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Der Erbe von Monte-Christo

 

 

Olaf K. Abelsen

Abenteuer

Abseits vom

Alltagswege

 

Der Erbe von Monte-Christo

 

Einzig berechtigte

Bearbeitung a. d.

Schwedischen von

M. Schraut

 

– Band 41 –

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1932 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16

 

1. Kapitel.

Das Signal für das Wolfsrudel.

Aus den grauen, kühlen Dunstmassen, die wie festgeklebt über dem kahlen, steinigen Hochplateau lagerten, erklang von Süden her ein Heulen und Kläffen und schrilles Winseln, als ob von dort ein Heerbann verdammter Seelen, dem Fegefeuer entstiegen, in Anmarsch wäre.

Der Mann, der da soeben in rasendem Lauf mit keuchender Brust und fliegenden Pulsen einen Augenblick ausruhend verharrt hatte, horchte dem Näherkommen dieses satanischen Chores mit vorgeneigtem Kopf.

Dann lachte er hart auf, – so, wie die Männer lachen, die die Gefahr als Spiel nur werten …

„Alter Monte“, sagte der Mann, indem er sich zu seinem Hunde hinabbeugte, „ich möchte nur wissen, wie dieses Viehzeug hier auf diese gottverlassene Rieseninsel geraten ist, hier am Rande der Treibeisgrenze des Südpols …!“

Von dem Hunde war in den dicken Nebelschwaden nichts, aber auch gar nichts zu sehen, obwohl er eng an die Beine seines Herrn sich schmiegte.

Die Hand des schwer atmenden Mannes, den die Meute drüben nun bereits eine volle Stunde hetzte, wurde naß von der Nässe des Nebels, der den Kopf des Tieres mit ungezählten Perlchen bedeckte.

„… Sie werden uns doch kriegen, alter Monte“, fuhr der Einsame in seinem trutzigen Selbstgespräch fort. „Unsere Patronen sind verknallt, und gegen ein solches Rudel – hundert sind es noch immer! – gibt es kein Mittel …“

… Er horchte wieder, – er merkte, sie hatten nun doch seine Spur vorläufig verloren.

Der dünne Bergbach, der da zu Tal schäumte und in dem er zuletzt entlanggewatet war, gab ihren feinen Raubtiernasen keine Witterung mehr.

Der Mann atmete ruhiger.

Der Tod in seiner gräßlichsten Art hatte ihn und seinen Hund beinahe in den Krallen gehabt.

Es waren Wölfe, zumindest Bastarde von Wölfen und Hunden.

Er begriff das nicht.

Diese Rieseninsel hier, berüchtigt durch ihre schauerlichen kahlen Gebirgszüge und ewigen Nebel, besaß ja an Säugetieren nichts als eingeschleppte Mäuse und Ratten und dann noch die Wassergeschöpfe aus der Familie der Seehunde …

Und jetzt!

…Wolfsrudel!!

Nein, er begriff es nicht …

Und dann schnellte sein Körper straffer auf …

Da – das Höllenkonzert näherte sich …

Kein Zweifel, diese beutegierige Brut hetzte wieder heran mit geifernden Mäulern und hängenden Zungen und grünrot schillernden Lichtern.

„Monte – weiter!“

Der Mann im Lederwams rannte gen Norden, hinein in das Nichts dieser grauen Schwaden, stolperte, raffte sich hoch, sprang über Steine, flog über Erdrisse hinweg, – – neben ihm sein Hund, keuchend wie er selbst, ausgepumpt wie er selbst … Und im Grunde waffenlos.

Jede Patrone hatte er vorhin, als die Lage noch kritischer, hineingefeuert in diese Masse sich zusammendrängender Tierleiber …

Jede …

Und das hatte ihm für Minuten Luft gemacht, das hatte die Verfolger zurückgescheucht, und da waren sie weitergestürmt, Mensch und Hund, und hinter sich ließen sie die ausgehungerten Bestien, die sofort die erschossenen Artgenossen zerrissen hatten …

Wolfsmanieren …

Er kannte sie.

Er kannte sie zur Genüge aus Nordwestkanada, wo in strengen Wintern die Wolfsbrut zu dürren Zaunlatten zusammenhungert und der Hungerwahnsinn sie befällt und sie durch ihre Menge gefährlicher werden als die größten Großkatzen. –

Der Mann hoffte auf ein Felsgebilde, das ihm Deckung böte …

Der Mann lachte abermals sein hartes, melodisches Lachen, als er von ungefähr nun wirklich gegen einen Felsen rannte … Nur die vorgestreckten Hände hatten ihn vor einem zu harten Anprall bewahrt.

Er betastete eilends das Gestein, umkreiste es noch eiliger, – es war ja wie ein kahler, nackter Felshügel, – er zauderte nicht, er fand eine Art Kluft, nahm seinen Hund in den Rucksack und begann den Anstieg.

Anstieg?!

Aus dem Nebelgebräu trappelte es heran mit vierhundert krallenbewehrten eiligen Füßen, mit Heulen und Kläffen und Winseln und Knurren und Japsen – ein Chor unsichtbarer Dämonen.

Die Kluft war eng, hatte Risse, Vorsprünge, ging fast senkrecht empor – – wohin?!

Und der Mann war blind durch die tückischen Nebel …

Der Mann sah kaum die Hand vor Augen. Das Gestein war naß, schlüpfrig, Flechten und Moose klebten daran, vollgesogen voll Wassernebel wie Badeschwämme.

Nur der Tastsinn blieb dem Manne, der nun um das Letzte kämpfte, und der trotzdem die Zähne zusammenbiß, wie so oft schon, wenn es um die äußerste Entscheidung gegangen war.

Er wollte siegen, und er war es nicht gewohnt, einen Kampf aufzugeben, und wenn auch nur die allerleiseste Hoffnung sich noch zeigte.

Die Hoffnung war dieses Felsgebilde, von dem er nur wußte: Ein steiler riesiger Basaltblock, – Basalt, Urgestein, auf der Kergueleninsel am häufigsten anzutreffen.

Nur der Tastsinn blieb ihm …

Hände, Füße, arbeiteten automatisch …

Wo nur irgend ein Halt zu finden, – er nutzte ihn …

Er zog sich höher, behindert durch Rucksack und Büchse …

Er rutschte abwärts …

Die nassen Badeschwämme verhöhnten seine Muskeln, waren gegen ihn … Seine Hände, Stiefel glitten ab, und die Last auf seinem Rücken, sein treuer, vierbeiniger Freund, ward zu Zentnern in diesem Spiel gegen die heulende Meute.

Unter ihm drängten sie sich, Wolfsgelichter, unsichtbar, – – schnellten empor, schnappten nach seinen Füßen, daß die Zähne zusammenknallten wie harte Bretter.

Aber – er wollte höher …

Er sah nichts …

Er hörte die grimmen Feinde, er roch sie …

Der Raubtiergestank teilte sich dem Nebel mit, dunstete nach oben in der engen Kluft, und der Hund im Rucksack knurrte …

Der Mann blieb still …

Er kämpfte gegen die Widrigkeiten, die sich ihm entgegenstemmten mit jener Heimtücke, als ob verderbte Menschenhirne sie ersonnen hätten …

Er rutschte hinab, – aber er holte den Verlust sofort wieder ein, denn in ihm loderte das Große, Erhabene, Heldische: Der Kampfeswille!

Und da – wieder so ein paar niederträchtige nasse Schwämme, wieder verliert er den Vorsprung, und aus dem stinkenden Chor der vierbeinigen Teufel schnellt einer empor, beißt zu, und der Mann fühlt die Fangzähne im Stiefelschaft, fühlt das Bleigewicht, krallt die Hände in die Ritzen, schwebt im Leeren, doppelt belastet, und tastet mit dem anderen Fuße nach einem gnädigen Halt …

Findet ihn auch …

Und hängt da, die Bestie am Bein, die nicht loslassen will, – – vielleicht ist es gar der Führer des Rudels, das stärkste Tier …

Und das hält fest …

Kampf im Dunkeln …

Kampf eines Blinden gegen hundert, deren wildes Konzert nach seinem Blut verlangt.

Und der Mann wagt es …

Er merkt, er wird das Bleigewicht nicht los!

Es muß sein …!

Noch haben seine zerschundenen Finger den nötigen Halt, die nötige Kraft, noch sind sie Eisenhaken, hineingeschoben in das rissige Urgestein …

Noch …

Wie lange noch?!

Und deshalb wagt er es …

Deshalb …

Verläßt sich auf die Sehnen dieser blutig zerschundenen Finger, löst den anderen Fuß von dem Felsbuckel, hebt das Bleigewicht des verbissenen Wolfes höher und stößt zu, um es loszuwerden …

Stößt mit dem Stiefelabsatz dorthin, wo der Schädel der Bestie baumeln muß …

Trifft…

Spürt den Ruck des Stoßes im eigenen Leibe, in den eigenen Armen, als sollten ihm diese ausgerissen werden …

Der Wolf, halb betäubt, fällt herab auf die Rücken seiner Artgenossen, das Knurren verstummt einen Augenblick, – – nichts ist zu sehen, und das ist das Grausige bei alledem …

Der Mann horcht…

Schon ist die Stille vorüber, und gerade unter ihm erhebt sich der bestialische Lärm des Mordens …

Das halbbetäubte Tier wird zerrissen, zerfetzt, verschlungen …

Teufel balgen sich um die Beute, gemeine ausgehungerte Teufel ohne jedes Zusammengehörigkeitsgefühl …

Ob es einer der eigenen Sippe, den sie da anfallen zu Hunderten, – ihnen ist es gleich …

Blutrausch, Freßgier, diabolische Mordgier treibt sie zu feigem Schlächterhandwerk …

Der Mann kann sich die Szene dort unten nur ausmalen im eigenen Hirn …

Er hört nur das schrille Todesheulen, das letzte Winseln des Opfers …

Ihn fröstelt es …

Er malt sich sein eigenes Geschick aus …

Und dann flutet der Lebenstrieb wieder aufpeitschend durch seine Adern, und er klimmt höher … höher.

Vorsichtig, unbelästigt …

In den Raubtierdunst mengt sich der andere Dunst warmen Fleisches und Blutes, – – von dem zerfetzten Kadaver, von den herausgerissenen Eingeweiden, von dem Lebenssaft des Tieres, das da unten starb und das ihm die Spanne Zeit verschaffte, noch höher zu steigen, außerhalb des Bereichs der emporschnellenden Feinde.

Plötzlich greift seine rechte Hand ins Leere.

Der Felskamin hat hier ein Ende, und der Mann tastet umher, wagt auch diesen Sprung zur Seite und liegt bäuchlings auf dem Felsen, umgeben von dem grauen Nichts des Nebels …

Des Kerguelen-Nebels …

… Kalt, dick, schwer, grau wie verblaßte Schleier.

Er rappelt sich auf, zieht die Beine nach, rollt sich eng zusammen wie ein Igel, denn dieser Unterschlupf ist eng, hat vielleicht anderswo seine unsichtbaren Tücken.

So liegt der Mann, und hört nur mehr das eigene Herz dumpf pochen, hört nur das Rauschen des eigenen Blutes gegen die eigenen Trommelfelle, die förmlich vibrieren, – – und pfeift durch die Zähne wie ein fauchender Blasebalg unter den Atemstößen der überanstrengten Lunge …

Er liegt still …

Der Hund liegt still in seinem Rucksack …

Das Rudel der Bestien heult, stinkt, knurrt.

Und die ganze Welt ringsum ist nur grauer Dunst, ist nur das unheimliche Nichts eines nebligen Abends auf Kerguelenland an der Treibeisgrenze des Südpols …

So ist es …

Und in diese unsichtbare Szenerie fällt von fernher, von Süden, wo sich die Gletscherkuppen türmen, ein gänzlich fremder Ton …

Fällt nicht, – nein, stößt durch den Nebel wie ein toller, wild-mahnender Wirbel eines nahenden Orkans …

Ein Ton, langgereckt, beginnend in der Mittellage, anschwellend zu schrillem Diskant …

Vielleicht einem besonders gearteten Horn entquellend mit unheimlicher Tonfülle, vielleicht die Stimme eines Tieres, denn die Riesensäugetiere des Ozeans, die da an den Küsten der ungeheuren Insel hausen, haben ebenfalls bei ihren brünstigen Kämpfen Stimmittel zur Verfügung, die in den Klippen und Riffen und Inselchen vielfache Echos wecken.

Und doch …

So jäh, wie da unten jetzt der infernalische Chor der hungrigen Bestien verstummt, – so jäh geschieht es, daß nur eins die Ursache sein kann:

Der ferne, gewaltige, nebelzerfetzende Ton, der nun abermals hörbar wird.

Und sie schweigen vollends, die tollen Verfolger des Mannes, der sich halb aufgerichtet hat und regungslos horcht …

Horcht …

Und hört …

Hört das Trappeln von unzähligen Füßen, hört das Klappern der Krallen auf nacktem Gestein …

Und wieder stößt das ferne Signal durch das braune Gebräu der Wassertröpfchen, – – und aus dem Trappeln und Klappern wird keuchender, eiliger Rückzug …

Wie ein Spuk entschwindet das Wolfsrudel, wie ein Spuk erstirbt der Lärm der hastigen Brut, und der Mann da oben, ganz Ohr, streicht sich über die Stirn und … begreift nichts von alledem …

Genau wie um ihn her das große Nichts Grau in Grau alles, alles zudeckt mit verblaßten Trauerschleiern.

Dann besinnt er sich, wer er ist, – – und er lacht wieder lautlos in sich hinein, hart trotzdem, metallisch trotzdem, – ein Lachen des stillen Sieges …

Was tut es, daß da irgendwo eine geheimnisvolle Persönlichkeit diese Wölfe und Wolfsbastarde zurücklockte in die Einsamkeit der südlichen Berge, und daß diese nahezu hundert Bestien dem Signal gehorchten?!

Das hat für den Mann da oben im Felsenversteck keinerlei Bedeutung, was seine eigene übermenschliche Leistung in diesem Kampfe angeht …

Seine Leistung war die eines Menschen mit eisernen Nerven und eisernem Willen – auch als Verfolgter, als Gehetzter …

Und dieses Eherne, Stählerne, Unbeugsame, diese elastische kluge Zähigkeit des Willens verdankt er nicht sich selbst.

Der Mann wird das, jeder Mann wird das, was die Umstände, die Lebensbedingungen und der geringe Prozentsatz ererbter Eigenschaften aus ihm machen, in ihn hineinhämmern, aus ihm zurechtkneten mit ebenso eisenharten Fäusten, wie er selber sie gewann im Laufe der Jahre abseits vom Alltag …

Der Mann überschätzt sich nicht, – der Mann fühlt sich als Sieger, weil er in Wahrheit auch an diesem frostigen Abend gesiegt hat.

Keine der hungrigen Bestien, die nun gen Süden davonkeuchen, hätte ihn hier oben erreicht. Und wenn der Morgen gekommen wäre und Sonne und Wind die Schleier ringsum zerrissen hätten, dann würde derselbe Mann von diesem Basaltkegel Steinstücke losgebröckelt und sie hinabgeschleudert haben zwischen die tolle Brut, und so wäre er Vernichter geworden von vierbeinigen Geschöpfen, die zu schade waren, elend zusammengehauen zu werden, – das sieht er nun ein …

Zu schade … – Gewiß, sie hetzten ihn, sie hätten ihn zerrissen, verschlungen, ihn und seinen Hund, aber – – es waren vierbeinige Geschöpfe, die er im Grunde genau so liebt wie die ganze Natur mit all ihren Wundern, und – das weiß er jetzt auch – sie sind gezähmte Wildlinge, alle, alle, sie gehorchten dem fremden Signal wie in Angst vor einer Macht, die stärker ist als ihre geschlossene, blutgierige Masse, – – einer Macht, einem Menschen …

Einem Menschen …

Und das gibt dem Manne zu denken.

Das verwandelt das Abenteuer in ein Geheimnis …

Mit diesem Geheimnis belastet tritt der Mann mit seinem Hunde den Rückweg zur Küste an, wo ein Kranz von Inseln, Inselchen, Klippen und Riffen die Gestade von Kerguelenland umsäumt.

 

2. Kapitel.

Ein Gast in der Nacht.

… Und dort mitten auf einer großen Terrasse der Steilküste steht eine Hütte aus Schiffstrümmern, Steinen, Felsblöcken und Lehm …

Eine abenteuerliche Hütte, halb Räuberburg, halb Blockhaus, – immerhin mit einigem Schönheitssinn errichtet.

Sogar Glasfenster besitzt sie, – zwei, – nicht gerade groß …

Auch von einem Wrack geborgen.

Obwohl gestrandete Schiffe auf Kerguelenland so rar sind wie etwa Bäume …

Wer verirrt sich auch hierher?!

Niemand!

Einst, und das liegt Jahrzehnte zurück, hatten die Transiedereien ihre Aktien oder Anteilscheine durch den Fang, nein, durch den Massenmord der Seesäugetiere, die diese Buchten bevölkerten, im Werte hochgetrieben.

Das war einmal.

Nicht daß Kerguelenland, unbewohnt trotz seiner gewaltigen Ausdehnung, diese Meeresbewohner völlig eingebüßt hätte.

Nein, – die Chemie, die modernen Wunder der Hexenküchen, legten eine ganze Flotte von Fangschiffen lahm. Man braucht den Tran kaum mehr. Die Chemie stellt billigere Fette her.

… Und von diesem Ringen zwischen Veraltetem und Neuen singt da diesen selben Abend ein Mann in dieser Räuberhütte ein verwegenes Lied.

Ein Kerl ist es, groß, fast riesenhaft, – und doch liegt in dem blondbärtigen, sonngebräunten Gesicht ein kindlich-heiterer Zug, der den Mann liebenswert erscheinen läßt.

Dieser Kerl, unter dessen hochgekrempelten Wollhemdärmeln braune, muskelstrotzende Arme hervorragen wie Eisenklammern, singt und pfeift und knetet in einer Emailleschüssel gelblichen Teig für frisches Brot, das noch heute in den Ofen soll.

Über ihm hängt eine leise zischende Karbidlampe. Um ihn her ist die geräumige Hütte vollgepfropft mit Dingen, die in eine Trödelbude passen würden.

Zwei eiserne Klappbetten stehen da, blendend weiß bezogen, fast Prunkstücke in diesem Durcheinander …

Fast …

Prunkstück ist der Kerl, der da den Teig knetet und singt, daß die Fenster klirren.

Weshalb nicht?!

Nachbarn, die sich des Lärmes wegen beschweren könnten, gibt es hier nicht …

Und die Seesäuger unten an der Bucht nehmen es nicht übel, daß der Mann mit dem vorgewölbten Brustkasten so im Übermaß der Daseinsfreude sein Lied über den Sieg der Technik, der neuen Zeit hinausschmettert …

Zuweilen horcht er …

Dann überfliegt sein Gesicht eine Wolke des Unmuts …

„Eine Verrücktheit, bei dem Nebel noch draußen zu bleiben!“, knurrt er in dieser oder jener Variation …

„… Aber das ist nun mal das unruhige Blut, das in ihm pulsiert …“, entschuldigt er den Gefährten seiner Einsamkeit, seiner endlosen Fahrt über die Weltmeere.

… Und knetet weiter …

Wirft einen Blick auf die ebenfalls geborgene Schiffsuhr an der lehmgeglätteten Wand.

„Verdammt, – – schon neun, wo bleibt er?!“

Jetzt ist es Sorge, die seine Züge verändert und den stahlblauen Augen einen Ausdruck von zäher, verbissener Energie verleiht.

Der Teig ist fertig, der Mann stellt die große Schüssel in die Nähe des offenen Herdes, säubert die Hände und wäscht sie und trocknet sie und schielt dabei des öfteren nach einer Art Verschlag, der durch einen Vorhang und Bretterwände abgeteilt worden ist.

Sein Gesicht wird wieder kindlich-liebenswürdig, als er den Vorhang wieder sachte hebt und in den Verschlag hineinschaut.

Und dann lacht er, ein so recht unbefangenes herzliches Lachen, das geradezu ansteckend wirkt.

Aus der Bretterkabine kommt Antwort, nur heller, silberner, übermütiger.

„Dachtest du, ich könnte bei deinem Singsang wirklich schlafen, Uhl?! Dann hätte ich mir die Ohren verstopfen und den Kopf in die Decken wühlen müssen, du … lieber Bär!!“

Der liebe Bär ist verlegen, und nur um diese Verlegenheit zu bemänteln brummt er ärgerlich:

Er ist noch nicht zurück, und es ist längst neun Uhr vorüber … Und draußen liegt eine Sorte Nebel über diesem Steinparadies, als ob ganz London seine berüchtigten Schwaden leihweise uns überlassen hätte …“

Das Mädel, das dort in der primitiven Kemenate auf dem Klappbett ruht, richtet sich etwas schwerfällig auf.

Als der große, seetüchtige Kutter Uhl Lavinals vor acht Tagen hier strandete, hat Christa Lavinal während des tollen Orkans und während der Bergungsversuche eine so arge Quetschung erlitten, daß sie noch heute mehr als schonungsbedürftig ist.

Aber Uhls knappe Mitteilung, daß er mit seinem Hunde noch irgendwo draußen sei und in diesem Nebelmeer und in dieser pfadlosen Wüste der großen Kergueleninsel, treibt das Mädel doch von ihrer warmen Ruhestätte und läßt sie dem ebenso stattlichen Bruder entgegenhumpeln.

„Wir sollten Signalschüsse abgeben, Uhl“, meint sie besorgt. „Hast du denn bisher so gar nichts unternommen, – er kann sich doch verirrt haben.“

„Der – sich verirren?! Aber Christa?! Wo er den Monte bei sich hat!! Immerhin, wir könnten ja …“ – und er greift zur Büchse, er stützt die Schwester, und Arm in Arm treten sie in den grauen Nebel hinaus, der das seltsame Bauwerk von Wohnung mit seinen lautlos schwebenden grauen Gespenstern dick umlagert.

Sie stehen und horchen …

In der Nähe rauscht eine träge Brandung. – Der indische Ozean, dessen Südzipfel diese Gestade umspült, ist heute friedlicher denn je, und selbst das Volk der Riesenrobben mit ihren verschiedenartigen Namen unterläßt sein nächtliches verschlafenes Konzert, – nur zuweilen erklingt das dumpfe Brüllen eines der auf den Klippen unsichtbar ruhenden Tiere …

Christa Lavinal fröstelt.

„Ein schreckliches Land“, sagt sie leise …

Uhl drückt ihren Arm …

„Ein prächtiges Land!“, verbessert er begeistert. „Schon der Gedanke, daß hier einer unserer Ahnen …“

Und da schweigt er …

Dreht etwas den Kopf, horcht noch schärfer in die Ferne …

„Hörtest du?“, flüstert er …

„Was war das?“, fragte sie hastig zurück.

„Weiß nicht, – es klang fast wie ein Fanfarenton … – Da – – Wieder!! – Da – – nochmals! Was bedeutet es, – sind wir drei doch nicht allein auf Kerguelenland?! Abelsen meinte noch heute früh, er habe noch nirgends die Spuren von Menschen bemerkt …“

„Still …!!“

Christa schiebt das blonde Haar zurück, lauscht und späht in die trügerischen Schwaden hinein …

„Mir war es, als ob …“ – und da bricht sie ab, da hat auch ihr Bruder die anderen seltsamen Töne aufgefangen, er hebt halb die freie Hand zu einer eindrucksvollen Geste höchsten Staunens.

„Das … das waren doch Tiere, Christa …! Hunde oder Wölfe … Wie kommen die in solcher Menge hierher?! Es waren die Stimmen unzähliger Bestien, und nun sind sie verstummt …“

Seine Hand sinkt wieder, und in seiner Haltung drückt sich eine gewisse Hilflosigkeit aus.

Die Geschwister bleiben eine Weile stehen.

Das aus der halb offenen Hüttentür fallende Licht beleuchtet ihre Profile. Sie haben denselben klaren, kühnen Gesichtsschnitt, dieselbe hohe, schmale Stirn, dieselben Augen mit den langen Wimpern, dieselbe gerade, dünne, temperamentvolle Nase, dieselbe Mundpartie.

All diese Nachkommen Pierre Lavinals, dessen Familie nach der großen Revolution nach Deutschland, nach Preußen auswanderte und dort an der Ostsee sich niederließ, sind gleichen Schlages gewesen. Das Normannenblut drängte sich immer wieder in ihnen kraftvoll, urwüchsig an die Oberfläche, mochten die männlichen Lavinals auch noch so derbe pommersche Weiber aus ähnlichen Seefahrergeschlechtern gefreit haben. All diese Lavinals sind aus einem Guß, allen ist die laute Fröhlichkeit und das Kindlich-Harmlose eigen, alle aber sind sie auch steinhart von Charakter, wo es darauf ankommt, Härte zu zeigen …

Wie hier, wo das Unbekannte, Unbegreifliche sich ihnen unsichtbar darbietet, wo die Schallwellen fernher den Nebel durchdringen und doch nichts verraten von dem, was sich da irgendwo im Mittelteil der Insel abspielen könnte.

Von Uhl Lavinals Gesicht ist das Hilflose weggewischt.

„Christa, jetzt fürchte ich für Abelsen … Der Teufel mag wissen, wie …“

„Signalschüsse!“, fällt sie ein … „So schieße doch!!“

Er lacht dröhnend …

„Schießen?! – Nein, Kind … Man lockt sich das Unbekannte nicht leichtfertig auf den Hals …!! Man tut das, was Abelsen mir nahelegte: „Sorgt euch nie um mich, wenn ich auch einmal zu lange ausbleibe. Ich beiße mich schon durch!!“ – Nichts übereilen, Christa … Im Grunde sind wir beide doch nur Anfänger im Vergleich zu ihm …“

Und er zieht sie zurück in die Hütte, krachend fällt die Balkentür zu, und das Mädchen widmet sich gedankenvoll den häuslichen Verrichtungen und den Vorbereitungen zur Abendmahlzeit.

Nicht lange mehr, und Monte und ich stehen draußen vor dem Fenster und lugen hinein in die große Rumpelkammer von Wohnraum, und mein treuer Hund bellt dreimal kurz auf, als er Christa durch die feuchten Scheiben bemerkt.

„Hallo, – – da ist er!!“

Uhl hat die Tür aufgestoßen, steht breitbeinig da, lichtumflossen, nebelumwallt …

„He, was gibt es, Olaf …? Wir hörten seltsame Töne?“

Er machte mir Platz, in der Höhle duftete es nach gebratenem Fleisch, Christa nickt mir zu, aber in ihren Augen ist ein Schimmer von Zerstreutheit, von Geistesabwesenheit.

Wir sitzen um den Tisch, ich erzähle …

Wir essen, trinken, – ich erzähle von der Wolfsmeute, von dem rettenden Felsen, von dem Signal, das die Bestien zurücklockte …

Meine Gefährten verlieren keine Silbe. Uhl schüttelt immer wieder den Kopf …

„Olaf, das kann doch nur ein Mensch sein, der hier mit diesem Viehzeug irgendwie gestrandet ist …!“

„Kann sein!“, nicke ich nur und werfe Monte einen Happen zu. „Kann vieles sein, Freund Uhl. Rätselraten ist zwecklos. Werden den Mann finden und fragen. So machen wir es. Und ihr beide, Christa und Uhl, solltet nun endlich auch so etwas die Schleier lüften … Kein Mensch glaubt euch, daß ihr mit eurem großen Kutter so rein zum Vergnügen den Atlantik und den Pacific und den Indischen Ozean durchkreuztet, – ein Vergnügen war höchstens meine Bergung, als die verdammten Haie mich und Monte und unser Bündel dort im Ostpacific wegschnappen wollten … – Lassen Sie nur, Christa, meine zerschundenen Hände haben Zeit, – aber keine Zeit hat die Wahrheit, die muß nun endlich ans Tageslicht! Also bitte!“

Und ich starre Freund Uhl in die stahlblauen Augen.

Ich kenne ihn …

Über zwei Monate kennen wir uns …

Das genügt.

Haben so mancherlei erlebt, haben einen Taifun überstanden, der aus dem Kutter Kleinholz machen wollte, haben Orkane belächelt, die uns mehr Seewasser schlucken ließen, als einem anständigen Magen verträglich, haben zum Schluß doch Pech gehabt und landeten hier als Schiffbrüchige.

Machte nichts … Waren sechs Hände da, die feste zupackten und retteten, was zu retten war. Leben hier als Robinsons ein wundervolles Leben, nur …, – ja, nur zu verschwiegen sind mir diese prächtigen Geschwister gewesen, und auf dem Rückwege habe ich mir vorgenommen: Heute noch wird mit all der Geheimniskrämerei reiner Tisch gemacht!

Heute noch!

Und nun starren wir Männer uns an, und Uhl Lavinal ballt langsam die braunen Fäuste auf der gewürfelten Tischdecke und öffnet sie wieder und … schlägt den Blick herab zu seinem Teebecher aus Aluminium und umkrallt das dampfende Gefäß vor Verlegenheit und drückt es zusammen wie Pappe, daß der Tee ihm über die Finger fließt …

„Uhl!!“

Christa ist schon mit einem Lappen da.

„Uhl, – so rede doch!!“, mahnt sie. „Ich kann es nicht, denn ich weiß nichts … Ich bin nur deine Schwester, wir beide sind die letzten Lavinals, und wir Weiber aus diesem Geschlecht wurden niemals eingeweiht in das, was das Mannsvolk im Panzerschrank der eigenen Brust mit sich herumtrug.“

Und sie trocknet die Nässe und fügt für mich hinzu, während Uhl den armen platt gedrückten Becher wieder in Form bringt:

„Nein, Olaf, – ich weiß nichts … Nur das eine, daß Uhl vor vier Monaten den Kutter kaufte und unser Häuschen und unser Land veräußerte und erklärte: „Du kommst mit!! Wohin, das wirst du sehen!“ – So sind die Männer der Lavinals, Abelsen: Sie kommandieren gerecht, und – – man darf nichts sagen!“

Uhl hat dicke Falten auf der Stirn …

„Mädel, was Weibersache, das mag Weibersache bleiben …! Und wenn ich Freund Abelsen nachher zum Teil vielleicht einweihe, worauf er als unser Kamerad Anspruch hat, bleibt das Männersache!! Du verstehst mich!!“

Und er stellte den Becher, den er nur mit den Fingern wieder tadellos geglättet hatte, so hart auf den Tisch zurück, als sei es der Schlußpunkt unter dieses Gespräch.

Christa beließ es bei einem Achselzucken. Sie war es wohl nicht anders gewöhnt, als dem um fast zehn Jahre älteren Bruder zu gehorchen, aber in ihren Stahlaugen war doch ein gewisser Trotz aufgeflammt, und auch Uhls Stirn glich weiter einer düsteren Hügellandschaft.

Ich wollte Christa helfen, ihr wurde das Gehen doch noch recht schwer. Uhl knurrte unliebenswürdig: „Wir Lavinals sind keine verzärtelten Püppchen! – Her mit den Pfeifen, Olaf …! Erst wenn diese Bude wie meine Kapitänskajüte auf dem Dampfer „Orion“ vollgequalmt ist, fühle ich mich behaglich … – – Du meinst also: Wölfe?“

„Ja … Und Wolfsbastarde, also Mischlinge von Wolf und grauhaarigem deutschen Schäferhund, – das meine ich!“ – Mein Feuerzeug funkte, wir rauchten, und zu meinen Füßen lag Monte, treue Seele, auch ein Hund.

Uhl deutete ein Kopfschütteln an …

„Du, – begreifst du das?! Wölfe?! Merkwürdig! Hast im übrigen Glück gehabt … Hätten dich und Monte zerrissen …“

„Hätten sie, Uhl …! – Die Sache hat noch eine andere Seite, ganz abgesehen von unserer Pflicht, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ich habe dem Mann, der die Bestien durch die Signale zurücklockte, zwölf seiner besten stärksten Tiere erschossen und dazu ein halbes Duzend böse angeschrammt. Wenn der Mann nun hier nicht allein haust mit seinem tollen Rudel, wenn er also Freunde bei sich hat, müssen wir mit einem unangenehmen Besuche rechnen. Das wollte ich dir sagen, Uhl, damit wir uns vorsehen. Wir haben noch die lange Nebelnacht bis Sonnenaufgang vor uns, und bis dahin – – du verstehst: Diese Hütte bauten wir in der Annahme, daß uns Kerguelenland nichts Gefährliches bescheren könnte. Wir bauten sie, um recht viel Sonne zu haben, recht wenig Wind. Wir werden umziehen müssen, Freund Uhl. Noch heute, sofort sogar.“

Christa, die zugehört hatte, war an den Tisch getreten.

„Ich glaube, ihr überschätzt die Gefahr, denn …“, – ihres Bruders Kopf war herumgeflogen … Da schwieg sie, nicht verschüchtert, nein, trotzig, und mit trotzig gesteiftem Nacken kehrte sie an den Herd zurück.

Was bedeutete das?!

Täuschte ich mich?! War hier nicht plötzlich eine dumpfe Feindseligkeit zwischen den Geschwistern aufgetaucht?! Weshalb das?! Weshalb?!

Uhl Lavinal saß zurückgelehnt da. Von kindlicher Fröhlichkeit war in seinen Zügen nichts mehr zu entdecken … Nichts! Der andere Lavinal trat hier finster, grüblerisch und fast drohend an die Oberfläche, und das war ein Kerl, der die ganze Hölle nicht fürchtete.

Aus halb geschlossenen Augen blitzte er mich flüchtig an.

„Wohin also, Olaf?!“

Im selben Moment schnellte Monte empor, stand mit gesträubtem Rückenhaar, stand geduckt, stand mit dem spitzen Kopf nach dem einen Fenster hin …

„Licht aus!!“

Meiner Warnung folgte ein Sprung zur Tür. Nicht einmal Riegel hatten wir dort angebracht. Wozu auch, hatten wir gedacht, – hier auf Kerguelenland?!

Eines der Plankenstücke des Kutters stemmte ich gegen die Tür, – die Lampe erlosch, – Christa goß eine Kelle Wasser in das Herdfeuer, daß zischend seine kleinen Flammenzungen erstarben.

Es wurde dunkel, – nur aus Christas Kabinett glomm matter Schein über dem Oberrand der Bretterwände.

Monte knurrte dumpf …

Eine gewaltige Stimme, ein Männerorgan, unter dessen Fülle die Scheiben der Fenster vibrierten, rief draußen:

„Öffnet!!“

Diese Stimme war sogar der Freund Uhls überlegen. Es war ein Baß, dem jede Schmiegsamkeit fehlte. Es war nicht die Stimme, es war wie Gewittergrollen.

… „Öffnet!!“

Im schwachen Dreivierteldunkel der Hütte drückte mir eine weiche Hand meine Büchse gegen den Arm, ich griff zu, und nun mochte der Wolfsgebieter sich nur in acht nehmen, auch die Geschwister Lavinal waren gut bewaffnet, und Christa zum Beispiel holte mit unfehlbarer Sicherheit eine Möwe aus der Luft herunter.

… Ein Fußtritt traf da die Balkentür, daß meine Stütze sich bog und etwas zurückrutschte, die primitive Krampe gab nach, und durch die handbreite Öffnung starrte ein bärtiges, unnatürlich bleiches Männergesicht herein, dessen Blässe durch den schwarzen Bart und das schwarze Kopfhaar, das in nassen Strähnen in die Stirn hing, noch stärker hervorgehoben wurde.

Mochte nun die Beleuchtung, in der ich den Fremden dicht vor mir hatte, auch noch so ungenügend sein: Jetzt, als er zum dritten Male, und diesmal weit gedämpfter, sein vorhin so überlautes „Öffnet!“ mir zurief, da fühlte ich, daß dieser Mann nicht als Feind kam, da hörte ich es auch an seinem Tonfall, daß er bei uns Hilfe suchte.

Kerguelenland, unbewohnte Einöde, mit weißen Schneehäuptern, schien plötzlich in geradezu unbegreiflicher Weise von Menschen bevölkert zu sein, die irgendwie durch das Wehen und Weben der Schicksalsmächte zur selben Zeit sich hier ein unerwünschtes Stelldichein gaben.

Ich stieß mit dem Fuß die Stütze fort.

Polternd krachte die Planke zu Boden … Taumelnd fiel mir der Fremde in die Arme, riß mich beinahe nieder, denn dieser Mann, ein Riese von Gestalt und doch mit wohlproportioniertem Gliederbau, wog gut seine zwei Zentner.

„Christa – – bitte Licht!!“

Die Lampe leuchtete, eine Laterne leuchtete …

Ich hielt einen Ohnmächtigen an mich gepreßt, einen Seemann mit gänzlich zerfetzten Kleidern, mit den Spuren schweren Kampfes im Gesicht, auf den Händen, am Halse – alles blutige frische Wunden, aus denen der Lebenssaft noch immer hervorquoll.

Als wir ihn auf mein Bett gelegt hatten, bemerkten wir an dieser zusammengestochenen und zusammengehauenen Ruine erst das allerschlimmste, das Grauenvollste, das ich je mit eigenen Augen schaute:

Der Mann war taub gemacht worden durch zwei Schüsse gegen seine Ohren, durch Schüsse ohne Kugeln … Aber an den Ohrmuscheln und im Gehörgang waren Reste des rauchlosen Pulvers einer modernen Pistole haften geblieben, Hautfetzen hingen von den Ohren herab, – – das Gehör mußte zerstört sein, die Pistole war direkt auf den Gehörgang mit der Mündung gepreßt worden!

Selbst Uhl und Christa wichen entsetzt zurück.

Mich packte ein tiefes Mitleid mit diesem Unglücklichen, – ich sah ja noch mehr, ich sah an seinen verquollenen Händen und den Handgelenken die tiefen Spuren dünner geteerter Stricke.

Der Mann war mindestens einen Tag so brutal gefesselt gewesen.

Der Mann war niemals der Herr der Wölfe.

Wer war es?!

 

3. Kapitel.

Die Muschel des Pierre Lavinal.

… Uhl und Christa bemühten sich um ihn.

Ich hatte ebenso Wichtiges zu tun, ich verrammelte unsere Hütte, verbarrikadierte die Fenster, stieß Schießscharten in die Wände, kroch auf den Dachboden und bedeckte die Dachplanken mit den Zinkplatten, die wir aus dem Kutterwrack geborgen hatten – vor acht Tagen …

Acht Tage hatten wir hier in allem Frieden gelebt.

Und heute war der jähe Umschwung gekommen, heute war wie ein greller Blitz zunächst mir selbst ein Abenteuer begegnet, dessen einzelne tolle Szenen schon jetzt endlos weit zurückzuliegen schienen. –

Ich stieg die Leiter wieder hinab, ich hatte das Dach gegen Brandgefahr geschützt, so gut es eben ging …

Auch meine Gefährten waren erfolgreich gewesen, der Fremde, durch Tee und Brandy gestärkt, saß aufrecht da, über und über bepflastert mit Verbänden, ein fast grotesker Anblick.

Aber aus diesen Pflastern und Mullbinden blitzten ein paar pechschwarze funkelnde Augen über uns hin, und dann tat der Mann den Mund auf, sprach in fehlerfreiem Englisch mit nur geringem fremdem Beiklang:

„Ich danke Ihnen. Ich bin Kapitän eines Dampfers. Die Besatzung meuterte. Das genügt vorläufig. Ich kann mich mit Ihnen nicht verständigen, denn ich bin taub gemacht worden, man hat mich hier ausgesetzt – – taub, hilflos, halbtot … damit ich stürbe!! Aber ich sterbe nicht!! Ich werde noch sehen, wie diese Schurken baumeln …! Und schon diese Hoffnung feuert den Lebensfunken in mir wieder an … – Ich danke Ihnen. Ich bin sehr matt …“

Er legte sich wieder zurück und schloß die Augen.

Er hatte kein Wort zu viel gesprochen, kein Wort zu wenig. Es mochte Absicht gewesen sein, daß er seinen Namen, seine Nationalität und den Namen seines Schiffes verschwiegen hatte. Zweifellos Absicht…

Nun lag er in den Kissen, leichenblaß, nun erst konnte ich sein Gesicht genauer betrachten.

Trotz der Binden und Pflaster …

Der Mann zählte keine fünfunddreißig Jahre, schätzte ich. Seinem Gesichtsschnitt nach war er Südländer, vielleicht Spanier, vielleicht Grieche. Seine schmale Hakennase wies mehr auf spanische Eltern hin.

Etwas ratlos standen Christa und Freund Uhl dabei.

Ihnen fehlte die Erfahrung des Abseitswanderns, und mir fehlte sie nicht. Jahrelang die Welt durchstreifen, trägt hohen Gewinn. Ich sah die kleine Schiffsapotheke auf dem Tische liegen, rasch war ein fieberstillender Schlaftrunk gemischt, gehorsam schluckte unser Patient das bittere Zeug, und schon Minuten später schlief er ganz fest und ruhig …

Wir trugen den Tisch in die entfernteste Ecke, wir setzen uns, Uhl starrte mich an, Christa forderte durch mildere Blicke irgend eine Erklärung.

„… Was gibt es da zu sagen?!“, meinte ich gedämpft. „Ein Zufall führte den Ärmsten durch den Nebel hierher, er sah den Lichtschein der Fenster … Nun ist er geborgen …“

Uhl Lavinal stützte das Kinn auf die geballten Fäuste.

„Olaf, – – komische Sache. Auch ein Kapitän ohne Schiff wie ich …!! Sehr komisch …! Das heißt …“ – er war etwas geistesabwesend, – woran dachte er nur?! – … „Das heißt – mehr tragisch natürlich, sehr tragisch! Armer Teufel, – – müssen das Halunken sein, die ihm da auf die Art das Gehör raubten!!“

„Schurken!!“, betonte Christa mit glitzernden Augen …

In solchen Momenten haben ihre Augen die Farbe mattierten Stahls.

Und dann schwiegen wir.

Was gab es da auch zu redend

Uhl stopfte zerstreut seine Pfeife und legte sie wieder weg.

„Olaf, – muß einer wachen?“

„Ich bis zwei Uhr morgens, dann Christa … – Geht schlafen … Du mußt frisch bleiben, Uhl. Ich denke, es wird nichts geschehen …“

Christa nickte uns zu, schlich zum Bett des Kranken, beugte sich über ihn und verschwand dann in ihrem Verschlage.

Uhl fachte das Herdfeuer an. Der Tisch stand dicht am Herde. Es war kalt geworden in unserer Räuberburg, und bei dem Nebel draußen waren die Funken, die aus dem Schornstein stoben, kaum zu bemerken …

Uhl Lavinal horchte nach Christas Kammer. Das Bett knarrte dort … Das Mädchen würde in kurzem eingeschlafen sein. – Ich ahnte, was kommen würde … Uhl würde mich aufklären über Zweck und Ursache dieser monatelangen Seefahrt. Er nahm bedächtig einen Holzscheit aus dem offenen Feuer, setzte seine Pfeife in Brand und lehnte sich über den Tisch.

„Olaf …“

„Ich höre …“

„Höre genau zu, – viel darf ich dir nicht mitteilen … Uns Lavinals verschließt und verschloß ein Eid die Lippen … – Du weißt, wer diese Insel einst entdeckte, – ein französischer Seefahrer …“

„Ja, Kerguelen-Trémarec, – dein Bücherbrett enthielt viel gedruckte Gelehrsamkeit, – – die Bücher sind jetzt Lektüre für die Fische … Also?!“

„Bist ein widerborstiger Gesell, Olaf … Machst einem das Aufklären verdammt schwer. Jedenfalls: Mein Ahn Pierre Lavinal war Steuermann auf dem Dreimaster „Garonne“, mit dem Kapitän Kerguelen 1772 dieses Land entdeckte. – das ist es!“

Es ist ein schwerer, scheinbar auch schwerblütiger Menschenschlag, diese französischen Normannen. Ebenso schwer kommen ihnen die Worte über die Zunge, ebenso so schwer und abgemessen sind ihre kargen Gesten, ihr Mienenspiel.

„… Pierre Lavinal, mein Ahn, wurde während der großen französischen Revolution geköpft. Seine Familie entfloh, sein ältester Sohn nahm das Geheimnis mit in die neue Heimat, nach Deutschland, an die Ostsee … Aber keiner der Lavinals traute den alten Überlieferungen, keiner … Nicht einer besaß den Wagemut, sich zu überzeugen, ob Pierre, Steuermann der „Garonne“, das Richtige entdeckte oder einem Irrtum zum Opfer gefallen sei. Ich wagte es. Nun sind wir an Ort und Stelle. Nun wird sich zeigen, ob ich umsonst Haus und Hof geopfert habe.“

„Was wird sich zeigen?“, fragte ich noch leiser.

„Nichts Halbes, Uhl! Entweder alles oder gar nichts! – Was fand dein Ahn hier?“

Uhl Lavinals hohe Stirn wurde kraus.

Versonnen blickte er ins knisternde Herdfeuer.

„Ja, – – was?! – das weiß eben keiner, Olaf … Das ist es!“

Er winkte, und wir steckten die Köpfe dicht zusammen.

„Olaf, wenn du es nicht verrätst, – – mir könnte ja auch etwas zustoßen, Olaf … Der Tod rafft Junge und Alte hinweg. – Hand her, Freund, du wirst schweigen, ich kenne dich … Betrachte dich von diesem Augenblick an als einer der Lavinals … – Mein Ahn war so eine Art Privatgelehrter, mußt du wissen … Sammelte Steine, Pflanzen, Tiere, und deshalb trieb es ihn damals 1772 weit ins Innere der Rieseninsel hinein. Dabei muß er es entdeckt haben …“

Ich wurde ungeduldig.

„Also was nun?! Ein Goldlager, eine Bonanza?! Was sonst?!“

Uhl hob die Schultern. „Du fragst zu viel … Niemand weiß es. Pierre Lavinal kehrte heim und erzählte seinem ältesten Jungen lediglich das eine: „Auf Kerguelenland lagern ungeheure Reichtümer. Ich habe es verschwiegen, ich vertraue es nur dir an. Ich werde versuchen, ein eigenes Schiff auszurüsten. Hier dieses Stück einer Riesenmuschel bezeichnet den Weg.“ – Uhl nickte mir leicht zu. „Wortkarg sind wir alle, Olaf, wir aus der Normandie … Das Muschelstück und der soeben vorgetragene Wortlaut jener ursprünglichen Mitteilung vererbten sich weiter. – Dies ist die Muschel. Bitte …“

Er hatte seine Jacke, sein Hemd geöffnet, er trug auf der bloßen Brust eine Ledertasche, darin ein flaches Metallschächtelchen, das er nun aufklappte und die obere Mattschicht entfernte.

„Bitte …“

Ich wollte das rosige, vielleicht handgroße Muschelstück mit der sauberen Gravierung ergreifen. Ich war nun selbst neugierig geworden, obwohl ich von Schätzen, Reichtümern, Goldadern und Ähnlichem nicht viel halte …

Wer so lange Jahre den Erdball einsam durchpilgert und das Abseits lieben gelernt hat, findet nur ein Lächeln für die überhitzte Phantasie jener Goldhungrigen, die vielleicht Gold suchen und Glimmer finden.

Immerhin: Dieser Pierre, Steuermann der „Garonne“, konnte kein Dummkopf gewesen sein, kein heißblütiger, überschäumender Phantast.

Ich hatte die Hand ausgestreckt …

Die Hand flog zurück …

Monte war emporgefahren, – – draußen heiseres Keuchen, Winseln, Knurren …

Draußen das Trappeln von Füßen, das Klappern von Krallen auf hartem Gestein …

Die Wölfe!!

Nun waren sie da …

Sie waren es, – im Chor heulten sie kurz auf, wir vernahmen ein merkwürdiges Klatschen, – – und alles wurde wieder still.

Uhl, die Faust am Pistolenkolben, hatte die Lampe herabgeschraubt.

Dämmerlicht umgab uns …

Monte, das Nackenhaar gesträubt, schlich zur Tür, tief geduckt, witterte …

Wir warteten, horchten …

Brandung rauschte, unser Patient atmete schwer, das Feuer knallte zuweilen, – – draußen schwieg der Feind …

Feind?!

Was sollte dieser kurze Besuch?!

Waren das nicht Peitschenhiebe gewesen, dieses Klatschen? Hatte der Herr der Wölfe seine Bestien wieder davongejagt?

Uhl forderte von mir einen Befehl, eine Anweisung, was zu tun sei.

Was?!

Der Vorhang des Verschlages hob sich, und Christa, in einen dicken Mantel gehüllt, schlüpfte in den Hauptraum.

Die Farblosigkeit ihres Gesichts und der klare Ausdruck einer übergroßen Angst in ihren Zügen paßten wenig zu diesem tapferen Mädel, das während des tollsten Orkans, zweifach angeseilt, einen lockeren Lukendeckel des nun zerstörten großen Kutters trotz der Wucht der Sturzseen ganz allein festgenagelt hatte. Und was das heißt, bei solchem Unwetter einen Hammer zu schwingen und halb armlange Nägel durch festes Eichenholz zu treiben, kann jeder Jan Maat am besten beurteilen.

Wenn mir nun schon vorhin, als ich mein Abenteuer mit dem Wolfsrudel geschildert und dabei gleichfalls den Namen „Herr der Wölfe“ gebraucht hatte, in Christas ganzem Benehmen eine gewisse Befangenheit aufgefallen war, die flüchtig den Eindruck wachrief, sie müsse diesen Mann kennen, so verstärkte sich dieser Eindruck jetzt zur vollen Gewißheit.

Das Mädchen verriet sich selbst, und ein Glück war es, daß ihr Bruder gerade zurücktrat, als sie meinen Arm umspannte und flehend mir zuraunte:

„Schießen Sie nicht, Olaf … Der Mann kann nicht unser Feind sein … Nur nicht schießen, – – ich höre auch nichts mehr … Es ist ganz still geworden ringsum … Ich … fürchte mich …“

Sie wußte wohl selbst kaum, was sie da flüsternd hervorstieß. Sie hatte die Augen eines gehetzten Wildes oder, besser gesagt, die eines Weibes, das um ihr Liebstes bangt.

… Und abermals schlug da mitten in diese aufschlußreiche kleine Szene wie ein betäubendes Donnergrollen ein Neues, Ungeahntes ein.

Uhls Stimme verzichtete auf jede Dämpfung ihrer unheimlichen Kraft …

Uhl brüllte heraus, was ihn da aufrührte bis in die tiefsten Tiefen seines Inneren …

„Die Muschel ist weg!! Ich legte sie vorhin hier auf den Tisch! – Olaf, hast du sie zu dir gesteckt?!“

Alles andere war vergessen …

Alles andere zerstob in Nichts vor dieser Vorstellung: Die Muschel war gestohlen!

Gestohlen, während wir unsere Aufmerksamkeit nur auf Tür und Fenster gebannt hatten …

Ich hatte sie nicht …

Wer war der Dieb?!

Fassungslos stierten wir uns an …

Mein mißtrauischer Blick flog zum Lager des Fremden hin, – war er etwa ein Betrüger, ein geschickter Simulant, hatte er sich hier nur Zutritt verschafft, weil er etwas von den Geheimnissen der Lavinals wußte und weil er die Muschel sich aneignen wollte?!

Ich nahm die Lampe, schritt auf sein Bett zu.

Der Mann schlief, der Mann hatte Fieber, sein Gesicht war gerötet, der Atem kam kurz, stoßweise und pfeifend, der Mund stand halb offen, die Zungenspitze ragte zwischen den prächtigen Zähnen hervor, zuweilen zuckte der ganze Leib wie unter peinvollen Schmerzen zusammen, zuweilen flatterten die Gesichtsmuskeln, und als ich ihm vorsichtig den Puls fühlte, erschrak ich: Der Mann hatte sehr hohes Fieber!

Nein, ihn zu verdächtigen, wäre Wahnsinn gewesen …

Und im Stillen bat ich ihm mein vorschnelles Mißtrauen ab, und gleichzeitig flogen meine Augen zur offenen Bodenluke empor, die wir in der Nähe des Herdes angebracht hatten, damit bei Sturm auch diese Lücke den Rauch des Herdfeuers auffangen sollte.

Uhl bemerkte meinen Blick, Uhl verstand, er hatte schon die Leiter von der Seitenwand losgehakt und stützte sie in das quadratische Loch.

„Laßt mich nach oben, – reicht mir Monte zu …! Wenn ein Dieb durch das Dach kam und etwa mit einer gegabelten Stange die Muschel vom Tische nahm, ohne herabzusteigen, wird Monte die Fährte noch wittern …“

Ich war oben, – Uhl, dem der dicke Schweiß auf der Stirn stand, schob meinen Hund durch die Luke.

Laternenschein erhellte den gleichfalls vollgepfropften Bodenraum. Uhls großer Kutter war ja für Jahre verproviantiert und bis ins kleinste genau ausgerüstet gewesen.

„Monte, such!!“

Es bedurfte dieses Befehls gar nicht …

Der Lichtstrahl der Laterne streifte eine bestimmte Stelle des Daches, – die als Schindeln verwendeten Planken und Bretter klafften, es war ein Loch dort, Nebel flutete herein, jener tückische zähe Kerguelen-Nebel, der den kräftigsten Londoner noch übertrifft, nur daß ihm jene gesundheitsschädlichen Beimengungen fehlen, die aus den zahllosen Fabrikschloten emporsteigen …

Das also war der Weg des Diebes …

Ein Loch im Dach, viel zu eng für mich …

Der Dieb mußte ein zwergenhafter Mensch gewesen sein.

Nun – ich würde ihn finden!

Ich sah es an Montes Erregung, daß der Mensch mit nackten Füßen hier eingedrungen war, – Monte hatte seine Witterung, und Montes Nase ist vorzüglich.

Gerade der nackten Füße wegen riet ich auf einen Farbigen, – vielleicht war der Dieb ein halbwüchsiger Asiate …

Monte liebte diese Asiaten nicht, mochten sie nun Japaner, Inder, Malaien oder sonst etwas sein …

Er knurrte …

Dumpf und röhrend knurrte er, fletschte die Zähne.

Es stimmte schon: Asiate!

Und der Kerl hatte es verdammt eilig gehabt, hatte aber auch verdammt lautlos gearbeitet, lautlos die Nägel gelockert, herausgezogen und – gestohlen, gerade das eine gestohlen, das die einzige Möglichkeit bot, Pierre Lavinals Geheimnis zu lüften.

Ich kehrte nach unten zurück, die Geschwister drängten sich an mich heran, Uhl wischte den Schweiß von der Stirn. Ich berichtete …

„… Schließt nun also das Loch in dem Dach und habt die Ohren offen!!“, mahnte ich, während ich einige vierzig Patronen zu mir steckte und Monte an die Leine nahm. „Sorgt euch nicht um mich, mir stößt nichts zu, ich finde den Halunken, Monte findet ihn … – Weg mit der Barrikade von der Tür …!! Verrammelt sie sofort wieder … – – Wiedersehen …“

Wir drei mit unseren bis zum äußersten aufgepulverten Nerven verloren kein weiteres Wort. Nur Christas Augen redeten ihre eigene Sprache erhöhter Angst …

Auch das würde geklärt werden …

Monte und ich schlüpften hinaus, – hinter uns wurde die Balkentür geschlossen …

Der Nebel verschluckte uns …

Es war jetzt elf Uhr abends …

 

4. Kapitel.

Spuk in der Nebelnacht.

Zehn Schritt vorwärts tat ich, stand still, horchte, hörte nichts, bückte mich zu Monte herab und suchte aus seinem Benehmen die nötigen Schlüsse zu ziehen.

Monte beschnüffelte den Boden …

Wolfsfährten … – was sonst?!

Minuten ließ ich verstreichen …

Um mich her war die graue, kalte, feuchte Eintönigkeit dieser Milliarden, Billionen von Wasserperlchen …

Ein Perlenvorhang grau in grau, dicht geknüpft …

Unten an der Bucht bellte eine Seekuh …

Seekuh, Seelöwen, See-Elefant, – all das sind ja nur Spielarten der großen Familie der Robben.

Sind Ungeheuer mit ungeheuren Stimmen …

Haben trotzdem ihre Kennzeichen, auch im Nebel …

Dieses bellende Brüllen stammte von einer Seekuh. – Man tut gut daran, im Abseits Tierstimmen zu studieren … Man kann es brauchen, diese Wissenschaft … Wenn man nicht gerade daheim in der Sofaecke den halben Dusel des Biergenusses des Nachmittagsschoppens am Philisterstammtisch zu verschlafen gewohnt ist …

Gibt auch solche Helden … – Motto: Das eigene Behagen und der eigene feiste Leib über alles!!

Kenne die Sorte … War auch mal Herdenvieh, lief mit als zahmer Hammel, bis man mich einsperrte, bis ich ausbrach wie ein wilder Gaul, – – und hinter mir her schickten sie gedruckte Wische …

Schade um das Papier …

… Montes feinere Instinkte, die uns Menschen die noch „feinere“ Zivilisation gestohlen hat, waren mir wie oft bester Schutz.

Hier drohte keine augenblickliche Gefahr …

Also – – weiter …!

Das Loch im Dach lag nach Norden. Wir umschritten unsere Räuberburg zur Hälfte. Hier irgendwo mußte die Fährte des nackten Fußes zu finden sein.

Monte fand sie … Monte zog mit aller Macht an der Leine, wir tauchten noch tiefer in das graue Gebräu ein, wir verließen die Terrasse der Steilküste, stiegen abwärts zum Strande, folgten dem Buchtufer, bogen nach Westen ab, – – nicht wahr, das klingt alles so einfach, das liest sich so glatt, so ohne Schwierigkeiten …

Kennt ihr Nebel, dicken, zähen Nebel, der euch umlagert wie undurchsichtige Schleier?!

Ihr kennt ihn nicht!

Ihr kennt nicht das Gefühl der Unsicherheit, das jeden befällt, der gezwungen ist, pfadlose Wege in diesem niederträchtigen Dunst zu wandeln!

Jeder Schritt kann Verhängnis werden.

Ihr seht ja nicht einmal die eigenen Füße in dem heimtückischen Übermaß von Wassertröpfchen.

Ihr tappt dahin, wollt jedes Geräusch vermeiden, – – wollt …

Da poltert doch ein Stein zur Seite …

Da kommt doch Geröll ins Rutschen …

Ihr flucht …

Ihr stolpert …

Ihr flucht sogar auf einen so prachtvollen Freund wie Monte, der es allzu eilig hat, dem das Jagdfieber im Blute braust, dem die Feigheit fehlt, weil der Tod ihm unbekannt.

… Und da tappte ich weiter – weiter, – – durch Nebel, durch Nebel, nur durch Nebel …

Von „Örtlichkeit“ nichts zu sehen, nichts …

Nur eins merkte ich: Das Brandungsgeräusch wurde schwächer …

Wir wandten uns also dem Binnenlande zu.

Das war die ganze Herrlichkeit meines Wissens. Und dabei kannte ich doch die Umgebung unserer Terrasse auf Meilen …

Hier in dieser Nacht kannte ich nichts.

In Täler ging es hinab, – Berge hinan, – auf schmalen Felsgraten drückten wir uns entlang.

Dicht daneben mochte der Abgrund gähnen …

Mochte er …

Dem Tod entgeht ja doch niemand, und die, die ihn fürchten, vergiften sich nur die Strecken Weges, die ihnen noch vergönnt sind.

Und dann …

Monte steht still …

Ich spüre, die Leine wird schlaff …

Ich sehe Monte nicht …

Ich sehe gar nichts …

Ich bin nun vielleicht eine Stunde unterwegs, und wir sind stramm marschiert, wir sind streckenweise gelaufen …

Und jetzt steht Monte wie angemauert …

Jetzt höre ich wieder sanftes Plätschern unten in der unbekannten Tiefe …

Ich muß am Rande einer Bucht stehen – hoch droben – irgendwo …

Einer sehr tief ins Binnenland einschneidenden Bucht, denn dieses Plätschern rührt lediglich von dem Wechsel von Ebbe und Flut her.

Der Seemann sagt: Gezeitenwechsel, oder: der Strom kentert!

Sehr treffend ausgedrückt: Strom kentert!

Ebbe: Sinken und Rückfluten des Wassers.

Flut: Steigen und Hineinströmen selbst in die engsten Buchten!

Ich berechne schnell im Kopfe: Die Flut beginnt, das Meer füllt die Bucht, und diese Füllung geschieht nicht allmählich …

Das Plätschern wächst, wird lauter …

Und mein Hund verharrt, rührt sich nicht.

Nebel ringsum, nur Nebel …

Nur …

Dick, zäh, trügerisch, frech, – wie ein Weibsbild, das dich irgendwie einzuwickeln sucht.

Begreifst du nun, was Kerguelennebel ist?

Begreifst du nun, wie unendlich bedrückend das Gefühl ist, nichts zu sehen, blind zu sein, und nur auf das Gehör und den Tastsinn dich verlassen zu müssen!

Geht dir eine leise Ahnung auf, was anderseits solch ein Abseitspfad an unnennbaren Eindrücken dir bescheren kann, wenn du nicht bereits völlig in deinen Filzschuhen, deinen Briefmarken und deinem Stammtisch versauert bist! Oder wenn dir nicht am streng intellektuellen Kaffeehaustischchen längst das Gehirnschmalz ranzig wurde und du für das Ungewöhnliche, Aufpulvernde, Heldische, eben für das große Abseits, längst jede Schätzung verloren hast!

Tausche mit mir den Platz, den ich damals einnahm, – nasser Fels unter den Stiefeln, Nässe an den Kleidern, Händen, – Nässe überall – – und das graue Nichts, die Blindheit!

Tausche mit mir, und – – du wirst zusammenfahren wie ich, als urplötzlich unter dir sekundenlang verschwommener Lärm aufklingt – – wieder erlischt …

Wieder die beklemmende Stille einsetzt, und nur das Meer sich meldet …

Lärm – sekundenlang …

Sekunden nur, – vielleicht so lange, als da irgendwo eine Tür geöffnet wurde oder zwei Türen und die Schallwellen dich erreichen und du mit all deinen Sinnen dich abmühst, sie zu zerlegen …

Kalt, ruhig zerlegen, zergliedern:

In Stimmen, Musikfetzen, Gesangfetzen, Brüllen, Klirren von Gläsern …

Sekunden nur …

Und dann – – ist alles wieder still …

Die Türen sind zugeworfen worden, – du hörst auch das …

Doch zwei Türen, zufällig zur selben Zeit geöffnet …

Nur deshalb konntest du zergliedern, zerlegen, nur deshalb weißt du: Dort ankert ein größeres Schiff, dort zecht man, dort läßt man ein Grammophon dudeln, dort sind Betrunkene an Bord, die Sieg feiern …

Meuterer!!

Pack, Gesindel …

Ihren Kapitän knallten sie Schüsse gegen die Ohren …

Das sage ich mir: Unser Patient gehört zu diesem Schiff!

Denn nur auf einem Fahrzeug, wo alle Disziplin zum Teufel ging, lärmt man nach Mitternacht wie in einer Hafenspelunke.

Diese Schlußfolgerungen zu ziehen, – dazu braucht man keinen überkultivierten Kopf. Dazu braucht man nur schlichten, gesunden Menschenverstand …

Und der ist selten … Der ist erstickt in Phrasenschwulst und durch nichts gestützter Aufgeblasenheit, der ist mit ironischem Lächeln abgetan … Und die, die ihn mordeten, nennen sich stolz: Ästheten!!

Ihr wißt doch: Ästhetik, Lehre des Schönen und Darstellung des Schönen!

So war es einst im alten Griechenland …

Einst … Lange her … – Heute?! Da kannst du getrost diese verfälschte Ästhetik als Gesinnungslumperei und Feigheit bezeichnen.

– Gut, – also da ankert ein Schiff … Da wird Sieg gefeiert, da zecht auch der Bursche mit, der das Stück Muschel stahl, – nur ein Stück einer großen Seemuschel, außen rauh, körnig, fast schwarz, innen rosig, glatt, wie poliert, und in diese Politur hatte Steuermann Pierre, Ahn der Geschwister Uhl und Christa, einst die Zeichnung eingeritzt, – den Weg zu lockenden unendlichen Reichtümern.

Monte und ich stehen still, reglos …

Montes Herr überlegt …

Die Kerle da unten fühlen sich bei dem Nebel natürlich vollkommen sicher, glauben niemals, daß eine Hundenase ihren Schlupfwinkel finden könnte.

Monte fand.

Wir haben sie …!

Bürschchen, ich will euch einen Tanz aufspielen, bei dem der Taktstock und die Instrumente notfalls Kugeln statt Noten spucken!!

Kugeln – schon des Mannes wegen, dem ihr die Trommelfelle zerstört habt!

Nun wird anders getrommelt … Zwei Repetierpistolen geben achtzehn Schuß, meine Büchse liefert auch neun kleine Noten, – – ich glaube, die Freude am Saufgelage wird euch vergehen!!

Und dann ein neuer Gedanke – berechtigte Frage. Weshalb zaudert Monte hier? Haben die Kerle doch Wachen ausgestellt?

Ich bücke mich …

Betaste den unsichtbaren Monte …

Er zittert …

Nicht aus Angst … Das muß eine andere Ursache haben …

Das ist bei ihm Wut, Mordgier, besinnungslose Wut …

Das gilt keinen zweibeinigen Geschöpfen …

Das gilt Geschöpfen seiner eigenen Art …

Denn wie die Bestie Mensch den eigenen Artgenossen am teuflischsten befahnden, martern, morden kann, nicht anders das Tier.

Brünstige Hirsche verfangen sich mit den Geweihen, kommen nicht mehr los voneinander, verhungern …

In Kanada züchtet man Kampfhunde, hetzt Hund gegen Hund, – – ein Schauspiel nur für starke Nerven, nicht für ästhetische Teeabende.

Überall im Tierreich dasselbe grausame Bild.

Und das am höchsten entwickelte Tier – wir?

Wir Menschen brauchen nicht zurückzublättern im Buche der Geschichte bis ins hintere Mittelalter mit Hexenprozessen und ähnlichen Freveln eines Wahnsinns, der dem Gehirn jammervoller Fanatiker entstieg.

Wir brauchen nur das heute zu nehmen und dazu eine ehrliche, ungefärbte Lupe …

Dann sehen wir …

Und wir entsetzen uns vor diesem Übermaß an Selbstzerfleischung.

… Monte zittert …

Sein Herr horcht …

Und hört etwas …

Tief unter mir naht es unsichtbar mit Trappeln und mit Klappern zahlloser Wolfsklauen …

Tief unter mir knarrt eine Laufplanke unter dem Gewicht eines ganzen trappelnden Rudels …

Ein leiser Schrei dann …

Stille …

Mein Herzschlag stockt …

Kein Schrei mehr …

Aber nun eine Stimme, dünn durch den Nebel dringend, herrisch, melodisch trotzdem.

Täusche ich mich?

Ein Weib?!

Eine Frau kommandiert diese Armee von Bestien?

Einem unheimlichen Spuk gleicht das Ganze.

Man sieht nichts …

Man hört nur …

Und man will sehen!

Alles in mir schreit danach: Sehen – – sehen, nicht nur hören!

Monte mitnehmen? – Unmöglich!! – – Ich binde ihn fest …

„Lege dich, Monte!!“

Er gehorcht … Ich fühle nur, daß er liegt, und als ein Blinder tappe ich weiter, beginne zu kriechen, die Uferböschung ist nicht allzu steil, ich …

Und da beginnt es …

Urplötzlich, schlagartig: Jene beiden Türen da unten irgendwo, die vorhin sich öffneten, den Lärm freigaben und wieder zugeworfen wurden, fliegen abermals auf …

Einen Augenblick höre ich wieder jenes Durcheinander von Stimmen, Tönen, Klirren, – – Musikfetzen, Grammophon …

Dann stirbt alles übrige jäh dahin, – – nur das Grammophon spürt den eisigen Schreck nicht, seine Platte läuft weiter, – – ein Niggersang mit wahnwitzig gewordenen Heul- und Kreischinstrumenten …

Nur dieser Mechanismus, aus Drehscheibe, Platte und Schalldose bestehend, ist unempfänglich für das Bild, das ich mir ausmalen kann.

Denn ich bin blind, nebelblind …

Aber meine Phantasie arbeitet …

Ich höre ja auch mehr als das Jazzgedudel, höre eine helle, scharfe Stimme, dazu ein beängstigendes Winseln, Knurren aus zahllosen Wolfsrachen …

Ich weiß, daß dort unter mir in der offenen Tür einer großen Kajüte ein Weib steht, umdrängt von ihren Getreuen, umdrängt von Wölfen, Wolfsbastarden, – – und daß die halbtrunkenen Meuterer dort von ihren Stühlen, Sitzen, Sesseln hochgeschnellt sind und versteinert nach dieser Tür stieren, wo das Rudel der Bestien nur auf den Befehl wartet, diese ganze Rotte zu zerfleischen.

… Das Grammophon dudelt …

Aber die helle Frauenstimme, scharf wie Degenhiebe, übertönt die lächerliche Musik, die schnell genug mit dem üblichen Kratzen und Schnarren der abgespielten Platte endet.

„Keiner rührt sich!! Oder ich hetze die Wölfe auf euch!! Schurken seid ihr…! Wir rechnen noch ab – später!“

Pause …

„… Euren Kapitän habt ihr das Gehör zerstört, – eure Schiffsoffiziere knalltet ihr nieder … Wir wissen es …“

Pause …

Wir?! – Also ist sie nicht allein, diese Frau …

„… Wir wissen alles, – wir konnten es nicht verhüten … Der da stahl die Muschel aus der Hütte drüben – – der da!! – Her mit der Muschel!! Ein Pfiff von mir, und ihr seid erledigt! Her mit der Muschel! Hier gibt es kein Zögern. – Soll ich pfeifen? Soll ich?!“

… Das Grammophon schnarrt und kratzt …

Stille …

Ich sehe nichts …

Das ist ein Spuk, das ist etwas für den, der das Grauen kennen lernen möchte …

Ich kann mir die Fragen da unten vorstellen, – angstverzerrt, bleich, – – ich rieche fast den Alkoholdunst. der aus den verpesteten Hirnen dieser Burschen – auch vor Angst – herausgepreßt wird, – wie sie nüchtern werden, wie sie die Gefahr begreifen, wie sie diese glühenden Wolfsaugen fühlen wie Messerstiche, und wie in den schnell wieder ausgeräucherten Köpfen die eine Frage umherwirbelt, die auch ich mir immerfort stelle: Wer ist die Frau, was tut sie hier mit ihrer vierbeinigen Garde auf Kerguelenland?!

Und dann …

Eine Tür schlägt krachend zu …

Eine zweite …

Ein scharfer Pfiff, und auf den Deckplanken des unsichtbaren Schiffes trappeln und klappern die Krallen, – die Laufplanke knarrt wieder, und das unsichtbare Heer samt seiner Herrin verschwindet die Bucht entlang gen Süden, noch tiefer hinein ins Innere der großen Insel.

Der Spuk ist vorüber. Die Frau hat zurückgeholt, was uns gestohlen wurde: Die Muschel! – Die Frau kennt den Wert dieses Stückes Seemuschel.

Woher? – Daß sie Uhl und mich belauscht haben könnte, ist ausgeschlossen. Mithin war ihr der Wert auch schon vorher bekannt, – noch vieles spricht für diese Annahme, und die weitere Frage, im Grunde die gleiche: „Woher?!“ kann wohl nur sie selbst beantworten.

Und sie wird es tun müssen.

Bisher war mir diese Kreuzfahrt zur Treibeisgrenze über unendliche Meeresstrecken hinweg nur einer von vielen Wegen abseits vom Alltäglichen …

Jetzt hat sich das geändert.

Jetzt nimmt dieses Abenteuer mich vollständig gefangen und hält mich in Bann, läßt mich nicht aus den Krallen, mahnt mich aber auch zu doppelter und dreifacher Vorsicht.

Die Frau sprach von „wir“, die Frau ist nicht allein, und …

Abermals da der Beweis, daß auch dies zutraf. Kein Beweis, wie ihn ein hoher Gerichtshof verlangt: Schriftsätze, Anwälte, Eide oder … Meineide!

Nein, – hier ist Kerguelenland, unbewohnte Rieseninsel, unbewohnte Küsten, – hier gilt das andere Recht, das letzten Endes jeden, aber auch jeden Paragraphen bricht: Das Recht des Stärkeren! Und der Starke – das ist es!! – Der Starke liefert die Beweise für sein Recht durch die Tat!

… Ein dumpfer Knall ertönt unter mir, Wasserwogen spritzen, Tropfenregen wird bis zu mir emporgeschleudert …

Unter mir – immer noch unsichtbar – folgt dieser Explosion das Geschrei, das Gebrüll, das tobende Fluchen der aufgestörten Besatzung …

Sie stürzen an Deck, – ich höre sie, – sie rufen einander zu, fragen, antworten, rufen nochmals, bis eine einzelne Stimme die Oberhand gewinnt:

„Die Schraube und das Steuer sind weggesprengt worden!! Wir sitzen fest!! Das Schiff ist leck!! An die Pumpen!!“

… Sie sitzen fest …!

Und totenstill wird es …

… Sie sitzen fest, diese Meuterer, und sie spüren schon die schwarzen Fittiche des Verhängnisses, das sie selbst heraufbeschworen haben.

Ich aber weiß: Die Frau mit ihrer Wolfsbrut hielt das Gelichter in Schach, und einer ihrer Freunde legte die Dynamitpatrone und den Zünder, und Schraube und Steuer wurden zerstört, damit das Schiff nicht wieder die Bucht verlassen könnte …

Ja, – sie sitzen fest … Sie arbeiten an den Pumpen, sie werden das Leck abdichten, sie sind Gefangene auf Kerguelenland … Ihr Kapitän aber liegt in unserer Hütte mit zerstörtem Gehör, fiebernd, in Schmerzen sich windend …

Ich sitze nicht fest. Ich weiß, was ich zu tun habe. Vielleicht finde ich nie wieder eine so günstige Gelegenheit, hinter diesen Teil des Geheimnisses zu kommen: Wo hausen diese Wolfszüchter und Wolfsbändiger, wo haust die Frau, deren Stimme so scharf war wie eine dünngeschliffene Degenklinge …?

Ich werde ihnen folgen …

Ich werde Monte holen … Montes Nase ist mir Schutz und Schirm. Bis zum Morgen hält der Nebel an, – bis zum Morgen werde ich die seltsame Niederlassung aufgespürt haben, wo ich vielleicht Wunderbareres finden werde, als ich je gesehen …

Denn hier ist Kerguelenland … Wildnis, baumlose Wildnis, pfadlose steinige Weite, ohne Menschen …

Ohne Menschen …: Das Abseits!

 

5. Kapitel.

Oberheizer Pieter Klaaß.

Monte holen …! –

Heute, wo alles gewesen, wo das große Ereignis nur noch Erinnerung geblieben, reibt man sich die Stirn, fragt sich: Wie war das doch im einzelnen?

Wie war das doch, als du den Uferhang wieder emporklettertest und zunächst deinen Hund nicht fandest, in die Irre liefst im dicken grauen Gebräu, und wie plötzlich deines treuen vierbeinigen Gefährten tiefes Röhren dir den richtigen Weg wies und du vorwärtsstolpertest und über einen Hund und über eine gleichfalls am Boden liegende Gestalt beinahe in einen Abgrund gesaust wärest …?!

Es war so, – es ließ sich nicht daran deuteln, daß Monte inzwischen einen Mann erwischt hatte und über ihm lag und grimmig knurrte.

Es war so, – der Mann flüsterte mit einem Baß, der jeden Versuch, nur zu flüstern, von vornherein illusorisch machte:

„Nehmen Sie das verdammte Vieh weg, Herr, – mein schönes Halstuch hat schon daran glauben müssen, aber mein Hals ist zu schade, – da sollen noch etliche Fäßchen Sprit hinabgluckern, hoffe ich, hoffe ich stark …“

Merkwürdige Nummer mußte das sein, dieser olle Knabe, der jetzt sogar noch an seinen Labetrunk dachte! Schade, daß ich ihn nicht sehen konnte, nur fühlen …

Was ich fühlte, war ein heißes, gurkenähnliches Gebilde …

Mit einem höflichen leisen „Verzeihung“ zog ich meine Hand zurück.

„Das war meine Nase!“, brummte der Mann kichernd. „Da haben Sie wohl einen schönen Schreck gekriegt …! Die ist nämlich immer unter Dampf, Herr … Spiritusdampf …! Habe mein Lebtag kein Wasser freiwillig getrunken. Im übrigen bin ich Pieter Klaaß – mit K und ß, Herr, Oberheizer auf dem verfl… feinen Kahn, der da unten ankert, und treuer Anhänger des Kapitäns Villamoor …“

Ich zog Monte zurück, Pieter Klaaß setzte sich aufrecht, und wenn wir unsere Gesichter ganz dicht aneinander brachten, konnten wir so ungefähr etwas wie zwei hellere Kürbisse unterscheiden – unsere Köpfe. Das war alles.

„Stießen Sie den Schrei aus, als die Wölfe kamen?“, fragte ich schnell.

„Und ob!! Als wie ich!! Natürlich, Herr, – ich wollte mich ja gerade verdrücken …!! Eingespunnt hatten sie mich, die Kanaillen, und der Steward, der Rädelsführer, hatte mir noch eins mit einer Radspeiche über den Schädel gehauen … Na, die Radspeiche ging kaputt, mein Schädel hat schon ganz andere Püffe vertragen!!“

Das glaubte ich ihm ohne weiteres, denn ganz abgesehen davon, daß er wie ein Spritfaß aus dem Munde duftete, verriet auch schon dieser Kontrabaß eine äußerst robuste Natur.

Ich hatte mich etwas zurückgezogen, es ist nicht jedermanns Sache, sich mit der Sorte Odeur anblasen zu lassen.

„Stehen Sie auf, – ich helfe Ihnen …“, – und nun gewahrte ich, daß dieser neue Verbündete mir kaum bis an die Schultern reichte.

„Danke, Herr … Ich hoffe, ich hoffe stark, daß ich meinen Käpten finde“, flüsterte Pieter so vernehmlich, daß ich ihn schleunigst verwarnte. „Der Villamoor ist Franzose, Herr, aber nur so halb, – aber ein ganz anständiger Kerl dabei, ganz, – den haben die verfl… Brüder …“

„Weiß ich alles … – Ich habe keine Zeit. Verbergen Sie sich hier, und sobald morgens der Nebel weicht, wenden Sie sich gen Osten … An einer vielfach gekrümmten Bucht finden Sie unsere Hütte und Ihren Kapitän … – Ich vertraue Ihnen … Hier haben Sie für alle Fälle eine meiner Pistolen. Können Sie schießen?“

„Nee!!“, erklärte er ehrlich. „Mit so’n Ding habe ich mich noch nie beschäftigt, Herr … Aber werfen kann ich – werfen: Steine, Eisen, Lasso, Bumerang, die südamerikanische Bola mit drei Bleikugeln, – ich war nämlich auch Cowboy, Peon, Schafhirt … Stecken Sie das Ding nur wieder ein … – Wie geht es dem Kapitän? Leidlich – ich hoffe, ich hoffe stark …“

„Leidlich, – – Wiedersehen, – grüßen Sie die Geschwister Lavinal von mir … Wie gesagt, ich muß weg, hinter den Wölfen her …“

Er hielt mich am Rockärmel fest.

„Herr, nur noch eine Frage … Ich hoffe, ich hoffe stark, daß Sie bei diesem Saunebel nicht ohne Feldflasche aufgebrochen sind, und meine Kehle hat seit achtzehn Stunden keinen Tropfen Brandy gespürt, – – Herr, seit achtzehn Stunden!! Bedenken Sie …!“

Nun, – nach achtzehn Stunden Enthaltsamkeit roch Pieter nun gerade nicht.

Ich hatte Erbarmen mit ihm.

„Da – einen Schluck, auch zwei … – bitte.“

Trotz Nebel und Finsternis packte er mit unfehlbarer Sicherheit meine Feldflasche, und dem glucksenden Geräusch nach zu urteilen blieb es nicht gerade bei einem Schluck, sondern …

„Stopp!!“

Jetzt packte ich zu …

Pieter seufzte …

„Danke … Ein Tropfen auf ’n heißen Stein war das, – immerhin, ich hoffe, ich hoffe stark, daß in Ihrer Hütte …“

Mehr hörte ich nicht, wollte ich nicht hören, ich hatte Monte vorwärts getrieben, und wir kletterten die Uferböschung hinab, ließen Pieter allein, – er würde sich morgens schon bis zu unserer Räuberburg durchschlagen, als alter Steppenreiter würde er auch zu Lande seinen Mann stehen.

Uns verschluckte nun wieder das große graue Nichts der Einsamkeit, des Nebels, der pfadlosen Wildnis … Monte hatte ein Tempo angelegt, dem ich kaum folgen konnte, die frischen Wolfsfährten feuerten ihn an … Und so ging es denn endlos, ziellos, blindlings hinein in das Innere von Kerguelenland, dessen Mitte und Südteil eine grauenhafte Einöde kahler Gebirge ist …

Ich spürte nichts von Müdigkeit, ich hatte nur einen Gedanken: Wenn die Wolfsfährten nicht bald abbogen in Richtung nach unserer Bucht, dann behielt die Herrin der Wölfe die wertvolle Muschel, und dann war es meine Pflicht, den Geschwistern ihr Eigentum zurückzugeben.

Aber die Fährte bog nicht ab, die Fährte lief immer nach Süden mit ganz geringen Abweichungen.

Wir kamen in die Region der berühmten Felder von Kerguelenkohl, – hier die einzige Pflanze, die als Buschwerk anzusehen ist.

Und doch ist der Kerguelenkohl nichts als eine Spielart unseres europäischen Kohles, nur ins zwanzigfache vergrößert, nur deshalb berühmt, weil er eines der besten natürlichen Mittel gegen den Skorbut, diese gefährliche Seefahrerkrankheit von einst, darstellt.

Ein sonderbares Gefühl ist es, diese an den Bergabhängen wuchernden ungeheuren Felder zu durchschreiten … Man riecht den Kerguelenkohl selbst im Nebel, sein Duft ist scharf und streng, – man glaubt, durch eine Schonung junger Bäumchen zu wandern: Es ist nur Kohl – – nur!! – Die Natur liebt dergleichen Scherze. Genau wie sie ausgerechnet die Birke die härtesten Winter in den Nordpolarländern überdauern läßt, genau wie sie in die wasserarmen Wüsteneien von Sand, Sand, wieder Sand und Hitze die vielgestaltige Familie der anspruchslosen Kakteen hineinversetzte, – – so hier diese Pflanze, die einen Ersatz bieten sollte für Büsche und Bäume und die wenigstens einige Teile von Kerguelenland zum Garten macht – – für Anspruchslose!

Und ich bin anspruchslos geworden, mir ist Nebel, Sturm, Hitze, Regen, Gewitter gleich lieb, – mir gibt die Steinwildnis genau so viel an Schönheit wie der tropische Urwald, wie die Blumengärten der Berge Mittelamerikas, wo die Orchideen bunte Farbklexe in die Landschaft zaubern. Man muß die Natur als Ganzes lieben, – dann ist man Ästhet …

Anderthalb Stunden dauerte diese Verfolgung …

Dann?

… Monte stand still, sein Herr stand still, – vor uns – ich betastete das Gestein – war eine Felswand, an der ein dünnes Bächlein entlangrieselte. Monte war hindurchgewatet, ich ebenso … Und nun waren wir mit unserer Kunst am Ende, nun konnten wir trotz meines Hundes feiner Nase getrost umkehren. Ich hatte die Leute unterschätzt, die hier irgendwo in der Einsamkeit hausten, sie hatten uns abgeschüttelt – – vorläufig!

Denn etwa diesen Bach absuchen, bis wir entdeckten, wo das Rudel ihn wieder verlassen hatte, wäre jetzt zwecklos gewesen. Dazu gehörte Tageslicht, Sonne, dazu gehörte die Möglichkeit, auch die Augen benutzen zu können …

Umkehren?!

Niemals! Ich würde hier irgendwo schon ein Versteck finden zum Übernachten …

Hunger, Kälte?!

Gewiß – ich würde beides spüren, – was tat es?! Wenn Monte und ich uns ganz eng aneinanderlegten, mußte Montes Pelz mir zur Wärmequelle werden, und vorjährige vertrocknete Blätter des Kerguelenkohls fand ich überall.

Also – bleiben!!

Wie richtig es doch ist, solch einer Stimme seines Innern zu gehorchen! Wie gut man doch tut, dieser Stimme zumindest den einen Entschluß zu gewähren, daß man sich eine Sache nochmals reiflich überlegt. Es gibt dafür ein sehr gelehrtes Wort: Distanz zu den Dingen gewinnen!!

Ich gewann sie, ich blieb, ich kehrte zwar um, machte aber bereits zwanzig Meter weiter in einem dichten Kohlgestrüpp halt und richtete mich für die Nacht ein.

Sehen konnte ich noch immer nichts.

Nur fühlen …

Ich tastete den Boden ab, sammelte trockene Blätter, damit wir nicht auf der bloßen feuchten Erde zu liegen brauchten, und …

Ruckte hoch …

Monte röhrte leise, ganz leise, – leiser als das Plätschern des nahen Baches.

Ich hörte Schritte …

Harte feste Schritte von beschlagenen Stiefeln, Männerschritte, – trotzdem elastisch, federnd, leicht, schmiegsam, – – und dann glomm durch die Nebelschwaden ein schwacher Schein, eine Laterne.

Blitzschnell hielt ich Monte das Maul zu, drückte ihn zu Boden, denn der Mann kam dicht an uns vorüber, streifte die hohen, raschelnden Kohlstauden, schritt auf den Bach zu.

Im Nu war ich hinter ihm.

Er war sorglos, zu sorglos, – er fürchtete keinen Verfolger, er watete durch den Bach, beleuchtete die Steilwand, – – ich schlich noch näher.

Es war ein Mann, ganz in Robbenfelle gekleidet, auf dem Kopfe eine Mütze aus kurzhaarigem Pelz, auch die Stiefel waren Robbenleder, ebenso sein Rucksack, über den er noch die Büchse gehängt hatte.

Ich stand am Rande des Baches, – weiter durfte ich mich nicht vorwagen. Hätte der Fremde sich umgedreht und den Arm mit der Laterne ausgestreckt, würde er mich bemerkt haben.

Er fühlte sich sicher, er hatte es auch eilig, – ich sah, wie er die rechte Hand steil emporhob und in eine Felsspalte griff …

Und dann trat er etwas bei Seite, – unwillkürlich beugte ich mich vor, seine Laterne brannte sehr hell, aber der Nebel verwischte das Bild …

Es machte den Eindruck, als ob plötzlich die ganze Steilwand lautlos vorrückte, – – dann glitt der Mann wie ein immer dünner werdender Schatten scheinbar in den Felsen hinein, das Licht der Laterne schien zu erlöschen, aber Sekunden später blitzte es ganz grell auf, – rein automatisch war ich in den Bach getreten, Schritt für Schritt, und nur deshalb sah ich, daß diese zackige, hohe Steinplatte sich wie eine Tür schloß und daß die Laterne Decke und Wände einer Höhle beleuchtete, die meinen Blicken genau so schnell entzogen wurde wie der Fremde und der Lichtschein: Das Steintor war zugefallen!

Fast geblendet stand ich im rauschenden, gurgelnden Wasser, um mich her war wieder die Dunkelheit der Nebelnacht, und trotzdem erfüllte eine wilde Freude mein Herz: Ich hatte den Zugang zu dem Schlupfwinkel der Wolfsherrin gefunden!

Ich hätte ihn nie gefunden, wenn ich vorschnell umgekehrt wäre, denn ein Betasten des Unterrandes des Steintores zeigte mir, daß der Bach diesen umspülte, mithin hätte auch Monte versagt.

Ich tat zunächst drei tiefe, tiefe Atemzüge.

Eine fast unerklärliche Erregung hatte mich gepackt, ich ahnte, daß dieser Schlupfwinkel der Wolfsherrin mir mehr Überraschungen bringen würde als einst der heilige Berg der Affen an der Südwestgrenze Abessiniens[1].

Mein Hirn, mein Blut kamen wieder zur Ruhe. Ganz kühl und systematisch suchte ich nach der Felsspalte, in die der Mann vorhin die Hand hineingestreckt hatte. Ich fühlte einen eisernen Griff, der an einer dünnen Kette befestigt war, – – ich ließ die Hand wieder sinken, ich mußte warten, – – und ich wartete.

Ein ganz leiser Pfiff lockte Monte herbei.

Er kam …

Ich sah ihn erst, als er ganz dicht vor mir stand … Er erschien im Nebel riesengroß, und als ich ihn streichelte, während der Bach unsere Füße umplätscherte, wußte ich das eine: Ich war nicht allein, nicht ganz allein! Dieser brave Monte, der mich von den Gestaden Madagaskars auf endlosen Umwegen bis hierher begleitet hatte, war mehr wert als ein Duzend Männer, Menschen … Denn er liebte mich, er war ein Tier, nur ein Tier, nur ein Hund, aber die zerfetzten Ohren und die zahllosen Narben im Fell hatte er für mich hingenommen, seinen Herrn, seinen besten Freund … –

Wir warteten …

Wir spürten selbst hier, daß bereits die Morgenbrise kam … Windstöße fauchten durch noch unsichtbare Schluchten, die ganze ungeheure Masse der Nebelgespenster kam in Bewegung, – – und da reckte ich abermals die Hand empor, packte den Eisengriff, zog daran, trat zur Seite, und … das Tor schwang auf …

Ein Tor, hergestellt aus einer enormen Felsplatte, die oben spitz zulief …

Das sah ich nun doch …

Und ich zog Monte am Halsband mit hinein in die kühle, nebelfreie Finsternis der Höhle, und das erste, das ich hier an Sinneseindrücken gewann, nachdem das Tor wieder zugefallen war, das war der Geruch einer guten Zigarre …

 

6. Kapitel.

Das Reich der Wolfskönigin.

… Finsternis …

In der Finsternis hastige Atemzüge …

Dann ein Knirschen, Kratzen, – – ein Fünkchen sprüht auf, wird zum Flämmchen, wird zum flackernden Schein einer kleinen Öllaterne, die mir vor der Brust hängt.

Mein erster Blick gilt Monte.

Sein Benehmen gibt den Ausschlag: Er beschnüffelt den Boden, er zeigt nur jene Erregung, die ihm die Witterung der Wolfsfährten einflößt.

Ich darf mich also sicher fühlen, ich darf mich vorwärtswagen.

Die Höhle ist nicht hoch, ist mehr ein natürlicher Stollen. Deshalb auch hängt der Rauch der Zigarre, die der Fremde hier angezündet hat, noch immer spürbar in der Luft.

Ich weiß, daß dieser Weg mir den Tod bringen kann, ich gebe mich darüber keinerlei Täuschung hin, aber der Tod stand schon so oft in so unendlich mannigfacher Form neben mir, daß ein volles Hundert Wölfe kaum mehr imstande ist, mich irgendwie zurückzuscheuchen. Die Bestien werden ja wohl kaum in diesem Schlupfwinkel frei umherlaufen – schon aus Reinlichkeitsgründen.

Hier in der Höhle duftet es jetzt auch bedenklich nach Raubtierkäfig, und da wäre mir sogar Pieter Klaaß’ Spritdunst beinahe noch lieber.

Der Stollen hat mehrfache Windungen, – nach fünf Minuten – genau vor einer scharfen Biegung – verhält Monte, sein Schädel duckt sich, sein Nacken wird zur Bürste: Sturmsignal!!

Und schon vernehme ich auch vor mir das Klirren von Ketten, das Schleifen von Ketten über Gestein …

Angekettete Wölfe, angekettete Wächter!

Pech also …!!

Damit hatte ich nicht gerechnet … Aber ich hätte damit rechnen müssen, die Leute hier und die Wolfskönigin konnten doch ihr geheimes Reich und dessen noch versteckteren Zugang nicht ohne Schutz lassen! Ich habe sogar bei alledem noch Glück gehabt, denn die schwache Zugluft streicht von Nord nach Süd durch die Höhle, also auf die angeketteten Tiere zu. Bisher haben sie uns nicht gewittert, sonst wären sie unruhiger, würden lärmen und ihre Gebieter alarmieren.

Monte und ich befinden uns in einer äußerst mißlichen Lage. Vorläufig haben wir uns ein wenig zurückgezogen, aber die Zeit drängt, ich muß mich entscheiden, ob ich nicht doch besser auf dieses Wagnis verzichte und umkehre.

Wir beide kauern in einem Winkel, der halb mit Steingeröll gefüllt ist, wir überlegen noch, und ein gewisses Gefühl der Unsicherheit bemächtigt sich meiner. Der Gedanke, etwa den Versuch zu unternehmen, die angeketteten Bestien zu beseitigen, wird sofort wieder verworfen, denn ein solches gewaltsames Vorgehen kann nicht ohne Lärm bleiben, und zweitens: Die toten Tiere würden mich ohnedies verraten, sobald einer der Leute hierher käme.

Eine schwere Entscheidung, das alles …

Ich bin nie ein solcher Eisenkopf gewesen, blindlings gegen eine Mauer anzurennen. Man hat sich das Abwägen jeder Einzelheit abgewöhnt, und man fährt besser dabei als bei allzu viel jugendlichem Ungestüm.

Ich zaudere noch immer. Gewiß, es gäbe schon Mittel, an den Bestien da vorn vorüberzukommen, ohne ihr Leben auszulöschen, es gäbe präparierte Fleischbrocken, durch die sie nur betäubt würden, es gäbe auch die andere Möglichkeit, einen Lasso zu benutzen – vielleicht …

Und da, bei diesem wachsenden Unbehagen, das mir dieses Hindernis aufzwingt, spüre ich, daß mein Hund sich jäh zur Seite dreht.

Im Nu habe ich meine kleine Laterne mit dem Hute bedeckt, im Nu auch Monte tief hinter das Geröll gedrückt.

Ich sehe vom Eingang her einen Lichtschein nahen, höre flüchtige Schritte, – der Lichtschein wächst, und aus der Finsternis schält sich die schlanke biegsame straffe Gestalt Christa Lavinals heraus, – Christa in ihrem derben dicken Sportanzug, den Karabiner über der Schulter, im Gurt die Pistolen, das Messer: Jene Christa, die sichere Schützin, die trainierte Sportlerin, – – aber auch Christa, der ich seit heute abend nicht mehr so ganz traue. Ich bin den Verdacht, daß sie die Leute dieser geheimen Siedlung kenne, nie mehr völlig losgeworden, ich bin daher auch gar nicht so überrascht, als sie nun eilends an uns vorüberhuscht und sich nach links wendet, wo der Stollen wie hier eine grottenartige Einbuchtung hat.

Ich verhalte den Atem, ich presse Montes Kopf noch tiefer, ich begreife nicht recht, weshalb das Mädel jenen Winkel dort aufsucht, – – und dann lächle ich etwas bissig – ironisch.

Also das ist es …!

Christa ist verschwunden …

Der Felsenwinkel ist dunkel, – wie ein Phantom hat sie sich in Nichts aufgelöst …

Aber dieses Phantom behält seine Körperlichkeit und wandelt Wege, die noch versteckter sind als dieser raffiniert ausgeklügelte Eingang samt seinem steinernen Tore.

Heiß und machtvoll strömt mir das Blut wieder zu Kopfe, – jetzt weiß ich, wie schlau diese Leute ihr Reich schüren, jetzt weiß ich aber auch, daß Uhl Lavinals Schwester ein trügerisches Doppelspiel treibt.

… Und gerade sie, die doch an dem Bruder mit jeder Faser ihres starken Herzens hängt, gerade sie, die so ehrliche stahlblaue Augen hat, deren Bläue in der Erregung verschwinden kann, so daß nur der harte, unerbittliche Stahl übrig bleibt!

Habe ich nicht alle Ursache, aufs neue jenen seelischen Druck zu empfinden, der die Tatkraft nur zu sehr lähmt?! Dieses Mädchen hat Uhl und mich doppelt und dreifach getäuscht, sie hat die durch die Quetschung hervorgerufenen Schmerzen übertrieben, bei uns in der Hütte hinkte sie mühsam hin und her, – hier schritt sie flott dahin, und ihr gerötetes Gesicht, ihre schnellen Atemzüge hatten mir bewiesen, daß sie lange Strecken sogar gelaufen war …

Auch davon bin ich nun überzeugt: Christa wandert diese geheimen Wege nicht zum ersten Male, Christa hat ja so nachdrücklich verlangt, daß auch ihr Verschlag in der Hütte ein kleines Fenster erhielte. Und durch dieses Fenster wird sie nachts, wenn wir ahnungslos schliefen, ins Freie geschlüpft und hierher geeilt sein …

Hierher …

Was zieht sie hier zu den Fremden, was nur?!

… Und aus dieser Überfülle von Fragen und Erwägungen mache ich mich kraftvoll frei, zerhaue, zerreiße das Gespinst überflüssiger Gedanken und richte mich auf, nehme Monte kurz an die Leine und schleiche hinüber in den anderen Winkel.

Das Rätsel des jähen Verschwindens Christas ist schnell gelöst. Ich brauche nur das Gestein sorgfältig abzuleuchten, ich finde so die Umrisse der zweiten Steintür, finde auch den eisernen Ring, der den einfachen Mechanismus in Tätigkeit setzt.

Das Felsstück schwingt nach außen, wir schlüpfen hindurch, die Steintür schließt sich von selbst, und meine Laterne beleuchtet eine zackige Kluft, in der eine feste Holzleiter lehnt, deren Sprossen von Stiefelsohlen abgewetzt sind.

Die angeketteten Wölfe sind also nichts als besserer Bluff …

Aber schlaue Teufel sind es trotzdem, die hier hausen!

Ich nehme meinen Hund in den Arm, wir steigen Sprosse um Sprosse empor, wir gelangen auf eine breite Abflachung, von der schnurgerade ein Stollen, kaum dreißig Meter lang, ins Freie führt …

Wohin?!

Ins Freie jedenfalls … Ich sehe ja die wallenden Nebelgespenster, die der Morgenwind in Aufruhr gebracht hat, ich sehe ja die ersten Schimmer der Sonne durch diese halb zerfetzte Nebeldecke dringen …

Der Tag ist da, und ich habe wieder gesiegt, ich werde schauen, was bisher nur die Augen der Eingeweihten schauten, und Schritt um Schritt nähern wir uns dem unbekannten Reiche der Wolfskönigin, bis wir draußen auf einer Bergterrasse stehen und schleunigst uns ducken und Deckung suchen, denn die Morgenbrise hat hier bereits mit dem grauen Gebräu gründlich aufgeräumt – so gründlich, daß nur noch zwischen den höchsten Teilen der Randberge dieses endlosen Tales die Nebelgespenster den letzten Verzweiflungskampf gegen übermächtige Gegner ausfechten.

Gewiß, – dünne Schwaden schweben auch noch wie verirrte Wölkchen in der Tiefe, doch auch ihre Zeit ist um, und jede Minute bringt mir das märchenhafte Bild dieser Siedlung auf Kerguelenland näher und näher und macht es klarer und klarer …

Und dann faucht ein Windstoß in den ovalen Talkessel hinein, vor dem auch die letzten Truppen der Nebelarmee weichen.

Urplötzlich fällt Sonnenlicht über das von ungeheuren Steilwänden umgrenzte Tal, und meine spähenden Augen wissen nicht, wo sie mit dem Staunen und Schauen beginnen sollen.

… Es gab einmal fern in Südarabiens Wüsteneien und öden Gebirgen für mich einen Augenblick, in dem ich vor Ergriffenheit kein Wort fand. Das waren jene kargen Minuten, als mir eine Luftspiegelung ein verbotenes Land zeigte – nur eine Luftspiegelung …

Aber auch sie trog nicht, auch sie bot mir ein echtes Gemälde der Wirklichkeit, genau so echt wie hier, nur daß dieser endlose Talkessel mit seinen mannigfachen Baumbeständen, mit seinen grünen Wiesen, seinen weidenden Pferden und den fernen Baulichkeiten weit mehr als Zauberreich erscheint, als etwas schier Unfaßbares, denn was bisher über Kerguelenland, der großen einsamen Insel an der Treibeisgrenze, bekannt geworden, widersprach in allem diesem bunten, farbenfrohen Bilde von Fruchtbarkeit des Bodens, von teilweise üppiger Vegetation und von Temperaturverhältnissen, die der Nähe des Südpols spotteten.

Da waren Birken, Nadelhölzer, blühende Büsche, da waren Blumenmatten, blau wie Enzian in den Alpen, da waren schneeweiße Flecke von dicht bei dicht wuchernden Schneeglöckchen.

Und immer klarer und heller ward die Sonne, und die Luft immer wärmer und durchsichtiger. Die Entfernungen schienen sich zu verkürzen, die Gebäude dort im westlichen Talwinkel, der besonders hohe Ränder hatte, wuchsen mir förmlich entgegen, und meine bezauberten Blicke gewahrten Blockhäuser mit Vorgärten, gewahrten blinkende Fenster und einen kleinen Binnensee, der da drüben blank und lustig wie ein in Grün gebetteter Spiegel funkelte. Auf dem See aber, dessen Zipfel die Westwand der begrenzenden Berge berührte, lag unwahrscheinlich groß im Vergleich zum Umfang des Gewässers eine schmucke Schonerbrigg, über deren Mastspitzen und beschlagenen Segeln frohe Taubenschwärme dahinschwirrten und sich dann nach einigen übermütigen Kreisen wieder niederließen auf den Dachfirst des größten der Häuser, dessen Unterbau aus Steinquadern bestand, und dessen umlaufende offene Veranda und bunter Anstrich an die Bauernsitze der bayerischen Voralpen erinnerte …

Alles in allem: Es war ein Stück fremden Paradieses, hineinversetzt in diese Steinwildnis von Kerguelenland, vielleicht eine Laune der Natur, vielleicht aber auch, was den Reichtum der Vegetation betraf, sehr einfach zu erklären durch besondere Verhältnisse, bei denen – und darauf deuteten die leichten Dünste über einigen Moorflächen hin – natürlich warme Quellen den Ausschlag geben mochten.

So hatte ich mich denn mindestens zehn Minuten lang, hinter Steinen am Rande der Bergterrasse liegend, lediglich mit diesem bunten Wunder von Fruchtbarkeit beschäftigt und dabei fast ganz Christa Lavinals und meiner Pflicht vergessen …

Der halb trunkene Blick wurde jetzt kritischer, prüfender, ich kümmerte mich um meine nächste Umgebung, ich sah, daß diese Terrasse langsam sich zur Talsohle senkte, und daß vierzig Meter tiefer ein zweiter Stollenausgang wie der, der schräg hinter mir lag, auf diese Naturtreppe mündete. Dort waren die Wölfe angekettet, dort hörte ich sie auch wie vorhin, – das Schleifen und Klirren ihrer Ketten und ihr langgezogenes, ungeduldiges, mürrisches Winseln und Knurren. Es gefiel ihnen nicht, Wächter spielen zu müssen, und sie harrten vielleicht auf baldige Ablösung und Rückkehr in ihre geräumigen Käfige, die wahrscheinlich dort in einem der Tannengehölze neben der kleinen schmucken Siedlung untergebracht waren.

Ablösung, – – zumindest Fütterung, und dann würde hier oben einer der Fremden auftauchen und … uns bemerken, Monte und mich, denn hier gab es kein Versteck, die Terrasse zog sich nur noch wenige Meter höher und wurde dort so schmal, daß keines Menschen Fuß sie als Steig benutzen konnte.

Ich hatte an meine eigene Sicherheit zu denken, aber – – jetzt etwa umkehren – – jetzt noch umkehren, nachdem ich glücklich in dieses verborgene Paradies eingedrungen war?!

Wer hätte das wohl über sich gebracht?!

Ein Gedanke schlägt im spürenden Hirne wie eine Stichflamme auf – ein so einfacher Gedanke: Wenn Christa Lavinal dort die Stallöffnung, in der die Wolfsbrut winselt, vorhin passiert hat, ohne daß die Bestien Lärm schlugen, – warum soll es mir nicht glücken, in eiligem Laufe, den Hund im Arm, an jener Stelle vorüberzukommen? Drei lange Sprünge genügen, und ich bin den Tieren wieder außer Sicht.

Dort bei den Hütten gewahre ich keinen Menschen … Die Siedlung schläft noch. Die Leute hier haben eine harte, anstrengende Nacht hinter sich, und jede Minute, die ich noch zaudere, gefährdet meinen Plan.

Ich wage es …

Ich will dieses Paradies auf Kerguelenland erkunden, ich will erst erfahren, ob etwa Christa, meine blauäugige Freundin, wirklich schon die Nächte vorher in dieses Tal eilte, um – – ja, wozu?!

Und da rennt der grübelnde Sinn gegen unüberwindliche Hindernisse an.

… Nur eins erscheint mir gewiß:

Pierre Lavinal, Steuermann des Dreimasters „Garonne“ und Entdecker hier irgendwo lagernder unermeßlicher Reichtümer, – Pierre Lavinal, der in die rosige Muschel die Skizze, also den Weg zu diesen Reichtümern, einritzte, kann nicht der einzige der Besatzung der „Garonne“ gewesen sein, der diese Reichtümer fand, verheimlichte und die Kunde davon in seiner Familie weiter vererbte! Nicht der einzige!! Und einer der anderen, die mit ihm, aber ohne sein Wissen, dasselbe entdeckten, muß vor langen Jahren, langen Jahrzehnten ebenso insgeheim diese Siedlung geschaffen haben … – muß!

… Und hiermit begnüge ich mich vorläufig, hebe Monte in die Arme, richte mich auf und schleiche abwärts, bis ich zu den vier langen Sprüngen ansetze, die mich an dem Stollenloch blitzschnell vorüberbringen sollen …

Im Vorbeijagen werfe ich einen einzigen Blick in das große Felsloch … Was ich dort sehe, hätte mich nachdrücklichst warnen sollen … Nicht weniger als sechs Wölfe oder Wolfsbastarde, jedenfalls Bestien von unheimlicher Größe, sind wie die Furien emporgeflogen und möchten mich fangen, mich zerfleischen, reißen an ihren Ketten, fletschen die weißen Gebisse, – – und ich bin vorüber, aber hinter mir erhebt sich der tollste, grimmigste Lärm, gellt mir in die Ohren, und nur mein rasender Herzschlag und das Rauschen des Blutes in den Ohren übertönt diese wütenden Laute, – – ich lange unten an, mein einziger Gedanke ist der, irgendwo Deckung zu finden, und durch Büsche und junge Birken arbeite ich mich hindurch bis zu einer Anhöhe dicht an der Nordwand, die von besonders hohen Nadelbäumen bestanden ist.

Ich bin ausgepumpt …

Ich fühle den Schatten dieser mächtigen Zweige, ich stehe hier in einem grünen Nadeldom, und ich schaue auf meine Stiefel und die Ledergamaschen hinab: Sie triefen von Schlamm!

Ich bin blindlings durch ein Stück Moor gelaufen, und ich danke meinem Schöpfer, daß es so ist: Die trügerische, elastische Decke des Morastes dort vernichtet meine Fährte, und sollte etwa einer der Leute hier Verdacht geschöpft haben, dann …

„Ich weiß, was Sie denken …“, ertönt da von oben sehr vergnügt ein stark gedrosselter Kellerbaß … „Uns findet hier niemand, Herr … Kommen Sie nur vier Etagen höher, die Aussicht ist vorzüglich … Ich bin nämlich so zu meinem Privatvergnügen erst mal falschen Kurs gesteuert, und so geschah es, daß ich nach einem noch verkehrteren Dauerlauf in diesem verfl… Nebel plötzlich merkte, daß das Wolfsrudel dicht vor mir war und daß als letzte keine Wölfin, sondern ein verflixt schneidiges Frauenzimmer flott dahintrabte … Nun, der Pieter Klaaß gehört nicht gerade zu denen, die auf den Kopp gefallen sind … Ich also hinterdrein, – und als die Bande durch den Berg hindurch war, folgte ich … Neugier war schon immer meine Schwäche, Herr … Und ich hatte auch mächtiges Schwein, – die Wölfe in dem Stollen wurden erst nachher angekettet, – – also bitte, Herr, vier Etagen höher, es mögen auch fünf sein, gute Fernsicht garantiert, – – freue mich außerordentlich, nur immer rauf mit Ihnen und dem Hündchen, – für letzteres habe ich eine Leine hier, ich hisse ihn empor, – – machen Sie fix, soeben öffnet sich die Tür des großen Blockhauses, – – alle Wetter, ein forsches Paar, aber lieben tun die einander wohl kaum, das Mädel …, – – hallo, ich lasse die Leine herab, – – so, – – Achtung, – – es geht schon, – – der Pieter Klaaß hat Kräfte wie ein Bulle, und schön ist er wie die berühmte Göttin …, – den Namen habe ich vergessen, dafür kenne ich andere Dinge … – – So, – – angelangt, – – … Morgen, Herr, nettes Wiedersehen, dolle Geschichte … Hier neben mir ist Platz … Der Ast trägt uns drei … – Da kommen sie …!“

Ja, da kamen sie …

Es war Christa und ein großer, schlanker Mann, – es war der Mann in Robbenfellen, und Pieter hatte ganz recht: Von Liebe konnte zwischen den beiden keine Rede sein!

 

7. Kapitel.

Jeanne Christos Meute.

Also nun zunächst mal Pieter Klaaß. Nummer für sich. Die Nase sogar Extranummer. Blaurot, riesig, funkelnd. Bart und Haar von unbestimmbarer Couleur und Frisur. Augen? Kaum zu sehen, mehr rote Schlitze, die dauernd tränen. Der Alkohol schien hier sein Ventil gefunden zu haben. – Hände?! Nein – Flossen, Handschuhgröße 14, – so etwa. – Kleidung: Zerrissener Wollsweater, zerrissene blaue Büxen und Schaftstiefel, Fasson: Rheinuferabtreter. – Charakter: Unfehlbar bierehrliche deutsche Seemannshaut mit einigen Farbstrichen von Abenteurernatur. – Stimme wie bekannt …

Das war Pieter, das war der dritte im Bunde hier oben in der großen Tanne, deren Äste uns genügend deckten.

Ich mußte Monte auf den Schoß nehmen – sehr unbequem, – doch all das hatte nichts zu besagen, ich wurde überreichlich entschädigt durch das feindselige Pärchen.

Sie kamen im Bogen um unser Versteck herum auf einer Art Weg, der sich vielfach in schmalere Pfade teilte. Christa war zumeist einige Schritte voraus, ihren Bewegungen merkte man es an, daß sie sich in hochgradiger Erregung befand und kaum auf die beschwichtigenden Worte ihres Begleiters hinhörte. Er wollte sie versöhnen, auch das merkte ich, – Worte waren nicht zu verstehen, aber seine kargen Gesten erschienen so eindrucksvoll, daß kein Zweifel darüber aufkommen konnte, um was es hier ginge.

Von mir war es vielleicht eine sehr kühne Folgerung, ohne weiteres anzunehmen, daß das Muschelstück hier das Streitobjekt bildete.

Daß diese Folgerung nicht zu kühn gewesen, zeigte mir die Abschiedsszene oben auf der Terrasse vor dem zweiten Stollenloch.

Das Paar war dort stehen geblieben.

Mit jäher Wendung hatte sich Christa ihrem Begleiter zugekehrt …

Sie sprach …

Sie sprach immer erregter, sie ballte die Fäuste, schüttelte sie vor dem Gesicht des schlanken Mannes in lodernder Empörung und rief völlig unbeherrscht, – rief so laut, so schneidend, daß wir alles verstanden:

„Sie sind ein Dieb – – nichts anderes!! Ich schäme mich, daß ich jemals, und mag es Jahre her sein, Ihnen Vertrauen schenkte …! Fortan sei Feindschaft zwischen uns, bitterste Feindschaft, – verlassen Sie sich nicht zu sehr auf Ihre Bestien, – wir werden Sie zwingen, das herauszugeben, was Sie mit allerlei Spitzfindigkeiten als Ihr Eigentum betrachten …! – – Ein letztes Mal, – – wollen Sie Freundschaft oder Feindschaft?!“

Pieter Klaaß brummte anerkennend:

„Schneid hat sie, – – aha, – – er lehnt ab, – sie läßt ihn stehen, sie ist weg …“

Christa war in dem Stollen verschwunden, der Mann rührte sich nicht, blickte ihr nach, sein kühnes Profil hob sich scharf von der Felswand ab, dann trat er zwei Schritte vor, pfiff in eine Felsspalte hinein, bog sich mit aller Macht zurück und setzte sich auf einen der großen Steinbrocken der Terrasse, nahm die Fellmütze ab, strich leicht über das volle, fast schwarze Haar und stützte das Kinn in die linke Hand.

Pieter murmelte hastig: „Wetten, daß er sie nicht rausläßt? Wetten, daß die blonde Katze sofort wieder erscheinen wird?“

Auch uns hatte eine seltsame Erregung ergriffen.

Wir hörten die Wölfe in dem anderen Stollen lärmen, wir hörten ihr Winseln, Knurren und wütendes Hin- und Herspringen, wir wußten, daß etwas geschehen würde, wir wurden unruhig, als nichts geschah …

Der Mann saß noch immer da, tief in Gedanken versunken, den edelgeformten Kopf etwas gesenkt …

Woran dachte er? – Sehr, sehr Schmerzliches mußte ihn bewegen, in dem schmalen, gebräunten Gesicht zeigten sich Falten, die den Jahren dieses Fremden nicht entsprachen.

Er konnte kaum fünfunddreißig sein, kaum …

Er verhielt sich regungslos, der Lärm der Bestien störte ihn nicht, nichts störte ihn, das von der Außenwelt her seine Sinne erreichte.

Taubenschwärme strichen vorüber, ihr Flügelschlag ließ die Luft vibrieren, und ganz dicht neben dem Manne ließ sich der ganze Schwarm auf einer breiten Felsnase nieder, als ob die bunten Tierchen den Einsamen liebten und seine Nähe suchten.

Die Außenwelt war tot für sie.

Er blickte nicht einmal auf, als plötzlich Christa Lavinal leichtfüßig wieder aus dem Stollen in den hellen Sonnenschein trat und halt machte und langsam den leichten Karabiner hob und ihn anrief …

Ihr Gesicht war farblos, der kecke Filzhut war ihr ins Genick geglitten, der Wind spielte mit ihren blonden Haaren …

„Sie haben mich eingesperrt, – das Tor läßt sich nicht öffnen!!“

Ihre Stimme schrillte …

Schwirrend erhob sich der Taubenschwarm …

„… Sie werden das Tor öffnen, – ich will hinaus!! Ich will, Roger Christo, – – verstehen Sie, – – ich will, – – oder ich schieße Sie nieder, und …“

Er?!

… Jetzt hatte er sich gerührt …

Bedächtig hob er den Kopf.

Er blickte das Mädchen an, und dann zuckte er leicht die Achseln, stand auf und betrachtete sie von oben bis unten, von unten bis oben …

Schüttelte den Kopf …

Sprach etwas …

Wir konnten es nicht verstehen, wir sahen nur die Wirkung seiner Worte.

Das Mädchen ließ den Karabiner fallen, schlug die Hände vor das Gesicht und taumelte zurück gegen die Steinwand.

„… Tränen!!“, brummte Pieter Klaaß …

„Das Übliche – – Tränen!!“

„Still …!!“

Er schwieg …

Der Mann, den Uhls Schwester Roger Christo genannt hatte, war näher an das Mädchen herangetreten und faßte sanft nach ihren Händen …

Er sprach dazu …

Wir konnten es nicht verstehen …

Nur den Erfolg sahen wir …

Und der war überraschend genug …

Urplötzlich schlang das Mädchen beide Hände um den Nacken des Mannes, schmiegte sich an ihn und drückte das Gesicht an seine Brust …

Mein Nachbar auf dem dicken, wippenden Tannenast schien für zarte Liebesszenen nicht viel übrig zu haben.

„Jetzt fehlt nur noch der Kuß, Herr …!“

Eine ungeheure Verachtung klang in diesen Worten mit, und sie war nicht einmal so ganz unberechtigt, diese Zwischenbemerkung.

Auch mich störte dieses lyrische Intermezzo, – es war irgend etwas dabei, das mir wieder als Verrat an Uhl Lavinal vorkam, das mich leicht abstieß.

Ich hätte mir Christa Lavinal tatkräftiger gewünscht, denn das Recht stand auf ihrer Seite, dieser Roger hätte das Muschelstück ausliefern müssen.

Und dann geschah das, was mir so plastisch im Gedächtnis haften geblieben ist wie ein unverwüstliches Relief …

Plastischer noch als meine Verfolgung durch die Wölfe im Nebel, plastischer noch als die Szenen an der Bucht, wo die Herrin der Wölfe ihr grimmes Heer über die Laufplanke und hinab in die Kajüte gehetzt hatte …

In der Ferne neben der Siedlung aus einem Tannengehölz brach es hervor mit tollem Lärmen, – die ganze Wolfsmeute war plötzlich frei, galoppierte den breiten Weg entlang, und vor ihr her ritt auf ungesatteltem Pferde mit wehenden schwarzen Haaren ein anderes junges Weib, in der Hand nur eine Lederpeitsche, das Pferd nur durch Schenkeldruck regierend.

Wie die wilde Jagd näherte sich das Rudel unter tollstem Kläffen und Heulen, und das Mädchen feuerte ihre Wut noch an durch schrille, langgezogene Schreie, die von den Talwänden widerhallten und die ganze Luft mit aufrüttelnden Dissonanzen erfüllten.

Das Paar auf der Terrasse war auseinandergefahren …

Der Mann zeigte uns sein erblaßtes Gesicht.

Um den Mund lagen ihm die Furchen noch tiefer, auf der Stirn die Falten noch dicker …

Jetzt war Pieter Klaaß ganz still … Mäuschenstill …

Ich schaute ihn flüchtig an: Auch in seinen derben Zügen las ich die Angst vor dem, was werden würde.

Immer näher raste das schwarze Weib auf ihrem Pferde, immer näher kam die Wolfsbrut, – dicht hinter dem Pferde die stärksten der Tiere, und das waren Wolfsbastarde, das waren ein paar riesige graugelbe Schäferhunde …

Da schob der Mann droben das blonde Mädchen in den Stollen hinein, packte in der Felsspalte den verborgenen Griff und beugte sich wieder zurück und zog mit aller Macht und … trat zur Seite, – – lächelte hart, – – die Sonne schien ihm gerade ins Gesicht, – – lächelnd sah er die Reiterin die Terrasse emporsprengen, lächelnd griff er in den Seehundsgürtel, hob beide Arme …

Und dann …

Selten habe ich eine Stimme gehört, in der trotz aller Kraft eine solche Fülle von Empfindungen mitschwang …

„Jeanne, – – zurück …!! Ich werde die, die ich liebte und die ich durch dieses schreckliche Vermächtnis verlor, zu schützen wissen – auch vor dir, vor deinem unsinnigen Haß …!! – Jeanne – – zurück …!!“

Er hatte nur hart, drohend, trotzdem halb schmerzlich gelächelt.

Sie aber lachte – lachte in die klare Morgenluft hinein ihr schrilles, rücksichtsloses, hohnvolles Dämonengelächter …: „Ein Christo und eine Christa, – – das paßt fein zusammen, aber hier entscheide ich – – nur ich!!“

Noch vierzig Meter war ihr keuchender, schaumbedeckter Gaul entfernt – – nur noch vierzig …

Zwei Schüsse knallten …

Noch zwei …

Es war, als ob das arme Pferd urplötzlich gegen eine Gummiwand geprallt wäre, – es flog halb zurück, brach hinten zusammen, neigte den ganzen Körper, – – und die Reiterin glitt herab, stand auf den Füßen, kehrte uns den Rücken zu … eilte weiter, machte vor Roger halt und … hob die schwere Lederpeitsche …

Im nächsten Moment wand sie sich hilflos zu des Mannes Füßen, der mit eisernem Druck ihr Handgelenk umspannt hielt und dazu … lächelte, so schmerzlich lächelte, daß er gar nicht mehr zu rufen gebraucht hätte:

„Nun habe ich dich verloren, Jeanne! Und weshalb?! Alles nur eines trügerischen Hirngespinstes wegen!! – Schäme dich, Jeanne Christo!! Du bist das geworden, was dir zum gefährlichen Zeitvertreib wurde: Eine zügellose Wölfin, eine kleine sinnlose Bestie!! Schäme dich!“

Und da gab er ihre Hand frei und deutete abwärts, wo das Rudel bereits das erschossene Pferd zu zerreißen begann, wo Wölfe und Hunde und Wolfsbastarde sich balgten, sich bissen, nur um an den Kadaver heranzugelangen, wo sie einen wüsten Knäuel bildeten, eine ruhelose Masse von gierigen Leibern, wo bereits die ersten Erfolgreichen mit großen Fetzen Fleisches davonschlichen …

Und das Bild brachte Jeanne Christo wieder zu sich …

Das Bild war so urwüchsig-abstoßend, war so ganz urechte Tiertragödie, so ganz grauenvoller Beweis entfesselter Instinkte, daß Jeanne Christo genau wie vorhin die blonde Christa die schwere Peitsche fallen ließ, die Hände vor das Gesicht preßte und sich an das Gestein lehnte.

Ihr Bruder drängte sich an dem winselnden, knurrenden, schnappenden Berge von Wolfsleibern, aus dem die Beine des Pferdes grotesk steil hervorragten, schnell vorüber und schritt der Siedlung zu und verschwand in dem großen Blockhause.

Seine Schwester aber verharrte in derselben Stellung, – ein Bild der Reue, des Schuldbewußtseins, und erst nach geraumer Zeit, die uns heimlichen Zuschauern eine Ewigkeit dünkte, ließ sie die Hände sinken und wandte sich zögernd um …

Ihr Gesicht war totenbleich, ihre schwarzen Augen übergroß, die Lippen geöffnet, – – und so blickte sie hinab auf ihre tolle Garde, die da bereits mit geifernden Mäulern die Eingeweide des Pferdekadavers über das Geröll schleiften und blutbesudelt und mit tückischen Lichtern noch immer eins das andere anknurrten und noch um die letzten Bissen stritten …

Drei der Bestien zerrten gleichzeitig an dem Pferdekopf …

Andere zerrten an den Beinen des Gerippes, und mit einem Male kamen Fresser und Fraß ins Rutschen und kollerten über den Abhang hinweg, schlugen zwanzig Meter tiefer auf eine weiche, morastische Stelle auf, – der Kadaver versank, die Wölfe gelangten mühsam aufs Trockene, schüttelten sich den Schlamm aus dem Pelze und folgten ebenso gehorsam dem gellenden Pfiff ihrer Herrin wie die übrigen, von denen die meisten noch Knochen und Fleischstücke mit sich schleiften …

So verzog sich das Rudel gen Westen den Weg entlang und verschwand in den fernen Tannen.

Mitten unter ihnen schritt das Mädchen mit dem schwarzen Haar und der schweren Lederpeitsche, aber sie ging gesenkten Hauptes und schleppend, wie bedrückt von eigener Schuld …

Der Spuk war vorüber …

Spuk bei Sonnenlicht … –

Pieter Klaaß stieß mich sanft mit dem Ellenbogen in die Rippen …

„Herr, ich schwitze … Und ich schwitze sonst nie!“

Ich blieb still …

Ich tupfte mir schweigend die Schweißperlen von der Stirn …

Und im stillen fragte ich mich: Wie werdet ihr wohl lebend aus diesem höllischen Paradiese herauskommen?!

 

8. Kapitel.

Der Baum der Erkenntnis.

Lebend – – und herauskommen …!

Denn das fruchtbare Tal hatte nun auch in anderer Hinsicht sein Aussehen verändert.

Bisher hatten wir nur die Geschwister Christo zu Gesicht bekommen. Jetzt jedoch näherten sich von der Siedlung her Leute mit einem Handkarren, – der eine schob, der andere zog. Ich fing sie sehr schnell in dem kleinen Fernglas ein: Es waren Europäer, ebenfalls in Robbenfelle gekleidet.

Mein Nachbar Pieter, der offenbar tadellose Augen hatte, erklärte kurz: „Futter für die angeketteten Wölfe … Die eine Flosse eines Seelöwen hängt über den Kastenrand hinaus …“

Das stimmte. – Die beiden Leute waren mit ihrer Arbeit, bei der sie sich höllisch in acht nahmen, sehr schnell fertig. Sie gingen beim Austeilen der Robbenfleischstücke so vorsichtig zu Werke, daß ich erneut die Überzeugung gewann, das ganze Rudel Bestien gehorche in der Hauptsache nur Jeanne Christo und verrichte hier sozusagen Polizeidienste. Roger und Jeanne hatten sich diese bissige Garde nur zugelegt sowohl als Schutz gegen ihre eigenen Leute als auch als Abwehrmittel gegen andere Feinde. Sie rechneten also mit Gegnern, mit einem Angriff, deshalb fütterten sie die Tiere nur ungenügend, deshalb hatte auch ich am vergangenen Abend die tolle Hetzjagd durchzumachen, – all das waren sehr einfache Schlußfolgerungen.

Der eine der Männer zog nun mit dem Handkarren wieder ab, der andere, der genau so gut bewaffnet war, blieb vor dem zweiten Stollenloch sitzen, zündete sich eine Pfeife an und legte die Büchse quer über die Knie.

Wir waren gefangen, daran gab es nichts mehr zu deuteln …

„Üble Geschichte, Herr“, brummte Pieter mürrisch. „Hier oben können wir nicht bleiben, Herr, – mein Gesäß ist nicht für stundenlanges Sitzen auf einem armdicken Ast eingerichtet … Unten gibt es viel trockenes Moos, – – ich bin hundemüde, hungrig und durstig …“

Wir kletterten hinab, Monte wurde wieder angeseilt. Diese mit Tannen bestandene Anhöhe war am Fuße von moorigen Streifen umgeben, über denen feine dünne Schwaden lagerten. Das Moor warf an den Stellen, wo das grünbraune Wasser sichtbar war, andauernd große Blasen empor, deren Puffen man hören konnte.

Ich schnitt einige Äste ab, errichtete eine Art Hütte dicht an der nördlichen Talwand, wo der Hügel sich an diese anlehnte, und schuf uns so ein ganz behagliches Versteck.

Der Wächter droben auf der Terrasse war etwa hundertzwanzig Meter entfernt, – eine sehr unangenehme Nachbarschaft, die zu äußerster Stille mahnte.

Wir lagen auf dicken Moospolstern, Monte – bemitleidenswert – war eingeschlafen, und ich begann den blaurotnasigen Jan Maat nun auszufragen. Das hatte seine guten Gründe. Ich sorgte mich um die Geschwister Lavinal und den kranken Kapitän Villamoor, ich mußte ja damit rechnen, daß die Leute des Dampfers schon aus Wut über die Lahmlegung ihres Schiffes gegen die Wolfskönigin vorgehen und dabei die Hütte finden würden.

Was Pieter dann erzählte, warf neues Licht auf ein sehr altes, sehr seltsames Geheimnis, bestätigte auch nur meine Vermutung, daß Pierre Lavinal von der „Garonne“ durchaus nicht der einzige gewesen, der damals 1772 hier auf Kerguelenland die unermeßlichen Reichtümer erkundet hatte.

Es war kein Dampfer, es war eine große Privatjacht, auf der die buntscheckige Besatzung unter Führung des Stewards, eines Mischlings mit dem hochtrabenden Namen Arturio Pedesta gemeutert hatte. Die Jacht hieß „Normannia“, der Eigentümer war ein alter Herr, ein französischer Emigrant namens Robert Benoit, der in aller Stille durch Karl Villamoor das 2000 Tonnenschiff hatte ausrüsten lassen und zwar in Batavia, dem niederländisch-indischen Haupthafen. Pieter war zufällig mit angeheuert worden, die dreißig Mann Besatzung schien Villamoor in aller Eile zusammengesucht zu haben, die Kerle waren auch danach, betonte Pieter ungeheuer geringschätzig: Malaien, Chinesen, Javanen, Mischlinge und Europäer, – aber jene Sorte Europäer, die mit der Bezeichnung Gurgelabschneider noch einen Ehrentitel erhalten, – So ähnlich drückte sich Pieter Klaaß aus. Nur die sechs Schiffsoffiziere, alles Deutsche, seien tadellose Seeleute gewesen, und den Kapitän Villamoor, den hatte Pieter ganz besonders in sein Herz geschlossen, – der hatte mit eiserner Strenge die Disziplin aufrecht erhalten und unterwegs zwei Chinesen kurzer Hand als warnendes Beispiel aufknüpfen lassen. Trotzdem sei ihm aber der verfl… Steward Pedesta überlegen gewesen, der Kerl hatte alles tadellos vorbereitet, und hier in der Bucht war dann auf einem Schlage die Revolte losgebrochen, die Schufte hatten die Waffenkammer geplündert, knallten die Offiziere nieder, – was aus dem greisen, würdigen und äußerst gütigen Robert Benoit geworden, wisse er nicht.

So lautete sein Bericht.

Eins war klar. Die Jacht „Normannia“ hatte Batavia angeblich zu einer Vergnügungsfahrt in die Südsee verlassen, – Robert Benoit und Villamoor gaben das eigentliche Ziel niemandem bekannt, mithin sollte diese Expedition möglichst geheim bleiben und konnte nur als Ursache dieselben weitervererbten Überlieferungen haben, die auch Uhl Lavinal zum Südpol getrieben hatten, freilich mit weit unzureichenderen Mitteln, nur mit einem großen seetüchtigen Kutter.

Pieter, auf dem Bauche liegend, biß ein neues Stück Priem ab und meinte abschließend:

„Ihren Namen kenne ich nun, Herr Abelsen. Den kannte ich auch schon vorher … Der ist nicht mehr ganz unberühmt, – – ich will Ihnen nicht schmeicheln. Ich kenne auch Ihre Lebensgeschichte, – nun, auch ich habe allerlei durchgemacht, und mein Schädel ist kein leerer Kürbis, aber – – aus dieser Geschichte werde ich nicht schlau …! Wer rüstet eine Expedition nach Kerguelenland aus?! Wozu?! Etwa um Kerguelenkohl zu ernten?! Was anderes gibt es hier ja nicht. Und dann finde ich hier – und der Verstand steht mir still – Wölfe vor, finde dieses Tal, eine Siedlung älteren Datums, von der bisher niemand etwas ahnte … Herr Abelsen, was soll das alles?! Schauen Sie mal dort in den Westwinkel hinüber, wo der kleine See glitzert … Dort liegt eine Schonerbrigg, Herr, – – als ob sie über diese ungeheuren Randberge hinweggeflogen wäre! Wie kommt das Schiff in diesen Talkessel hinein?! – Herr, für alles habe ich eine Erklärung, zum Beispiel für diese Bäume, Büsche, Wiesen, – all das ist gepflanzt worden, sehr einfach, – – nur die Schonerbrigg will mir da nicht aus dem Sinn, – von den Wölfen rede ich gar nicht, darüber sind wir uns ja einig: Polizeitruppe der Geschwister Christo! – Kennzeichnender Name: Christo! – Ihr Hund heißt Monte, Herr, – es gab mal einen Grafen von Monte Christo, Romanheld, fünfbändig, – ich weiß auch, daß in Südfrankreich viele Familien diesen Namen Monte Christo führen, aber …“ – er schob den Priem mit der Zunge in die andere Backe – „komisch bleibt es doch: Jeanne und Roger Christo, und beide sprechen deutsch, wir hörten es ja … – Herr, was wissen Sie von alledem?! Sicherlich mehr als ich.“

Dieser biederen Haut Flausen vorzumachen, kam mir gar nicht in den Sinn. Anderseits band mir das Uhl Lavinal gegebene Versprechen die Zunge. Ich beließ es daher bei vorsichtigen Andeutungen.

Pieter grinste geringschätzig. „Wahrhaftig, Sie meinen, daß drei Parteien hier … Schätze heben wollen? – Herr Abelsen, bedenken Sie, Kerguelenland ist von einer deutschen Expedition durchforscht worden, und ich war mit dabei, das war in den Jahren 1901 und 1902, und was die Deutschen tun, das tun sie gründlich, Herr. Sogar eine meteorologische Station hatten wir damals in der Observatory-Bay errichtet, dort starb auch deren Leiter, Professor Engensperger … Herr, wir haben diese Steinwildnis durchforscht, wir fanden nur Felsen, Kerguelenkohl, Moose, Flechten, armseliges Gestrüpp, – – wo soll hier Wertvolles vorhanden sein?! Nicht mal Erzlager oder Steinkohlen sind aufgespürt worden, – dies ist so etwa die gottverlassenste Einöde, die es geben kann … – Dieses Tal ausgenommen! Nein, Herr, kommen Sie mir nicht mit solchem Bluff und ollem Schnack von „Schätzen“ …!! Glauben Sie denn daran?!“

Ich konnte nur die Achseln zucken …

Ich wußte selbst nicht, was ich glauben sollte.

Es hätte auch keinen Zweck gehabt, diese Erörterungen fortzusetzen.

Eine Insel, die 3700 Quadratkilometer groß ist, kann durch Expeditionen nicht so eingehend erforscht werden, daß nicht doch die Möglichkeit bestände, irgendwo lägen wirkliche Bodenschätze verborgen. Ich dachte dabei gar nicht an Gold, Silber oder gar Platinlager, – wenn hier überhaupt Wertvolles vorhanden, mußte es anderer Art sein.

„Pieter Klaaß“, sagte ich zu meinem vierschrötigen, gorillaartigen Gefährten, „wir müssen hier raus – sofort! Irgendwie! Ich fürchte für die Sicherheit der Geschwister Lavinal … Und Sie wieder, der Sie so sehr an Kapitän Villamoor hängen, werden mir beipflichten: Roger Christo mag ein erfahrener, energischer Mann sein, aber eins übersieht er doch: Die Gefahr, die auch dem Mädchen droht, das er liebt! – Wir müssen hinaus – so oder so! Geht es nicht im Guten, wenden wir Gewalt an. Hätte Roger Christo in dieser Nacht und heute hier sich zugänglicher gezeigt und nicht so unnötig hartnäckig sein Recht verfochten, würde ich den einfacheren Weg wählen und ihn aufsuchen und als Mann zum Manne mit ihm reden. Doch das wäre zwecklos. Sie haben es ja miterlebt, Pieter, daß er sogar seine Liebe für die blonde Christa vergaß. Wie würde er da erst mit uns beiden umspringen!“

Klaaß nickte. „Einsperren würde er uns, und die schwarze, bildhübsche Teufelin, seine Schwester, würde uns, wenn es nach ihr ginge, den Wölfen vorwerfen als seltene Kost! – Herr, – raus müssen wir! Stimmt! In der Siedlung ist jetzt keine Seele zu bemerken, und der Bursche da oben bei den Wölfen, den nehme ich auf mein Konto … Sie werden sich wundern, Herr, – – und der da erst recht! Handliche Steine gibt es hier genug … Einen Augenblick, ich krempele mir nur die Ärmel hoch, eigentlich könnte ich es sein lassen, denn der Sweater hat mehr Löcher als Stoff … Trotzdem, – – so, – – was sagen Sie zu diesen Muskeln?! Die reichen für drei … Und jetzt lassen Sie mich nur machen … So ein alter Cowboy aus Texas, der gleichzeitig auch die See jahrzehntelang befahren hat, kennt Kunststücke, von denen Sie keine blasse Ahnung haben …“

Er kroch vorsichtig ins Freie, und sein scheinbar so plumper Körper zeigte dabei eine Behendigkeit, die geradezu erstaunlich war.

Die Tannen mit ihren tiefreichenden Ästen deckten uns zur Not, selbst wenn wir aufrecht standen. Monte war erwacht und wollte mit, – ein kurzer Befehl, und er legte sich wieder.

Ich blieb dicht hinter Pieter, der bedächtig emporkraxelte und schließlich in nächster Nähe der Steilwand landete, wo er das dicke Moos wegzukratzen begann, um Steine freizulegen.

Jetzt erst hatte auch ich den Felsabhang so dicht vor mir, daß ich ungehindert einen Blick nach oben werfen konnte.

Kerguelenland enthielt vorwiegend verwitterte Lavamassen, Basalt und Phonolith, eine Gesteinart, die für noch älter gilt als der Basalt. Man hat hier auch große Bimssteinlager angetroffen, ein weiterer Beweis, daß die Rieseninsel in Urzeiten Vulkane besaß. Heute sind diese Vulkane erloschen und vergletschert, so der Roß-Berg und der Richards-Berg, beide etwa 1500 Meter hoch.

Was mir nun an dieser Stelle der Steilwand sofort auffiel, war der übermäßig starke Flechtenwuchs. Die graue Steinflechte, jene bescheidene, unansehnliche Pflanze, erreichte hier eine Höhe von fast zehn Zentimetern. Dieser starke Flechtenwuchs, der sich nur auf einen Teil des Abhangs beschränkte, mußte eine besondere Ursache haben. Wäre ich nicht einst Ingenieur gewesen, hätte ich mich nicht einst auch mit Mineralogie beschäftigen müssen, würde mir diese Ursache verborgen geblieben sein.

„Pieter, warten Sie mal …“, raunte ich dem kleinen dackelbeinigen Oberheizer zu. „Schauen Sie sich mal die Felswand an … Was sagen Sie dazu?! Wie kommt es, daß die Flechten hier so dick wuchern und daß dort das Gestein völlig kahl ist …?“

„Bin kein Gelehrter, Herr … Mag sein, daß die Feuchtigkeit, die die nebelnassen Tannen auch tagsüber …“

„… Irrtum, Pieter … Das liegt nicht an den Tannen, das liegt an dem Gestein selbst. Wetten, daß hier in dem dunklen Basalt Streifen von weichem, porösem Bimsstein eingebettet sind? Nur der Bimsstein fördert als günstigster Boden für Flechten diese übermäßige Wucherung …“

„Na – – und?!“, meinte Klaaß kopfschlackernd. „Herr, – Bimsstein hin, Bimsstein her. Ich werde dem Kerl da oben einen Stein gegen den Schädel schleudern, keinen weichen Bimsstein, diese Klamotten hier, Herr, und ich treffe auch – wetten?!“

„Lassen Sie mich ausreden … Wo Bimsstein in Urgestein eingebettet ist, gibt es notwendig auch Hohlräume … Ich kann Ihnen das hier in der Eile nicht näher erklären – es ist so. Passen Sie auf …“

Ich hatte mein Messer gezogen, bohrte es in die Flechten hinein, und da dieses Messer allerbester, indischer, gehämmerter Stahl war und Andenken an Singapur, trieb ich die lange Klinge ohne Mühe bis ans Heft hinein. Die Flechten ließen sich dies gefallen, aber der Bimsstein knirschte und kreischte mißtönend, weil er sich in seiner vieltausendjährigen Ruhe gestört sah. Wieder zog ich die Klinge heraus, drückte dabei, und der Schnitt zerfraß das mürbe Gestein, und schon der dritte dieser Stiche und Schnitte in den Leib des Berges löste ein Stück Bimsstein, das Pieter schnell mit den Händen auffing …

„Donnerwetter!“, erklärte er verblüfft. „Das hätte ich nie gedacht!“

Ich lächelte nur … Ich war noch lange nicht zufrieden mit diesem Erfolg – noch lange nicht. Das so entstandene Loch zeigte hinten eine schlauchartige Fortsetzung, in die ich kaum die Hand hineinzwängen konnte. Aber ich hatte mich nun einmal in den Gedanken verbissen, daß die Einbettung von Bimsstein in das härtere Gestein genau wie anderswo und genau wie wissenschaftlich längst erwiesen, weit größere Hohlräume versprach. Mir war bekannt, daß gerade auch Luftzufuhr von rückwärts, von zwei Seiten, das Wachstum der Flechten förderte. Prüfend trat ich zurück, prüfend überblickte ich nochmals die Flechtenbildung auf der Steilwand als Gesamtheit zunächst, und da fiel mir notwendig sofort auf, daß diese Gesamtheit eigentlich ein ganz eigentümliches Bild zeigte. Es gehörte wahrlich nicht viel Phantasie dazu, das ganze als einen Baum, eine Riesenbuche etwa in Flechtenrelief anzusprechen.

Dieses Bild eines Riesenbaumes, gerade hier auf die platte, senkrechte, grauschwarze Talwand hingezaubert, benahm mir förmlich den Atem.

Ich fühlte urplötzlich, daß ich vor einer Entscheidung, vor einer Offenbarung stünde, die mit Uhl Lavinals Muschelskizze aufs innigste verknüpft war.

Ich entsann mich ja dieser von dem Künstler Pierre Lavinal so sauber eingravierten Skizze ganz genau, wenn ich das Muschelstück auch nur flüchtig hatte betrachten können und wenn mir auch alle übrigen Einzelheiten nicht mehr gegenwärtig waren.

Eins war in meinem Gedächtnis haften geblieben:

Am Unterrande der Muschel war als Abschluß der Wegskizze ein Oval sichtbar gewesen, und oben an diesem Oval war klar und scharf ein Baum eingeritzt gewesen mit dickem Stamm, dicken Ästen und nur wenigen Zweigen.

Wenigen Zweigen – – wie hier!!

Pieter merkte mir meine Überraschung an, aus seinen roten Augenschlitzen, die von Alkoholtränen glänzten, traf mich ein langer forschender Blick …

Auch er war stutzig geworden, auch er trat zurück, beäugte die Wand und schlackerte den feurigen Gesichtserker, der da in seiner Visage das Hervorstechende blieb.

„Komisch, Herr Abelsen …“, flüsterte er, – was so sein Flüstern war …

„Lassen Sie das „Herr“ weg, Pieter, – sagen Sie Olaf – basta …! – Na – – und was ist hier komisch?“

„Daß die grüngrauen dicken Flechtenwucherungen einen Baum bilden, und daß ich neugieriges altes Wrack mal dem Herrn Robert Benoit so von ungefähr über die Schulter schaute, als er sein Stück Pergament wieder mal studierte, und dann war er immer rein wie behext, – – geistesabwesend klingt anständiger. Na, und auf dem Pergamentblatt war auch so eine Art Baum zu erkennen, Tatsache, Herr, und wenn ich auch kein gelehrter Federfuchser bin, so habe ich doch Grütze genug in meinem schönen Kürbis, um mir zu sagen, daß dies kein Zufall sein kann, sondern … ja, – so was nennt man ja wohl „engste Zusammenhänge“ oder dergleichen … – Na – – und Sie?!“

Ich?!

Gewiß, Pieters Erwähnung des Pergaments war wichtig, war ja eine Bestätigung dessen, was längst klar:

Es gab drei Anwärter auf Pierre Lavinals „unermeßliche Reichtümer“, – – drei …! Und alle drei mußten Nachkommen von Angehörigen der Besatzung der „Garonne“, des Expeditionsschiffes des Kapitäns Kerguelen-Trémarec sein, – drei:

1. Uhl Lavinal,
2. Roger Christo,
3. Robert Benoit.

Bei zweien dieser Erben eines großen Geheimnisses war sozusagen urkundlich ein Baum als Wegweiser nachgewiesen. Mithin würde wohl auch der dritte Anwärter diesen „Baum“ von einer Zeichnung her kennen, aber dieser dritte, Roger Christo, wohnte hier und hatte den „Baum“, dieses Flechtenrelief, offenbar doch nicht beachtet.

Warum nicht?!

Und auch die Frage war im Augenblick gelöst.

Pieter und ich standen hier gleichsam auf einer Insel im Sumpfe zwischen riesigen Tannen, die das Relief verdeckten, – das war es!

… Ein Zufall hatte uns hierher geführt, wo zweifellos einst absichtlich jemand die Tannenzapfen als Saat diesem Hügel übergeben hatte, damit die sprossende Saat, die emporschießende Frucht, die Bäume, die Tannen, dieses Bild auf der Steilwand überschatteten.

Konnte es anders sein?!

Niemals!!

Die Zusammenhänge waren zu klar, fügten sich zu leicht und zu bequem aneinander, ineinander, als daß hier ein Denkfehler meinerseits vorliegen konnte.

Ich hatte den Baum der Erkenntnis entdeckt, und diese Entdeckung auszunutzen, war meine Sache!

 

9. Kapitel.

Ein Märchen wird Wahrheit.

… Dieses Tal, ein Zauberparadies im kalten, nebelfeuchten, baumarmen, öden und unwirtlichen Kerguelenland, hatte nun auch wie jenes biblische Paradies seinen Baum der Erkenntnis erhalten.

Freilich, er trug keine Früchte, keine Äpfel, von denen etwa die biblische Eva einen brechen und ihrem Adam verführerisch hinreichen konnte.

Mein Adam war hier Pieter Klaaß, und ohne Freund Pieter zu nahe treten zu wollen: Adam dürfte wohl etwas reizvoller gewesen sein!

Genau wie ich mich nur schwer in die Rolle einer Eva hineindenken konnte.

Weit näher lag mir eine andere, derbere Betätigung, – – hier mein Jagdmesser sollte Arbeit bekommen, nicht als Äpfelpflücker, sondern als stahlharte Sonde, die diesem Geheimnis auf den Grund gehen sollte.

Nochmals betrachtete ich mir das Flechtenrelief …

Hätte ich Pieter die Gedanken mitgeteilt, die mich dabei bewegten, würde er frech gegrinst haben.

Besser nicht …

Seine Zahnstummel waren keine Parade erstklassiger Mundfüllung.

Ich sah jetzt den „Baum“ nicht mit körperlichen, sondern geistigen Augen an, und ich suchte nach etwas ganz Bestimmtem.

Trafen meine Vermutungen zu, so mußte dieses Flechtenrelief seine Besonderheiten haben – zumindest an einer Stelle.

Mein Blick glitt langsam den dicken „Stamm“ empor …

So langsam, als ob ich mit meinen geistigen Augen die hindernde Schicht durchdringen und das bloßlegen wollte, was dahinter verborgen.

Dieser „Stamm“ war mindestens acht Meter breit, zehn Meter hoch.

Ich brauchte Zeit, ich ließ mir Zeit, obwohl ich in allen Nerven ein eigentümliches Kribbeln verspürte: Unruhe, Ungeduld, – – Hunger auf Erfolg!

Ich bezwang auch das.

Und doch spürte ich mit jeder Sekunde deutlicher, daß ich hier wirklich ganz dicht vor der restlosen Enthüllung eines Geheimnisses stünde, das anderthalb Jahrhunderte friedvoll geschlummert hatte …

Mein Blick suchte, suchte bewußt …

Ich suchte an dem Flechtenrelief des Stammes eine Stelle, die verräterisch wäre: Wo das Flechtenkraut dünner wüchse.

Bewußt suchte ich …

Und meine Nerven schwiegen …

Nur Pieter schwieg nicht, Pieter war ein guter Kerl, nur – zu redselig im ungeeignetsten Augenblick.

„Verdammt, Herr, – – was glotzen Sie die Steinwand nur so an, als ob …“

Und da hatte ich die Stelle gefunden …

Ein paar Sekunden beschleunigte sich mein Herzschlag …

Ein Irrtum war ja unmöglich …

Dort in Übermannshöhe mitten im Relief des Stammes zeichnete sich etwas wie ein verschwommenes, ungleichseitiges Viereck ab …

„Pieter, – – näher an den Felsen!! Ich steige Ihnen auf die Schultern!“

„Na wenn schon, immer los!“

Ich bückte mich, ich hob rasch das losgebrochene Stück Bimsstein auf, drückte es wieder in das Loch hinein – – für alle Fälle!

Ich gehe stets gern ganz sicher.

Und deshalb auch kroch ich ebenso flink zu unserem Unterschlupf, holte Monte und Leine und seilte Monte an.

Wie gesagt. Ich gehe stets gern ganz sicher!

„Los doch!!“, ermunterte mich Pieter, der mir seine Kehrseite zeigte und seine Hände als Leitersprosse auf den Rücken gelegt hatte … „So dämlich, wie Sie mich einschätzen, ist der Pieter Klaaß doch nicht! Natürlich gibt es da oben ein Loch … Aber, Herr, wenn der Kunde mit dem Schießprügel auf der Terrasse Sie etwa bemerkt, schickt er Ihnen fünfzig Gramm Blei zu, und …“

Ich stand schon auf seinen Schultern …

Das war ein sehr großes Risiko, in diesem Punkte hatte mein Gefährte recht. Wenn der Kerl da oben den Kopf etwas nach links drehte, mußte er meinen Kopf sehen …

Und dann?!

Dann kam es nur darauf an, ob der Bursche zielen und treffen konnte.

Von links, von der Siedlung her, drohte mir keine Gefahr, nach dorthin deckten mich die Äste.

Schade nur, daß Freund Pieter eine so kurze Leiter abgab. Ich mußte die Hände hochrecken, um nur die untere Grenzlinie des bewußten Vierecks zu berühren …

Überhaupt: Unbequem war die Geschichte, sehr unbequem! Ich hatte die Büchse umgehängt, ich hatte die Leine um den Leib geschlungen, – nur von einer Last hatte Pieter mich mit Taschendiebfixigkeit befreit: Von der Feldflasche!

Ich hörte es unter mir gluckern …

Ade Brandy!! Wenn Pieter sein Inneres alkoholisch auffrischte, blieb sicherlich kein Tropfen übrig!!

… Mein Messer suchte eine Fuge … eine Ritze …

Mein Messer fuhr knirschend den Stein entlang …

Alten Damen wären alle falschen Zähne locker geworden …

Mir wurde etwas anderes locker: Die Hoffnung!

Ich wußte, ich war hier auf der richtigen Fährte …

Die harte Klinge zerschnitt die Flechten, fuhr in eine Ritze hinein, fuhr die Ritze entlang …

Was nur Vermutung gewesen, wurde Gewißheit:

Dieses ungleichseitige Viereck war eine Bimssteinplatte, die man genau zurechtgehauen und in ein Loch eingefügt hatte! Ihr Flechtenwuchs war nicht so alt wie der der Umgebung, war jüngeren Datums. Das Datum selbst würde sich auch noch feststellen lassen.

Nun kam es darauf an, diesen Verschlußstein zu lockern, der etwa zwei Meter im Geviert hatte.

Werkzeuge hatte ich nicht, nur der Büchsenlauf konnte mir als Hebel dienen, wenn ich erst ein genügend großes Loch hergestellt hatte. Ich schnitt also und bohrte, die Klinge kreischte und knirschte, Bimsstein bröckelte ab, und dann …

… Von der Terrasse ein Schuß …

Unter mir ein wütender Schrei …

Pieters Kontrabaß meldete grimmig:

„Solch ein Lump!! Mein Leuchtturm ist gekappt!! Ist das ein Sauschütze!!“

Jetzt galt es …

Die Lage wurde kritisch …

Auch Monte hielt sich für berechtigt, auf den Schuß hin wütend zu blaffen …

Eine zweite Kugel klatschte gegen das Gestein, zerspritzte, – es rieselte mir warm über die Wange …

Ich bohrte den Büchsenlauf in das Loch, ich drückte, – der Hebel half, die Platte bewegte sich, schwang nach außen, sie drehte sich in zwei Zapfen, und mit aller Macht stieß ich mich von Pieters Schultern ab, landete mit dem Oberkörper in der Öffnung und zog die Leine nach.

Der Sauschütze auf der Terrasse pulverte weiter, – – schade um die Patronen, – – ich hißte Monte im Eiltempo empor, ließ die Leine wieder herab, Pieter kletterte hoch, – – armer Pieter Klaaß, diese Art von Verschönerungschirurgie war dir miserabel bekommen, Pieter blutete wie ein Schw … älbchen, der halbe Gesichtserker war futsch, und Pieters Laune lag tief unter dem Gefrierpunkt.

All die Flüche, die er in allen Weltgegenden gesammelt hatte, mengte er in allen Sprachen durcheinander, wickelte sich dabei sein Taschentuch von höchst zweifelhafter Sauberkeit um die üble Blessur und drohte dem Sauschützen mit der Faust, bis in der Ferne von der Siedlung her ein Höllenlärm sich erhob …

Die Wölfe waren frei …

Das ganze Tal war in Aufruhr …

Die Taubenschwärme kreisten wild in der Luft, die Möwen im Westwinkel stiegen von ihren hohen Nistplätzen auf, und ich schob den außer Rand und Band geratenen Pieter zurück, zog so viel Tannenäste heran, als ich irgend erreichen konnte, schnitt sie ab und hörte die Wolfsbrut nahen, hörte die schrillen Pfiffe Jeanne Christos, der Wolfskönigin, und wollte die Pendeltür zuklappen …

Pieter fiel mir in den Arm …

Pieter sah aus wie ein blutbefleckter Urmensch …

„Herr, – – die Flasche!! Ich muß hinab! In der Flasche ist noch ein Schluck drin, – ich muß, ich ließ sie fallen, – – noch ein Schluck!“

„Sie sind verrückt – – !!“, – und die Tür schwang zu, wir standen im Finstern …

Wo?!

Ein Kratzen, – – ein paar Fünkchen, – ein Flämmchen brannte, ein Tannenast fing Feuer, qualmte, Harz tropfte herab, Pieters Nase tropfte, und langsam brannte die Fackel kräftiger …

Roter Schein schoß in die Dunkelheit, – – wir standen in einem höhlenartigen Stollen, der sich nordwärts schräg in die Tiefe senkte …

Ich beleuchtete die merkwürdige Tür, ich sah die mit Blei in das Gestein eingegossenen Eisenzapfen, ich sah auch verrostete Eisenstangen am Boden liegen, bückte mich, stützte die Tür ab, ging dabei sehr sorgfältig zu Werke.

Aber noch immer fühlte ich in mir jene ungewisse Vorahnung, daß all dies bisher Erlebte nur ein geringfügiges Vorspiel sei für das, was unser noch wartete …

Die Nervenanspannung, der Nervenkitzel des Ungewöhnlichen, Abenteuerlichen, Abseitigen milderte sich nicht …

Ich wollte Gewißheit haben.

Wenn irgendwo, dann mußte hier, nur hier Pierre Lavinals Geheimnis ruhen …

„Pieter, – – Ihre Nase verbinde ich später … Nehmen Sie die Tannenäste … Dann weiter!!“

Er nahm sie …

Ich schritt voran … Klaaß war mit einem Male sehr still geworden, drängte sich enger an mich heran und fragte leise, – wohl nur, um nicht ganz stumm zu bleiben: „Und was wird, wenn die Wolfskönigin die Bimssteinplatte, die Luke da, einschlagen läßt?!“

„Kugeln regnen wird es, – doch das geht Sie nichts weiter an, lieber Klaaß, Sie haben ja bereits das Wertvollste eingebüßt …“, – worauf er völlig verstummte und etwas zurückblieb. Wahrscheinlich befühlt er seine Nase … Er trauerte der Spitze seines Riechorgans ehrlich nach, und trotzdem hätte er froh sein sollen: Die Sorte Leuchtturm war allzu imponierend gewesen und die alkoholische Beheizung hatte man spüren können – – ohne Thermometer.

Wir wanderten also über körnigen Steinboden in dem breiten Stollen ziemlich steil abwärts, ich hatte Monte kurz an die Leine genommen, hielt die Fackel ganz hoch und suchte möglichst genau jede Einzelheit dieser nun wieder durch festes Urgestein sich hinziehenden Hohlräume, die kurze Abzweigungen besaßen, zu erfassen.

Dicht hinter einer scharfen Biegung erweiterte sich der Stollen zu einer domartigen Grotte, deren Ausdehnung bei dem spärlichen Fackellicht nicht abzuschätzen war. Ich blieb unwillkürlich stehen, denn ich vernahm deutlich das Rauschen von Wasser gerade vor uns, freilich in großer Entfernung. Es mußte hier einen unterirdischen Fluß geben oder einen Bach, – daran fehlte es auf Kerguelenland überhaupt nicht. So hat eine englische Expedition unter der Führung Wellesleys noch vor zehn Jahren im Südteil der Insel einen Fluß festgestellt, der bei fünfzig Meter Breite in eine Höhle als Katarakt hinabstürzt und nirgends wieder zu Tage tritt. Die Versuche, den Verbleib dieser ungeheuren Wassermengen zu erforschen, mißglückten. Drei Leute, die sich an Tauen in die Höhle hinabließen, wurden nur als Leichen geborgen.

Kerguelenland, schauerlichste Felseinöde der ganzen Welt, hat schon seine Geheimnisse, und heute, wo ich, wieder einmal im großen Abseits allein, diese Erinnerungen blutfrisch zu Papier bringe, dürften gelehrte Herren sich bereits in Paris darüber die Köpfe zerbrechen, wie sich das Erbe des Roger Monte Christo wissenschaftlich ausschlachten ließe, – Kerguelenland gehört ja dem Namen nach Frankreich, und die Funker der 2000-Tonnen-Jacht „Normannia“ haben die Kunde von dem hier Geschehenen längst in alle Welt gesandt.

„Ein Fluß …!“, sagte Pieter neben mir und zündete an meiner Fackel einen zweiten Tannenast an.

Es wurde heller in dem Felsendom, und je heller es wurde, desto mehr … wichen wir zurück – – langsam, Schritt für Schritt, die Augen wie gebannt auf das geheftet, das da in der Mitte dieser Grotte uns entgegenleuchtete …

Pieter hatte es sogar noch weit eiliger als ich … Ich verdachte es ihm nicht, denn der ruhelose Flackerschein der Fackeln spiegelte sich da in langen, gläsernen Scheiben wider, wurde durch den Widerschein verstärkt und erzeugte rund um diese Glasplatten eine fast unnatürliche Helle.

„Ein Sarg …“, flüsterte Klaaß so scheu, als ob er sich fürchtete, ein schlafendes Kindlein zu wecken.

Es war ein Sarg … Er stand auf vier Felsklötzen, der Unterteil war Holz, poliertes Holz, aber der Deckel bestand aus blanken schillernden Glasplatten, die nur an den Rändern in Zink eingefügt waren.

Alles andere hätte ich hier vorzufinden erwartet, niemals diese seltsame kostbare Ruhestätte für einen Toten, von dem wir bisher nichts gesehen hatten, da die Lichtreflexe auf dem Glase nur Zerrbilder vortäuschten.

Ich drehte mich um, – – ich vermißte plötzlich die zweite Fackel, aber Pieter Klaaß hatte die Tannenäste einfach fallen lassen und war in den Stollen zurückgeflüchtet. Ihm, der in der Hauptsache doch Seemann war, erschien dieser Sarg allzu unheimlich. Jeder Jan Maat älteren Datums ist abergläubisch, und jeder Laie weiß, daß kein Dampfer gern einen Sarg an Bord hat, – es soll Unglück bringen.

Unwillkürlich fiel mir da eine Geschichte ein, die kurz vor dem Weltkriege passierte und die verbürgt wahr ist. In der ehemaligen deutschen Kolonie Tschingtau verstarb ein höherer Regierungsbeamter, dessen Leiche nach Deutschland überführt werden sollte. Der verlötete Zinksarg und der äußere Holzsarg wurde von keinem Frachtdampfer mitgenommen, obwohl die Angehörigen dreifache Fracht zahlen wollten. Schließlich verstand sich ein norwegischer Kapitän dazu, – – der Dampfer wurde sechs Wochen danach als endgültig verschollen gemeldet.

Auch Pieter Klaaß mochte diese und ähnliche Geschichten kennen.

Er hatte sich daher heimlich … verdrückt.

Zugegeben, daß auch ich zauderte, mich dem Glassarge zu nähern, daß ich schleunigst noch einen Tannenast anzündete, um erst mal mehr Licht zu haben. Mein Zaudern wird verständlich, wenn man die Begleitumstände berücksichtigt, unter denen mir diese völlig ungeahnte Überraschung zu Teil wurde.

Kerguelenland, – – unbewohnte Rieseninsel mit nur einem geheimnisvollen bewohnten Tale, von dem die Welt bisher nichts wußte.

Nichts …!!

Und in den Gebirgsmassen dieser Insel in einer sorgfältig versteckten Grotte steht ein Sarg mit gläsernem Deckel …

Auf Kerguelenland – an der Grenze des Treibeises des Südpolargebietes …!! – Das gab den Ausschlag …:

Die Weltabgeschiedenheit dieser Insel, und damit die Unmöglichkeit, das Vorhandensein dieser kostbaren Grabstätte irgendwie zu erklären.

Gedankenversunken schaute ich auf das spiegelnde Glas, in dessen Flächen meine Fackeln tausend Blitze aufzucken ließen …

Gedanken kamen und gingen, – Kindheitserinnerungen lebten auf an ein Märchenbuch mit grellbunten Bildern: Dornröschen – – Schneewittchen …

… Lebten auf, verklangen wie leise feine zarte Töne …

Denn die Wirklichkeit hatte hier kraftvollere Akkorde …

Ich schritt vorwärts, meinen Hund neben mir, und blieb wieder stehen, hielt die Fackeln mehr zur Seite, denn setzt sah ich es: In dem Sarge ruhte eine Frau mit aschblondem Haar, das Gesicht so frisch wie eine Lebende, wie eine Schläferin …

Eine Frau, jung, schön, liebreizend, um die vollen, lebenshungrigen Lippen noch jetzt den Anflug eines übermütigen Lächelns.

Lange, lange stand ich so da, in den Anblick dieser wundervollen Mumie versunken. Bis hinter mir auf Zehenspitzen Freund Pieter herbeischlich, ebenfalls halt machte, ebenfalls ganz stumm und still verharrte …

Ich rührte mich als erster, trat an das Fußende des Sarges und beugte mich herab … Da war eine Kupferplatte, da war eine Gravierung:

Antoinette Benoit, geb. Christo
† am 1. 12. 1869
auf Kerguelenland.

Sie war die Sonne, die Liebe, das Glück.

Kerguelenland, 15. 11. 1870.

Dr. Robert Benoit
als ihr Gatte.

„Ja, meine Frau …“, sprach da eine müde, welke Stimme aus dem Dunkel heraus und ließ unsere Köpfe herumfahren …

Langsam löste sich aus der Finsternis eine hohe, etwas gebückte Greisengestalt in dunklem Mantel. Schneeweiß war der kurz geschnittene Vollbart, schneeweiß das reiche Haupthaar, – ein edles, blasses, faltenreiches Gesicht blickte uns an, und Pieter Klaaß sagte freudig, aber ganz gedämpft:

„Gott sei Dank, Sie leben, Herr Doktor …!“

Und zu mir gewandt: „Abelsen, es ist Herr Robert Benoit, der Eigentümer der Jacht … Und – – er lebt!“

Doktor Benoit kam noch näher, nickte uns ernst zu und deutete auf die Tote.

„Meine Freunde, es stirbt sich nicht so leicht. Als mir meine Frau genommen wurde, glaubte ich, ich würde das Dasein ohne sie nicht länger ertragen. Ich habe es getragen, dieses große Leid, und ich bin über alledem fast neunzig Jahre alt geworden, ich habe als Arzt Gutes getan, mein Leben war gesegnet auch ohne meine Gefährtin, und jetzt, da ich meine Kräfte schwinden fühle, hoffe ich abermals Gutes stiften zu können … Vielleicht hat mich die Vorsehung dazu ausgesehen, Menschen aus der Irre zum Lichte und zum Glück zu führen – – vielleicht … Die Umstände freilich sind ungünstig, ich selbst bin ein Flüchtling, meine Getreuen sind tot … Trotzdem, – – ich hoffe …“

Er beugte sich über den Sarg, er schien zu beten, er richtete sich wieder auf, kraftvoller als bisher, unter den buschigen weißen Augenbrauen funkelten frische große Augen, in deren Tiefen das Licht jener Weltklugen leuchtete, die vor alle Herzensgüte doch die harte Gerechtigkeit und die Strenge setzen.

Er streckte mir die Hand hin …

„Also Sie sind Abelsen, – dann liegt mein Vorhaben mit in guten Händen …“

Auch Klaaß begrüßte er ebenso freundlich, und dann geschah etwas, das diesen Greis kennzeichnete: Er zog seinen langen Mantel aus, deckte ihn über den Sarg, – – zart, bedächtig, sorgsam.

Ich verstand ihn: Er hatte diese Frau, die er da der Verwesung durch ärztliche Kunst entzogen hatte, so unendlich geliebt, daß er ihren Anblick jedem Fremden nicht gönnte, – er mochte jeden fremden, neugierigen Blick als Entweihung betrachten.

Und dann sagte er zu uns, – vielleicht etwas herrisch, etwas zu energisch:

„Folgen Sie mir, diese Grotte ist mein, ich will Sie beide anderswohin führen …!“

Er hatte den Satz kaum vollendet, als von Süden her durch den Stollen, den Pieter und ich passiert hatten, dumpfes Dröhnen bis hierher drang und uns daran erinnerte, daß wir nicht nur die Meuterer der „Normannia“ zu fürchten hätten.

 

10. Kapitel.

Verzweifelte Stunden.

„… Die Wolfskönigin!“, rief Klaaß erschrocken. „Wußte ich es doch, – sie schlagen die Steinluke ein!! – Abelsen – schnell, ehe wir die Bestien auf dem Halse haben!“

Es war wirklich die allerhöchste Zeit.

Wir hatten kaum den Stollen hinter uns, als wir auch schon bemerkten, daß bereits ein Stück der Bimssteinplatte fehlte, – Tageslicht drang herein, wir sahen draußen ein bärtiges Gesicht, ein neuer Axthieb donnerte gegen die Tür, und wieder löste sich ein Stück Stein, eine zweite Leiter wurde sichtbar, und auf deren Sprossen stand Jeanne Christo, die schwarze Jeanne, die Königin von hundert halbgezähmten Bestien.

„… Schlage zu, Paul!“, ermunterte sie den Bärtigen … „Wir haben es ja nur mit zweien zu tun, und der eine scheint übel angeschweißt zu sein, – Blut genug hat er verloren …! Schlage zu …!!“

Der, den sie Paul nannte, hatte bereits wieder mit der schweren Axt ausgeholt. Plötzlich stoppte er in der Rückwärtsbewegung der Arme, fiel nach hinten über und verschwand uns aus dem Gesichtskreis.

Fast gleichzeitig hörte ich vom Tale her Schüsse, eine bissige Kugel surrte sogar durch das Türloch, und ein paar Schreie unten bewiesen, daß dort jählings ein Kampf entbrannt war, der von der einen Seite mit überlegenen Kräften geführt wurde.

Jeanne Christo hatte sich blitzschnell auf ihrer Leitersprosse halb umgedreht … Ihr frisches, leicht gebräuntes Gesicht erbleichte, und ihr gellender Ruf: „Die Meuterer!!“ klärte die Lage vollkommen …

Ich riß schnell die eisernen Stützen weg, ich klappte die Tür auf, warf mich zu Boden, riß das Mädchen zu uns herein und stieß beide Leitern um.

Ein einziger Blick über das Tal zeigte mir, wie schlau und kühn die Burschen der Jacht vorgegangen waren: Sie schwärmten bereits zwischen den Blockhäusern, sie schossen auch dort, sie mußten durch den oberen Stollen eingedrungen sein und die dort angeketteten Wölfe ohne viel Lärm getötet haben …

„Der Pedesta ist ein schlauer Schuft“, meinte Pieter Klaaß, indem er der etwas durchgerüttelten Jeanne auf die Beine half. „Hoppla, Fräulein, – – nur nicht schüchtern, hier sind Sie in anständigerer Gesellschaft als zwischen Ihrem stinkenden Viehzeug, – – lassen Sie Ihre Pistole nur stecken, Kindchen, – wem der Pieter Klaaß seine Flossen um die Handgelenke gelegt hat, der trägt Stahlschellen …! Hübsch vernünftig sein, – – Abelsen, nehmen Sie ihr lieber die Pistole und das Messer ab, das Fräulein …“

Er schwieg …

Jetzt erst hatte Jeanne Christo den greisen Doktor Benoit bemerkt, der mehr im Hintergrunde stand und die Fackeln hielt.

Sie fuhr zurück …

Sie rief überlaut, und ihre Hände flogen abwehrend empor …:

„Großvater, – – du, – – du hier?!“

Der Greis betrachtete sie still …

Er nickte leicht … „Ja, ich bin hier, weil ich hierher gehöre – ich allein, Jeanne! Schlimm genug, daß der Großvater seine Kinder abermals in ihre Schranken zurückweisen muß und versuchen will, das wieder auszugleichen, was eure Narrheit alles an Törichtem und Widersinnigem anstellte …! – Lassen Sie ihre Hände nur los, Pieter Klaaß … Mit dieser kleinen schwarzen Katze, die allerdings schlimme Krallen hat, werden wir schon fertig …“

Ich hatte inzwischen die Steintür wieder geschlossen und abgestützt, die Schießerei im Tale hatte aufgehört, nur bei den Blockhütten knallte noch zuweilen ein Schuß.

Trotzdem traute ich dem Frieden nicht.

Wenn der Steward Pedesta, der Anstifter der Meuterei, wirklich ein so gerissener Kunde war, wie Pieter ihn mir geschildert hatte, würde der brutale Wicht sehr bald seinen Hauptangriff gegen uns richten. Gewiß, so lange es Tag war, hatten wir nichts zu fürchten, aber spätestens um vier Uhr nachmittags würden die Nebelgespenster abermals Täler und Berge einhüllen, und dann konnte Pedesta im Schutze der Dunkelheit gegen uns mit Mitteln vorgehen, denen wir nicht gewachsen waren.

Auch Doktor Benoit fürchtete wohl das gleiche, denn er trat nun auf uns zu und fragte sichtlich besorgt:

„Wie beurteilen Sie die Lage? Es würde mich sehr schwer treffen, wenn etwa die Ungunst der Umstände mir das zunichte machte, was mein endgültiges Vorhaben war. In meinen Jahren entschließt man sich wahrlich nur schwer, den mühsam errungenen inneren Frieden und die äußere Behaglichkeit einer ruhigen Lebensstätte preiszugeben und nochmals das zu werden, was man in der Blüte der Jugend gewesen: Ein Abenteurer, Abelsen, – ein Abenteurer, der abermals das Land aufsucht, das ihm das Liebste nahm: Kerguelenland!“

Ich war neben den Löchern der Steinluke stehen geblieben und hatte andauernd draußen das Tal im Auge behalten.

Ich brauchte nicht vieler Worte, dem ehrwürdigen Doktor zu antworten.

Ich deutete nur in die sonnenhelle Buntheit des Tales hinaus …

„Sie haben noch immer gute Augen, Herr Doktor … Gerade jetzt ist dort mehr zu sehen, als mir lieb. All meine Befürchtungen sind bestätigt – – bitte …“

Meine ernste Sprache lockte auch Pieter und die niedergeschlagene, sehr bescheiden gewordene Jeanne näher.

Da auch unten an der Steintür eine Ecke fehlte, bückte sie sich, und Jeanne Christo allein war es, die ihren Empfindungen bei dem Anblick draußen ungehemmt Ausdruck verlieh:

„Uhl und Christa Lavinal als Gefangene, – und ein dritter auf einer Bahre, – – man führt sie den Hauptweg entlang zu den Blockhäusern …! – – und mein Bruder Roger und unsere Leute?! Ich will hinaus, ich will Gewißheit haben, ich werde die Wölfe loslassen, ich werde …“

Ihr ungestümes Temperament wurde jäh durch einen Schuß gezügelt, dessen Kugel durch die Öffnung fegte und ihr ein paar der langen schwarzen Haarsträhnen raubte. So dicht an ihrem Ohr war das Geschoß vorübergezischt, daß sie sich halb zur Seite warf, halb zur Seite fiel, und unglücklicherweise gerade dabei mit der Schulter gegen Pieters augenblicklich empfindlichste Stelle stieß, gegen den wegoperierten Gesichtserker.

Was Pieter Klaaß natürlich nicht ohne einige Kernflüche und bissige Bemerkungen über vorwitzige Mädels hingehen ließ, die sich allzu leichtfertig in einem kugelumbrummten Guckloch zeigen.

Auch ich zog Doktor Benoit mehr zur Seite.

„Sie haben gesehen, Herr Doktor, – unsere Lage ist böse … Der Steward Pedesta wird auch Roger Christo überwältigt haben, Roger ist ein zu kühler Kopf, um sich zwecklos zu lange zu verteidigen, bis ihn eine Kugel niederwirft. Pedesta hat vorläufig gesiegt, ich glaube nicht einmal, daß seine Leute stärkere Verluste bei der Schießerei draußen gehabt haben, er hat die Talbewohner überrascht, und alles kommt nun darauf an, wie Ihre Antworten ausfallen, Herr Doktor. Ich will mich ganz kurz fassen. Daß dieses Höhlensystem hier noch einen zweiten Eingang oder Ausgang hat, beweist Ihre Anwesenheit hier …“

Der Greis nickte nachdenklich. „Das trifft wohl zu, Abelsen … Nur – auch der Weg ist uns versperrt, mir waren die Verfolger dicht auf den Fersen trotz des nächtlichen Nebels, unter der Besatzung befinden sich leider einige Malaien, die außerordentlich feine Sinne, fast wie ein Tier, haben, der gefährlichste ist ein gewisser Kituri, ein halbwüchsiger Bursche, Pedestas Vertrauter … – Um dies sofort nachzuholen: Meine Befreiung aus der Heckkammer, wo man mich eingesperrt hatte, verdanke ich nur dem Sprengschuß, der wohl auf Rogers Rechnung kommt … Die Explosion war so kräftig, daß die Kammertür aus den Angeln flog, – man hatte mich nicht gefesselt, und ich benutzte die Verwirrung an Bord, sofort zu flüchten, wurde jedoch bemerkt, und nur Kituri, der malaiische Küchenjunge, war imstande, trotz meiner Vorsicht hinter mir bleiben, wenn er mir auch nie so nahe kam, daß er mich fangen konnte … Ich erreichte also den versteckten Höhleneingang, ruhte mich aus, überzeugte mich dann, daß draußen vor dem Eingang ein Feuer brannte und daß man vor die Felstür Steinblöcke gehäuft hatte. Die Tür schwingt nur nach außen, Abelsen, – wir sind hier eingeschlossen, daran läßt sich nichts deuteln.“

„Allerdings, Herr Doktor … – Eine andere Frage … Haben Sie von früher her hier in diesem Höhlengebiet Lebensmittel aufbewahrt, die noch genießbar sind? Sie müssen hier ja mit Ihrer jungen Gattin mehrere Jahre gelebt haben. Nur Sie können auch die beiden Stollen, die auf die Terrasse münden, mit den praktische Geheimtüren versehen haben … Nur Ihnen schreibe ich auch diese Luke aus Bimsstein zu, die den „Baum der Erkenntnis“ seines bis dahin offenen Felsloches beraubte und die Flechten auch über diese Pforte wachsen ließ, freilich in dünnerer Schicht … – Ich bewundere Sie, Herr Doktor … Sie haben hier im Jahre 1869 unendlich viel geschaffen … Ich bedauere Sie ebenso sehr, denn Ihre Arbeit wurde nicht gesegnet, Ihre Gattin starb …“

Der greise Mann hatte sich langsam auf einem Felsvorsprung niedergelassen und die welken Hände im Schoße gefaltet. Aber er saß kerzengerade da, und das Sonnenlicht, das bereits schräg durch die Löcher der Steinluke hereinfiel, tauchte sein faltiges, gütiges Gesicht in milden Glanz.

Die Sonne sank bereits. Die Sommertage auf Kerguelenland sind kurz, und die Hauptkraft des Tagesgestirns war verpufft, feine Schleier lagen in der Luft – als Vorboten des großen unerbittlichen Heeres der Nebelgespenster, die sich gerade nach so warmen Tagen doppelt frech zusammenballten und die große Steinwüste zum großen grauen Nichts gestalten.

Doktor Robert Benoit blickte still geradeaus.

So wie es uralte Leute tun, die dann die Bilder einer langen Vergangenheit wieder wachrufen und sich hineinversenken in ihre traurige Buntheit mit der erhabenen Resignation derer, die bereits mit einem Fuß im Grabe stehen.

Ein Ausdruck ergreifender Verklärtheit breitete sich über die edlen Züge dieses Neunzigjährigen, und selbst seine Stimme schien verwandelt und wie die eines Sehers und Propheten, als er nun nach kurzer Pause zu sprechen begann, während keiner von uns sich zu rühren wagte. Sogar Monte – und dies war kennzeichnend für die überfeinen Instinkte meines treuen Freundes – hatte sich ihm lautlos zu Füßen gelegt, – ein Zeichen von Unterordnung und Achtung vor dem schneeweißen Haar dieses Mannes, der zweifellos den Schlüssel zu dem Geheimnis Pierre Lavinals in seinen Händen hielt.

Er sprach … Vielleicht wie ein Träumender, wie ein Visionär, aber man spürte doch bei jedem Wort, daß man keinen altgewordenen Phantasten, sondern einen Mann aus einem Guß vor sich hatte. Und das war das Große an ihm, das Große, das ihm selbst die neunzig Jahre nicht hatten rauben können: Er war meines Schlages, er war Naturfreund, Menschenfreund, Tierfreund, – er hatte jenen Tropfen Abenteurerblut in den Adern, der das Heldische immer wieder in solchen Charakteren an die Oberfläche treiben dürfte.

Er sprach …

„Die große französische Revolution, dieser kläglich gescheiterte Versuch der Umwertung aller Werte, trieb viele französische Familien in die Fremde … Es war kein Zufall, daß sich unter diesen Emigranten gerade die drei Familien befanden, deren Väter 1772 mit dem Kapitän Kerguelen-Trémarec[*1] dieses Nebelland als kühne Forscher entdeckten und als erste durchstreiften. Diese drei Familien – bitter genug ist es, es einzugestehen – hegten heimlichen Haß gegeneinander, denn keiner gönnte der anderen das, was sie nur argwöhnten und was doch seine Richtigkeit hatte. Denn drei Männer der „Garonne“ fanden hier zufällig und unabhängig voneinander dieses damals noch kahle, aber sumpfige und warme Tal, fanden auch in der Nordwand das Loch dort, das ich später verschloß, bemerkten die eigentümliche Form der Flechtenbildung an der Steilwand, also den Baum der Erkenntnis, und kletterten hier in diese Höhlen und verließen sie bleich und schweißtriefend vor Aufregung – – und schwiegen. Sie hatten etwas gesehen, das ihnen den Herzschlag stocken ließ, etwas, das die Habgier in ihnen aufkeimen ließ, – – und sie schwiegen und belauerten einander und wünschten einer dem anderen den Tod. Und doch muß auch das hier gesagt sein: Der erste von den dreien, der sich hier hineinwagte, war ein Christo, ein Monte Christo, damals Quartiermeister auf dem Dreimaster „Garonne“. Erst nach ihm kam Pierre Lavinal, damals Steuermann, später vor ein Volksgericht gestellt und enthauptet. Dritter war mein Ahn, Robert Benoit, Segelmeister des Expeditionsschiffes. – An dieser Reihenfolge ist nicht zu rütteln, und die Gerechtigkeit verlangt, daß wir deinen Bruder, Jeanne Christo, als den wahren Erben der Geheimnisses betrachten …“

Das Mädchen mit dem schwarzen Haar und dem kühnen Gesicht hob etwas den Kopf, senkte ihn jedoch wieder schnell.

Die Wolfskönigin war bescheiden geworden angesichts der weißen Haare dessen, den sie Großvater genannt hatte …

Und Doktor Robert Benoit, Nachkomme des Segelmeisters des Expeditionsschiffes „Garonne“, schien mit noch verstärktem visionären Blick in die fernen Tiefen der Vergangenheit zu schauen und sprach in noch eigenerem Tonfall weiter …

„… Wir werden hier vielleicht verzweifelte Stunden erleben, meine Freunde … Wir werden vielleicht dem Unrecht erliegen, denn das Gute schneidet stets schlecht ab im Kampf gegen das Böse. Deshalb ist es besser, ihr erfahrt sofort das, was ich noch zu sagen habe … Es ist die alte traurige Geschichte von Menschen, denen die Habgier die Sinne verblendete, – – hört zu, – – und lernet daraus! Vor euch liegt vielleicht noch ein langes Leben, in dem euch jede Erfahrung nützen kann …“

 

11. Kapitel.

Das Schicksal dreier Familien.

„… Da droben an der Ostsee an waldreicher Küste Pommerns liegt ein Städtchen an einem kleinen Fluß, – es nennt sich stolz Hafenstadt, es ist nur ein Städtchen, und seine Bewohner leben in der Enge ihres beschränkten Horizonts wie die meisten Menschen, obwohl sie die freie weite Ostsee rauschen hören.

Ein Fischerdorf schmiegt sich dort in der Nähe in einen Buchtwinkel ein, und dieses Städtchen und das Dorf wurde den drei Familien neue Heimat, die aus Frankreich geflüchtet waren, wo ein Napoleon so schnell und gründlich mit dem Hexensabbath der Revolution aufgeräumt hatte.

Ich brauche euch die Familien nicht zu nennen. Ihr kennt sie … Es waren die Erben des Geheimnisses von Kerguelenland. Diese drei Familien mieden einander und hatten einander auch nicht aus den Augen lassen wollen, um stets bereit zu sein, einer dem anderen die Beute wegzuschnappen wie deine hungrigen Wölfe, Jeanne, – – genau so, – – wie Wölfe belauerten sie einander, heuchelten nach außen hin Freundschaft, und waren doch nur einer des anderen Spion … – Die Menschen sind nicht anders, meine Gefährten, – – leider, leider … Sie sind noch heute so, mit wenig Ausnahmen … Wölfe im Schafspelz, das trifft schon zu.

Aber die drei Emigrantenfamilien dort im aufblühenden Preußen und Pommern hatten weder die Geldmittel noch den Unternehmungsgeist noch das Vertrauen zu fremden Geldgebern, um ihr Geheimnis zu verraten. Mit der Zeit verblaßte auch die Wichtigkeit dessen, was unter den Männern als kostbares Rätsel sich weitervererbte. Zweifel stiegen diesem oder jenem auf, und der eintönige Alltag verstärkte diese Zweifel. Die meisten waren Seeleute, Fischer, sie fügten sich ein in den engen Horizont ihrer Umgebung, und Kerguelenland wurde ihnen ein schönes Märchen.

Da geschah es, daß ich, der ich Medizin studiert hatte und ein blutjunger Arzt war, einem der reichsten Männer des Landes durch eine kühne Operation das Leben retten durfte. Er belohnte mich fürstlich, ich war mit einem Schlage reich geworden, ich heiratete eine Jugendliebe, Antoinette Christo, und in aller Stille ließ ich nun durch einen Freund das vorbereiten, was jählings in mir wieder aufgelebt war: Der Wunsch, Kerguelenland und seine Reichtümer mit eigenen Augen zu schauen!

Antoinettes Heirat mit mir zog ihr den Haß ihrer Familie zu, – sie wurde verstoßen, sie galt nicht mehr als eine Christo … Aber wir liebten uns, wir verzogen nach Hamburg, und von dort gingen wir im April des Jahres 1869 mit einem Schoner, der überreich mit allem Nötigen versehen war, und mit acht vertrauenswürdigen deutschen Jan Maaten auf die große Reise, langten hier im August desselben Jahres an und … hatten den Tod an Bord …

Und das kam so … Im indischen Ozean trafen wir ein wrackes Fahrzeug, – die Pest hatte die ganze Besatzung hinweggerafft, nur ein klägliches Gerippe winkte uns hilfeheischend zu.

Es war ein Inder … Und er übertrug trotz all meiner ärztlichen Vorsicht die Krankheit auf uns, und die Pest verschonte auch uns nicht, der Inder starb an Entkräftung, meine Leute starben, mein junges Weib starb …

Ich war der einzige Überlebende.“

Doktor Benoit wandte den Kopf … Er blickte mich an, zu mir sprach er nun:

„Abelsen, – nur Arbeit konnte mich vor dem Wahnsinn retten … nur das! Sie werden das begreifen. Und ich arbeitete … Ich baute Blockhütten, Geheimtore, ich pflanzte den mitgebrachten Samen in die Erde, ich schuf meinem Weibe eine Grabstätte, ich wrackte den Schoner ab, um Holz zu gewinnen, behielt nur das Großboot … – –[2] Und so schuf ich dieses Paradies, seine Bäume, Büsche, seine kleinen Geheimnisse …

Bis der Schmerz um Antoinette gelinder wurde, bis mich doch die Sehnsucht nach den Menschen wieder überkam und ich nach dreijährigem Robinsonleben mit dem Großboot nach Norden steuerte und wieder bewohnte Küste erreichte und in der deutschen Heimatstadt wieder auftauchte – als Arzt, als letzter der Familie Benoit, als vermittelndes Bindeglied zwischen den anderen zwei Emigrantenfamilien, die meine ergrautes Haare anderen Ursachen zuschrieben, denn ich erzählte, meine Antoinette sei in Italien verstorben …

Und wieder gingen die Jahre hin, meine Tätigkeit als Arzt war genau so gesegnet wie die eines wahren Freundes der Lavinals und der Christos, die mich ehrfürchtig „Großvater Benoit“ nannten und mir gern gehorchten …

So schuf ich denn leider einen nur trügerischen Frieden zwischen den letzten Christos und den letzten Lavinals.

Ich hatte längst das biblische Alter überschritten, ich sah zwei Geschwisterpaare heranwachsen, ich hatte weltkluge Augen, und ich merkte, daß Roger Christo die blonde Christa liebte und daß vielleicht auch der kleine Sprühteufel Jeanne an den hünenhaften Uhl Lavinal ihr Herzchen verloren haben durfte.

Ich freute mich dessen …

Aber ich hatte Jeanne unterschätzt, – ja, dich, schwarze Jeanne, gerade dich …

Du warst damals kaum siebzehn, und in einer törichten Stunde hatte Roger dir alles mitgeteilt, was Männergeheimnis bleiben sollte, – – alles über Kerguelenland.

Und da, schwarze Jeanne, half dir dein heller Verstand, zunächst die Frage zu lösen, wo meine Antoinette gestorben sei.

Eines Abends kamst du zu mir, – etwa vier Jahre ist das her …

Du besinnst dich, wie du kamst: Geladen mit dem Übermaß deines Temperaments, das alles in der Verzerrung sah.

„Lügner!“, schriest du mir ins Gesicht, „deine Frau starb nicht in Italien! Ich habe alles ermittelt, du warst auf Kerguelenland, du hast uns bestohlen, uns Christos!!“

Ich wies dich hinaus …

Am anderen Morgen wart ihr beide, Roger und du, verschwunden, hattet alles heimlich verkauft …

Nur du, schwarze Jeanne, hast damals deines Bruders Herz so weit vergiftet, daß er die heimliche Braut, seine Christa, im Stiche ließ und … hierher segelte und … die Schätze suchte!“

Der Greis streckte mahnend die Hand aus …

„Nichts wäscht dich rein von dieser Schuld, nichts …! Ich hatte dich wirklich unterschätzt … Du warst verrufen in der Stadt, deine tollen Streiche empörten die Bürger, schon damals hieltst du dir zwei Wölfe, – Bändigerin wolltest du werden, die Varieteebühne lockte dich, in deinem Kopfe rumorte neben allzuviel Unreifem eine ungeheure Energie, ein wilder Tatendrang, und Roger, dein Bruder, – – ließ sich von dir beschwatzen, beeinflussen, ganz heimlich stahlt ihr euch davon.

Aber ich wußte, wo ihr zu finden wart …

Hier!!

Hier, wo ihr finden wolltet und doch nicht fandet, denn ich hatte dem Baume der Erkenntnis das Kennzeichen genommen, das ihr umsonst suchtet, genau wie den Baum selbst. Ihr dachtet an einen lebenden Baum, – es war nur das Reliefbild eines Baumes aus graugrünen Flechten auf der Steilwand draußen …

Fast vier Jahre habt ihr nun hier gelebt in diesem Tale, das mir seine Schönheiten verdankt, deine Wölfe und Hunde hattest du mitgenommen, sie vermehrten sich, du wurdest Wolfskönigin, und dieses Leben gefiel dir …

… Oder nicht, kleine Jeanne?

Gefiel es dir nicht so ganz?

Fehlte dir etwas?

Fehlte dir vielleicht der Mann, der nun der Gefangene der Meuterer ist?

… Ich will nicht in dich drängen, das sind schließlich Dinge, die du mit dir selber abzumachen hast…

Du brauchst den Kopf nicht so trotzig zurückzuwerfen … Noch ist dein Eisenkopf nicht weich geworden, aber er wird weich werden …

Glaube mir, kleine Jeanne, die ich auf den Knien schaukelte: Er wird!!

– … Kommen wir nun zum vorläufigen Ende.

Vier Jahre fast, – und dann verließen auch Uhl und Christa Lavinal ebenso heimlich unser Städtchen, und da wurde es Zeit für mich …

Ich war reich, ich konnte andere Vorbereitungen treffen, – ich langte kurz nach euch hier an, aber das Schicksal legte mir, der hier Frieden und Glück stiften wollte, noch eine letzte, vielleicht letzte Prüfung auf: Meine Besatzung meuterte, und die Zukunft liegt dunkel, dunkler und drohender vor uns … – – Ich habe nichts mehr zu sagen. Ich bin ein Greis … Ein Jüngerer mag uns helfen, – Sie, Abelsen! Jetzt sprechen Sie …! Jetzt wissen Sie alles bis auf die hier nebensächliche Hauptsache: Was fanden die drei von der „Garonne“ in diesen Höhlen? – Diese Frage zu beantworten, ist jetzt nicht an der Zeit. Wichtigeres haben wir zu tun … Unsere Freunde sind gefangen, wir selbst eingesperrt … Gewiß, wir haben hier Wasser, Lebensmittel, – aber soll denn das Unrecht, das Schlechte, wieder einmal über das Gute siegen?! – – Abelsen, befehlen Sie, was geschehen soll … Ich vertraue Ihnen …“

Das war ja an sich sehr ehrenvoll für mich, aber wenn es schon nicht ganz leicht gewesen, den durch die Erzählung des alten Arztes hervorgerufenen, sehr wechselvollen Stimmungen sich immer sofort innerlich anzupassen, umso schwerer wurde es mir, mich von diesen Stimmungen überhaupt sofort freizumachen und mich sprungartig in die recht brutale Wirklichkeit zurückzuversetzen.

Letzten Endes ist alles möglich, – und ich fand dazu das allereinfachste Mittel, ich schaute wieder durch das obere Loch der Lukentür in das Tal hinab, und was ich dort sah, war mir beste Medizin gegen das geringe Maß von Sentimentalität, das vielleicht in dieser Schilderung der Schicksale der drei Emigrantenfamilien gelegen hatte.

Auf dem Hauptwege trieben sich da breitspurig und anmaßend und sichtlich nicht mehr ganz nüchtern ein paar Kerle herum, die rein aus Übermut und Siegerfrechheit mit ihren Büchsen jetzt in die ruhelosen Taubenschwärme hineinknallten, freilich, ohne viel Schaden anzurichten.

Arm in Arm wankten dort auch drei Weiße dahin, gröhlten wüste Spelunkenlieder und ließen eine dickbauchige Flasche von Hand zu Hand gehen, deren Inhalt unserem braven Pieter Klaaß sicherlich besser bekommen wäre … Denn ich konnte mir beim besten Willen nicht recht vorstellen, daß Pieter jemals wirklich betrunken gemacht werden konnte.

Die drei Gentlemen dort waren so etwa hundertfünfzig Meter entfernt und ahnten kaum, daß hier oben zumindest eine Büchse vorhanden, die ihnen den Spaß etwas versalzen könnte.

Auf meine alte Sniders konnte ich mich verlassen, und es mußte doch ein kapitaler Witz werden, die Burschen etwas in Galopp zu setzen.

Anlegen, zielen, feuern war so ziemlich eins … Der mittlere der drei hatte gerade die Buddel ansetzen wollen …

Schade, – das wurde nichts, – die Flasche zersplitterte, die Kugel schien auch die Backzähne des dritten etwas ramponiert zu haben, und nun begann ein allgemeines Wettrennen nach den Blockhäusern, dem ebenfalls die erheiternden Momente nicht fehlten … Es gab da verschiedene Stürze, verschiedene Raufereien um den vordersten Platz, – – und dann knallte es unter uns aus den Tannen hervor, – – unsere Wächter meldeten sich, aber ihre Patronen waren entweder miserabel, oder die Kerle mußten erst noch mal in die Schießschule gehen.

Jedenfalls war mit alledem eins erreicht: Wir vier hier oben hatten all das abgeschüttelt, was wir in unserer Lage nicht brauchen konnten, und auch ich war mir nun einig darüber, wie ich Doktor Benoits Vertrauen voll rechtfertigen könnte.

„Pieter Klaaß, Sie bleiben hier als Wache zurück … Ich schicke Ihnen nachher Fräulein Jeanne mit Verbandzeug für Ihren Nasenrest oder Sie kommen selbst … – Wiedersehen, Pieter … Hier haben Sie eine meiner Pistolen … Abdrücken, das werden Sie wohl verstehen … Die Kerle werden im übrigen nichts unternehmen.“

Pieter war so weit einverstanden.

Nur …

„Herr Doktor, haben Sie vielleicht unter Ihren Vorräten ein Fläschchen Rum oder ähnliches? Nur einen Schluck – einen halben Liter etwa –, gegen das Wundfieber…“

Der Greis lächelte nachsichtig. „Ich kenne Sie ja, Pieter … Gut, ein Viertel Liter … Und verbinden werde ich Sie selbst nachher …“

Pieter strahlte, so weit er noch strahlen konnte, und der Doktor schritt uns voran durch den Stollen in den Felsendom.

Auch Jeanne Christo hielt eine Fackel in der Hand, und plötzlich stand sie vor dem merkwürdigen, mit dem Mantel bedeckten Sarge und blickte den Greis ängstlich-erwartungsvoll an.

Benoit hob die Hand und zog den Mantel weg …

„Jeanne, dies ist deines Großvaters, deines leiblichen Großvaters jüngste Schwester … meine verstorbene Antoinette …“

Er hatte das ganz leise, ganz andächtig gesprochen, hatte in Tonfall und milder Geste auf die Tote in nichts übertrieben, und doch konnte die Wirkung nicht ausbleiben, da das Bild der jugendfrischen Frau im Glassarge zu packend und zu erschütternd auf Unbeteiligte war.

Jeanne Christo stand einen Moment regungslos, nur ihre Augen wurden immer größer, starrer. Dann wankte sie, als wollte sie zusammenbrechen, – doch in diesem Mädel lebte zu viel urwüchsige Kraft, sie glitt nur neben dem Sarge in die Knie und lehnte die Stirn gegen das kühle Glas, stützte die Hände auf einen der Postamentsteine und begann leise zu weinen.

Die schluchzenden Töne blieben minutenlang das einzige Geräusch in diesem weltabgeschiedenen Grabe. Dann richtete die schwarze Jeanne sich wieder auf, wandte sich zögernd dem Greise zu und umschlang ihn plötzlich mit beiden Armen und weinte noch bitterlicher …

Doktor Benoit blickte still auf sie herab, legte ihr nur die Hand auf die dunklen Flechten und fragte nur:

„Geheilt, kleine Jeanne?“

Und jetzt bewies sie – und das war ihrer wahren Natur würdig! – den großen, ehrlichen, stolzen Zug ihres Charakters.

Sie antwortete ganz klar und laut, ohne Scheu vor meiner Gegenwart:

„Ich schäme mich, Großvater … Du warst mir gegenüber stets die Güte selbst … Ja, ich bin geheilt, – verzeihe mir!“

Robert Benoit lächelte glücklich.

„Dann, mein Kind, dann ist meine Reise hierher doch nicht ganz umsonst gewesen … – Komme nun, – – ich bin müde, und Pieter Klaaß muß erst noch kunstgerecht verbunden werden, bevor ich mich ausruhen kann …“

Auch er verstand es, unzeitgemäße Weichheit rechtzeitig in ein kräftigeres Strombett abzulenken …

Er führte uns durch einen nordwärts verlaufenden Stollen in eine kleinere, mit allerlei Kisten und Fässern angefüllte Höhle.

Hier standen auch Tische und Bänke und Betten, sogar ein eiserner Kochofen war vorhanden, ebenso eine große Petroleumhängelampe.

Von diesem Vorrats- und Wohnraum ging ein zweiter gekrümmter Stollen steil abwärts zu der Steinpforte, die der Doktor auch von innen genügend gesichert hatte. Durch eine Ritze blickte ich hinaus ins Freie in ein schmales Tal …

Mitten in einem Gestrüpp von Kerguelenkohl lagerten sechs Farbige um ein Feuer, über dem ein Kessel hing. Die Leute waren tadellos bewaffnet, und da sie das Tor von außen verrammelt hatten, war uns dieser Weg tatsächlich versperrt.

Nun – es gab ja noch die halb eingeschlagene Luke an der anderen Seite, wo Pieter jetzt wachte!

Und es gab da die hohen, dichten Tannen …

Und wenn erst der Nebel alles wieder zudeckte, sollte Sennor Arturio Pedesta, bislang Meutererchef, sein blaues Wunder erleben!!

 

12. Kapitel.

Die Wolfskönigin ruft ihr Heer …

Pieter mit seiner fein verbundenen und vernähten Nase saß mir gegenüber am Tische. Doktor Benoit schlief dort in der entferntesten Ecke auf einem der Holzbetten, Jeanne wieder hatte Freund Pieter als Wache abgelöst.

Unsere Mahlzeit bestand aus steinhart gewordenem Schiffszwieback und muffigem Tee, – das heißt, in Pieters Becher war nur eine schwache Andeutung von Tee, der Rest war Rum, und Pieter war selig.

Wir berieten leise. Der alte Jan Maat, Cowboy, Peon und Schafhirt war ja nicht dumm. Er war sogar als Helfer am brauchbarsten. Jeanne Christo schlich mit allzu bedrücktem Gesicht umher. Nun, auch wir hatten unsere Sorgen, und was mich am meisten beunruhigte, war der eine Umstand, daß Arturio Pedesta so gar keinen Versuch gemacht hatte, mit uns zu unterhandeln. Er mußte doch wissen, daß die Reichtümer hier irgendwo in unserer Höhle lagerten.

Inzwischen war es längst wieder Nacht geworden, längst bedeckte der dicke Nebel Täler und Berge, und unsere Wächter hatten unten bei den Tannen vor unserem einzigen Schlupfloch ein Höllenfeuer angezündet, so daß die Flammen fast bis zu unserer Luke emporleckten.

„Die Aussichten stehen faul, Abelsen“, meinte Pieter ungewöhnlich ernst. „Ich hoffe ja, ich hoffe sogar sehr stark, daß wir die Kerle doch noch windelweich klopfen, – – aber – – wie?! Das verdammte Riesenfeuer beleuchtet trotz des Nebels die Luke, und die vier Wächter unten sind nüchtern und passen höllisch auf … Alles in allem faul, oberfaul …“

Da hatte er ja so weit ganz recht …

Das Riesenfeuer verdarb mir meinen ursprünglichen Plan. Ich hatte geglaubt, aus der Luke in die Tannen springen zu können, und … –, jedenfalls, so ging das nicht.

Mein Blick streifte die Felswand unweit des Tisches. Da hingen sechs Gewehre, wie sie um das Jahr 1860 modern gewesen, sogenannte Perkussionsbüchsen, also Dinger mit Zündhütchen, – Vorderlader.

Und mein Blick glitt nachdenklich weiter zu einem Fäßchen Schießpulver, auf dem eine Schachtel Zündhütchen stand, in Öltuch verpackt.

… Ich hatte vorhin eine Stunde geschlafen, ich war leidlich frisch, der Tee war sehr stark, und alle Lebensgeister wurden in mir wieder lebendig. Diesem Pedesta eins auszuwischen und unsere Freunde zu befreien, war schon ein Wagnis und eine kühne List wert.

„Pieter!!“

Er hatte sich gerade wieder den Becher gefüllt, nicht mit Tee. Wundfiebergefahr bestand nicht, – gegen reinen Rum kommt kein Fieber auf.

„Na – und, Abelsen?!“

„Pieter, nehmen Sie mal die sechs Donnerbüchsen dort von der Wand in den Felsendom hinüber, aber leise … Der Doktor soll schlafen.“

„Gemacht!! Und wozu?!“

„Werden Sie sehen, alter Freund …“

Ich schleppte mich mit dem Fäßchen Pulver und den Zündhütchen … Sie konnten ja durch langes Lagern verdorben sein.

Sie waren nicht verdorben, und auch das Häuflein Pulver, das ich probeweise anbrannte, puffte tadellos hoch.

Pieter, in der Linken eine qualmende Tabakpfeife, in der rechten eine verdächtige Buddel, grinste verständnislos.

„Was soll das, Abelsen?“

„Abwarten! – Löschen Sie gefälligst Ihre Piep aus!! Das Pulverfäßchen ist offen!“

„Halb so grob, – schon gemacht! … Bin verflucht neugierig …“

Ich lud die sechs Vorderlader, lud sie aber bis zum Rande des Laufes mit Pulver und setzte oben keine Kugel auf, sondern hämmerte Steinchen hinein …

Pieter begriff plötzlich …

„Donnerwetter, ein glorreicher Gedanke! Ich helfe …!!“

Und mit diesen sechs Vorderladern, deren Läufe unweigerlich springen mußten, gingen wir an dem wieder bedeckten Sarge vorüber zu Jeanne Christo.

Jeanne saß seitwärts von der Luke, die Büchse lag ihr im Schoße, eine brennende Laterne stand halb hinter einem Felsblock.

Sie hob nur etwas den Kopf …

„Meine Wache ist doch noch nicht vorüber, Herr Abelsen …“

„Nein, aber es ist elf Uhr, und es wird Zeit, etwas zu unternehmen …“

Ich drückte mich an die Felswand und schaue durch das Lukenloch hinaus.

Die Kerle unten hatten das Feuer noch vergrößert … Die Flammenspitzen zuckten durch den Nebel wie die Stichflammen eines Dachbrandes mit starker Rauchentwicklung.

Um festzustellen, wo die vier Wächter steckten, mußte ich die Luke aufschwingen.

„Pieter – – helfen!!“

Die Bimssteinplatte schwang nach außen, – ich gab Jeanne einen Wink, und ich schob mich mit dem Oberkörper hinaus.

Erst nach eifrigem Hinabspähen bemerkte ich links vier verschwommene Schatten, die auch nur zeitweise sichtbar wurden, wenn die durch die Hitze entstehende Zugluft den Nebel etwas auseinanderwirbelte.

Der Oberheizer, neben mir kauernd, flüsterte begierig:

„Haben Sie sie?“

„Ja … – Her mit den Donnerbüchsen! Spannen Sie die Hähne … Beim Aufschlagen unten werden die Schüsse von selbst losgehen …!“

Pieter reichte mir das erste Gewehr, das zweite …

Ich erhob mich halb, ich hatte meine Sniders umgehängt, hatte Pieter auch genaue Instruktionen erteilt. Monte mußte zurückbleiben, – seine Last auf dem Rücken hätte mich zu sehr behindert.

Als ich in jeder Hand zwei der gefährlichen Vorderlader hielt, wartete ich auf den günstigsten Augenblick zum Werfen …

Jetzt …

Jetzt erblickte ich die vier verschwommenen Gestalten …

Ich warf …

Alle vier …

Wartete den Erfolg gar nicht ab, sondern schnellte mich in die Tannenkronen hinein …

Den Stamm konnte ich nicht erwischen, dazu war die Entfernung zu groß …

Aber einen Ast packte ich, und Tannenäste sind elastisch, ich sauste in die Tiefe, – – unter mir krachte es – drei Explosionen, – nun sollte Pieter die letzten beiden Vorderlader schleudern, damit das Geräusch meines halben Sturzes und das Brechen der Zweige übertönt würden.

Es klappte …

Wieder zwei Explosionen, dazu wilde Schreie, – – ganz ohne Verletzungen waren die Wächter kaum davongekommen …

Die Hauptsache: Ich turnte bereits am Stamme entlang von Ast zu Ast, ich konnte nicht bemerkt werden, und …

… Ich prallte mit dem Kopf zur Seite, – etwas Heißes glitt mir über die Wange, – es konnte nur ein Eisenstück der zuletzt zerplatzten Läufe sein, das von der Felswand abgeprallt war.

Was tat es … Ich war bereits dem Boden nahe, aber auch der Leuchtkraft des Scheiterhaufens, – ich tat einen Sprung zur Seite, warf mich nieder, kroch sofort weiter, blieb liegen und horchte.

Außer dem Knallen der Scheite des Feuers vernahm ich nur Wimmern, Stöhnen, halblaute Flüche …

Ich erhob mich, – ich mußte jetzt im Nebel durch den Moraststreifen am Fuße des Hügels, aber ich hatte mich vorher bei Tageslicht genau darüber orientiert, wo offene Wasserlachen zu sehen waren.

Ich kam hindurch, – ich sank einige Male bis zu den Knien ein, – – ich gewann festen Boden und lief im flotten Trab dorthin, wo sich die Pferdefenz befand, in der vier stramme Gäule weideten.

Diesmal hatte ich keinen Monte bei mir, diesmal mußte ich mich selbst zurechtfinden, und der Ortssinn und Richtungssinn des alten Weltenwanderers bewährte sich wieder, ich rannte gegen die Umzäunung, prallte zurück, schwang mich hinüber und suchte die Pferde …

Ich brauchte sie …

Auch sie gehörten zu dem Plane, der bis ins einzelne durchdacht war. Ich hatte Pieters lange Leine bei mir, zehn Minuten verstrichen, dann erst hatte ich die Pferde eingefangen und aneinandergekoppelt, öffnete den Verschlußbalken der Fenz, alles im dicksten Nebel, und gerade da hörte ich von der Siedlung her das Brüllen und Schreien der alarmierten Meuterer, gerade da rückten sie heran mit Fackeln, Laternen, eng zusammengedrängt auf dem Wege, die meisten noch schlaftrunken oder betrunken, – – verschwommene Lichter kamen näher, sollten näherkommen, und ich, tief geduckt auf dem einen ungesattelten Gaul, lauerte den Augenblick ab, und dann schlug ich unbarmherzig mit einem Aststück auf die Tiere ein, ritt mitten in die lärmende Horde hinein, überritt die meisten, war im Nu im Nebel verschwunden, ließ die drei anderen Pferde frei, hetzte weiter, den Blockhütten zu, auch jetzt mich nur auf meinen Richtungssinn verlassend …

Freilich, der Pferdeinstinkt half mir, der Gaul bog rechtzeitig Hindernissen aus, – – und mit einem Male glotzte mir da durch das graue Gebräu der Wassertropfen ein heller, weißer Kreis entgegen, – es konnte nur ein Scheinwerfer sein, ein großer Karbidscheinwerfer, – – und solch ein Ding hatten die Kerle nachmittags vor dem großen Blockhause aufgestellt …

War es der tolle Ritt, war es der Gedanke an den grausam gefolterten Kapitän Villamoor?, – jedenfalls, als mich nun eine Stimme anrief, als ich vier Gestalten erkannte, feuerte ich fast automatisch, feuerte das Magazin der zweiten Pistole leer, sprang hinab und drängte mich in den Hauseingang hinein …

Hinter mir Schreie, Fluchen, Stöhnen …

Hexensabbath …

Im Nebel …

Das Pferd hatte den Scheinwerfer umgerissen, – alles kam nun darauf an, daß ich noch rechtzeitig die Gefangenen fand …

Hier im Hausflur stand eine brennende Laterne, – Jeanne Christo hatte mir die Lage der Keller genau beschrieben, ich lief weiter, nahm die Laterne mit, fand die Kellertür, eilte weiter – – trotzdem, – denn ich brauchte eine Brechstange, neben der Küche sollte die Werkstatt liegen …, – und stoppte jäh, – – vor mir hatte sich eine Tür geöffnet, vor mir stand Arturio Pedesta, der Mischling, der aufrührerische Steward der Jacht, ein großer schlanker Kerl mit einem geradezu infam-intelligenten Gesicht, alles in allem eine imponierende Erscheinung …

Und ich – ich hatte nur leere Pistolen im Gürtel, hatte die Büchse noch übergehängt …

Und er, – – frech lächelnd hob er seinen Arm, – in der linken hielt er eine brennende Tischlampe.

Seine Pistolenmündung war keinen Meter von meiner Stirn entfernt, sein Lächeln war Mord, sein Augenzwinkern war Mord …

„Ah – – wohl der Abelsen, – – siehe da!“

So begrüßte er mich …

Der Tod stand vor mir, in Greifweite …

Ich wußte, die geringste Bewegung von mir, – er drückte ab …

Zeit gewinnen – – Zeit gewinnen …

Irgendwie …

Nur Zeit gewinnen!!

Sollte ich mich hier von diesem Schurken niederknallen lassen, sollte das der Abschluß meines Lebens werden?!

Und da … – hinter Pedesta gähnte die Dunkelheit eines Zimmers – da erschien hinter dem Mischling eine leichenblasse Männergestalt im langen Hemd … mit nackten Füßen, verbundenem Kopfe: Kapitän Villamoor!

Lautlos schlich er näher, etwas unsicheren Ganges …

Und dann … sprang er zu, – er, ein Hüne wie Uhl Lavinal, – er, ein ganzer Kerl …

Packte zu, umklammerte Pedestas Hals – – der Mischling hob den Arm, feuerte nach hinten, – – feuerte nochmals, – – dann traf ihn mein Büchsenkolben, und über den Betäubten stürzte der sterbende Villamoor, dem beide Schüsse den Hals zerfetzt hatten.

Villamoor lächelte, – – lächelnd starb er, – in Pedestas Taschen fand ich die Schlüssel, fand im Keller die Geschwister Lavinal und Roger Christo, alle drei gefesselt … –

Hexensabbath …

Er begann erst …

Ich schnitt die drei los, ich rief Christa das Nötige zu, wir stürmten nach oben, Christo trug seine Christa, und durch den Hinterausgang ging es wieder in den Nebel hinein, – wir packten uns bei den Händen, wir durften nur Atem schöpfen, im Schritt führte uns der Erbe von Monte Christo zu den Wolfshunden, zu dem großen Tannenrund, in dessen Mitte die Käfige und mitten in dem Kreis der Käfige die künstlichen Steinhöhlen lagen, die Winterwohnungen für die Wolfsbrut.

Szenen wie die, die ich soeben durchlebt hatte, schmelzen in der Erinnerung zusammen zu einem einzigen seelischen Eindruck:

Hexensabbath!

Das, was ich getan, seit ich aus der Luke der Felswand in die Tannen sprang, bis zu dem Augenblick, wo Roger Christo uns auf schmalem Bretterpfad oben auf die große künstliche Felsgruppe geleitete, wo die Wölfe, Wolfsbastarde und Hunde hausten, wurde beendet durch die vier Signalschüsse, die ich nun für Jeanne Christo in die Luft feuerte.

Vier Schüsse …

Und hier vier Menschen im Nebel über den stinkenden Wolfsbehausungen … Vier Menschen warten … warten …

Worauf?!

Da dringt es auch schon durch den Nebel – das ferne Signal der Wolfskönigin, genau so, wie ich es damals hörte, als ich der Gehetzte war …

Eine Sirene, kaum handlang, – eine Art Trompete, die einen schauerlichen Ton gibt …

Ich kenne ihn …

Die Wolfskönigin ruft ihr Heer …

Und unter uns in den Boxen wird es lebendig.

Knurrend, bellend, winselnd drängen sich die Bestien vorwärts …

Wieder ertönt das Signal … noch lauter …

Das Rudel heult auf …

Und Roger Christo sagt: „Jetzt öffne ich die Tür! Gnade ihnen Gott, – – da, Jeanne lockt ihre Getreuen zum Kampfe …!“

Unter uns wird das Heulen zu einem wütenden schrillen Winseln …

Dann haben sie freie Bahn, – sie jagen davon, ein Heer von Dämonen … in den Nebel hinein, und noch immer ruft das Signal, stachelt die Bestien zu noch tollerer Wut an …

„Gnade ihnen Gott!“, sagt Roger Christo nochmals …

Wir stehen und horchen …

Der Lärm der davonjagenden Tiere verklingt.

Wir stehen und horchen und halten den Atem an …

Fiebern, – – malen uns aus, was sich dort im Nebel abspielen wird …

… Ein Schuß fällt …

Ein Schrei schrillt …

– – Auch ich habe mir damals die Finger in die Ohren gestopft …

Es war besser so …

 

13. Kapitel.

Arturio Pedestas letzter Wunsch.

Die Geschichte vom Paradiese, vom Baume der Erkenntnis, von dem verhängnisvollen Apfel, der gepflückt wurde, und von dem Engel mit dem feurigen Schwerte vor der Pforte des Paradieses feierte morgens, als die Nebel wieder wichen, ihre stark umgeformte Auferstehung.

Wir hatten die Nacht im großen Blockhause verbracht, und nach Doktor Benoit, Jeanne und Pieter konnten wir uns erst nach Tagesanbruch umsehen, wir wußten sie ja gut geborgen droben in den Höhlen.

Eins nur hatte uns bedenklich gestimmt: Pedesta, den ich nur mit dem Büchsenkolben niedergeschlagen hatte, lag nicht mehr im hinteren Flur, er war entwichen, nur der tote Villamoor lag noch dort, und ihn bahrten wir auf, bevor wir den Rest der Nacht wachend und horchend und abwehrbereit zubrachten. Es erfolgte jedoch keinerlei Angriff, kein Schuß fiel mehr, im Tale blieb es still, nur die Wölfe heulten zuweilen in der Ferne.

Und dann wurde es hell. Ein kräftigerer Morgenwind als der gestrige machte mit den Nebelgespenstern kurzen Prozeß, die Sonne brach in breiten Bahnen durch die Schwaden, und als der Talboden von dem grauen Dunst befreit war, erblickten wir als ersten unseren dackelbeinigen Pieter Klaaß bei der paradiesischen Beschäftigung des Äpfelpflückens. Unweit von ihm stand Jeanne Christo mit ihrer Meute.

Nun, die Äpfel, die Pieter von den Bäumen lediglich durch freundliche Aufforderungen und zarte Winke mit einigen treffsicher geschleuderten Steinen herunterholte – letzteres nur bei besonders hartnäckigen Früchtchen –, waren recht ausgewachsene Äpfel, waren eben die in die Baumkronen geflüchteten Meuterer, die in wilder Panik ihre Gewehre weggeworfen und nach dem Motto gehandelt hatten: Rette sich, wer kann!

Pieter schien diese Tätigkeit einen diebischen Spaß zu machen, und als wir erst näher heranwaren, erlebten wir so einige kleine Szenen mit, die uns trotz aller Übermüdung ein Lächeln entlockten …

Uns …

Das heißt: Uhl Lavinal und mir, denn das Brautpaar Roger und Christa hatten es vorgezogen, im großen Wohnhause zu bleiben …

Verständlich, – – sie wollten allein sein.

Wie gesagt, Pieter Klaaß war bei Laune und in Fahrt. Mit seinem Nasenverband hätte er leicht komisch wirken können, aber weniger komisch waren die Steinklamotten, mit denen er die etwas widerspenstigen Äpfel bedachte …

Daß er sich zuweilen sogar zu ein paar Takten Gesang verstieg, erhöhte nur das angenehm Mildernde seiner Beschäftigung, die uns bewies, daß die Kerle durch die Wölfe weit geringere Verluste erlitten hatten, als wir zunächst angenommen hatten.

Jeder, der auf Pieters freundliche Aufforderung: „Komme herab, Madonna Theresa, und sieh, wie schön ist ein Strick …“ herabkraxelte, wurde sofort gefesselt, und da wir dabei nun halfen, hatten wir in einer knappen halben Stunde dieses Äpfellager vorerst komplett: Neunzehn Leute, die natürlich hoch und heilig beteuerten, nie wieder meutern zu wollen. – Worauf wir nicht viel gaben, denn hinterher sind reumütige Worte sehr billig.

Etwas peinlich gestaltete sich für uns Beteiligte das Wiedersehen zwischen Jeanne und Uhl Lavinal.

Freund Uhl, der von mir bereits erfahren, daß das wilde schwarze Kätzchen alle Krallen verloren hatte, näherte sich Jeanne etwas zögernd, und sie selbst, die schwer an ihrem Schuldbewußtsein trug, mochte aus plötzlicher Furcht vor einer Aussprache mit dem alten Jugendbekannten unbewußt eine Haltung und eine Miene annehmen, die den hünenhaften blonden Mann zurückscheuchten.

Jeanne, umgeben von etwa sechzig ihrer vierbeinigen Garde, wandte sich nun gleichfalls ab, pfiff ihrer Meute und begab sich auf die Terrasse.

Achselzuckend schritt auch Uhl allein der Siedlung zu.

Die Geschichte war jedenfalls gründlich verfahren …

Pieter Klaaß, in der Tasche links eine Rumflasche, die den zerfetzten Sweater völlig außer Fasson brachte, hatte für so zarte Begleitumstände keinerlei Verständnis.

„Abelsen, wohin mit den neunzehn Kerlen?“, fragte er erschreckend sachlich. „Sollen wir sie gleich aufhängen? Das erspart uns allerhand Scherereien …“

„In die Keller, Pieter! – Ich will mal nach Doktor Benoit und Monte mich umtun …“

Pieter ordnete seine Sträflinge, nahm ihnen die Fußfesseln ab, kommandierte „Vorwärts marsch!“, und der Zug der friedlichen Lämmlein samt seinem Hirten entfernte sich.

Ich schritt im Sonnenlicht den Hauptweg weiter hinab. Ich sah so allerlei, was nicht gerade schön, anderes, was recht interessant war. Einige der Meuterer, die von den Wölfen noch erwischt worden waren, brauchten kaum mehr ein Begräbnis. Dafür freute ich mich umso mehr, daß das tolle Rudel sowohl die Pferde wie die Schafe und die Milchziegen verschont hatte.

Ich watete durch den Sumpf zu dem Steinhügel, zu unseren Tannen, und als ich nun gellend nach Monte pfiff und als oben im Loche des Baumes der Erkenntnis sich nichts Lebendes zeigte, packte mich doch die Unruhe …

Pedesta war nicht gefunden worden, und Arturio Pedesta war der gefährlichste, hatte außerdem noch die sechs außerhalb des Tales postierten schwer bewaffneten Farbigen zur Verfügung.

Die beiden Leitern, die Jeanne gestern benutzt hatte, lagen noch zwischen den Tannen. Die eine war halb verbrannt, die andere noch brauchbar, – ich lehnte sie an die Felswand und stieg vorsichtig empor.

Irgend etwas stimmte da oben in den Höhlen nicht. Gewiß, Doktor Benoit und Monte hatten sich bei Tagesanbruch, als Pieter und Jeanne die Grotten durch kühnen Sprung in die Baumkrone verlassen hatten, nach Pieters Angaben des besten Wohlergehens erfreut …

Aber jetzt?!

Meine Sorge wuchs mit jeder Sekunde …

Oben auf der Leiter vor dem Einsteigen in die Luke warf ich einen Blick auf die Terrasse. Die Wölfe hatten sich niedergetan, aber ihre Königin fehlte … – Wo war Jeanne geblieben?! Sollte uns dieser Pedesta noch in letzter Minute einen üblen Streich spielen wollen oder schon gespielt haben?!

… Ich zauderte …

Ich blickte nach links … Von den Blockhütten näherten sich jetzt Uhl, Christa und Roger Christo, diese beiden Arm in Arm. Sie gingen sehr schnell, vielleicht hatten sie auch Jeannes Verschwinden bemerkt.

Ich durfte nicht warten …

Wußte ich, ob es hier nicht irgendwie um Sekunden ginge?!

… Das große Geheimnis von Kerguelenland war jetzt jedenfalls völlig in den Hintergrund getreten. Wir hatten andere Sorgen gehabt, und im übrigen waren wir uns auch darüber klar, daß die „unermeßlichen Reichtümer“, von denen drei Familien geblendet worden, sicherlich bei näherem Zusehen ziemlich wertlos sein dürften. Einige Andeutungen Doktor Benoits, der doch als Einziger das Geheimnis wirklich kannte, hatten nicht sehr verheißungsvoll geklungen.

Ich schwang mich in die offene Luke hinein, richtete mich auf und horchte.

Rechts von mir standen zwei brennende alte Schiffslaternen.

Ich hörte nichts …

Nur das ferne Rauschen des unterirdischen Flusses, der einen Teil des Domes, der Grabkapelle, durchströmte und um den ich mich bisher nicht viel gekümmert hatte.

Die Stille war beängstigend, bedrückend …

Die Stille war wie ein lautlos schleichendes Raubtier, das jeden Augenblick zuspringen konnte.

Ich nahm die eine Laterne, bedeckte sie mit meiner Lederjacke und drang leise in den Stollen ein. Ich hütete mich, das geringste Geräusch zu machen, ich ahnte setzt mit aller Gewißheit, daß hier inzwischen Arturio Pedesta einen letzten Versuch gewagt hatte, doch noch Sieger zu bleiben. Geldgier, Goldgier mochten ihn angefeuert haben, – jeder andere wäre geflohen, er nicht, und das entsprach seinem Charakter, der Mann war nicht zu unterschätzen, der vertrat hier das Prinzip des Schlechten, Bösen, und für ihn gab es keine moralischen Hemmungen.

Da der körnige Steinboden unter meinen Stiefeln zu sehr knirschte, zog ich die Stiefel aus und hängte sie über die linke Achsel …

Über die linke … Den rechten Arm mußte ich frei haben zum Schießen, die Büchse hatte ich entsichert, die Laterne vor die Brust gebunden und bedeckt. Ich war nur in Weste und Wollhemd, – die Abspannung und Müdigkeit waren verflogen, – – Feuer rann mir durch die Adern, jenes Feuer der drohenden Gefahr, aber mein Kopf war kühl und klar und meine Sinne schärfer denn je …

Auf Strümpfen kam ich schneller und lautloser vorwärts … Ich tastete mich an der linken Wand entlang, mein Lederrock ließ keinen Lichtschimmer der Laterne durch, um mich her war schwärzeste Finsternis, – ich war daran gewöhnt, das Dunkel schreckte mich nicht.

Fünfzehn Meter hatte ich etwa hinter mir, als ich etwas vernahm, das all meine Befürchtungen bestätigte.

Wispern, Flüstern, gedämpfte asiatische Kehllaute …!

Ich wußte Bescheid: Da dicht vor mir lauerten ein paar Farbige! – Also doch, – Pedesta hatte die sechs Wächter herbeigeholt, Pedesta steckte hier irgendwo, – – das Weitere mochte ich mir gar nicht auszudenken: Monte vielleicht tot, der greise Doktor vielleicht in der Gewalt dieses Schurken, der ihn martern würde, um das große Geheimnis zu erfahren!

Ich stand still …

Das Wispern und Tuscheln blieb …

Es mochten drei Kerle sein, die uns hier auflauerten und uns abknallen wollten.

Was tun …?!

Ich mußte an ihnen vorüber …

Sie waren erregt, sie flüsterten, schnatterten. Sie schienen da rechts in einer der Einbuchtungen des Stollens zu stecken.

Schritt für Schritt wagte ich mich weiter …

Behutsamer denn je …

Nun hörte ich das Zischeln rechts von mir, nun war ich vorüber, kam an eine Biegung, durfte eiliger dahinschreiten.

So gelangte ich in den Grottendom …

Machte wieder halt …

Vier Laternen brannten hier, alle vier standen auf dem entblößten Sargdeckel, und die Glaswände verstärkten den Lichtschein und ließen mich jede Einzelheit unterscheiden.

Vor dem Sarge lag Monte …

Regungslos, – – wohl tot …

Neben dem Sarge stand der Doktor, vor ihm Pedesta.

Des Mischling-Stewards scharfe Stimme schlug mir entgegen …

„So, – – Sie weigern sich!! Nun, ich habe keine Zeit mehr, alter Mann …! Ihre Weigerung ist kindisch. Ich werde Sie zwingen, – ich weiß, was Ihnen diese schöne Mumie Ihrer Gattin bedeutet … So wahr man mich Pedesta, den Teufel, nennt: Ich erschieße Sie, ich werde die Mumie in Stücke hauen, ich tue es, – – entscheiden Sie sich!!“

Doktor Robert Benoit blieb völlig ruhig.

Mit eisigster Verachtung sagte er nur: „Sie sind nicht der einzige Narr, der sich das Hirn umnebeln ließ durch lächerliche Gerüchte!“

Pedesta hob langsam den Arm …

„Der Narr sind Sie! Gut, – – dann sterben Sie eben, dann wird …“

Er schwieg jäh …

Monte hatte sich gerührt, hatte sich aufzurichten versucht, fiel wieder zurück.

Pedesta blickte hin …

„Ah, – – das Vieh lebt noch!!“

Meine Zeit war gekommen …

„Pedesta, – – Arme hoch!!“

Er fuhr herum, er feuerte, – ich erhielt einen Schlag gegen die linke Brust, die Kugel hätte mir das Herz durchbohrt, aber sie schlug nur den einen Stiefelabsatz ein … –

Ich drückte ab … Und ich traf … Pedestas Pistole flog davon, mein zweiter Schuß lähmte ihm die rechte Schulter, er taumelte, – – und mit einer Handbewegung, die beinahe feierlich war, hob Doktor Benoit die Waffe auf und hielt den Burschen in Schach, so daß ich ihm die Hände binden konnte.

Kaum fertig damit, stürmten aus dem Stollen die drei Farbigen hervor, warfen ihre Büchsen weg und stellten sich mit hochgereckten Armen vor uns auf. Ein kleiner Bursche rief flehend und zitternd, – es war Kituri, Pedestas Adjutant:

„Tuwan Benoit, wir ergeben uns … Wir haben genug von alledem …“

Genug, – ja, weil jetzt auch Uhl, Roger und Christa erschienen, weil sie ihre Sache verloren gaben …!

Roger stürzte auf den Greis zu, umarmte ihn, und wir anderen zogen uns diskret zurück. Was die beiden Männer miteinander zu besprechen hatten, waren ihre eigenen Angelegenheiten.

Freund Uhl winkte mich bei Seite.

„Olaf, wo ist Jeanne? – Jeanne wird doch nicht etwa Torheiten begehen? – Ich will mich nach ihr umtun … Ihre Wölfe fürchte ich nicht, die Bestien sind satt und faul … Ich muß weg, Jeanne suchen … ich finde sie schon … Bleibt nur hier …“ –

Armer Freund Uhl, – als er nach drei Stunden zurückkehrte, trug er eine sehr bleiche, sehr nasse, sehr zerknirschte Jeanne in den Armen … Das schwarze Mädel hatte wahrhaftig ein Ende machen wollen, hatte wohl geglaubt, Uhls Liebe verloren zu haben, und wenn nicht das Wolfsrudel Uhl suchen geholfen hätte, würden sie die kleine Törin nie entdeckt haben …

Ins Meer war sie hinausgeschwommen, mitten in die Brandung, auf einer Klippe hatte sie gesessen, und Uhl Lavinal hatte sie dann wohl weniger durch Worte als durch Zärtlichkeiten zur Vernunft gebracht.

Wir übrigen saßen gerade beim Frühstück im großen Blockhaus, als das seltsame Paar erschien.

Jeanne vergoß noch ein paar Tränlein, feierte dann auch mit Christa eine sehr rührende Versöhnung, bis Pieter Klaaß energisch dazwischenfuhr …

„Hier, – saufen Sie, Fräulein, – – Grog, Sie sind ja ganz naß …!“

Ein derbes Wort zur rechten Zeit tut Wunder …

Jeanne lachte, trank, bekam blanke Augen, und nachher waren die beiden Brautpaare spurlos verschwunden …

Merkwürdig, welche Fertigkeit doch Liebesleute besitzen, sich unsichtbar zu machen … –

Ich stand mit Monte, dessen Hiebwunde der Doktor sauber verbunden hatte, oben auf der Veranda des Hauses, ließ die Blicke über das sonnige, jetzt wieder so friedliche Tal schweifen und erwartete sehnsüchtig die dritte Nachmittagsstunde, die der greise Doktor für den entscheidenden Besuch der Grotten und für die endgültige Klärung des Geheimnisses vorgesehen hatte …

Ich wußte noch immer nicht, was Kerguelenland an „wertvollen“ Rätseln barg …

Eines dieser Rätsel war inzwischen durch Roger Christo gelöst worden: Der Binnensee dort im Westwinkel, auf dem die schmucke Schonerbrigg „Hoffnung“ schwamm, war nur ein Teil einer tief ins Land einschneidenden Bucht, die ein natürliches Tor in der himmelhohen Talwand gehabt hatte – ein ungeheures Loch, das der Erbe von Monte Christo mit Hilfe seiner Leute durch Bimssteinblöcke sauber verbaut hatte. Diese seine Leute waren tot, – auch sie kamen auf Pedestas Konto, der nun mit beginnendem Wundfieber unten im Keller als Gefangener lag …

Friedvoll kreisten in der Luft die Taubenschwärme, friedvoll watschelte Freund Pieter hinüber nach den Wolfsboxen, um sich auch diese praktische Großbehausung einmal anzusehen …

Hin und wieder blieb er stehen …

Er bekämpfte das Fieber …

Er hatte in jeder Sweatertasche eine Schnapsbuddel …

 

14. Kapitel.

Die grüne Straße.

„Pedesta wird mitgenommen“, entschied Doktor Benoit um drei Uhr nachmittags mit aller Bestimmtheit. „Pedesta soll sich mit eigenen Augen überzeugen, daß das Geheimnis von Kerguelenland nichts ist als ein wunderbares Naturphänomen – nichts mehr!“

So wurde denn eine Bahre hergerichtet, Uhl und Pieter trugen den Schwerverwundeten, und nachher hatten wir große Mühe damit, Pedesta durch das Loch des Baumes der Erkenntnis in die Grotten zu schaffen.

Damit derweil die Gefangenen nicht etwa doch wieder rebellisch würden, hatte Jeanne einen Teil ihrer Meute mit in die Keller eingesperrt und einen Teil vor den Kellerfenstern angekettet.

Wir durften uns also vollkommen sicher fühlen, Pedestas ganze Bande war in unserer Gewalt, und unsere Gedanken galten nur mehr dem, was wir sehen würden: Dem Naturphänomen!

In der Domgrotte war der Glassarg wieder bedeckt, wir hatten jeder eine Laterne mit, wir flüsterten nur, beobachteten nur den greisen Benoit, der nun der Felswand zuschritt, aus der der unterirdische Fluß hervortrat und nach Osten zu in einem anderen Loche wieder verschwand.

Robert Benoit beleuchtete den westlichen Kanal, aus dem das dunkle Wasser gurgelnd hervorschoß …

„Betrachtet die Moosbildung am Gestein, meine Freunde … Ihr werdet bemerken, daß der Kanal oben künstlich verengert worden ist, – ich habe die Steine eingefügt … – Pieter, die Brechstangen!“

Wir arbeiteten schweigend, brachen die Bimssteinklötze heraus, bis so viel Raum geschaffen war, daß wir bequem durch das Loch waten konnten – hinein in das Unbekannte, das ja doch nur eine größere Höhle sein konnte – mit seltenen, trügerischen Naturwundern, so trügerisch, daß drei Seeleute mit klaren, kühlen Köpfen sich dadurch hatten blenden lassen.

Doktor Benoit trat in das gurgelnde Wasser hinein, das ihm etwa bis zu den Knien reichte.

Wir folgten …

Uhl und Roger stützten den Greis, er bedurfte der Hilfe, die Aufregungen der letzten Tage waren nicht spurlos an ihm vorüber gegangen, er verfiel sichtlich, seine Lebensenergie war erschöpft …

Pieter Klaaß und ich trugen die Bahre, wir schritten als letzte durch das eiskalte Wasser, wir stiegen als letzte aus dem kurzen Tunnel empor, und sofort lohten auch zwei mächtige Reisighaufen auf, die Jeanne auf des Doktors Befehl angezündet hatte.

Die Flammen, noch durch harzige Scheite genährt, loderten höher und höher, beleuchteten die Grotte, spiegelten sich im Wasser des Flusses wieder und enthüllten allmählich das, was dieser sanft ansteigenden Höhle, an deren linker Seite die kleinen Schaumwellen des Flusses sich kräuseln, ihre besondere Eigenart verlieh …

Je intensiver die Beleuchtung wurde, desto klarer hob sich auch vor uns ein grünlicher Streifen von etwa vier Meter Breite ab, der sich – immer grün schillernd – in der Ferne verlor …

Diese grüne Straße, eingebettet in eine Mulde, die zweifellos einst der Lauf des unterirdischen Gewässers gewesen, leuchtete immer kräftiger, immer giftgrüner, denn die Rauchschwaden der beiden Scheiterhaufen verzogen sich, und die volle Lichtfülle der knisternden, spielenden Flammenzungen traf die eigentümliche, grüne Rinne, deren Inhalt mit jeder Sekunde deutlicher ward …

Steine lagen dort, grüne blitzende Steine, dicht bei dicht …

Handhoch, fußhoch angehäuft …

Zusammengetragen, abgeschliffen durch die gurgelnden Wassermassen, die dann einen anderen Weg gesucht hatten und die grüne Straße zurückließen.

Stein an Stein funkelte dort – fast dicht zu unseren Füßen, und weiterhin bis in das Dunkel der Grotte, wohin der Lichtschein nicht mehr drang, wo die Finsternis lauerte, das Unbekannte …

Stein funkelte und sprühte neben Stein …

Einige faustgroß, einige länglich, andere kantig, große und kleine, – – aber grüne Steine, giftgrün wie kostbare Smaragde …

Smaragde?!

… Und da begann der greise Doktor wieder zu sprechen, – – sehr matt, wie mit letzter Kraft.

Wir drängten uns näher, aber unsere Augen kamen doch nicht los von dieser funkelnden Bahn, die dem Finder Millionen, Milliarden verhieß, wenn …

Wenn …?!

… Und der Doktor sprach …

„Meine Freunde, – und Sie armer Narr Pedesta, – an dieser Stelle standen einst vor hundertfünfzig Jahren drei französische brave Seeleute, die sich durch diese grüne Straße das Hirn verwirren ließen, in deren Herzen die Habgier aufloderte und zugleich die andere Gier, dieses Geheimnis zu hüten.

Nacheinander fanden sie diese grüne Straße von funkelndem Tand, und keiner wagte es, auch nur einen dieser Steine mitzunehmen …

Sie glaubten, es seien Smaragde …

Sie glaubten es so bestimmt, daß sie nicht einmal die Probe machten und ein Steinchen von dieser Fülle zu sich steckten, um es untersuchen zu lassen …

Sie fürchteten, das Steinchen könnte bei ihnen gefunden werden, ihr Geheimnis würde dadurch entdeckt werden …

Arme Toren, – sie trieben die Vorsicht zu weit, – arme Toren, die ihr euren Nachkommen nur Zwist und Hader und Neid in die Seelen pflanztet …!!

Und weshalb?!

Um was?!

… Es sind keine Smaragde, meine Freunde.

Es sind nur wertlose Halbedelsteine, es handelt sich um denselben grünen Stein, den man auch in deutschen Gebirgen findet, um den Chrysopras …

Das ist es, – – Halbedelstein, von denen der größte hier kaum die Transportkosten verlohnte.

Chrysopras, im Handel nirgends gesucht, denn die Chemie stellt härtere, klarere Imitationen ganz billig her.

Um dieser grünen Chrysopras-Straße wegen belauerten drei Emigrantenfamilien einander wie hungrige Raubtiere, deshalb, kleine Jeanne Christo, hetztest du deinen Bruder auf wider Uhl Lavinal, deshalb haßtest du Christa Lavinal, die deinen Bruder liebte …

Und doch: Diese wunderbare grüne Straße, die uns hier entgegenfunkelt mit tausend trügerischen Lockungen, war letzten Endes doch ein Weg der Erkenntnis, genau wie draußen an der Steilwand der Flechtenbaum der Erkenntnis wächst …

Ein Weg zur Einkehr, ein Weg zur Läuterung …

Und daß es mir altem Manne noch vergönnt gewesen, diesen Läuterungsprozeß in euren Herzen zu fördern und mitzuerleben, – das ist die Krönung meines Daseins, das war die Hoffnung, die mich hierher trieb – mich, der am Rande des Grabes steht und den ihr neben meiner Antoinette beisetzen sollt – hier auf Kerguelenland im Grottendom, – – denn meine Stunden sind gezählt, ich fühle es …

Vor meinen Blicken verschwindet die grüne Straße, – – stützt mich, … ich sehe nur noch das strahlende Antlitz meines Weibes, – – sie winkt, winkt …

Tragt mich zu ihr …

Schnell …

Es geht zu Ende …

Ich fühle es …“ – –

Freund Uhl und Roger gehorchten, trugen den Sterbenden hinweg, und in dem Grottendom mußten sie ihn emporheben, er umfing den Glassarg, sein Haupt neigte sich, und ein letzter Seufzer verklang:

„Antoinette …!“

… Robert Benoit war tot …

Das leise Schluchzen der beiden Mädchen gab seiner reinen Seele das letzte Geleit…

 

15. Kapitel.

Ausklang …

… Das Leben den Lebenden …

Und das Leben gehört mir, das Leben umfaßt alles, – Natur, Geschöpfe, – alles …

Vorgestern haben wir Robert Benoit feierlich beigesetzt in einem zweiten Sarge neben seiner Frau.

Das war der letzte wehe Klang dieser arbeitsreichen Tage. –

Das Leben den Lebenden, – die Zukunft der liebenden Jugend, mir aber nun bald die Art von Einsamkeit, nach der ich mich wieder sehne …

Mir und Monte, – und Kerguelenland …

Hier werden wir allein sein, hier werden wir unsere grüne Straße wandeln, die des Abseits … –

Pedesta starb, wurde begraben, seine Getreuen sind gründlich kuriert, und wenn nun bei den Ausbesserungsarbeiten an der Jacht „Normannia“ zuweilen einer der braunen Schlingel allzulange feiert, dann ist Pieters dicke Lederpeitsche verdammt fix bei der Hand und es setzt wohlverdiente Hiebe – aber selten …

Pieter läuft auch bereits wieder ohne den weißen Nasenverband umher und behauptet allen Ernstes, sein Riechorgan würde nun in dieser verkürzten Form jeder feinen Lady zur Zierde gereichen.

… Was ich bezweifele, jedoch nicht laut ausspreche …

Eine blaurote Kartoffel, die eine fingerdicke Kerbe trägt, bleibt auch schließlich immer noch eine Kartoffel. Aber über Geschmäcker läßt sich nicht streiten. Die Hauptsache: Pieter findet sie verschönt, und das zeugt für eine sehr anspruchslose Seele.

Andere finden sich auch schön, sogar gegenseitig, und daran habe ich meine helle Freude.

Wenn ich so die beiden Brautpaare durch das Tal wandern sehe, wenn der Erbe von Monte Christo, Roger Christo, den Arm um seine Christa legt, und wenn der blonde Recke Freund Uhl, neben dem die schlanke, schwarze Wolfskönigin wie ein Püppchen wirkt, die kleine süße Katze ohne Krallen verliebt an sich zieht, – – dann sind das allerdings vier Menschen, die auf die Bezeichnung „schön“ Anspruch haben … Auswendig und inwendig …!

Und wenn ich zuweilen abends, wenn die Nebel kommen und Kerguelenland ein graues Nichts wird, mit Monte so ganz heimlich in die Grotten emporsteige, durch den Fluß wate und genügend Brennholz entzünde, damit die grüne Straße in all ihrer Pracht vor meinen Augen aufleuchtet, dann ist dies noch schöner, denn es ist besinnlicher, es ist eine Feierstunde … eine Andacht, die dem Greise gilt, dessen reine Menschengüte hier Wunder wirkte.

Und dann sitzen mein Hund und ich ganz still da, bis die Scheite herabgebrannt sind und bis die grüne Straße wieder im Halbdunkel versinkt, der grüne Schein erlischt und nur ein schwaches, grünliches Schillern übrigbleibt, – – wie der Abglanz des großen Hoffens, das durch die ganze Welt und die ganze Menschheit geht und das seinen eindrucksvollsten Niederschlag wie eine Alterspatina in den Religionen aller Völker fand: Das große Hoffen auf seelische Läuterung, auf innere Vervollkommnung, auf einen paradiesischen Glückszustand hüben und drüben!

… Und nach diesen Stunden der Weihe kehren wir dann zurück in unser Stübchen im großen Blockhaus, und dann habe ich die geistige Sammlung gefunden, diese Erinnerungen hier zu Papier zu bringen …

Keine Abenteurergeschichte …

Vielleicht mehr …

Denn wer Ohren hat, zu hören, der hört …

Und der hört aus dieser Geschichte das mit herausklingen, das mir vor Augen schwebt:

Der grüne Fluß, – – ein Stück
Menschheitstragödie!

… Aber auch andere Stunden kommen …

Und das sind die, in denen mein Blut mir heiß und freudig durch die Adern jagt, wenn ich auf dem Rücken eins der Pferde durch die Kerguelenwildnis im Sonnenlicht dahinreite und mein Monte vor Übermut bellt und wieder bellt, bis wir beide ehrlich müde und abgehetzt sind und irgendwo an der Küste rasten und das Volk der Seesäuger mit ihrem Jungvieh beobachten und zuweilen so einen starken Bullen von See-Elefant abknallen, damit Jeanne Christos Meute nicht zu hungern braucht …

Und dann …?!

… Dann werden sehr bald die Schonerbrigg und die Jacht davonfahren und uns hier zurücklassen – nach meinem Wunsch und Willen …

Was dann weiter wird, – – es wird noch schöner sein als bisher.

Die Einsamkeit wird uns beide einspinnen, nur ein Pferd, eine Ziege und die Tauben werden außer uns zurückbleiben, und all die Lieben, die hier meinem Herzen nähertraten, werden nur wieder Erinnerungsbilder sein …

Und dann …?!

… Ich habe mich nie um den nächsten Tag gesorgt, nie …! Ich werde auch von hier einen neuen Weg finden – irgendwohin …

Ins neue Abseits …

Auf der grünen Straße der Hoffnung …

 

Nächster Band:

Das Grab der Namenlosen.

 

 

Verlagswerbung:

Tropenglut und Leidenschaft

Eine Reihe einzigartiger tropischer Erzählungen

 

Weiße Frau auf Borneo

von

Gino F. v. Moellwitz

Aus dem Leben der vornehmsten Londoner Gesellschaft heraus folgt die stolze Regina Bradley ihrem Bruder auf die Station Tampilong auf Borneo. Bald herrscht sie unumschränkt über die Herzen aller weißen Männer dieser Urwaldstation. Intrigen und Eifersucht bringen sie und ihren Bruder in ernste Gefahr. Doch eine starke Hand wacht im Verborgenen und rettet ihnen Leben und Ehre.

 

Das Lächeln des Tuan

von

Gino F. v. Moellwitz

Südsee! Vorbei der Sturm. Friedlich träumt in unwahrscheinlichem Blau die Lagune und spiegelt die Palmen und üppigen Blütenbüsche der Insel Kolaula. Inmitten der harmlosen Sonnenkinder der Insel lebt ein ernster Mann, auf dem die Schatten eines tragischen Schicksals lasten. Hier findet ihn ein verwöhntes, junges Mädchen. Im Südseezauber erwacht sie zu reiner, reifer Fraulichkeit und führt den ernsten „Tuan“ zurück unter die Menschen.

 

Preis je Band 2.– Mark

 

 

Anmerkung des Verlages:

  1. ↑* Joseph de Kerguelen-Trémarec, geb. 1745 zu Quimper in der Bretagne, teile insofern das Schicksal vieler Berühmtheiten, als ihn sein Vaterland eine Zeitlang mit schnödestem Undank belohnte. Nachdem er 1773 durch die Entdeckung von Kerguelenland (nach ihm benannt) vom Staate die Mittel zu einer neuen Expedition bewilligt erhalten hatte, die jedoch ergebnislos verlief, da die Besatzung an Skorbut erkrankte, wurde er auf Betreiben seiner Feinde und Neider vor Gericht gestellt und zu Gefängnis verurteilt. Im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen, nahm er als Kapitän eines Dreideckers am Kriege gegen England teil, zeichnete sich durch Tapferkeit hervorragend aus und wurde auch als wissenschaftlicher Schriftsteller viel beachtet. Er schrieb „Die Geschichte zweier Reisen in die australischen Gewässer“ und „Bericht über die Seekämpfe gegen England 1778“. Später geriet er wieder in Vergessenheit. –

 

 

Anmerkungen:

  1. Siehe Band 12: Die Herrin der Unterwelt.
  2. Die Zeile ist in der Vorlage um eine Zeile verrutscht.