der Maske eines Beamten abgenommen?! Weshalb der üble Streich in dem Schuhmacherhäuschen, der doch sehr böse gerichtliche Folgen nach sich ziehen konnte?! Weshalb lag dem Marchese noch mehr daran, beide Depeschen durch Harst gewaltsam entziffern und uns nachher für einige Zeit verschwinden zu lassen?! Wozu diese umständlichen Vorkehrungen, ein Häuschen zu kaufen, Staubacher dort als Schuhmacher hineinzusetzen, Peter Porsch als Gesellen anzuwerben, Brieftauben bereitzuhalten und all das übrige?!

Wer war die Frau?!

Und ich zerstörte das peinliche Schweigen durch die berechtigte, höfliche Frage:

„Signora, wer sind Sie?! Vertrauen Sie sich uns doch an. Wenn Sie irgendwo Verständnis und Nachsicht finden, ist es hier bei uns. Meines Freundes Herzensgüte ist bekannt. Harst hat seine Schwächen wie alle Menschen mit lebhafter Phantasie. Aber er ist seelengut, glauben Sie mir.“ Ich wollte an ihr Frauenherz rühren. „Unser Heim ist Oase deutscher Behaglichkeit, deutschen Familienlebens … Hier in diesem Zimmer, Signora, hat sich schon so manche Frau in diesem zarten Odem reiner Menschenliebe die Last von ihrer Seele geredet und – es nie bereut. Hier fanden Entgleiste den richtigen Weg, hier saßen Zusammengebrochene und schieden innerlich und äußerlich gestärkt und hoffnungsfroh. Ich selbst bin hier ja nur zumeist stiller Zuschauer. Ich bin nicht Harst, mir fehlt die starke Linie der Persönlichkeit. Sprechen Sie, eröffnen Sie Ihr Herz, – enthüllen Sie das Geheimnis Ihrer Persönlichkeit.“

Sie hob müde den Kopf. Ein zaghaftes Schluchzen, ein Zaudern, dann streifte sie den Schleier empor und zeigte mir ihr Antlitz.

Es war ein Gesicht von wunderbarer Regelmäßigkeit, von einer ergreifenden Elfenbeinblässe. Traurige, große dunkle Augen schauten mich unter langen Wimpern an. Leid, Seelenschmerz gaben diesen Zügen etwas Madonnenhaftes. Sie war nicht mehr jung, aber das weiße Haar war nur gebleicht durch die Qualen tiefen Wehs, nicht durch das Alter. Sie mochte vierzig Jahre zählen, schätzte ich.

In hartem, fremdklingendem Deutsch sagte sie wehmütig:

„Ich bin Tobias Remmeles Frau.“

Harst war leise eingetreten und hatte die Worte noch vernommen.

Er ging zu ihr, rückte einen Sessel nieder und setzte sich. „Ich wußte das seit einigen Tagen,“ sagte er gütig. „Meine nächtlichen Ausflüge zeigten Sie mir zweimal von ferne, als Sie sich im Park in Dahlem Bewegung schafften. Der Marchese begleitete sie. Sie stützten sich auf seinen Arm, und ich merkte, daß er sie mit allem Respekt behandelte und daß Sie zwanglos mit ihm sprachen. Das letzte Mal lenkten Sie Ihre Schritte bis zur Berkaer Straße, bis zu Remmeles Laden. Sie standen vor dem Schaufenster und weinten, und der Marchese schien Sie zu trösten. – Frau Remmele, ich glaube, daß ich auf Grund der Auskünfte, die ich über den alten Marchese Pragazza erhielt, Ihr Geheimnis kenne. Der Vater des Marchese war als Schürzenjäger in Venedig verrufen, er war einer jener vornehmen reichen Wüstlinge, bei denen man trotz des alten Adels die Bezeichnung „vornehm“ streichen muß. Sie dienten in dem Palazzo als blutjunges Ding, – ich nehme an, der alte Pragazza stellte Ihnen nach, Sie liebten den Deutschen, den Goldarbeiter, – des Marchese Leidenschaft und Eifersucht wuchsen, er ließ Sie entführen, – was weiter geschah, möchte ich nicht andeuten. Er besaß große Güter in der Lombardei, und verschwiegene, von ihm abhängige Kreaturen hielten Sie verborgen. Als er starb, erfuhr sein Sohn die Wahrheit, wollte das Unrecht wieder gutmachen, nahm Sie mit hierher und hoffte, Sie und Ihren Gatten wieder zusammenzuführen und Sie und Ihr Kind!“

Die Frau weinte fassungslos. Harst hatte ihre Hände ergriffen. „So – und nun sprechen Sie, und … sagen Sie alles. Ich kann das Verhalten des jungen Marchese in dieser Angelegenheit durchaus verstehen. Er will die freventlichen Vergehen seines Vaters vor der Welt verheimlichen, er hat sich im Übereifer, die Ehre seines Namens zu wahren, auf dunkle Dinge eingelassen, die ihm sehr falsch ausgelegt werden konnten, er schuf ein Notversteck für Sie in dem Schuhmacherhäuschen, er stiftete Dinge an, die außerhalb des Gesetzes lagen, er zauderte, Ihrem Gatten die nackten Tatsachen zu enthüllen, er ging oft zu ihm, nie fand er den Mut zur Wahrheit. Finden Sie ihn!“

Er gab ihre Hände frei, sie trocknete die feuchten Augen, und ein Zug von Entschlossenheit zeigte sich um den roten, schönen Mund. Eine flüchtige Rote glitt über ihre Wangen, – es war der letzte Kampf in ihr.

Sie sprach.

„Die Dinge liegen nicht so einfach als Sie denken, Herr Harst. Die Vorgeschichte ist Ihnen bekannt. Ich liebte Remmele, ich war eine überglückliche Mutter, aber über alledem lag der finstere Schatten eines Mannes, der noch in Zeiten zu leben glaubte, als die Pächter der reichen Großgrundbesitzer ihre herangewachsenen Tochter willig den Lüsten ihrer Herren überließen und als niemand etwas dabei fand, daß diese Töchter dann schlichte Bauern heirateten und als Entehrte eine Mitgift von ihrem Verführer annahmen. – Der alte Marchese, immer noch ein stattlicher Mann, drohte meine Eltern von dem Pachthof, den sie viele Jahre innegehabt hatten, zu verjagen. Seine Wut und sein Haß, daß ich Remmele geheiratet hatte, kannten keine Grenzen. Mein Vater kam zu mir, Remmele war nicht daheim, – mein Vater klagte mir sein Leid, verfluchte den Marchese, beschwor mich, diese Ehe durch Flucht zu zerstören. Er hatte die Heirat nie gebilligt, ich war strenge Katholikin, – Remmele als Deutscher und Protestant war ihm ähnlich verhaßt wie der Marchese. – Ersparen Sie mir Einzelheiten … Es kam zu einer entsetzlichen Szene, mein eigener Vater drohte mir mit seinem Fluch, drohte mir mit Fegefeuer und Bann und Ausstoßung … – Die Italiener dort in den einsamen Pachthöfen, Herr Harst, haben immer noch ihre besondere Moral. Und ich – das blieb meine einzige Schuld, war kleinmütig and feige, ich lebte noch in einer Ideenwelt, die mich am mein Seelenheil fürchten ließ und Mann und Kind hintenansetzte. So begab ich mich denn heimlich nach einer kleinen Besitzung des Marchese, die von Guiseppe Razzoni verwaltet wurde. Guiseppe, eine ehrliche Natur, ahnte noch nichts. Ich berichtete ihm das Ungeheuerliche, – er war empört, und als der Marchese am Morgen eintraf, kam es zwischen Herr und Diener zu einer heftigen Auseinandersetzung, der ich nur zuerst beiwohnte. Guiseppe muß jedenfalls so großen Einfluß auf seinen Herrn gehabt haben, daß der Marchese mich zunächst nicht weiter belästigte. Es vergingen trostlose Tage, Wochen … Der Marchese besuchte das kleine einsame Gut noch dreimal, – dreimal schützte Guiseppe mich, und ich gewann den Eindruck, daß er seinem Herrn mit gewissen Enthüllungen drohte, die ebenfalls mit Weibergeschichten zusammenhingen. Inzwischen war meine Rückkehr zu meinem Garten unmöglich geworden. Die Polizei hatte sich eingemischt, der Marchese hatte Remmele auf eine falsche Spur gelockt – nach Tunis, mein Kind war in Deutschland, alle Bande zwischen uns waren zerschnitten. Es gab für mich kein Zurück mehr. Unter anderem Namen lebte ich bei Guiseppe als dessen Enkelin. Jahre verstrichen, – die Sehnsucht erstarb nicht, und als der alte Marchese plötzlich dahinschied, beichtete Guiseppe seinem Sohne die Tragik meines zerbrochenen Daseins, zerbrochen durch meine Feigheit. – Alles weitere wissen Sie. Der Marchese bemühte sich um den Posten hier in Berlin, ich begleitete ihn als Mafalda, sah mein Kind, meinen Gatten, – – und der Marchese … war … feige wie ich, er wollte meinen Gatten langsam vorbereiten, – – dann kam diese Nacht … – Was soll nun werden?!“

Harst blickte an ihr vorüber auf seine Schlafstubentür. „Finden Sie nicht, daß ich mit Aristide sehr lange oben im Laboratorium blieb, Frau Remmele?“ fragte er in seiner sprunghaften Art und lächelte dazu ganz wenig. „Was werden soll, darüber muß der entscheiden, der uns gefolgt ist und im Gewächshaus alles mit angehört haben dürfte. Sie wissen nichts von der kleinen elektrischen Anlage, die jedes hier gesprochene Wort im Gewächshaus abzuhören gestattet. Ich schaute durch das hintere Flurfenster hinaus und sah Licht im Gewächshaus. Nur einer kennt außer Isolde und uns die Mikronphonanlage …“

„Toblas?!“ rief die Frau erschrocken.

„Ja – er! Und wenn er Ihnen verzeiht und einverstanden ist, daß Ihr Wiederauftauchen ohne Bloßstellung des Namens Pragazza erfolgen soll, wird er, hoffe ich, sehr bald hier erscheinen.“ Er sprach laut und eindringlich. „Käme er nicht, – kämen Sie nicht, Freund Tobias, der Sie wahrscheinlich noch immer horchen, wurde unsere Freundschaft ein Ende haben! Wir alle haben unsere Fehler und Mängel und dunklen Flecken auf dem Bilde unserer Gesamtpersönlichkeit, wir müssen verzeihen und begreifen, zumal wenn das Leben noch ein schimmerndes Glück für die reifen Jahre verheißt! Kommen Sie, Tobias, – Schraut wird Ihnen die Hoftür öffnen!“

Er kam, er war kreidebleich, er wollte mir etwas sagen, aber die Zunge schien ihm gelähmt zu sein. Ich versperrte die Tür wieder und gab ihm den Schlüssel. „Harst und ich werden wohl den Marchese vor dem Klubhaus erwarten, lieber Remmele. – Mann, nehmen Sie sich zusammen, es ist nun doch alles eingerenkt, und Ihre Frau, – – zu beneiden sind Sie!“

Harst stand im Vorderflur, schob Tobias ins Zimmer, drückte die Tür zu. Wir vernahmen nur noch ein helles aufschluchzen und einen freudigen, heiseren Ruf …

„Das haben wir nicht schlecht gemacht, mein Alter.“ und Harald schlüpfte in Aristides Chauffeurmantel. „Nun müssen wir noch Herrn Arbulos Ahlenzos, Banditenführer, und den leichtfertigen Emanuel in Behandlung nehmen. – Weißt du,“ fügte er hinzu, als das Auto des Marchese schon der Stadt zurollte, „diese Venetianer können die Zeiten nicht vergessen, als die Leute dort in der Kanalstadt noch mit schwarzen Masken abends umherliefen und eine zum Teil recht blutige oder recht heißblütige Romantik ganz Venedig zur unheimlichen Märchenstadt machte Nur so ist’s zu verstehen, daß der junge Marchese den Hausmeister Staubacher Krüppel und Schuhmacher ohne kaputte Schuhe spielen ließ und den Doppelgänger ins Leben rief. Venedig war voll von Intrigen, und diese faulige Luft setzt sich noch heute im Blute fest und macht die Sprossen der alten Dogengeschlechter zu überphantastischen Ränkeschmieden. – Frage nichts. Der eine Teil der Geschichte der verschleppten Diva, nur ein Wurmfortsatz der Hauptaffäre, ist erledigt. Remmele wird auch gegen Günther Garlant als Schwiegersohn nichts mehr einzuwenden haben. Ich weiß es längst, daß Garlant studieren wollte, daß seine Eltern starben, daß er irgendwo unterschlüpfen mußte, um nicht zu verhungern und um seinen erwerbstätigen Schwestern nicht zur Last zu fallen. Mit ein paar tausend Mark bringen wir ihn schon in eine andere Position, bei der Polizei will er bleiben, ich werde mich für ihn verwenden, die Herren da oben im Roten Alex haben zumeist das Herz auf dem rechten Fleck … Wir werden sehen …“

„Und die Depeschen …?!“

Er lachte vergnügt. „Die Welt wird sich amüsieren, wenn wir der Presse die Wahrheit unterbreiten. Der Marchese wird dabei ein wenig blamiert werden – schadet nichts, er ist sehr reich, und er wird’s verschmerzen …“

Wir bogen in die Hardenbergstraße ein. Vor dem feudalen Klubgebäude parkten eine Menge noch feudalerer Autos.

Um vier Uhr morgens erschien der Marchese im Eingang, der Pförtner rief laut die Autonummer, und Harst als Aristide steuerte den Wagen vor die Bordschwelle. Ich war rasch ausgestiegen. Es war alles genau vereinbart. Ich saß schon in einer Autotaxe …

„Zum Flugplatz Tempelhofer Feld,“ befahl Pragazza, ohne Aristide genauer zu mustern.

Zwei Autos fuhren nicht zum Tempelhofer Feld …

Sondern zur Blücherstraße Nr. 10.

Und dann kam der vorläufige Abschluß einer verwirrenden Komödie amerikanischen Geschmacks.

 

8. Kapitel.

142 857.

Wie zerstreut, wie restlos der Marchese von anderen Gedanken in Anspruch genommen war, bewies am besten seine geringe Aufmerksamkeit auf den Weg, den sein Auto einschlug. Pragazza hatte einen mittelgroßen, rindledernen Reisekoffer bei sich, den er beim Verlassen des Klubgebäudes nicht einmal dem Diener anvertraute, der ihm den schweren Reiseulster und eine Schirm- und Stockhülle hinterhergetragen hatte.

Freilich, selbst wenn er Verdacht geschöpft hätte, – ich war in der Taxe dicht hinter ihm, und eine Flucht war unmöglich. Ich hielt mich genau an Haralds Anordnungen, ich versäumte nichts, ich hatte mich neben den Chauffeur geklemmt und der noch junge Mensch ahnte wohl, daß hier Besonderes vorging.

Dann hielt der elegante Wagen vor unserem Hause. Ich drückte meinem Fahrer schleunigst zwanzig Mark in die Hand: – „Langsam – ich springe ab …“

Ich kam gerade zur rechten Zeit, dem Marchese den Weg zu vertreten, der mit seinem Gepäck noch im letzten Moment quer über die Straße wollte. „Stopp, – Harst möchte mit Ihnen reden.“

Das Laternenlicht fiel ihm ins Gesicht, er verfärbte sich, biß die Zähne zusammen …

„Also eine Falle!“ preßte er hervor … „Ich begreife nicht, wie Aristide …“

… Dieser Aristide hatte das Auto schon abgeschlossen und trat hinzu. „Aristide schläft hinter eisernen Gardinen, Herr Marchese. Wollen Sie bitte mit ins Haus kommen. Oder sind Sie zur Zeit nur der Doppelgänger?! Nun, auch das genügt uns. Bitte, dort hinein. Ihr Auto wird niemand stehlen. Vor meinem Heim drücken sich ungern Herrschaften von der Diebeszunft umher.“

Pragazza fügte sich. Aber sein Gesicht war noch fahler geworden.

Wir fanden Haralds Arbeitszimmer leer. Auf dem Sofatisch lag ein Zettel:

Herzliche Grüße

das dankbare Ehepaar

Tobias Remmele und Frau hatten sich also entfernt. Wahrscheinlich saßen sie jetzt zu dreien mit Isolde in dem traulichen Wohnzimmer hinter dem Laden und freuten sich ihrer Wiedervereinigung, vielleicht war auch Günther Garlant dabei, der sicherlich mit Isolde insgeheim einig sein mochte.

Harst nahm den Zettel, knüllte ihn zusammen und beutete auf die Sofaecke. „Nehmen Sie Platz, Herr Marchese …“

Pragazza starrte ihn finster an. „Ich habe mir um halb sechs ein Flugzeug bestellt, Herr Harst. – Was wünschen Sie?!“

„Das Flugzeug wird Schraut sofort abbestellen … Ich wünsche, daß Sie sich setzen und mir Ihre Kofferschlüssel geben.“

„Das ist … Erpressung – – Bedrohung! Ich werde gegen Sie beide …“

Harst lächelte nachsichtig. „Wir werden in Frieden die Dinge regeln. Oder tragen Sie danach Verlangen, daß Schraut Sie wegen Körperverletzung anzeigt?! Aber das wird er nicht tun, schon Ihrer Tante Mafalda wegen auf keinen Fall, es wäre doch zu unangenehm, wenn Ihr Herr Vater noch nach seinem Tode …“

Pragazza wurde flammend rot. „Hier sind die Schlüssel, Herr Harst …“

„Danke … Ich öffne den Koffer … Bedienen Sie sich nur, dort sind Zigaretten … Schraut, öffne eine Flasche Haute Sauterne … Ich öffne lieber diesen Tresor …“ Er klopfte auf den Koffer, das Schloß knackte, und während ich Verbindung mit Tempelhof bekam, packte Harst zehn Bündel Dollarscheine auf den Tisch. „Wieviel haben Sie hiervon bei sich, Herr Marchese?“ Er zog eine Banknote aus einem der Bündel … „Hm – die ist falsch, Herr Marchese …!“

Pragazza schnellte empor. Seine verzerrte Miene drückte mehr Schreck als Angst aus. „Das – ist unmöglich,“ stammelte er.

„Oh – ich habe Sie diesen ganzen Tag überwachen lassen. Ich besitze gute Freunde im Roten Alex, und man kommt meinen Wünschen sehr gern entgegen … Zuerst haben Sie bei zwei Großbanken Gelder flüssig gemacht, dann wandten Sie sich leider an einen zweifele haften Ehrenmann … Denn der Bankier Bilzschitzki steht auf der schwarzen Liste der Polizei, Herr Marchese. Er hat Sie begaunert. – Schraut macht ein Gesicht, als ob ich hier einen Fälscher entlarvt hätte. Das stimmt leider.“

Pragazza traten dicke Schweißperlen auf die Stirn.

„Ich meine nicht Sie, sondern Bilzschitzki,“ beruhigte Harald. „Wieviel ist dies hier?“

„Zweimalhunderttausend Dollar …“ sagte Pragazza heiser und ließ sich in die Sofaecke fallen.

„Donnerwetter!! Ein teurer Ehespaß, Herr Marchese, bei sämtlichen Göttern Griechenlands!! Ich weiß ja nicht, ob Herr Arbulos an diese Götter noch glaubt, jedenfalls stand er bisher mehr mit dem Teufel im Bunde, aber ein Teufel betrügt bekanntlich den anderen, alte Geschichte, historisch wie die Ruinen der Akropolis. – Bringe Gläser, Schraut … Wir wollen es uns gemütlich machen. So im Handumdrehen ist diese famose Diva-Affäre nicht zu erledigen … – So, nun trinken Sie erst mal, Pragazza, damit Sie sich selbst wiederfinden und damit Sie für das Kommende gerüstet sind. – Ihr Wohl … Auf das Wohl Ihrer Gattin Jane geborene Malling, zu trinken, widerstrebt mir gründlichst. Ihnen wohl auch.“

„… Also nun erzählen Sie, Pragazza … Ohne Scheu. Das meiste weiß ich bereits, ich weiß sogar für Ihren Geschmack zweifellos zu viel, aber Miß Jane Malling wird Ihnen kaum mehr einen solchen Haufen Geld wert sein … – Wie lernten Sie sie kennen?“

„Bitte – noch ein Glas,“ sagte der Marchese mit einer bedauernswert tonlosen Stimme. „Ich … verliebte mich in ihr Bild … Ich begann mit ihr einen Briefwechsel, und ich benutzte den Rest meines Urlaubs, sie in Bremen zu erwarten. Sie war äußerlich ein entzückendes Geschöpf, – – ich … heiratete sie in aller Stille, aber am Tage vor ihrer Abreise nach Griechenland …“ – er fuhr sich mit dem Taschentuch über die Stirn … „beichtete sie mir, daß sie … vielleicht noch nicht regelrecht geschieden sei, – sie hatte mir von dieser Ehe mit dem Oberregisseur der Filmgesellschaft bisher keine Silbe verraten … Ich war empört, entsetzt, ich verließ sie sofort, und …“

„Danke, Pragazza … Also so haben die Leutchen die Sache befingert. Ich fürchte, das wird Zuchthaus kosten. – Dann kam gestern früh das Telegramm an … aus Trikkala. – Hier sind die Abschriften der beiden Depeschen, die eine war an Sie, die andere an mich gerichtet … Sie konnten Ihr Telegramm nicht entziffern. Ich zunächst auch nicht. – Schauen Sie her, Pragazza. Ich schreibe Ihnen hier das Zahlenwunder[2] 142 857 auf. Der griechische Professor Zervos entdeckte es. Multipliziert man 142 857 mit 2, so erhält man 285 714, also alle Ziffern der Grundzahl, nur verstellt. Sie können diese Grundzahl weiter mit 3, 4 oder 5 multiplizieren, immer enthält das Resultat dieselben Ziffern, immer aber verstellt. Mit 6 multipliziert ergibt sich 857 142, – beachten Sie: hinten 142, also die ersten drei Ziffern der Grundzahl, vorn 857, also die letzten drei Ziffern der Grundzahl. Mit 7 multipliziert kommt 999 999 heraus, – Sie sehen, diese 142 857 ist in der Tat eine Wunderzahl. Und mit ihr ist in den Depeschen sehr schlau gearbeitet worden. – Die an Sie gerichtete lautet:

142 857, 999 999, 7, – 428 571 selbst gefangen, 428 571, 142 857, 3, – auf keinen Fall 142 857, – großer Schwindel, Vorsicht, Harst mitteilen, – Trikkala, Bruder von 428 571.

Natürlich war diese Nachricht für Sie genau so unverständlich wie meine Depesche:

142 857, 999 999, 7, – bitte diskret mit Prag verhandeln, – 428 571 selbst gefangen, 428 571, 142 857, 3, – nicht dulden zu 142 857, – Trikkala, Bruder von 428 571.

Erst unter der liebenswürdigen Obhut des Herrn Peter Porsch, den ich nun endgültig auf den Weg der Tugend zurückzuführen hoffe, kam mir der Gedanke, daß der Anfang der Depeschen auf das Zahlenwunder 142 857 hinweisen sollte, das mit 7 multipliziert 999 999 ergibt. Damit hatte ich auch die Lösung gefunden. Der Text lautet also:

1. Ahlenz selbst gefangen (denn 428 571 ist gleich 3mal 142 857), auf keinen Fall zahlen, großer Schwindel, Vorsicht, Harst mitteilen. – Trikkala, Bruder von Ahlenz.

Ahlenz aber konnte doch nur Ahlenzos heißen.

2. Bitte diskret mit Prag (Pragazza) verhandeln, Ahlenz selbst gefangen, nicht dulden zu zahlen. – Trikkala, Bruder von Ahlenz.

– Ich glaube, der Marchese und ich blickten beide gleichmäßig verständnislos auf diese Telegramme.

Harst nahm eine Zigarette … „Hätte ich nichts von dem Zahlenwunder gewußt, lieber Pragazza, wäre es natürlich ganz unmöglich gewesen, diese Gaunerei aufzudecken, die so recht amerikanisches Format hat. Ein Kriegsschieber von drüben fischt irgendwo, irgendwie diese Jane auf, gründet die famose Grandsteaple-Kompagnie, heiratet Edith zur Sicherheit – auch in aller Stille, macht Reklame für sie, macht sich selbst zum Direktor und Oberregisseur der neuen Hollywood-Gesellschaft, die in Fachkreisen nicht ernst genommen wird. Aber man untere schätzt den Schieber und Gründer, – dieser Mr. Connawoor ist ein Verbrecher von unangenehmer Intelligenz, und als Sie Ihren Briefwechsel mit Jane beginnen, als der schlaue Herr erst erfahren hat, daß Sie mehrfacher Millionär sind, entsteht in seinem flinken Hirn ein Plan, der ebenso genial wie verrucht ist. Die Filmleute, alles Kreaturen dieses Menschen, reisen nach Europa. In Griechenland, so wird’s in der Fachpresse ausgetrommelt, soll der erste große Film gedreht werden. Das Drehbuch war Nebensache, – Sie und die Banditen des Olymp waren die Hauptsache …“

Pragazza und ich schauten uns an. Wir lasen gegenseitig in unseren Mienen ein maßloses Erstaunen, wir begannen zu begreifen, – an einen so niederträchtig frechen Streich hatten wir nicht gedacht.

Harst rieb ein Zündholz an. „Natürlich hat der edle Mr. Connawoor drüben zum Schein die Scheidung von Jane eingeleitet, Jane mußte doch der Rücken gedeckt werden, Bigamie ist nun mal strafbar. Ebenso selbstverständlich hat dieser Oberregisseur eines der schwindelhaftesten Banditenstückchen, das je ausgeheckt wurde, fertig gebracht: Arbulos Ahlenzos abzufangen, – hat sich seiner bemächtigt, hat ihn mit in die Berge geschleppt. Das war ja eben der Haupttrick. Um der „Entführung“ einen ernsten Anstrich zu geben, wurde der arme Eseltreiber aufgeknüpft, dann wurde in üblicher Weise die Million Dollar Lösegeld verlangt. Der edle Mister rechnete mit Ihrer Furcht vor einem öffentlichen Skandal und mit dem Einspringen der griechischen und amerikanischen Behörden, was den Rest des Lösegeldes anbetrifft. Daß Sie einen Teil zahlen würden, war ihm klar. Er verrechnete sich nur in einem Punkte: Er wußte nicht, daß Ahlenzos einen Bruder besaß, und der telegraphierte an uns, der mußte natürlich seinerseits auch vorsichtig sein, da sich ja Arbulos in der Gewalt der „Verschleppten“ befand. Man konnte aus alledem eine glänzende Posse machen, – ich fürchte, es wird eine Tragödie werden. Ich telephoniere jetzt Lücke das Nötige, und der wird die griechische Polizei benachrichtigen. Was Sie angeht, lieber Pragazza: Diese ungültige Ehe wäre für Sie ein teurer Spaß geworden, und Ihre diplomatische Laufbahn wird wohl auch erledigt sein. Bewirtschaften Sie Ihre Güter in der Lombardei und ziehen Sie aus alledem die eine Lehre: Daß übertriebenes Ehrgefühl zuweilen sehr schädlich ist und daß Ihr südliches Temperament unweigerlich gedämpft werden muß. – Herr Bankier Bilzschitzki wird der falschen Noten wegen ein paar Jahre Freiquartier erhalten, fürchte ich.“

Er ging zum Schreibtisch und nahm den Hörer von der Gabel. Dies entschied das Geschick der Gauner.

Vier Tage darauf konnte man in den Zeitungen lesen, daß „die verschleppte Diva“ und ihr Anhang von der griechischen Gendarmerie eingekreist worden waren, da Pragazzas alter treuer Guiseppe rechtzeitig nach längerem vorsichtigen Beobachten den Schlupfwinkel der Herrschaften ausgekundschaftet hatte. Er war nicht mit „entführt“ worden, er hatte lediglich Spion im Interesse seines Herrn gespielt. Bei dem kurzen Kampf wurden drei der Amerikaner erschossen, Arbulos Ahlenzos entwich jedoch, – man nimmt an in der Uniform eines Gendarmen, die ihm sein Bruder in den Schlupfwinkel hineingeschmuggelt hatte. – Jane Malling gibt jetzt ein längeres Gastspiel in einem griechischen Gefängnis.

Die Öffentlichkeit hat sich über diesen eigenartigen smarten Streich weidlich amüsiert. Andere aber hatten dadurch ihr Lebensglück zurückgefunden: Remmeles sind frohe Menschen, die hübsche Isolde als Braut Günther Garlants ist noch hübscher geworden, und Arbulos Ahlenzos schickte Harst vor einer Woche eine kostbare goldene kleine Statue der Göttin Venus. Ich glaube kaum, daß die Statue ehrlich erworben ist, aber – wie sollen wir sie dem Absender wieder zustellen?! Arbulos’ Adresse ist stets unbekannt. Vorläufig liegt die Venus bei uns im Tresor. Vielleicht meldet sich der, dem sie geraubt wurde, vielleicht schlägt auch einmal für Arbulos die kritische Stunde. Dann können wir die Statue an ein griechisches Zuchthaus zurückschicken.

 

Nächster Band: Der Skatklub Treffbube.

 

 

Anmerkungen:

  1. Siehe auf Wikipedia unter Trikala.
  2. Das Zahlenwunder wird auch als Zyklische Zahl bezeichnet.