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Die Lotosblume der Vindhyaberge

 

 

Tropenglut und Leidenschaft

Eine Reihe einzigartiger tropischer Erzählungen

 

Die Lotosblume der Vindhyaberge

 

W. v. Neuhof

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1934 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16

 

Vorspruch.

An der Ostseite des Vindhya-Gebirges träumt ein kleiner Bergsee unter rauschenden Uferpalmen und wispernden, buntblühenden tropischen Bäumen seine ureigensten, exotischen Märchen … Es sind nicht alles nur Märchen, – Wahrheit und Dichtung spiegeln sich in seiner von Wasserpflanzen bedeckten stillen Oberfläche wie die leuchtenden Gestirne des südlichen Firmaments, und nur am Tage, wenn der glühende Sonnenball den verträumten Weiher mit seinen brennenden Pfeilen trifft und unter den Luftwurzeln der Mangroven aus sumpfigem Schlick der Pesthauch des Fiebers hervorquillt, hat der kleine Bergsee all seine Romantik abgestreift und erscheint alltäglich und nichtssagend …

… Sinkt der Sonnenball und wehen die kühleren Winde über die einsamen Berghöhen, dann erst steigen aus der Tiefe des Weihers die zarten Lotosblumen empor wie weiße, keusche Nixen, umgeben von der Schutzwache ihrer großen, runden, grünen Blätter … Dann erst öffnen sie ihre hellen, unten gelbumrandeten Kelche und atmen den Odem der nächtlichen Wildnis ein und beginnen ihr märchenhaftes Flüstern und Raunen und ihre zärtlichen Spiele … –

… Inmitten des Weihers, wo das freie Wasser einen blanken, reinen Kreis bildet, spiegelt sich in dieser Zaubernacht die Mondsichel wider wie eine Leuchte, die auf dem Grunde des Gewässers verborgen glüht …

Die Wildnis ist erwacht … Allerlei Getier kommt zur Tränke – lautlos, vorsichtig, mißtrauisch … Sie stillen ihren Durst und enteilen, wie sie erschienen: Ganz lautlos … – Sie wissen, warum …

… Durch die Gräser geht ein leises Rauschen, und aus dem Dickicht schiebt der Herr der Dschungel seinen gelben, schwarzgestreiften Kopf hervor. Seine spitzen Ohren regen sich, – er lauscht … Er versteht die Sprache der Einsamkeit und wittert den menschlichen Erbfeind auf weite Strecken.

Die grüngelben Lichter der großen Katze hängen gebannt an dem freien Kreis inmitten des Weihers … Eine Lotosblume taucht dort empor und entfaltet ihre weißen Blütenblätter, schüttelt die Wassertropfen von sich und reckt sich sehnsüchtig dem Monde entgegen … An ihrem endlos langen Stiele, der bis zum Grunde hinabreicht, bewegt sie sich unruhig hin und her und scheint irgend etwas zu suchen …

… Und dann erscheint auf dem glitzernden Spiegel eine zweite Lotos, größer, kräftiger wie die erste … Sie schießt empor, wirft eigenwillig das weiße Haupt zurück und schleudert die Tropfen mit der Kraftfülle selbstbewußter Männlichkeit von sich … Um ihre Blüte liegt das Spiegelbild der Mondsichel wie ein blanker Helm … – Sie späht umher … Die kleinere Lotos hat sich scheu geflüchtet und unter den hohen Stengeln des indischen Pfeilkrautes verborgen, ihre Blütenblätter zittern wie in banger Erwartung, ob nun endlich all das Harren und Hoffen und all die Zweifel ein Ende haben werden …

… Langsam nähert sich die große, kräftige, trutzige Lotos und umkreist wie werbend die zartere, feinere … bis beider lange Stiele sich umschlingen und schließlich ein Windstoß des Schicksals beider Blütenkelche zusammendrängt und sie sich zueinanderneigen und sich noch enger umschlingen und ihre Sehnsucht verhaucht in einem heißen, ersten Kuß befreiter Liebe …

… Leise, lautlos schleicht der Tiger von dannen … Sein brünstiger Schrei hallt in den Bergen von Vindhya wider, und fernher antwortet ihm das Jaulen eines Weibchens, das einen Gefährten sucht für diese Nacht der Erfüllung …

… Die Palmen rauschen … Der Weiher träumt … Die kleine Lotosblume hat ihr Glück erkämpft, nicht gefunden …

… Die kleine Lotosblume heißt … Lotte …

*

… Und ein anderes Bild … Kein stiller Bergsee, den nicht einmal die tollsten Stürme aufzurühren vermögen, da die Ufermauern der grünen Wildnis ihn schützen …

… Nordoststurm an der Friesenküste … Brüllende Wogen mit weißen Schaumkämmen, hohe Deiche, gegen die das Meer wie in wilder Wut unaufhörlich anrennt … Dazu jagende Wolkenfetzen, Regenschauer, dann wieder wie durch Zauberspruch greller Sonnenschein … Ewiger Wechsel zwischen drohender Dämmerung und strahlendem Licht … Hinter den Deichen das flache endlose Marschland mit üppigen Weiden für rot gefleckte Rinder, vereinzelte Bauerngehöfte mit altehrwürdigen Giebeln, auf denen der eiserne Wetterhahn im Sturme rostzerfressen sich dreht, daneben der weiße, gebleichte Pferdeschädel, uralter Giebelschmuck aus grauer germanischer Vorzeit …

… Ein Land, das ein knorriges, hartes Geschlecht von jeher heranwachsen ließ, stille bedachtsame Naturen, zäh und kampfesfroh geworden im ewigen Streit wider die Natur, die ihnen das Dasein erschwert, damit nichts Weichliches in ihnen wie Unkraut emporschieße … –

Ein Sommertag ist’s … Ein Mädchen steht ganz allein droben auf dem Deiche und schaut über die ruhelose See hinweg und hat in den Wimpern feuchte, salzige Tropfen … Der Gischt der Brandung fliegt bis zu der Einsamen empor … Sie weint nicht, Tränen wären selbst in dieser Stunde etwas, das ihrer Wesensart nicht entspräche. Der Wind umbraust sie, preßt ihr die Röcke an den Leib, umtastet ihre schlanke Gestalt und gibt die Vollkommenheit ihres Wuchses preis … Ihr Gesicht ist von herber Schönheit, aber um Mund und Auge wetterleuchtet unmerklich ein Zug von Mutwillen, von Lebensfreude und Lebenshunger …

Plötzlich fühlt sie sich von der Seite umschlungen, wendet jäh den Kopf, sieht ein ernst lächelndes, in stiller Zärtlichkeit erstrahlendes Gesicht neben dem eigenen …

„… Hanna, – du …?!“ – Ganz ungläubig klingt’s … „Du in Deutschland …? – Seit wann …?“

Die andere, zierlicher, mehr Dame der großen Welt, stößt mit schmerzlich zuckenden Lippen hervor: „Ich bin zu spät gekommen, Lotti … – um Minuten zu spät … Der Zuschlag war gerade erteilt worden, und der Auktionator, oder wer es sonst war, ließ nicht mit sich reden …“ – Sie muß ein heißes Aufschluchzen hinabwürgen … Sie ist verzweifelter als die, deren Besitz soeben in fremde Hände überging …

Lotte versteht von alledem zunächst nichts, gar nichts … Staunend fragt sie, während sie die andere forschend betrachtet: „Du wolltest den Hof erwerben …, du …?!“

Die zierliche Hanna wird verlegen. „Ja, – ich kam mit der Absicht hierher … Ich … kam zu spät …“ – Und um allen weiteren Fragen zu entgehen, fügt sie von selbst hinzu: „Ich bin nicht mehr so arm wie einst, ich habe zuletzt eine recht gut bezahlte Stellung innegehabt mit großen Vollmachten … – Meine arme, arme Lotti, wie entsetzlich ist dieser Ausgang deines jahrelangen Ringens …!!“ – Sie umschlingt die Freundin und küßt sie … Sie ist anderen Schlages, heißer und schneller fließt ihr das Blut durch die Adern.

Lotte macht sich sanft und doch wie in stiller Abwehr aus ihren Armen frei. Der herbe, entschlossene Zug in ihrem Gesicht tritt schärfer hervor.

„Hanna, du irrst dich … Es ist nichts Entsetzliches bei alledem, es ist nur … Schicksal, es sollte so kommen … Wissen wir Menschen im voraus, wozu so manches, das wir zunächst nicht begreifen, für die Zukunft ein verändertes Aussehen annehmen kann, wenn es dem Geschick eben gefällt …?! Es liegt ein Trost in diesem ungewissen Hoffen, – auch an dir scheint sich doch diese Wende deines Lebensweges bestätigt zu haben.“

Hanna schüttelt energisch den feinen Kopf. – „Keine Veränderung vollzieht sich ohne unser Dazutun …“ Auch sie spricht mit einem Male seltsam herb und hart und entschlossen. „Mag sein, daß man erst in sich selbst eine Mission besonderer Art entdecken muß, um innerlich reif und erfolgreich zu werden … Schwer genug habe ich mich in der Fremde als Malerin und Lehrerin um mein täglich Brot bemüht, – bis ich Besseres fand …“ – Abermals wird sie leicht verlegen und unsicher. Hastig wechselt sie das Thema. – „Was gedenkst du nun zu beginnen, Lotti …? Etwas Geld wird dir ja noch verbleiben, sagte man mir. Trifft es auch zu, daß du dich bereits um eine Anstellung bemüht hast …?“

Lotte nickt nur … Ihr Blick ist wieder hinaus auf die See gerichtet.

Eine etwas peinliche Pause entsteht. Hanna kennt die verschlossene Natur der Freundin und besitzt auch selbst genug Zartgefühl, um zu begreifen, daß die andere in dieser Abschiedsstunde allein sein möchte … Sie spricht dies offen aus, und Lotte erwidert in ihrer freimütigen Ehrlichkeit mit einem schlichten „Ja“.

… Fügt hinzu: „Wer erwarb den Hof …?“ Die Frage brannte ihr längst auf den Lippen.

Hanna zögert … – „Ein Ausländer wohl … durch einen Strohmann, wie üblich …“

Die blonde Friesin fährt jäh herum. Auf der von einer einzelnen Haarsträhne umspielten Stirn erscheinen Falten, die klaren Augen flammen auf.

„… Ein Ausländer …? – Wer?“

Wieder zaudert die Zierliche … „Ein gewisser Dalton, glaube ich …“

Der Name besagt für Lotte gar nichts. Sie zuckt nur die Achseln, – es ist eine schroffe Bewegung, als ob sie etwas in diesem Augenblick völlig Gleichgültiges von sich wiese.

Hanna verabschiedet sich … „Ich weiß, daß du die nächste Zeit allein sein möchtest … Hier hast du meine Adresse, – Nizza, Pension D’Angleterre …, – Mademoiselle Jeanne Reis nenne ich mich dort …“

Ein erstaunter Blick trifft sie, – in dem Blick liegt eine gewisse Mißbilligung … – Hanna hat es nun noch eiliger … Schreibe mir, Lotti … Auf jeden Fall, – schreibe mir …! Und nun … viel Glück für den neuen Lebensabschnitt …!“

Sie ist gerührt, sie hat die Augen voller Tränen, – noch ein inniger Kuß, und sie eilt den Deich hinab und wandert der fernen kleinen Bahnstation zu.

Lotte ist allein … Nicht allein … Um sie her ist die Heimat, jeden Baum, jeden Strauch kennt sie hier … Das Meer liegt vor ihr in grenzenloser Weite, tobend, brüllend, anrennend gegen den Damm von Menschenhand … Die Sonne bricht durch das Gewölk, und das Mädchen, das heimatlos geworden, weiß, daß dieselbe Sonne ihr überall scheinen wird wie ein Gruß dessen, das sie verlor …

Der Sturm zerzaust ihr Haar, eine Schaumflocke fliegt zu ihr nach oben, trifft ihre Hand. In dem weißen Gischt schimmert es mattgrün, – ein Stückchen Alge ist’s … Lotte nimmt es und birgt es – letztes Andenken an die Heimat – in dem kleinen goldenen Medaillon, das die Bilder ihrer Eltern enthält und das sie an geflochtener Haarkette um den Hals trägt … –

Lotte ist keine romantische Natur, nein, dazu hat das Leben sie zu hart angepackt … Aber dieses Stückchen Alge will sie heilig halten wie all die Erinnerungen an ihr Vaterhaus, das nun einem Fremden gehört … Wie hieß er doch …? – Hieß er nicht Dalton …? War das der Name, den Hanna nannte …? – – Hanna, – Mademoiselle Jeanne Reis …!! – Ach ja, die Tropen und der Kampf ums Dasein vergiften viele … – Lotte merkt, daß Hanna ihr ein wenig fremd geworden ist. –

– Lotte ist keine romantische Natur …

Und doch … Jetzt, wo es gilt, Abschied zu nehmen für immer, breitet sie doch die Arme nach dem Meere aus, als wolle sie es ein letztes Mal umschlingen und an sich pressen und etwas von seiner urwüchsigen Kraft mitnehmen auf den neuen Lebenspfad …

Minuten steht sie so, die Lippen fest zusammengepreßt, die Augen weit geöffnet …, – sie Lotte, Lotosblume von …, – aber davon ahnt sie noch nichts, und das ist gut so …

 

1. Kapitel.

Die Todesahnungen des Peter Lorenzen.

… Der Gond stand regungslos hinter dem schweren, golddurchwirkten Vorhang und … horchte.

Über ihm schimmerte matt der weiße Marmor des Spitzbogens der Türfüllung, die oben zu einem Lotosornament als Mosaik aus Halbedelsteinen sich verjüngte, – eine künstlerische Darstellung der altindischen Anschauung von der Segensfülle des befruchtenden Wassers, die dem Kunstverständnis des Besitzers der Vindhya-Plantage das allerbeste Zeugnis ausstellte.

… Hinter dem begierig lauschenden Hausmeister, der bis auf den kahlgeschorenen Kopf mit der schwarzen Scheitellocke sich völlig der europäischen Tracht angepaßt hat, lastete die Dunkelheit eines Saales, in dem zwei kostbare Zierspringbrunnen melodisch plätscherten. Ihre dünnen Strahlen und der herabfallende Tropfenregen schillerten in allen Farben, wurden von unten aus dem Marmorbassin beleuchtet und verbreiteten in engem Umkreis eine geheimnisvolle Dämmerung, aus der sich verschwommen die Umrisse einiger schwerer, breiter Schränke mit reichen Metallbeschlägen abhoben … –

Astrid Dalton ließ sich von Herbert Medem Feuer für ihre Zigarette geben und wandte sich dann wieder an den blondbärtigen Herrn der Vindhya-Plantage, dessen massiger Körper in dem leichten Rohrsessel kaum Platz zu finden schien.

„Sie sind ein unglaublicher Pessimist geworden, bester Onkel Lorenzen … Wer wie Sie fünfzehn Jahre lang der Cholera entgangen ist, darf sich doch durch die kleine Epidemie nicht schrecken lassen. – Ich glaube auch gar nicht an Ihre düsteren Todesahnungen … Sie haben der Welt schon so manches Mal allerhand zu raten gegeben …“ – Der Nachsatz sollte scherzhaft klingen, aber für ein feineres Gehör lag darin doch ein leicht gehässiger Vorwurf.

Rechtsanwalt Ernest Dalton warf denn auch seinem Kinde einen ebenso warnenden wie erstaunten Blick zu. Er war es von Astrid so wenig gewöhnt, daß sie einmal taktische Fehler beging, wie er sich grundsätzlich nie um ihre Privatangelegenheiten kümmerte. Sie war eben so vollkommen Blut von seinem Blut, als hätte sich niemals in die rein englische Familie der Daltons ein fremdes Reis hineingeschoben, – er mußte im stillen lächeln, wie wörtlich der Vergleich von dem fremden Reis hier zutraf, er bildete sich auch sehr viel ein auf seine Geistreicheleien, obwohl er doch im übrigen ein eiskalter Zahlenmensch war, deshalb auch war seine Ehe mit der Ausländerin nie glücklich gewesen und hatte auch nur kurze Zeit gewährt.

Astrid, die ein überaus feines Gefühl für die geringfügigsten Stimmungsschwankungen besaß und darauf auch ihre großen gesellschaftlichen und sonstigen Erfolge zurückführte, hatte ihren Fehler längst eingesehen, zumal sie deutlich Bert Medems mißbilligendes Schürzen der Lippen wahrgenommen hatte und ihr gerade jetzt sehr viel daran lag, diesen einzigen wirklichen Vertrauten des vielfachen Millionärs endlich noch enger an sich zu fesseln. Die Dinge trieben hier doch offenbar einer endgültigen Entscheidung entgegen, und sie mußte Sorge tragen, daß sie von der durch Lorenzen angedeuteten Katastrophe nicht unversehens überrascht würde … Auch sie war eine eiskalte Rechnerin, und es gehörte schon sehr viel Menschenkenntnis dazu, dieses gertenschlanke, bildhübsche und dabei äußerst pikante Mädchen vollends zu durchschauen, da ihre beste Tarnkappe ihre fast kindliche, unbekümmerte und burschikose Art war, durch die sie überall gegen die steifleinenen jungen Engländerinnen ihrer Gesellschaftskreise in Allahabad angenehm abstach.

In ihren graublauen Augen zuckten übermütige Lichter auf, als sie nun, ihren Schaukelstuhl über den Teppich mit kräftigem Ruck vorwärts ziehend, dem blonden Hünen Lorenzen ihre gebräunte Hand auf den Schenkel legte und übertrieben kokett lächelnd erklärte, sie hoffe als sein Patenkind in seinem Testament bestimmt bedacht zu werden, – dies böte dem Herrn Patenonkel auch die beste Gewähr für ein biblisches Alter, denn bei ihrem bekannten Pech würde sie unweigerlich vor ihm sterben …

Lorenzen betrachtete sie still aus seinen hellen Friesenaugen, nickte ihr leicht zu und meinte genau so ernst wie vorhin … „Wir von der deutschen Waterkant leiden nun einmal an dunklen Ahnungen, und gerade ich habe auf diese innere Stimme stets geachtet, sonst wäre ich heute nicht das, was ich bin … Oft genug hat sie mich gewarnt und mich zumindest auf gewisse bedenkliche Vorzeichen aufmerksam gemacht – auch in geschäftlichen Dingen. Sie, Astrid, sind noch zu jung, um an derlei Stimmen und Stimmungen zu glauben … Die Choleraepidemie drunten in Beldari ist es ja auch nicht allein, die mich veranlaßte, Ihren Vater heute zu diesem immerhin unbequemen Besuch zu veranlassen, das wissen Sie sehr gut … Aus dem Sturm im Wasserglas kann gerade wegen der Abwesenheit des Fürsten ein blutiger Orkan werden, – wir dürfen nie vergessen, daß wir hier an der Ostseite des Vindhya-Gebirges inmitten einer Bevölkerung leben, die noch vor dreißig Jahren zu Ehren ihrer diversen Götzen Menschen opferte, und ob sie es nicht heute noch tut, ist eine Frage, die Ihnen Freund Bert besser beantworten könnte als ich, – er als passionierter Jäger kommt ja in die entlegensten Winkel unserer endlosen Dschungel und weiß so allerhand zu berichten, was noch nie gedruckt erschienen ist … – Die Hauptsache bleibt ja, ich bin nun vollständig im Bilde darüber, wie man ein Testament abfassen muß, in dessen Inhalt nicht sofort ein paar Zeugen umherschnüffeln können, – also daß es auch ohne Zeugen geht. Durch letztwillige Verfügungen, die allzu früh nicht ganz einwandfreien Charakteren zur Kenntnis gelangten, sind schon die unglaublichsten Geschichten passiert. Ich bedanke mich dafür, daß irgend so ein mit einem größeren Legat Bedachter seinerseits etwas nachhilft, daß das Testament etwas schneller wirksam wird … Wenn ich schon sterben muß, dann nicht durch Mixturen oder einen künstlich nachgeholfenen Unfall … Derlei soll es geben, liebe Astrid, sogar in den besten Familien …“

Astrid schüttelte sich in komischem Entsetzen und meinte mit perlendem Lachen: „Hören wir endlich mit alledem auf …! – Herr Medem wird jetzt so freundlich sein, mich in den Park zu begleiten … Ich brauche nach einem Abendessen, wie Sie es Ihren Gästen vorsetzen, Onkel Lorenzen, etwas Bewegung … Es ist geradezu barbarisch, einen Wildschweinrücken mit Backpflaumen zu servieren, aber geschmeckt hat’s trotzdem vorzüglich …“

Sie erhob sich und reckte sich und blinzelte Bert Medem ausgelassen an … „Vorwärts also … Erheben Sie sich, edler Ritter, und seien Sie einmal ausnahmsweise liebenswürdig, Sie weiberfeindlicher Brummbär …!“

Medem saß wie immer kerzengerade auf einem der steillehnigen Polsterstühle und hatte bisher, auch beim Abendessen, sehr wenig zur Unterhaltung der beiden Gäste beigetragen. Als Astrid ihm nun beide Hände hinstreckte und ihn von seinem Sitz emporzog, als er ihre warmen, weichen Hände in den seinen fühlte, überkam ihn wiederum wie schon so oft bei dieser körperlichen Berührung jenes unausgeglichene Empfinden, über dessen wahre Grundelemente er sich bisher nie ganz klar geworden war – selbst er nicht, und das wollte bei einem Manne seiner ausgesprochenen Eigenart viel bedeuten.

Er erhob sich halb, halb ließ er sich emporziehen, und dabei umspielte seine bartlosen, stets wie zu einem vielsagenden Pfeifen gespitzten Lippen ein unmerklich verlegenes oder wohl mehr befangenes Lächeln, das der verschlossenen Härte seiner jungen Züge sehr zugute kam.

Peter Lorenzen beobachtete dies alles mit unauffälliger Wachsamkeit. Er hatte dieselben tiefliegenden Augen von leuchtendem Blau wie sein Plantagendirektor, und nur die dicken herabhängenden und stark ergrauten Brauen ersetzten bei ihm die ungewöhnlich langen Wimpern, die dem Blick Medems die seelenvolle Tiefe verliehen. – Auch der Rechtsanwalt Ernest Dalton war ein aufmerksamer Kritiker der kleinen, an sich so scherzhaft-alltäglichen Szene, er freilich aus anderen Gründen. Wenn der Sahib Lorenzen, den die Gond ringsum nur den Nanna-Sahib nannten, Anlaß zu größter Wachsamkeit zu haben glaubte, so lagen die Dinge bei Dalton doch etwas anders. Astrid hatte stets mehrere Eisen im Feuer, und seine kühl berechnende Sorge, seine Tochter könnte aus einem vielleicht verständlichen Gefühl der Augenblicksstimmung heraus auch nur einen kleinen Schritt zu weit sich vorwagen, ließ sein kaltes, hochmütiges Gesicht für Sekunden finster umwölkt erscheinen.

Inzwischen hatte Astrid vor Bert Medem eine bewußt eckige Verbeugung gemacht und ihm den ebenso eckig gekrümmten Arm hingehalten. In ihrer ganzen Haltung lag dabei etwas bezwingend Komisch-Übermütiges, sie glich wirklich einem kecken, entzückenden Frechdachs, der hier die ganze steife englische Art treffend karikieren wollte. In derselben Weise stolzierte sie dann mit ihrem Kavalier auf die breite Marmorterrasse in den Mondschein hinaus, lehnte sich an die Vorderbrüstung und behielt auch dabei Berts Arm in dem ihren und zwang ihn so, dicht neben ihr zu bleiben. Ihre Schultern und Hüften berührten sich, – Astrid legte ihre Hand wie selbstvergessen auf seine braune, muskulöse Rechte, und während sie sinnend in die endlose Tiefebene hinabschaute, gab sie sich ohne jeden Nebengedanken dem berauschenden Empfinden hin, wenigstens für Minuten einmal nur Weib sein zu dürfen.

Sie, die den Sport zum Nebengötzen erhoben hatte, weil sie diese Art Entspannung unbedingt nach all den Stunden eines lästigen, aber notwendigen Komödienspiels brauchte, um sich ihre körperliche und geistige Frische zu bewahren, – sie überließ sich restlos dem Zauber des Augenblicks und dem intimen Reiz der nächtlichen Landschaft, deren scharfe Gegensätze durch das Mondlicht mit seinen strengen Schattengrenzen noch eindrucksvoller verstärkt wurde.

Eingebettet in die Fülle der grünen Dschungel lag da in weiter Ferne das Städtchen Beldari, die Residenz des kleinen Fürstentums von Englands Gnaden oder Ungnaden, eines der allerletzten Überbleibsel der einstigen Selbständigkeit der reinen Drawiden-Staaten … Lichtpünktchen schimmerten herüber, – in Beldari wütete wieder einmal die Cholera, Ärzte und Pflegepersonal, vom Residenten eilends herbeigerufen, machten sich durch die Zwangsimpfung noch unbeliebter, und das an seinen Überlieferungen hartnäckig festhaltend, unbotmäßige Volk der Gond rebellierte fast offen gegen die verhaßten Fremden und brachte heimlich nach uraltem Priestergesetz seine Opfer den mörderischen Götzen dar, um sie schleunigst zu versöhnen …

Astrid wandte den Kopf zur Seite, und ihre braunroten Stirnlöckchen streiften dabei Bert Medems heiße Wange. Die körperliche Nähe dieses Mädchens, das ihm, dem nur an farbige Weiber und an strengste Pflichterfüllung seit Jahren Gewöhnten, immer noch unlösbare Rätsel aufgab, verwirrte und ärgerte ihn zugleich. Seine Kenntnis von Welt und Menschen war eng begrenzt gewesen wie sein bisheriger Wirkungskreis … Er hatte hier viel dazugelernt, und sein Lehrer war der Nanna-Sahib gewesen, dessen Ansichten sich in dem kurzen Satz zusammenfassen ließen: „Traue niemandem, am allerwenigsten einem Weibe, und nimm nur dich selbst ernst, denn allein von dir weißt du, was du zu halten hast …“

Astrids Augen zwangen die seinen zu erneutem Überprüfen ihrer widerspruchsvollen Züge. Beider Blicke ruhten ineinander, und Berts Unsicherheit steigerte sich, als er in ihren Augen, die im Mondlicht wie Opale schimmerten, versteckte Zärtlichkeit und darüber hinaus noch einen so schmerzlichen Ausdruck gewahrte, daß ein warmes Gefühl des Mitleids sein Mißtrauen völlig verdrängte, zumal er ja von seinem allmächtigen und schier allwissenden Chef längst über Ernest Daltons seltsame Erziehungsmethoden und sonstige Unzulänglichkeiten genügend eingeweiht worden war.

Astrid sagte leise, und auch in dem Tonfall ihrer Stimme lag eine Vertraulichkeit, die der Sehnsucht zu entspringen schien, ein einziges Mal einer mitfühlenden Seele ihr Innerstes zu öffnen: „Geben Sie mir eine ehrliche Antwort, mein Freund … Ich darf Sie ja so nennen, wir sind verwandte Naturen, Sie lieben das Ungekünstelte genau wie ich, und unsere Liebe zu den Schönheiten dieser Wildnis ist auch die gleiche, – nie werde ich den letzten gemeinsamen Ritt vergessen, als wir vor Wochen die alten Tempelhöhlen von Gutschar besuchten und Sie mir von Ihrem einsamen Leben auf den Pescadores-Inseln erzählten. – Ja, eine einzige ehrliche Antwort: Trifft es zu, daß mein Vater in Allahabad neben seinem Beruf als Anwalt noch an so und so vielen Opiumkneipen und Spielhöllen beteiligt ist …!?“

Medem bekam um den Mund harte Falten. Das war ein Thema, zwischen seinem Chef und ihm zu oft schon behandelt, als daß er Astrid hätte ausweichen und sich hinter allgemeinen Redensarten hätte verkriechen können, – was ihm ohnedies nicht lag … Dazu war er zu lange Jahre im steten Umgang mit Farbigen an fast brutale Offenheit gewöhnt worden. Außerdem hielt er auch aus einem scharfen Sauberkeitsgefühl gerade diese schmählichen Nebengeschäfte für so verwerflich, daß er insgeheim hoffte, Astrids Einfluß auf ihren Vater könnte hier vielleicht bei voller Kenntnis der Wahrheit nur heilsam wirken.

„Man spricht davon …“ erwiderte er kurz. „Und da an jedem derartigen Gerücht, wenn es sich um einen Europäer handelt, stets etwas Wahres ist, wie mich eigene Erfahrung lehrte, müssen Sie am besten selbst die Augen offen halten und rechtzeitig vorbeugen … Ihr Vater liebt Sie doch … Er hat nur zwei Kinder, und …“

Er brach mitten im Satze ab … Vieles hatte er schon an Astrid beobachten können, daß sie weinte … noch nie …!

In ihren im Mondenschein wie Gold schimmernden, nach oben gebogenen Wimpern glänzten schwere Tropfen, und ein leises Schluchzen blieb vorläufig ihre einzige Antwort. Sein Mitleid mit ihr wuchs … Seine Finger umschlossen unwillkürlich mit festerem Druck ihre Hand, und mit jener Selbsttäuschung, die so leicht dem ehrlichen Empfinden des Mitleids entspringt und alle innigeren Regungen nach der Seite wärmster Zärtlichkeit unmerklich hinüberdrängt, legte er den anderen Arm behutsam um ihre Schultern und flüsterte ihr Worte des Trostes und der Hilfsbereitschaft zu, an denen er sich selbst berauschte und die seinen Augenblicksirrtum bis zu heißem Begehren steigerten …

Ihr Kopf ruhte plötzlich an seiner Brust, der Duft ihres gepflegten Haares und ihres diskreten Parfüms ließen jene urwüchsige Manneskraft in ihm freiwerden, die sich auch in den Zügen seines Gesichts so eindeutig ausprägte und auf Astrid vom ersten Tage ihrer Bekanntschaft an verlockend und zunächst nur spielerisch-begehrend gewirkt hatte, bis dann doch die Stunde kam, wo sie sich mit tiefem Erschrecken bewußt wurde, daß Bert Medem der einzige Mann war, der in ihren schwülen Träumereien allein ihr Partner wurde.

… Sie hob den Kopf … Sie fühlte in diesem Moment nur die halbe Verwirklichung ihrer glutvollen Fantasien, – nur die halbe, und die wollte sie auskosten …

… Unter ihren brennenden Küssen schmolz auch sein letztes Mißtrauen dahin … Er preßte sie an sich wie ein Verschmachteter … Und das war er ja … Zehn endlose Jahre auf den einsamen Inseln im Pazifik hatten ihn als Mönch gesehen, – nie hatte er sich soweit vergessen, seine Hand nach einer Farbigen auszustrecken … Die Arbeit hatte ihn abgelenkt, er war der unermüdlichste seiner fünfhundert Kulis gewesen, er hatte für das chinesische Konsortium ärger als ein Kuli geschuftet und war auch hier auf der Vindhya-Plantage inmitten der berüchtigten Dschungel so selten während dieser letzten neun Monate mit Europäern in Berührung gekommen, daß er dem Rätsel Weib wie ein unwissendes Kind gegenüberstand …

Astrid löste sich aus seinem Arm, drängte ihn sanft von sich und behielt nur seine Hand in ihren Fingern und drückte sie völlig absichtslos und doch in einem Gefühl nur halber Befriedigung an ihr jagendes Herz unter die pralle Rundung ihrer jungen Brust … Mit der andern Hand strich sie die zerzausten Haare aus der leicht schweißfeuchten Stirn und hauchte ihm, allmählich wieder zur Besinnung kommend, mit noch immer verträumtem Lächeln zu … „Dies Geheimnis, Bert, bleibt vorläufig unter uns … Erst muß ich dafür sorgen, daß der Name Dalton von allen Schlacken gereinigt wird …!“

Sie gab nun auch seine Hand frei, lehnte sich an die Marmorbrüstung und zwang ihr erhitztes Blut gewaltsam zur Ruhe. Ihre Blicke schweiften aufwärts, als ob sie aus den Sternen die Kraft herbeiriefe, nun wieder nur das zu sein, was ihrer Natur mehr entsprach als eine bedenkenlose Hingabe. Sie hatte von jeher den Ehrgeiz gehabt, über Millionen zu verfügen und nebenher noch eine Rolle zu spielen, die sie heraushob aus den Kreisen ihrer in Vorurteilen erstarrten Gesellschaftsschicht … Ihre Wünsche hatten nie vor Hindernissen halt gemacht. Ihre letzten Pläne galten einem Throne, mochte er auch noch so unbedeutend sein. Bert war das zweite Eisen, das sie im Feuer hatte, und … an dem sie sich soeben leider etwas verbrannt hatte … Das dritte Eisen war anderer Art. Auch das ließ sie nie aus den Augen …

Und wie sie jetzt so sinnend und mit einem Gefühl wachsenden Unmuts über ihre eigene Schwäche zum Firmament emporschaute, zog eine Sternenschnuppe, anscheinend von der Spitze des Eckturmes des palastartigen Wohngebäudes kommend, in kurzem Bogen über sie hinweg und verschwand in den Kronen der riesigen Bäume, die unterhalb des Bergvorsprunges wuchsen, auf dem Peter Lorenzen sein prunkvolles Heim erbaut hatte.

„Eine Sternschnuppe …“, meinte Astrid … „Sie bringt Glück, sagt man …“

Bert Medem legte den Arm um ihre Hüfte und lachte hart. „Ich muß dich enttäuschen, Darling …“ Er war noch immer im Bann der heißen Minuten, die sie ihm geschenkt hatte, und er bedauerte es, diesen schönen Wahn zerstören zu müssen … „Es war keine Sternschnuppe, es war nur wieder ein neuer Beweis dafür, daß wir hier von vielen … Spionen umgeben sind und … auf einem Vulkan tanzen … Es war ein Pfeil mit einem brennenden, in Spiritus getauchten Wergstückchen und einer schriftlichen Botschaft für irgend jemanden … Für wen, weiß ich leider nicht …“

Sie hatte sich jäh umgewandt und blickte ihn erschrocken an. Sie konnte die Bedeutung seiner beunruhigenden Mitteilung am besten abschätzen. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft. Sie ließ alle Rücksichten fallen und fragte fast befehlend: „Glaubst du an Lorenzens Todesahnungen?“

Er hätte verlegen werden müssen … Er war vorbereitet.

„Ja … – Was sollte es für einen Sinn haben, wenn er nur heuchelte …?!“

Astrid, nun erst wieder in ihrem Fahrwasser diplomatischer Künste, nickte zustimmend. „Du wirst wohl recht haben. – Hast du nun eigentlich herausgebracht, ob er in Deutschland noch Verwandte hat, die als Erben in Betracht kämen …?“

„Er besitzt keine Angehörigen mehr“, konnte Medem diesmal der Wahrheit gemäß erklären … Ich müßte das wissen, denn er hält vor mir nichts geheim …“

Astrid drehte langsam den Kopf und schaute in die grüne Wildnis hinab, in der der Signalpfeil verschwunden war …

„Ob er dich zum Erben einsetzen wird …?“ meinte sie in einem Tone, der eine gewisse Angst verriet. Und sofort fügte sie hinzu … „Täte er es, so … müßte ich dich freigeben, Bert, denn ich möchte nicht, daß es nachher hieße, ich hätte mir den Erben der berühmten Vindhya-Plantage … geangelt, – so sagt man ja wohl, … geangelt!“

Berts frohe Heiterkeit fand wenig Widerhall in ihrem Herzen.

„Ich – – Erbe …?! Ich?! – Nein, niemals …! Das hat der Nanna-Sahib mir noch gestern in seiner derben Offenheit rund heraus erklärt … Ein Legat, – das ja … Aber Erbe?! – Wie käme er auch dazu?! Er hat mich vor zehn Monaten zufällig in Schanghai aufgelesen, nachdem diese Spitzbuben von Chinesen mich auch noch um meine ganzen Ersparnisse betrogen hatten … Er sagte einfach: „Einen Kerl wie Sie kann ich jetzt gerade brauchen …“ – Und dann bot er mir ein fürstliches Gehalt und nahm mich einfach mit hierher, – gewiß, wir kommen sehr gut mit einander aus, und heute bin ich hier unumschränkter Herr … – Erbe aber …, – niemals …!“

Astrid nahm zerstreut seinen Arm von ihrer Hüfte und meinte völlig geistesabwesend, was zu ihren Worten wenig passen wollte … „Die Sorge wäre also überflüssig gewesen … – Gehen wir hinein … Mir bekommt die feuchte nächtliche Dschungelluft nicht …“

Bert war nicht im geringsten enttäuscht oder ernüchtert. Er kannte die Gefahren dieser heißen Treibhausluft am allerbesten. Nur eins vermißte er: Wollte Astrid nach diesen ungestümen Zärtlichkeiten wirklich so kühl von ihm scheiden, als hätte es nie Sekunden gegeben, in denen sie sich in so wildem Verlangen an ihn gedrängt hatte, daß selbst er dadurch mitgerissen wurde in einen Orkan nie geahnter Leidenschaftlichkeit …?!

Er wurde nicht enttäuscht, – Astrid hatte diese Sekunden durchaus nicht vergessen, und als sie sich nun vor der hohen doppelten Glastür zu ihm umwandte und ihm die Arme um den Hals schlang und ihre Lippen sich förmlich festsogen an den seinen und sie mit geschlossenen Augen sich nochmals die halbe Verwirklichung ihrer schwülen Träume bewußt verschaffte, da war’s ihm, als ob sie für immer Abschied nähme von ihm und von einer Zukunft, die ihnen beiden ein nie geahntes Glück gebracht hätte.

Ebenso jäh riß sie sich los und erschien gleich darauf im Salon bei den hier zurückgebliebenen beiden Herren, die derweil über die bedenkliche Eigenmächtigkeit des jungen Fürsten von Beldari sich sehr ernst unterhalten hatten.

Astrid fing gerade noch eine Bemerkung Lorenzens auf, die ihrem Bruder galt.

„Haben Sie eigentlich wieder mal einen Brief von Olliver erhalten, – der Gedanke, ihn dem Fürsten nachzuschicken, war an sich nicht schlecht.“

Dalton sog gelassen an seiner Zigarre. Die Antwort, die Lorenzen nun erwartete, wollte überlegt werden.

„Olliver scheint mir seine Aufgabe nicht recht ernst zu nehmen“, meinte er mit einem heimlichen, aber vieldeutigen Blick auf Astrid, die es sich in ihrem Sessel bequem machte. Sie verstand diesen Blick. Zwischen ihr und ihrem Vater bedurfte es nie vieler Worte. – „Augenblicklich amüsiert Olliver sich an der Riviera und verbindet das Angenehme mit dem Nützlichen, denn auch der Fürst hat dort in Nizza nach dem langen fluchtartigen Umherirren scheinbar nun Dauerquartier bezogen und sich eine reizende kleine Französin als Flirt zugelegt … – Nein, Wichtiges hat Olliver in letzter Zeit nicht gemeldet … Es ist für ihn ja auch nicht ganz leicht, sich vor dem Radscha dauernd verborgen zu halten. Wahrscheinlich wird der Junge mehr in Monte Carlo im Kasino Zerstreuung suchen, denn als Aufpasser …“

„Da hätte er Lord Howard Cray mitnehmen sollen, diese alte Jeuratte“, sagte der Nanna-Sahib bissig. „Der Herr Resident hätte dann auch gleich das Schmerzenskind Englands persönlich überwachen können.“

Dalton kam rasch auf etwas anderes zu sprechen, und Astrid unterstützte ihn dabei nach besten Kräften. Lord Howard Cray wurde hier möglichst wenig erwähnt.

Als nun auch der recht erhitzte Bert Medem eintrat, schaute Lorenzen ihn verstohlen musternd an und kniff den Mund wie verärgert für Sekunden ganz schmal. Gleich darauf lächelte er wieder und ließ seinen Gästen vor dem Ausbruch zum Rückflug nach Allahabad noch Mokka servieren, den der Hausmeister Wanar eigenhändig herumreichte, wobei er es so einzurichten wußte, daß er mit Dalton ein paar heimliche Worte wechseln konnte.

 

2. Kapitel.

Die Tyrannin von Arrenberg.

Arrenberg war einmal ein großes Majorat mit vielen selbständigen Vorwerken gewesen. Jetzt gab es nur noch das kleine Restgut Arrenberg, und im nahen Dorfe gleichen Namens hatte man der Gräfin und ihrem Sohne vor kurzem kaum mehr eine Gnadenfrist von ein paar Wochen bis zum endgültigen Zusammenbruch gegeben.

Hierüber unterhielt sich auch der dicke Wirt vom Gasthaus „Zu den drei Schwänen“ mit der jungen Dame, die gestern abend bei ihm abgestiegen war – eine Malerin übrigens, aber ihrem Äußeren nach viel zu schade für diesen brotlosen Beruf, von dem nur die Schildermaler und Stubenmaler satt wurden, wie der Wirt der Französin erklärte, die zum Glück fließend deutsch sprach, – so nebenbei flocht er ein, daß sein Wirtshausschild einer Erneuerung bedürfe, denn die drei Schwäne schauten denn doch schon zu berupft aus, und wenn die Mademoiselle so liebenswürdig sein wollte, diese Wappentiere der gräflichen Familie etwas aufzufrischen, könnte sie bei ihm einen Tag ganz umsonst wohnen, – was er seinerseits für ein sehr anständiges Angebot hielt, – aber die fesche Französin lehnte lachend ab. „Das sollen Sie zum Andenken an mich gratis haben. Alte Wappentiere aufzubügeln, ist meine Spezialität!“

Tatsächlich machte sie sich sofort an die Arbeit, zumal sie erst abends eine bestimmte Verabredung einzuhalten hatte, die geheim bleiben mußte. Der Wirt war restlos begeistert: Die Schwäne sahen nun wirklich wieder wie Schwäne und nicht wie berupfte Gänse aus.

Nach Eintritt der Dunkelheit begab sich die Malerin in ein Wäldchen unweit des alten gräflichen Herrenhauses und war froh, als sie einen Herrn noch rechtzeitig bemerkte, der heimlich hinter der Person dreinschlich, mit der die Mademoiselle sich hier ein Rendezvous geben wollte. Das wäre ihr sehr unangenehm gewesen, gerade Olliver Dalton hier in die Arme zu laufen. Immerhin wußte sie nun, daß er dieselbe Fährte verfolgte, was ihr allerdings schon bei ihrem Besuch in Friesland bestätigt worden war. So enge Beziehungen sie auch mit den Daltons verknüpften, es war nicht unbedingt nötig, daß Olliver allzu viel erführe.

Die Aussprache zwischen den Freundinnen verlief zunächst etwas gezwungen, da die eine über das „Mademoiselle Jeanne“ noch immer nicht hinweggekommen war und die andere ihren Auftrag mit größter Vorsicht erledigen mußte, denn sie kannte ja Lottes Klugheit und rasche Auffassungsgabe.

Erst allmählich gaben sich beide zwangloser, und das Zusammentreffen wurde sehr herzlich und für Lotte eine gute Gelegenheit, sich einmal über Dinge aussprechen zu können, die junge Mädchen stets gern, aber nur andeutungsweise offenbaren.

„… Oh, er ist ein sehr liebenswürdiger Mensch, gar nicht stolz und von einem göttlichen Leichtsinn, wovon er mir getrost etwas abgeben könnte. Ich bin doch wohl ein wenig zu schwerblütig.“

Hanna drohte der Freundin scherzend mit dem Finger. „Du, – verliebe dich nur nicht in ihn!“

Lotte wehrte das energisch ab – zu energisch. Dann kam Hanna so auf Umwegen auf die Hauptfrage zu sprechen. Viel erfuhr sie nicht, denn Lotte wurde mit einem Male wieder mißtrauisch, außerdem hielt sie es von Hanna für etwas taktlos, nach der Vergangenheit ihrer Eltern zu fragen. Der Abschied zwischen den ungleichen Pensionsfreundinnen fiel denn auch etwas kühl aus.

Mademoiselle Jeanne Reis fuhr noch in derselben Nacht in einem Mietsauto nach Berlin.

Sie hatte es sehr eilig, und der dicke Wirt „Zu den drei Schwänen“ war darüber untröstlich, denn die Französin hatte sich mit ihm so gut unterhalten. Daß er von der Mademoiselle bei diesen Zwiegesprächen gründlichst ausgehorcht worden war, konnte ihm bei seiner Harmlosigkeit nicht weiter auffallen, denn so gut er auch die Wochenrechnungen für seine Sommergäste zu recken und zu strecken verstand, gegenüber der Pfiffigkeit Jeannes blieb er ein argloser Waisenknabe.

Jeanne Reis ließ das Auto in Berlin vor einem der Postämter halten, die auch Funkdepeschen nach Übersee befördern, und gab dann ein recht langes Chiffretelegramm nach Allahabad an eine bestimmte Adresse auf.

Der Schalterbeamte schüttelte zu dieser ungeheuren Verschwendung mißbilligend den Kopf. „Fräulein, das kostet fast sechshundert Mark“, meinte er brummig, denn sein Monatseinkommen war kaum halb so groß.

„Oh, – das macht nichts“, erwiderte die Fremde mit einem bezaubernd koketten Lächeln so daß es dem Stefansjünger ganz schwül zumute wurde. „Das macht gar nichts aus! Es handelt sich um ein Millionengeschäft. Außerdem um einen Lotte…riegewinn!“

Weshalb das hübsche Fräulein das Wort Lotteriegewinn in zwei Worte zerlegte, verstand der Beamte nicht recht, aber er wurde dafür durch ein erneutes Lächeln und durch einen feurigen Blick restlos entschädigt.

Am nächsten Abend saß Lotte in dem sehr bescheiden ausgestatteten Büro im Seitenflügel des Herrenhauses und rechnete und rechnete und suchte irgendwie ein Plus für den vergangenen Monat herauszubringen, aber es gelang auch ihr nicht.

Da waren die Löhne für die Erntearbeiter, da waren die unsinnigen Ausgaben der Gräfin für allerhand Nichtigkeiten, die endlich bezahlt werden mußten, da waren die fast noch leichtfertigeren Ausgaben des jungen Grafen für Schneider und Schuhmacher und für feinste Wäsche.

Lotte seufzte nicht, nein, das lag ihr nicht, sie warf den Federhalter mitten auf den mit Zahlen dicht bedeckten Bogen und freute sich über die Tintenkleckse, die jetzt wie mitleidig das Defizit verdeckten.

Ein paar freche Julifliegen kamen, krabbelten in die Tintenkleckse hinein und vergrößerten noch die deckenden Schleier über die fehlenden fünfhundert Mark.

Lotte lachte darüber. Es war ein besonderes Lachen, es lag sehr viel Lebensweisheit in diesem melodischen, sanften und nachsichtigen Kichern. Es klang wie feine Glöckchen, die an den Dächern einer Pagode hängen und die der Wind zum Tönen bringt, derselbe Wind, der die Weihrauchdüfte aus den Tempelfenstern in die freie Natur hinausträgt und mit ihnen die Weisheit der stillen Asiaten mit dem ebenfalls unergründlichen Lächeln.

So war Lotte. Und dabei zählte sie noch nicht volle zweiundzwanzig Jahre, das war das Erstaunliche an ihr, oder das eigentlich Selbstverständliche, denn Lottes Leben war ein Dornenpfad gewesen, und als sie vor Monaten den väterlichen Hof trotz aller Kämpfe und aller Mühen hatte aufgeben müssen, da war sie doch mit einem stolzen, wenn auch wehmütigen Lächeln und ohne sich nochmals umzusehen davongegangen: Sie hatte ihre Pflicht bis zum äußersten getan, und das genügte ihr. – Damals gerade hatte die Gräfin Arrenberg ihren betrügerischen Inspektor weggejagt und nach billigem Ersatz sich umgetan, denn billig mußte alles sein, was die Frau Gräfin nicht für sich persönlich bedurfte. So kam denn Lotte zu den Arrenbergs und spielte Inspektor, Rendant, Tierarzt, Mechaniker, Monteur und … eisernen Besen, alles in eins.

Das konnte nur jemand, der durch eine harte Schule gegangen war, und so war’s bei diesem blonden Mädel, das mit einer fast verwirrenden Energie die Zügel in Arrenberg an sich nahm und der noch immer in sehr irrigen Vorstellungen befangenen Gräfin gleich am dritten Tage erklärte: „Eigentlich müßten Sie nach dieser unglaublichen Lodderwirtschaft und bei den Schulden sofort die Zwangsverwaltung beantragen. Aber ich will mit dreitausend Mark einspringen, denn aus Arrenberg ist bei vernünftiger Wirtschaft etwas herauszuholen.“

Worauf die Gräfin sofort um einen Vorschuß von zweihundert Mark gebeten hatte für notwendige Sommertoiletten. Worauf Lotte nur gesagt hatte. „Ich freue mich, daß Frau Gräfin noch so viel Humor haben. Sommertoiletten sind nötig, das stimmt – für die Scheunendächer!“

Frau von Arrenberg war davongeschwebt und hatte im Salon zu ihrem Sohne gesagt: „Die Person ist unmöglich! Ich werde sofort wieder kündigen …“

„Und wo nimmst du die dreitausend Mark her, um den Konkurs zu vermeiden“, hatte Günter von Arrenberg erwidert, denn er wußte, daß niemand ihnen mehr einen Pfennig pumpte.

Die Kündigung unterblieb, und in Arrenberg herrschte fortan ein sehr frischer Wind, der zuweilen zum Sturm anwuchs, besonders wenn Lotte den Takt dazu pfiff, – und sie pfiff alle an ohne Ausnahme.

Eine neue Fliege amüsierte sich in der Tinte und zog eine lange schwarze Bahn beim Weiterkrabbeln hinter sich her. Sie krabbelte nach Osten, und Lotte verfolgte sehr aufmerksam ihren Weg, denn der Osten hatte seit gestern bestimmte Anziehungskraft für sie.

Lotte lehnte sich im Schreibsessel zurück und bog den Kopf noch mehr nach rückwärts. Auch das war kennzeichnend für sie. Sie schloß die Augen und lauschte dem Zirpen der Grillen draußen im Parke und den heiseren Schreien der Eulen und Käuzchen. Die Fenster standen weit offen, und der würzige Geruch von Heu und Goldlack drang herein. Die brennende Petroleumlampe gab ein warmes behagliches Licht. – Die Überlandzentrale verlangte erst Bezahlung der Rückstände, – deshalb diese altmodische Beleuchtung. –

Wenn irgend etwas geeignet war, Lottes herbe Schönheit zu mildern und die Feinheiten dieser regelmäßigen Züge zu unterstreichen, so war’s diese warme Beleuchtung. An Lotte war nichts Kunst. Sie trug ihr Blondhaar in dicken Flechten um den Hinterkopf aufgesteckt und erlaubte nur einer einzigen Strähne, etwas kokett in die Stirn zu fallen. Sie kannte keinen Puder, keinen Lippenstift, kein Parfüm, keine rasierten Augenbrauen. Sie war droben von der Küste gekommen, wo die Menschen das Meer brausen hören und wo die Herbststürme die Menschenhirne reinfegen. Dort war Lottes Heimat gewesen, dort hatte sie, eine Waise, um den väterlichen Hofs gerungen und war als Siegerin in die Fremde gegangen, kein Bauernmädel mit engem Horizont und mangelhafter Bildung, nein, eine junge Dame, die nicht Dame sein wollte, weil sie die Bezeichnung nicht brauchte. Wer sie kennenlernte, sah ihr an, was sie war, wer sie sprechen hörte, verstummte bald, es sei denn, es war ein Mensch ihres Schlages, eine Vollnatur.

Und dabei war diese Lotte keineswegs der Typ eines frühzeitig vermännlichten Weibes. Im Gegenteil. Auch sie war im Herzen so wundervoll jung und frisch und so natürlich geblieben, daß es auch ihr an gewissen Anfechtungen nicht fehlte, die keinem gesund empfindenden Weibe erspart bleiben.

Hieran dachte jetzt Lotte gerade. Aber sie dachte auf ihre Art daran, und wenn auch ein verträumtes Sehnsuchtslächeln dabei ihren roten Mund umspielte, so waren ihre Gedankengänge wie stets auf ein bestimmtes Ziel gerichtet. Ob es ihr je gelingen würde, dieses Ziel zu erreichen, erschien nach ihren bisherigen Erfahrungen sehr fraglich.

Sie hob plötzlich lauschend den Kopf. Den Schritt kannte sie, ebenso das sorglose Pfeifen. Eine schnell wieder verebbende Röte stieg ihr in die Wangen, hastig griff sie nach dem Federhalter und beugte sich über die Fliegenlandkarte mit der Spur nach Osten. Es klopfte.

Günter Arrenberg trat ein. Schlank, elegant, hübsch, vornehm und unbekümmert wie immer, eine jener Sonnennaturen, die das Leben nie recht ernst nehmen, weil sie dies nie gelernt haben.

Zwischen ihm und der gestrengen Tyrannin von Arrenberg hatte sich rasch, trotz mancher ernster Zusammenstöße, ein kameradschaftlicher Ton herausgebildet, der seiner Mutter stärkstens mißfiel. „Du wirst es noch soweit treiben, daß das Mädchen sich Hoffnungen macht!“ hatte sie unlängst noch erklärt, als man mit Lottes Erlaubnis, denn sie führte ja die Kasse, einen bescheidenen Abstecher nach Berlin gemacht hatte.

Günter hatte die Mama ausgelacht. „Lotte?! – Die heiratet doch nicht einen Bettelgrafen wie mich! Die kluge Lotte wäre mir auch als Frau geradezu unheimlich“, hatte er zu scherzen versucht, um seine leichte Befangenheit zu bemänteln. „Ein Mädel, das vier Sprachen beherrscht und so genau weiß, weshalb die Haferpreise anziehen werden, nimmt keinen Mann, der ausgerechnet im Kadettenkorps seine Erziehung genoß und den der Krieg verschonte, weil er noch zu jung für die Front war. Meine Kenntnisse als Landwirt haben uns leider dahin gebracht, daß jetzt diese selbe Lotte den Laden wieder in Ordnung bringen muß! Nein, Mama, – Lottes Zukunft kann ich dir genau voraussagen. Aus der wird einmal etwas ganz Großes!“ Damit hatte das Gespräch über Lotte ein Ende, denn im stillen gab die Gräfin ihrem Einzigen vollkommen recht. –

„Aber Lottichen, noch immer über den ver… Rechnungen!“ und Günter lehnte sich an den Schreibtisch und suchte Lottes Blick zu erhaschen.

„Ihre Schuld!“ Sie malte an das Ende der nach Osten weisenden Fliegenspur viele Fragezeichen. „Nur Ihre Schuld!“ bekräftigte sie. „Wenn Sie etwas vernünftiger die Ausgaben den Einnahmen angepaßt hätten, wäre …“

„Hören Sie auf!“ flehte er und hielt sich die Ohren zu. „Trage ich nicht schon Ihnen zuliebe baumwollene Strümpfe und fertige Oberhemden und rauche ich nicht schon vor Verzweiflung und aus Reue Zehnpfennig-Zigarren, die ich allerdings unserem Gast nicht anbieten durfte, – nur deshalb habe ich eine halbe Kiste bessere Giftnudeln erstanden und …“

„Überflüssig!“ schnitt die blonde Tyrannin von Arrenberg ihm das Wort ab. „Wenn Mr. Olliver Dalton Importen gewöhnt ist, so hätte er sie sich mitbringen sollen!“

Günter seufzte. „Gehen Sie mit mir doch nicht zu hart ins Gericht, Lottichen! – Überhaupt, – könnten Sie denn nicht zu mir etwas netter sein … – so etwas, nur etwas … mädchenhafter! – Bin ich denn wirklich ein so furchtbares Ekel, daß Sie mit mir so gar kein Erbarmen haben?“

Er hatte sich tiefer über den Tisch gebeugt und flüsterte nur noch. Die verhaltene Zärtlichkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören. Seine Hand tastete zaghaft nach den Fingern Lottes, die noch immer die Fragezeichen an die Fliegenspur malte.

Sie zog ihre Hand nicht zurück, sie hatte wieder die Augen geschlossen, sie atmete immer hastiger, immer tiefer röteten sich ihre Wangen.

Draußen zirpten die Grillen, von draußen kam der Zauber der Sommernacht herein und mit ihm die Düfte des Goldlacks und der blühenden Faulbäume. Der Brunftschrei eines Hirsches dröhnte aus den Forsten des nahen Naturschutzgebietes herüber, – irgendwo im Parke kreischte eine Mädchenstimme und verstummte schnell wieder. Die warme Julinacht strahlte den Odem und die Töne der Liebe aus.

Lotte rührte sich nicht.

Die blonde Tyrannin von Arrenberg fühlte ihr junges Herz jagen, – schneller, immer schneller …

Und über ihr flüsterte Günter mit berauschender Innigkeit weiter seine ehrlich gemeinte Liebeserklärung. Seine andere Hand ruhte jetzt auf Lottes Scheitel.

„Ich habe dich ja lieb! Deinetwegen werde ich mich ändern, habe mich schon geändert. Versuch’s doch mit mir. Du bist ja der Traum meiner stillen Sehnsucht geworden, ich bewundere deine Kraftfülle, dein Zielbewußtsein. Jeder muß dich bewundern, jeder …!“

Lotte rührte sich nicht. Ganz flüchtig nur glitt der Gedanke durch ihr junges Hirn. daß sie hier eine Mission erfüllen könnte. Aber sie wollte in dieser Stunde nicht durch kühle Erwägungen die Heiligkeit dieses Zukunftstraumes entweihen.

Günter kniete plötzlich neben ihr und umschlang sie.

„Mädel, Mädel, sei doch barmherzig!“ Seine Stimme war nur mehr ein einziges scheues Flehen.

Im Parke kreischte die Unsichtbare nochmals auf, aber in den Tönen lag’s wie Jubel und Seligkeit. Auch der Hirsch meldete sich wieder, und die Brautmusik der Grillen schwoll zu mächtigstem Fortissimo an.

Da wandte Lotte sich um, blickte in Günters erhitztes Gesicht und legte ihm die Hände um den Hals und zog ihn zu sich empor. Als er sie küßte und seine Lippen sich festsogen an der Süße ihres reinen, nie geküßten Mundes, versank für Lotte die ganze Welt.

Nachher, als sie ihn von sich drängte, blieben ihre Hände auf seinen Schultern ruhen, und eine große, herrliche Feierlichkeit überflutete sie als Nachhall der stürmischen Zärtlichkeiten.

„Du wirst mich nie enttäuschen, Günter, – versprich mir das! Du wirst das Leben fernerhin so ernst nehmen, wie es für unsere Zukunft nötig ist. Wir werden nun gemeinsam für uns arbeiten und Arrenberg wieder in die Höhe bringen und sparen und – schweigen. Es ist so besser, daß vorläufig niemand von unserer Verlobung etwas erfährt – niemand!“

Er nickte eifrigst. Eine große Last war hiermit von ihm genommen, denn er fürchtete den eisernen Widerstand seiner Mutter, die noch vorhin in Gegenwart Olliver Daltons, dieses vollendeten Gentleman, geäußert hatte. „Nur keine Mesalliancen, Herr Dalton, – darin gebe ich Ihnen vollkommen recht. Genau wie Sie in Indien die Farbengrenze strengstens einhalten, ebenso würde ich nie dulden, daß Günter etwa eine Lebensgefährtin aus Kreisen wählte, die uns ja doch nie verstehen, – den besten Beweis hierfür habe ich an Fräulein Lorenzen, unserer Gutsrendantin. Die bürgerliche Kleinlichkeit in allen Dingen wirkt einfach deprimierend.“

Dalton lächelte insgeheim und dachte an seine Schwester Astrid und an den jungen Fürsten von Beldari. Auch an seinen Auftrag dachte er, der ihn hier nach Deutschland geführt hatte und ihn wie zufällig nach langen Nachforschungen in Friesland die Bekanntschaft der Arrenbergs suchen ließ, was ihm bei seiner Routine in heiklen Missionen unschwer gelungen war.

Dann schickte die alte Gräfin ihren Sohn zu Lotte Lorenzen, da das Abendessen sofort serviert werden würde. Sie hätte ja auch selbst hinübergehen können, aber sie wollte mit dem Engländer ein paar vertrauliche Worte wechseln.

„Haben Sie irgend etwas erreicht?“ begann Dalton sofort.

„Ja. Bevor ich aber spreche, Herr Dalton, muß ich wissen, weshalb ich von dem Mädchen gerade dies in Erfahrung bringen sollte und warum Sie nicht selbst diese …“

Dalton winkte mahnend ab. „Bitte, leiser, Frau Gräfin! Die Sache ist nichts für fremde Ohren. Haben Sie nun volle Gewißheit erhalten?“

Die hagere Frau mit dem gefärbten Scheitel und dem verkniffenen Mund spielte mit ihrer Lorgnette und blickte Dalton abschätzend an. Ein langes Leben in ihren Kreisen hatte sie hellhörig und auch raffiniert werden lassen. Sie hatte sich jene verschleierte Gewinnsucht nebenher angewöhnt, die durch den Zerfall ihres Vermögens verursacht wurde, – sie haßte das erfolgreichere Bürgertum mit jener blinden Einseitigkeit, die dem Neide und dem Bewußtsein der eigenen Unzulänglichkeit entspringt und die jetzt noch durch Lottes Anwesenheit in ihrem Hause gefördert worden war. Sie sah in Lotte eine Vertreterin dieser neuen Zeit, in der nur noch der Wert der Persönlichkeit ausschlaggebend war und alle Vorrechte der Adelskaste in Staub zerfielen und von dem frischen Luftzug dieser inneren Umstellung der Menschen fortgeweht wurden wie überflüssige, schädliche Asche einer überlebten Epoche.

Olliver Dalton, gebräunt von der Sonne Indiens und vollkommen seinem Vater gleichend, begegnete blinzelnd und den überschmalen Kopf etwas schiefer haltend wie ein nach Beute ausspähender Raubvogel diesem abschätzenden Blick der früh gealterten Gräfin und klemmte bewußt langsam sein randloses Monokel ein. Ihm war es sehr wertvoll gewesen, daß diese Frau, die er als Gegnerin nie für voll nahm, vorhin ihre Grundsätze über Ehen so schroff vorgebracht hatte. Mithin brauchte er mit Günter Arrenberg als Konkurrenz nicht zu rechnen. Er kam ihr nun schlauerweise zuvor und sagte gedämpft und mit aller Behutsamkeit, um ihren Stolz nicht zu verletzen:

„Ich möchte zu Ihnen ganz offen sprechen, Frau Gräfin…“ – Wenn Olliver „offen“ sprach, log er unbedingt. „Wie Sie wissen, ist mein Vater Anwalt in Allahabad. Zu seinen besten Klienten gehört der Plantagenbesitzer Lorenzen, der sehr kränklich ist und dessen voraussichtliche Erben wir gern veranlassen möchten, uns auch fernerhin ihre Aufträge zu überweisen.“

Frau von Arrenberg, der diese Einleitung zu langatmig wurde, unterbrach ihn mit einer sehr abgerundeten, aber auch ebenso bestimmten Handbewegung.

„Ich bin bereits im Bilde, sogar restlos …“

Olliver sagte dieser Ton gar nicht zu. Sollte er die Frau doch unterschätzt haben?!

„Erledigen wir die Sache ganz geschäftsmäßig. Wieviel ist Ihnen eine absolut sichere Auskunft wert?“

Dalton fiel das Monokel in den Schoß. Diesen direkten Angriff hatte er nicht erwartet. Er überlegte. Bot er zu wenig, so war es immerhin möglich, daß die Arrenbergs Erkundigungen über Lorenzens Vermögenslage einzogen und daß dann vielleicht doch der junge Graf auf Befehl der Frau Mama dieses Mädchen, mit der er ohnedies schon sehr vertraut stand, für sich errang. In jedem Falle war es also angebracht, hier nicht allzu kleinlich zu sparen. So, wie die Dinge lagen, kam es auf ein paar Banknoten mehr oder weniger nicht an.

„Fünftausend Mark“, erklärte er also.

Die Gräfin hob ihre Lorgnette an die Augen und musterte ihn von oben bis unten und von unten bis oben mit einem unendlich hochmütigen Gesichtsausdruck.

„Zehntausend“, verbesserte er sich schnell. „Ich hatte mich nur versprochen …“

„Zwanzig“, lautete die kühle Erwiderung. „Und zwar sofort !“

Olliver bekam zum ersten Male Respekt vor dem deutschen Adel. Das war ja sehr gesunder Kaufmannsgeist! Die Frau imponierte ihm. Auch er machte es nun kurz und bündig. „Abgemacht, falls Ihre Auskunft wirklich vollkommen sicher ist.“

„Vollkommen …!“ bestätigte sie. „Haben Sie so viel Bargeld bei sich?! Ich muß auf sofortige Zahlung bestehen. Sie wissen ja, mit wem Sie es zu tun haben.“

„Ja, jetzt weiß ich es leider“, nickte er melancholisch. „Jetzt ja! Hier ist das Geld.“ Aus der Innentasche seiner Smokingweste brachte er ein ehrfurchtsgebietendes Paket Banknoten zum Vorschein. Er war an andere Ausgaben gewöhnt. Bei den vielverzweigten Geschäften der Anwaltsfirma Dalton und Dalton spielte die Summe überhaupt keine Rolle.

Nachdem die Gräfin das Geld sorgfältig durchgezählt hatte, erhob sie sich, richtete sich kerzengerade auf und drückte auf den Knopf der Tischglocke, um den einzigen Diener, den Lotte dem Haushalt belassen hatte, herbeizurufen.

„Herr Dalton“, erklärte sie mit eisiger Kälte, „Sie haben unter einem Vorwand unsere Bekanntschaft gesucht und haben sogar in ganz bestimmter Absicht uns nahegelegt, Sie für längere Zeit hierher einzuladen. Von dieser Einladung haben Sie hier als unser Gast einen Gebrauch gemacht, der äußerst anfechtbar erscheint, – milde ausgedrückt. Zunächst haben Sie Fräulein Lorenzen gegenüber abgestritten, derselbe Dalton zu sein, der aus noch heute unerfindlichen Gründen den Lorenzen-Hof in der Versteigerung durch einen Beauftragten erstehen ließ. Sie haben … gelogen. Sie sind derselbe Dalton, ich habe mich genau erkundigt! Welcher Art das Spiel ist, das Sie hier treiben, weiß ich nicht, jedenfalls ein unsauberes Spiel. Von den Zwanzigtausend Mark werde ich die Hälfte dem Versorgungsheim für Kriegswaisen zustellen. Was Lotte Lorenzen betrifft, so ist sie die Nichte und zwar die einzige, die der Plantagenbesitzer Peter Lorenzen besitzt. Peter Lorenzen verließ seinerzeit die Heimat für immer, weil sein Bruder Jan das Mädchen heiratete das die beiden Brüder liebten.“

Der Diener trat ein.

„Franz, Herr Dalton wünscht sofort abzureisen. Herr Dalton wird auch nicht mehr am Abendessen teilnehmen. Geleiten Sie ihn auf sein Zimmer.“

Olliver Dalton erbleichte, und sein Gesicht ward vor ohnmächtigem Grimm zur Fratze – für Sekunden. Er hatte sich doch zu gut in der Gewalt.

Er verneigte sich tief. „Wir sehen uns hoffentlich wieder, Frau Gräfin. Es würde mir eine Freude sein!!“ Die versteckte Drohung war nicht zu überhören.

Frau von Arrenberg blieb sehr kühl-gleichgültig.

„Ich glaube kaum“, meinte sie nur. „Franz, der kleine Jagdwagen genügt übrigens.“

Es war der schlechteste Wagen, den das Restgut Arrenberg besaß. – –

Am Tage darauf gab Frau von Arrenberg die Verlobung ihrer Kinder hocherfreut bekannt. Am selben Tage erhielt das Kuratorium des Versorgungsheims für Kriegswaisen einen Barscheck über 10 000 Mark mit der Bitte, die Spende nicht weiter zu erwähnen. Was auch geschah. – Immerhin war Lotte sowohl wie ihr Verlobter über die plötzliche Abreise Mr. Daltons genau so erstaunt wie über die großen Summen, über die Frau von Arrenberg mit einem Male auch zugunsten des Wirtschaftsbetriebes verfügen konnte … –

 

3. Kapitel.

Der Tempel des Gewordenen.

Der Gond stand regungslos hinter dem schweren, golddurchwirkten Türvorhang und horchte.

Hinter ihm plätscherten leise die beiden leuchtenden Springbrunnen.

Vor ihm sprachen der Nanna-Sahib und dessen Gäste und der Sahib mit den Türkis-Augen über Seine Hoheit den Fürsten und über Seine Exzellenz den Residenten Sir Howard Cray in sehr vorsichtigen Ausdrücken. Als Astrid und der strenge Plantagendirektor, dessen Augen so gar nichts entging, auf die Terrasse hinausgetreten waren, verließ der bestochene und doppelt treulose Hausmeister seinen Lauscherposten und begab sich eiligst in den Eckturm und beugte sich zu einer der Turmluken hinaus. Stiller Mondschein lag auf der Terrasse und auf den heißen Gesichtern des Liebespaares. Der Gond Wanar – das hieß: einer, der aus der Wildnis kam – schoß nachher den Pfeil ab und beobachtete dessen allmähliches Verschwinden in den grünen Baumwipfeln.

Drunten, wo der Dschungel seine Ausläufer bis an den steilen Bergrücken heranschob, auf dem der Nanna-Sahib in weiser Vorsicht seine Felsenfestung erbaut hatte, erkletterte ein eiliger Mann mit geschorenem Kopf und schwarzer Scheitellocke denselben Baum und fand den noch glimmenden Pfeil, um dessen Spitze ein Stückchen helles Leder gewickelt und mit Draht befestigt war. Der nur mittelgroße, breitschultrige Vertraute des Hausmeisters holte seinen struppigen Gaul aus dem Dickicht und galoppierte neben dem Fahrweg dahin, den der Nanna-Sahib durch den Dschungel bis Beldari hatte anlegen lassen. Es war ein Ritt von anderthalb Stunden, und Reiter und Pferd langten völlig ausgepumpt im neueren Viertel der Residenz an.

Lord Howard Cray, den eine vielerfahrene Regierung trotz oder gerade seiner vielfachen Streiche wegen auf diesen einsamen Posten geschickt hatte, nahm die Meldung von dem späten Besuch des Gond mit nur äußerlichem Gleichmut entgegen.

Der Farbige, der den reinsten Typ der Urbewohner Indiens verkörperte und vollkommen einem Neger glich, wenn man das schwarze, dicke, strähnige Haar nicht berücksichtigte, reichte Seiner Lordschaft wortlos das mit Tintenschrift bedeckte helle Lederstück und wollte sich, nachdem Cray ihm ein paar Münzen zugeworfen hatte, die er wie ein Jongleur in der Luft auffing, bescheiden wieder entfernen. Ein schroffer Wink zwang ihn zum Bleiben.

Howard Cray klemmte das Einglas vor das matte Auge und las die Botschaft mit steinerner Miene. Selbst der schärfste Beobachter hätte nicht sagen können, ob sie ihm angenehm oder unangenehm war. – Cray war arm und ein Spieler und Weiberheld, und wenn er nicht der Erbe des Herzogstitels deren von Cray und nicht so vollständig skrupellos und auf seine Art ein feiner Diplomat gewesen wäre, hätte man ihn längst in die Heimat abgeschoben. Aber die indischen politischen Verhältnisse erforderten leider zuweilen auch Leute dieses anrüchigen Schlages.

Cray war kaum dreißig, aber sein Äußeres deutete auf fast das Doppelte an Jahren hin. Dennoch blieb er eine Erscheinung, die überall Beachtung fand.

Das leicht Dekadente an ihm verstärkte vielleicht noch den Eindruck müder, degenerierter Vornehmheit, außerdem hatte er ein moralisches Plus aufzuweisen, das vieles wettmachte: Seine anerkannte Tapferkeit, ja schon mehr Tollkühnheit. Furcht vor dem Tode war ihm ein unbekannter Begriff, und auch deshalb hatte man ihn vor einem Jahre hierher geschickt, wo die Residenten stets so überraschend schnell dahinstarben. Howard Cray starb nicht. Er kannte Indien. Er hatte an allen Kämpfen der letzten Jahre teilgenommen, bald droben an der stets unruhigen Grenze nach Bhutan hin, bald in den noch unerschlossenen Wildnissen im Innern, die unlängst unter schweren Verlusten endlich genau vermessen worden waren. Spiel, Weiber, Todesgefahr waren die letzten Reizmittel für ihn, vielleicht auch noch sehr feine Intrigen, bei denen Geld und der Nervenkitzel einer heimlichen Kugel oder eines Gifttränkleins herausschauten. Das war Sir Howard Cray.

Er hatte hellgraue, kalte, müde Augen, und als er nun den Gond nachdenklich betrachtete wurde dem Manne, der das Doppelspiel des Hausmeisters Wanar aus Gewinnsucht mitmachte, sehr unbehaglich zumute. Schon allein der Umstand, daß Cray noch immer lebte, erschien dem Gond fast unheimlich. Mehr noch fürchtete er die Allwissenheit dieses großen Schweigers, der nie ein Wort zuviel sprach, was dem lebhaften, geschwätzigen Gond widernatürlich und als ein Zeichen übersinnlicher Kräfte vorkam.

Der Resident von Beldari sagte mit seiner belegten Stimme in gutem Gondi, einer drawidischen Mundart, die nur in den Zentralprovinzen gesprochen wird: „Bestelle dem Bhuta, daß er über alles zu schweigen hat! Du auch!! Sonst wird euch „Das Gewordene“ verschlingen! Ich habe ein Orakel!“

Die kleinen, schiefstehenden und rötlichen Augen des Gond weiteten sich vor Furcht. Jetzt erst sah man, daß er tatsächlich rote Augen wie ein Albino hatte. Er verneigte sich schnell und tief, indem er dabei die Hände mit gespreizten Fingern hinter die Ohren hielt – zur Abwehr der bösen Geister.

Gleich darauf jagte er wieder durch die Nacht auf ungebahnten Pfaden mitten in den Dschungel hinein. Als er eine Lichtung passierte, scheute sein struppiger Gaul zurück und wollte auf der Hinterhand kehrtmachen. Über die Waldblöße zog in nicht allzu großer Höhe ein hell erleuchtetes surrendes Flugzeug hinweg. In der kleinen Kabine saßen der Monteur und Ernest Dalton, während Astrid vorn am Steuer die Maschine mit Höchstgeschwindigkeit nach Allahabad lenkte und dabei noch immer Zeit und auch genügend Sammlung fand, sich mit ihrem Vater durch das Mikrofon zu unterhalten. Der Chef der Firma Dalton und Dalton sagte gerade zu seiner Tochter in gereiztem Tone: „Du wirst an diesem Mann bitteres Lehrgeld zahlen! Ihr Weiber findet alle einmal den einen, an dem ihr euch verblutet!“

„Dann weiß man wenigstens, wofür man gestorben ist“, lautete die leise Erwiderung, die den Anwalt noch mehr ärgerte, als seines Kindes unsinnige Zumutung, die Nebengeschäfte aufzugeben.

Der Gond jagte weiter. Er wußte, wer dort oben heimwärts flog.

Inmitten der Felshügel von Gutschar mit ihren uralten Tempelhöhlen liegt auch das älteste Heiligtum der Urbevölkerung Indiens, der in drei Unterabteilungen zerfallenden Drawida, die bis nach Belutschistan und Ceylon nachweisbar sind und sich am reinsten in den Stämmen der Gond und der Munda erhalten haben, deren wilder Fanatismus und hartnäckige Ablehnung aller Bekehrungsversuche sogar die Lehren des Koran und den Brahmanismus zurückgewiesen haben.

Dieser Bhutentempel, für die Europäer von jeher streng verboten, verrät schon äußerlich durch seine primitive und dennoch kunstvolle Bauweise das Jahrtausend, das man ihm an Alter zumindest zubilligt. Unter klügster Ausnutzung einer mit schlanken Felsnadeln gekrönten Bergspitze, die von Sümpfen und stacheligen Dickichten umgeben ist, errichtete man hier aus Steinblöcken und mit einem lehmigen, hellgrünen Schlick als Mörtel einen schmucklosen, durch seine Urwüchsigkeit imposanten riesigen Tempel, in den sich bisher nur ein Europäer verkleidet eingeschlichen hatte: Der Engländer Williamson, der auch das Gondi als Dialekt eingehend studiert und in einem Spezialwerk behandelt hat. Die ungetreuen Gond, die es ihm als bestochene Kreaturen ermöglicht hatten, als erster über die Innenräume des Tempels zu berichten, verschwanden später spurlos, und in den Zentralprovinzen war es damals öffentliches Geheimnis, daß der Vater des jetzigen Radscha von Beldari an dieser Justiz nicht ganz schuldlos gewesen. –

Der Gond brachte sein Pferd in einer Hütte unter, wo außerdem noch einige fünfzig Reittiere aller Art standen. Bevor er den schmalen Steindamm durch den Sumpf überschreiten konnte, mußte er an so und so vielen Wachen vorüber. Eine schier endlose Treppe führte in die Tiefe – ins Allerheiligste.

Der Vertraute des Hausmeisters Wanar kam gerade zu sehr ungelegener Zeit, – soeben hatte der Tanz der Priester begonnen, und die hier versammelten Verschwörer befanden sich in jenem Zustand von Ekstase, der die ungezügelte Wildheit der Gond in blutdürstige Raserei ausarten ließ.

Der Schwertertanz der Bhuten, ähnlich dem der Derwische, kostete ungezählten schwarzen Hähnen das Leben. Zuletzt mußte ein schwarzer Ziegenbock als Ersatz für ein Menschenopfer daran glauben, dem der Oberpriester mit kurzem Hauschwert die Kehle durchschnitt. Er bog den Kopf des gefesselten Tieres gewaltsam zurück, und zwei dicke Blutstrahlen spritzten im Bogen über die Versammlung hin, die hier dem Gegner des Radscha Ghawi und somit dem Günstling der Engländer huldigte.

Als die Blutstrahlen über die tanzenden Bhuten und die nicht minder besessenen Verschwörer hinwegspritzten und die schweißtriefenden Gesichter mit den lodernden roten Augen trafen, schlugen die Priester ihre Schwerter noch dröhnender zusammen und die ganze Schar heulte als ein einziger wahnwitziger Chor in grellen Schreien ein bestimmtes Wort, das etwa die Bedeutung von Orakel hat.

Der primitive Götzendienst der Gond erreicht mit diesem Orakel stets seinen Höhepunkt.

Wenn einige Gelehrte behaupten, daß der auf Haiti zuerst erstandene Geheimbund der Mamaloi, ein echtes Negerprodukt übrigens, vieles dem Bhuta-Dienst der Gond entlehnt habe, so dürfte dies nicht ganz zutreffen, denn es erscheint ausgeschlossen, daß die Haiti-Neger auch nur die geringste Ahnung von dem wenig bekannten Bhuta-Kult haben. Die Ähnlichkeit gewisser blutiger Zeremonien, so auch des Orakels, weist nur darauf hin, daß halbzivilisierte Völker aus gleicher geistiger Einstellung heraus auch zu den gleichen religiösen Gebräuchen gelangen. Tatsache bleibt, daß die Mamaloi in Haiti als Ersatz des Menschenopfers sich ebenfalls mit einem schwarzen Ziegenbock begnügen und daß wie bei den Gond der Oberbhuta der vertierten Menge seine Weissagungen auf ihre Fragen hin zubrüllt, genau so die „Mamaloi“ als Oberpriesterin Orakel erteilt.

Der Oberbhuta gab auf die unsinnigsten Fragen die gewohnten doppeldeutigen Antworten, aus denen jeder sich heraussuchen konnte, was ihm gerade paßte. Aber bei alledem enthielten diese Antworten doch zuweilen versteckte Drohungen an die, denen der greise Ziegenbockschlächter nicht recht traute.

So wird denn auch Lord Howards Bemerkung verständlich, als er den Gond an das Orakel erinnerte, und der Gond dadurch in so große Furcht geriet. –

Während der Oberbhuta noch den Verschwörern zumeist ein Gelingen der Pläne gegen den Radscha Ghawi verhieß, war neben dem Altar, der über und über mit Blut besudelt war, ein alter Hindu erschienen, der in derselben Nacht auch dem Nanna-Sahib einen kurzen Besuch abgestattet hatte.

Er trug einen Ledersack auf dem Rücken, in dem sich etwas Lebendes unruhig hin und her bewegte: Schlangen, Brillenschlangen, die der Fakir für seine Vorführungen in den Straßen Allahabads benutzte, um den dummen Ungläubigen das Geld aus der Tasche zu locken und um auch noch andere Ziele zu verwirklichen, bei denen es auf Menschenleben nicht ankommen durfte. Er war keiner jener gewöhnlichen Fakire, die nichts als bessere Zauberkünstler sind, nein, er gehörte zur Brahmanenkaste und war nebenher ein intimer Freund des Oberbhuta, mit dem er zur Begrüßung zunächst nur einige Blicke wechselte.

Der Bote des Hausmeisters fand erst nach einiger Zeit Gelegenheit, den Obersten der Gewordenen – Bhuta bedeutet „Das Gewordene“ und ist in übertragenem Sinne zu verstehen, also Geist, Dämon und zugleich Priester dieses reinen Götzendienstes – heimlich zu sprechen. Als er dem alten Manne, der vielleicht als Gond noch reinrassiger war als der Vertraute Wanars und noch rötere Augen hatte, von der zärtlichen Szene zwischen Astrid und dem Türkis-Sahib Mitteilung machte, zog ihn der Greis noch weiter hinter den von einem präparierten Tigerkopf gekrönten Altar und gab ihm flüsternd den Befehl, sofort nach Beldari zurückzukehren und im Palaste des Fürsten das Nötige anzuordnen … –

Der Oberbhuta war in Beldari neben dem Radscha die einflußreichste Persönlichkeit. Er mochte als fanatischer Gond die Fremden hassen, – ihre Kultur, die Gesamterscheinung ihrer Kultur lehnte er nicht ab, soweit sie seinen eigenen Zielen sich dienstbar machen ließen. Er war ein alter kluger Mann, der längst über die engen Begriffe seines Hauptberufes hinausgewachsen war, ihm lag lediglich daran, sein Volk rein zu erhalten und alle Einflüsse von außen von diesen primitiven Seelen abzuwehren. Er verfolgte also genau dieselben Ziele, wie es auch andere Oberhäupter von Religionsgemeinschaften tun: Er diente der Priesterkaste, deren Vorrechte er nicht irgendwie schmälern lassen wollte!

Auch er trieb ein doppeltes, nein, sogar ein dreifaches Spiel. Jedoch aus ganz anderen Beweggründen. Wie alt er war, wußte er selbst nicht mehr, er hatte noch die Zeiten völliger Freiheit für Indien miterlebt, er besann sich noch mit aller Genauigkeit auf die Schlächtereien des großen Aufstandes, er hatte damals in der Hauptstadt des Freiheitshelden Nena-Sahib gelebt und dort den unauslöschlichen Haß eingesogen, der heute in seinem Alter durch die Weisheit der Jahre wohl abgeklärt, aber nie zum Schweigen gebracht worden war.

Nachdem er den Boten abgefertigt hatte, begab er sich in seine eigenen Gemächer im Anbau des Tempels und erwartete hier das Erscheinen eines Gastes, der nie ohne eine größere Gabe für den Tempelschatz von dannen ging. Das Gemach mit den seidebespannten Wänden und den zum Teil ganz modernen Möbeln diente dem Oberbhuta gleichzeitig als Schlafzimmer, falls die Umstände es erforderten, einmal eine Nacht hier zuzubringen. Er begann sich umzukleiden und hüllte sich in kostbar bestickte Gewänder. Dann trat auch schon der Erwartete ein, geführt von einem jüngeren Priester, auf den der Greis sich verlassen konnte.

Der Fremde war wie ein Einheimischer gekleidet und hatte außerdem noch eine Falte des Turbans bis zur Nasenspitze herabgezogen und seinen schwarzen Bart, der nicht ganz echt wirkte, derart drapiert, daß auch von der unterem Hälfte seines Gesichts nicht viel zu sehen war.

Er begrüßte den Greis nur durch eine respektvolle Verneigung, nahm unaufgefordert Platz und legte schweigend vor den Oberbhuta eine kleine hölzerne Röhre hin, die am einen Ende verschlossen und versiegelt und am andern mit dem Oberteil aus einem Stück bestand. Dann faßte er nochmals in die Tasche seines ärmlichen Kittels und zählte dem Alten umständlich eine Reihe Banknoten auf.

„Morgen also“, sagte er in fließendem Hindostani. Nicht mehr.

„Morgen“, wiederholte der Greis in derselben knappen Art, fügte aber noch hinzu: „Falls er dann noch lebt!“

Der Fremde zuckte zweifelnd die Achseln. „Die Tränklein des Doktors haben nicht sehr gewirkt, – bisher …!“

„Morgen“, erklärte der Oberbhuta abschließend. Auf weitere Erörterungen wollte er sich nicht einlassen.

Der Fremde erhob sich und zögerte sichtlich. „Weißt du, daß er eine Frau in Europa als Agentin beschäftigt …?“ meinte er plötzlich in englischer Sprache.

Der Greis mit den roten Albino-Augen betrachtete ihn gleichgültig, als hätte er ein ganz untergeordnetes Wesen vor sich.

„Unsere Augen sind rot“, erwiderte er mit eigentümlicher Betonung, „sie sind rot wie die Morgen- und die Abendröte, die auch überall auf Erden sichtbar ist. Unsere Augen reichen weiter als die deinen, und vor uns hat die Welt keine Geheimnisse.“

Es lag nichts Anmaßendes in dieser halben Zurechtweisung des Fremden, es war nur wie eine einfache Feststellung von Tatsachen, und der Fremde antwortete auch nichts darauf, sondern ließ sich von dem jüngeren Priester wieder ins Freie geleiten, wo in einem Gebüsch ein hochbeiniges Rassepferd mit zierlichem Kopf und temperamentvollen großen Augen stand. Der Fremde schwang sich spielend leicht in den Sattel, ohne die Steigbügel zu benutzen, und jagte in gestrecktem Galopp davon.

Zur selben Minute hielt der Oberbhuta die Glasröhre, die in dem Holzbehälter eingesiegelt gewesen, gegen das Licht der Petroleumlampe und las den Aufdruck des Papierschildchens:

Laboratorium Dr. E. Dalton, Allahabad
Leiter: Prof. Dr. Kennedy
† Cholerabazillen †

Der alte Fakir trat ein.

Sein Vertrauter, der Oberbhuta, winkte ihn neben sich auf die Polsterbank und hielt ihm, ohne das Gesicht zu verziehen, die Glasröhre hin.

„Nun wissen wir auch, wie die Choleraepidemie entstanden ist“, sagte er zu dem Brahmanen.

Der nickte nur. Sie bedienten sich des Hindostani, und der Fakir erklärte nach einigem Nachsinnen:

„Er hatte es längst vermutet, und er wußte auch, daß man schon zweimal in das Wasserbassin im Turme Bazillen hineingeschüttet hatte. Er meint, daß eines Tages auch trotz aller Wachsamkeit ein derartiger Anschlag gelingen könnte, und er will nicht unnötig Menschenleben aufs Spiel setzen, deshalb solltest du dem Ungläubigen den Vorschlag machen, dir die Röhre zu verschaffen.“

Er holte aus seinen stinkenden Lumpen eine Menge Banknoten hervor und legte sie vor den Bhuta hin, der lediglich bemerkte:

„Er tut sehr viel Gutes für unseren Tempel. Ich diene ihm in Treue.“

„Auf Verrat steht Tod“, sagte der Fakir schlicht … Es war nicht als Drohung gemeint. „Kennst du den Ungläubigen nun, der dich ebenfalls Geld verdienen läßt?“

„Ich habe eine Vermutung, nur das. Sein Pferd ist zu schnell, und er reitet stets den Weg der Tiger, den meine jungen Leute vermeiden.“

„Dalton?“ fragte der Hindu mit einer Stimme voller Haß und Verachtung.

Der Oberbhuta überlegte nochmals.

„Ich weiß nicht recht, – Dalton ist größer, glaube ich …“

„Dann also doch der Resident?!“

„Auch das ist sehr zweifelhaft. Vielleicht käme eher der Sohn des Spielhöllenbesitzers in Frage“, erwiderte der Greis in den kostbaren Gewändern so leise, als ob er sich scheute, Olliver Dalton zu erwähnen.

„Der ist in Europa“, meinte der Fakir in seiner gewandten Ausdrucksweise. „Es sei denn, du hättest andere Nachrichten.“

„Die habe ich nicht, denn der Fürst ist von Nizza abgereist und hält sich zur Zeit in Venedig auf. Es soll eine der berühmtesten Städte der Ungläubigen sein.“

„Das weiß ich alles. Ja, die Stadt Venedig gleicht unseren heiligen Stätten.“

Dann schlief das Gespräch für eine Weile ein.

Der Oberbhuta reichte seinem Gast eine gestopfte Pfeife und begann selber zu rauchen. Der Tabak roch stark nach bestem Opium, und der Fakir fragte schließlich: „Woher hast du das Gift?“

„Von dem Ungläubigen.“

„Dann ist es doch Dalton! Hüte dich vor ihm. Er soll sogar seine Tochter sich durch das Opium untertan gemacht haben, und er allein besitzt die Gewissenlosigkeit zu solchem Tun.“

Der Oberbhuta spie verächtlich aus.

„Er ist ein Tier, ein Tiger. Er frißt seine eigenen Jungen.“

Diese Äußerung entsprach durchaus der Einstellung der Gond zu den Frauen und Kindern. Mögen die Gond auch schlimmste Götzendiener sein, die Ehefrauen und die Kinder sind ihnen heilig wie den meisten Völkern drawidischer Herkunft. Die Frau gilt ihnen nicht als billige Arbeitskraft, die man schamlos ausnutzen kann, nein, die Stellung der Mütter insbesondere ist so unverletzlich nach alten Gebräuchen festgelegt, daß auch bei dem Verschwörerbhuta vorhin Frauen anwesend waren, da sie als durchaus gleichberechtigt gelten. (Bhuta hier als gottesdienstliche Handlung gemeint.)

Nach einiger Zeit verabschiedet sich der Fakir, um mit der Bahn nach Allahabad zurückzukehren. –

Inzwischen war der Bote des ungetreuen Hausmeisters im Palast von Beldari erschienen und hatte dem Bruder des ersten Ministers des Fürsten die nötigen Mitteilungen gemacht, worauf dieser eine Depesche nach Allahabad sandte, die von dort als Funktelegramm nach Venedig weitergegeben werden sollte. Sie war chiffriert und der Text war außerdem sehr vorsichtig abgefaßt.

 

4. Kapitel.

Der Nanna-Sahib stirbt.

Das indische Riesenreich in seiner modernen Gestaltung besitzt einen einzigen Nationalheros: Nena-Sahib, den Führer des großen indischen Aufstandes von 1857. Aus diesem Aufstande entwickelte sich einer der blutigsten und grausamsten Kriege, die je zwischen Europäern und Farbigen geführt worden sind. Nie hat aber auch ein so seltsamer Anlaß zu einem barbarischen Morden vorgelegen wie damals, nie hat ein Millionenvolk diese satanische Rache der Sieger so wenig vergessen wie das indische bis hinab in die untersten Schichten. Die Sage hat sich mit der ganzen ungezügelten Fantasie des Orientalen dieses Stoffes bemächtigt und ihn ausgeschmückt und erweitert. All dem liegt ein Körnlein Wahrheit zugrunde.

Tatsache ist, daß der Aufstand von 1857 – es klingt ungeheuer trivial! – wegen Rindertalg und Schweineschmalz entbrannte. Im Jahre 1856 war bei den eingeborenen Truppen, den Sepoys oder Shahis, die Enfieldbüchse neu eingeführt worden, deren Patronen mit einer Mischung von Rindertalg und Schweineschmalz bestrichen waren. Den Hindu ist bekanntlich das Rind heilig, den Mohammedanern das Schwein ein durch den Koran verbotenes und verächtliches Tier. Die Engländer nahmen hierauf keine Rücksicht, und die fanatischen Hindu und Moslim rebellierten. Die Eingeborenenregimenter ermordeten alle Weißen, – zum Führer des Aufstandes wurde Nena-Sahib, ein Mahratthenfürst, erkoren, dem die Briten den ererbten Thron vorenthalten hatten. Nena oder Nana Sahib, mit richtigem Namen Dundhu Pat, Sohn eines Brahmanen und Fürst von Bithur, ließ in Khanpur alle Europäer niedermetzeln, nachdem er gehört hatte, daß man einige Rebellen vor Kanonenmündungen gebunden und die Geschütze dann abgefeuert hatte. Am 6. Dezember 1857 erlitt Nena-Sahib die letzte entscheidende Schlappe, da englisches Geld inzwischen seine Anhänger zum Teil zum Niederlegen der Waffen bewogen hatte. Er entfloh in die Wildnis, und nie ist bekannt geworden, wie und wo er starb. –

Der blonde Hüne Peter Lorenzen durfte es sich zur hohen Ehre anrechnen, daß seine zahllosen Kulis ihm den Beinamen oder eigentlich den Hauptnamen Nanna-Sahib gegeben hatten, – er wurde, wenn sie von ihm sprachen, nie anders genannt: Nanna-Sahib! Das hatte einen doppelten Grund. Erstens war es Lorenzens Gewohnheit als sehr skeptisch veranlagte Natur, an allem zu zweifeln, was andere vielleicht unbesehen als Wahrheit hingenommen hätten, und dann sagte er stets nach alter Gewohnheit: „Na … Na, ob dat ook stimmt?!“ Zumeist ließ er den Nachsatz weg und es blieb bei dem zweifelnden. „Na … Na …?!“

Das war der eine Grund. Und der zweite sah schon weit weniger harmlos aus. Da hatten mal vor Jahren, als sich Peters irdische Güter bereits der ersten Million näherten, einige chinesische Kulis, die er leichtfertigerweise als billigere Arbeitskräfte angeworben hatte, so einen Ausstand im kleinen versucht, weil sie sich auf die weite Entfernung bis zur nächsten Polizeistation verlassen hatten, außerdem auch auf die fanatischen Gond, die es den Europäern niemals vergaßen, daß man ihr letztes mächtiges Reich um die Mitte des vorigen Jahrhunderts einfach dem englischen Kolonialbesitz einverleibt hatte. Möglich auch, daß die schlitzäugige Bande gehofft hatte, ihre unverschämten Forderungen bei dem scheinbar so gutmütigem Sahib ohne weiteres durchsetzen zu können.

Sie kamen an den Unrechten. Als die durch Reisschnaps zu vertierten Bestien aufgestachelte Horde schreiend und brüllend sich auf das kaum erst fertig gewordene Wohngebäude zugewälzt hatte, empfing Lorenzen sie ganz allein auf der Treppe und hatte lediglich seinen Reitstock aus Elefantenhaut in der Hand. „Zurück …!!“ rief er ihnen warnend entgegen. Er wußte im voraus, daß dies nicht fruchten würde, er war auf alles vorbereitet. Er rief nicht zum zweiten Male. Er hob die linke Hand, und in dieser Hand hielt er keine Reitgerte, sondern das Messingstrahlrohr der Spritzenanlage.

Sein Hauspersonal hatte sich ihnen nicht angeschlossen, und auch die Gond, die den schlauen Chinesen auf den Leim gegangen waren, hielten sich mehr im Hintergrunde. Im Südturm lag drohen das riesige Wasserbassin, und die Hauptleitung führte auch zu der Kesselanlage für die beiden Lokomobilen.

Das Weitere spielte sich in Sekunden ab. Der Sahib war noch rücksichtsvoll genug gewesen, kein kochendes Wasser zu benutzen, aber sehr viel fehlte nicht am Siedepunkt. Zwei gesteigerte Temperaturen prallten hier aufeinander – durch Alkohol erhitztes Blut und durch Holzfeuer erwärmtes Wasser. Das Wasser siegte! Heulend und kreischend stob die jäh ernüchterte Menge auseinander. Die vordersten Reihen der Chinesen, des Badens ohnehin sehr ungewohnt, rannten wie nasse Katzen davon, und die Gond, die ja mehr aus Solidarität mitgemacht hatten und die als halbes Naturvolk sehr viel Sinn für Humor besaßen, brachen in ein schadenfrohes Gewieher aus, da die Konkurrenz der Schlitzaugen ihnen ohnedies seit langem ein Dorn im Auge gewesen …

„Na – Na!!“ rief der Sahib ihnen zu, „mit eurem Mut ist’s nicht gerade weit her!“

Und eine Stunde darauf zog die gesamte Chinesenrotte auf Nimmerwiedersehen mit Sack und Pack ab. – Das war die Geschichte von dem – wässerigen Streik auf der Vindhya-Plantage, unter diesem Namen ging der Spaß von Mund zu Mund. Seitdem hieß Peter Lorenzen nur noch mit gutem Recht der „Nanna-Sahib“ zum Unterschied und in Anlehnung an den berühmteren Nationalhelden Nena-Sahib.

Dieser blonde Hüne geleitete nun um Mitternacht seine beiden Gäste aus Allahabad zum Flugplatz der Plantage, der jenseits des Parkes auf einem weiten kahlen Plateau vor einigen Monaten angelegt worden war, nachdem der junge Plantagendirektor auf die Vorteile eines Schnellverkehrs mit den nächsten Großstädten hingewiesen hatte.

Ernest Dalton und Lorenzen waren den heimlich Verlobten auf den mondhellen Wegen des ausgedehnten Parkes bald aus den Augen gekommen, zumal Bert Medem es darauf anlegte, mit Astrid zurückzubleiben, um von ihr nochmals sich bestätigen zu lassen, daß sie, was auch kommen möge, treu zu ihm halten werde. Er wußte ja, daß die Dinge hier im Fürstentum Beldari sich immer mehr zuspitzten, daß schlimme Zeiten drohten und die Möglichkeit vorlag, nicht einmal mehr funktelefonisch mit Astrid sich verständigen zu können. Außerdem waren in ihm nach der berauschenden Liebesszene auf der Terrasse doch wieder allerlei Zweifel aufgestiegen, ob die Tochter Ernest Daltons wirklich so gar nichts von den schmutzigen Geschäften ihres Vaters wissen sollte oder aber so wenig, daß sie bisher ihrerseits dagegen in keiner Weise eingeschritten war.

Medem war, was Frauen anbetraf, ein gänzlich unbeschriebenes Blatt, was jedoch geschäftliche oder sonstige Fragen anging, die lediglich einen klaren Verstand und Menschenkenntnis erforderten, – darin schlug er jeden aus dem Felde. Seine Lehrjahre auf den einsamen, wasserarmen Pescadores-Inseln und der Verkehr mit gerissenen Chinesen hatten seinen Geist geschärft und auch viele andere in ihm schlummernde Eigenschaften geweckt. Bei dem innigen Verhältnis, das zwischen Dalton und Astrid offenbar bestand, erschien es ihm bei näherem Überlegen höchst unglaubwürdig, daß ein Mädchen von Astrids Selbständigkeit sich damit zufrieden gegeben haben sollte, einen so schweren Verdacht gegen ihren Vater längere Zeit unbeachtet zu lassen, wo doch gerade sie bei anderen Gelegenheiten eine Energie bewiesen hatte, die im Grunde vor nichts zurückschreckte.

Und dann kam noch eins hinzu, was ihm eine Aussprache unter vier Augen mehr als wünschenswert erscheinen ließ: Die Person des jungen Radscha Ghawi und dessen unklares Verhältnis zu seiner jetzigen Braut!

Er wußte, daß die Daltons sehr viel im Schlosse von Beldari verkehrt hatten und daß erst durch die Europareise des Fürsten diese häufigen Besuche eine Unterbrechung erfahren hatten, ihm waren auch sehr wohl die Vermutungen bekannt, die man in der Europäerkolonie in Allahabad an diesen Verkehr geknüpft hatte, und wenn er auch auf derartig gehässigen Klatsch gar nichts gab, so sagte ihm doch sein eigener, nunmehr wieder recht kritisch eingestellter Verstand, daß ein Mädchen von Astrids Sinnesart und Lebensansprüchen kaum zögern würde, sogar einen Farbigen zu heiraten, zumal dieser von den Briten sonst so streng eingehaltene Trennungsstrich zwischen Weiß und Farbig schon in vielen Fällen vollkommen übersehen worden war, wenn es sich um Heiraten mit einem indischen Fürsten gehandelt hatte, und nicht nur dies: Aus rein politischen Interessen hatte die Regierung derartige Ehen geradezu begünstigt.

Wenn Bert Medem in der Psychologie der Liebe ebenso bewandert gewesen wäre wie in der Aufrechterhaltung der Disziplin unter fünfhundert Kulis oder der besten Abtransportmöglichkeiten des Guano von den Pescadores-Inseln, dann hätte er sich jetzt bereits gesagt, daß es mit seinen Gefühlen für Astrid recht zweifelhaft bestellt sein müsse, wenn so kurze Zeit nach der beseligenden und verheißungsvollen Stunde auf der Terrasse eine solche Fülle von Bedenken in ihm aufsteigen konnte. Aber dies kam ihm gar nicht zum Bewußtsein. Er war nur zunächst sehr still und versonnen, als er nun neben Astrid dahinschritt und nach möglichst schonenden Worten suchte, wie er das so verfängliche Thema anschneiden könnte, ohne seine Braut zu verletzen.

Er kannte die Frauen nicht. Am allerwenigsten kannte er Astrid. Sie war auf allen Gebieten gleich gut bewandert, sie war zweifellos weit über den Durchschnitt hinaus intelligent und besaß jenes überaus feine Einfühlungsvermögen in die Stimmungsschwankungen anderer, das man großen Staatsmännern genau so nachsagt wie den Stars der Hochstaplergilde. Bert Medem wäre nun für sie ein sehr einfaches Problem gewesen, wenn nicht doch ihre Sinne bei alledem mitgesprochen hätten. Als Spekulationsobjekt war er ja bereits ausgeschieden, – ein Legat würde Lorenzen ihm im besten Falle hinterlassen. Was lag ihr an einer Summe, die sie vielleicht im Jahr für Toiletten ausgab?! Ihr lag nur etwas an dem Manne Bert Medem – an dem kraftstrotzenden, gesunden, unverbrauchten Manne, der nicht nur der Partner ihrer schwülen Träume bleiben sollte, sondern den sie ganz für sich besitzen wollte – als Liebhaber und als willfähriges Werkzeug.

Sie spürte die unsichtbare Scheidewand, die bereits jetzt zwischen ihnen sich erhob, und sie ahnte auch, aus welchem Material diese Wand bestünde. Sie kam Bert zuvor. Der Angriff war noch immer die beste Verteidigung, das wußte sie sehr genau. Sie schob ihren Arm in den seinen, schmiegte sich an ihn und sagte in einem Tone, der die Mitte zwischen hingebungsvoller Zärtlichkeit für ihn und ernstester Sorge um den Vater vortrefflich einhielt:

„Ich werde noch heute auf dem Rückfluge mit meinem Vater über die bewußte Sache sprechen, Berty. In der Kabine unseres Flugzeugs kann er mir nicht ausweichen, wie er dies sonst so gern tut. Immer verschanzt er sich hinter dringenden Arbeiten, – so auch gestern wieder, als ich ihm erklärte, ich würde mich an den Besuchen bei Radscha Ghawi nicht mehr beteiligen. Er lachte mich wegen meiner Besorgnis, der Fürst könnte meine häufige Anwesenheit in Beldari falsch deuten, geradezu aus und erklärte mir, ich solle ihn gefälligst nicht mit solchem Unsinn behelligen, der Fürst sei insgeheim ein so fanatischer Weißenhasser, daß es schon schwer genug sei, mit ihm größere Lieferungsverträge abzuschließen. Und dann schob er mich einfach zum Zimmer hinaus. Aber heute entgeht er mir nicht, denn ich denke jetzt an uns beide, Berty, und lieber will ich mich mit Vater und Olliver entzweien, als daß ich dich preisgeben muß, weil an meinem Namen ein Makel haftet.“

Astrid durfte auf diese ihre Leistung stolz sein. Selten wohl wurde eine unsichtbare Scheidewand durch die feine Diplomatie einer Frau mit so wenigen Worten aus dem Wege geräumt wie hier, selten wohl hat ein Mann von Bert Medems wachem Geist so leicht alle Zweifel an der Lauterkeit der Geliebten beiseite geschoben wie er.

Mehr noch. Er schämte sich vor sich selbst. Er nahm sich vor, daß fernerhin nichts mehr in seiner mißtrauischen Seele auftauchen dürfte, was auch nur irgendwie geeignet wäre, sein Verhältnis zu Astrid zu trüben.

Er blieb stehen und zog sie mit einer Leidenschaftlichkeit an sich, die zum Teil seinem Schuldbewußtsein entsprang. Wenn er den Mut dazu aufgebracht hätte, würde er der Geliebten reumütig alles gestanden haben, aber er kam sich in diesem Augenblick mit seiner kleinlichen Zweifelsucht geradezu erbärmlich vor: Er wollte sich vor ihr nicht diese klägliche Blöße geben, – es war dies feige von ihm und widersprach vollkommen seiner geraden, aufrechten und aufrichtigen Natur, er empfand sein Zurückschrecken vor einer restlosen Preisgabe seiner mißtrauischen Schwäche als einen Rückschritt in seiner Charakterentwicklung, – doch es war unmöglich, Astrid derart zu verletzen. Sie hätte ihn vielleicht nie begriffen, und alles wäre dann zwischen ihnen aus gewesen.

Die Tochter Ernest Daltons hätte Bert genau im einzelnen die Skala seiner wechselnden, gefühlsmäßigen Überlegungen wie ein Spiegelbild seines Inneren vorhalten können. Insgeheim lächelte sie über seine überempfindlichen Seelennöte, andrerseits freute sie sich der Reinheit und Unverfälschtheit seines kindlich-unberührten Wesenkernes, in dem doch die starke Männlichkeit so eindeutig in vielen kleinen Zügen zutage trat.

In der Nähe stand eine Bank aus hellem Marmor. Sie zog ihn dorthin, setzte sich und duldete nur zu gern, daß er vor ihr niederkniete und seinen Kopf in ihren Schoß vergrub und minutenlang in dieser Stellung verharrte, während seine Arme hinter ihrem Rücken verschlungen waren und seine Brust sich an ihre Knie preßte … Sie fühlte das unruhige Pochen seines Herzens durch den dünnen Stoff ihres Kleides hindurch, und Stolz und Genugtuung erfüllten sie. In ihrer unausgeglichenen Seele verstummten alle irgendwie selbstsüchtigen Erwägungen, sie war mit einem Male wieder nur Weib und gab sich in fatalistischer Inbrunst dem Zauber der neuen Liebesstunde hin, streichelte sein von Sonne und Salzhauch des Pazifik zu farbloser Blondheit ausgedörrtes Haar und bog dann seinen Kopf nach oben und küßte ihn wie eine Verschmachtete.

Urplötzlich hatten sie die Rollen gleichsam gewechselt. Sie war nun die nach völliger Hingabe Lechzende, sie war es, die Ort und Zeit vergaß und unersättlich in ihren Zärtlichkeiten schien. Sie gab sich einem Glücksgefühl hin, das alle Schlacken ihrer Seele austilgen sollte, – sie hatte in diesen Minuten den ehrlichen Wunsch, wirklich unter die Vergangenheit endgültig einen Schlußstrich zu ziehen und alles Häßliche, Berechnende und im Grunde so Unlautere fernerhin von sich zu weisen.

Der scharfe, gellende Pfiff der Signalpfeife des Herrn der Vindhya-Plantage trieb die Liebenden auseinander. Noch ein letzter langer Kuß, und sie eilten dem Flugplatze zu, wo bereits die Scheinwerfer eingeschaltet waren und die zweimotorige Maschine der Daltons, ein hochmoderner Typ von Kilometerfresser, mit brennenden Positionslampen dastand und dann auch sofort, gesteuert von Astrids kundiger Hand, aufstieg und gen Nordost verschwand.

Bert Medem schaute dem Silbervogel gedankenverloren nach. Sein Herz war noch erfüllt von der beseligenden Gewißheit, daß er Astrid nun erst vollends die Seine nennen durfte.

Riesengroß, breitschultrig, massig wie ein nie zu stürzender Felskoloß stand der Nanna-Sahib neben ihm, beobachtete ihn still und streichelte seinen graublonden langen Vollbart. Seine Lippen waren so fest zusammengepreßt, daß der Mund völlig verdeckt war, von den Augen war gleichfalls wenig zu sehen und die Stirn unter dem weit ins Genick zurückgeschobenen Tropenhelm lag in dicksten Falten. Es waren keine angenehmen Gedanken, die den Herrn der Vindhya-Plantage bewegten. Wenn er sich in Medems Charakter doch getäuscht haben sollte, mußte er alles umstoßen, was er da als vorsichtiger und doch zielbewußter Lenker von Menschengeschicken sich seit geraumer Zeit vorgenommen und nun in den Vorbereitungen fast vollendet hatte.

„Kommen Sie, Medem“, sagte er seltsam hart und schroff. „Ich habe mit Ihnen gerade nach dem heutigen Tage noch allerhand zu besprechen.“

Sie verließen das Flugfeld, auf dem dann auch sehr bald die Lichter erloschen. Nur die Wachen blieben zurück.

Lorenzen schlug jetzt den weiteren Weg durch das Eingeborenendorf ein, – er tat es absichtlich. Ganz unvermittelt und ohne alle diplomatischen Kniffe begann er, während er seine Zigarre im linken Mundwinkel behielt. Seine rauhe Stimme klang daher undeutlich

„Freund Medem, was hat es heute zwischen Ihnen und Astrid gegeben? Heraus mit der Sprache. Ich habe die Pflicht zu fragen und das Recht!“

Bert war auf dieses Verhör vorbereitet. Er konnte nur bei der Wahrheit bleiben. Sein Verhältnis zu seinem Chef war das eines jüngeren Mannes zu einem väterlichen, stets wohlmeinenden Kameraden.

„Ich habe mich mit Astrid verlobt“, erwiderte er. „Astrid wünscht jedoch, daß die Verlobung vorläufig noch geheim bleibt, da sie zunächst mit ihrem Vater sprechen möchte, dessen Treiben sie nicht nur mißbilligt, sondern auch irgendwie abstellen möchte.“

Die beiden Herren bogen gerade in das Seitental ein, wo die Wohnhäuser der farbigen Arbeiter sich sauber und fast zierlich in ihrer gefälligen Bauart in das vielfältige Grün der fruchtbaren, von einem Bache durchflossenen Senkung einschmiegten.

Der Nanna-Sahib blieb stehen und überflog mit zufriedenem Blick diese Siedlung, sein Werk wie alles hier.

„Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit, lieber Bert“, meinte er schlicht. „Astrid wird wahrscheinlich auch gewünscht haben, daß selbst mir dieses Verlöbnis verschwiegen werde. Es ist doch so? – – Nun also. Ich kenne mein Patenkind.“ Es lag nichts irgendwie Abfälliges in diesen letzten Worten. „Sie werden Astrid auch noch kennenlernen, dazu gehört Zeit und Erfahrung. Beides steht Ihnen zur Verfügung. Nützen Sie die Zeit und sammeln Sie noch mehr Erfahrungen. Eine Ehe ist ein Bund, der bei vollwertigen Menschen, falls sie die Unrechte erwischen, zur Katastrophe führen kann.“

Er drehte sich jetzt halb um und streckte Bert die Hand hin.

„Möge aus diesem Verlöbnis das entstehen, was bei Ihrer Veranlagung, mein junger Freund, das einzig Wünschenswerte ist. Das wäre mein Glückwunsch!“ Er gab Medems Hand sofort wieder frei, schritt weiter und fügte ohne Übergang hinzu: „Ich bin Ihnen, was die Daltons und mein Verhältnis zu ihnen betrifft, eine Erklärung seit langem schuldig. Ich habe mir diese aufgespart, bis der richtige Zeitpunkt gekommen war, – heute! – Sie kennen mich, Medem. Sie werden sich gewundert haben, daß ein immerhin leidlich anständiger Kerl wie ich mit diesen Gaunern, denn das sind sie, überhaupt sich einlassen konnte oder die Beziehungen zu ihnen nicht sofort abbrach, als er sie durchschaut hatte, wozu nicht viel Geist gehört, nur ein offener Blick. Die Lösung dieses scheinbaren Widerspruchs ist sehr einfach: Ich will die beiden Daltons, Vater und Sohn, beide stets unter Kontrolle behalten. Vielleicht habe ich mit ihnen auch eine Rechnung auszugleichen, die so große pechschwarze Ziffern aufweist, daß es dabei auf ein bißchen Heuchelei nicht ankommen kann. Vielleicht entschuldigt mich auch noch anderes, was besser vorläufig verschwiegen bleibt. Vor mir selbst bin ich jedenfalls völlig entlastet. Pharisäer war ich nie. Wenn meine Wege sich oft durch das Dunkel schlängeln, so bin ich dafür nicht verantwortlich. Und wenn ich’s bin, trage ich diese Verantwortung sehr gerne, denn es geht einmal um die ausgleichende Gerechtigkeit, die bekanntlich des öfteren der Nachhilfe bedarf, und dann, das ist das Ausschlaggebende, um Menschengeschicke und um mein Lebenswerk. Das werden Sie, lieber junger Freund, später einmal alles verstehen, wenn … ich nicht mehr bin.“

Sie standen nun vor der großen Freitreppe, die zur Terrasse emporführte. Lorenzen deutete mit der Hand auf das prunkvolle Gebäude und sagte abschließend: „Achtzehn Jahre Arbeit, Mühen, Entbehrungen und steten Ringens um den Erfolg sind in diesem Hause als Denkmal vereinigt. Acht Jahre steht es nun hier und schaut stolz über die Wildnis hinweg, die ich überwunden und mir dienstbar gemacht habe. Soll dieses mein Lebenswerk wieder zerfallen, wenn es in unrechte Hände gerät?! – Nein, das darf nicht sein! Ich habe vorgebeugt …!“

In der Vorhalle sagte er Medem kurz und herzlich wie immer gute Nacht und begab sich in seine Räume, während Bert gedankenvoll und wiederum leicht bedrückt im Seitenflügel verschwand. Lorenzens merkwürdiger Glückwunsch zu seiner Verlobung wollte ihm nicht aus dem Sinn. In derselben zwiespältigen Stimmung ging er zu Bett und schlief nur schwer ein. Die Erkenntnis, daß er über die Daltons noch immer nicht genügend Bescheid wußte, ließ ihn seine Beziehungen zu Astrid in einem so trüben Lichte sehen, daß all seine guten Vorsätze, nie mehr an Astrids Lauterkeit zu zweifeln, abermals ins Wanken gerieten. Es gab für ihn vor dem Einschlafen Sekunden, wo er wünschte, dieser heutige Tag wäre nie gewesen.

In dem saalartigen Raume mit den beiden farbigen Springbrunnen saß der Nanna-Sahib im Dunkeln auf einem Ecksofa, und vor ihm stand, sich scharf gegen das Licht der einen Zimmerfontäne abhebend, eine hagere, in stinkende Lumpen gehüllte Gestalt. Der Inder war groß, sehr schmalschultrig und trug einen Turban aus weichgeklopftem und mit Kräutersaft gefärbten Rindenbast. Auf dem Rücken hatte er einen Ledersack, in dem sich zuweilen etwas bewegte.

Der Mann war kein Gond, sondern ein Hindu. Er war uralt, sein Gesicht bestand nur aus Falten und Fältchen, sein verfilzter Bart hing bis zum schmierigen Lendenstrick hinab, und seine Sandalen waren aus frischer Kuhhaut geschnitten und mit dünnen Riemchen zusammengenäht.

„Sahib“, sagte er flüsternd im reinsten Hindostani, „ich habe dir gebracht, was du wünschest. Mein Mund bleibt stumm, ich vergesse deine Güte nie …!“

Er reichte dem weißen Sahib einen kleinen Gegenstand und hielt dann beide Hände flach vor die Brust, verneigte sich unmerklich und glitt mit geschmeidigen Bewegungen, die sein Alter fast Lügen straften, zum nächsten Türvorhang und verschwand in den ihm wohlbekannten weiten Fluren.

Lorenzen legte bedächtig die Zigarre auf die Aschenschale und erhob sich. Ein doppeltes Knacken, und alle Beleuchtungskörper des Raumes flammten auf. Mildes, träumerisches Licht war’s, das aus den bunten Milchglasschalen den Saal überflutete. Zwischen zweien der vergitterten Fenster stand ein schwerer Diplomatenschreibtisch, auf dessen Platte außer der Stehlampe und dem eigenartigen Tintenfaß, einem echten Tigerschädel mit eingelassenem Behälter für die Tinte, nur noch zwei kostbar gerahmte Bilder, vergrößerte Fotografien, standen. Die eine stellte einen Bauernhof dar, die andere ein an ein Boot gelehntes Mädchen. Der Hintergrund beider Bilder, ein Deich und eine flache Marschlandschaft, bewies, daß sie in derselben Gegend aufgenommen worden sein mußten. An diesem Tische hatte Peter Lorenzen jahrelang ganz allein die umfangreichen Schreibarbeiten für die Plantage erledigt, bis er in Schanghai, wo er Sojabohnen zur Aussaat in ganzen Schiffsladungen eingekauft hatte, auf den stellungslosen und von den Chinesen gründlich betrogenen Herbert Medem gestoßen war, der gerade im deutschen Klub einen Geldmann suchte, damit er das Pescadores-Guano-Konsortium verklagen könnte. Eine zwanglose Unterhaltung von zwei Stunden zwischen den beiden Männern hatte dem Nanna-Sahib genügt, sich das zutreffende Bild von Berts Persönlichkeit zu entwerfen. Er schoß ihm nicht nur das Geld vor, sondern nahm ihn sofort mit sich in die Einsamkeit der Vindhyaberge und ernannte ihn sehr bald zu seinem Generalbevollmächtigten und zum Direktor seines Besitzes mit insgesamt tausend Arbeitern und einem Betriebskapital von annähernd vier Millionen Rupien.

Er hatte diesen schnellen Entschluß, dem Landsmann ein neues Betätigungsfeld zu geben, nie bereut. Die Arbeit war ihm zuletzt über den doch gewiß kräftigen und klugen Kopf gewachsen, und dann sprachen auch noch andere Dinge mit, die nur von einem absolut vertrauenswürdigen, in alles eingeweihten Manne durchgefochten werden konnten. –

Lorenzen nahm einen Bogen dicken Büttenpapiers, das in seiner eigenen Fabrik hergestellt war, und begann zu schreiben. Er schrieb, ohne einen Augenblick zu überlegen, – wie jemand, der in Gedanken mit dem Entwurf längst im klaren ist. Die Urkunde war kaum zwanzig Zeilen lang und die Abschrift, die Lorenzen sodann anfertigte, entsprach nicht ganz genau dem Original. Er setzte seinen vollen Namenszug darunter und lehnte sich nun im Schreibsessel zurück. Sein Gesicht, das in jeder Linie den Tatmenschen und den trotzdem auch weicheren Regungen zugänglichen Selfmademan verriet, war ernster denn je. Nach einer geraumen Weile erhob er sich, verschloß die eine Urkunde in dem Tresor, der mit seinem Kombinationsschloß und mit seinen sonstigen modernsten Einrichtungen das Beste vom Besten darstellte, schaltete das Licht nachher wieder aus und begnügte sich mit dem matten, märchenhaften Leuchten der beiden plätschernden Springbrunnen.

Wie ein Schatten bewegte er sich hin und her und verbarg auch die zweite Urkunde. – Die Schreibtischlampe glühte plötzlich auf, und der Nanna-Sahib saß wieder im Sessel und hatte vor sich ein Glas Fruchtlimonade stehen, das halb geleert war. Daneben glitzerte matt ein kleines braunes Fläschchen mit einem Apothekerschildchen, dessen Rezeptaufschrift „Digitalis“ lautete, – ein bekanntes Mittel gegen Herzkrankheiten.

Die massige Gestalt des Herrn der Vindhya-Plantage sackte langsam wie unter dem Einfluß schwersten Unwohlseins in sich zusammen. Auf der hohen Stirn erschienen dicke Schweißperlen. Lorenzen stöhnte und preßte die Faust vor Atemnot gegen die Brust. Der Leibarzt des Fürsten hatte ihn schon lange vorher gewarnt und ihm allerlei verschrieben. Mit einer Herzmuskelschwäche sei in den Tropen nicht zu spaßen. Der dauernd beschleunigte Puls mahne zur Vorsicht. Lorenzen hatte ihn ausgelacht. Jetzt lachte er nicht. Sein Gesicht verfärbte sich, und der Glanz der blauen Augen, die im Leben so viel Leid und so viel Erfolg gesehen, erlosch.

Der Nanna-Sahib tat einsam und mitten im Aufglühen der ersten Sonnenstrahlen des neuen Tages seinen letzten Atemzug.

 

5. Kapitel.

Die neue Herrin.

Ende Juli ist so ungefähr die schlechteste Zeit für das Hotel Excelsior in Venedig. Wer reist bei der Hitze nach Venedig?! Wer hat Sehnsucht nach dem Lido?!

Nur die Venetianer selbst und die Leute drüben vom Festlande baden dann in der blauen Adria und sind im Grunde froh, auch einmal ihre Stadt der Marmorpaläste ohne die Scharen von Touristen genießen zu können. – Gewiß, sie mögen die Fremden nicht missen, denn Fremdenverkehr bedeutet Einnahmen, Verdienst für jedermann.

Die Zeiten von vor dem Kriege, wo auf allen Plätzen und an allen Straßenecken Bettler hockten und wo es in Italien mehr falsches als echtes Geld und Banknoten gab, wo der Tourist beim Geldwechseln höllisch aufpassen mußte, um nicht raffiniert hergestellte Falschstücke angedreht zu bekommen, gehören der Vergangenheit an. Es kam ein Mann aus dem Volke und befahl und verhängte Strafen, die alle Gesetzesbrecher gründlichst abschreckten. Es war ein Mann, der nicht lange fackelte. In den glutheißen Sanddünen der italienischen nordafrikanischen Kolonie konnten diese Elemente, mit Ketten und Eisenkugeln an den Füßen, darüber nachdenken, ob es klug gewesen, dem neuen Italien zu trotzen. Dieser ganze lästige Spuk von früher ist endgültig beseitigt. Der Kaufmann, der es wagen würde, jemandem Falschgeld anzudrehen, verliert außer der Freiheit auch Vermögen und Existenz. Eine eiserne Faust regiert, und das einst so verliederte Volk hat sich längst daran gewöhnt. –

Die große Terrasse des Hotels Excelsior ist genau so weltberühmt wie diese Riesenkarawanserei selbst. Im heißen Sommer bleibt sie auch an den Nachmittagen zumeist leer, und die Jazzband spielt vor leeren Tischen, die befrackten Kellner rekeln sich gelangweilt herum und sehnen die Herbstsaison herbei, wenn die Fremden wieder anrücken und die Terrasse von den Lauten von mindestens zehn Sprachen widerhallt.

In diesem Jahre schien die Saison früher einzusetzen als sonst … Das Excelsior mit seinen Nebenbauten, ein ganzer Komplex wie eine kleine Stadt oder wie eine Strafanstalt – so hatte gestern die gänzlich poesielose Gräfin Arrenberg das Hotel bezeichnet – kann allerdings so ungefähr dreihundert Gäste in komfortabelster Weise unterbringen, aber Ende Juli ist man eben schon mit einem Dutzend zufrieden, wenn dieses Dutzend nur gehörig zahlt, und das war jetzt der Fall.

An einem wolkenlosen Nachmittag saßen Lotte Lorenzen und ihre Schwiegermutter und ihr Verlobter an einem der Tische dicht an der Brüstung und langweilten sich genau wie die Kellner und der Herr Hoteldirektor mit den protzigen Brillantringen, denn nach den ersten Jubelstürmen der Freude über die ungeheure Erbschaft war sehr schnell die Ernüchterung gekommen, und daran war natürlich Lotte schuld.

Lotte hatte zunächst den Vorschlag ihrer überzärtlichen Mama rundweg abgelehnt, sich noch vor der Abreise nach Indien mit Günter trauen zu lassen.

„Ihr vergeßt, daß ich schon der Menschen wegen verpflichtet bin, um Onkel Peter zu trauern“, – hierhinter verschanzte sie sich mit einer Hartnäckigkeit, die auch Günter arg verstimmt hatte, zumal auch in anderer Beziehung mit Lotte absolut nicht zu reden war.

Die Bank in Bremen, mit der Peter Lorenzen dauernd in Verbindung gestanden hatte, war nach Erledigung der notwendigen Formalitäten sofort bereit gewesen, Lotte einen Kredit in jeder Höhe einzuräumen. Die Millionenerbin nahm zum Entsetzen ihrer Schwiegermutter diesen Kredit in so mäßigem Umfang in Anspruch, daß weder für die Gräfin noch für Günter sehr viel dabei herausschaute, – im Gegenteil, mit der nun erhofften Hülle und Fülle an Geld war es nichts, und daraus ergaben sich wieder die peinlichsten Auseinandersetzungen, bei denen sowohl die Gräfin wie auch Günter sehr schlecht abschnitten, und dies in doppelter Beziehung, da Lotte erstens auf keine Art umzustimmen war, und da zweitens die Geldgier von Mutter und Sohn allzu unverhohlen zutage trat.

Dies führte notwendig zu einer beiderseitigen Entfremdung, und zu spät erkannte insbesondere die Gräfin den schweren Fehler, den sie mit dieser versuchten Bevormundung Lottes und mit dem allzu raschen Aufdecken ihrer Pläne gemacht hatte. Wenn es nach der eiskalt spekulierenden alten Dame, die ihre Geschäftstüchtigkeit ja schon bei anderer Gelegenheit bewiesen hatte, gegangen wäre, würde die Hochzeit sofort im größten Stil gefeiert worden sein, denn dann hätte Günter ein Recht gehabt, sich in alle Angelegenheiten einzumischen, die seine Frau angingen, – und das hieß: Die Gräfin selbst hätte alles nach ihrem Willen gelenkt, da Günter noch heute nicht wagte, ihr irgendwie zu widersprechen. Damit war es nichts, Lotte behielt ihr Geschick in jeder Hinsicht selbst in Händen und war sogar zuweilen derart deutlich geworden, daß ihre Schwiegermutter, wenn auch innerlich kochend, schleunigst eingelenkt hatte.

Daß diese Tage, in denen Lotte mit gewohnter Energie ihre Selbständigkeit gewahrt hatte, nicht ohne Einfluß auf ihr Verhältnis zu Günter bleiben konnten, lag in der Natur der Dinge. Auch der junge Graf, der bereits als Verlobter einer vielbeneideten Millionärin heimlich überall willige Geldverleiher gefunden hatte und trotzdem diese neuen Quellen nicht ausschöpfen konnte, da Lotte alle größeren Ausgaben sofort bemerkt hätte, stimmte nun seiner Mutter unter vier Augen vollkommen bei, daß Plebejerblut nun einmal Plebejerblut bleibe und daß Lotte jeder Zug ins Große fehle.

Als Lotte sich dann sogar noch zunächst dagegen gesträubt hatte, die beiden Arrenbergs mit nach Indien zu nehmen, hätte nicht viel gefehlt, und die Verlobung wäre in die Brüche gegangen. Nur die Gräfin rettete aus Klugheit die mißliche Situation und wies scheinbar in aller Güte darauf hin, daß Lotte doch unmöglich auf der Vindhya-Plantage als Braut mit diesem wildfremden Herrn Medem unter einem Dache wohnen könnte, – noch dazu mit einem Menschen, der so anmaßende Telegramme schickte, und ein ganz ungehobelter Bursche sein müsse.

Mit den Depeschen Berts an die neue Herrin hatte es eine eigene Bewandtnis. So sparsam Lotte auch sonst geblieben war, für Funktelegramme gab sie ein kleines Vermögen aus, und das hatte seinen guten Grund.

Bereits am dritten Tage nach der Anerkennung des handschriftlichen Testaments durch die Gerichte hatte Lotte aus Allahabad eine Depesche von Unbekannt erhalten, die ihr nahelegte, sofort die Plantage zu verkaufen, wenn sie den allerschlimmsten Widerwärtigkeiten aus dem Wege gehen wollte, denn ihr Onkel habe hier geheime Feinde gehabt, die ihn wahrscheinlich durch Gift beseitigt hätten, und ihr drohe ein gleiches Schicksal.

Wer auch der Absender dieser Depesche gewesen sein mochte, in einem Punkte hatte er sich nicht nur gründlichst verspekuliert, sondern auch Folgen heraufbeschworen, die er bei genügender Kenntnis des Charakters Lottes hätte vermeiden können.

Denn wenn irgend etwas geeignet gewesen wäre, Lottes Entschluß, die Plantage nun in eigene Verwaltung zu nehmen – und die Aufgabe lockte sie –, zur Tat werden zu lassen, dann war es dieser heimtückische Hinweis auf unbekannte Gefahren und Schwierigkeiten. Umgehend hatte sie an ihren Plantagendirektor depeschiert und Auskunft über zwei Fragen verlangt. Erstens, ob Anzeichen dafür vorlägen, daß ihr Onkel keines natürlichen Todes gestorben sei, und zweitens, wer ein Interesse daran hätte, sie von Indien fernzuhalten.

Die drahtlose Antwort lautete:

„Todesursache nicht einwandfrei feststellbar, da Erblasser Sektion verboten hat und die Ärzte mit Bestimmtheit Herzschlag annehmen, woran auch ich glaube. – Es liegt allerdings in Ihrem Interesse, nicht hierher zu kommen, da Verhältnisse hier nichts für eine junge Dame, von deren Existenz ich erst durch das Testament erfuhr, das mir im übrigen eine Anstellung auf Lebenszeit sichert. – Medem, Plantagendirektor.“

Worauf Lotte ebenso knapp zurückdepeschiert hatte:

„Es sind sofort genaueste Nachforschungen über Todesursache anzustellen ohne Rücksicht auf Kosten. Erwarte umgehend Bericht, falls wichtige Einzelheiten vorliegen. Bin keine junge Dame, sondern stamme vom Lande und verstehe etwas vom Wirtschaftsbetrieb. Werde sparsames wirtschaften kontrollieren. – Ob Sie Direktor bleiben, hängt von mir ab. – Lotte Lorenzen.“

Hierauf schwieg Bert Medem drei volle Tage, – dann kam Antwort, und was für eine!!

„Testament bestimmt ganz eindeutig, daß ich Generalbevollmächtigter bin und nichts, was den Wirtschaftsbetrieb angeht, ohne mich geschehen darf, und ich bleibe Direktor, um auch dies sofort zu klären. Ich heirate demnächst und werde meine Frau mit meiner Vertretung bestellen, wozu ich berechtigt bin. Ihre Anwesenheit hier ist überflüssig. Medem.“

Daß diese herausfordernde Antwort von Astrid entworfen worden, konnte Lotte nicht wissen, und daß Astrid die Depesche dem Inhalt nach insgeheim noch schärfer abgefaßt hatte, war ebenfalls eine Tatsache, die Lotte erst viel später, fast zu spät erfuhr.

Jedenfalls hatten dann auch die Gräfin Arrenberg und Günter viel dazu beigetragen, daß Lotte in hellster Empörung zurückdepeschierte:

„Biete Ihnen Abfindung von halber Million, falls Sie notariell sofort auf Ihre Rechte verzichten. Zusammenarbeit mit Ihnen unmöglich. Verbitte mir anmaßenden Ton, sind nur Angestellter. Lotte L.“

Bei diesem Telegramm hatte die Gräfin sehr kräftig mitgewirkt, denn sie hielt bereits jetzt diesen Medem für einen ausgekochten Betrüger, der sich die Taschen füllte und wahrscheinlich auch das erste anonyme Telegramm abgeschickt hatte, – was selbst Lotte nicht als haltlosen Verdacht ablehnen konnte, da dieser Medem sonst wohl höflicher geblieben wäre.

Fünf Tage traf nichts von Medem ein. Dann aber, – und das schlug dem Faß den Boden aus:

„Erblasser wünschte nicht, daß sein Lebenswerk, die Vindhya-Plantage, durch unsachgemäße Verwaltung zerstört werde. Lehne Ihr Angebot endgültig ab. – Schluß. – Medem.“

Am Tage, als diese Antwort einging, weinte Lotte zum ersten Male seit langer Zeit wieder einmal und zerriß einige unschuldige Taschentücher. Günter aber sagte nur:

„Das kann ja genußreich werden, wenn wir erst an Ort und Stelle sind!! Diesem Medem werde ich gründlichst die Leviten lesen, diesem Flegel!!“

Die Gräfin aber meinte, da sie ihren Sohn sehr genau kannte:

„Das überlasse nur mir! – Weine nicht mehr, mein Kind, – ich verspreche dir, den Mann graule ich samt seiner Frau in kurzem hinaus, – das tue ich bestimmt!“

Immerhin trug diese letzte Depesche sehr viel dazu bei, daß Lotte sich nun nicht länger sträubte, die beiden Arrenbergs mit nach Indien zu nehmen. – Inzwischen hatte man von dem „Flegel“ keinerlei Nachrichten mehr erhalten, obwohl Lotte noch dreimal Auskunft über die Ermittlungen betreffs der Todesursache verlangt hatte. Man wartete jetzt hier in Venedig auf den Deutschen Dampfer, den man von Genua aus benutzen wollte, und man langweilte sich sträflich, da immer noch genug Anlaß zu gegenseitiger Entfremdung vorhanden war, denn Lotte blieb nun einmal der spießbürgerliche Starrkopf und hatte zum Beispiel auf dem Ostasiendampfer nur Kabinen zweiter Klasse belegt, was Günter zu der bekannten Witzblattäußerung veranlaßt hatte: „Wir werden unterwegs Läuse bekommen – wie kann man nur so knickerig sein!!“

Die Abfuhr Lottes lautete: „Nimm gefälligst Insektenpulver mit, das ist immer noch billiger als erster Klasse fahren, – wo ich nicht hingehöre!“

Daß bei derartigen Reibereien und Sticheleien die Liebe sehr zu kurz kam, ist weiter kein Wunder, zumal Lotte vor Ungeduld fieberte, diesem Medem einmal die Zähne zu zeigen, – und wie …!!

Als ihr jetzt hier auf der Terrasse des Excelsior die schweigsame Gesellschaft der beiden Arrenbergs endlich doch zu langweilig wurde, erklärte sie, sie würde nach Venedig hinüberfahren und den Dogenpalast nochmals besichtigen, – wofür Günter schon gar nicht zu haben war. Antike Kunst war ihm einfach ein Greuel. Außerdem hatte er da gestern zufällig eine kleine reizende Französin kennengelernt, die weit mehr sein Geschmack war als die ehrpusselige Lotte, die sich den Brautstand so ungefähr als Vorbereitung für den Eintritt in ein Nonnenkloster vorzustellen schien.

Lotte fuhr also allein nach Venedig. – –

Ein paar Tische weiter saßen drei Herren, die, obwohl es Asiaten waren, mit allergrößter Zuvorkommenheit behandelt wurden. Sie wohnten im Excelsior, und der Hoteldirektor hatte mit der allen Leuten seines Berufs eigenen feinen Beobachtungsgabe schnell gemerkt, daß es bestimmt sehr vornehme Exoten sein mußten, wenn ihre Pässe auch auf recht simple Namen und Berufe lauteten. Sie hatten noch einige Diener von einem etwas ungewöhnlichen Negertyp bei sich und trugen sämtlich bis auf ihre blauen Turbane europäische Kleidung und benahmen sich sehr unauffällig.

Das Hotelpersonal hatte auch recht bald herausgefunden, daß der eine der drei Vornehmen von den andern mit heimlicher Sorgfalt schärfstens bewacht und vor jeder Berührung mit Fremden behütet würde. Er war offenbar der vornehmste der drei. Sein Gesicht hatte einen edlen Schnitt, seine Hautfarbe war ein helles lichtes Braun, und wenn er nicht den Turban getragen hätte, würde ihn jeder für einen Süditaliener oder Südspanier gehalten haben.

Er war jung, bartlos und besaß ein ruhiges, selbstsicheres Auftreten.

Jedenfalls war der junge Fürst Ghawi Sidar Dra Widar – so lautete sein voller Name – eine kaum zu übersehende, sehr sympathische Erscheinung und stach in seinem Äußeren vollständig von seinen Begleitern ab, die reinblütige Gond aus den Gebieten um das Vindhya-Gebirge waren und einen abgeschwächten Negertyp darstellten.

Die drei unterhielten sich ganz zwanglos miteinander. Ihre Landessprache verstand hier niemand, sie war auch im Riesenreiche Indien wenig verbreitet.

Der Fürst trank seine Zitronenlimonade, die einer seiner Diener zubereitet hatte. Aus der Hotelküche bezogen die Inder nichts. Sie beköstigten sich selbst, zahlten dafür aber auch freiwillig das Mehrfache der Zimmerpreise. Rechts neben dem Fürsten saß sein erster Minister, ein älterer Mann mit einer würdigen Hornbrille und einem grauen, fusseligen Bart. Die Gond sind zumeist bartlos. Linker Hand von Radscha Ghawi hatte dessen Privatsekretär und Palastmeister seinen Platz, ein jüngerer Gond, der Sohn des Ministers übrigens. Alle drei beherrschten auch das Englische vollkommen und konnten sich auch in französischer Sprache verständlich machen.

Vor ihnen auf dem Marmortischchen lagen die neuesten englischen Zeitungen, die sie vorhin sehr genau durchgesehen hatten. Ihre eifrige Unterhaltung wurde nun durch das Erscheinen eines ihrer Diener unterbrochen, der dem Fürsten eine Depesche auf einer heimatlichen, goldenen Platte unter tiefster Verneigung überreichte. Es war eine Funkdepesche, die in Allahabad aufgegeben worden und an eine hiesige Deckadresse gerichtet war. Der Text erschien völlig harmlos, es war da von einer Firma Astri die Rede, ebenso von einem Einkäufer namens Pelor und ähnlichem.

Der Radscha und seine Vertrauten steckten nun die beturbanten Köpfe enger zusammen und berieten mit etwas bestürzten Mienen. Der Fürst, ein sonst äußerst abgeklärter Asiate, war sogar derart erregt, daß er sich erhob und allein auf den Seesteg hinausschritt, der mit zu der Riesenkarawanserei des Excelsior gehört. Daß sofort zwei Diener ihm in respektvoller Entfernung folgten, daran war er gewöhnt, – es war auch angesichts der ganzen Verhältnisse durchaus nötig. Fürst Ghawi kannte seine Gegner.

Oben am Brückenkopf, wo die Motorboote des Hotels lagen, die den Verkehr nach Venedig und nach dem dortigen Bahnhof vermittelten, saß hinter einer Staffelei eine junge Dame in Weiß, mit großem Strohhut und Nackenschleier. Neben ihr auf dem aufgeklappten Malkasten lag ein großer Krimstecher, den sie bisher sehr eifrig benutzt hatte. Jetzt, als der Fürst sich näherte, deckte sie ihr Tuch zum Säubern der Pinsel über das Fernglas und drehte gleichzeitig ihren Malschirm, der mit fünf Streifen grellbunter Leinwand bezogen war, so herum, daß der grüne Streifen nach dem Meere gerichtet war. Ihr Landschaftsbild zeigte kaum erst die Anfänge des Farbenauftrags, und diese Farben waren bis auf wenige Striche vollkommen trocken.

Der Radscha Ghawi stutzte, als er sie erkannte. Sie selbst nahm keine Notiz von ihm und arbeitete nun doppelt eifrig. Außer diesen beiden Personen und den sich mehr im Hintergrunde haltenden Dienern lehnten nur noch einige Herren am Geländer der Wassertreppe und beachteten einen der auslaufenden schmucken Dampfer der Route Venedig-Triest. Unweit des Seesteges tummelten sich Segeljachten und Fischerboote, – es war alles in allem das gewohnte Bild.

Der überschlanke, schmalschultrige Fürst blieb stehen und wandte sich an die Malerin. Er bediente sich der französischen Sprache.

„Das ist ja ein unerwartetes Wiedersehen, mein Fräulein!“

Sie schrak leicht zusammen und blickte zu ihm auf, musterte ihn verwundert und erhob sich schnell. – Sie war überraschend hübsch und von tadellosem Wuchs, hatte frohe, übermütige Braunaugen und war sehr diskret gepudert. Die herzförmig geschminkten Lippen und die ganz schmal rasierten, strichförmigen Brauen konnten einen gewissen Charme, der dieses zierliche Persönchen umgab, nicht beeinträchtigen. Sie glich mit ihrer raffiniert einfachen und doch geschmackvollen Aufmachung einer jener Französinnen, die in allen Spielarten die Riviera als Betätigungsfeld bevorzugen, die weder Halbwelt noch Ganzwelt sind, sondern vielleicht am treffendsten mit den japanischen Geishas verglichen werden können, von denen man auch neben Tanzkunst und freien Anschauungen besonders jenes leichte, elegante Plaudertalent verlangt, das eine Herrengesellschaft anzuregen und zu unterhalten versteht. Die irrige Auffassung, daß die Geishas nichts als Dirnen seien, ist leider nur zu weit verbreitet.

„Hoheit, Sie auch hier in Venedig?!“ meinte sie mit einer Art von scherzhaftem Courknix. „In Nizza erwähnten Sie nichts davon, daß Sie so plötzlich mit unbekanntem Ziel abreisen würden. Wir hatten dort doch so nette Stunden gemeinsam verlebt, und ich war recht enttäuscht, als Sie eines Tages ausblieben. Man sagte mir, Sie seien unerwartet in Ihre Heimat abberufen worden.“

Radscha Ghawi von Beldari betrachtete sie aus seinen dunklen, etwas melancholischen Augen mit nachdenklicher Zerstreutheit. Seine Gedanken schienen sich mit anderen Dingen zu beschäftigen, die doch wieder mit Mademoiselle Jeanne Reis irgendwie zusammenhängen mußten, denn sein versonnener Blick haftete unverwandt auf ihrem rosigen und nur ganz leicht gebräunten Gesicht.

„Es trifft zu, – ich bin abberufen worden“, erwiderte er nun sehr bedächtig, „wir reisen noch heute ab …“

„Unangenehme Nachrichten?“ fragte Jeanne Reis leichthin.

Er lächelte etwas, – so, wie Asiaten lächeln – unergründlich und doch mit einer merklichen Liebenswürdigkeit. „Sie lesen doch Zeitung, Fräulein Reis. Ich bin jetzt für England bekanntlich das enfant terrible … Ich gehorche nicht … Ich verschleudere die Staatseinkünfte, ich dulde Menschenopfer, ich verwehre dem Herrn Residenten, meinem Oberaufpasser, den Einblick in meine Waffendepots und anderes mehr.“ – Seine Mundwinkel zuckten. Das blieb das einzige äußere Zeichen seiner Erregung, vielleicht seines stillen Hasses. Dann sprach er unvermittelt wieder von Jeanne Reis.

„Sind Sie direkt von Nizza hierher gekommen?“ fragte er scheinbar ohne sonderliches Interesse. Als sie verneinte, wurde sein Blick für Sekunden etwas stechend. Es war wie das flüchtige Aufblitzen eines fernen Funkens, nicht mehr.

Die zierliche Malerin, die schon in Nizza so fleißig und sorgsam immer an demselben Bilde gearbeitet hatte, erklärte ergänzend, denn ihr war die Veränderung in dem Blick des Fürsten nicht entgangen: „Ich hatte mich nach Deutschland begeben, wo ich geschäftlich zu tun hatte … Kunst geht nach Brot, Hoheit! Außerdem …“ sie sprach mit einem Male weit überlegter und wog offenbar jedes Wort ab – „außerdem habe ich dort eine sehr liebe Freundin, die ich einmal besuchen wollte, die jedoch eine sehr verantwortungsvolle Stelle bekleidet und für mich wenig Zeit hatte, – ein Fräulein Lorenzen ist’s.“

Sie hatte sich den Namen bis zuletzt aufgespart und durfte mit dem Erfolg zufrieden sein. Ghawi hatte sich doch gewiß gut in der Gewalt und besaß eine Selbstbeherrschung, die ihm mit anerzogen worden war, obwohl er von seinen indogermanischen Ahnen diese Kunst blutgemäß mit übernommen hatte als Erbteil einer von den Gond abgöttisch verehrten Dynastie grimmer Britenhasser. Hier gab sich der Fürst doch eine Blöße. Seine Augen weiteten sich, und gleichzeitig trat er unwillkürlich einen Schritt zurück, als wollte er zwischen sich und Jeanne Reis eine größere Distanz herstellen.

Sie schien all das nicht zu bemerken und fügte mit einem bedauernden Achselzucken hinzu: „Meine Freundin ist Rendantin auf einem heruntergewirtschafteten Gut einer Gräfin. Zu allem Pech hatte die Gräfin gerade einen Gast bei sich. Lotte Lorenzen konnte sich mir daher gar nicht widmen, wir sahen uns nur einmal im Dorfe Arrenberg und dabei erblickte ich auch von weitem den Gast der Gräfin, einen Engländer aus Allahabad übrigens, vielleicht kennen Sie ihn, Hoheit, ein gewisser Herr Olliver Dalton, – er soll Rechtsanwalt sein …“

Radscha Ghawi bejahte vollkommen uninteressiert: „Flüchtig, nur flüchtig, Fräulein Reis.“ Sein Blick schweifte schnell rundum, seine Gestalt straffte sich, dann schaute er Jeanne nachdenklich in die Augen und sprang wieder auf das alte Thema zurück.

„Ja, – ich reise noch heute. Ein Bekannter von mir ist am Herzschlag gestorben, und da ich mit ihm in regen wirtschaftlichen Beziehungen stand, möchte ich doch lieber persönlich die Dinge regeln, zumal mein Widersacher, den England gern auf den Thron von Beldari bringen möchte, äußerst rührig die Epidemie in meiner Hauptstadt gegen mich ausnutzt. Sie wissen ja an dem Beispiel des Afghanenkönigs Amanullah, wie schnell man im Orient einen Thron verlieren kann, wenn man nicht wachsam ist. Ich bin wachsam, sehr wachsam, und man sollte sich die Kosten getrost sparen, mir eine Meute von Mördern an die Fersen zu heften oder etwa Motorjachten bereitzuhalten, um mich hier abzufangen!“

Kurze Pause.

Sein jetzt eisig kalter und verachtungsvoller Blick ruhte fest in Jeannes Braunaugen.

„Sagen Sie das Ihren Auftraggebern, Fräulein Reis, und grüßen Sie Ihren Freund Olliver Dalton von mir.“

Er machte kurz kehrt und schritt davon. – Ob er das, was Jeanne Reis ihm noch nachrief, verstanden hatte, blieb sehr zweifelhaft. Sie hatte nur halblaut und sichtlich erleichtert gerufen: „Ihre Worte zerstreuen so manche Ungewißheit bei mir, Hoheit!“

Sie blickte ihm lange nach. In ihren Augen flimmerte es wie von neu erwachter Tatkraft. Sie drehte ihren Malschirm mehrmals hin und her, packte dann ihre Utensilien zusammen und bestieg eine kleine Motorjacht, die urplötzlich am Stege angelegt hatte. Ein Mann mit sehr braunem Gesicht überreichte ihr eine Depesche.

„Vor einer Stunde eingetroffen, Miß Chef!“ sagte er nur.

Miß Chef seufzte. „Ich weiß leider, was darin steht, O’Konnor … Er ist tot!“

Der rotbärtige Irländer Patrick O’Konnor, ein waschechter Typ von Ostasienläufer, der so etwa dreißig Berufsarten ausgeübt hatte und in allen Sätteln gleich fest saß, fluchte lästerlich.

Hanna Reis blickte nochmals zum Seestege hinüber, wo jetzt auch Günter Arrenberg erschienen war, der leider seine schicke Französin nicht mehr hatte abfassen können. Mit offenem Munde starrte er zu der kleinen eleganten Jacht hinüber. Er begriff das nicht.

Die Malerin, die allerdings stets so ein wenig geheimnisvoll getan hatte, die sich beinahe ängstlich vor Lotte und ebenso vor den Indern verborgen hatte, war doch arm und wohnte drüben in Venedig in einer billigen Pension am Hafen. Woher plötzlich dieses elegante Fahrzeug, auf dessen Deck ein Mann mit fuchsigem Bart in sehr devoter Haltung der Französin gegenüberstand?! Sollte diese Mademoiselle, die ihren Namen immer so hartnäckig verschwiegen hatte, noch einen anderen Verehrer haben?!

Günter tröstete sich mit dem Gedanken, daß es sich hier ja doch nur um einen ganz kurzlebigen Flirt gehandelt habe. Immerhin, – seine ohnedies nicht rosige Laune wurde durch den belanglosen Zwischenfall nicht gerade rosiger, zumal die Frau Mama ihm soeben noch unter vier Augen gründlichst den Kopf gewaschen und betont hatte, er benehme sich Lotte gegenüber wie ein Mann nach fünfjähriger Ehe, er solle gefälligst mehr den Liebhaber spielen, wenn es ihm auch schwer fiele, es sei grundverkehrt gewesen, Lotte allein nach Venedig fahren zu lassen, schon aus dem einfachen Grunde, weil durchaus noch nicht feststünde, daß die Warnungen des Plantagendirektors völlig aus der Luft gegriffen wären, denn ein Mann vom Schlage Peter Lorenzens hätte sich seine Mitarbeiter sehr vorsichtig ausgewählt, und ob hier nicht wirklich ernste Gefahren zu befürchten seien, bliebe abzuwarten.

Günter mußte der weit klügeren Mutter in vielen Punkten beipflichten und versprach, Lotte sofort zu folgen. Daß er vorher noch einen kleinen Abstecher auf den Steg unternahm, war ihm nicht zu verargen, denn Lotte als Braut und Millionenerbin war schlechterdings ziemlich ungenießbar.

Die Motorjacht war längst außer Sicht und nach dem Innenhafen zu abgeschwenkt. Günter begab sich zur Anlegestelle der Dampfer, die den Verkehr nach der Stadt vermittelten.

Derweil hatte an Bord der von Hanna für Wochen gemieteten Jacht zwischen Miß Chef und ihrem ersten Gehilfen O’Konnor ein kurzes Gespräch stattgefunden, das sehr aufschlußreich gewesen war. Hanna hatte betont, daß die heute eingetroffene Depesche zweifellos in Allahabad zurückgehalten worden sei, genau wie die, die Fürst Ghawi ebenfalls heute erst erhalten habe.

„Bedenken Sie, O’Konnor“, hatte sie mit einer scharfen Falte auf der klugen Stirn hinzugefügt, „daß die Zeitungen schon vor Tagen eine kurze Notiz über das Ableben eines in ganz Indien wohlbekannten Plantagenbesitzers gebracht hatten. Wir glaubten nicht daran, da Lorenzen schon wiederholt totgesagt worden ist. Das Erscheinen Lottes mit ihren Verwandten hier vor drei Tagen weckte in mir die ernstesten Befürchtungen, der junge Graf war in dem Punkte nicht auszuhorchen, wir schwebten in Ungewißheit, wir hätten vielleicht mehr deutsche Zeitungen lesen sollen, wo doch sicher die Millionenerbschaft erwähnt war. Die ausländische Presse hat für derlei Dinge, die eine Deutsche angehen, kaum Interesse. Tatsache bleibt, daß die Hiobspost von heute, die ja nur eine Bestätigung längst gehegter Sorgen darstellt, in Allahabad zurückgehalten werden sein muß, und natürlich mit Absicht. Wer steckt dahinter, frage ich Sie?! Wer? Ich bin sehr beunruhigt. Peter Lorenzen hatte mir ein Vertrauen entgegengebracht, daß ich und wir nie enttäuscht haben, wir haben ihm über Lotte ganz eingehende und für Lotte sehr vorteilhafte, wahrheitsgetreue Berichte geschickt, immer an die Deckadresse des Fakirs nach Allahabad. Lorenzen hat erst daraufhin, als er genau wußte, wie fleißig und praktisch veranlagt und wie tapfer seine Nichte in allem ist, sich entschlossen, sie zur Alleinerbin einzusetzen, wie’s in der heutigen Depesche mit heißt. Sollte etwa der Fakir treulos sein und ein Doppelspiel getrieben haben?! Der Alte ist eine Persönlichkeit, das hat Lorenzen mir gegenüber gelegentlich erwähnt, die selbst er noch nicht restlos durchschaut habe und die doch seiner Überzeugung nach zuverlässig sei. Auch Lorenzen kann sich einmal getäuscht haben.“ Und nach kurzem Überlegen der energische Schlußsatz: „Wir benutzen denselben Dampfer wie die Arrenbergs und Lotte. Wahrscheinlich wird auch der Fürst dort Kabinen bestellen.“

O’Konnor kratzte sich den roten Schädel und meinte: „Das wäre dann also der Dampfer Teutonia, der übermorgen früh Genua anläuft und mittags wieder in See geht.“

Hanna klopfte ihrem Gehilfen derb auf die Schulter. „O’Konnor, Sie sind das lebende Lexikon und der zuverlässigste Fahrplan!“

Der Ire grinste und zuckte die breiten Achseln: „Miß Chef, das gehört zu meinem Beruf!“

„Zu welchem von Ihren Berufen?“ neckte ihn Hanna Reis harmlos.

„Zu Nummer eins“, erwiderte der Ire sehr ernst. „Ich begann mein Leben als Hoteldiener in Allahabad, und damals hatte sich gerade Ernest Dalton, dem das Londoner Pflaster zu heiß geworden war, in Allahabad niedergelassen, – aber das wissen Sie ja genau so gut wie ich.“

Hanna atmete schwer. „Ja, das weiß ich, und das vergesse ich nie!“

Sie drehte sich jäh um, damit der Ire ihr verfärbtes Gesicht nicht sehen konnte. Ihre Blicke ruhten auf dem hellen Wunderbau des Dogenpalastes. Unter den Säulengängen bewegten sich Scharen von Menschen auf und ab. Der nahende Abend hatte etwas Abkühlung gebracht, und die Venetianer genossen den Zauber ihrer Märchenstadt mit der stillen Fröhlichkeit ihrer beneidenswert bescheidenen und höflichen Naturen.

Im Dogenpalast saß die neue Herrin der Vindhya-Plantage und blickte gedankenverloren empor zu dem ovalen Deckengemälde des Saales des Rates der Zehn: „Alter und Jugend“ von Veronese. Die weiten Räume des Palazzo waren zu dieser Stunde fast leer. Niemand störte Lotte. Sie wollte auch allein sein. Hier inmitten dieser Pracht einer längst erloschenen, ruhmvollen Vergangenheit der Inselstadt, die einst das ganze Mittelmeer beherrscht hatte, war ihr die Vergänglichkeit alles Irdischen eindrucksvoller denn je zum Bewußtsein gekommen. Sie hatte an den Mann gedacht, der ihr die Millionen hinterlassen hatte, an denselben Mann, der ihre Mutter geliebt hatte und der enttäuscht und verbittert in die Fremde gezogen war und nie wieder etwas von sich hören ließ. Er hatte geliebt wie alle lieben, die aus dem Lande der Deiche und der flachen Weiden und der meerumbrandeten Küste stammen: Mit dem stillen Ernst der wahrhaft tiefen Naturen! Er mochte unendlich gelitten haben, als ihre Mutter den älteren Bruder wählte, denn er kannte Jan besser. Er ahnte, daß die Ehe unglücklich werden würde. Jan war ein Trinker und völlig aus der Art geschlagen. Arme Mutter! Lotte besann sich noch so gut auf die häuslichen Szenen, wenn der Vater aus dem Wirtshaus heimgekehrt war und im Rausche dann der Mutter, einer stillen Dulderin, vorgeworfen hatte, sie habe ja doch nur den anderen geliebt und dies nur zu spät erkannt. Lottes Jugend war vergiftet worden durch diese schmerzlichen Auftritte. Sie hatte dann stets die Bettdecke über den Kopf gezogen, um nichts zu hören. So war sie frühzeitig reif und ernst und kritisch geworden. Eines nachts war dann das Ende gekommen. An einem der schlimmsten Orkantage im Herbst hatte Jan Lorenzen alles wettgemacht, was er an den Seinen und an sich selbst gesündigt hatte. Eine Schonerbrigg war hilflos auf den Strand geworfen worden und gab Notsignale. Niemand hatte hinausrudern wollen, nachdem der Raketenapparat versagt hatte. Jan kam aus dem Wirtshaus herbeigestolpert und sprach kein Wort, als man ihn wie immer mied und von ihm keine Notiz nahm. Schweigend hatte er sein Boot klargemacht und war allein hinausgefahren, die Rettungsleine im Schlepp. Er erreichte das Wrack, in dessen letzter Mastspitze die Besatzung, erstarrt von Kälte, sich angeseilt hatte, er warf die Rettungsleine an Deck, und die nächste Woge verschlang ihn.

Die Versicherungsgesellschaft zahlte der Witwe eine große Summe aus, denn die Fracht der Brigg hatte aus wertvollen Häuten bestanden und hatte geborgen werden können. Jan Lorenzen aber war der Held des Dorfes geworden, und diese seine letzte Tat hatte auch in der heranreifenden Lotte das Erinnerungsbild an den Vater verändert, sogar die Mutter sprach fortan von ihm nur wie von einem bedauernswerten Verkannten, und als dann auch sie auf dem Sterbebette lag, hatte sie der einzigen Tochter heiser flüsternd mit letzter Kraft gebeichtet, daß sie sich mitschuldig fühle an dem einstigen moralischen Niedergang ihres Mannes, sie habe ihn nicht zu behandeln verstanden, sie habe ihm den Bruder als Vorbild hingestellt und ihrerseits nichts dazu getan, den Haltlosen auf den rechten Weg zu führen.

An dies und noch an viel anderes dachte die einsame Lotte hier im Saale des Rates angesichts des Gemäldes „Alter und Jugend“. Ihre Gedanken glitten in die Gegenwart hinüber und umkreisten prüfend ihre eigene Person und ihr Verhältnis zu Günter und dessen Mutter. Sie war gerecht genug, Vergleiche anzustellen zwischen ihren im Elternhause gesammelten Erfahrungen und der Gegenwart. Hatte sie richtig gehandelt, als sie so unnachsichtig in allem nur immer ihren Willen durchgesetzt hatte und nie Rücksicht darauf nahm, daß die Gräfin und Günter in ganz anderen Anschauungen und Ansprüchen aufgewachsen waren? Sollte sie sich einst vielleicht dieselben Vorwürfe machen müssen wie ihre Mutter, die auch nur grollend abseits gestanden und nie den Versuch gemacht hatte, den Vater kraft der Liebe, die alles verzeiht und alles verstehen soll, zu bessern …!

Sie erhob sich jäh nach dieser Stunde der Einkehr, sie warf einen letzten Blick auf das Gemälde und verließ den Saal als eine andere, die nun nachholen wollte, was sie versäumt zu haben glaubte. Sie überschritt den Markusplatz und bog in die engen Geschäftsstraßen mit den großen Schaufenstern und den sich drängenden Menschen ein. Sie besuchte so und so viele Läden und kaufte ein und wollte Günter und seine Mutter mit Geschenken erfreuen.

Zwei Dienstmänner, mit Paketen und Kartons beladen, folgten ihr zum Hafen, wo sie ein Motorboot mietete, denn die langsamen Gondeln und der Dampfer genügten ihrer Ungeduld nicht, all das wieder gutzumachen, was sie nun als Irrtümer ihrerseits erkannt hatte. Sie folgte dem Zuge ihres Herzens, denn sie hatte ja niemanden als die beiden Arrenbergs, sie stand ganz allein auf der Welt da und war eine Natur, die Anlehnung brauchte – Liebe, Zärtlichkeit und … Glück.

Lotte, sonst so wachsam in allem, hatte heute keine Augen für das, was ihr sonst wohl aufgefallen wäre. Das Motorboot war mit zwei Leuten besetzt, die für Venetianer zu dunkelhäutig waren. Lotte saß inmitten ihrer Pakete und träumte vor sich hin. Ob sie sich nicht doch noch mit Günter in aller Eile hier trauen ließ? Sie spielte mit dem Gedanken wie mit etwas, das doch nie verwirklicht werden würde. Irgend etwas sträubte sich gegen die Preisgabe ihrer persönlichen Freiheit, wenigstens legte sie sich diese Abneigung gegen diesen entscheidenden Schritt in dieser Weise aus und – betrog sich selbst damit, was sie auch unklar im Unterbewußtsein empfand.

Unzufrieden mit sich selbst hob sie den Kopf.

Sie schaute um sich und wurde sofort stutzig. Das Motorboot hatte längst den Hafen verlassen und fuhr gen Osten statt gen Westen zur Brücke des Excelsior. Jetzt faßte Lotte auch die beiden Bootsleute schärfer ins Auge. Aus der Ungewißheit wurde volle Gewißheit, als sie dem lauernden Blick des einen begegnete. Sie ließ sich nichts anmerken. Das Abendrot lag bereits über der Adria. Die Nacht nahte. Lotte hatte keine Waffe bei sich, nicht ein einziges Boot war in der Nähe.

Sie saß unter dem kleinen Schutzdach in der Mitte des Fahrzeugs und schaute nun rückwärts, wo die zahllosen Lichter der Zauberstadt wie ferne Sterne glitzerten. Dann fraßen sich ihre Augen an einer Motorjacht fest, die soeben aus dem Dunst der Rauchfahne eines Frachtdampfers auftauchte.

Günter hatte Lotte im Dogenpalast nicht mehr vorgefunden und dann überall gesucht. So kam er auch zum Hafen und bemerkte gerade noch das enteilende Motorboot und glaubte Lotte darin zu erkennen. Sie drehte den Kopf – es war Lotte. Günter sah auch die beiden Bootsleute, und seine Befürchtungen steigerten sich und nahmen bestimmte Formen an, als er die Hautfarbe der beiden Burschen als zu dunkel erkennen konnte. Er lief am Hafenkai entlang und suchte ein freies Motorboot, sah die schmucke kleine Jacht am Bollwerk liegen und rief Hanna Reis, die unter dem Sonnensegel soeben eine Depesche entwarf, überlaut und in höchster Erregung an.

Die Jacht verließ ihren Liegeplatz und schoß hinter dem Boote her und holte dank ihrer Geschwindigkeit schnell auf. Vorn am Bug standen Hanna und Günter und beobachteten durch Ferngläser das Boot der Entführer, das nun wirklich hinter der Lidopassage gen Osten steuerte – hinaus in die offene Adria.

„Wer sind Sie?“ fragte Günter nun schon zum zweiten Male die geheimnisvolle Französin.

„Eine Freundin Lottes“, erwiderte sie endlich mit fiebernden Lippen.

Günter vermochte vor Überraschung zunächst gar nichts zu äußern.

Die Jacht war nun auch von den zweifelhaften Bootsleuten bemerkt worden. Sie berieten flüsternd. Dann kam der eine zu Lotte und befahl ihr, sie solle sich der Länge nach niederlegen. Lotte stellte fest, daß der Mann sehr schlecht Englisch sprach und daß er rötliche Augen hatte. Sie gehorchte. Sie sah, daß die beiden aus einem Koffer kurze Büchsen hervorholten und die Waffen luden. Sie hörte das Knacken der Verschlüsse der Hinterladerbüchsen und sie wußte nun, daß es um ihr Leben ging.

Die Leute waren bestimmt Kreaturen der Feinde ihres Onkels, vielleicht sogar Beauftragte Herbert Medems, dem sie alles schlechte zutraute. Wenn er auf ihrer Seite gewesen wäre, hätte er wohl nie so ungezogene Depeschen geschickt und sie auch inzwischen wieder benachrichtigen müssen, wie es mit den Ermittlungen über die Todesursache ihres Oheims stünde.

Sie empfand keine Furcht, nur eine gewisse Neugier. Ihr Plan, wie sie dem Ärgsten entrinnen könnte, stand längst fest. Sie würde über Bord springen und sich von dem verfolgenden Boote auffischen lassen.

Es wurde immer dunkler. Ihre beiden Gegner warfen jetzt die Pakete und die Kartons einzeln über Bord, wohl in der Hoffnung, daß die Leute der kleinen Jacht sich mit dem Herausholen der Gegenstände aufhalten würden. Darin irrten sie sich. Auf der Jacht sprang eine grelle Lichtflut auf, ein Scheinwerfer. Lotte hatte im Liegen den Kopf etwas gehoben und schloß geblendet die Augen, aber im nächsten Moment erkannte sie, daß es jetzt die beste Gelegenheit sei, den Sprung ins Wasser zu wagen, da die beiden Entführer sicherlich genau so geblendet waren wie sie selbst …

Sie sprang. Sie stieß sich mit den Fußspitzen kräftig ab und tauchte sofort. Als gute Schwimmerin wurde sie auch durch ihre Kleider wenig behindert, außerdem trug sie nur ganz leichte Sommersachen und ebenso leichte Schuhe. Sie gelangte wieder an die Oberfläche und öffnete die Augen. Ein dünnes Pfeifen, das blitzschnell an ihrem Ohr vorüberstrich, warnte sie. Man schoß auf sie. Sofort ließ sie sich wieder hinabsinken in die schützende Tiefe und tauchte erst wieder empor, als sich Atemnot einstellte. Jemand packte sie, zog sie empor, und aufschluchzend lag sie in Günters Armen.

Das Motorboot entkam. Hanna Reis legte auch wenig Wert darauf, die Leute der hiesigen Polizei zu übergeben, sie wußte, wo sie die Burschen leichter strafen könnte, nur eins wußte sie nicht: Wer die beiden Gond hier nach Europa beordert hatte.

Man fischte auch einen Teil der Kartons und Pakete noch aus dem Wasser, und es wirkte auf Lotte etwas ernüchternd, als sie feststellen mußte, wie eifrig sich Günter daran beteiligte, nachdem er gehört hatte, daß Lotte die teuersten Dinge für ihn und die Mutter eingekauft hatte. Aber selbst dies trat vor einer Entdeckung in den Hintergrund, die Hanna Reis beim Öffnen eines Koffers machte, der den beiden Indern gehört haben mußte. In diesem Koffer fand Hanna ein paar Briefe, die Astrid Dalton an Herbert Medem gerichtet hatte. Aus dem Inhalt dieser Schreiben ging deutlich hervor, daß Medem sich mit seiner Braut in dem einen Punkte vollständig einig war, daß ein Erscheinen der neuen Herrin der Vindhya-Plantage in Indien sehr unerwünscht sei.

Hanna Reis durfte über ihre Beziehungen zu Peter Lorenzen auch jetzt nichts verlauten lassen, sie mußte erst mit Medem Rücksprache halten, dessen Verlobung mit Astrid ihr sehr viel zu denken gegeben und mancherlei Zweifel in ihr wachgerufen hatte, zumal der Generaldirektor der Plantage von ihrer Mission nichts wußte und nur davon erfahren sollte, falls Peter Lorenzen etwas zustieße, so hatte der Nanna-Sahib es gewollt, der selbst vor Medem vieles verheimlicht hatte.

Lotte enthielt sich jedes Urteils über ihren Plantagendirektor, denn der Mann war für sie längst ein heuchlerischer Verbrecher, der sich irgendwie das Vertrauen ihres Onkels erschlichen haben mußte. Sie hatte jetzt nur einen Wunsch, recht schnell in Indien einzutreffen, um mit diesem Menschen abrechnen zu können, der es gewagt hatte, seine elenden Schergen und Mörder sogar hier nach Europa zu senden, um die Erbin Peter Lorenzens aus dem Wege räumen zu lassen.

 

6. Kapitel.

Die Lotosblume kommt nach Vindhya.

Während der Bombay-Kalkutta-Expreß durch die Ebenen, Dschungel und Berge und die zahllosen Stationen gen Allahabad gesaust war, hatte es ununterbrochen geregnet. Lotte hatte von Indien bisher nicht viel gesehen, gestern früh bei der Ankunft war das Wetter noch trister gewesen, und heute morgen verspürte Lotte nicht die geringste Lust, ihr Bett zu verlassen, denn sie wußte ja im voraus, daß es nur wieder Ärger und immer wieder Ärger geben würde. Sie hatte in ihrem Leben noch nie einen Menschen gehaßt, aber ihren Plantagendirektor haßte sie wie die Sünde, ohne ihn bisher zu Gesicht bekommen zu haben.

Sie hatte ihm noch von Genua aus kurz vor der Abfahrt gekabelt, daß sie ihn in Bombay zu sprechen wünsche, er solle ihr dorthin entgegenkommen, wer aber nicht kam, war Herr Medem. Immerhin hatte er eine Depesche geschickt und ihr mitgeteilt, er habe am Tage ihrer Ankunft leider gerade Hochzeit, und vielleicht ließe sie dies als genügenden Grund gelten.

Der Ton dieser Depesche war wieder so herausfordernd ironisch, daß Lotte sich vornahm, fernerhin den Herrn Medem überhaupt nicht mehr zu behelligen, bis sie eben in Vindhya angelangt sein und mit ihm unter vier Augen ein Wörtchen reden würde, wobei die Briefe Astrids an ihn, die man in Venedig auf so eigentümliche Art erbeutet hatte, die Hauptrolle spielen sollten.

Nein, Lotte hatte wirklich gar keine Lust, sich aus dem behaglichen Bett zu erheben und sich Allahabad nochmals bei Regenwetter anzuschauen wie gestern. Sie fühlte sich müde, zerschlagen und unlustig, sie kam darüber nicht hinweg, daß es einen Menschen gab, mit dem ihr Leben durch eine unverständliche Testamentsbestimmung ihres Onkels so eng verknüpft war, daß man getrost von einer unerträglichen Fessel sprechen konnte, dazu noch von einer Fessel, die durch Richterspruch gelöst werden mußte, – das war der letzte Ausweg.

Gewiß, dieser Medem hatte an Bord der Teutonia, wo Lotte schließlich doch noch Kabinen erster Klasse gewählt hatte, in der Person des Fürsten Ghawi, der Lotte vom ersten Augenblick an sehr sympathisch gewesen war, einen warmen Fürsprecher und Verteidiger gefunden. Seine Hoheit war sogar einige Male, als die Gräfin ihm etwas von oben herab jede Menschenkenntnis abgestritten hatte, sehr deutlich geworden und hatte Frau von Arrenberg, die in ihm nur so etwas wie einen besseren Niggerhäuptling sehen wollte, in so eisiger Art abfallen lassen, daß die Gräfin sehr schleunigst eingelenkt hatte, da die Plantage innerhalb des Gebietes des Fürstentums lag und der Radscha gewillt schien, sich für Medems Rechte aufs nachdrücklichste einzusetzen.

Andrerseits hatte er sich aber genau so offen und sehr abfällig über Medems zweite Verteidigerin Hanna Reis geäußert, die zum Glück nicht mit an Bord war, sondern einen anderen Dampfer benutzen hatte wollen. Als Lotte einmal – es war gerade bei der Durchfahrt durch das Rote Meer gewesen – Hanna und deren Eintreten für Medem erwähnt hatte, teilte ihr der in einem Liegestuhl neben ihr an Deck ruhende Radscha mit, daß die Mademoiselle Reis bestimmt eine von den Daltons bezahlte Spionin sei und daß Lotte gut täte, dieser zweifelhaften Freundin gegenüber recht vorsichtig zu sein.

Lotte hatte hierauf sofort erwidert: „Und Sie treten für Medem ein, der doch mit der Tochter dieses Dalton verlobt ist?!“

Der junge Fürst hatte zu dieser berechtigten Einwendung nur etwas sphinxhaft gelächelt und sich auf die Äußerung beschränkt, Lotte solle erst einmal Medem und die ganzen Verhältnisse in Vindhya aus eigener Anschauung kennenlernen und dann urteilen.

Was half das alles, wenn die doch etwas nachdenklich gewordene Lotte in Bombay die Depesche ihres Herrn Direktors vorfand, – die Depesche!! Lotte konnte sie leider dem Fürsten nicht mehr zeigen, denn der war sofort mit einem Extrazuge abgereist und hatte es wohl auch mit Recht sehr eilig, da die Zustände in seiner Residenz fast unhaltbar geworden waren.

Die Erbin Peter Lorenzens schaltete nun doch die Nachttischlampe ein und schlüpfte aus dem Bett, da sie plötzlich den Wunsch verspürte, die Briefe Astrids an Medem – im ganzen waren es drei – nochmals zu lesen. Sie hatte sie in einen ihrer Koffer eingeschlossen, die nun hier in der Ecke standen. Obwohl Lotte diese Briefe fast schon auswendig kannte, denn als junges Mädchen hatten diese Schreiben für sie noch ein anderes Interesse gehabt, eben das von zärtlichsten Ergüssen zwischen Brautleuten, wollte sie sich die belastenden Stellen darin doch nochmals einprägen und sich dergestalt auf die Aussprache mit ihrem Direktor und Quälgeist noch besser vorbereiten.

Die arme Lotte stand nun mit weiten und entsetzten Augen vor ihrem großen, neuen Kabinenkoffer. Die Schlösser waren erbrochen, das sah sie auf den ersten Blick. Ein böser Verdacht stieg in ihr auf. Sie fand ihn sehr bald bestätigt: Die drei Briefe waren gestohlen worden, und dies konnte nur in dieser Nacht geschehen sein. Es war also jemand in ihr Zimmer eingedrungen, während sie schlief.

Lotte setzte sich wie vernichtet auf den Bettrand und betrachtete mit einem Gefühl ungezügelten Hasses das Bild in dem aufgeschlagenen Heft des Kalkutta-Magazins, das sie gestern gekauft hatte. Zufällig fand sie darin eine Fotografie, die folgende Unterschrift trug:

Der berühmte Tigerjäger der Zentralprovinzen, Plantagenbesitzer Herbert Medem mit zwei von ihm vor kurzem erlegten Tigern, seinem Jagdelefanten und seiner ebenso sportgeübten Braut Miß Astrid Dalton. Aufgenommen an der Stelle, wo Mr. Medem beide Tiger kurz hintereinander durch Kopfschüsse zur Strecke brachte.

„Plantagenbesitzer“ stand da gedruckt!! Das war das erste, was Lottes Blut in gefährliche Wallung gebracht hatte. Also so unverfroren betrachtete sich ihr Quälgeist bereits als Herr der Plantage, daß er eine solche wahrheitswidrige Veröffentlichung ruhig duldete oder gar mit veranlaßt hatte. Und dann er selbst! Von seinem Gesicht war ja nicht viel zu erkennen, da er den Tropenhelm tief in die Stirn geschoben hatte. Aber allein schon seine selbstbewußte Haltung und die ganze Pose – Arm in Arm mit Astrid! – verriet den komödienhaften Zug in seinem Wesen zur Genüge. Und dann noch diese Astrid!! Ein Puppengesicht mit dem gekünstelten Schneid einer Zirkusreiterin! Wie konnte ein Mann von Geschmack sich nur mit einem solchen Geschöpf verloben?!

Das Schönste an dem Bilde waren entschieden der Elefant und die beiden Tiger, wirklich prächtige Bestien, mit denen Lotte nie zusammentreffen wollte, obwohl Günter schon in Arrenberg stets von Tigerjagden gefaselt und Lotte daher auch regelrecht Schießunterricht erteilt hatte, wobei sie sich recht anstellig gezeigt hatte. Wie der gute Günter sich angesichts von lebenden Tigern benehmen würde, darauf wollte es Lotte doch besser nicht ankommen lassen. Mit Rehböcken wurde er sehr gut fertig, aber mit solchen Großkatzen?! Dazu gehörte doch wohl ein Mann, der etwas weniger am Rockzipfel der Frau Mama hing wie der brave Günter, – dazu war ein Kerl wie dieser Medem nötig, eben eine rücksichtslose Verbrechernatur!

Lotte ergriff plötzlich das Heft und wollte die Seite mit dem Bilde herausreißen und in kleinste Fetzen zerfasern, denn der Streich, den Medem ihr durch seine Kreaturen in dieser Nacht hatte spielen lassen, überstieg doch alles bisher Geschehene. Sie riß die Seite auch heraus, doch sie zerriß sie nicht. Sie hatte es tun wollen, – nein, es war klüger, diesen gedruckten Beweis seiner Frechheit aufzubewahren und ihm baldigst unter die Nase zu halten.

Sie faltete das Blatt also sauber zusammen und steckte es in ihr Handtäschchen. Dann schlüpfte sie wieder ins Bett zurück und überlegte. Hatte es Zweck, den Diebstahl der Polizei zu melden?! – Wohl kaum. Richtiger war es, davon keinerlei Aufhebens zu machen und sich auf die Zeugen notfalls zu berufen, von denen die Briefe gelesen worden waren.

Lotte wurde wieder ruhiger. Es war nicht ihre Art, sich nutzlos aufzuregen. Die Sache war vorläufig abgetan. Sie griff nach der gestrigen Abendzeitung, die die Zofe ihr bereitgelegt hatte. Zofe! Auch dazu hatte sie sich in letzter Minute noch entschlossen, weil ihre Schwiegermutter ihr dies als unbedingt notwendig hingestellt hatte, eine vielfache Millionärin dürfe doch nicht ohne Bedienung reisen, zumal nach einem Lande, wo jeder Europäer zumindest ein Dutzend Diener beschäftige. Ach ja, – die Zofe! Auch ein dunkles Kapitel für sich. Lotte mochte gar nicht daran denken!

Seufzend entfaltete sie die Allahabad-Post und überflog die dickgedruckten Titel der verschiedenen Tagesneuigkeiten. Einer davon sprang ihr sofort ins Auge.

Ein gestörtes Hochzeitsfest. Die Braut verschwunden!!

Lotte kicherte etwas schadenfroh. Sie hatte allen Grund dazu. Denn unter dieser Überschrift stand weit kleiner und schamhafter.

Miß Astrid Dalton am Hochzeitsmorgen von Erpressern entführt. 50 000 Rupien Lösegeld gefordert. Die Polizei ratlos!!

„Gratuliere, Herr Quälgeist“, sagte Lotte halblaut vor sich hin. „Nun werden Sie mir wohl mitteilen, daß Sie für die Plantage vorläufig keine Zeit haben, sondern Ihre Braut suchen müssen. Mir kanns recht sein.“

Sofort aber schämte sie sich ihrer gehässigen Gedanken, denn letzten Endes war Medem vielleicht doch zu bedauern.

So dachte seine Feindin Lotte, und sie bewies damit nur, daß sie ein junges Mädel war, das für Hochzeiten und Verlobungen weit mehr Interesse hatte als für die Nöte des Augenblicks, selbst wenn es sich wie hier um ihre eigene Person handelte.

Diese Zeitungsnotiz sollte aber noch ganz andere Auswirkungen zeitigen, und auch das hing mit Lottes Charakter innigst zusammen, ebenso mit ihrem flinken Auffassungsvermögen und ihrer zielbewußten Tatkraft. Für Allahabad als Stadt hatte sie nichts übrig, es regnete ihr hier zu viel, und was es an Sehenswürdigkeiten gab, das hatte man schon gestern so etwas im Galopptempo genossen, so zum Beispiel den unterirdischen Tempel an der Spitze der Halbinsel, auf der das alte Allahabad, umflossen von der Dschamna und dem Ganges, 250 Jahre vor Christi Geburt erbaut wurde. Da war auch ein sogenannter ewiger Feigenbaum gewesen, da war eine große Moschee und der braune, lehmige Fluß und ein Europäerviertel, das ebensogut in Berlin hätte stehen können, so modern war es. Und da gab es eine Eingeborenenstadt, die man schon von weitem roch. Nein, Allahabad, die Stadt Gottes, wirkte bei Regenwetter alles andere als romantisch.

Minuten später stand die Zofe vor ihrer jungen Herrin.

„Bessy“, sagte Lotte zu ihrer Gouvernante, „bisher haben Sie mich nur jeden Tag durch irgend etwas geärgert, heute verlange ich von Ihnen zum ersten Male eine Gegenleistung. Die Gräfin und Günter schlafen natürlich noch?“

Bessy Drout war eine kleine zierliche Engländerin, die zuletzt bei einer Herzogin in Stellung gewesen war, die in Monte den Rest ihrer Jahreseinkünfte verspielt und daher die unersetzliche Bessy Knall und Fall hatte entlassen müssen. – Bessy erwiderte mit ungeheurer Zungenfertigkeit in leidlichem Deutsch:

„Der Herr Graf haben mit Lord Cray bis vier Uhr in der Bar zusammen gesessen und gepokert. Die Frau Gräfin haben Migräne und das Frühstück erst für elf Uhr befohlen.“

Bessy hätte getrost mit Hannas Gehilfen, dem Irländer O’Konnor, eine Auskunftei eröffnen können, denn auch sie wußte stets alles, woher, das blieb ihr Geheimnis.

„Sehr gut“, nickte Lotte zu diesen für Günter nicht gerade vorteilhaften Angaben. „Wir haben heute Sonnenschein, ich war erstaunt, ich habe zum Fenster hinausgeschaut. Ich reise sofort nach Beldari, und wenn meine Verwandten Sie fragen, wo ich bin, dann erklären Sie, ich sei nur in die Stadt in den Basar gefahren. Keine Einwendungen, Bessy! Ich nehme nur den kleinen Koffer mit, das übrige Zeug können Sie mir mitbringen, sobald meine Schwiegermutter reisefertig ist, und das dürfte morgen abend vielleicht der Fall sein. Ich habe meine Gründe, schleunigst nach der Plantage zu kommen, und wenn ich auf die Gräfin warten wollte, wäre die gute Gelegenheit verpaßt, dort einmal allein und ungestört nach dem Rechten zu sehen. Schluß, – es bleibt dabei. Und wehe Ihnen, wenn Sie vor heute nachmittag verraten, daß ich auf und davon geflogen bin, – ich fliege nämlich wirklich, eine Maschine habe ich telefonisch bestellt. Helfen Sie mir nun, – etwas flink gefälligst, denn ich will abends in Vindhya sein.“

Der Pilot war ein Eurasier, und der Eindecker war auch nicht viel mehr wert als dieser Mischling, dem man den Opiumraucher auf zehn Schritt anmerkte, wenn man Verständnis dafür besaß, aber in diesen Dingen war Lotte vollkommen unbewandert, und das sollte sich noch bitter rächen.

Zunächst benahm sich die alte Fliegerkiste bei dem schönen, windstillen Wetter ganz manierlich, und Lotte hatte es nicht nötig, das Papierbecken in Anspruch zu nehmen und handhabte dafür ihr Fernglas um so eifriger, denn die indische Landschaft gefiel ihr heute recht gut, obwohl sie umsonst nach den Anzeichen einer tropischen Vegetation oder nach prunkvollen Bauten Ausschau hielt.

Dicht hinter der Stadt war der Ganges-Dschamna-Kanal sichtbar geworden, der Eurasier flog sehr tief, und Lotte konnte sich mit eigenen Augen überzeugen, was der Kanal für den Handel bedeutet. Dampfer, Motorboote und einheimische Sampans mit ungeheuren Spitzsegeln oder lateinischen Segeln belebten die künstliche Wasserrinne, an deren Ufern Werftanlagen und Warenspeicher und ganze Arbeiterviertel neu entstanden waren. Aber dicht hinter Allahabad änderte sich das Bild, und die Eintönigkeit der grünen Ebenen wurde nur durch die Silberfäden der Flüßchen und Bäche belebt, die sämtlich dem heiligen Ganges oder der Dschamna zuströmten.

Stundenlang blieb dieses Panorama dasselbe. Lotte beugte sich, in dem offenen Flugzeug, das nur zwei Sitze und vorn den Führersitz hatte, abwechselnd zu dieser oder jener Seite hinaus und erspähte Dörfer mit reisstrohgedeckten sauberen Hütten, einmal auch eine in Dunst gehüllte größere Stadt, es war Sagar, ein Eisenbahnknotenpunkt, wie ihr der Pilot durch das Mikrofon mitteilte, es gab also wenigstens in dieser alten Kiste von Maschine ein Verständigungsmittel zwischen Führer und Fahrgast.

Nachher wurde die Gegend ganz einsam, die Wildnis begann, und nun kam Lotte doch so ein wenig auf ihre Rechnung, denn hier konnte sie beobachten, was der Dschungel mit seiner urwüchsigen Kraft der ewigen Fruchtbarkeit bedeutet. Hier erblickte sie inmitten der sumpfigen Niederungen einzelne Höhenzüge, aus denen, umgeben von gänzlich verfilzten Urwäldern, Tempelruinen und schlanke Minarette verschollener Moscheen und Schlösser und Burgen hervorragten, hier begann jener Landstrich, den auch die letzte Vermessungsexpedition hatte umgehen müssen, da er unpassierbar war, hier begann die Heimat der Wasserbüffel, der Elefanten, der Tiger und all der anderen zahllosen Tierarten, die sich vor der Zivilisation und ihrer Unruhe und ihren Gefahren in diese Schlupfwinkel zurückgezogen haben und von niemandem gestört werden.

Dann wieder ein Streifen Kulturland mit Siedlungen, Viehherden und Hütten und zum Teil modernen Gebäuden, – Kautschukplantagen mit arbeitenden Kulis und berittenen Aufsehern, Indigofeldern mit fleißigen Frauen inmitten der hohen Stauden, aus denen noch heute der Farbstoff in althergebrachter Weise gewonnen wird, da sich bei den billigen Arbeitskräften der Indigobau trotz chemischer Industrie noch immer verlohnt und die Farbe leuchtender und dauerhafter ist, zumal für Teppiche und Wandbehänge. Reis- und Maispflanzungen zeigten ihre wie Soldaten ausgerichteten Stauden, Bewässerungsgräben und Schienenstränge für die Feldbahnen, Viehfarmen an guten Weidestellen, zumeist an den Nordabhängen der Berge, wimmelten von Schafen, Buckelrindern, Ziegen und Pferden.

Zuweilen mußte der Pilot, der dauernd an dem nervenvernichtenden Stückchen Kaugummi, das mit Opium getränkt war, lutschte und nur so seine Spannkraft bewahrte, höher steigen, da irgendwo ein Waldbrand wütete, der neues Ackerland erschließen oder aber die sogenannten Schlangendschungel von ihren der Nachbarschaft so gefährlichen Bewohnern befreien sollte, – und ungeheure Rauchwolken zogen dann träge mit dem kaum spürbaren Winde dahin und hüllten die Erde in gelbbraunen Nebel, so daß oft eine halbe Stunde und länger jede Aussicht versperrt blieb.

Und wieder dann fruchtbare Äcker und Dörfer und einzelne Gehöfte und Vieh auf den Weiden. Der Pilot rief seinem einsamen Fahrgast zu: „Das ist der Westteil von Beldari, hier beginnt das Fürstentum des neuen Radscha Agdera Chan.“

Lotte war die Zeit wie im Fluge vergangen, und das traf hier ja auch zu, – es war ihr erster Flug über fremdes Land, und diese Stunden hatte sie als endlos nie empfunden.

Wieder rief der Pilot, der auf ein Trinkgeld lüstern war, etwas in die vor den Mund geschnallte Muschel hinein.

„Die Residenz Beldari!“

Lotte beugte sich noch weiter hinaus. Das also war Beldari, wo nun angeblich ein neuer Fürst von Englands Gnaden regierte, allerdings erst zwei Tage, wie man in Allahabad erzählt hatte. Lord Cray hatte darüber gesprochen und betont, daß er sich als Resident in diese Dinge nicht einmischen wolle, deshalb sei er nach Allahabad gekommen, um abzuwarten.

Der Eindecker senkte sich noch mehr. Lotte sah einen Bahnhof außerhalb der Stadt, sah blanke Schienenstränge, Telegrafenmasten und drei größere Bauten außer dem Schlosse des Fürsten, das wie eine Burg auf einer Anhöhe mit schroffen Wänden lag und wirklich imposant wirkte. Die übrige Stadt war ein Gewirr von Gassen und Gäßchen und freien Plätzen, auf denen Tempel standen und unter grünem Dornengespinst verborgene Trümmer von uralten Bauwerken.

Beldari zählte keine vierzigtausend Einwohner, aber seine Geschichte war berühmt und blutig und voller Legenden, von denen die schönste und vielleicht wahrste die der Dynastie Dra Widar war.

Als einstmals die Gond dem Ansturm der von Nordwesten vordringenden Indogermanen kaum mehr länger hatten standhalten können, da war ein altes Orakel eines Bhuta aus grauer Vorzeit eingetroffen. Ein junger Fremder, der eine unbekannte Sprache redete und Weib und Kind und prächtige Waffen mitgebracht hatte, erschien in der belagerten Stadt und organisierte die Verteidigung und vertrieb die Belagerer. Das Volk, eingedenk des Orakels, machte ihn zum König und ermordete das ganze bisherige Herrschergeschlecht, das sich der Völlerei und der Sittenverderbnis hingegeben hatte.

Aus diesem Geschlecht der „Dämonen“ stammte auch der nun angeblich vertriebene Radscha Ghawi. Nie hatte einer der Dämonen-Dynastie ein Weib der Gond gefreit, nein, es war ein Geheimnis, woher sie ihre Frauen holten, – heute hatte die wissenschaftliche Forschung auch dies alles zum Teil aufgeklärt, oder behauptet es wenigstens. Die Dra Widar-Dynastie sollte aus Ceylon stammen, und deshalb sollten die Fürsten von Beldari eine so helle Hautfarbe haben, denn es sollten Singhalesen sein. So wollen die Forscher die Legende auf sehr einfache Tatsachen zurückführen, auf die Flucht eines singhalesischen Kriegers aus seiner Heimat nach Norden zu den stammesverwandten Gond. Die Gond selbst lehnen diese Deutung ab und bleiben dabei, daß ihre Herrscher von Göttern gesandt und selbst Götter seien.

Der Eindecker wurde urplötzlich von den Straßen herauf beschossen, und diese Straßen wimmelten von Menschen, die wie Kämpfende hin und her fluteten. Eine Saat von Kugeln umpfiff die Maschine wie ein beißwütiger Bienenschwarm. Der Eurasier riß den Eindecker hoch und suchte der wilden Beschießung zu entgehen. Er schrie auf, und sekundenlang schien es, als ob die Maschine steuerlos dahintaumelte. Aber der Pilot, der nur einen Schenkelschuß erhalten hatte, raffte sich auf und steuerte mitten in den Streifen der Wildnis hinein, den die Gond poetisch den Weg der Tiger nennen.

Zwei felsige Höhenzüge durchbrechen hier den undurchdringlichen, sumpfigen Dschungel unweit der untergegangenen Stadt Gutschar, wo auch die berühmten Tempelhöhlen und der verborgene und unzugängliche Haupttempel der Bhuten liegt. Der Mischling verlor viel Blut, fühlte seine Kräfte schwinden, er rief der weißen Mem Sahib zu, daß er notlanden müsse, sie solle sich festschnallen und sich zusammenducken. Lotte merkte an der matten Stimme des Mannes, daß wirklich ernsteste Gefahr vorliege und wollte seinen Rat befolgen.

Sie kam nicht mehr dazu, denn der Pilot verlor die Besinnung, und die Maschine, die schon dicht über die Baumwipfel dahingestrichen war, senkte sich, sauste in ein Dickicht, und der Propeller hieb wie ein Buschmesser die Äste und Zweige und die Ranken ab und schuf so eine Bahn durch die niedrigen Sträucher. Das Flugzeug raste am Boden weiter. Lotte saß wie erstarrt da und vermochte kein Glied zu rühren, obwohl auch jetzt mehr Neugier, wie die Sache auslaufen würde als die Angst ihre Glieder lähmte.

Dann hörte sie ein langgerecktes, schrilles Aufheulen, das sogar den Lärm des Motors übertönte und das nur von einem Tiere herrühren konnte, dem die Räder des Eindeckers über den Leib gegangen waren. Lotte glaubte auch einen leichten Stoß verspürt zu haben, aber all das spielte sich so schnell ab, daß sie überhaupt nicht recht zur Besinnung kam.

Sie merkte dann nur, daß der Eindecker sich im Gestrüpp nun doch festgefahren hatte und daß irgend etwas durch die Luft sauste und hinter ihr mit schwerem Aufprall auf dem Rumpf der Maschine landete. Stinkender Odem aus einem Raubtierrachen schlug ihr in den Nacken wie ein Pesthauch, und das heisere, wütende Keuchen einer großen Katze erfüllte ihre Ohren mit Lauten des Grauens. Sie ahnte, daß es sich um einen Tiger handelte, ihre sonst so trefflichen Nerven streikten und sie verlor das Bewußtsein.

Während ihr die Sinne zu schwinden begannen, glaubte sie noch einen kurzen Knall und ein Aufheulen zu vernehmen, aber bestimmt wußte sie es nicht, es konnten bereits unklare Gesichte und Wahnvorstellungen ihrer Traumwelt sein, die nun für sie wie ein Erleben jenseits ihres kritischen Verstandes begann.

Stimmen und Zurufe in fremder Mundart erreichten ihr Ohr, eine besonders helle scharfe Stimme schien Befehle zu erteilen, und dann fiel das Wort „Lotosblume“ und gleich darauf die Erklärung für diese Bezeichnung durch dieselbe helle scharfe Stimme. „Sie trägt einen weißen Panamahut mit gelbem Bande, und der Hut ist eingedrückt und gleicht der Blüte einer Lotos, auch das Gelb stimmt und der grüne Mantel mit der kurzen Pelerine ist wie ein Blatt der Lotos, – worauf eine andere Stimme erwiderte, und es konnte die Hannas sein, aber das war ja unmöglich: „Sie werden poetisch! Es ist die neue Herrin von Vindhya.“

Lotte war halbwach, aber sie wußte es nicht und hielt die Augen fest geschlossen. Sie wurde davongetragen, sie spürte den Atem eines Mundes, der dicht über ihrem Gesicht stoßweise ihre Wange traf, und sie fühlte eiserne Arme, die sie an eine keuchende Brust preßten. All das war nur halber Traum, all das war Fatum, – es sollte so sein, und der Kampf in den Straßen von Beldari und die Verschwörerversammlung im Bhuta-Tempel waren nur Schachzüge des Schicksals, das so unberechenbar und doch oft so weise die Wege der Menschen hineinführt in eine Wildnis, damit aus dem Irrtum die Wahrheit sich herausschäle wie aus unfruchtbarem Lande das unfruchtbare Feld der Zukunft, die den Segen der Lotosblume in sich birgt.

Dann war Lotte ganz wach und öffnete die Augen. Sie lag auf saftigem Grase, unter ihren Kopf war ein Polster gelegt, und über sie gebeugt stand ein Mann, dessen braune, breite Brust aus einem offenen, verschwitzten Wollhemde von unbestimmbarer Farbe hervorschaute. Der Fremde war ein Weißer, aber so sonngebräunt, daß er einem Eingeborenen glich, außerdem hatte er strohblondes Haar, das von Wind und Wetter und Hitze der Tropen den Glanz verloren hatte und in der Mitte locker gescheitelt war. Er war unrasiert, und die Perlen vom Schweiß auf Stirn und Wangen und die messerscharfe Nase und der Mund mit den dicken Falten, die sich bis zum stoppeligen Kinn hinzogen, gaben ihm etwas Wildes und Brutales und kraftvoll Urwüchsiges. Doch in den leuchtenden Blauaugen schimmerte es wie gütiger Ernst und wie versteckter Humor, und als Lotte sich nun aufrecht setzte und verwirrt fragte, da der Blick des Mannes sie eigentümlich befangen machte: „Wo bin ich?“ da lachte er rauh und erwiderte mit einer Stimme, die hell und hart wie polierter Stahl schien:

„Am Leben sind Sie, und das ist ein doppeltes Wunder bei Ihrem Leichtsinn!“

Er zog sich die nur mit einem abgescheuerten Riemen um die Hüften festgehaltenen, abgewetzten, fleckigen Leinenhosen hoch, die ihm auf die derben Schmierstiefel herabgerutscht waren, und stülpte seinen verwitterten Filz über den blonden zerzausten Scheitel. „Glück haben Sie gehabt, Miß, unverschämtes Glück. Wenn meine Freunde und ich nicht hier in der Nähe gelagert hätten, würde der Tiger Sie gefressen haben … zum Frühstück. Wer überfährt aber auch einen schlafenden Tiger?! Wer fliegt ausgerechnet über Beldari hinweg, wenn der Radscha dort Schießübungen auf lebende Scheiben abhält! So was tut man nicht! Oder aber, man ist irgend so eine kleine, freche Zeitungsreporterin, die Geld verdienen will. Das sind Sie doch, Miß?“

Lotte fand die Offenheit und Naturwüchsigkeit dieses rauhen Waldmenschen entzückend. Sie nickte ihm lachend zu.

„Sie gefallen mir, aber Sie schwindeln etwas. Vorhin hörte ich Sie doch sagen, ich sei eine Lotosblume, und eine Frauenstimme erklärte, ich wäre die neue Herrin von Vindhya.“

„So?! Das wollen Sie gehört haben?! Dann haben Sie geträumt. Hier ist keine Frau außer Ihnen, hier ist nur der Schlangenfänger Birra, ein dreckiger Fakir, aber mein Freund, und dann ist hier noch ein ebenso alter, aber etwas weniger stinkender Gond von der frommen Priestergilde, und schließlich ist da drüben noch ein toter Tiger mit einem Loch im Schädel und ein noch toterer Mischling, Ihr Pilot, Miß, er ist verblutet, – und wenn Sie auch mich noch kennenlernen wollen, – hallo“, unterbrach er sich, „was gibt es denn, alter Birra?“

Der Fakir, der Vertraute des Nanna-Sahib, winkte den Strohblonden abseits und flüsterte eifrig mit ihm, worauf der Weiße ihm zuraunte: „Reite voraus und bestelle das Nötige. Merke dir den Namen, und wer da eine Unvorsichtigkeit begeht, fliegt hinaus!“

Dann kehrte er zu Lotte zurück und meinte mit seiner munteren Derbheit: „Der Dreckfink eben war der berühmteste Schlangenfänger Zentralindiens, Birra heißt er, wie schon erwähnt. Er ist beinahe noch berühmter als unser Plantagendirektor, der große Tigerjäger Bert Medem – haben Sie den Namen vielleicht schon mal gehört, Miß …?“

„Ja, ich glaube.“ Lotte lächelte ihren Beschützer etwas sehr säuerlich an. „Wer sind Sie denn nun eigentlich? Offenbar doch ein Angestellter, der seinen Chef sehr schätzt.“ Es war ihr nicht angenehm, den biederen Menschen hier auszuhorchen, aber sie wollte doch einmal ein Urteil über Medem von jemandem hören, der dauernd mit ihm zusammenarbeitete.

„Ich? Ich bin der Aufseher Jack Eden, Miß. Ob ich meinen Chef sehr schätze, das ist eine Frage, die mich bei ehrlicher Antwort meine Stellung und eine Beleidigungsklage kosten kann …“

Lotte genügte diese diplomatische Auskunft. Sie wollte nun aber doch diesen Eden nicht länger darüber im Zweifel lassen, mit wem er es zu tun habe, und sagte daher, indem sie ihm kameradschaftlich die Hand hinstreckte, denn er gefiel ihr wirklich, er hatte so etwas Frisches, Unbekümmertes und Aufrichtiges an sich, außerdem erinnerte er sie auch an die Heimat, da er richtige blaue Friesenaugen hatte. „Ich bin Lotte Lorenzen“, erklärte sie ohne Umschweife, „die neue Herrin der Vindhya-Plantage.“

Jack Eden drückte ihre Hand sehr kräftig und meinte anscheinend erfreut, jedoch sehr wenig überrascht: „Also doch! So ungefähr gedacht habe ich mir das schon. Denn für eine Reporterin sind Sie viel zu hübsch, Miß. Die tragen alle Brillen und gleichen niemals einer Lotosblume, wenn Sie das von der Lotosblume vorhin auch nur geträumt haben, es paßt auf Sie, Fräulein Lorenzen, Tatsache, – es paßt auf Sie wie die Faust aufs Auge.“ Er sprach plötzlich deutsch und fügte treuherzig hinzu: „Ich bin nämlich ein Landsmann von Ihnen, wenn sie mich hier auch Jack nennen. Ein Name tut ja auch gar nichts zur Sache.“

Er hielt noch immer ihre Hand in seiner braunen Pranke fest, und Lotte hatte gegen diese Vertraulichkeit nichts einzuwenden, da Jack Eden ein so vollkommen ungekünstelter und biederer Naturbursche war, daß sie ihn auf keinen Fall durch übertriebene Betonung ihrer Stellung als seine Herrin irgendwie verletzen wollte. „Unser Direktor nennt mich auch immer nur Jack, na, vorläufig werden wir den ja nicht zu Gesicht kriegen, Fräulein, Sie wissen wohl, man hat ihm seinem Braut entführt, und nun ist er wie der Satan hinter den Erpressern her und hat für nichts anderes Sinn. Wie hat er Ihnen denn gefallen, Miß? Er war doch wohl bei Ihnen im Hotel in Allahabad, um sich Ihnen vorzustellen?“

„Nein, er hatte sich entschuldigt.“ Lotte bekam mit einem Male sehr böse Augen und entzog nun auch Eden ihre Hand und fragte ablenkend: „Haben Sie den Tiger erlegt, Jack?“

Jack strahlte, und wenn er so strahlend dreinblickte, sah er fast hübsch aus trotz des Stoppelbartes und trotz des verschwitzten Hemdes.

„Ja, Fräulein! Es ist mein erster Tiger, und wenn Sie nicht in Lebensgefahr geschwebt hätten, würde ich mich an die Bestien wahrhaftig nicht herangewagt haben, denn mit den Tigern ist das so ’ne Sache, Fräulein. Die sind noch unberechenbarer als die Weiber, – entschuldigen Sie schon, Anwesende natürlich ausgeschlossen, – aber ich glaube beinahe, man lernt schneller mit Tigern umgehen, als mit Frauenzimmern, bei mir hat’s jedenfalls ’ne ganze Weile gedauert, deshalb bin ich auch noch unverheiratet und werde auch nie heiraten, nein, davor bewahre Gott mich, verzeihen Sie, – Anwesende immer ausgeschlossen. Unser Direktor hat noch mächtigen Dusel gehabt, daß er die Astrid auf die Art vorläufig losgeworden ist, vielleicht ist sie ihm auch durchgebrannt, und die ganze Erpressergeschichte ist Schwindel. So, nun wird der Oberbhuta wohl inzwischen dem Tiger den Frack ausgezogen haben, und wir können dann nach der Plantage aufbrechen, ich habe außer meinem Schinder noch ein Packpferd hier, und das können Sie nehmen, falls Sie reiten können.“

Lotte fand diesen Naturburschen immer köstlicher. Mit den Frauen mußte der Ärmste allerdings sehr böse Erfahrungen gemacht haben, und das wollte bei Jacks Jugend viel heißen, Lotte schätzte ihn auf kaum dreißig Jahre.

Genau um sieben Uhr abends hielt Lotte dann ihren Einzug in ihr neues Reich und in den wundervollen Palast von Vindhya. Sie hatte sich unterwegs so gut mit Jack unterhalten und so viel lachen müssen, daß sie in ihrer frohen, übermütigen Stimmung unten an der großen Terrassentreppe Jacks Arm in den ihren zog und nun Arm in Arm mit ihrem Freunde das Haus betrat. In der Vorhalle stand die gesamte Dienerschaft in Festgewändern bereit, und nur einer fehlte, der Hausmeister Wanar. Er hatte gestern Pech gehabt und war von einer Brillenschlange gebissen worden und lag nun mit schweren Lähmungserscheinungen im Bett, – an seiner Stelle begrüßte der Fakir die neue Herrin im Namen des ganzen Personals und wünschte ihr alles Gute in dem neuen Wirkungskreis.

„Jack“, befahl Lotte nachher ihrem Retter, „Sie bleiben zum Abendbrot hier. Ich will nicht so allein essen, das langweilt mich, außerdem gibt es noch eine ganze Menge zu besprechen.“

Jack, der seiner Herrin vorhin schon erzählt hatte, daß er auf einem Vorwerk der Plantage in den Bergen an einem stillen Waldsee mit vielen Lotosblumen ganz einsam hause, kratzte sich den Kopf und schaute mißbilligend sein schäbiges Habit an. „Ein wahrer Segen, daß ich auf dem Packgaul meine bessere Kluft im Ledersack mithabe und auch mein Rasierzeug. Ich werde mich sofort fein herausstaffieren, – Sie werden sich wundern, Fräulein.“

Als er dann nach einer halben Stunde den Speisesaal betrat und Lotte sich gespannt nach ihm umdrehte, um festzustellen, wie der biedere Jack sich nun herausgeputzt habe, blieb ihr schier der Atem weg.

Vor ihr stand ein vollendeter Gentleman in tadellosem Smoking mit Lackschuhen und blütenweißer Wäsche und mit einem sehr impertinenten Lächeln um die Lippen. Eine fürchterliche Ahnung stieg in Lotte auf.

„Wer sind Sie?“ fragte sie heiser.

Er verneigte sich. „Ich bin der, den Sie erst einmal persönlich kennenlernen sollten, wie Ihnen mein Freund, der Radscha, auf der „Teutonia“ geraten hatte. Mein Name ist Herbert Medem!“

Minutenlang folgte eisiges Schweigen. Lotte war vor ungeheurem Ärger und vor Scham über ihre Kurzsichtigkeit und über diese neue maßlose Unverfrorenheit leichenblaß geworden.

 

7. Kapitel.

Am See der Lotosblumen.

Lotte hatte sich langsam halb abgewandt und überblickte nun mit leeren Augen, in denen der Ausdruck der Empörung schnell wieder erloschen war, die festlich gedeckte Tafel für nur zwei Personen und fühlte angesichts dieser prunkvollen silbernen Leuchter und des kostbaren Tafelgeschirrs und der in großen Kristallvasen duftenden bunten Blumen denselben Wechsel ihrer Stimmung, der sich auch in ihrem Blick ausprägte. Allmählich bemächtigte sich ihrer eine Hilflosigkeit, die nur ihrem gerechten Abwägen ihres jetzigen, durch die letzten Ereignisse so veränderten Verhältnisses zu Bert Medem entsprang. Eine Verkettung widriger Umstände hatte eine völlige Verschiebung ihrer gegenseitigen Beziehungen herbeigeführt. Es war ja für Lotte unmöglich, an der wichtigsten neuen Tatsache so einfach vorüberzugehen, mochte auch vorher noch so viel Trennendes und Erkältendes zwischen ihr und Medem aufgetaucht sein. Er war ihr Lebensretter, daran ließ sich nicht rütteln, und das wollte und mußte sie nicht nur anerkennen, sondern ihm auch danken – irgendwie, nur das Wie war eben die nicht leicht zu lösende Frage. Das, was zwischen ihnen beiden vorgefallen, konnte sie nicht vergessen, dazu hatte er sie zu anmaßend und herausfordernd behandelt, dazu lag auch sonst zu viel Belastendes gegen ihn vor.

Plötzlich kam ihr ein Gedanke, der, das erkannte sie selbst sehr genau, nur einen Ausweg aus dem sie bedrückenden Empfinden der Unsicherheit darstellte, keine wirklich befriedigende Lösung der schwierigen Gewissensfragen. Immerhin, es war ein vorläufiger Ausweg, und es würde sich nun ja herausstellen, ob Medem den Mut zu voller Wahrheit fände oder ihr mit irgendwelchen Ausflüchten käme.

Sie folgte hier einer Eingebung des Augenblicks, die sie vielleicht bei ruhigerer Prüfung der Sachlage und bei sorgfältigerer Berücksichtigung gewisser bereits bei Medem erwiesener Charaktermerkmale sofort verworfen hätte. Aber sie sah sich in eine Verteidigungsstellung gedrängt, die irgendeine Entscheidung und daher am besten, so glaubte sie, einen Gegenangriff erforderte.

Allzu hastig wandte sie sich Medem zu und schaute ihm mit etwas zurückgeworfenem Kopfe und strengen Augen in das braune, kühl-abwartende Gesicht, in dem sie nur frostige Abwehr jedes Verständigungsversuches zu bemerken glaubte.

„Beantworten Sie mir eine Frage, Herr Medem“, begann sie weit schrofferen Tones, als es eigentlich in ihrer Absicht gelegen hatte. „Würden Sie mich auch vor den Zähnen des Tigers bewahrt haben, wenn Sie gewußt hätten, wen Sie durch Ihren gewohnt sicheren Schuß retteten?“

Medem war seit Wochen nicht mehr der Neuling in allen Fragen der weiblichen Sinnesart und Denkungsweise, der er einst gewesen, als der Nanna-Sahib ihm gleichsam vorausgesagt hatte, daß sein junger Plantagendirektor noch durch eine schwere, enttäuschungsreiche Lebensschule gehen müßte, bevor er die Kompliziertheit der Frauenseele erkannt und daraus die für ihn vorteilhaften Folgerungen gezogen haben würde. Medems Schule war härter, enttäuschender und für seine Wesensart nachteiliger geworden, als er dies nach jener Aussprache mit Astrid am Vorabend des Todes seines väterlichen Freundes auch nur im entferntesten vermutet hätte.

Er hatte Tage und Wochen hinter sich, in denen langsam alles von dem Idealbilde des Weibes abgeblättert war, was er einst in seiner Unkenntnis diesem Götzen an schönen und ihn selbst bezaubernden Flittern ahnungslos umgehängt hatte, und nur ein unbegreiflicher Zufall hatte ihn davor bewahrt, noch eine Schlußprüfung abzulegen, die er unbedingt bei seinen jetzigen Erfahrungen bestanden und wenn nötig als Erfolg herbeigezwungen haben würde. Es sollte nicht sein. Ein anderer war ihm dabei zuvorgekommen, und er glaubte zu wissen, um wen es sich handelte. Es gab nur einen Menschen, der derart rücksichtslos zupacken konnte, wenn es um gewissenlose Frauen ging.

Und gerade an diese ihm entgangene Gelegenheit, genau so brutal sein neues Selbst durch die Tat zu beweisen, dachte er jetzt, als er Lotte Lorenzen mit einem hochmütigen und deutlich geringschätzigen Lächeln den strengen Blick zurückgab und nur erwiderte:

„Verlangen Sie auf diese Frage wirklich eine Antwort?! Wohl kaum! Oder aber Sie kennen mich noch immer nicht, – Sie werden mich jedoch kennenlernen, und jetzt von einer Seite, die Ihnen keine Freude bereiten wird.“

Er wollte sich abwenden und ohne Verneigung den Saal verlassen, in dem dieses leider so unausgereifte Mädchen ihn soeben aufs schimpflichste beleidigt hatte.

Ein scharfer Anruf, fast wie ein Befehl hielt ihn zurück.

„Mein Herr Direktor, – und die drei Briefe, die Sie in der verflossenen Nacht aus meinem Schlafzimmer stehlen ließen? Wie steht es damit?“

Bert Medem hatte sich im Laufe der letzten, schwersten Lehrwochen bei gewissen Anlässen eine ganz besondere Körperhaltung angewöhnt, in der so offen ein ungeheures Gefühl der Überlegenheit und gleichzeitig der Mißachtung anderer zutage trat, daß die, die ihn früher gekannt hatten, allseits annahmen, ihm sei seine einflußreiche Stellung als Generalbevollmächtigter des Nanna-Sahib nun doch zu Kopfe gestiegen, nachdem er monatelang nur den so überaus Bescheidenen in der Vollendung gespielt hatte. Nur eine Person oder besser zwei gab es, die von den wahren Gründen dieses ziemlich jähen Wechsels seines Auftretens Kenntnis hatten. Und die schwiegen aus sehr leicht begreiflichen Ursachen.

Medem hatte sich Lotte wieder zugewandt und den linken Arm zwanglos über die Brust gelegt und den anderen in leichter Krümmung erhoben und das Kinn in diese Hand gestützt. Etwas vornübergeneigt stand er da und musterte Lotte von oben bis unten und von unten bis oben, – was Lotte sofort an ihre Schwiegermutter erinnerte, die vielleicht noch einen Stich hochmütiger und eisiger die Personen mustern konnte, die ihr irgendwie mißliebig wurden.

Dann schaute er Lotte gerade und anscheinend triumphierend in die Augen und entgegnete in einem Tone, als handelte es sich um die selbstverständlichste Sache von der Welt: „Natürlich ließ ich Ihnen die Briefe wieder abnehmen, oder glaubten Sie, ich würde es dulden, daß Sie den Text nach Ihrem Belieben gegen mich auslegen und benutzen?! Nein, da schätzen Sie mich doch etwas falsch ein.“

Lotte war starr. Diese Frechheit überstieg denn doch alles bisher Dagewesene, und vergessen waren nun alle guten Vorsätze, mit Medem doch vielleicht zu einer Verständigung zu gelangen, vergessen war seine Rolle als ihr Lebensretter, weggewischt war das alles mit einem Schlage, als hätte es nie den heutigen Nachmittag gegeben, an dem sie in Jack Eden einen Prachtkerl und guten Freund und einen ihr vom ersten Sehen seltsam sympathischen Menschen neben sich gehabt hatte.

Sie richtete sich kerzengerade auf.

„Wir sind nun Gott sei Dank quitt, Herr Medem. Sie bestahlen mich erst, und dann retteten Sie mir das Leben. Eins hebt das andere auf.“

Ohne jede Erregung sprach sie, sie fühlte sich wirklich wie befreit. Nur deshalb war es ihr möglich, genau so abgeklärt hinzuzufügen: „Wir müssen nun, das werden Sie einsehen, zu einer Verständigung darüber gelangen, wie wir das unbedingt Nötige hinsichtlich der Verwaltung der Plantage erörtern können, denn ich lasse mich nicht vollständig ausschalten, daran werden Sie sich schon gewöhnen müssen.“

Medem hatte seine Haltung unverändert beibehalten. Nur das ironische Lächeln war verschwunden. Ein nachdenklicher, sehr ernster Zug lag um seinen so faltig gewordenen Mund. Seine Gedanken waren anderswo, irrten in die allerjüngste Vergangenheit zurück zum heutigen Spätnachmittag, als das Flugzeug in seiner allernächsten Nähe durch den lichten Dschungel gerast war und den schlafenden Tiger, auf den er es schon lange abgesehen gehabt hatte, aus dem Dickicht aufgescheucht hatte. Merkwürdiges Spiel des Fatums, die neue Herrin der Vindhya-Plantage hatte er als erster in den Armen getragen und ihr auch sofort halb im Scherz einen Namen gegeben, der leider nicht zu ihr paßte.

Lotosblume klang ja für ein hübsches junges Weib sehr poetisch, aber diese Lotte-Lotos war durchaus unpoetisch und hatte sogar einen Eisenkopf, der mit der allgemein gültigen zarten Vorstellung von einer Lotosblüte schon gar nicht in Einklang zu bringen war. Es war wirklich sehr bedauerlich, daß dieses Mädchen, aus der eine feste Hand eine Vollnatur hätte zurechtkneten können, an einen Verlobten geraten war, der nach den ihm zugegangenen Mitteilungen ein recht unfertiger Mensch sein mußte und der diese Lotte nur noch mehr in ihren Fehlern bestärken würde. Schade um sie, sehr schade. Was hätte dieses ranke, schlanke, gesunde und frische Geschöpf für eine prächtige Lebensgefährtin abgegeben. Allerdings für ihn niemals, denn er hatte sich’s zugeschworen, nie mehr ein Weib als etwas anderes anzusehen denn als ein Spielzeug für Narren. Er war kein Narr mehr, er stand nun über diesen Dingen, die andere für so wichtig ansahen, daß sie deshalb Geld, Ehre, ja das Leben opferten.

Und im Verfolg dieser seiner fast nachsichtigen Gedanken erwiderte er auch in durchaus sachlichem Tone:

„Das Lotoshaus – so wird der dortige Bungalow des Vorwerkes genannt – hat telefonische Verbindung hierher und, falls ich gerade nicht daheim sein sollte, wird sich jemand melden, dem Sie volles Vertrauen schenken dürfen. Als Erkennungswort vor jedem Gespräch wollen wir „Lotos“ vereinbaren, damit wir sicher sind, daß die Leitung nicht mißbraucht wird. Überhaupt wollte ich Ihnen noch raten, hier außerordentlich vorsichtig zu sein, denn es gibt Leute, die …“ – er zögerte, er wollte sie doch nicht zu sehr ängstigen – „die recht gewissenlos in der Wahl ihrer Mittel sind.“

Er machte eine knappe Verbeugung und schritt so schnell hinaus, daß Lotte keine Gelegenheit mehr fand, die Frage vorzubringen, die seine Andeutungen herausgefordert hatte, und die hätte gelautet: „Befinde ich mich in Lebensgefahr?“ – Worauf Medem hätte erwidern müssen: „Ja!“

Lotte hörte die Tür zufallen und blieb noch minutenlang regungslos stehen. Dann blickte sie sich in dem großen, ihr noch so fremden Saale um, und ein Gefühl der Verlassenheit überkam sie, wie sie es noch nie empfunden hatte. Wenn sie nach ihrem sehnlichsten Wunsch in diesem Augenblick gehandelt hätte oder hätte handeln können, würde sie hinter Bert Medem hergelaufen sein und ihn gebeten haben, sie mit sich nach dem Lotos-Bungalow zu nehmen, da sie sich hier in diesen Räumen vor sich selber fürchtete.

Müde und verzagt und in einer noch widerspruchsvolleren Stimmung als vorhin setzte sie sich an die einsame, festliche Tafel und schaute den leeren Stuhl an, auf dem Jack Eden hätte sitzen sollen.

Jack Eden in dem verschwitzten Wollhemd, – das war ein anderer gewesen als der herrische und anmaßende Bert Medem, – doch nein, korrigierte sie die eigenen Gedanken in unbestechlichem Gerechtigkeitsgefühl, zuletzt hatte sich Medem weit menschlicher gezeigt und erinnerte wenigstens etwas an den derben, vergnügten Jack. Lotte seufzte. Warum war Jack nicht Jack geblieben?! Wie schön hätte das werden können!

Ein Diener erschien und hinter ihm der Fakir, der jetzt gleichfalls zu Lottes Erstaunen sehr verändert aussah und die Kleidung eines reichen Inders trug. Sogar sein Bart sah weit gepflegter aus, und mit der Sicherheit eines Mannes von Welt fragte er Lotte, ob sie ihm gestatte, ihr Gesellschaft zu leisten, sein Freund Medem habe ihn gebeten, der neuen Herrin hier über die Einsamkeit des ersten Abends hinwegzuhelfen.

„Wirklich, – hat er das getan?“ fragte Lotte eifrigst, und als der Fakir erwiderte: „Er tat es, er ist überhaupt der rücksichtsvollste Mensch auf Erden“, da verschmolzen die Gestalten Jacks und Medems für Lotte einen Augenblick in eins, und sie deutete lächelnd auf den leeren Stuhl und meinte freudig: „Es wäre auch trostlos gewesen, wenn ich den ersten Abend hier ganz allein hätte verbringen müssen.“

Hinterher erwies sich der Fakir, der berühmte Schlangenfänger, als ebenso gewandter wie kluger und fast geistvoller Plauderer, und sein Benehmen bei Tisch war genau so sicher und ohne Tadel, wie er es verstand, jeder Frage auszuweichen, die irgendwie die Personen betraf, für die Lotte sich gerade am meisten interessierte, darunter vornehmlich Astrid Dalton und weit weniger der Radscha und … Hanna Reis. –

Inzwischen hatte Bert in seinen bisherigen Räumen im Seitenflügel, die er auch fernerhin für sich allein bestimmt hatte, über den Abendanzug einen leichten, dunkelgrauen Leinenmantel gezogen, die Beinkleider unten mit dünnen Stahlklammern zusammengefaltet und einen Ledergurt mit zwei langläufigen Coldpistolen umgeschnallt. Bevor er nach dem weichen, lichtbraunen Bastschlapphut griff, erledigte er noch in aller Eile zwei Telefongespräche, beim ersten meldete sich der Angerufene sofort, beim zweiten erhielt er zwar Anschluß, da jedoch der sich Meldende das Kennwort wegließ, hängte Medem sogleich wieder ab und schien es nun noch eiliger zu haben.

Unten im Hofe wartete bereits sein Diener Nastur, ein Drawide vom Hirtenstamm der Toda, ein großer, muskulöser Mann von heller Hautfarbe (die Toda wohnen im Nilgiri und sind die körperlich am besten entwickelten Vertreter der Drawidenrasse), mit zwei Pferden. Bert schwang sich in den Sattel und rief seinem Vertrauten nur leise einige Worte zu, worauf dieser einen anderen Weg einschlug. Medem trabte in schärfster Gangart durch den Park und machte nur einige Minuten vor einer natürlichen Felsengruppe halt, in die man ähnlich wie den Bhutentempel bei Gutschar nach des Nanna-Sahib Angaben ein Mausoleum eingebaut hatte, das von außen nur durch die große, dunkle und reichverzierte Kupferflügeltür zu erkennen war, die mit ihrer grauen Marmoreinfassung wieder einmal den künstlerischen Geschmack Peter Lorenzens in das beste Licht rückte, wenn es sich hier auch um des Nanna-Sahib eigene letzte Ruhestätte handelte.

Medem drängte sein Pferd bis dicht an die Metalltür heran und beugte sich tief herab, ließ seine Taschenlampe kurz aufleuchten und fingerte an einer Verzierung herum, nickte befriedigt und galoppierte weiter. Als er den Park hinter sich hatte, umritt er den Flugplatz und das Dorf und bog in ein steiniges Seitental ein, das in der Hauptrichtung gen Westen verlief und mitten in die Vindhyaberge hineinführte. Er wurde nun vorsichtiger, hier standen keine Wachen, die um die Plantagengebäude heute nacht in recht enger Kette aufgestellt gewesen und die Bert im Vorbeireiten noch besonders instruiert hatte, soweit er dies, ohne einen Umweg zu machen, tun konnte. Er entsicherte die eine Pistole und hielt nach allen Seiten scharf Umschau, denn daß er in Beldari keinen Anschluß erhalten, bewies ihm, daß die Dinge dort nicht so lagen, wie er es erhofft hatte.

Das kahle, felsige Tal mit den großen Steinblöcken und den vielen Geröllhalden wäre für einen Hinterhalt wie geschaffen gewesen, und Bert hätte unter anderen Umständen diesen Weg bestimmt vermieden, da er sich nie unnötig einer Gefahr aussetzte, aber heute mußte er auch dies auf sich nehmen. Es geschah jedoch nichts und Medem wurde dadurch nur noch mehr beunruhigt, da er die Heimtücke des Mannes sehr wohl kannte, der jetzt hier in Beldari sein Endspiel wagte und dabei offenbar Erfolg gehabt hatte.

Das Tal öffnete sich nach allmählichem Anstieg auf ein endloses, stellenweise bewaldetes und von Sumpfflächen durchsetztes Plateau, dessen nördliche Grenzwand überaus steil war und das nackte Gestein im Mondlicht, zumeist helle Kalkmassen und verwitterte Alabasteradern, noch greller aufleuchten ließ. Der Nanna-Sahib hatte diese Wildnis als Naturfreund zum Schutzgebiet für die Tierwelt der Vindhyaberge bestimmt und diesen äußersten Zipfel des Fürstentums und seine eigenen Ländereien so vor dem Schicksal vieler der Kultur erschlossener Gebiete bewahrt, in denen die vierbeinigen und sonstigen Bewohner aus dem Reiche der Fauna schon längst ausgerottet waren. Die Hochebene mochte zwei Quadratmeilen groß sein und barg alles an Getier, was anderswo bereits verschwunden oder in die unzugänglichsten Dschungel abgewandert war.

Medem kannte hier jeden Fußbreit Boden, soweit dies in einem derart urwüchsigen, stellenweise ganz unpassierbaren Gelände überhaupt möglich war. Er gelangte schließlich unangefochten bis zur Nordecke der Grenzwand, und als er in einem dünnen Wäldchen von indischen Eichen angerufen wurde, atmete er nach dieser harten Nervenprobe einer zermürbenden Ungewißheit erleichtert auf. Der Gond, der hier Wache stand, flüsterte ihm etwas zu, nahm ihm dann das Pferd ab, und Bert betrat den Vorgarten des Lotos-Bungalows und war so mit einem Schlage aus der Wildnis mitten in eine wahre Zauberwelt einer verfeinerten Kultur und geschmackvollsten Prunkes gelangt.

Der Lotos-Bungalow war ebenfalls eine der ureigensten Schöpfungen des kunst- und naturliebenden Nanna-Sahib. Aus besten, fast schneeweißen Alabasterblöcken erbaut und von einem gepflegten Garten umgeben, wirkte dieses fantastische Schlößchen mit seinen Türmchen und Säulengängen wie eine Zauberburg in dieser echt tropischen Wildnis. Die Rückseite des Hauptgebäudes war wieder sehr geschickt in die Felswand eingefügt, die an dieser Stelle gerade von tiefen Spalten und sonderbar geformten, weit überhängenden und mit Verwitterungskrusten bedeckten Felsgebilden durchzogen war.

Ein Gond-Diener, der im Arm einen Karabiner hängen hatte, ließ den Sahib mit den Türkisaugen – den Namen hatte Bert behalten – durch den Haupteingang mit respektvollster Eilfertigkeit und doch auch mit einer gewissen Vertraulichkeit ein.

In einem der hinteren Erdgeschoßräume saß im Halbdunkel in einem Korbsessel ein älterer Inder mit einem starken schwarzen Vollbart, wie man ihn zumeist bei den reinblütigen Mharatten antrifft, die alle sehr groß, kräftig und breitschultrig sind. Das Zimmer war verschlossen, hatte feste Eisenläden vor den Fenstern und enthielt etwas bunt durcheinandergewürfelte Möbel, alle jedoch gleich kostbar und genau wie der Wandschmuck äußerst geschmackvoll. Nur eine einzige Petroleumlampe mit gelbem Seidenschirm brannte in der entgegengesetzten Ecke, so daß der Mharatte sich nur wie ein Schatten von der Lilaseidentapete abhob.

Medem hatte die Tür von außen selbst aufgeschlossen und begrüßte nun, nachdem er sie wieder versperrt hatte, den Inder in reinstem Hindostani mit wenigen Worten und einem festen Händedruck, legte Mantel und Hut ab und zog einen zweiten Korbsessel dicht neben den des Schwarzbärtigen. Sie sprachen leise und hastig miteinander, und erst nach einigen Minuten ließ Bert sich die Zeit, eine Zigarre anzuzünden und einen Schluck Whisky zu trinken.

Der Inder hatte ununterbrochen geraucht und sich weit schweigsamer verhalten als der Direktor der Vindhya-Plantage. Sein ganzes Wesen verriet eine große Abgeklärtheit und unerschütterliche Ruhe, seine Augen musterten seinen jungen Freund wiederholt sehr forschend und zuweilen wie in stiller Mißbilligung, obwohl er aus besonderen Gründen Medems Verhalten gegenüber Lotte nicht bemängelte, sondern so tat, als ob er mit allem einverstanden wäre, was der heutige Nachmittag gebracht hatte. Nur als Bert die letzten Vorfälle im Speisesaale des Vindhya-Schlosses schilderte und dabei wieder recht scharf über die Frauen im allgemeinen und über Lotte im besonderen urteilte, meinte der Inder mit einer unmutigen Handbewegung: „Das heißt, aus einem Extrem ins andere fallen! Zuerst war man ein blinder Tor, und nun ist man ein vorurteilsvoller Weiberhasser geworden. Die goldene Mittelstraße bleibt stets die beste!!“

Medem erwiderte ziemlich ablehnend: „In dem Punkte gelangen wir zu keiner Verständigung mehr, – wen daran die Schuld trifft, will ich nicht zur Erörterung stellen!“

Der Mharatte lächelte still.

Irgendwo schnurrte leise ein Telefon. Medem sprang auf und öffnete ein Wandfach, nahm den Hörer heraus und meldete sich nicht sofort, sondern wartete vorsichtig den Anruf ab, bis zu seiner größten Überraschung eine ihm nun sehr bekannte melodische Stimme, die nur etwas erregt und atemlos klang, das Kennwort „Lotos“ ihm zurief.

„Lotos“, meldete er sich ebenso hastig, denn er ahnte, daß Lotte sehr zwingenden Anlaß haben müßte, ihn hier trotz der getroffenen Abmachung, nur das Notwendigste mit Hilfe des Fernsprechers zu erledigen, sofort heute zu belästigen. Sie entschuldigte sich dann auch dieserhalb und mußte es sich gefallen lassen, daß Bert ungeduldig dazwischenrief:

„Kommen Sie endlich zur Sache! Nur keine Redensarten! Was ist also geschehen?“

Lotte, die im Schlafanzug am Apparat stand und sehr blaß war, konnte sich doch nicht enthalten, ihm zu erwidern: „Etwas höflicher könnten Sie wirklich sein! Ich habe hier Minuten durchlebt, die an meine Nerven die stärksten Anforderungen stellten, und zum Dank pfeifen Sie mich noch an! Unerhört ist das!“

Ihre Mitteilungen betrafen den Radscha Ghawi, den plötzlich hier wieder aufgetauchten Lord Cray und den Fakir Birra.

Medem legte den Hörer weg und wechselte wenige Worte mit dem Inder, der nur erklärte: „Der Fürst hat ausgerechnet den gefährlichsten Weg gewählt. Eilen Sie ihm entgegen, er weiß hier zu wenig Bescheid!“

In der Vorhalle des Bungalow unter den Säulen saß jetzt eine junge Europäerin im derben Khakireitanzug, sie war bewaffnet und rauchte eine Zigarette. Unter dem Tropenhelm, der einen dünnen, dunklen Seidenüberzug hatte, blitzten kecke, unternehmungslustige Augen, die zuletzt auf dem Seesteg des Excelsior in Venedig ähnlich tatenlustig aufgeleuchtet waren.

Bert begrüßte Hanna Reis mit kurzem Handschlag. „Seit wann sind Sie hier?“ fragte er überstürzt. „Am besten, Sie begleiten mich. In Beldari ist der Teufel los. Der Fürst hat fliehen müssen. Genaueres weiß ich noch nicht. Wo haben Sie Ihren Gaul? Ist er noch leidlich frisch? Gut also, dann los!“

Sie jagten im Galopp nach Südost, und Hanna erstattete in knappen Worten Bericht. „Als Sie mit Lotte davongeritten waren, haben der Oberbhuta und ich entsprechend Ihren Befehlen den Piloten nach der einen Tempelhöhle gebracht und ihn am Seil hinabgelassen und mit Proviant versorgt. Der Oberbhuta ritt dann auf seinem Grautier zur Stadt zurück, während ich meinen Beobachtungsposten wieder bezog. Gegen halb acht Uhr gewahrte ich eine dreimotorige Regierungsmaschine, die hinter Beldari niederging. Von der Spitze der Ruine aus konnte ich mit Hilfe des Glases erkennen, daß die Ankömmlinge der Resident Lord Cray und die Gräfin und Günter und die Zofe sowie zwei Diener des Lords waren. Es wurde dann dunkel, und meine Versuche, mich an die Stadt heranzuschleichen, scheiterten an den allzu zahlreichen Wachen, sämtlich reguläre Truppen eines der Allahabad-Regimenter, die also heimlich hier in der Nähe bereitgestanden haben müssen.“

„Schuft verdammter!!“ fluchte Medem jetzt zum ersten Male.

Am Ufer des Lotossees[1] rauschten im Nachtwinde Palmen, Zypressen, Feigenbäume und duftende Sandelholzstämme. Weite Gestrüppe von Dornakazien, wildem Wein und mannshohem Unkraut, darunter die berüchtigte Schlangendistel, deren Stacheln durch die Exkremente der giftigen Dekhanfliege wie mit einer Giftglasur überzogen werden und deren Stich in den meisten Fällen zu schweren Lähmungen von Mensch und Tier führt, wehrten jeden Unkundigen ab. Es gab hier nur ein paar freie Uferstellen, die von den Tieren der Wildnis als Tränke benutzt wurden.

Der fast volle Mond spiegelte sich in dem stillen Gewässer wieder, und auf der schillernden Oberfläche schwammen im milden Lichte des Nachtgestirns die wundervollsten Lotosblüten, Exemplare jener seltenen Art von Wasserrosen, die am Tage vor den sengenden Sonnenstrahlen wie ängstliche keusche Jungfrauen untertauchen und erst wieder erscheinen, wenn die Sterne am Himmel aufglühen und der Bergsee sich unter dem frischen Lufthauch kräuselt und seine grünen Ufermauern zu rauschen und zu raunen beginnen.

Mit ihren weißen, unten gelbumrandeten Blütenblättern leuchteten die Lotos wie ein Sinnbild der Unberührtheit und der rätselvollen Wunder der Natur, die ihnen die Fähigkeit verleiht, gleich den Elfen der Märchen nur nachts sich zu zeigen um ihr Dasein durch die Flucht vor der Sonnenglut zu verlängern. –

Medem führte Hannas und sein eigenes Pferd in eine ihm bekannte nahe Steingrotte, die er zunächst nach Schlangen ableuchtete. Dann schritten die beiden mit entsicherten Waffen zu der breitesten freien Uferstelle hin, wo ein paar Felsen aus dem stacheligen Gestrüpp herausragten und von einem vereinzelten, hier sonst nicht heimischen Rasamala überragt wurden, in dessen ungeheurer Krone bis vor kurzem eine große Affenherde gehaust hatte. Jetzt hatte man die Tiere aus Zweckmäßigkeitsgründen verscheuchen lassen, da sie nachts allzu wachsam waren und schon die Annäherung jedes Raubwildes durch lautes Kreischen angezeigt hatten.

Hanna Reis war in manche Eigentümlichkeiten des Lotos-Bungalows und dessen Umgebung eingeweiht, aber längst nicht in alle. So erfuhr sie denn auch heute etwas Neues, das Medem sonst wohl kaum preisgegeben hätte. Während in den nahen Büschen eine indische Nachtigall, eine der so überaus süß singenden Bul-Bul, dem Mond mit ihren schluchzenden Tönen ein Ständchen darbrachte, half Bert seiner Agentin über die Felsen in die untersten Äste des Rasamala empor, was nicht allzu schwer war, da hier insgeheim noch von Lorenzen und von dem alten Mharatten Steigeisen angebracht worden waren.

Nachdem er seine verschwiegene Agentin in dem dichten Blätterdach vorläufig in Sicherheit gebracht hatte, begab er sich mit derselben Vorsicht auf eine niedere Bergkuppe, von der man nach Süden hin weiten Fernblick bis zu der in der Ebene liegenden Residenz hatte. Medem stellte sein Glas ein und sah, daß in der Hauptstadt mehrere größere Brände wüteten, deren Flammen sogar bis hier deutlich zu erkennen waren. Er konnte sich jedoch das ferne Bild des Aufruhrs in Beldari nur kurze Zeit betrachten, da er auf einen einzelnen Reiter aufmerksam wurde, der mit seinem offenbar recht ermüdeten Pferde soeben hinter einer Baumgruppe aufgetaucht war und die Richtung auf die freie Uferstelle einschlug.

Es war der erwartete Radscha, der nun dem ihm entgegeneilenden Medem fast bewußtlos in die Arme sank, da er bei den Straßenkämpfen verschiedene Streifschüsse erhalten hatte. – „Ich werde verfolgt …“, konnte der junge Fürst nur noch hervorstoßen, da Bert ihn bereits wieder in den Sattel gehoben hatte und schnellstens Hanna Reis herbeirief, der er flüsternd verschiedene Anweisungen erteilte, worauf die kleine, zierliche und doch so energische Agentin schleunigst das Pferd des Radscha am Zügel nahm und in Richtung des Bungalow sich entfernte, um zunächst aus der Grotte ihr eigenes Pferd zu holen und dann den Verwundeten in Sicherheit zu bringen.

Bert Medem hatte ebenso flink den Rasamala erklettert und wollte von hier oben die Weiterentwicklung der Dinge abwarten. Er war kaum erst auf einen der untersten Äste gelangt, als er einen zweiten sehr eiligen Reiter bemerkte, dem mehrere Verfolger und zwar indische eingeborene Kavalleristen dicht auf den Fersen waren. Da der Flüchtling vorläufig noch im Schatten der Bäume sich vorwärts bewegte, konnte Medem nicht sofort feststellen, um wen es sich handelte. Um so größer war sein Schreck, als er nun zunächst das Pferd, einen hochbeinigen Rappen erkannte, der aus den Ställen der Vindhya-Plantage stammte und schon wiederholt von Astrid benutzt worden war. Das schnellfüßige Tier eignete sich besonders gut als Damenpferd, da es keinerlei Unarten besaß und auch der leichtesten Zügelführung gehorchte. Im ersten Augenblick dachte Medem tatsächlich, er hätte hier die ohne sein Dazutun verschwundene Astrid vor sich, obwohl ihm dies aus anderen Gründen sehr unwahrscheinlich vorkam, denn soweit er die Sachlage überschaute, war seine Braut keineswegs Erpressern in die Hände gefallen. – Die Reiterin überquerte nun einen mondhellen Streifen Grasfläche – Bert Medem mußte sich an einem Seitenast festhalten, sonst wäre er jählings von seinem luftigen Sitz in die Tiefe gestürzt …

Es war Lotte Lorenzen, und sie trug nur ihren seidenen Schlafanzug und dazu Ihren breitkrämpigen Lotoshut[2]. Sie ritt ohne Sattel und nur mit Trense, ihre starken blonden Zöpfe, die sie bereits zur Nacht loser geflochten hatte, waren in lockere Strähnen auseinandergefallen und wehten hinter ihr her wie ein heller Nackenschleier. Sie saß vornübergeneigt und schien bereits sehr erschöpft, da sie auf die Umgebung nicht mehr recht achtete und blindlings in die von Büschen freie Stelle einbog, die sie irrigerweise als geeigneten Weg zur Fortsetzung ihrer Flucht ansah. Der Rappe, der noch weit frischer und feuriger als seine Herrin war, setzte in langen Sprüngen die Böschung zum Seeufer hinab, konnte das Tempo nicht mehr abbremsen und flog mit kurzem Aufwiehern mitten in das Schilf und in die anderen Wasserpflanzen hinein.

Medem hatte für Sekunden der Herzschlag gestockt, als er Zeuge dieser Szene wurde, die ihm so überraschend kam, daß er erst vom Baume herabkletterte und in den aufgerührten Weiher watete, als das Mädchen in dem sumpfigen und von Schlinggewächsen völlig verkrauteten Boden des Sees schon halb verschwunden war, – samt dem armen Tiere, das unter der Last der Reiterin keine Möglichkeit hatte, sich mit eigener Kraft herauszurappeln. – Wenn der junge Direktor der Vindhya-Plantage den Weiher und dessen Eigentümlichkeiten nicht so genau gekannt hätte, würde er hier recht zwecklos sein Leben gewagt haben, da es für einen Unkundigen kaum die geringste Aussicht auf Erfolg verhieß, etwa ohne geeignete Hilfsmittel den Versuch zu unternehmen, der Ertrinkenden Beistand zu leisten. Er kannte den Weiher, er hatte hier in letzter Zeit so manche einsame Stunde grübelnd und verbittert gegen die niederdrückende Erkenntnis angekämpft, daß Astrid mit ihm doch nur ein verwerfliches Spiel getrieben und ihn so und so oft belogen und betrogen habe. Hier am Lotossee hatte er sich schließlich zu dem Entschluß durchgerungen, daß es für ihn als Vergeltung für diesen heimtückischen Verrat nur eine einzige Genugtuung gäbe, gleiches mit gleichem zu vergelten, und da war ihm ein anderer zuvorgekommen, der doch noch energischer seine Pläne zu verwirklichen wußte als Bert, der auf dem Gebiet dieser Art von Selbstjustiz noch ein Neuling war. Aber auch hieraus hatte Medem nur gelernt.

Heute war er in der Lage, genau so rücksichtslos der Eingebung des Augenblicks zu folgen, heute hatte er die letzten Hemmungen überwunden, die bisher seiner Wesensart den Stempel allzu großer Güte und Nachsicht aufgedrückt hatten. Er wußte genau, daß unweit der Stelle, wo der Rappe nur noch mit dem Kopf aus der schlammigen Flut herausragte und in der Todesangst nur noch immer tiefer durch den zwecklosen Kampf gegen die gefährlichen Schlingpflanzen versank, unlängst ein alter Feigenbaum durch einen Gewittersturm in den See geworfen worden war. Der Stamm war im Wasser untergegangen, aber Medem fand ihn unschwer durch Umhertasten mit den Füßen wieder und watete nun auf dieser schlüpfrigen Naturbrücke entlang, bekam noch Lottes eine Hand zu packen und zog die Bewußtlose, der ein Schlag des zurückschnellenden Pfedekopfes die Besinnung geraubt hatte, zu sich empor und trug die schlaffe, triefende Gestalt ans Ufer, worauf der Rappe ganz von selbst, nur dem feinen Tierinstinkte gehorchend, sich zu dem Baume hinarbeitete und dort vorläufig einen Halt fand.

Medem überlegte nicht lange. Die Zeiten, als er noch das Für und Wider eines rasch aufblitzenden Gedankens ängstlich abgewogen hatte, waren vorüber. Er hörte den dumpfen Hufschlag der Gäule der Verfolger droben auf dem weichen Grasboden, er drängte sich mit seiner leichten Last in die Büsche hinein und erreichte glücklich auf Umwegen die Grotte, wo sein Pferd dicht am Eingang die Gräser abrupfte und ihn mit ganz leisem Wiehern empfing. Im Nu war er im Sattel, mit aller Behutsamkeit lenkte er das Tier durch die freien Stellen der üppigen Wildnis und wagte erst nach geraumer Zeit, ein flotteres Tempo einzuschlagen.

Lottes Lotoshut schwamm mitten im Weiher zwischen den echten Lotosblüten und sog Wasser, wurde immer schwerer und versank. Als die Verfolger am Ufer erschienen, war der Hut längst verschwunden, und die braunen Kavalleristen hatten nur noch eine Aufgabe, das Pferd herauszuziehen, das ihnen jedoch zuvorkam und, noch halb benommen von der ausgestandenen Todesangst, nun in wilden Sprüngen durch das Dickicht setzte und im Umsehen verschwunden war.

Gerade da tauchte noch ein einzelner Reiter auf. Es war Lord Howard Cray, der hier wutschäumend abermals seine Pläne durchkreuzt sah und annahm, der flüchtige Radscha und die Frau, die jenem das frische Pferd verschafft hatte, seien beide im Weiher versunken, jedenfalls verlor er viel kostbare Zeit damit, die braunen Söhne der Steppen von Heidarabad auszufragen, bis auch er die Überzeugung gewann, daß hier wiederum eine geheimnisvolle Macht ihm das tückische Spiel verdorben hatte.

Cray war nicht der Mann, eine Schlappe ohne sofortigen Gegenangriff hinzunehmen. Er wußte, wie er die Frau überführen könnte, die es gewagt hatte, seinen Befehlen zu trotzen, und er zögerte nicht eine Sekunde, den Beweis zu erbringen, daß nur Lotte Lorenzen dem Fürsten die Fortsetzung der Flucht ermöglicht und sogar selbst hinter ihm hergeeilt war, um ihn auch mit Waffen zu versorgen. Daß diese auf dem Grunde des Weihers im Schlamme ruhten, ahnte er nicht, noch weniger, daß auch der verräterische Hut entgegen den sonstigen Gewohnheiten der Lotosblumen unten neben den Stielen der echten Blüten lag und sich so vor dem Mondlicht und vor den Blicken eines geldgierigen Intriganten verbarg.

Er befahl dreien der Kavalleristen, ihm zu folgen, und jagte in wildester Eile nach Schloß Vindhya zurück.

 

8. Kapitel.

Lottes nächtlicher Gast.

Lottes blonder Kopf, der mit dem harten Schädel des Rappen in so unsanfte Berührung gekommen war, ruhte bleich und von aufgelösten Haaren umweht an der Brust des Mannes, den sie zwar nicht mehr zu hassen glaubte, den sie aber nach wie vor für einen brutalen und eigenwilligen Charakter hielt, der es nur darauf abgesehen hatte, sich selbst in Besitz der reichen und blühenden Plantage zu setzen und sie durch bewußte Schroffheit zu verdrängen.

Sie kam erst zur Besinnung, als Medem mit seiner so dünn bekleideten und völlig durchnäßten neuen Herrin im linken Arm bereits den größten Teil des Weges bis zur Plantage zurückgelegt hatte.

Sie öffnete nur langsam die Augen und wurde sich zunächst gar nicht recht darüber klar, was mit ihr inzwischen geschehen sein könnte. Dann aber erwachte die Erinnerung an die entsetzlichen Minuten des zwecklosen Kampfes gegen die verderblichen Schlinggewächse mit solcher Deutlichkeit in ihr, daß sie vor Todesgrauen leise aufschrie und in einem Gefühl jener Hilfsbedürftigkeit, die ihrem anschmiegenden Wesen und ihrem stillen Sehnen nach einer mitverstehenden Mannesseele entsprang, ihrem Retter die Arme um den Hals schlang und noch in halber Geistesverwirrung nach einem flüchtigen Blick in das von dem Schlapphut überschattete Gesicht Bert Medems aufschluchzend flüsterte:

„Oh Jack, – es war furchtbar!! Ich hatte jede Hoffnung bereits aufgegeben. Lieber Jack, ich danke Ihnen. Zum zweiten Male haben Sie mir heute das Leben gerettet. Das werde ich nie vergessen!!“

Der Mann, der sich soeben abermals den Kopf darüber zergrübelt hatte, wie er Lotte vor den Folgen ihres tapferen Eintretens für den Radscha bewahren könnte, und der mit fast krampfhafter Gewalt alle weicheren Empfindungen zurückdrängte, die ihn angesichts der verzweifelten Sachlage aus Mitleid mit diesem ebenso voreiligen wie kühnen Mädchen überrumpeln wollten, dieser Mann vernahm mit recht zwiespältigen Gefühlen die an den lieben Jack Eden gerichteten herzlichen und vertraulichen Worte und hätte am liebsten bitter aufgelacht, als er hier abermals feststellen mußte, daß für Lotte Lorenzen seine eigene Persönlichkeit in zwei sehr ungleiche Teile gespalten war, von denen sie Jack als ihren Lebensretter mit aufrichtiger Kameradschaftlichkeit behandelte, während sie für die andere Hälfte, für die nach ihrer Ansicht schlechtere, nur kühlste, bis zu offener Feindseligkeit gesteigerte Abwehr übrig hatte.

Bert war über eins bisher nicht hinweggekommen: Daß sie ihm zugetraut hatte, er würde sie unter den Pranken und Zähnen des Tigers haben verbluten lassen, wenn er gewußt hätte, wer sie war – die Erbin der Vindhya-Plantage. Nein, dies vergaß er ihr nie, dies war eine so maßlose Ungerechtigkeit und ein so leichtfertiges Anzweifeln seines Mannescharakters gewesen, daß es dafür überhaupt keine andere Sühne gab als Verachtung. Was in aller Welt hatte sie dazu berechtigt, ihn derart zu beschimpfen und ihn einem kalt berechnenden Mörder gleichzustellen, denn darauf lief ihre Frage hinaus, daran ließ sich nicht deuteln: Sie traute ihm sogar einen Mord zu.

Blitzartig ging ihm dies alles durch den Kopf, denn auch die schlechten Erfahrungen mit Astrid waren im Vergleich hierzu ein Nichts, da Astrid für ihn als Frau oder überhaupt als Mensch nicht mehr in Betracht kam, die Tochter des Opiumschmugglers Dalton war ein so verderbtes Geschöpf, mit der man Lotte niemals in einem Atem nennen durfte. Und nur aus diesem Rückerinnern an den größten Schimpf, der ihm je angetan worden, ließ es sich erklären, daß er auf ihre an den lieben Jack gerichteten Worte gereizt und überlaut erwiderte:

„Sie täten besser, sich schleunigst über Ihre unangenehme Lage klar zu werden, anstatt hier einen Geist heraufzubeschwören, den es nicht gibt. Ein Jack Eden existiert nicht, es gibt nur einen Herbert Medem, und der hat Ihnen nur einmal aus dem Sumpf geholfen, soeben dort am Lotossee, nur einmal, denn der Schuß von gestern nachmittag auf den Tiger ist ja durch den Diebstahl der Briefe wettgemacht, wie Sie selbst im Speisesaal erklärten! Ihre Lage ist wirklich nicht rosig“, fügte er vielleicht noch unbarmherziger hinzu, da er soeben ihren entsetzten Blick aufgefangen und dann gemerkt hatte, wie sie schnell die Arme von seinem Nacken herabgleiten ließ. „Im Gegenteil, unterschätzen Sie Lord Cray nur ja nicht, er ist mehr als gefährlich. Er ist hier Resident mit weitgehendsten Vollmachten und sieht jetzt in dem Radscha nur einen Rebell, der gegen indische Truppen sich auflehnte.

Allerdings hat Cray dieses dunkle Spiel selbst angezettelt, das spricht jedoch niemals etwa Ihre Person von dem Vorwurf des Hochverrates frei, denn Cray dürfte Ihnen im Vindhya-Schloß erklärt haben, wie er die Dinge beurteilt, und darauf kommt es allein an. Er wird Sie verhaften, er wird Ihnen einen Prozeß anhängen und Ihre Verurteilung und die Konfiskation der Plantage erzwingen – das ist nämlich sein Endziel: Er will die Schöpfung Ihres Onkels für sich in Besitz nehmen, und es wird ihm gelingen, falls die Umstände ihm fernerhin günstig sind und Sie nicht blindlings meine Vorschläge annehmen, nachdem ich festgestellt habe, ob es keinen anderen Ausweg gibt oder ob dieses allerletzte Mittel, das Verhängnis abzuwenden, uns ebenfalls verriegelt ist. So steht die Sache, Fräulein Lorenzen!! Es geht um Ihre Freiheit und um all das, was Ihr Onkel in achtzehn Jahren mühsamster Arbeit geschaffen hat …!“

Lotte hatte unter der wahrhaft niederschmetternden Wucht seiner Worte den zunächst nach oben gerichteten Kopf, denn sie las ihm mit verzehrender Angst die Sätze vom Munde ab, wieder an seine Brust gleiten lassen und verspürte nichts als ein hilfloses Grauen vor der allernächsten Zukunft, da sie ja selbst am allerbesten wußte, daß seine Befürchtungen voll begründet waren. Ja, sie hatte in einer Anwandlung übertriebener Hilfsbereitschaft zunächst den Fürsten bei sich verborgen und seine Anwesenheit im Schlosse Cray gegenüber abgeleugnet, – sie hatte später, als der Lord mit seinem Reitertrupp zum Schein sich entfernt hatte, dem Radscha persönlich das Pferd aus einer der Stallungen geholt und war ihm sogar gefolgt, um ihm die beiden Pistolen und Munition auszuhändigen. Und all das nur, weil sie in dem jungen Fürsten einen ebenso liebenswürdigen wie warmherzigen Freund ihres verstorbenen Onkels gefunden hatte, der ihr aus Peter Lorenzens Leben so viele kleine und doch kennzeichnende Einzelheiten erzählt hatte, daß sie erst auf diese Weise ein abgerundetes Bild des Toten gewann.

Und dann hatte sie die Verfolger bemerkt, dann war ihr schon während der letzten Sprünge des Rappen die Uferböschung hinab klar geworden, daß sie verloren sei, falls man sie gefangen nähme und die Waffen und die Patronen bei ihr fände, da hatte sie die Pistolen und die Munition weggeworfen, als bereits die Schlinggewächse sie und das arme Tier in die Tiefe zogen.

Und jetzt?! Ihre Gedanken waren wie gelähmt. Sie sah keinen Ausweg, der irgendwie Rettung aus der verzweifelten Lage verhieß. Sie vermochte überhaupt nicht mehr zu denken. Sie fühlte nur die erstickende Angst vor Crays kalter Rücksichtslosigkeit und vor den allerletzten Folgen dieser Nacht: Gefängnis und Verlust all dessen, was ihr als Erbschaft ihres Onkels schon jetzt so seltsam wert und teuer geworden: Die Vindhya-Plantage!

Lotte Lorenzen ruhte wie ein krankes Vögelein an Medems Brust. Das war nicht mehr die Tyrannin von Arrenberg, die einst so zielbewußt dort auf dem Gute kommandiert und ihren Willen anderen aufgezwungen hatte, weil sie es tun mußte, um ihrer Pflicht zu genügen. Das war ein armes verschüchtertes Mädel, das man hineinversetzt hatte in völlig fremde Verhältnisse, wo nicht die gemäßigte Wesensart der Nordländer, sondern die das Blut und das Hirn vergiftende Siedehitze der Tropen dem Charakter sehr bald ein anderes Gepräge gibt, wo man mit allen Mitteln schamloser Intrigen im geheimen arbeitet und aus Recht Unrecht zusammenbraut mit satanischer Gehässigkeit.

Lotte, in diese Umwelt versetzt, war wehrlos, das fühlte sie selbst. Hier versagte sie vollkommen, hier konnte sie nicht diesem ungeheuerlichen Tempo von einander sich jagenden, aufrüttelnden Ereignissen folgen.

Und Bert Medem? Er vernahm ihr trockenes Schluchzen, er spürte das Zittern ihres Leibes, der so eng an den seinen geschmiegt war. Er hörte ihre hastigen Atemzüge, und das Mitleid wollte ihm erneut einen Streich spielen und all das verwischen, was sie ihm angetan.

Und trotzdem. Es ging nun einmal gegen sein Gefühl, Lotte Lorenzen in all ihrer Not im Stiche zu lassen, er sah in ihr, so redete er sich mit Hartnäckigkeit ein, nur die Erbin der Vindhya-Plantage und die Verwandte seines Wohltäters. Er mußte ihr helfen, auch der alte Mharatte hätte es strengstens mißbilligt, wenn er nicht das Äußerste versucht haben würde, das Unheil abzuwenden.

Die beiden waren inzwischen bis an die nördliche Parkmauer gelangt. Hier machte Medem halt, ließ Lotte aus dem Sattel gleiten und reichte ihr die Zügel des Pferdes.

„Warten Sie hier“, befahl er in einem Tone, der zu sachlich war, als daß der leise Klang des Mitgefühls irgendwie hervortreten konnte. „Ich werde prüfen, wie die Dinge liegen, ob Cray hier Wachen ausgestellt hat und, die Hauptsache, ob Ihr Rappe und das Pferd des Radscha von selbst zu den Ställen zurückgekehrt oder eingefangen worden sind, denn davon hängt alles ab, daß keinerlei handgreifliche Beweise gegen Sie vorzubringen sind. Unsere Wachen sind verschwunden, der Lord hat die Leute sicherlich zum Dorfe zurückgeschickt. Ich bin in kurzem wieder da, verbergen Sie sich und unternehmen Sie nichts. Der geringste Fehler kann Sie ins Verberben reißen!“

Er eilte davon. Lotte zog das Pferd Medems unter die überhängenden Zweige einer weißblühenden Akazie und lehnte sich an die Mauer. Wie schon einmal, so verschmolzen auch jetzt die beiden für sie geteilten Hälften der Persönlichkeit Medems, Jack und Bert, ineinander. Aber der vergnügte Naturbursche Jack behielt diesmal nicht die Oberhand: Lotte war es kaum möglich mehr, Bert und Jack vollständig zu trennen und einen Unterschied zu konstruieren, den es in Wirklichkeit ja auch gar nicht gab.

Medem hatte ihr zweimal das Leben gerettet und war im Begriff, abermals sich für sie einzusetzen, wobei auch er mit in Lord Crays hinterlistiges Spiel hineingezogen werden konnte. Lotte geriet so in eine Stimmung, die vielleicht eine dauerhafte Brücke zwischen ihr und ihrem Jack-Bert geschlagen hätte, wenn nicht das alte Mißtrauen immer noch im Hintergrunde gelauert haben würde und die versöhnlichen Regungen wieder abgeschwächt hätte.

Allmählich – und auch das kam noch hinzu, um Lottes wärmere Empfindungen zu verdrängen – erholte sie sich auch von den ausgestandenen Schrecken und begann mit dem Optimismus ihrer Jugend die ganze Sachlage günstiger und weniger bedrohlich zu beurteilen. Es war ja doch undenkbar, daß man sie etwa verhaftete und sie vor Gericht brachte, Cray war doch ihr gegenüber sehr höflich gewesen und hatte keinerlei Drohungen mit einfließen lassen, hatte sogar, bevor er sich verabschiedete, ihr noch die Grüße Günters und Ihrer Schwiegermutter ausgerichtet und ihr mitgeteilt, daß er ihre Verwandten vorläufig bei sich in seinem Palast untergebracht habe. Ob Medem in alledem nicht doch zu schwarz sah?!

Plötzlich stand wie aus dem Boden gezaubert der Fakir Birra vor ihr. Sie erschrak so sehr, daß sie einen schwachen Schrei ausstieß und zurückwich, als er sie erregt und ärgerlich anzischte: „Verhalten Sie sich still!! Wollen Sie uns durch Ihre Torheiten noch tiefer in ein Unheil verstricken, das Sie gar nicht übersehen können! Die Pferde sind zum Glück unbemerkt zurückgekehrt und bereits im Stalle, wo der Sahib mit den Türkisaugen sie säubert und das Sattelzeug reinigt. Das Schloß wird bewacht, im ganzen sind zehn Mann und ein Unteroffizier da. Alles kommt nun darauf an, daß Sie unbemerkt Ihr Schlafzimmer erreichen.

Schnell, werfen Sie den nassen und beschmutzten Schlafanzug von sich, den ich dann im Teich des Parkes versenken werde. Hier ist Ihr zweiter Schlafanzug. Schlüpfen Sie hinein. Ich bringe derweil das Pferd in den Stall. Aber beeilen Sie sich, denn es wird noch viel Zeit kosten, bis wir Sie ins Schloß geschmuggelt haben. Cray dürfte sehr bald auftauchen. Bis dahin müssen Sie im Bett liegen und auch ihr Haar gesäubert haben und, – doch das alles wird Ihnen Sahib Medem erklären!“

Er eilte davon, genau so lautlos, wie er gekommen war, und er ließ eine Lotte zurück, die nun wieder mit starren verängstigten Augen den nassen Anzug abstreifte und minutenlang völlig unbekleidet unter den blühenden Zweigen dastand und sich bemühte, das Bündel zu entwirren, das der Fakir aus dem trockenen Schlafanzug möglichst eng zusammengelegt hatte. Einige Mondstrahlen stahlen sich durch die Zweige und Blätter und zeigten Lotte, wieviel von dem Schlamm des Weihers der Lotosblumen noch auf ihrer Haut haftete. Hastig zog sie den leichten seidenen Anzug an und wollte gerade ihre ebenso durchnäßten Morgenschuhchen abstreifen und säubern, als zwei Arme sie umfingen und eine Stimme unterdrückt flüsterte …:

„Still! Ich trage Sie! Weg mit den Schuhchen!! Auch die müssen verschwinden!“

Medem hob sie empor. „Legen Sie mir die Arme fest um den Nacken. Es muß sein. Wir dürfen nicht die geringsten Spuren hinterlassen, jedenfalls Sie nicht. Diese farbigen Reiter des Lords haben zu geübte Augen. Es ging ohnedies schon wieder zu viel Zeit verloren, es dauerte ja eine Ewigkeit, bis Sie den Anzug gewechselt hatten.“

Er sprach gereizt und unliebenswürdig, als fürchtete er ihren Widerstand gegen seinen Plan, der als einziger Erfolg verhieß. Sie war sicherlich sehr prüde und wie alle Weiber selbst in Momenten der Gefahr kleinlich und altjüngferlich.

Lotte war das Blut in heißer Welle ins Gesicht geschossen. „Seit wann … warten Sie auf …“ sie konnte den Satz nicht zu Ende bringen, die Scham lähmte ihr die Zunge …

„Ach was“, schnitt er ihr jedes weitere Wort ab, „wir leben hier in den Tropen, und eine nackte Frau gilt mir nicht mehr als eine Marmorstatue. Werfen Sie bitte all diese überlebten Ansichten aus Ihrer Heimat schleunigst über Bord. Hier herrschen andere Verhältnisse.“ Es klang brutal und es sollte so klingen, denn er wollte Lotte rechtzeitig darauf vorbereiten, daß er von ihr noch weit mehr fordern müßte.

„Sie – Sie sind – unfein!“ flüsterte sie ihm ins Ohr und lockerte die Umschlingung ihrer Arme.

„Werden Sie wohl festhalten!!“ fauchte er grob. „Wenn Sie so töricht sind, – nun gut! Dann sitzen Sie morgen um diese Zeit in einer Zelle des Europäergefängnisses in Allahabad und tragen keinen seidenen Schlafanzug!“

Er begann zu laufen. Sie schwieg verschüchtert, sie umklammerte ihn fester und suchte sich möglichst leicht zu machen, um ihn weniger zu behindern. Sie mußte ihm recht geben: In ihrer Lage waren ja alle Bedenken mädchenhafter Scham nur eine lächerliche Rückständigkeit. Was hießen hier unbekleidete Körper?! Hatte sie nicht nachmittags, als sie mit Jack-Bert zur Plantage durch den Dschungel und dann durch kleine Siedlungen geritten war, in einem Teiche ein Dutzend junge Inderinnen gesehen, die vollkommen unbekleidet gewesen waren und sich weder um sie noch um Jack im geringsten gekümmert hatten.

Medem erreichte den Nordturm des Schlosses und drängte sich am Fuße des Gemäuers in die dichten Ranken des wilden Weines hinein.

„Wir müssen jetzt klettern“, raunte er Lotte ins Ohr. „Steigen Sie mir auf die Schultern. Geben Sie auch acht, daß Ihr Anzug nirgends hängen bleibt und kein Loch bekommt, dünn genug ist der Stoff!“

Ihre aufgelösten Haare kitzelten ihm Nacken und Wange, und der Duft ihres erhitzten Körpers vermischte sich mit dem etwas derben, aber aromatischen Geruch des Sumpfwassers des Lotossees, – es war eine Mischung von Düften, die den früheren Einsiedler der Pescadores-Inseln an die einzige ernste Anfechtung erinnerte, die es dort in den zehn Jahren seiner Tätigkeit als Vertreter des Guano-Syndikats für ihn gegeben hatte.

Bert Medem war als noch nicht einmal Zwanzigjähriger nach dem Verlust beider Eltern aus dem damals in völliger Auflösung befindlichen deutschen Vaterlande mit geringen Barmitteln und ohne rechte Vorbildung in die Fremde gezogen. Ein einziges Talent besaß er: Für Sprachen! In Schanghai hatte er gerade damals so kurz nach dem Kriege wenig Aussicht, eine ihm zusagende Beschäftigung zu finden. Er wohnte im Chinesenviertel sehr billig und bemühte sich, die schwerste aller Sprachen in Rekordzeit zu erlernen. Sein Wirt war einer von jenen mit allen Salben ostasiatischer Gaunerei gesalbter Mischling, die überall Verdienstmöglichkeiten wittern. Er war trotz äußerlich zur Schau getragener Armut reich und hatte alle zehn Finger allzeit in mindesten zehn verschiedenen Geschäften, von denen gut die Hälfte nicht näher unter die Lupe genommen werden durfte.

Seine Hauptfrau und drei Nebenfrauen, alles Chinesinnen, hatten ihn mit vierzehn Kindern aller Altersstufen beschenkt, und Medem spielte sehr bald bei diesen verwöhnten Rangen und den drei halberwachsenen Töchtern, die überraschend hübsch waren, den Hauslehrer und gewann dadurch die Gunst der Lieblingstochter des alten Fu Chen. Nach fünf Monaten wurde er Vertreter des Guano-Syndikats und verließ Schanghai fast fluchtartig, denn die Zudringlichkeit der begehrlichen Maa wurde mit der Zeit unerträglich. Auf den Pescadores lebte er sich schnell ein und blieb drei Jahre von unerwünschten Besuchern unbelästigt, studierte in der Freizeit eifrigst die alte Literatur Chinas und erlernte durch die Kulis, die aus allen Gegenden Asiens stammten, die verschiedensten Dialekte und auch das Japanische, das Malaiische und das Hindostani.

Dann kam eine feine Jacht des Syndikats zur Kontrolle nach den Inseln, und die erste, die sich ausbooten ließ, war Fräulein Maa, die inzwischen sehr europäisch geworden war und mit sichtlichem Stolz in weißen Sportkostümen und Seidenblusen und kürzesten Röckchen einhertänzelte. Bert mußte bei ihr den Kavalier spielen, ob er wollte oder nicht. Ihr Vater war jetzt einer der Generaldirektoren des Syndikats und schien es nicht ungern zu sehen, wenn die getuschte Puppe Maa und der junge Deutsche möglichst häufig die Nachbarinseln besuchten und dort in Zelten übernachteten. Fräulein Maa wollte es so, es sei romantisch, behauptete sie.

Bert kannte längst jeden Winkel der Pescadores und war immer noch naiv genug, diese nächtlichen oder abendlichen Stunden am Lagerfeuer ebenfalls als nette Abwechslung zu werten, denn Maa hatte inzwischen sehr viel zugelernt und war ganz große Dame geworden und suchte ihr Ziel nun auf andere Art zu erreichen. Die Inselgruppe war damals wertlos oder doch jedenfalls ohne Reiz für die ausländischen Mächte, da sie keine einzige Quelle besaß und das Trinkwasser vom Festlande herübergeschafft werden mußte. Aber die Lagunen boten desto schönere Badeplätze, und Maa hatte ein Badekostüm mitgebracht, das so etwa das Raffinierteste vom Raffinierten darstellte.

Wenn Maa abends noch in die Lagune stieg und dann nachher sich am Feuer trocknen ließ, duftete sie nach Wasser und nach gepflegtem Körper und ließ sich von Bert massieren – nur die Arme und die schlanken Waden und die zierlichen Füßchen. Medem war dreiundzwanzig und kerngesund, und da Fräulein Maa sehr wenig nach der Chinesenseite, sondern mehr nach der europäischen – von ihrem unbekannten Großvater her – geraten war, gab es Sekunden, nur Sekunden, in denen Bert sich sehr zusammennehmen mußte, um sich selber treu zu bleiben.

Jedenfalls fuhr Maa genau so unberührt wieder ab, wie sie angelangt war, aber sie vergaß nichts. Hierauf hatte allerdings erst Peter Lorenzen seinen jungen Freund aufmerksam machen müssen. Als dieser ihm einmal die Geschichte von den Anfechtungen auf den Pescadores erzählt hatte, war der Nanna-Sahib eine Weile still gewesen und hatte schließlich geäußert:

„Das war so allerhand von Ihnen, lieber Medem. Das hätte ich nicht gekonnt. Ich weiß nun aber, wer Ihnen Ihre Ersparnisse abgegaunert hat oder besser, wer als treibende Kraft dahintersteckte: Maa! Merken Sie sich für die Zukunft eins, sie Ritter Toggenburg: Keine Frau vergißt es jemals, daß sie verschmäht wurde! Maa hat Sie tödlich gehaßt, – ich kenne die Weiber!“

Das war so eines der Privatkollegs gewesen, die der Nanna-Sahib seinem Plantagendirektor über die Mentalität der Frauen aller Altersstufen gehalten hatte, und hieran dachte Bert ganz flüchtig, als er mit Lotte auf dem Rücken nun sehr behutsam an den dicken Weinranken emporkletterte und ihre Schenkel sich um seine Brust wie weiche Zangen legten.

Sie half ihm auch jetzt nach besten Kräften indem sie vorher prüfte, welche Ranken so fest im Mauerwerk sich verankert hatten, daß sie auch wirklich zuverlässig waren. Ganz leise raunte sie ihm ihre Anweisungen zu, und schon hieraus ergab sich ein gewisses Gefühl der engeren Verbundenheit und Kameradschaft, das durch die innige körperliche Berührung beider unbewußt noch gesteigert wurde.

Birra hatte droben vorsorglich schon eines der Fenster geöffnet gehabt, und da Lottes Räume gleichfalls hier im ersten Stock lagen – es waren die drei elegantesten der Fremdenzimmer, die eine besondere kleine Wohnung mit Bad und überdachtem Balkon bildeten –, waren die beiden Verbündeten sehr bald vorläufig in Sicherheit und zwar in Lottes Schlafzimmer, vor dem der Balkon sich bis zum nebenan liegenden Salon erstreckte.

„Kein Licht!“ befahl Medem kurz. Der Mond schien in schmalem Streifen ins Zimmer und ließ den auf den Dielen liegenden wertvollen Bastteppich mit seinem Farbenreichtum erkennen, ebenso die Umrisse der beiden Gestalten, die hier nun einander gegenüberstanden und von sehr verschiedenartigen Empfindungen beseelt waren. Lotte hätte kein Weib sein müssen, wenn nicht bei ihr die Neugier jetzt überwogen haben würde, was nun weiter geschehen sollte. Es lag wohl in ihrer glücklichen Naturveranlagung begründet, daß sie, erst einmal in ihren Räumen angelangt, auch wieder die ärgsten Bedenken über die nächste Zukunft von sich wies und mit dem Optimismus der Jugend das Schlimmste überstanden glaubte. Hätte sie Berts Gedanken erraten können, wäre sie wahrscheinlich geflüchtet oder hätte sich freiwillig dem Lord gestellt.

Medem erklärte leise: „Sie werden nun ein Bad nehmen und Ihr Haar hinterher mit dem Föhn gründlichst trocknen. Dann gehen Sie zu Bett und schalten nur die Nachttischlampe ein.“ Er wog jedes Wort sehr genau ab. „Ich betone nochmals, daß jede Prüderie verhängnisvoll werden kann und daß Sie auch nicht den geringsten Fehler machen dürfen. Also kein Licht während des Bades, keine unnötigen Geräusche, auch nicht beim Füllen der Wanne und beim Ablaufenlassen des Wassers. Benutzen Sie auch nicht den Bademantel zum Abtrocknen, sondern nehmen Sie ein Handtuch, das Sie leicht verbergen können.“

Lotte wurde nun doch wieder beklommen zumute, und sie fragte unsicher und verlegen: „Glauben Sie etwa, Herr Medem, daß Cray es wagen wird, hier in mein Schlafzimmer einzudringen und eine Durchsuchung abzuhalten?!“

„Er wird es so gewiß tun, wie Sie es widerspruchslos dulden werden, das heißt, Sie werden nur gerade so viel dagegen sich auflehnen, wie ich Ihnen überhaupt zum Sprechen Gelegenheit geben werde. Also – auf Wiedersehen.“

Er ließ die vollkommen verwirrte Lotte allein und schloß hinter sich die in den Flur führende Tür ab und steckte den Schlüssel zu sich.

Lotte hörte das alles. Das sah ja genau so aus, als ob er sehr bald wieder sich hier einfinden würde!! Gedachte er etwa, ihr Gesellschaft zu leisten und Crays Erscheinen abzuwarten?! Wozu das?! Weshalb blieb er nicht unten in seinen Räumen und empfing den Lord in seinem Herrenzimmer?! Oder wollte er nur dabei sein, wenn Cray sie ins Verhör nahm? Ja, so mußte es sich wohl verhalten, das war die ungezwungenste Lösung …

Sie verschwand im Badezimmer und tat genau nach Medems Anweisungen. Das lautlose Treiben, dieses Vermeiden aller überflüssigen Geräusche, machte sie über die Maßen nervös, sie, die sonst keine Nerven kannte, verspürte eine Unruhe, die beständig noch wuchs und die schließlich soweit führte, daß sie dasselbe jetzt heimlich wünschte, was sie soeben noch als unerträglich für sie als junges Mädchen betrachtet hatte, daß Bert-Jack tatsächlich hier wieder erscheinen würde und bei ihr bliebe.

Ganz leise verließ sie nun das Badezimmer und betrat ihr dunkles Schlafzimmer. Auch der Streifen Mondlicht hatte sich derweil empfohlen, und der Raum lag in fast völliger Finsternis da, nur durch die Gazescheiben der Balkontüren drang der Widerschein des nächtlichen Firmaments mit schwacher Helle in engem Umkreis herein. Lotte schaltete die Nachttischlampe ein und setzte sich auf den Bettrand, flog jedoch sofort wieder empor. Am Frisiertisch lehnte Bert Medem in einem schwarzseidenen Schlafanzug mit hellila Besatz und Verschnürung, mit bloßen Füßen, die in indischen, gestickten Pantöffelchen steckten und zerzaustem Haar.

Lotte starrte ihn an wie einen bösen Geist. Seine Gegenwart hätte sie gern ertragen, schon um in diesen kritischen Stunden nicht allein zu sein, aber daß er es gewagt hatte, in solchem Aufzug sich einzufinden, noch dazu, wie sie nun feststellte, mit weit offener Jacke, so daß seine breite, vorgewölbte Brust genau wie die des mit dem Wollhemde bekleideten Jack völlig bloßlag, das war doch eine so grobe Taktlosigkeit und eine so empörende Beleidigung für sie, daß sie stumm nach der Tür deutete und ärgerlich den Kopf zurückwarf, als er nicht sofort gehorchte.

Er gehorchte überhaupt nicht, er schaute sie nur still an und hatte wieder seine bekannte Haltung angenommen und den einen Arm über der Brust verschränkt und den anderen gekrümmt und das Kinn in die Hand gestützt. Lotte, die nun bereits den Einfluß der heißen Sonne Indiens an sich zu spüren glaubte, trat rasch einen Schritt auf ihn zu und fragte mit einer vor heller Entrüstung bebenden Stimme:

„Was soll diese Unverschämtheit?“

Er schwieg zunächst. Er schaute sie nur an und dachte mit einem gewissen unsicheren Unbehagen: „Sie ist schön, am schönsten, wenn sie erregt ist. Glücklicher Jack!!“ Er haßte diesen Jack, er zweifelte keinen Augenblick daran, daß Lotte mit Jack in diesem Aufzuge nicht so dramatisch gesprochen, sondern gelacht haben würde, denn Jack war für sie kein Mann, sondern nur der Verwalter und Naturbursche Jack Eden gewesen, mit dem man etwa wie mit einem Bruder verkehren konnte. Als diese Gedanken durch Medems Hirn glitten, wurde er sich plötzlich bewußt, daß er eigentlich keinen Anlaß hätte, auf Jack neidisch zu sein, da dieser nur ein völlig geschlechtsloses Wesen für Lotte bedeutet hatte. Dieser Gedanke stimmte ihn insgeheim so heiter, daß er unmerklich lächelte.

Lotte deutete das Lächeln falsch und näherte sich ihm noch mehr, so daß sie einander nun Auge in Auge gegenüberstanden. Da begann Bert zu sprechen, denn er wollte es nicht zu einer gefährlichen Explosion kommen lassen, die ihm die Entwicklung seiner Pläne noch erschwert hätte, schwer genug war dies ohnehin.

„Fräulein Lorenzen“, sagte er gedämpft, „das, was ich Ihnen nun als Vorschlag zur Behebung der Gefahren, die Ihnen und der Plantage drohen, unterbreiten muß, mag Ihnen im ersten Augenblick unannehmbar scheinen, ja selbst als Beleidigung Ihrer Mädchenehre, dessen bin ich mir voll bewußt. Trotzdem muß es sein, und ich betone nochmals, daß, falls Sie sich weigern oder mir Schwierigkeiten bereiten, ich Sie – zwingen werde, wobei Birra mir helfen würde. Es geht hier nicht um Ihre Person allein, sondern um die Erbin meines Freundes Lorenzen in erster Linie und damit gleichzeitig, was ich bereits einmal betonte, um das Lebenswerk Ihres Oheims, mit dem ich längere Zeit zusammenarbeiten durfte. Sie als seine einzige Verwandte, die er insgeheim erst einmal beobachten und daraufhin prüfen ließ, ob Sie würdig seien, dieses Erbe anzutreten, – die er dann, weil die Berichte Hanna Reis’ so günstig lauteten, wirklich zur Alleinerbin einsetzte, haben durch die Annahme dieser Erbschaft zugleich die heilige Pflicht übernommen, alles zu tun, was dazu geeignet ist, diesen Besitz sich und damit dessen Schöpfer zu erhalten, denn Sie und er sind jetzt eins. Die Dinge liegen nun durch Ihre an sich anerkennenswerte Hilfsbereitschaft für den Fürsten so, daß Cray alle Trümpfe in der Hand hat, und das ist die Hand eines Mannes, der ein ebenso rücksichtsloser Diplomat wie feiner Kopf und toller Draufgänger von größter persönlicher Tapferkeit ist, übrigens der einzige versöhnende Zug in seinem Charakterbilde. Alle Trümpfe!! Falls wir sie ihm nicht durch einen kühnen Schachzug aus der Hand schlagen. Und das wird und muß geschehen.“

Er überlegte, er wurde sich jetzt erst bei der Wahl der Worte, die seinen Vorschlag stützen sollten, darüber klar, wie unendlich schwer es war, hier nicht nur eine überzeugende Begründung, sondern auch eine Form zu finden, die das Mädchen im ersten Augenblick nicht allzu sehr verletzte, denn das wußte er, sie würde vor Empörung zunächst keinen Vernunftsgründen zugänglich sein, wenn er auch nur ein einziges unvorsichtiges Wort sprach, wobei ja noch am erschwerendsten ins Gewicht fiel, daß sie … verlobt war, mochte sie diesen Günter Arrenberg auch nicht allzu innig lieben, wie es nach Hannas Berichten den Anschein hatte, immerhin, sie war verlobt, und das war eben die böseste Klippe, jedoch kein endgültiges Hindernis, denn Medem war entschlossen, seinen Plan durchzusetzen auch gegen Lottes Willen, und er war ganz der Mann danach, dies auch durchzuführen. Er hatte eine Lehrerin gehabt, die Astrid Dalton hieß, und wer durch die Schule einer Dalton gegangen war, der streifte alles Unreife endgültig ab.

Er hielt ihr die Hand hin, bevor er weitersprach, und zögernd schlug sie ein, denn die eine Überzeugung hatte sie nun doch bereits gewonnen, daß er vollkommen selbstlos handelte, daß er nie die Absicht gehabt haben könnte, selbst die Hand nach der Vindhya-Plantage begehrlich auszustrecken.

Und dann fand er wirklich die richtigen, überzeugenden Worte. Er war zartfühlend wie ein uralter Weiser, dem die Menschenseele keinerlei Geheimnisse mehr zu verbergen hat, er sah, wie die heiße Röte und die tiefste Blässe auf ihrem Antlitz in schneller Folge wechselten und wie sogar einige Tränen an den kritischsten Stellen seiner sorgsam gewählten Worte in ihren Wimpern erschienen. In dieser entscheidenden Stunde, wo sie beweisen sollte, daß sie des Millionenerbes würdig sei, tat sie ihm unendlich leid, und deshalb endete er seine behutsamen Sätze auch mit der einen einzigen Frage:

„Lieben Sie Günter Arrenberg so sehr, daß Sie lieber fliehen wollen, als der Zukunft tapfer ins Auge zu schauen? Dann allerdings muß ich ruhig mitansehen, wie die Plantage durch Ihren freiwilligen Verzicht in fremde Hände gerät – nur dann! Bei Ihnen liegt diese Entscheidung, nur bei Ihnen! Gewiß, es wäre möglich, daß der Lord Stillschweigen bewahrt, aber so, wie ich ihn kenne, glaube ich nicht daran. Jetzt sprechen Sie, denn uns bleibt keine Zeit mehr, über die Dinge uns im einzelnen auszusprechen, denn die Entscheidung ist da! Hören Sie den Schrei des Nachtfalken?! Es ist Birras Signal, der Lord nähert sich dem Schlosse, das ein Lorenzen erbaute – für eine Lorenzen, für Sie!“

Mit diesem letzten Appell an die Blutsgemeinschaft des Erblassers und der Erbin schloß er seine eindringliche Mahnung, die Vindhya-Plantage zu retten. Zur Flucht war es für Lotte zu spät, – und selbst wenn es noch nicht zu spät gewesen wäre, hätte sie jetzt niemals mehr Nein gesagt.

Sie sprach überhaupt nicht. Sie hatte den Kopf ganz tief gesenkt. So streckte sie ihm die andere Hand ebenfalls hin und – schwieg und schüttelte ihm beide Hände und beließ es bei dieser stummen Zusage.

Gleich darauf lag Lotte mit hämmernden Pulsen im Bett und wartete. Sie fieberte, sie wollte sich zur Ruhe zwingen …

Kaum zwei Meter weiter auf dem Diwan mit dem prächtigen Tigerfell beleuchtete das matte Licht der Nachtlampe die Gestalt eines Mannes, der mit entblößter Brust und nackten Füßen, mit geschlossenen Augen und tief und ruhig atmend den Eindruck eines fest Schlafenden machte …

 

9. Kapitel.

Die Krönung des neuen Radscha.

In der kleinen Residenz Beldari war der Straßenkampf längst beendet. Nur einige Gebäude brannten noch, darunter auch die in der Nähe des Bahnhofs gelegenen Warenspeicher der Vindhya-Plantage, gefüllt mit Getreide, Mais, Reis und Rohkautschuk. Niemand dachte daran, das Feuer zu bekämpfen, im Gegenteil, die jetzt siegreichen Anhänger des neuen Radscha Agdera Chan, sowie die ihnen zu Hilfe geeilten Truppen aus Allahabad, die ohnedies nicht sehr zahlreich waren, feierten Triumph. Sie öffneten die beiden Reisschnapsbrennereien des toten Nanna-Sahib gewaltsam und wälzten die Fässer ins Freie und waren um Mitternacht vollständig berauscht. Ihre Gegner hatten sie entweder niedergemacht, oder diese waren entflohen … in die Dschungel.

Die meisten Gond hatten sich neutral verhalten und blieben in ihren Steinhäusern, bis die letzten Schüsse verklungen waren und das Gebrüll der Trunkenen die Gassen erfüllte und die Tanzmädchen aus dem kleinen Tempel herbeigeholt wurden, damit das Siegesfest die richtige Weihe erhielte.

Auf dem freien Platze vor dem Tempel, der nur ein unscheinbares Bauwerk im Vergleich zu dem verbotenen Heiligtum bei Gutschar in den unzugänglichen Sümpfen war, drehten sich bei Fackellicht die halberblühten Priesterinnen des Bhuta-Kultes vor den lüsternen Augen der betrunkenen Gewinner dieser für ein Riesenreich wie Indien so unwichtigen Revolution und ertrugen die rohen Zoten und die handgreiflichen Späße mit dem Gleichmut von erhabenen Dulderinnen.

Es waren zumeist Mädchen im Alter von etwa zehn bis zwölf Jahren, voll gereift, alle in kostbare Gewänder gehüllt, keine Schönheiten nach europäischen Begriffen, da diese Tempelmädchen reinblütige Gond sein müssen, trotz des halben Negertyps jedoch schlanke, graziöse und über das Durchschnittsmaß der Gond hinaus große, sorgsam und auch wieder nach sozialen Gesichtspunkten auserwählte Gestalten, nämlich Vollwaisen, die ihre Erziehung im Tempel selbst unter strenger Obhut von alten Bajaderen genießen und späterhin als weibliche Priesterinnen gelten.

Der Ausdruck Bajadere trifft hier also nur bedingt zu, da man gemeinhin unter Bajaderen nur die Tänzerinnen in den Gotteshäusern des Brahmanismus versteht. Die Bhuten-Jungfrauen sind der eindrucksvollste Beweis dafür, daß die Frauen bei den drawidischen Stämmen weit mehr geachtet werden, als es sonst im Orient der Fall zu sein pflegt, und dies bei einem Volke wie den Gond, denen man finstersten Götzendienst vorwirft und die auch tatsächlich in anderer Beziehung noch auf sehr niedriger Kulturstufe stehen, – etwas also, das recht nachdenklich stimmt und für alle die eine Warnung sein sollte, denen unsere Zivilisation allzu sehr zu Kopfe gestiegen ist und die sich berechtigt glauben, europäische Segnungen meist zweifelhafter Art in die Tropen auf halbe Naturkinder zu verpflanzen, wo die Menschen unter ganz anders gearteten Lebensbedingungen sich fortentwickelt und sich ihrer ureigensten Umgebung in allem angepaßt haben.

Der Tanz der Bhuten-Jungfrauen ist mit nichts vergleichbar, was wir sonst an derlei gottesdienstlichen Vorführungen kennen. Zunächst entfällt dabei alles, was als Sinnenkitzel gewertet werden könnte, – auch wieder ein Beweis für die Reinheit der moralischen Anschauungen dieser Halbwilden, die, das bleibt nun einmal bestehen, anderseits vor Menschenopfern nicht zurückschrecken, – ein barbarischer Charakterzug, der angesichts der sonstigen Volkseigentümlichkeiten der Gond fast unbegreiflich erscheint.

Genau wie bei den Erntetänzen gewisser Negerstämme Afrikas handelt es sich bei diesen Tempeltänzen der Gond um eine ausgesprochene Verherrlichung der Bhuten (hier als Götzen oder Dämonen zu verstehen) und um eine Vorstufe der späteren Schwertertänze der Priester und der Blutopfer an schwarzen Hähnen und Ziegenböcken und des abschließenden Orakels durch den Oberpriester.

Die Erregung, die durch den Tanz der Bhuten-Jungfrauen bei den Zuschauern ausgelöst wird, ist eine rein seelische ohne jede, wie schon betont, sinnliche Beimischung. Die reich geputzten Mädchen schreiten zumeist in wiegenden Bewegungen in allerlei Figuren in Reihen oder paarweise einher, während sie selbst mit verschiedenen einfachen Musikinstrumenten, so Handtrommeln, Flöten und besonderen Kastagnetten, sich begleiten und die eintönige Melodie nur zuweilen anschwellen lassen, aber gerade dieses plötzliche Fortissimo hat etwas so Aufreizendes an sich, daß es die geeignetste Einleitung für den nachfolgenden Priestertanz ist, der durch das Schwertergeklirr und die eingestreuten heulenden Schreie der Bhuten zu jener Raserei führt, die schließlich alle Teilnehmer und auch die Zuschauer ergreift.

Bei dem vollkommenen Ernst, mit dem die Gond an ihren religiösen Gebräuchen hängen, war es kein Wunder, daß dieser Frevel, die Tempel-Jungfrauen zu dem Gelage der Sieger heranzuziehen, was nur unter dem heftigsten Widerstand der alten Bajaderen vor sich gegangen war, die Bevölkerung der Residenz aufs äußerste empörte, denn es waren nicht gerade die besten Elemente, die sich für den neuen Radscha erklärt hatten.

Der Palast, in dem der Resident von Beldari samt seinem Beamtenstab und seiner Schutzwache wohnte, war ein zweistöckiger, langgestreckter Bau aus Kalksteinquadern und von einer Parkmauer umgeben, der mit seinen Ecktürmen und Schießscharten dem ganzen Gebäudekomplex das Aussehen einer Festung verlieh.

Zu dieser nächtlichen Stunde, als die Sieger auf dem Platze vor dem Stadttempel an dem Reisschnaps des Nanna-Sahib sich gütlich taten, hatte sich droben im ersten Stock der Residentur eine größere, recht bunt gemischte Gesellschaft zusammengefunden, in der fast alle Personen Anspruch auf Bedeutung erheben durften.

Da war, um mit der Hauptperson des heutigen Tages zu beginnen, zunächst der neue Radscha von Englands Gnaden Agdera Chan, ein reinblütiger Gond aus altem, aber wenig angesehenem Geschlecht, da schon sein Vater allzu sehr mit den verhaßten Briten geliebäugelt hatte und der Sohn mehr in Allahabads Amüsierstätten als in Beldari anzutreffen war. Dieser Agdera Chan wirkte schon mit seinem Halbnegertyp in seinen europäischen Kleidern mehr lächerlich als imponierend, und seine Versuche, die neue Würde hervorzukehren, machten ihn zu einer ausgesprochen komischen Figur, die es in nichts mit dem Radscha Ghawi aufnehmen konnte, der als Indogermane sowohl äußerlich wie an Intelligenz ein würdiger Vertreter jener Erobererscharen war, die dereinst die Urbevölkerung Indiens mit Leichtigkeit sich dienstbar gemacht hatten.

Agdera Chan stand neben der Gräfin Arrenberg am Mittelfenster des Audienzsaales, und hinter ihnen hatte sich der geriebene, aber innerlich für sein Volk mit rücksichtslosem Fanatismus eintretende Oberpriester auf einem niederen Hocker aufgebaut, um das Schauspiel da draußen gleichfalls auf seine Art kritisch betrachten zu können. Was in ihm in Wahrheit vorging, ahnte niemand. Dazu war er bereits zu lange oberster Bhuta, als daß er seine Gedanken verraten hätte. Auch die Kunst der fließenden Rede war ihm nur Schleier für seine Gefühle und Ansichten. Er hatte, und auch darin glich er den Vertretern vieler oder der meisten überalterten Religionsbekenntnisse, nur immer die Stärkung der Macht der Priesterkaste im Auge gehabt und damit zugleich eine Vermehrung der irdischen Güter der Bhuten, – Geld ist Macht, das wußte er am allerbesten.

Nur so war sein Intrigantenspiel zu verstehen, bei dem er sogar gleich drei Parteien zum Schein gedient hatte, in Wirklichkeit jedoch immer nur seiner Kaste, die durch die große Beliebtheit des Radscha Ghawi eine empfindliche Einbuße an Einfluß erlitten hatte, die der Oberbhuta dadurch wieder einzuholen trachtete, daß er dem ihm in Wahrheit sehr geschätzten jungen Fürsten aus dem Geschlechte der Dämonen einen gründlichen Dämpfer versetzen wollte, niemals aber darauf ausgegangen war, ihn endgültig zu stürzen.

Genau so wenig war er je damit einverstanden gewesen, daß die bestochenen Gegner des einzig berechtigten Throninhabers derartige Mittel angewendet hatten, wie dies zuletzt durch die mit Vorbedacht hervorgerufene Seuche, die Cholera, geschehen war. Die Weiterentwicklung der Rebellion hatte dann ebenso gegen seinen Willen ein Tempo angenommen, das er hatte nicht mehr abbremsen können, die Dinge waren ihm buchstäblich über den Kopf gewachsen, und der heutige Anlaß zum Ausbruch der offenen Feindseligkeiten hatte ihn vollkommen überrascht.

Radscha Ghawi war erst vorgestern im Residenzschlosse plötzlich erschienen, heute früh war der Aufstand jählings aufgelodert, – wer dahinter steckte als Geldgeber und heimlicher Regisseur, war dem alten Bhuta sehr wohl bekannt, der Betreffende saß jetzt, den untröstlichen Vater spielend, dort auf dem Seidensofa neben Günter Arrenberg, der gar nicht genug über das Verschwinden der armen Astrid hören konnte, die Ernest Dalton hier suchen zu wollen vorgab.

Lord Cray war nicht anwesend, er hatte mit Dalton alles genau vereinbart, und daß der Radscha hatte entfliehen können, machte den Verschwörern einen bösen Strich durch ihre sorgfältigen und völlig skrupellosen Berechnungen. Wenn es nach Dalton gegangen wäre, hätte der Fürst jetzt mit ein paar Kugeln im Leibe tot auf der Gasse gelegen. Ob dadurch Astrids anders geartete Pläne gestört würden, war einem Manne wie Dalton nebst Sohn vollkommen gleichgültig.

Agdera Chan, der das Englische ziemlich fließend beherrschte, sagte soeben zu der Gräfin, die diesen fast schwarzen, rotäugigen Burschen schon aus dem Grunde verachtete und geradezu haßte, weil sie im Sinne deutscher Zustände konservativ bis auf die Knochen war:

„Meine Anhänger feiern meine Thronbesteigung etwas lärmend, Frau Gräfin. Es sind eben Naturkinder!“

Hätte er das Lächeln, das ganz unmerkliche Lächeln des Oberbhuta gesehen, so würde er sich weniger als Herr der Situation gefühlt haben. Auch die Erwiderung der Frau von Arrenberg war nicht dazu angetan, ihn zu erfreuen. Sie erklärte ohne jede Scheu mit einer solchen Geringschätzung, daß sogar dem abgebrühten Rebellen das Blut in die Wange schoß: „Naturkinder nennen Sie das?! Ich nenne das vertierte Bestien und Hochverräter!“

Der Oberbhuta hörte sehr genau hin und nickte befriedigt. Sein Entschluß stand nun fest, auch die Arrenbergs an der feierlichen Krönung des neuen Fürsten teilnehmen zu lassen, denn von seiten dieser Frau hatte er keinen Verrat zu fürchten, das wußte er nun.

Agdera Chan fand keine Entgegnung auf diese Bemerkung der hageren Dame, die mit ihrem Lorgnon dauernd den Tempelplatz draußen im Auge behielt und nun milder hinzufügte: „Der Tanz verrät Kultur und Geschmack.“ Sie wandte sich an den Oberpriester, dessen bärtiges Gesicht wie eine erstarrte Maske wirkte und der heute wieder die kostbaren Gewänder trug, die er bei der Unterredung mit dem Fakir Birra angehabt hatte – damals, als die beiden sich darüber einig wurden, wie die Epidemie hier in Beldari entstanden war.

„Ich finde es außerordentlich bedauerlich, daß Ihre Tempeljungfrauen, mein verehrter Dwarru, sich zu diesem widerlichen Gelage als Belustigung für Betrunkene hergeben müssen! Weshalb schreiten Sie nicht ein?!“

Sie meinte dies „verehrter Dwarru“ völlig ernst, denn sie hatte sich heute bereits wiederholt mit ihm unterhalten und dabei gemerkt, daß dieser Heide ein Greis von überraschend vielseitiger Bildung und Anschauungen war, die mit ihren eigenen in den Grundzügen übereinstimmten.

Der alte Dwarru lächelte wieder wie die ägyptische Sphinx: „Frau Gräfin, es wäre Aufgabe unseres Gebieters, hier einzuschreiten, ich bin nur ein Mann, der in seinem Schatten wohnt.“ Worauf die Gräfin Arrenberg ihn sehr ungläubig musterte und plötzlich das scheußliche Gefühl hatte, es würde in Beldari noch mehr Blut fließen, – aber darin täuschte sie sich.

Nur der Rebell Agdera Chan beeilte sich zu erwidern: „Falls es dir nicht behagt, hochwürdiger Dwarru, werde ich Befehl geben, daß die Mädchen wieder in den Tempel zurückkehren“, denn er hatte eine abergläubische Angst vor dem Alten, obwohl er doch nach Kräften den aufgeklärten modernen Inder zu spielen suchte. Was jedoch einmal an abergläubischen Vorstellungen mit der Muttermilch eingesogen ist, läßt sich nie mehr aus dem Blute hinausdestillieren, die Erfahrung machen auch alle christlichen Missionare, und gerade, wo ein derart mit dem Volke verwurzelter Götzenkult wie bei den Gond besteht, ist in dieser Hinsicht gar nichts auszurichten oder höchstens rein äußerlich.

Der Oberbhuta entgegnete sehr bescheiden mit tiefer, zu tiefer Verneigung: „Dazu ist es nun zu spät. Die Mädchen werden ohnedies sehr bald anderswo gebraucht, wie dir bekannt ist, mein Fürst!“

Unter einem der Türvorhänge war jetzt eine Gestalt erschienen, die in der prunkvollen, von Gold und blitzenden Steinen überladenen Uniform so ungefähr an einen Fantasie-Oberhofmeister aus einem Kinostück aus den Anfängen der Filmbranche erinnerte.

Patrick O’Konnor hatte es sich in seinen kühnsten Träumen – und seine Träume waren recht zügellos – nie auszumalen gewagt, daß er es einmal bis zum Oberzeremonienmeister eines richtigen Fürsten bringen würde, und wer ihm dies noch vor drei Wochen in Venedig vorausgesagt hätte, den würde er kaltschnäuzig als Witzbold niedergeboxt haben. Aber wenn man Gehilfe einer Geheimagentin von Hanna Reis’ Vielseitigkeit, Beziehungen und unerschöpflichen Geldmitteln ist, wird auch das scheinbar Unmögliche sehr schnell Tatsache.

Damals in Venedig nach der feuchten Geschichte mit der reizenden blonden Lotte und den vielen schwimmenden Paketen hatte Hanna sofort nach der Vindhya-Plantage funken lassen und um neue Befehle gebeten. Medems Chiffreantwort war postwendend eingetroffen: „Flugzeug mieten, Patrick mitbringen, für Teutonia sichere Wächter zum Schutze Lottes an Bord schicken. Treffpunkt in aller Heimlichkeit bei Birra. Schluß. Medem.“

Mademoiselle Reis hatte erleichtert aufgeatmet, als sie aus dieser Depesche ersah, daß der Sahib mit den Türkisaugen keineswegs daran dachte, seinem toten Chef untreu zu werden und eine eigenmächtige Politik zu treiben. Nur Patrick hatte bedenklich den roten Schädel geschlackert und ehrlich erklärt, von Flugzeugen hielte er verdammt wenig, da die Dinger die Neigung hätten, jedes soeben erst genossene Glas Whisky wieder zu Tage zu fördern. Eine Anstellung bei einer solchen Luftmaschine sei so ziemlich die einzige, die er noch nicht ausgeübt habe, – was ihm gar nichts half: Er mußte mit!

Und dann kam in Allahabad bei dem Fakir Birra, der dort wie viele seines Zeichens ein Doppelleben als schmieriger Schlangenbändiger und als reicher Kaufmann führte, das allerschönste: Er, Patrick O’Konnor, mußte seinen fuchsigen Vollbart opfern, mußte seine Zeugnisse als ehemaliger hochherrschaftlicher Diener hervorsuchen und sich dem Thronprätendenten von Beldari für ein lächerliches Gehalt als sprachenkundiger Hausmeister anbieten. Da er gleichzeitig eine Garderobe vorweisen konnte, die der stets in Geldnöten befindliche Agdera Chan niemals aus eigenen Mitteln hätte beschaffen können, klappte die Sache, wie Medem dies vorausgesehen hatte, und so befand sich denn im feindlichen Lager nunmehr ein gerissener Spion, den selbst Lord Cray für harmlos hielt, da Patrick von Natur mit einem wahren Schafsgesicht ausgestattet war.

Derartige Karrieren, wie Patrick sie hier nur den besonderen Umständen zu danken hatte, sind in Ostasien durchaus keine Seltenheit. Abenteurer und kluge Männer haben es zu Stellungen gebracht, denen für europäische Verhältnisse etwas Märchenhaftes anhaftet, – es gibt Glücksritter mit dem überall nötigen Glück, die sich bis zu Fürsten von eigenen Gnaden aufgeschwungen haben.

Heute war Patrick allerdings nicht ganz behaglich zumute, denn daß der Aufstand in Beldari ohne sein Wissen trotz schärfster Wachsamkeit ausgebrochen war, betrachtete er als persönliche Beleidigung, und er hatte denen furchtbare Rache geschworen, die an dem Anschnauzer schuld waren, den er heute von Hanna Reis draußen vor der Stadt hatte einstecken müssen. Aber in getreuer Erfüllung seiner protzigen Rolle meldete er nun, indem er mit dem von ihm selbst angefertigten Zeremonienmeisterstabe dreimal auf den Teppich klopfte: „Hoheit, die Elefanten stehen bereit!“

Dwarru, der Oberbhuta, flüsterte der Gräfin schnell zu: „Sie und Ihr Sohn sind gleichfalls eingeladen, der Krönung beizuwohnen, wenn Sie sich zum Stillschweigen verpflichten, denn die Feier findet in dem für Europäer verbotenen großen Haupttempel bei Gutschar statt!“

Frau von Arrenberg und Günter, desgleichen auch Ernest Dalton leisteten ohne weiteres die verlangte feierliche Zusage, obwohl der Gräfin, die eine sehr scharfe und zumeist richtige Beobachtungsgabe besaß, das ganze Benehmen des Oberpriesters einige Bedenken einflößte, die sie jedoch als übertrieben wieder von sich wies.

Im großen Hofe der Residentur waren inzwischen die fünf Elefanten mit ihren Mahuts und ihren Baldachinen aufmarschiert, alles prächtige Tiere, die der Radscha Ghawi als sein Eigentum auch zur Jagd benutzt und wiederholt seinem Freunde Medem zur Verfügung gestellt hatte, bis dieser sich zwei eigene Tiere gekauft hatte. Ein zahlreicher Troß von Fackelträgern begleitete den Zug, der sich auf Nebenpfaden, um der trunkenen Rotte zu entgehen, aus der Stadt hinausschlängelte und sehr bald in den Dschungel einbog, der sich zwischen Beldari und den Vorbergen meilenweit hinzog und den nur eine gebahnte Straße durchschnitt, und zwar die von dem Nanna-Sahib angelegte.

Außer den bereits genannten Personen und einigen Freunden Agdera Chans, die dieser schnell zu Ministern ernannt hatte, befanden sich bei dem festlichen Zuge noch fünf eingeborene Offiziere der von Lord Cray bereitgehaltenen Truppen, ebenso eine Anzahl von bewaffneten Dienern, die mit zwei Elefanten den Haupttrupp seitwärts gegen Überfälle deckten und die sogar ein Maschinengewehr mit sich führten, da der neue Fürst um sein kostbares Leben mit einigem Recht sehr besorgt war und da man mit Überfällen durch die in den Dschungel geflüchteten Anhänger des Radscha Ghawi rechnen mußte, – jedenfalls war alles getan, derartige Zwischenfälle zu verhüten, und die Gräfin, die mit Günter und Patrick sowie dem englischen Leibarzte des entthronten Fürsten, einem älteren Herrn von vorbildlicher Schrullenhaftigkeit und absoluter Gleichgültigkeit gegenüber allen politischen Umtrieben, im Tragkorbe des zweiten Elefanten saß, durfte ohne weitere unklare Besorgnisse das romantische Erlebnis dieses nächtlichen Rittes voll auskosten.

Der Leibarzt Dr. Perkins, der sich in die Einsamkeit von Beldari nur deshalb vergraben hatte, weil er ein fanatischer Käfersammler war, fand an der Gräfin für seine begeisterten Lobsprüche auf den verstorbenen Lorenzen eine aufmerksame Zuhörerin. „Er war ein Genie, nur ein Eisenkopf, und daran ist er zugrunde gegangen. Ich hatte ihn wiederholt gewarnt, er hatte eine leichte Herzmuskelschwäche, – er lachte mich aus. Ein wahres Glück ist es nun, daß Ihre Schwiegertochter in Medem einen so vorzüglichen Sachkenner und hochanständigen Berater vorgefunden hat.“

Günter, der es Lotte längst noch nicht vergeben hatte, daß sie wieder einmal so eigenwillig sich allein auf den Weg nach der Plantage gemacht und sogar die Zofe Bessy zum Lügen verleitet hatte, meinte nur sehr zurückhaltend:

„Die Erfahrungen, die wir mit diesem Herrn Medem bisher gemacht haben, lassen eine gewisse Vorsicht geraten erscheinen“, – worauf der Käfersammler ihn von der Seite groß anschaute und erwiderte: „Vorsicht?! Medem gegenüber?! – Ja, in einer Beziehung mag das stimmen: Hüten Sie sich, seine Ehrenhaftigkeit je anzuzweifeln, der Mann hat eine Elefantenhautpeitsche von Lorenzen geerbt, die sehr häßliche Spuren hinterläßt“, – was Günter recht nachdenklich stimmte und ihm jede Lust benahm, mit Medem irgendwie anzubinden.

Frau von Arrenberg schwärmte nun von der Vielgestaltigkeit der Dschungel, deutete auf die überwucherten Ruinenreste und auf die Farbenpracht der im Mondlicht oft geradezu berauschend duftenden und mit Blüten übersäten Sträucher, unter denen die wilde Vanille und die noch schärfer riechende Schlangenakazie am häufigsten waren, und ließ sich nur dadurch ein wenig die Laune beeinträchtigen, daß so gar keine Tiere zu sehen seien, was den Käfersammler weidlich belustigte, da er auf diese Ansicht von Neulingen, die Bestien liefen hier in Indien etwa so zahlreich umher wie daheim die Hauskater, schon wiederholt gestoßen war.

„Man könnte doch getrost zu Fuß durch diese Wildnis wandern“, schloß die Gräfin ihren Lobgesang, worauf der unleidliche Spötter nur erwiderte: „Da würden Sie nicht weit kommen, dafür garantiere ich!!“, – und wie als Bestätigung erhob sich in dem Baldachin des vordersten Staatselefanten ein Gebrüll, das keineswegs nervenberuhigend klang und dessen Töne in den gellenden Schreien des Rechtsanwaltes Dalton ihren Höhepunkt erreichten:

„Ich bin gebissen worden – eine Kobra!! Wo ist der Doktor? Doktor Perkins, hierher!! Hierher!!“

Der Käfersammler sagte genau so trocken zu der erdfahlen Gräfin: „Nun habe ich ausgerechnet heute keine Medikamente bei mir!! Schade! Übermorgen werden wir Dalton beerdigen müssen, denn hier muß eine Leiche innerhalb achtundvierzig Stunden unter der Erde sein.“

„Sie sind ein gräßlicher Mensch“, meinte Frau von Arrenberg heiser und hielt sich die Ohren zu, denn das Wehklagen und Jammern vor ihnen wollte gar nicht verstummen.

 

10. Kapitel.

Nachdem der Fakir Birra für das Pärchen in Lottes Schlafzimmer das Warnungssignal gegeben hatte, wandte er sich eiligst zur Flucht und verschwand in einer der Felsspalten, die sich von dem Bergvorsprung, auf dem Schloß Vindhya erbaut war, in den Dschungel gen Südost verloren. Nach kurzem Marsche erreichte er eine Steinanhäufung, aus der er seinen Reitesel und seine Requisiten als Fakir herausholte. Er setzte sich oben auf die Kuppe und begann sich umzuziehen, wurde wieder in kurzem zu dem schmierigen Schlangenfänger und wartete nun mit der stoischen Ruhe eines Menschen, der bestimmt weiß, daß der Mann, der kommen mußte, auch kommen wird.

Birra konnte von hier aus die Wildnis bis Beldari überschauen und blickte gleichgültig auf den roten Schein der brennenden Speicher, deren Qualmwolken dort am dichtesten waren, wo die Lagerhäuser mit den wertvollen Kautschukmengen stinkend zu Asche zerfielen. Dort ging die Ernte eines Jahres in Flammen auf, und Birra als Kaufmann konnte genau berechnen, wieviel die Kautschukpreise an der Börse in Allahabad morgen anziehen würden, und er grinste verstohlen, denn daß Dalton sich mit Kautschuk so weitgehend eingedeckt hatte, würde nicht einmal seinem Sohn zugute kommen, da Medem dies in weiser Vorsicht noch umfangreicher getan hatte.

Dann tauchte der Erwartete, ein Gond, bereits auf, und nach schnellem Bericht entfernte der Gond sich wieder, während der Fakir sein Grautier bestieg und in flottem Trabe gen Westen ritt, wo im Mondlicht als ferner Wegweiser die schlanken Minarette der Ruinen von Gutschar in den hellen Nachthimmel ragten. Vor ihm auf dem Sattel lag der große Ledersack, in dem es sich unaufhörlich bewegte.

Birra erreichte nach einer Stunde eine Stelle des Buschpfades, wo eine Felsengruppe und mehrere große Eichen eine Art Hohlweg bildeten, den jeder durchqueren mußte, der zum verbotenen Tempel oder zu den Tempelhöhlen und zum sogenannten Tigerwege wollte. Hier stieg Birra ab, verbarg seinen Esel in einer versteckten kleinen Grotte und erkletterte eine der Eichen. Den unheimlichen Ledersack sowie eine eigentümliche Astgabel nahm er mit. Er wählte mit Bedacht den richtigen Ast aus und machte es sich dort auf seine Weise bequem, legte seine Gerätschaften neben sich und entfernte den Riemen, der den Sack verschloß, hielt diesen mit der Linken zu, auf der er einen groben Handschuh aus Filz trug, und griff mit der Rechten nach seinem gegabelten Stecken.

Als die erste Kobra sich aus der Öffnung des Sackes hervorschlängelte, drückte er ihr die Gabel dicht hinter der Haube fest ins Genick und stellte den Fuß so lange auf die Sacköffnung, bis er die erste Kobra in der Mitte des Leibes mit einer harzbeschmierten dünnen Hanfschlinge sicher umschnürt hatte. Die Hanfschnur mit der unten sich windenden Brillenschlange band er an einen Zweig und widerholte dann seine gefährlichen Verrichtungen noch viermal, so daß zum Schluß im ganzen fünf Kobras an den Schnüren in der Luft hingen.

Der Fakir ließ sich bei alledem Zeit und rauchte sich nachher eine Pfeife an und wartete mit derselben stoischen Ruhe wie vorhin, als er den Boten aus Beldari treffen wollte, der ihm nur bestätigen sollte, daß die Krönung des neuen Fürsten noch heute stattfinden würde, wie dies die Gesetze der Gond verlangten. Außerdem hatte er auch überdies mit seinem Vertrauten, dem Oberbhuta, alles genau vereinbart für den Fall, daß überraschenderweise der Aufruhr gelingen sollte.

Wie zum Zeitvertreib ließ er die fünf Kobras an den Schnüren hin und her pendeln, und er wiederholte diese Spielerei so langem bis er darin eine gewisse Fertigkeit gewann, die ihm die Gewähr bot, daß er seine mörderischen Absichten mit Erfolg verwirklichen könnte. Birra war in allem ein sehr sorgfältiger Mann, und als nun in der Ferne Fackellicht auftauchte und der Lärm der schreienden Mahuts immer näher kam, steckte er seine Pfeife weg und setzte sich im Schutze des Blätterdaches noch bequemer zurecht, bückte sich und ergriff die Schnüre und hob sie samt den daran hängenden Kobras etwas empor, damit die Fackelträger dieses Weghindernis nicht vorzeitig bemerkten.

Der erste Elefant näherte sich. Birra schaute genau hin und erkannte unter dem Prunkbaldachin den neuen Fürsten sowie Ernest Dalton und zwei Freunde Agdera Chans, lächelte befriedigt und versetzte sein Schlangenbündel in sorgfältig berechnete Schwingungen und ließ die Schnüre durch die Finger gleiten, als der Baldachin sich etwa unter ihm befand, so daß die zurückpendelnden Kobras unter das Dach des goldstrotzenden Tragkorbes gerieten, – dann erst ließ er die Schnüre fahren, erhob sich und eilte in die Felsen zurück, holte seinen Esel hervor und ritt auf Umwegen zur Plantage des Nanna-Sahib, wo inzwischen, so hoffte er, auch sein Freund Medem Erfolg gehabt haben dürfte.

Daß hinter ihm die grausigen Entsetzensschreie der von den wütenden und daher doppelt gefährlichen Brillenschlangen Gebissenen ertönten, störte ihn nicht im mindesten. Er hätte es nur bedauert, wenn die Folgen der Bisse sich lediglich auf Lähmungserscheinungen wie bei dem treulosen Hausmeister Wanar beschränkt hätten und er gezwungen gewesen wäre, zu anderen Methoden zu greifen, um die Verräter auszulöschen. Menschenleben galten ihm nicht übermäßig viel, da er selbst jeden Tag sein Leben wagte, wenn er auf Schlangenfang auszog, der für ihn genau so viel bedeutete wie für Doktor Perkins das Käfersammeln, nur daß die Kobras besser bezahlt wurden, auch darin war Birra ein tüchtiger Kaufmann. – –

 

11. Kapitel.

Howard Crays Monokel schillerte drohend im Mondlicht. Er hatte soeben zusammen mit dem Unteroffizier, der hier die Wachen befehligte, die Stallungen revidiert und zu seiner Überraschung die beiden Pferde sauber und behaglich fressend in ihren Boxen vorgefunden, – gerade die Tiere, die seiner Meinung noch irgendwo in den Bergen sich befinden mußten. Er begriff das nicht. Er kannte den Rappen, den Astrid stets benutzt hatte, ganz genau, und er hätte darauf schwören mögen, daß vorhin dieses verteufelte Mädel, diese Lotte Lorenzen, das Tier geritten hatte, allerdings hatte er sie nur durch das Fernglas zu Gesicht bekommen und lediglich wehende Haare bemerkt und einen Anzug, der ein Schlafanzug sein konnte, aber auch darauf war kein Verlaß, und die Kavalleristen vermochten ihm über diese Einzelheiten auch keinerlei eindeutigen Aufschluß zu geben.

Cray war außer sich. Alles war bisher so unverhofft günstig verlaufen, und besonders Lotte Lorenzens vorschnelles Eintreten für den Radscha hatte ihm einen Trumpf in die Hand gegeben, mit dem er die Vindhya-Plantage in kürzester Zeit zu erringen gedacht hatte. Nun aber war dieser günstige Umstand durch irgendwelche Machenschaften, die er vorläufig nicht durchschaute, wie eine Seifenblase zerplatzt.

Der Lord überlegte nochmals alles ganz sorgfältig und fragte auch den Unteroffizier erneut danach aus, ob er sicher sei, daß eine weiße Mem Sahib den Rappen geritten hätte. Der Farbige bejahte dies, – allerdings mit der Einschränkung, daß er das Gesicht nicht gesehen habe.

Cray wurde immer gereizter. „Holt eine Leiter!“ befahl er kurz. Er sprach in einem Tone, den die Leute schon kannten. Dann war mit dem Sahib Glasauge nicht zu spaßen. Sie beeilten sich, und Cray kletterte die unter Lottes Balkon angelehnte Leiter empor, stieg über die Balkonbrüstung und schlich auf die Tür mit dem Gazefenster zu. Die Räume im Schloß kannte er, und er wußte genau, wo Lottes Zimmer lagen, sie hatte es ihm selbst gesagt, als er vor zwei Stunden die erste Unterredung mit ihr gehabt und sie höflich davor gewarnt hatte, nicht etwa den flüchtigen Radscha irgendwie zu unterstützen.

Nur einen Fehler beging er hinterher: Er hätte, als die Reiterin dem Fürsten folgte, sich überzeugen müssen, ob Lotte sich in ihren Räumen befände. Diese Versäumnis bedauerte er jetzt aufs schmerzlichste, hoffte jedoch, durch recht rücksichtsloses Auftreten von dem Mädchen ein Geständnis erpressen zu können, zumal es ja feststand, daß es eine Europäerin gewesen, die dem Fürsten in tollem Jagen gefolgt war. Freilich war Cray ein guter Menschenkenner, als daß er Lotte irgendwie unterschätzt hätte, die er ja von Allahabad her kannte, wo er mit ihr und ihrer Schwiegermutter und Günter einen Abend zusammen verlebt hatte und sich schnell und treffend ein Urteil über die drei gebildet hatte, wobei Günter am schlechtesten abgeschnitten hatte, da dessen Unzulänglichkeit einem so gewiegten Herrn, wie der Lord es war, nicht verborgen bleiben konnte. Den allergrößten Respekt empfand der große Intrigant Howard Cray unbedingt vor diesem deutschen Mädel, das er zunächst für ein halbgebildetes Geschöpf gehalten hatte.

Er war sehr bald eines anderen belehrt worden, denn die Schlagfertigkeit Lottes bezog sich auch auf reine Rechtsfragen, die nicht einmal er in dieser Gründlichkeit beherrschte. Wie alle Männer, deren persönliche Tapferkeit Hand in Hand mit einem ebenso stark entwickelten Selbstgefühl läuft, hatte er Lotte diese Abfuhren nie verziehen, und als er nun vor der Tür ihres Schlafzimmers stand, war er mehr denn je entschlossen, ihr mit allen Mitteln nachzuweisen, daß nur sie die Reiterin auf dem Rappen gewesen sein könne.

Er sah schon von draußen, daß im Zimmer nur die kleine, seideverhüllte Nachttischlampe brannte und daß die Türvorhänge von innen nicht zugezogen waren. Trotzdem vermochte er in dem Raume selbst nichts zu erkennen, da die Gaze sehr dicht war.

Er nahm sein Taschenmesser und zerschnitt den leichten Stoff, um geräuschlos einsteigen zu können, da er hoffte, die Schlafende würde im ersten Aufschrecken sich irgendwie verraten. Sein ganzer Plan war ebenso brutal wie gemein, und er fühlte dies auch sehr wohl, aber es ging hier um Millionen, und ihm selbst saß das Messer an der Kehle, er hatte Schulden in einem Ausmaße, daß sogar sein Intimus Dalton mit keiner einzigen Rupie mehr herausrückte.

Cray war körperlich sehr gewandt und in allem trefflich trainiert. Lautlos wie ein Dieb drängte er sich nun durch die Öffnung in das Zimmer und blieb an der Tür lauschend und spähend stehen. Seine Augen gewöhnten sich schnell an die matte, unsichere Beleuchtung.

Plötzlich hielt er vor Schreck und Staunen den Atem an …

Ein faunisches Grinsen wollte über seine Züge gleiten, erstarb aber sofort wieder, da er den Mann, der dort halb entkleidet auf dem Diwan ruhte, erkannt hatte.

Es war Bert Medem, und wenn Lord Cray je in seinem wilden abenteuerlichen Leben überrascht und sprachlos gewesen, dann war er es jetzt.

Sein staunender Blick flog zu dem Bett hinüber, in dem Lottes blonder Kopf mit sauber geflochtenen Zöpfen auf dem linken nackten Arm ruhte.

Sie schlief! Sie schlief anscheinend ganz fest und atmete ruhig und gleichmäßig …

Genau wie der Mann auf dem Diwan.

Das Zimmer war erfüllt mit dem Duft des Parfüms, das Lotte sonst sehr diskret zu benutzen pflegte: Divinia!!

Er stand wie versteinert. Seine Augen fraßen sich fest an der dünnen Seidendecke, die alle Umrisse der Gestalt des Mädchens erkennen ließ. Es war ein vollendet schöner Körper, es war eine jungfräulich pralle Büste, die sich unter dem Pyjama abhob wie die Brust altgriechischer weiblicher Idealgestalten. Lüsternheit flackerte in des Lords heißem Blute auf und erlosch wie Strohfeuer, denn seine spürenden Gedanken drängten sich wieder in den Vordergrund und unterdrückten jede andere Regung.

Wie war dies möglich, fragte er sich immer wieder? Wie kann Lotte Lorenzen jetzt schon die Geliebte Medems sein, den sie doch nach ihrer eigenen Behauptung in Allahabad bis dahin nie gesehen hatte?! Lotte war doch kaum erst einen Tag hier auf der Vindhya-Plantage, und ein Mädchen ihrer Art wird sich doch nicht so im Umsehen einem ihr bis dahin fremdem Manne an den Hals werfen!!

Mißtrauen glomm in Crays kritischem Verstande auf. War dies hier eine Komödie, nur darauf berechnet, ihn zu täuschen?!

Sein Blick irrte zum Diwan hin.

Dort lag Medem, der Keuschheitsapostel, den erst Astrid ein wenig bekehrt hatte – der Verlobte Astrids, der über das Verschwinden seiner Braut am Hochzeitsmorgen völlig außer sich geraten war und sofort auf eigene Faust die Nachforschungen begonnen und aus Allahabad so schnell sich entfernt hatte, daß nicht einmal des Lords Spione seinen Verbleib hatten feststellen können.

Dieser Medem war der aufmerksamste Verlobte gewesen, der je in Allahabad die blasierten Dämchen der Europäerkolonie zum Lachen gereizt hatte, denn man kannte Astrid ja, man wußte, daß sie es ursprünglich auf den Fürsten Ghawi abgesehen gehabt und erst auf ihn verzichtet hatte, als er durch seine Reise seinen Thron noch mehr ins Wanken gebracht hatte. Und dieser blinde, göttliche Tor, wie er in Allahabad von den übersättigten, schon aus Langeweile lüsternen Ehefrauen, Jungfrauen und angeblichen Jungfrauen genannt worden war, da sie alle seine kraftvolle Männlichkeit nicht nur anerkannten, sondern auch nach Kräften auf ihn Jagd gemacht hatten, dieser göttliche Apoll sollte in so kurzer Zeit in Liebe zu Lotte Lorenzen entbrannt sein und Gegenliebe bis zu völliger Hingabe gefunden haben?! – Nein, hier stimmte irgend etwas nicht, hier war eine feine Komödie inszeniert werden, um für Lotte ein Alibi zu schaffen!

Cray grinste. Einen Lord Cray betrog man nicht so leicht, der kannte das Leben, der fand die Unwahrscheinlichkeiten dieses nächtlichen Bildes schnell heraus. Ein Liebespaar wird nach seligen Stunden nicht jeder für sich auf eigenem Lager ruhen, sondern Arm in Arm einschlafen, – noch dazu bei einem Weibe von Lottes frischen, unberührten und daher doppelt verführerischen Reizen!

Howard Cray überblickte abermals das Schlafzimmer mit Polizeiaugen.

Nichts entging ihm. Er sah in Medems auf der Brust ruhenden Faust ein Spitzentüchlein, – Lottes Taschentüchlein. Auch das konnte nur allerfeinster Bluff sein, obwohl der Regisseur dieser Filmszene ein Mann von größten Erfahrungen in Liebesdingen hätte sein müssen, und das traf auf Medem nicht zu, denn Astrid hatte ihn wohl schon aus Berechnung derartige Finessen nie gelehrt, um nicht zu verraten, wie gut sie in solchen Dingen Bescheid wüßte.

Cray wurde wieder unsicher. Er sah ja auch Medems spärliche und zwanglose Kleidung, die nackten Füße, den offenen Schlafanzug und die entblößte Brust. Aber das eine blieb trotz allem bestehen: Wie konnten zwei Menschen, die einander bisher nie gesehen, sich in wenigen Stunden zu solcher Vertraulichkeit zusammenfinden?!

Crays Blick hing jetzt auf einem zerknitterten Brief, der auf der Spiegelplatte des Frisiertisches lag. Zwischen den zusammengelegten, mehrfach gefalteten Seiten war eine dicke Haarsträhne sichtbar, – von Lottes Haar zweifellos. Halb über dem Briefe lag eine kleine flache Kristallschale, darin blinkte der einzige Ring, den Medem zu tragen pflegte, ein Siegelring, Erbstück von seinem Vater mit einem Wappen der Familie „von“ Medem, – den Adel hatte der letzte Medem hier nur gelegentlich erwähnt, er nannte sich einfach Medem, und auch das war für ihn kennzeichnend.

Cray, dem das Verwerfliche dieser nächtlichen Untersuchungsmethoden immer mehr zum Bewußtsein kam, kämpfte mit sich und zögerte eine Weile, dann griff er doch nach dem Brief und überflog die mit Tintenstift geschriebenen und halb verwischten Zeilen des zerknitterten Papiers, dessen Zustand ganz darauf hindeutete, daß das Schreiben von dem Empfänger wohl dauernd bei sich getragen worden war.

Schloß Arrenberg i. d. Mark.

Mein lieber Kindheitsfreund und Kamerad, ich schreibe in aller Hast, denn wir haben jetzt infolge der Ernte sehr viel zu tun, und ich sinke jeden Abend todmüde ins Bett. Dein ausführliches Schreiben beantworte ich, sobald ich mich erst an den Gedanken gewöhnt habe, daß wir demnächst wieder vereint sind und ich eine reiche Erbin bin, für deren Besitz Du nun vorläufig die schwere Verantwortung trägst, wofür ich Dir innigst danke.

Ich weiß, daß Du diesen Dank mit dem Hinweis auf unsere Jugendbekanntschaft ablehnen wirst, Du warst mir ja stets mehr als nur ein Jugendfreund, mehr als ein Bruder, um den ich mich in letzter Zeit sehr gesorgt habe, denn Deine Verlobung mit der Engländerin erscheint mir – verzeihe die Offenheit – etwas übereilt.

Zuweilen handeln wir in einer Augenblicksstimmung, die hinterher sich als trügerisch erweist, und dies rächt sich späterhin so bitter, daß wir daraus für unser ganzes Leben eine Lehre ziehen, die leider als Erkenntnis dann zu spät kommt.

Lieber Bert, ich bin zu müde und auch innerlich zu zerfahren und zu sehr zerfallen mit mir, als daß ich weiterschreiben könnte.

Gute Nacht, mein einziger wahrer Freund,

aufs innigste

Deine kleine

Lo.

Howard Cray überlas den Brief nochmals und prüfte dabei jedes Wort und jeden Satz. Das Schreiben machte nicht nur ganz den Eindruck einer flüchtig hingeworfenen herzlichen Nachricht, sondern darüber hinaus enthielt es gewisse Hinweise, daß diese Jugendbekannten, zumindest Lotte, sich über ihre wahren Empfindungen für einander gründlich getäuscht hatten.

Howard Cray kannte das Leben, und deshalb wußte er sehr gut, wie leicht gerade eine bis in die Kindheit zurückreichende Freundschaft allmählich sich zu anderen, heißeren Empfindungen umgestaltet, über die beide Teile sich kaum klar werden, bis eines Tages alle Schranken fallen und die bräutliche Liebe hemmungsloser als bei einem anders gearteten Sichfinden hervorbricht und infolge der langjährigen früheren Vertrautheit sofort Beziehungen entstehen, die sonst zwischen Mann und Weib erst eine Vorbereitungszeit erfordern. Ihm wurde nun alles, alles verständlich, und er … schämte sich. Mochte er auch seine Fehler haben, schon allein aus dem Grundzug seines Charakters, seiner blinden Tollkühnheit und seiner erhabenen Todesverachtung konnten unter gewissen Bedingungen andere reine und unedle Empfindungen sich herausschälen, – und so war es hier.

Er schämte sich! Er hatte wie ein erbärmlicher Brigant gehandelt, er war hier in ein zartes Liebesnest eingebrochen mit der Absicht, sich zu bereichern und was fand er?! Ein Heiligtum der Urgewalt der Liebe, die bisher unter dem Schleier der Freundschaft sich keusch verborgen hatte!

Lord Cray legte den Brief mit fast feierlicher Sorgfalt auf den Frisiertisch zurück und überlegte.

Wenn nicht dort draußen der farbige Unteroffizier und die halbwilden Reiter auf den Erfolg seiner Untersuchung der ganzen Angelegenheit gewartet hätten, würde er sich still entfernt und überhaupt nichts mehr unternommen haben, so aber mußte irgend etwas geschehen, ohne Lotte bloßzustellen.

Cray freute sich über sich selbst, er atmete förmlich auf, er fühlte seit langem wieder, wie das Gute in ihm über das Schlechte die Oberhand gewonnen hatte, und er war Lotte und Medem dafür dankbar.

Eine tiefe, ehrliche Rührung hatte sich seiner bemächtigt, eine Weichheit, die auch ihre Ursachen hatte. Er verstand es, seelische Regungen zu sondieren und daraus ein endgültiges Urteil zu ziehen. Sein melancholischer Blick ruhte wieder auf Lotte, die da so ruhig schlief und atmete. Auch für ihn hatte es einmal wie bei den meisten Männern eine Zeit gegeben, die in ihren allerletzten Auswirkungen nie als beendet gelten kann, eine tragische Episode, die vielleicht vergessen schien, weil die Gegenwart sie überwucherte, die trotzdem in Wirklichkeit eingebrannt war in das Lebensbuch der Erinnerungen wie ein schwarzer Fleck, – auch eine Liebestragödie, wie konnte es wohl anders sein?!

Howard Cray hatte jenes Mädchen damals verspielt – verloren, wie er am Spieltisch Unsummen vergeudet hatte. Sie hatte ihn aufgegeben. Da floh er vor sich selbst nach Indien. Seitdem lastete es wie ein Fluch auf ihm, keine Kugel wollte ihn, selbst das tödliche Blei mied ihn, und er wurde allgemach das, was er heute war: Ein … Verspielter!!

Glückliche Lotte! Er gönnte ihr diesen Mann, der wirklich Mann war, Herr über sich selbst und über die Verirrungen, die zur Daseinstragödie führen, – er lächelte schmerzlich und nickte Lotte traurig zu, als wäre sie wach und sein Beichtvater soeben gewesen.

Da regte sie sich, vielleicht hatte sie im Schlaf seinen Blick gespürt. Mit einem Ruck setzte sie sich aufrecht und blinzelte wie benommen in das Licht der Nachttischlampe, wandte nun langsam den Kopf und schien ihn erst jetzt zu bemerken. Sie riß die dünne Seidendecke bis zum Halse hoch und errötete so tief, daß sogar ihre durchsichtigen Ohrläppchen sich dunkler färbten.

Lotte hatte nicht geschlafen in dieser ganzen Zeit der unerträglichen Spannung und der Ungewißheit, wie dieses verzweifelte Spiel auslaufen würde, – nicht eine Sekunde war der Schlaf zum barmherzigen Tröster ihrer hastenden Gedanken geworden. Wie sollte das auch geschehen?!

Sie hatte nach Medems Diktat auf ein leeres Blatt eines alten Briefes in aller Eile das Schreiben flüchtig hingeworfen, das die Täuschung noch glaubwürdiger gestalten sollte, ihre Hand hatte beim Führen des eiligen Bleistifts gezittert, und nur ein großes Staunen über Berts Geistesgegenwart hatte sie neben einer unerklärlichen stillen, unmerklichen Freude erfüllt. Und als sie dann das abschließende – „deine kleine Lo …“ unter den trügerischen Brief gesetzt hatte und auf Berts Geheiß ins Bett geschlüpft war und die Augen fest geschlossen hatte, hielt diese stille Freude noch immer an und erleichterte ihr das Sich-hineinfinden in diese ihre Mädchenehre austilgende Situation.

Jack und Bert, ihre Lebensretter, waren nun nicht nur vollkommen eins geworden, sondern Bert hatte den Rivalen verdrängt und nur noch sein Bild lebte und bewegte und handelte vor Lottes geschlossenen Augen, – sie horchte auf seine Schritte, sie hörte, wie er sich an dem Frisiertisch zu schaffen machte, und sie spürte die innige Verbundenheit, die diese Nacht zwischen ihnen herbeigezwungen hatte durch die Macht der Umstände.

Gewiß, – all das zerflatterte wieder, als sie die leisen Geräusche draußen auf dem Balkon vernahm und die Entscheidung nahte. Da war wieder das Zagen und die Bangnis und das Zweifeln über sie hergefallen, ob nicht doch dieses ihr unendlich große Opfer umsonst sein würde, dieses scheinbare Eingeständnis ihrer verlorenen Reinheit?

Und dann, als Cray sich noch immer nicht gemeldet hatte, kam der Augenblick, wo ihre Kraft versagte: Sie wollte die endgültige Entscheidung beschleunigen, sie saß nun aufrecht da, und Scham und Ungewißheit und bebende Furcht benahmen ihr fast die Klarheit des Denkens, sie war nicht sie selbst, als sie, ganz instinktiv das Richtige wählend, empört und doch befangen dem Eindringling zurief: „Was tun Sie hier …?! Wie können Sie …“

Medem, dem es ähnlich ergangen war, sprang auf und stellte sich zwischen sie und den Lord, entzog ihm Lottes Anblick und riß so die Leitung der ernsten Komödie, die zum Drama werden konnte, an sich.

„Lord Cray, halten Sie es eines Ehrenmannes für würdig, zu solchen Methoden zu greifen, um – ein vorteilhaftes Geschäft zu machen?!“

Schneidend wie ein Hieb seiner Elefantenhautpeitsche waren die Worte für den Gegner, der wie er im Schatten stand. Weder Medem noch der Lord konnten den Gesichtsausdruck des andern erkennen. Beide standen in Wahrheit im Schatten großer, schwerer gegenseitiger Irrtümer über ihre wirklichen Empfindungen und Absichten.

Medems Worte trafen Cray brutaler als ein Schlag mit der Peitsche, trafen ihn in einem Zustande, wo die innere Einkehr über die feinfühlige Empfindlichkeit bereits gesiegt hatte.

Cray wußte, daß Medem berechtigt war, ihn für einen Schurken zu halten. Er senkte den Kopf, als hätte wirklich ein Schlag ihn getroffen und fragte nur müden Tones: „Wer war die Frau, die dem Radscha Ghawi folgte? Es war eine Weiße!“

Bert traute ihm nicht. Der seltsam gleichgültige und unnatürlich leise und bescheidene Ton des Lords klang ihm wie eine Warnung. Er behielt den anderen dauernd im Auge und erwiderte schroff: „Lotte erklärte mir, Hanna Reis sei hier plötzlich erschienen und habe aus Lorenzens Waffenschrank zwei Pistolen und Patronen gegen Lottes Willen entnommen. Möglich, daß sie Ghawi gefolgt ist, – ich weiß es nicht, und Lotte erst recht nicht. Uns geht das nichts an, und …“

Cray hatte überrascht den Kopf gehoben. „Hanna Reis, sagten Sie? Etwa die Tochter Ernest Daltons aus seiner kurzen Ehe mit der geborenen Reis, die es nach der Scheidung durchsetzte, daß ihr Kind ihren Namen trüge?“

Medem lachte hart. „Ja, und die dann sehr bald starb, weil Dalton sie seelisch vernichtet hatte, – Hanna Reis, die mir erst sehr spät verriet, woher sie stammte und wo ihre Wiege gestanden hatte: In Allahabad …!“

„Also die!“ meinte Cray sehr gedehnt und nachdenklich, und er zweifelte nicht, daß diese Hanna die Reiterin gewesen, – ihm ging nur anderes durch den Kopf.

„Wohl Ihre Verbündete, Herr Medem?“ fügte er mit leichtem Erstaunen hinzu. „Natürlich Ihre Verbündete oder schon die Peter Lorenzens! Mir wird nun vieles klar, sehr vieles!“

Medem täuschte sich abermals in Crays Gedanken und Absichten. Er konnte nicht ahnen, daß er einen völlig verwandelten Cray vor sich habe, der keine hinterlistigen Manöver plante, er schaute dem Gegner in die Augen, aber es war Schatten und ungewisse Dämmerung um sie her, und er vermochte weder aus des Lords Gesichtsausdruck noch aus dessen letzten Worten mit Gewißheit zu entnehmen, ob die Gefahr vorüber oder nicht.

Er wollte ein Ende machen. Er hörte Lottes hastige und stoßweise Atemzüge, und er versetzte sich unschwer so vollkommen in ihre Stimmung hinein, daß er mit drohender Heftigkeit Cray zurief, wobei nur die halb erkünstelte Erregung seine Stimme etwas dämpfte:

„Was wollen Sie nun eigentlich noch hier?! Ihr Zartgefühl sollte Ihnen sagen, daß Sie hier überflüssig sind. Oder nehmen Sie etwa an, und es scheint fast so, daß Lotte nachts hinter einem Manne herreitet, den sie nur flüchtig kennt?! Genügt es Ihnen, wenn ich Ihnen versichere, daß ich ab elf Uhr abends in diesem Zimmer weilte und mich natürlich nicht melden konnte, als Sie zum ersten Male vor Stunden hier waren und den Fürsten suchten und Lotte vielleicht sehr verlegen fanden. Hätten Sie das Vindhya-Schloß damals durchsucht, würden Sie mich hier gefunden haben, und daß Lotte unter diesen Umständen erregt und unsicher und – –“

Cray hatte eine abwehrende Handbewegung gemacht, die von Medem leider wiederum falsch gedeutet wurde.

„Wenn Sie mir nicht glauben“, fuhr er auf, „werde ich Ihnen mein Ehrenwort geben, daß …“

Bisher hatte Lotte geschwiegen. Jetzt, wo Medem für sie auch noch etwas opfern wollte, das ihm so, wie sie ihn jetzt endlich kannte, heilig und unverletzlich war, wie seine ganze Persönlichkeit rein und unantastbar erschien, durfte sie diese Preisgabe seiner Ehre niemals dulden. Sie warf die dünne Seidendecke von sich und flog auf Medem zu – und in diesem Augenblick folgte sie nur der Stimme ihres Herzens und der jähen Erkenntnis, daß sie Bert über alles liebe und ihn vor sich selber und seinen Opfermut schützen müsse, – und umschlang ihn, schmiegte sich an ihn und verschloß ihm den Mund mit ihren weichen, heißen Lippen, hing an seinem Halse mit gesenkten Lidern und jagendem Herzen und kostete in seliger Selbstvergessenheit diese Minuten ohne jeden Gedanken an den Zuschauer dieser Szene mit einer überströmenden Hingabefreudigkeit aus.

Sie hörte nicht einmal, daß Cray einige leise Worte sprach. Dann drängte Medem sie sanft von sich. Sie kam wieder zu sich und schaute dorthin wo der Lord gestanden hatte …

Die Stelle war leer … – –

 

12. Kapitel.

Der Kerker am Lotossee.

Der alte Mharatte mit dem langen schwarzen, von einigen Silberfäden durchzogenen Vollbart saß regungslos in der halbdunklen Ecke seines verschlossenen Gemaches im Lotos-Bungalow und rauchte mit gleichmäßigen Bewegungen wie ein Automat eine Zigarre. Drüben neben dem Tische, wo die einzige Petroleumlampe stand, kauerte die erschöpfte Hanna Reis in einem Korbsessel und erstattete dem Vertrauten des Sahib mit den Türkisaugen Bericht. Sie sah den Inder zum ersten Male, hatte aber von ihm schon genug gehört, da sowohl Medem als auch der Fakir Birra, den Hanna ja weit besser als den allmächtigen Plantagendirektor kannte, in diesen letzten Tagen wiederholt von ihm gesprochen hatten und stets in Ausdrücken der größten Hochachtung.

Etwas Geheimnisvolles umgab diesen Mann, der früher, als Hanna nur mit Peter Lorenzen direkt verhandelt, nie erwähnt worden war. Aber das wunderte Hanna nicht weiter. Der Nanna-Sahib hatte schon immer seine kleinen und großen Geheimnisse gehabt und durch sein Geld sich Aufschluß über Dinge verschafft, die er dann je nach Gelegenheit so oder so verwertete, – genau wie er Hanna selbst eines Tages den verlockenden Vorschlag gemachte, als Agentin in seine Dienste zu treten und gleichzeitig darauf hinwies, daß er ihr auch Gelegenheit böte, mit dem Manne abzurechnen, den sie nie als ihren Vater betrachtet hatte, denn daß ihre arme Mutter im Irrenhause in tiefster geistiger Umnachtung gestorben war, hatte alle Bindungen der Blutsverwandtschaft ausgetilgt.

Ernest Dalton war für sie nur ein Fremder, der, wenn es überhaupt noch eine Gerechtigkeit gäbe, eines entsetzlichen Todes sterben müßte zur Strafe für die Niedertracht und Gemeinheit, mit der er später ihre Mutter absichtlich gequält hatte.

„Der Fürst schläft nun“, berichtete sie weiter. „Ich habe ihn in den Berg gebracht, und er sank auf das Bett wie ein Toter. Er hat sehr viel Blut verloren, aber bei seiner kerngesunden Natur will das nichts besagen.“

Der Mharatte erwiderte mit der Zigarre im Munde in seinem nicht ganz einwandfreien Englisch: „Was Sie mir zuerst erzählten, gibt mir zu denken. Halten Sie den Radscha in diesem Punkt für aufrichtig? Ich hatte bisher angenommen, er wäre nur Miß Astrids Verlobung wegen so eilig von Venedig abgereist, und mithin sei es die Nachricht von Astrids Verlobung gewesen, die ihn hierher zurückgetrieben habe.“

Hanna Reis hatte sich derweil durch die Tasse starken Mokkas, die sie sich selbst auf dem Kocher zubereitet hatte, genügend ermuntert und zündete sich erst einmal eine Zigarette an, bevor sie die Annahme des Mharatten mit wenigen Worten schlagend widerlegte. Ghawi sei ein viel zu kluger Kopf, als daß er Astrid nicht durchschaut haben sollte, ihr hätte doch an seiner Person nie etwas gelegen, nur der Thron von Beldari habe sie gelockt, und hinsichtlich der eiligen Heimkehr lägen wohl ganz andere Gründe vor, die weder mit Astrid noch etwa mit Medem etwas zu tun haben könnten. Auf keinen Fall hege der Fürst eine geheime Abneigung gegen den Verlobten Astrids, das möchte sie hier besonders betonen, denn er habe vorhin während der Flucht vom Lotossee hierher eine Bemerkung gemacht, die ihr unverständlich geblieben, nur das eine sei daraus bestimmt hervorgegangen, daß Ghawi demnächst heiraten werde, da nun die erwählte Frau für ihn gefunden sei. „Sie werden ja die Heiratsgesetze der Gond kennen …“ schloß sie ihre Worte, „oder genauer gesagt: Die alten Überlieferungen, nach denen die Gattinnen der Herrscher aus der Dynastie der Dämonen aus irgend einem unbekannten Lande kommen.“

„Ich war ein Narr“, murmelte der Mharatte leise. „Astrid hat sich für diese Gebräuche stets sehr interessiert, ich glaube nun den Grund zu wissen, weshalb sie einmal im Übermut behauptete, sie habe stets drei Eisen im Feuer, – das eine war Ghawi, das zweite war Medem, und das dritte ist die … zukünftige Gattin des Fürsten. Selbst bei mir hat es lange gedauert, bis ich meinen fürstlichen Freund voll erkannt hatte, es gibt eben Dinge, über die er nie sprechen darf. Jedenfalls ist meine Sorge, er könnte gegen Medem aus Eifersucht intrigieren, lediglich auf meine Unkenntnis der Heiratsabsichten des Radscha zurückzuführen. Ich bin beruhigt, jedoch nicht in allem, Miß Reis, ich habe für Sie noch einen Auftrag, – ausruhen können Sie sich später, diese Dinge sind zu wichtig. Nehmen Sie zwei Pferde mit, eins zur Reserve, und dann …“ – es wurde ein zum Teil heikler Auftrag, doch gerade dies reizte Hanna, gleichzeitig freute sie sich, daß man ihr so viel Vertrauen entgegenbrachte, obwohl sie über die Person dieses Mharatten, der so gut in die geringsten Kleinigkeiten eingeweiht war, keinerlei Klarheit gewinnen konnte.

Gegen zwei Uhr morgens ritt sie in gestrecktem Galopp, das Reservepferd am Leitseil hinter sich, auf nur ihr und wenigen Eingeborenen vertrauten Pfaden zum Vindhya-Schloß, und erst in dessen Nähe wurde sie vorsichtiger und wollte sich gerade zu Fuß vollends heranpirschen, als sie zu ihrer Überraschung Bert Medem gewahrte, der in seinem Khakijagdanzug und mit dem Tropenhelm tief im Gesicht langsam auf seinem besten Pferde dahergeritten kam und offenbar nach dem Lotos-Bungalow wollte.

Er war so sehr in Gedanken, daß er zusammenfuhr, als sie ihn anrief und nun sofort einen Teil ihres Auftrages erledigen konnte. Medem erklärte ihr sichtlich widerwillig, es sei ihm gelungen, Crays bisherige Gegnerschaft zu beseitigen und den Lord zu bewegen, nach Beldari zurückzukehren. Er erteilte Hanna Reis diese Auskunft mit so knappen Worten und verabschiedete sich dann so hastig, daß sie ihm erstaunt nachblickte, denn dies sah genau so aus, als wollte er allen weiteren Fragen entgehen.

Kopfschüttelnd setzte nun auch Hanna ihren Weg fort, der sie mitten in die Dschungelwildnis führte. – –

 

13. Kapitel.

Es konnte nicht weiter wundernehmen, daß die zum Schutze des festlichen Krönungszuges seitwärts vorgeschobenen Bewaffneten auf ihren Elefanten infolge des plötzlichen Geschreis und der Hilferufe beim Haupttrupp ihre Nerven verloren, zumal die Leute mit einem Überfall stets gerechnet und durch die andauernde Aufmerksamkeit überreizt und nur zu leicht geneigt waren, überall Gespenster zu sehen.

Wer dann eigentlich mit der ganz sinnlosen Schießerei begonnen hatte und ob wirklich die ersten Schüsse aus dem Dickicht gefallen waren, konnte nie festgestellt werden. Tatsache blieb, daß der eine Gond, der mit dem veralteten Maschinengewehr nicht recht umzugehen wußte, mit einem Male zu feuern begann und daß die Geschoßgarbe so unglücklich lag, daß der Elefant, auf dem die Gräfin und die anderen Gäste der Krönungsfeier saßen, an der empfindlichsten Stelle getroffen wurde, am Rüssel, und unter grimmen Trompetentönen davonzurasen begann. Nur Doktor Perkins, der inzwischen doch schon den Tragkorb verlassen hatte, um den um Hilfe Rufenden beizustehen, entging dieser tollen Flucht des Dickhäuters genau so wie der Mahut, der beim Pfeifen der ersten Kugeln schleunigst sein wertvolles Leben durch einen Sprung hinter die nächsten Felsen in Sicherheit gebracht hatte, so daß nur die Gräfin, Günter und Patrick die Leidtragenden blieben.

Das mächtige Tier stürmte mit steil erhobenem Rüssel unter dauerndem schrillen Schreien in das Dickicht hinein und war durch nichts aufzuhalten, obwohl der Herr Oberzeremonienmeister doch sehr gut mit Elefanten umzugehen wußte, da er auch mal Stallbursche in einem Zirkus gewesen war. Patrick O’Konnor versuchte denn auch seinerseits alles, was irgendwie geeignet gewesen wäre, den Elefanten zur Vernunft zu bringen, und vielleicht wäre ihm dies auch gelungen, da Patrick schon mit ganz anderen Bestien fertig geworden war, aber die verängstigte Gräfin und auch Günter bewiesen jetzt, daß sie es mit der Stimme eines Rüsselträgers sehr gut aufnehmen konnten und schrien noch lauter als der arme Elefant, der doch alle Ursache hatte, gegen diese Verletzung seines wertvollsten Organs zu protestieren. Zu allem Unheil raste er noch unter einem Baume mit starken Ästen entlang, und auf diese Weise wurde das schöne Baldachindach urplötzlich abgerissen und blieb an dem Aste hängen.

Patrick fluchte, und er konnte fluchen. Er vergaß seine ganze Würde als Oberzeremonienmeister und verfiel wieder in den Ton jener Zeiten, als er Koch auf einer dreckigen Brigg gewesen war, die zwischen Kalkutta und Saigon hin und her pendelte und ausgerechnet nur als Fracht immer siamesische Kulis an Bord hatte, die aus allen Öffnungen nach Zwiebeln stanken.

Daß die Gräfin um Hilfe rief und wie ein Häufchen Unglück sich am Rande des Tragkorbes festhielt, war ja ganz in der Ordnung, daß aber auch der junge Herr ein Lamento machte, als steckte er schon am Spieße und sollte geschmort werden, dies verdroß den guten Patrick denn doch zu sehr, und die Ermahnungen, die Günter einstecken mußte, hätten Patrick bestimmt für Jahre wegen Beleidigung ins Gefängnis gebracht.

Immerhin hatte diese Auslese von Kraftausdrücken das eine Gute, daß Günter schließlich einsah, wie wenig passend er sich hier als daheim so berühmter Jäger benahm, – er wurde still und da der Elefant soeben ein tiefes Sumpfloch passiert und seine Reiter gründlichst mit grünlichem Morast bespritzt hatte und selbst durch das Bad etwas vernünftiger geworden war, fand das unerwartete Wiedersehen zwischen Hanna Reis und ihrem stillen Verehrer von Venedig her wenigstens nicht unter Umständen statt, die für Günter allzu blamabel waren.

Inzwischen hatte Hanna den zweiten Teil ihres Auftrages ausgeführt und den opiumverseuchten Piloten aus dem Höhlenloch herausgeholt und ihm nicht nur die Freiheit, sondern auch eine runde Summe Geld geschenkt, allerdings unter der Bedingung, daß er gefälligst über die Art der Landung des noch in der Nähe liegenden und unversehrten Flugzeuges sowie über die Personen schwiege, die er hier beieinander gesehen habe.

Der Eurasier war heilfroh gewesen, daß er so vorteilhaft bei der ganzen Geschichte abgeschnitten hatte, und verschwand im Umsehen. Dann vernahm Hanna auch schon den Lärm des nahenden Dickhäuters, sah den grauen Koloß heranstürmen. Sie schaltete schnell ihre Taschenlampe ein und warf sich dem Elefanten, ihre Leuchte im Kreise schwingend, das gewohnte „Tschio … Tschio …!!“ (Knien … knien …!!) rufend, in den Weg, wobei sie nicht allzu viel wagte, da ein zahmer Elefant genau so schnell wieder zur Vernunft kommt, wie er zuweilen in Unarten verfällt. Jedenfalls stoppte der Dickhäuter sein Tempo ab und blieb vor Hanna stehen, die nun erst sah, welcher Art die Reiter des Tieres waren.

Günters schöner weißer Tropenanzug hatte alle Sauberkeit eingebüßt, und auch sein Gesicht glich durchaus einer grün angepinselten Maske, so dick und zäh klebte der Schlamm darauf. Die Gräfin wirkte nicht viel dekorativer, und wenn Hanna jetzt taktlos gewesen wäre, hätte sie sich vor Lachen die Seiten gehalten und würde es dann wohl für immer zumindest mit der alten Dame verdorben haben. Sie lachte nicht, sondern fragte nur mit allem Zartgefühl: „Wie sind Sie denn in diese unangenehme Lage geraten, Frau Gräfin?“

Und das war ihr hoch anzurechnen, denn Frau von Arrenberg glich in diesem Moment, wo sie ihre kunstvolle Perücke schleunigst zurechtschob und dabei all die Löcher und Flecken ihrer Bluse sichtbar wurden, mehr einem der weiblichen Götzenbilder der Gond als einer Dame, die einst den Mr. Olliver Dalton um zwanzigtausend Mark erleichtert und ihn dann vor die Tür gesetzt hatte.

Auf diese ungewöhnliche Weise fand der Einzug der Arrenbergs auf Schloß Vindhya ohne jegliches Gepränge in aller Stille statt, und die Gräfin und Günter waren froh, als sie erst in der Badewanne saßen, was sehr nötig war.

Patrick hielt sich nach diesem kleinen Intermezzo sowohl an die ihm von Hanna kredenzte Brandyflasche als an Medems beste Zigarren, – das Baden hatte Zeit, zunächst mußte er mal seiner verehrten Miß Chef von den Vorgängen in Beldari und von der Schlangenkrone erzählen, mit der man den neuen Radscha gekrönt hatte.

„Ich sah genau, Miß, daß es fünf Kobras waren. Und sie pendelten an Schnüren, aber ich fand keine Zeit mehr zu einem Warnungsruf.“

Hanna Reis blickte starr zu Boden. Es war ihr Vater, der heute dort im Hohlweg mit den Tod gefunden hatte, und sie schwieg nun lange Zeit und verließ dann still den Saal mit den leuchtenden Springbrunnen. – –

Die Oberfläche des Lotossees erschauerte. Ein Windstoß fuhr darüber hin. Er kam von den Höhen der Vindhyaberge, von Westen, wo ein dunkler Streifen am Firmament lagerte und zuweilen ein fahles Leuchten über das düstere Gewölk hinlief. Unter dem Wehen des frischen Lufthauches kräuselte sich der Spiegel des Sees, und die Lotosblüten verneigten sich und richteten sich wieder auf und lauschten weiter.

Der See hatte geträumt. Er barg so viele Geheimnisse, daß er nichts Unwirkliches zu träumen brauchte, sein Dasein war ein einziges großes Abenteuer von Geburt an. Er war alt, uralt, sein Gedächtnis blieb rege, nur die Jahrtausende konnte er nicht mehr zählen, die hinter ihm lagen. Die Stunde seiner Geburt war jene Zeit gewesen, wo die Dämonen der Tiefe sich gerührt hatten, als wollten sie empor zur Oberfläche, aber sie spien vor Anstrengung nur Rauch und Feuer und die Kraft ihrer Fäuste reichte nicht hin, die starke Erdrinde zu sprengen. Nein, nur dazu, daß die Berge wankten und die Berge zur Ebene und die Ebenen zu Bergen wurden und aus den Tiefen die Adern des Urgesteins emporquollen, als wollte die Welt ein steinernes Gerippe sich zulegen. Wasserquellen sprudelten, wo bis dahin Dürre geherrscht hatte, Flüsse und Seen versiegten, und die Tiere, die damals die Erde bevölkerten, kamen jämmerlich um und ihre Riesenleiber, oft achtzehn Meter lang, verwesten und verpesteten die von den Schwefelschwaden erfüllte Luft.

In diesen Tagen, wo alles sich veränderte und nur erst menschenähnliche Geschöpfe die Welt bewohnten, wurde der Lotossee geboren unter Donnern und Tosen und Gestank des Atems der unterirdischen Geister, und unter dem Brüllen der in Feuer und Rauch verendenden Urgeschöpfe, deren Skelette auf seinem Grunde wie weiße Baumstämme, unfaßbar groß, im Schlamme ruhten. Der Wind kam und führte irgendwoher Pflanzensamen herbei, die Vögel kamen und brachten anderen Samen mit, die Tiere der Wildnis kamen und stillten ihren Durst und mordeten einander, denn sie wollten satt werden, Menschen erschienen und wohnten in der Höhle drüben am Ufer, wo ein Schopfreiher von fernen Inseln den Samen des mächtigsten der Baumgiganten, eines Rasamala, in den Humus geworfen hatte.

Der Baum war gewachsen und gewachsen und überragte seine bescheidenen Brüder und ward ein König der Berge, und in seiner Krone, die wie eine Welt für sich war, wohnte das lustige Volk der Affen und die krächzende Schar der indischen Raben, die den Affen ihr Schnattern nachmachten und sie verhöhnten, als vor kurzem – weshalb wußte niemand – der Nanna-Sahib und der Fakir Birra das Affenvölkchen verscheuchten durch den Rauch nassen Holzes und nachher in den von Schlangenakazien umkränzten Felsen umherkletterten, verschwanden und wieder auftauchten und davonritten und mit ihren Lastpferden, die allerlei herbeigeschafft hatten, als sollte hier ein Heim eingerichtet werden für Menschen, die jetzt die Erde sich untertan gemacht hatten und sogar die Luft über der Erde und dahinflogen mit brausendem Rattern und mit einem Streifen Gestank hinter sich.

Der See hatte genau aufgepaßt, – aber er bemerkte keine Wohnung, es blieb alles wie es gewesen, nur im Leibe des Königs der Bäume steckten eiserne dicke Nägel, und der stolze Rasamala ärgerte sich darüber. Dann kam eine Nacht, wo wieder fernher das Surren des Riesenvogels mit dem sich drehenden Schnabel aus Holz erklang und nach einer Stunde Reiter auftauchten und ein Weib zwischen ihnen, die weinte.

Sie … weinte noch … In stillen Nächten der letzten Tage hatte der Lotossee eifrig gelauscht, und die Lotosblüten hatten die weißen Ohren gleichfalls gespitzt und die Köpfchen zusammengesteckt und scheu geflüstert. Ein Weib weinte irgendwo … Und der Tiger, der zur Tränke kam, duckte sich und windete und wußte, daß eine Beute in der Nähe, die wie ein Kind greinte, aber er fand sie nicht, denn die Schlangendornen fürchtete er genau so wie die echten Brillenschlangen, weil an ihren Stacheln der giftige Unrat der grünen, blau und rotgepunkteten Fliegen klebte, der böse Geschwüre erzeugte oder gar das Siechtum brachte.

Der See war erwacht. Ein einsamer Reiter kam wie schon gestern und verbarg sein Pferd und verschwand dort, wohin sich nicht einmal der Tiger wagte. Ein zweiter Reiter kam, und der ritt so langsam, als schliefe er im Sattel, doch er war wach und wollte nur die Stelle besuchen, wo er das junge Weib mit dem wehenden Blondhaar, das er liebte und das ihn heute geküßt hatte, aus den gierigen Armen der Schlingpflanzen gerettet hatte.

Bert Medem brachte sein Pferd in Sicherheit, schritt nun zum Ufer und setzte sich und starrte gedankenverloren auf die schillernde Fläche des Sees und auf die Lotosblüten, nach denen er Lotte den Namen gegeben – seiner Lotte, – und doch nicht seiner Lotte, – sie gehörte einem anderen, und ein Medem streckt seine Hand nicht aus nach fremdem Besitz, selbst dann nicht, wenn dieses Mädchen ihn nun plötzlich aus Dankbarkeit zu lieben glaubt.

Ganz still saß er da, umgeben von dem Duft des Lotosweihers.

Seine Lippen brannten noch in der Erinnerung dessen, was nie wieder sein durfte, denn – er kannte die Frau nun, und die erste, die ihm Liebe und Treue geschworen, hatte ihn verraten und belogen und ihr frivoles Spiel mit ihm getrieben und war der ihr zugedachten Strafe entgangen, weil ein anderer ihm zuvorgekommen war. Er wußte, wer. Aber seine Achtung vor dem anderen war zu groß, als daß er es gewagt hätte, ihn zu fragen: „Weshalb überließest du sie nicht mir, ich hatte das größere Anrecht auf sie, denn mich hatte sie betrogen, nicht dich!“

Über ihm in den Sträuchern schluchzte die süße kleine Bul-Bul und sang den Sternen und der Mondsichel und den keuschen Lotosblumen ihre schmelzendsten Lieder.

Medem grübelte und schreckte plötzlich auf.

Sein Freund, der Mharatte, kletterte aus den Felsen zur Uferböschung hinab und entfernte sich langsam. Bert schaute ihm nach, dann horchte er, … es horchten mit ihm der Weiher und die Lotosblumen und der Tiger, der noch immer in der Nähe lauerte.

Über den stillen See ging abermals ein Erschauern hin wie ein Frösteln der Angst. Die Lotosblüten zogen ihre weißen Kelche zusammen und drängten sich näher aneinander wie verschüchterte Seelchen.

Eine Frau weint irgendwo. – Astrid weinte, jedoch nicht aus Schmerz über den Verlust der Freiheit, sondern aus ungezügeltem, ohnmächtigem Haß. Ihr Kerker war eine jener alten versteckten Tempelhöhlen, die in Jahrhunderten unter der grünen Wildnis verschwinden wie Zeugen einer Vergangenheit, die das Licht scheut.

Astrid Dalton saß auf dem Opferstein, der einst das Blut von Menschen trank. Sie saß da wie eine finstere Gottheit und lechzte nach demselben edlen Safte, den alle Völker der Urzeiten der Menschheitsgeschichte als kostbarste Opfergaben denen darbrachten, die sie verehrten und versöhnen wollte. Astrid dachte nicht an Versöhnung, nur an Rache. Des alten Mharatten eisige Worte hatten in ihr diesen Haß heute zur Weißglut erhitzt. Doch ihr Verstand arbeite kühl und klar und entwarf Pläne der Befreiung und der Vergeltung.

Sie hob den Kopf. Starrte zur Tür aus Eisenholz mit neuen Außenriegeln und glaubte, ihr Peiniger kehre nochmals zurück. Die kleine Lampe warf spärlichen Schein bis zu den Steinstufen, die in die Tiefe führten. Ein Mann tauchte auf … Astrid stockte der Atem, ihr Herz drohte stillzustehen, – im nächsten Augenblick jubelte sie insgeheim, denn sie glaubte noch immer Mittel zu besitzen, einen Mann zum Sklaven zu machen, der so rein war wie Bert Medem … –

 

14. Kapitel.

Lottes zweiter Ritt zum Lotossee.

Lotte hörte nicht einmal, daß Cray einige leise Worte sprach. Dann drängte Medem sie sanft von sich. Sie kam wieder zu sich und schaute dorthin, wo der Lord gestanden hatte …

Die Stelle war leer … – –

Lotte blickte sich geistesabwesend im Zimmer um, und in diesen Sekunden, in denen sie nach ihrem Feinde suchte, wurde sie völlig wach, der Rausch war verflogen, und die grausame Wirklichkeit überfiel sie mit all den demütigenden Vorstellungen der Ereignisse der jüngsten Vergangenheit und einer Gegenwart, die durch die Anwesenheit Medems in ihrem Schlafzimmer ihr Schamgefühl erneut wachrufen mußte. Wäre es anders gewesen, dann würde Lotte eine Natur jener Art gewesen sein, die wohl körperlich rein geblieben, seelisch aber längst dem moralischen Niedergang verfallen ist. Und das traf bei diesem Mädchen in nichts zu, obwohl sie weder prüde noch in ihren Ansichten rückständig oder gar pharisäisch veranlagt war.

Daß sie in dieser Nacht zu allererst daran dachte, daß Medem einer anderen gehörte und daß sie selbst sich vorhin vergessen und bloßgestellt hatte, als ihr Herz, nicht der kühle Verstand, sie in Berts Arme trieb, lag nur in ihrer ganzen Charakterveranlagung. Der Rausch war verflogen, die Vernunft forderte wieder ihr Recht, und dieses Recht hieß ohne jede Klügelei: Klarer Überblick über das, was nunmehr geschehen mußte!

Lord Cray war gegangen. Medem weilte noch immer in ihrem Schlafzimmer, Medem war verlobt, sie selbst war noch an Günter gebunden, obwohl sie fest entschlossen war, diesen Irrtum schnellstens auszutilgen, – trotzdem, vorläufig war sie Braut, genau wie Medem der anderen gehörte …

Auf ihren Wangen flammte noch die Röte der seligen Minuten des Selbstvergessens. Mit gesenktem Kopfe stand sie vor Bert, und sie tat nun das, was in dieser Lage am natürlichsten, sie fragte leise und zaghaft:

„Wird Cray uns geglaubt haben?“

Medem begriff sehr wohl in den Grundzügen Lottes jetzigen Seelenzustand, und abermals tat sie ihm unendlich leid, und er machte nicht mehr den geringsten Versuch, dieses Mitgefühl als gefährliche Verführerin von sich zu weisen wie noch vor kurzem, – auch bei ihm hatte bereits die Wandlung zum Besseren eingesetzt. Er griff nach ihrer Hand und trat näher auf sie zu.

„Lotte, kleine Freundin“, sagte er mit so viel Wärme und so viel zarter Kameradschaftlichkeit, daß das Mädchen schon allein für diese feinfühlige Art ihm dankbar war, „wir haben gesiegt. Cray ist überzeugt, daß Sie niemals in dieser Nacht das Schloß verlassen haben, und er ging mit den Worten aus Schillers Räubern, die er nur ein wenig umformte: „Man hat zehntausend Rupien geboten, wer den großen Räuber Wasi Saud droben an der Grenze von Bhutan fängt. Damit wäre mir geholfen …“ Und dann nickte er mir freundlich zu, bat noch, ich solle Sie bestens von einem Bekehrten grüßen, und verschwand, – genau wie Karl Moor davongeht, einem armen Schelm mit elf Kindern zu helfen …“

Bert hatte das letzte halb scherzend gesprochen, und er traf den harmlosen Ton so gut, daß Lottes Befangenheit immer mehr wich und sie den Kopf hob und ihn nun schon völlig frei anschauen konnte. „Er ist doch wohl aus einem Holze geschnitzt“, fügte Medem ehrlich hinzu, „das nur stellenweise wurmstichig ist. Wünschen wir ihm alles Gute für seine Zukunft, er kann es brauchen, ich glaube, wir werden ihn nie wiedersehen.“

So drängte er sehr geschickt Crays Person zunächst in den Vordergrund, und auch das durchschaute Lotte als eine Äußerung größten Taktgefühls. Nur ein Mann mit einem wahrhaft goldenen Herzen konnte sich bewußt rücksichtsvoll eine solche Taktik zurechtlegen, um die allerletzte Peinlichkeit für die Gefährtin dieser zweifelhaften Komödie zu verwischen. War es da ein Wunder, daß in dem ebenso feinfühligen Herzen dieses Mädchens, das ein so stark ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl besaß, nun der Wunsch aufkeimte und rasch zum Entschluß wurde, die eigenen Verfehlungen genau so taktvoll wieder wett zu machen und Bert zu beweisen, wie so ganz anders sie nun über ihn dachte?! Es war bei einer Natur wie Lotte eine Pflicht, kein Wunsch. Alle Scheu, alle Erinnerung an das Zweideutige des gewagten Spieles um ihre Freiheit waren geschwunden, nur die Wärme der Dankbarkeit erfüllte ihr Innerstes und dazu die stille Anerkennung seiner feinen Diplomatie, deren feinster Schachzug der trügerische Brief gewesen.

Diese Lotte durfte es nun getrost wagen, Bert nun auch die andere Hand hinzustrecken und ihn dann neben sich auf den Diwan zu ziehen. Er hatte sie kleine Freundin genannt, sie redete ihn einfach mit Bert an, und dies kam ihr aus einem Empfinden engster Verbundenheit so selbstverständlich vor, daß es genau so warm und harmlos und ungezwungen klang, wie es zum Teil gemeint war, zum Teil nur, denn Lotte kannte sich: Sie liebte Medem, und daß diese Liebe, die so wunderbar über Jacks Fantasieperson zu Bert geführt hatte, nie wieder erlöschen würde, das wußte sie, dazu war dieses Gefühl zu sehr aus einem Samenkorn emporgesprossen, das die Glut der Tropen und diese Umwelt des Zaubers ungewöhnlichen Erlebens in kurzem zur reifen Frucht hatte werden lassen.

Hand in Hand saßen sie da, zwei Menschen, die anscheinend das allweise Geschick zusammengeführt und zu gegenseitiger Wertschätzung förmlich gezwungen hatte. Und doch hatte das Schicksal hierzu sehr wenig getan, nur der Zufall hatte wohl ein wenig nachgeholfen. In Wahrheit steckte als treibende Kraft hinter alledem der eherne Wille und die vorausschauende Klugheit eines großen Menschenkenners, der es sich in seinen Eisenkopf gesetzt hatte, Vorsehung zu spielen und der Liebe etwas nachzuhelfen, falls es nötig sein sollte.

Lotte sprach, und während sie Bert nun dankte und dafür Worte fand, die aus dem Herzen kamen und den Weg zum Herzen fanden, füllten sich ihre Augen mit Tränen, und die warmen Tropfen glitten aus den langen Wimpern wie Frühlingsregen, der die Köstlichkeit sommerlicher, freudiger Fruchtbarkeit verheißt, hinab auf die Hand des Mannes, der mit nie gekanntem Empfinden der Innigkeit den anklagenden Worten des Mädchens lauschte.

Bert unterbrach sie sehr bald. Er drückte ihre Hände und bat sie, Geschehenes nicht mehr aufzurühren, er lehnte halb scherzend jeden Dank unter dem Hinweis ab, daß er ja nur mit an seine Person gedacht hätte, denn der Verlust der Plantage wäre auch das Ende seiner hiesigen Tätigkeit gewesen, und dabei war ihm wahrlich bitter ernst zumute und der leichte humorvolle Ton war nur wieder ein bewußter Hemmschuh gegen das Hineingleiten in eine verbotene Welt eines Glückes, nach der er fieberte und das er doch als unerreichbar von sich wies.

Im Hintergrunde seiner ängstlichen Gedanken lauerte dauernd das warnende Bild der anderen Frau, die ihn betrogen hatte – auch durch Tränen, auch durch die Bitte, ihm als Freund die angeblichen Nöte ihrer Seele anvertrauen zu dürfen: Die schmutzigen Geschäfte des Vaters!

Astrids mahnende Gestalt blieb der Wall, der ihn schützte, wie er sich einbildete. Er war noch nicht weise genug, der Worte des alten Mharatten sich rechtzeitig zu entsinnen, der ihm heute oder gestern vorgehalten hatte, er sei aus einem Extrem ins andere gefallen. – Nein, zu dieser goldenen Mittelstraße, zu diesem Wege, der alles Übertriebene meidet, war Medem noch nicht gelangt. Er sah ihn wohl von fern, aber die Enttäuschungen waren noch zu frisch, unter denen sein Stolz genau so gelitten wie anfänglich sein Herz.

Und hier nun beging Lotte aus dem verständlichen, aber gefühlsmäßig doch unrichtigen Bestreben heraus, Bert ihre innige Anteilnahme an seiner Person zu zeigen, einen groben Fehler. Sie lebte in dem Glauben, Bert sei durch Astrids Entführung aufs schwerste getroffen worden, sie hatte ja in Allahabad gehört, daß er die Stadt sofort verlassen habe, um selbst Nachforschungen anzustellen. Sie wollte ihn trösten, ihm Mut zusprechen, kaum aber war über ihre Lippen, die sich dagegen förmlich wehrten, das Wort „Ihre Braut“ geglitten, als Medem sich jäh erhob und Lotte gar nicht den begonnenen Satz zu Ende führen ließ. Nicht etwa, daß er nun in einer Form sich verabschiedet hätte, die irgendwie die Kameradschaft zwischen ihnen beeinträchtigen konnte, nein, er sagte nur, indem er Lottes Hand an die Lippen hob und flüchtig küßte, weil schon diese Zärtlichkeit andere Wünsche weckte, – er sagte nur mit einem bitteren Lächeln, das ihr tief ins Herz schnitt:

„Kleine Freundin, Astrid Dalton wollen wir nie erwähnen! Das ist ein Thema, für das Sie, kleine Lotte, wirklich zu schade sind!“

Er ließ ihre Hände fahren, verneigte sich, lächelte ihr nochmals zu und schritt hinaus.

Lotte stand mit hängenden Armen da und starrte die Tür an, hinter der er verschwunden war. Zwischen ihren Brauen lag eine Falte, die sich immer mehr vertiefte.

Ihr Kopf sank nachdenklich auf die Brust. Sinnend schaute sie das bunte Muster des Bastteppichs an, in den die flinken Finger der Gondfrauen im Mitteloval eine Szene aus den Gebräuchen der seltsam geheimnisvollen Auslese der Gattinnen der Herrscher von Beldari eingewebt hatten, freilich nur so, wie die Legenden der Gond darüber berichteten, denn die Wahrheit kannten nur die Priester und die Fürsten selbst, und die schwiegen.

Ein ovales Bild. Eine andere Szene tauchte aus der Fülle der Erinnerungen auf: Der Saal der Zehn im Dogenpalast in der Märchenstadt Venedig – ein Saal, prunkvoll und einsam, – dort hatte Lotte Einkehr gehalten und sich durchgerungen zu der Erkenntnis, daß nicht immer ihr Wille maßgebend sein dürfte und daß sie die Schwächen anderer berücksichtigen müsse, genau wie sie an sich selbst zu arbeiten habe, um das Unvollkommene abzustreifen.

Auch hier im Vindhya-Schloß gab es einen Saal, der ihr sofort eigentümlich vertraut erschienen war, der Lieblingsraum ihres Onkels, sein Arbeitszimmer, wenn man diese bescheidene Bezeichnung auf ein so echt orientalisches Gemach aus Marmor, kostbarsten Hölzern und feinabgetönten Seidenstoffen anwenden durfte.

Der Saal mit den drei leuchtenden Fontänen liegt im milden Licht der farbig schillernden Wasserstrahlen und der fallenden Tropfen da.

Das sanfte Plätschern der schillernden Säulen, auf denen graziös die Glaskugeln tänzeln, erfüllt den dämmerigen Raum mit den träumerischen Lauten eines vom Monde überfluteten Waldes, in dem die Quellen zwischen Geröll murmelnd zu Tale fließen. Die großen, schweren Schränke mit den Metallbeschlägen und der Riesenschreibtisch zwischen den Fenstern und die Ruhebetten mit den verschiedenartigen Tierfellen, die anderen wertvollen und eigenartigen Möbel und die farbenfrohen Teppiche – alles scheint hier zu schlummern wie im Dornröschenschlaf …

Auf dem Wanddiwan neben dem Schreibtisch trifft das Mondlicht den Kopf eines Tigers mit echten Ovalen an Stelle der Augen. Die Opale glühen wie die Raubtierlichter im dunklen Dschungel, das Gebiß der stolzen Bestie leuchtet weiß wie poliert, und die langen Schnurhaare werfen feine Schattenfäden auf diese Zähne, die einst der Schrecken der Wildnis und ihrer Bewohner waren. Jetzt muß es sich der König der Dschungel gefallen lassen, daß schlanke Mädchenfinger mit seinen spitzen Ohren spielen und daß in seinem gelbschwarzen Fell die salzigen Tropfen von Tränen sich verlieren, die aus brennenden Augen herabrinnen.

Lotte ist hierher geflüchtet in all ihrer Seelennot. Sie überprüft das Geschehene und die letzten Worte Berts in dieser Umgebung, die ihr zu einem entscheidenden Entschluß verhelfen soll. Hier hat ihr Onkel, dieser unermüdliche Neuschöpfer von praktischen und rein ideellen Ideen, seine Pläne und Entwürfe erdacht, hier, so hofft Lotte, werden auch ihr die erlösenden Einfälle zufliegen.

Sie läßt die jüngste Vergangenheit seit der Stunde, wo ihr der steife Beamte in Arrenberg die Nachricht von der Millionenerbschaft überbrachte, an ihrem inneren Auge vorüberziehen und gelangt zu der einen Erkenntnis, daß alles so kommen mußte, wie es nun gekommen ist – zwischen Bert und ihr. Es mußte so und nicht anders sich gestalten, dafür hatten die Umstände gesorgt.

Ihre Fantasie hatte unaufhörlich die unbekannte Gestalt ihres Plantagendirektors, dieses eigenwilligen Mannes, umspielt. Sie hatte ja mit Bert, ob sie wollte oder nicht, sich dauernd beschäftigen müssen, denn er war die Brücke zur neuen fernen indischen Heimat, nur er. „Fatum!“ murmelte sie noch leiser, als die leuchtenden Fontänen plätscherten … – „Fatum!“ wiederholte sie noch trostloser, denn über einen Punkt gewann sie keine Gewißheit: Liebte Bert jene Astrid noch immer?! Hatte sie seine Worte, die ihr das Thema Astrid untersagten, nur nach ihren eigenen Herzenswünschen sich ausgelegt?

Sie besann sich auf den Wortlaut seiner Äußerungen nicht mehr genau, – sie konnte sich irgendwie verhört haben, – es erschien doch ausgeschlossen, daß ein Bert Medem einer Miß Dalton wegen so eilig Nachforschungen anstellte, wenn er sie nicht liebte! Wie hätte es sonst auch möglich sein können, daß er die Hochzeit festsetzen ließ – Astrid war ja erst am Hochzeitsmorgen entführt worden! Nein, nein, sie hatte sich verhört, sie hatte sich seine Worte so zurechtgestutzt in ihrer unzuverlässigen Erinnerung, wie es ihr in ihre geheimsten Wünsche hineinpaßte.

Ihre Tränen flossen stärker, das Leben schien ihr wertloser als der billige Glasperlentand, mit dem sich hier die Dienerinnen behängten – Perlen – Tränen!

Auch sie weinte. Aber wenn der stille Weiher ihre Tränen gesehen hätte, dann würden sich die Lotosblüten nicht ängstlich zusammengedrängt haben und nicht scheu und verschüchtert halb untergetaucht sein!

Über Lottes Gesicht fiel ein Schatten, sie schaute mit tränenumflorten Augen empor zu der dürftigen Gestalt des in Lumpen gehüllten Fakirs.

Birra, der Herr der Brillenschlangen, sprach zu ihr: „Ich bin ein Freund dessen, der dich hierher berief. Ich bin ein Freund dessen, der deine Seele erfüllt, und ich lese deine Gedanken, denn ich bin nur ein Scharlatan für die Scharen der Fremden, die da glauben, wir gäben unsere Geheimnisse für Geld her. Ich will dich sehen lassen, was dir dienlich ist und deine Wünsche der Erfüllung näher bringt. Kreuze die Arme über der Brust und schließe die Augen und banne alle Gedanken, wie auch immer sie dich überfallen wollen, denn wer das große Unbekannte schauen will, muß die Kraft haben, das eigene Ich zu töten, damit das zweite Ich frei werde. Gehorche, du bist eine Erwählte!“

Kühle Greisenfinger strichen über Lottes Stirn hin, und das Plätschern der Fontänen wurde zu Sphärenmusik, und die Welt gestaltete sich zu anderen Formen und anderen Gesetzen, und die Wunder Indiens lebten auf zu schreckvoller Wahrheit – die, die nach dem Glücke greifen, müssen dornige Pfade gehen.

Und Lotte träumte und schaute:

Sie hatte das eine Pferd, das sie heute bereits einmal mit der Trense geritten hatte, im Stall gesattelt und den Stallburschen, der ohnedies zu verschlafen war, weggeschickt. Der Rappe hatte gewiehert und seinen feinen Kopf an ihrer Schulter gerieben und sich geduldig den Zaum anlegen lassen. Nun trabte er frohgemut unter der leichten Last seiner eiligen Herrin gen Nordost zum Lotossee, – sich der kühlen Luft freuend, denn der Morgen graute schon und die ersten Scharen der Frühaufsteher, der glänzend schwarzen Reiher, zogen in Pfeilform geordnet zu ihren Fangstellen in den Sümpfen bei Gutschar, wo auch der verbotene Tempel der Bhuten emporragt aus dem ewigen Grün der alles überwuchernden Wildnis.

Im Allerheiligsten stand der Oberbhuta vor dem blutigen Altar und ließ den Lebenssaft eines schwarzen Ziegenbockes über die Gemeinde der Getreuen dahinspritzen zur Entsühnung nach dem Tage der Frevel. Vor dem Altar lagen die Gerichteten mit verquollenen Leibern und verfärbten Gesichtern und blaufleckiger Haut, wie der Biß der heiligen Kobra sie hervorruft. Um den Kopf des Agdera Chan, der die verbrecherische Hand nach dem Throne von Beldari ausgestreckt hatte, waren zwei tote Brillenschlangen gewunden, denen man mit hohlen Halmen die Hauben aufgeblasen hatte, so daß sie wie ein bauschiger Turban aussahen. Das war Agdera Chans Fürstenkrone geworden, so verlangte es das ungeschriebene Gesetz der Gond.

Lotte ritt in schlankem Trabe dahin und belauschte die in ihre Schlupfwinkel heimkehrenden Tiere der Vindhyaberge, – da kamen die kleinen gefleckten Schakale mit hängenden Bäuchen, übersatt von den Resten der Mahlzeit, die ihnen der König der Dschungel großmütig gespendet, da kamen in kleinen Trupps die Wasserbüffel und suchten Schutz in den Hügeln vor der Hitze des Tages, da zog ein mürrisches Stachelschwein vorüber und rasselte mit seinen weißgefleckten langen Stacheln und kehrte sich nicht an die grunzenden Vettern von der Familie der Wildschweine, deren Eber mit mächtigen Stoßzähnen protzten, da waren die Antilopen und die Rehe und die harmlosen Affen, die alle nun zurück in das Schonrevier eilten, das die Weisheit des toten Nanna-Sahib ihnen beschert hatte. – –

Als Lotte auf dem Diwan im Saale der Fontänen erwacht war, fand sie sich allein. Der Fakir war verschwunden. Sie wußte kaum mehr recht, was mit ihr vorgegangen. Nur unklar besann sie sich auf Birras Worte, aber eines haftete wie ein Mahnruf in ihrem Gedächtnis: Eine unerklärliche Sehnsucht nach dem Lotosweiher!

Schnell ließ sie sich ihr Pferd satteln und trabte dem Ort ihrer Sehnsucht zu. Der Weg dahin war ihr ja bereits bekannt. Bald näherte sie sich dem See, sie erblickte dessen Wahrzeichen, den Baumgiganten von Rasamala, und bog in eine kleine Lichtung ein.

Plötzlich wurde der bis dahin so brave Rappe störrisch und drängte nach rückwärts. Seine Reiterin gab Schenkeldruck, – Lotte konnte reiten und daß der Rappe vor irgend etwas scheute, war eine Unart, die er sich abgewöhnen mußte. Das klügere Tier mit seinen feineren Sinnen bockte und wollte sich auf der Hinterhand herumwerfen, stieg wiehernd fast kerzengerade empor und fühlte vor Angst nicht einmal die Sporen, die Lotte ihm in die Weichen hieb. Sie war nicht erfahren genug, diese warnenden Anzeichen von Gefahr richtig zu deuten. Dann tat der Rappe einen jähen Satz nach vorwärts und preschte, den Kopf zwischen den Vorderbeinen, in tollster Flucht dem Weiher zu und bog in die freie Uferstelle ein, die er bereits kannte.

Lotte merkte, daß sich nun die Katastrophe wiederholen könnte, – sie nahm die Füße aus den Steigbügeln und ließ sich seitwärts aus dem Herrensattel gleiten, fiel zu Boden und sprang sofort wieder empor und blickte hinter sich, da sie nun erst ein Keuchen und Fauchen vernommen hatte, das sie endlich an die Möglichkeit der Nähe eines Raubtieres gemahnte.

Sie sah den Tiger fünf Schritt vor sich – zusammengeduckt, sprungbereit …

Der Schweif der Bestie pendelte halb erhoben hin und her …

Lotte hatte in Allahabad mit jagendem Herzen die Einzelheiten der Tiger-Erlebnisse des großen Tigerjägers Herbert Medem in dem Kalkutta-Magazin gelesen – von ihm selbst in aller Bescheidenheit, aber mit aller Gründlichkeit verfaßt. Lotte wußte aus dieser Quelle, daß die armen indischen Bauern, die am Rande der Wildnis noch heute von den Tigern genau so bedroht werden wie einst, in höchster Not den nächsten Baum erklettern, nachdem sie die Bestie eines ihrer Kleidungsstücke, am besten den Turban, zugeworfen und dadurch eine Gnadenfrist von Sekunden erreicht haben. Lotte griff langsam nach ihrem Hut, sie fühlte, daß sie leichenblaß war, aber sie wollte leben. Sie schleuderte den Hut mit ruckartiger Handbewegung dem Tiger in das geifernde Gesicht und tat gleichzeitig einen Sprung zur Seite und erkletterte die Felsen am Fuße des Rasamala.

Der Tiger sprang und sprang zu kurz, riß nur Lotte die Reitgamaschen auf und veranlaßte sie zu einem gellenden Schrei, da der Anprall sie fast den Halt verlieren ließ. Sie griff in ihrer Angst in die Dornenranken hinein, sie achtete nicht der Schmerzen, nicht der früheren Warnung Medems vor den giftigen Schlangenakazien, – sie drängte sich zwischen den Steinen hindurch und zwängte sich in eine enge Spalte hinein – plötzlich schimmerte vor ihr eine kleine Bogenpforte aus dunklem Eisenholz, die mit schweren Riegeln versehen und mit Eisenbändern benagelt war, – sie stand ein wenig offen, diese Tür, und Lotte riß sie vollends auf und trat ein, – ihrer Sinne kaum mehr mächtig vor grenzenloser Erschöpfung.

Kühlere Luft schlug ihr entgegen, und sie erholte sich wieder und lehnte an der kalten Felswand und hielt die Tür mit beiden Händen zu und stemmte noch die Füße dagegen. Ihre Finger brannten von den Stichen der Dornen wie höllisches Feuer.

Hinter ihr führte eine roh ausgehauene Steintreppe in die Tiefe, – auf den unteren Stufen erschien ein Mann und blieb regungslos stehen, als er, die Lampe in der erhobenen Hand, das Mädchen erkannte, das er hier zu dieser Stunde am allerwenigsten erwartet hätte.

 

15. Kapitel.

Die Inkarnation der Fürstenbraut.

Vierzehn Jahre früher. – Zwischen den Sümpfen bei Gutschar im verbotenen Tempel der Gond brennen im Allerheiligsten in dieser Nacht der Weihestunde nur die hohen uralten Kupferdreibeine mit den goldenen Behältern für die wohlriechenden Harze und Öle. Das Harz qualmt, und die Flämmchen der Öllampen erhellen nur notdürftig die allernächste Umgebung des Altars, der heute mit kostbaren Decken belegt ist, damit die Blutkrusten und die obszösen Opfergeschenke der auf Kindersegen bedachten Frauen nicht in dieser Stunde der heiligen Suche nach der zukünftigen Rani die Reinheit des Wollens irgendwie stören.

Der Tigergötze auf dem Altar, der furchtbare Bhut mit dem offenen Rachen, in den einst, bevor die Engländer die Menschenopfer verboten, regelmäßig an hohen Festtagen der Lebenssaft von Jungfrauen hineinfloß und den Bauch des Ungetüms anschwellen ließ bis zum Platzen, da der nackte Unterleib nur aus einer Elefantenblase besteht, – der Bhut ist gleichfalls verhüllt, und vor ihm steht heute am Ehrenplatz seine nicht minder fruchtbare Gemahlin, die Bhuta mit dem dreifachen Schlangenhaupt und den sechs Armen, in denen sie je ein Kind hält, dessen Gesicht das einer Eidechse ist – als Zeichen der Fruchtbarkeit.

Zwischen den Armen der Bhuta schaukelt an frischen Baststricken eine Wiege aus Baumrinde, wie die Gondweiber sie bei der Feldarbeit auf dem Rücken tragen zu ihrer eigenen Bequemlichkeit. In der Wiege, die mit Blumen, Perlen und Seidenbändern überreich geschmückt ist, greint ein erst gestern geborenes Mägdlein und fuchtelt mit den Ärmchen umher und hustet infolge des Qualms des heiligen Harzes. Die Mutter des Kindes liegt daheim in ihrer Hütte in Beldari und ist stolz, daß gerade ihr die Ehre zuteil wurde, ihren Säugling hergeben zu dürfen.

Nur die zwölf ältesten Priester sind heute hier versammelt und hocken im Halbkreis vor dem Altar, während der dreizehnte, der alte Oberbhuta, der nun schon zum dritten Male die große Feier der Auswahl der Rani leitet, so alt ist er, – denn sie findet ja nur alle achtzehn Jahre statt, … während der Oberbhuta also inmitten des Halbkreises mit dem Gesicht nach dem Altar hin sitzt und vor sich und neben sich die Becken hat, deren glühende Holzkohlen zum Verbrennen des Hanfes dienen werden.

Aber noch ist es nicht soweit. Man wartet gespannt auf das heilige Zeichen. Der uralte Oberpriester blickt unverwandt auf den ruhelosen Säugling. Von dem reinen, unschuldigen Kinde muß das erwartete Zeichen kommen, ein kaum erst dem Mutterleibe entstiegenes Wesen spielt hier mit die Hauptrolle. (Auf die sehr interessanten Unterschiede zwischen Lamaismus und dem Gond-Kult wird später kurz hingewiesen werden.) Endlich geschieht das Erhoffte, – denn oft genug müssen die Priester die Zeremonie Nacht für Nacht und dann immer mit anderen Säuglingen wiederholen, bevor sich ein solches Kind als würdig erweist.

Endlich steckt das Kind, das sich nach der nahrungsspendenden mütterlichen Brust sehnen mag, beide Däumchen in den Mund. Sofort ergreift der Oberbhuta die bereitliegenden Bündel Hanfstengel und Blüten und wirft sie in die Kohlenbecken. Die Pflanzen sind frisch, und ihr Qualm hat dieselben Wirkungen wir Haschisch. Der Oberpriester verschwindet halb in den gelblichen Schwaden, mit offenem Munde saugt er den betäubenden Qualm ein und fällt sehr bald in Haschischrausch, dessen Träume weit fantastischer sind als die Träume eines Opiumrauchers.

Wie bei allen religiösen Gebräuchen des Orients nimmt die Kunst der geistigen Konzentration auch bei den Bhuten eine vorherrschende Stellung ein, als Vorbedingung der Erziehung in den Priesterstand. Wer nicht fähig ist, die Eindrücke der Umwelt völlig auszuschalten, wird nie als Novize in den Tempel aufgenommen. Hungern, Fasten und körperliche Züchtigungen und künstliche Schlaflosigkeit helfen mit, den Novizen vorzubereiten, die auch in christlichen Bekenntnissen gang und gäbe war.

Der Oberbhuta hat diese Kunst bis zur höchsten Vollendung geübt, und der Haschischrausch ist nur ein weiteres Mittel, die Bilder in aller Klarheit zu schauen, die er herbeisehnt. Nachdem der Qualm des Hanfes sich verzogen hat und nun unter der Felsendecke des Allerheiligsten in dicken Wolken hängt, erhebt der Oberpriester sich taumelnd und wird von jüngeren Bhuten auf ein Fellager getragen, wo er, noch immer halb im Rausch, das Geschaute verkündet und dabei genaue Ortsangaben und sonstige notwendige Erklärungen abgibt, die ein Schreibkundiger aufzeichnet.

Hiermit ist die Feier jedoch nicht zu Ende, denn draußen in der Vorhalle und auf der Riesentreppe warten die Gläubigen und die Schar der Tanzmädchen. Jetzt beginnt das öffentliche Fest der vollzogenen Inkarnation (Fleischwerdung), – das Kind ist verschwunden, auf dem Altar steht wieder die gräßliche Figur des Bhut, die Decken vom Altar sind entfernt worden, und der Tempeltanz der Jungfrauen leitet die öffentliche Feier ein, die dennoch heute unter anderen – man kann sagen, „Mysterien“ – vollzogen wird, deren barbarische Zügellosigkeit an die der eleusinischen des alten Griechenland erinnert. Einzelheiten können nicht wiedergegeben werden. Nur das sei gesagt, daß es sich um eine bachantische Verherrlichung der Zeugungs- und der Mannbarkeitskraft handelt. Die sonst üblichen Tieropfer und Orakel fallen weg.

Was mit dem Säugling geschieht, auf dessen Zeichen man gewartet hat, bleibt Geheimnis der Priester. Früher, bevor die Engländer sowohl die Witwenverbrennung als auch andere blutige Bräuche noch nicht verboten hatten, sind diese Kinder bestimmt getötet worden, heute überläßt man sie wohl den Eltern, zwingt diese aber, das Land zu verlassen und zu schweigen.

Die Unterschiede zwischen der Inkarnation des Dalai-Lama als des höchsten Priesters der Lamaisten (der Lamaismus ist nur ein umgeformter Buddhismus) springen trotz gewisser Ähnlichkeiten sofort ins Auge. Bei den Lamaisten darf der Dalai-Lama nie sterben, genau so wenig darf es die Rani der Gond, die übrigens selbst stets Oberpriesterin ist, freilich nur als Verherrlichung der Mutterschaft. Der neue Dalai-Lama wird durch die Lama (Priester) im Lande unter den Neugeborenen „gesucht“, wobei unglaubliche Betrügereien und Bestechungen vorkommen. Die Rani, die auch nie sterben darf, wird nach den Träumen des Oberbhuta „gefunden“, und Betrügereien sind hier kaum möglich.

– – In einer Hütte am Meeresstrande der Wunderinsel Ceylon lebt unweit der Hauptstadt Kolombo ein armer Fischer in einem Palmenhain nahe bei einem felsigen Kap, um dessen Klippen die Wogen dauernd schäumen. Eines Tages erscheinen dort überraschend drei Männer und bieten dem armen Fischer, der ein Singhalese ist und dessen Frau wegen ihrer Schönheit berühmt ist, eine hohe Summe für das vor kaum vier Wochen geborene jüngste Mädchen, – die Fremden haben rötliche Augen und gleichen Negern, sind trotzdem Stammesverwandte des Fischers, – Drawiden. Und wieder Wochen später übernehmen drei alte verschwiegene Tempeltänzerinnen einen weiblichen Säugling und beziehen ein Haus unweit des verbotenen Gutschar-Tempels und werden von bewaffneten Priestern dauernd unter strengster Obhut gehalten.

Sobald das Kind das sechste Jahr erreicht hat, beginnt seine Erziehung durch gut bezahlte indische oder gar europäische Lehrerinnen, die genau wissen, was ihnen bevorsteht, falls sie später ihre Erlebnisse ausplaudern. Im übrigen dürfen sie die Umgebung des Hauses der heranreifenden Rani nie verlassen, und dieses Felsenheim liegt so versteckt und die Erzieherinnen werden so sorgsam bei Nacht dorthin geschafft und nachher wieder weggebracht, daß sie den Ort nie finden würden.

Es drängt sich nun die Frage auf, weshalb die junge Rani noch zu Lebzeiten der gerade regierenden Fürstin auf diese Art auserkoren und in Bereitschaft gehalten wird. Falsch ist es, anzunehmen, daß, wie bei den Lamaisten der Dalai-Lama, so auch bei den Gond die alte Rani keines natürlichen Todes zu sterben pflegt, das heißt, daß sie nur ein bestimmtes Alter erreichen darf. Die „Inkarnation“ der Rani, also die heranwachsende neue Fürstin, hat zu warten, bis ihr Platz frei wird. Stirbt die bisherige Fürstin erst in hohem Alter, so kann es vorkommen, daß ihre „Inkarnation“ mehrfach gewechselt wird, diese darf nie über achtzehn Jahre alt werden und wird, falls nötig, in aller Stille in ihre Heimat zurückgebracht und taucht dort plötzlich als reiche junge Singhalesin wieder auf, ohne zu wissen, wo sie ihre Jugendzeit verbracht hat. Von ihrer späteren Bestimmung hatte man ihr in dem einsamen Hause in der Wildnis nie etwas gesagt. –

Daß zur Durchführung derartiger Bräuche ebenso viel Geld wie vorsichtigste Maßnahmen gehören, versteht sich von selbst. Nur im Orient ist etwas derartiges möglich, wo die Frauen zumeist vollkommen gleichgültig und ohne besonderes Interesse an der Gestaltung ihrer Zukunft dahinleben.

– Gegenwart wieder …

Daß Astrid Dalton irgendwo gefangen gehalten würde, hatte Medem stets geahnt, – wo, das wußte er nicht. Er kannte wohl die Steigeisen im Rasamala, die nur zur Erleichterung des Erklimmens des Baumes und zur Beobachtung der Tiere an der Tränke angebracht worden waren, die alte Tempelhöhle war ihm fremd. Wen er hier vorfinden würde, war ihm aber vom ersten Augenblick klar, da er sofort nicht nur Astrids bekanntes Parfüm gerochen, sondern auch an der Ausstattung des Raumes erkennen mußte, welchen Zwecken er diente.

Astrid lehnte nun am alten Opferaltar und schaute ihm mit einer Miene entgegen, die sorgfältig berechnet war. Trauer, Seelenschmerz und stilles Hoffen prägten sich in ihren bleichen Zügen aus. Sie hütete sich vor jeder Übertreibung, denn nun wußte sie ja, daß Medem mit den bisherigen Mitteln nicht mehr zu überrumpeln war. Sie wartete ab, sie mußte erst einmal prüfen, ob sie als Weib noch irgendwie über ihn Macht besäße. Dies war zweifelhaft. Der alte Mharatte hatte ihr schonungslos ihr ganzes Sündenregister vorgehalten, und dabei betont, daß er genau wüßte, Medem sei genau so gut über alles unterrichtet, was sie an Lügen und Verstellungskünsten angewendet habe, um ihren Verlobten gründlichst zu täuschen.

Bert stand nun dicht vor ihr. Sie war schön, das mußte ihr jeder lassen, vielleicht schöner denn je, weil die Tage der Haft ihre Züge mehr durchgeistigt hatten. Daß der Haß und die quälenden Gedanken dies versucht hatten, ahnte Medem sofort, denn er kannte sie nun.

Astrid in ihrem indischen Überwurf, der einem Morgenrock glich, – ihr Kleid, das sie bei der Entführung getragen hatte, war ihr abgenommen werden – glich einer bescheidenen Büßerin, aber dieser dunkelblaue Kittel aus Baumwollstoff stand über der Brust weit offen und ließ die weiße Büste und den wunderbar modellierten Halsansatz sehen …

Sie wartete …

Medem wartete auch. Er hatte ihr vieles zu sagen, doch sie war es ihm nicht mehr wert, auch nur ein Wort an sie zu verlieren, er durchschaute die raffinierte Dirnennatur Astrids und deren trügerische Hoffnungen auf den Sinnenreiz, den sie einst auf ihn ausgeübt hatte. Es war nur immer der Hunger nach dem Weibe an sich gewesen, der ihn einst in ihre Netze gelockt hatte, seine Enthaltsamkeit hatte sich bitter gerächt, und auch darin hatte sein väterlicher Freund recht gehabt, daß die zehn Jahre auf den Pescadores-Inseln für ihn in dieser Beziehung nicht von Vorteil gewesen waren.

Er stand ihr gegenüber, und sie war ihm fremder denn je in den letzten Wochen, wo er ihr ja nur das trügerische Spiel mit gleichem vergolten hatte. Sie war ihm so vollkommen gleichgültig geworden, daß er im Grunde nicht einmal mehr Abneigung gegen sie empfand. Seine Augen ruhten auf ihrem Gesicht, lediglich mit dem Interesse eines Menschen, der vielleicht feststellen möchte, wie eine Gefangene, die bisher in Luxus und Wohlleben ihre Tage verbracht hatte, diese Veränderung körperlich ertrug, – nichts mehr, nur körperlich, denn eine Seele hatte Astrid nie besessen.

Gerade sein kaltes abwartendes Schweigen brachte Astrid nun allmählich zur Raserei, wenn sie auch äußerlich die Miene der stillen Dulderin beibehielt. Ein grenzenloser Haß flammte in ihr auf, dieser Haß hatte etwas Dämonisches an sich und überstieg weit die sonstigen Empfindungen, war wie alle minderwertigen Naturen nur zu leicht geneigt, ihre Fehler vor sich selbst zu entschuldigen und sich einzureden, das Unrecht läge zumindest zu gleichen Teilen auf der anderen Seite.

Aber jetzt war sie auf dem Punkt angelangt, wo auch ihre Selbstbeherrschung vor wahnsinnigem Haß zu versagen drohte. Ihre Wangen röteten sich, sie sah alles verloren, und sie wollte nun wenigstens den billigen Triumph auskosten, Medem diesen Haß und ihre Verachtung für seine Unreife als Mann rückhaltslos ins Gesicht zu schleudern …

„Weshalb ließest du Narr noch die Hochzeit festsetzen, wenn du mich bereits durchschaut hattest?“ fragte sie lauernd und mit einer unnatürlich heiseren Stimme.

Bert hatte seine gewohnte Haltung wieder angenommen und das Kinn in die Hand gestützt. „Ich hatte Ihnen eine ähnliche Strafe zugedacht“, erwiderte er mit unmerklichem Achselzucken. „Nachdem Sie mich in Allahabad zum Gespött der ganzen Europäerkolonie gemacht hatten, die mich für einen blinden Toren hielt, mußte die Vergeltung so ausfallen, daß ich vor aller Welt als der Gewinner eines Spieles dastand, daß ich zuletzt ja vollkommen lenken konnte, wie ich es wollte. Andrerseits mußte ich dafür sorgen, daß auf meinen Namen nicht der Makel fiele, in kleinlicher Weise mich gerächt zu haben.

Um Sie entführen zu lassen, dazu dachte ich zu wenig romantisch, ich bin vielleicht noch nicht lange genug hier in Indien, um mich in die Gedankenwelt der hier bereits längere Zeit Ansässigen so schnell hineinfinden zu können. Ich ging den geraderen und nüchterneren Weg des Gesetzes. Ich hatte mich mit meinem alten Jagdfreunde, dem Oberrichter aus Kalkutta, dahin verständig, daß Sie, Ihr Vater und Ihr Bruder eine halbe Stunde später verhaftet werden sollten, – der andere kam mir nur um diese halbe Stunde zuvor, und als Sie entführt waren, hatte ich nur ein Interesse daran, alle Unannehmlichkeiten von dem Manne fernzuhalten, der irrigerweise befürchtet hatte, ich könnte blindlings in mein Verderben tappen – in eine Ehe mit Ihnen.“

Die Gleichgültigkeit, mit der er das alles vorbrachte, traf Astrid härter, als wenn er erregt aufgebraust und ihr seine ganze grenzenlose Verachtung mit ungezügeltem Wortschwall ins Gesicht geschleudert hätte. Noch nie hatte er ihr als Mann irgendwie geistig imponiert, – jetzt war’s der Fall!

Astrid hätte kein Weib sein müssen, wenn sie jetzt nicht sofort den Verdacht geschöpft haben würde, daß eine andere Frau die Ursache dieses Umschwungs in seinem ganzen Auftreten sein müßte. – Wer aber, – wer …?!

Ihr Gedankenfaden zerriß jäh und gänzlich unerwartet durch einen Schrei, der nur gedämpft bis in die Höhle hinabdrang, da Bert die Tür dort oben angelehnt hatte. Astrid hatte trotzdem gemerkt, daß es eine Frauenstimme gewesen war, und an Medems schnellem Herumfahren und an seiner vorgebeugten Haltung merkte sie, er müsse diese Stimme kennen.

Sie gewann auch sofort volle Gewißheit, denn als er sich nun umdrehte und nach der Lampe griff, war er bleich, und in seinen Augen lag ein Ausdruck von verzehrender Angst, daß sie ihm schon aus Neugierde folgte, – er stürmte die Treppen in langen Sätzen hinan und kam ihr aus dem Gesichtskreis, aber auch sie verdoppelte ihre Eile und erreichte den Vorraum vor dem Ausgang gerade in dem Augenblick, als ihm eine schlanke Mädchengestalt mit wehem Jubelruf der Freude in die Arme sank.

„Bert – du – du –, lieber Bert, ich habe so Entsetzliches erlebt!!“ Und Lotte ruhte nun geborgen an der Brust des Mannes, der ihr alles bedeutete – alles, der ihr auch soeben die Kraft verliehen, vor dem König der Dschungel zu flüchten – aus Liebe, – weil sie am Leben bleiben wollte – für ihn …!!

Astrid stand im Halbdunkel. Die Lampe hatte Bert schnell auf den Boden gestellt. Niemand kümmerte sich um Astrid, aber sie selbst war wacher denn je. Dort war die Tür, die in die Freiheit führte, – dort hielten die beiden sich umschlungen, die ein Wunder so rasch zu solcher Vertrautheit zusammengeführt haben mußte! Das also war die Ursache der Verwandlung Medems, das, Lotte Lorenzen, die Herrin der Vindhya-Plantage.

Nur einmal hatte Astrid ein Bild dieser Lotte in einer illustrierten Zeitschrift gesehen. Sie mußte zugeben, – das Mädchen besaß jene reine, unberührte Schönheit, jene taufrische Jugendlichkeit, die verführerischer wirkt als alle mondäne, immer nur unechte Weiblichkeit. Und weil sie dies sah und weil sie nichts neben sich dulden wollte, was sie in den Schatten drängen könnte, flammte ihr Haß nun auch gegen diese Deutsche mit infernalischer Dämonie urplötzlich auf, – ihr Körper duckte sich sprungbereit zusammen, dann schnellte sie vorwärts, stieß mit dem Fuße die Lampe um und flog durch die Tür ins Freie, warf die Tür krachend zu und schob die schweren Riegel vor.

Erschöpft, aber in wildem Triumph lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Pforte aus Eisenholz, – schloß geblendet von dem Lichte der soeben aufgehenden Sonne die Augen und lachte dann höhnisch in sich hinein, als sie drinnen Berts verzweifelte Stimme nur ganz dumpf vernahm: „Astrid, öffnen Sie!! Öffnen Sie! Lottes Hände sind von den giftigen Dekhandornen zerstochen, – die Lampe ist unbrauchbar, wir stehen im Dunkeln, – Astrid, ich beschwöre Sie, seien Sie barmherzig!!“

Medems Stimme flehte, aber sie fand keinen Widerhall in dem Herzen des Weibes, das nun mit einem schrillen Gelächter antwortete und sich dann durch die Felsen zur Uferböschung drängte, wo der Rappe soeben aus dem Weiher sich herausgearbeitet und der Tiger, durch das Höllengelächter erschreckt, eilends sich davontrollte.

Astrid ritt gleich darauf nach Südost der Dschungelwildnis zu. Medems eisige Worte hatten ihr bewiesen, daß sie schleunigst Indien verlassen müsse, wenn sie nicht demnächst im Gefängnis von Allahabad ihrer Aburteilung wegen Beihilfe zum Opiumschmuggel entgegensehen wollte. Sie hatte am Sattel des Rappen zum Glück zwei Pistolen gefunden, – nur Geld besaß sie nicht, aber sie wußte, wo sie sich auch dies verschaffen könnte, um dann ihre Flucht fortzusetzen und von einem kleinen Hafen aus Asien für immer den Rücken zu kehren.

 

16. Kapitel.

Patricks großer Tag.

O’Konnor Patrick hatte sich nach dem nun einmal absolut notwendigen Bade sein vornehmes Kostüm genau angeschaut und es wieder in die Ecke geschmissen. Es war durch den Schlamm unweigerlich für alle Zeiten verdorben, was an sich nichts schadete, da er diese pompöse Clownstracht ja doch nie wieder tragen würde. Er suchte sich also in Medems Schlafzimmer etwas für sich Passendes heraus und erschien zur stillen Heiterkeit Hannas in einem weißen Tropenanzug, der ihm betreffs der Ärmel und Hosen um fünf Nummern zu groß und über der Brust viel zu eng war und mit dem Tropenhelm stand es ähnlich.

„Miß Chef“, sagte Patrick vergnügt, „zum Schlafengehen ist es jetzt doch schon zu spät oder zu früh, je nach Geschmack, ich werde etwas spazierenreiten!“

Aus seiner Brusttasche ragte eine umfangreiche Brandybuddel hervor, die offenbar auch die Morgenluft nötig hatte. O’Konnor Patrick trabte also, am Sattelknopf den Karabiner und im Gurt eine feine Pistole und im Maul eine noch feinere Zigarre, in die Gegend hinaus. Er kannte die Vindhya-Plantage recht gut, und auch die Dschungel bis zur Residenz waren ihm nicht fremd, – es wäre ja auch seltsam gewesen, wenn dieses Universalgenie irgend etwas nicht gekannt oder gekonnt hätte.

Nachdem er seine Brandyflasche wiederholt liebevoll gestreichelt hatte, befand er sich so recht in der Stimmung, vielleicht einem Tiger eins aufs Fell zu brennen, denn er war ein guter Schütze und fürchtete sich vor nichts, nur vor Trinkwasser.

Als er nun den Flugplatz hinter sich hatte und in die Berge einbog, bemerkte er eine Reiterin, die in vollem Galopp gen Südost strebte. Der stämmige Ire drängte seinen Gaul schnell in ein Gebüsch und pfiff leise durch die Zähne. Verdammt nochmal, das war doch die Astrid, diese oberfaule Miß!! Da hieß es aufpassen, – die war doch angeblich verschwunden! Was tat denn die hier?! Wo die sich zeigte, stank’s irgendwie brenzlich …!!

Patrick befragte zunächst nochmals seine Buddel um Rat, und die gluckerte ihm zu, er solle dem verfl… Frauenzimmer auf der Fährte bleiben. „Hast recht“, nickte Patrick, und dann trank er noch ein Schlückchen und machte sich hinter Astrid mit der Verschlagenheit einer Rothaut drein. Zwei endlose Stunden währte diese Verfolgung, und Patrick mußte noch wiederholt seine gläserne Geliebte um Rat fragen, da er keinen Schimmer hatte, wo der Ritt wohl enden würde. In dieser Gegend war selbst Patrick nur ein einziges Mal gewesen. Dann stieg Astrid auf der Kuppe eines zerklüfteten Hügels ab, band Ihr Pferd an einen Baum und schlich zu Fuß weiter. Unten in dem versteckten Tale lag ein Steingebäude, das so etwa einem maurischen Hause glich, das heißt, alle Fenster gingen auf den quadratischen Hof hinaus, außen gab es überhaupt keine Öffnungen, nur eine dicke Tür.

Astrid kannte dieses Haus nur durch Zufall von einer Jagdstreife, bei der sie von ihren Begleitern abgekommen war. Das lag ein Jahr zurück, und das hatte für Astrid insofern erhöhte Bedeutung gehabt, als sie damals hier in diesem versteckten und unzugänglichen Tale eine Europäerin bemerkt hatte, die mit einer jungen Inderin, die sehr prunkvoll gekleidet und sehr hellhäutig und hübsch war, auf und ab ging. Mochte Astrid nun auch ihre Stiefschwester Hanna nie gesehen haben, so hatte ihr Vater sich insgeheim doch Bilder Hannas zu verschaffen gewußt, da er seine Tochter aus der Ehe mit der geborenen Reis nicht nur fürchtete, sondern auch haßte – aus schlechtem Gewissen heraus. Astrid glaubte jedenfalls in der Europäerin ihre Stiefschwester zu erkennen, und wagte es aus Neugier, sich so nahe heranzupirschen, daß sie die Unterhaltung der beiden Mädchen belauschen konnte.

Zu ihrer Verblüffung entnahm sie aus deren Reden, daß sie hier zufällig den Ort entdeckt habe, wo die junge Rani von Beldari erzogen und verborgen wurde, ebenso, daß es sich tatsächlich um Hanna handele. Sie hatte dieses wertvolle Geheimnis niemandem anvertraut, war jedoch schon damals entschlossen, hieraus irgendwie Kapital zu schlagen, – später gewannen diese Pläne bestimmtere Formen, und sie war sich darüber einig, daß sie die Rani beseitigen müßte, wenn diese ihr etwa den Weg zum Throne von Beldari versperren sollte.

Heute kam sie in anderer Absicht hierher. Sie brauchte unbedingt Geld oder doch jedenfalls wertvollen Schmuck zur Fortsetzung ihrer Flucht, und sie nahm an, daß sie die Gond zur Hergabe des Gewünschten veranlassen könnte, wenn sie zu schweigen verspräche.

Das Gebäude lag heute wie ausgestorben da. Astrid stand nun vor der schweren Tür und klopfte mehrmals laut mit dem plumpen Kupferhammer, der den Klingelzug ersetzte. Nichts rührte sich. Sie bemerkte auch keine Wachen, und all dies weckte in ihr Gedanken, die ihre Stimmung noch verschlechterten, denn für sie unterlag es kaum einem Zweifel mehr, daß man die junge Rani anderswohin geschafft habe. Von den Vorgängen in der Residenz wußte sie nichts oder doch nur so viel, daß die Revolution für die nächsten Tage geplant war, sie selbst rechnete mit einem Fehlschlag, da die Rückkehr des Radscha Ghawi den Rebellen wohl die Lust zu einer Revolte benehmen würde, wie sie in ihrem Interesse hoffte.

Plötzlich hustete jemand hinter ihr, und sie spürte den Duft von Branntwein. Sie fuhr herum. Vor ihr stand Patrick und grinste höflich, machte einen Kratzfuß und fragte zuckersüß: „Darf ich Ihnen beim Einbrechen irgendwie helfen, Miß?“

Astrid kannte den Iren nur als den getreuen Oberhofmeister und sprachkundigen Zeremonienmeister Agdera Chans und ahnte nichts von dessen Agentenrolle im Dienste Medems.

„Sie kommen mir wie gerufen, Mr. O’Konnor“, meinte sie arglos. „Sie können eine Menge Geld verdienen, wenn Sie mir helfen. Ich war entführt worden, und man hatte mich dort am Lotossee in einer Höhle neben einem Rasamala eingesperrt, aber heute gelang es mir zu entfliehen, und da mein Vater und mein Verlobter sehr hohe Belohnungen ausgesetzt haben, wie Ihnen ja bekannt sein dürfte, könnten Sie mir vielleicht für kurze Zeit mit Geld aushelfen, zumal eine Freundin von mir, die hier wohnt, nicht daheim zu sein scheint, ich muß nämlich schleunigst nach Allahabad, um Medem dort zu treffen.“

Patrick kratzte sich sein frisch rasiertes Kinn und dachte: „Lüg du und noch eine! Medem in Allahabad!! Der ist im Lotos-Bungalow, meine Miß Chef weiß das besser!!“ Aber er machte trotzdem sein schafdämlichstes Gesicht, was ihm bei seiner Routine nicht weiter schwer fiel, und fragte teilnahmsvoll: „Eine Freundin von Ihnen wohnt hier? Na, das lassen Sie nur nicht den alten Oberbhuta erfahren, daß Sie mit der jungen Dame hier so vertraut sind!! In den Dingen verstehen die Gond keinen Spaß! Und ob die junge Rani Ihnen gerade mit Geld hätte aushelfen können, ist auch so ’ne Sachen

Er blinzelte Astrid harmlos wie eine Blindschleiche an und freute sich nur innerlich über ihr verdutztes Gesicht.

„Wie, Sie kennen dieses Haus?!“ meinte Astrid recht verlegen.

„Was kennt Patrick O’Konnor nicht?! Alles kenne ich, dafür beziehe ich ja auch eine so schöne Pension vom Agdera Chan seligen Angedenkens, das heißt, Pension kann man das eigentlich nicht nennen, denn der Agdera Chan war schon mit dem Gehalt-Bezahlen ein ganz fauler Kopp. Man muß da mehr von Vorschuß auf meine Pension reden, und jeder ist sich selbst der nächste. Als Oberzeremonienmeister war ich doch gleichzeitig Privatschatullenverwalter, und da Ihr Vater gestern dem Agdera Chan nach der geglückten Revolution gleich fünfzigtausend Rupien borgte, nahm ich sie in Verwahrung und trage sie noch im Lederbeutel um den Hals. Hier …!!“ und er klopfte sich auf seinen Gorillabrustkasten und wollte nun weiterreden, aber die immer mehr entgeisterte Astrid kam ihm zuvor und fragte ahnungslos: „Ja, lebt denn Ihr Herr nicht mehr?!“ worauf der gefühlvolle Patrick ein riesiges geblümtes Taschentuch hervorholte und sich schnäuzte und murmelte: „Schlangenbiß …, – Friede seiner Asche! Er war ein anständiger Kerl, der olle Agdera Chan, er hat mir fünfzigtausend Rupien hinterlassen!“

So zartfühlend war Patrick doch, Astrid zu verschweigen, daß ihr Vater aller Wahrscheinlichkeit nach auch nicht mehr unter den Lebenden weile.

Die Tochter Ernest Daltons lehnte jetzt mit hängendem Kopf an der versperrten Tür des einsamen Hauses. All ihre Pläne waren mißlungen, von den Träumen von Macht und Reichtum war nichts geblieben als der Schaum zerplatzter schillernder Seifenblasen. Nur ein Gedanke lebte jetzt noch in ihrem fiebernden Hirn: Geld zur Flucht – Geld!!

Ein lauernder Blick von unten her traf den Iren, der soeben seine Flasche liebevollst untersuchte und zu seinem tiefsten Bedauern feststellte, daß sie fast leer war. So viel er auch durch die Halsöffnung hineinschaute, es wurde nicht mehr.

Astrid hatte vorhin, als sie den Rappen in den Felsen drüben verbarg, die Pistolen zu sich unter ihr loses Gewand gesteckt. Ihre Rechte glitt nun ganz vorsichtig dorthin und bekam die eine Waffe zu fassen, entsicherte sie und …

„Hände hoch, Patrick, oder Sie sind eine …!“

Vielleicht hatte sie wirklich so geschmacklos sein und „Leiche“ sagen oder rufen wollen. Das blieb in diesem Falle auch gleichgültig, denn Patrick O’Konnor war denn doch etwas pfiffiger, als seine Gegnerin geglaubt hatte. Er hatte nicht ohne heimliche Hintergedanken die Flasche zur Hand genommen, und da Astrid nun infolge einer kurzen ruckartigen Handbewegung des Iren sowohl den Mund als auch die Augen voller Brandy hatte, da ferner eine Boxerfaust ihr die Waffe aus den Fingern schlug, wobei der Schuß losging, war Patrick hier unbestrittener Sieger. Es gab da in allernächster Nähe ein wunderbares grünes waschechtes Sumpfloch, und da Patrick die beruhigende Wirkung eines solchen Schlammbades noch von der Nacht her kannte, wo die Gräfin und Günter bei dem Elefantenritt urplötzlich verhältnismäßig vernünftig geworden waren, wandte er diese probate Methode jetzt auch hier an, schleppte sein geblendetes Opfer zu der Moraststelle und … –

Lord Howard Cray hatte seine Begleiter entlassen und wollte ihnen später nach Beldari folgen. Er befand sich in einer Stimmung, in der man keine Gesellschaft brauchen kann, er wollte allein sein und zu einem endgültigen Entschluß gelangen. Ohne Ziel war er mitten in den Dschungel hineingeritten und hatte dann irgendwo sich gelagert und war eingeschlafen. Ein Schuß und das Kreischen einer Frauenstimme, die ihm bekannt vorkam, weckten ihn.

„Patrick, sind Sie denn rein des Teufels!“ fauchte er den Iren an, der sein Opfer gerade zum dritten Male untertauchte. Daß das Opfer Astrid war, konnte Cray nicht wissen, denn der grüne Dschungelschlamm hatte sie ziemlich unkenntlich gemacht. Patrick beeilte sich und ließ wie aus Versehen die triefende Gestalt nochmals in der Tiefe verschwinden.

„Ich spüle ihr nur den Mund aus“, meinte er harmlos. „Sie hat Brandy in die falsche Kehle bekommen und hustete stark.“

„Wer ist es denn?“ wollte Cray wissen.

„Eine Räuberin, die mir meine ehrlich verdiente Pension stehlen wollte!“ erklärte Pat grollend. Worauf sich eine längere Unterhaltung entwickelte, die damit endete, daß Patrick heimwärts zur Plantage ritt und von Cray dessen Uhr geschenkt erhalten hatte, damit er das Vorgefallene verschwiege.

Cray saß neben der weinenden Astrid im Grase und hörte sich deren Beichte mit an. Schon vorher hatte das jetzt seelisch und körperlich vollständig zusammengebrochene Mädchen Patrick erzählt, wo er Medem und Lotte finden würde. Der Lord nahm nun ihre Hand in die seine und sagte sehr ernst und doch sehr weich: „Astrid, wir beide sind verspielte Menschen. Für uns gibt es nur noch eins, das uns vor Selbstverachtung schützen kann: Einen anständigen Tod!“

Drei Monate später ging durch alle Zeitungen Indiens die Nachricht, daß bei den Grenzkämpfen droben in Bhutan Lord Cray und sein treuer Bursche kurz hintereinander gefallen seien und daß man in der Person dieses Burschen die aus den Zentralprovinzen spurlos verschwundene Miß Astrid Dalton wiedererkannt hätte. – –

*

Bert Medem hatte in seinem Leben bisher nur eine einzige schwere seelische Erschütterung kennengelernt: Die Stunde, wo ihm über Astrids Charakter die Augen aufgegangen waren! Damals hatte er angenommen, daß es nie mehr etwas geben könnte, das so stark sein ganzes Inneres in Mitleidenschaft ziehen würde wie die Enttäuschung über den Betrug einer Frau, die er als erste mit inbrünstigem Verlangen in die Arme geschlossen hatte. Er irrte sich, das Schicksal hatte für ihn noch weit schlimmere Stunden vorgesehen, in denen er die ganze trostlose Skala der Empfindungen eines verzweifelt um ein geliebtes Leben Kämpfenden durchmachen mußte. Nichts wurde ihm geschenkt an stillen Qualen, nichts an wilden Ausbrüchen des grimmen Haders gegen ein Verhängnis, dem er machtlos gegenüberstand. Es gab Augenblicke, in denen er sich selbst den Tod wünschte und nur sich verantwortlich machte für Lottes qualvolles Sterben, es gab andere Minuten, in denen er sich zuschwor, daß er Astrid mit eigenen Händen erdrosseln würde für diese brutale Tat, zwei Menschen hier unten ohne Licht, ohne die Möglichkeit sich zu befreien, mit Vorbedacht eingesperrt zu haben, noch dazu eine Kranke, eine Vergiftete, der ein Arzt unschwer das Leben erhalten hätte, ja sogar schon einige Medikamente.

Die Seligkeit, Lotte abermals in den Armen halten zu dürfen und ihre weichen Lippen auf den seinen zu spüren, ging nur zu schnell in ein furchtbares Erwachen über. Kaum hatte Astrid die Lampe umgestoßen und dabei das Glasbassin zertrümmert, so daß das Petroleum auf die Steine floß, kaum war die Tür zugefallen und das Geräusch der kreischenden Riegel, die zwei Menschen von der Außenwelt absperrten, verhallt, als Bert zu spät Lotte aus den Armen auf den Boden gleiten ließ und sich mit voller Kraft gegen die aus Eisenholz gefertigte Pforte warf, die hölzernen Griffe packte und daran zog und zerrte und gleichzeitig Astrid beschwörende Worte zurief.

Nur ein höhnisches Lachen antwortete ihm. Eine Überwindung war’s für ihn, die Frau um Gnade anzubetteln, die er noch soeben mit eisiger Gleichgültigkeit behandelt hatte. Aber es ging um Lotte, und er konnte sich nicht vorstellen, daß ein Weib so gefühllos sein sollte, mit voller Absicht eine Schuldlose wie Lotte dem Verderben zu überantworten. Er hämmerte noch eine Weile gegen die Tür, er rief nochmals, – niemand meldete sich mehr, nur das Echo seiner Stimme hallte in den Felsengängen des alten Höhlentempels schauerlich wieder.

Er hatte sich nun eine Weile um Lotte nicht weiter kümmern können, sie lag noch immer auf dem Steinboden und rührte sich nicht, – er bückte sich, eine verzehrende Angst packte ihn plötzlich, sie könnte inzwischen gestorben sein, – auch das war wieder nur eine Folge seiner übergroßen Besorgnis, denn er wußte ja, daß das Gift der Stacheln der Schlangendornen zumeist nur nach längerer Zeit schwere Lähmungen hervorruft und erst dann den Tod herbeiführt, wenn nichts für den Verletzten geschieht, – wenn … – und hier, was sollte hier geschehen?

Er kniete neben ihr, er tastete nach ihren Händen, ihrem Gesicht, er rief sie leise an, keine Antwort. Bert tastete nochmals nach Lottes Puls, – der ging schwach und unregelmäßig und flatterte. Er kannte diese Anzeichen einer beginnenden Herzschwäche, auf den Pescadores hatte er für seine achthundert Kulis auch Arzt spielen müssen mit Hilfe eines Lehrbuches über Tropenkrankheiten. Die Erkenntnis, daß hier ein schnelles Eingreifen nötig war, wenn er die Geliebte retten wollte, gab ihm seine volle Ruhe wieder zurück. Er richtete sich auf und fuhr sich nur flüchtig mit der Hand über die Stirn, als wollte er etwas entfernen, das in seiner Lage sinnlos gewesen: Die Planlosigkeit des Handelns aus übertriebener Angst, die sein Zielbewußtsein nur lähmte!

Er suchte in seinen Taschen nach dem Tropenfeuerzeug mit der eingedickten, nicht so leicht sich verflüchtigenden Masse des Brennstoffs für den kleinen Docht. Das Stahlrädchen schlug Fünkchen, und der Docht wurde zum Flämmchen. Eine dürftige Helle verscheuchte das Grauen der Dunkelheit. Er beugte sich zu Lotte hinab, nahm sie in den Arm und stieg eilends die Steintreppe abwärts, legte die Bewußtlose auf Astrids Lagerstatt und suchte nach einer zweiten Lampe und nach Kerzen und fand beides. Die Lampe und die Kerzen, brannten nun und die Fülle von Licht zeigte ihm Lottes Gesicht. Es war totenbleich, die Lippen bläulich angelaufen, die Wangen eingefallen, die Augen halb geöffnet und die Pupillen nach oben gedreht, so daß nur das Weiße sichtbar war. Unter den Augen lagen schwarze Schatten, die Brust hob und senkte sich nur in ruckweisen Atemzügen, Lotte glich bereits einer Sterbenden, und der Mann, der um dieses Lebensflämmchen zitterte und bangte, biß sich die Lippen wund und hatte dicke Falten um das Kinn und einen Ausdruck im Gesicht, der den inneren Kampf gegen den lähmenden Schreck deutlich widerspiegelte.

Bert blieb Herr seiner selbst und tat, was die Erfahrung ihn gelehrt.

Den Brennspiritus für den kleinen Kocher, auf dem Astrid sich ihre Mahlzeiten zubereitet hatte, benutzte er zum Baden der wunden, verquollenen Hände, – er suchte nach trinkbarem Alkohol, um die Herzschwäche zu bannen, er fand nichts, nur Tee fand er und brühte ihn auf zu dunkelbraunem Extrakt, wartete fiebernd vor Ungeduld, bis er abgekühlt war, – er hob Lottes Kopf empor und wollte ihr den Tee einflößen, aber die Kehle schluckte nicht mehr, die Flüssigkeit rann daneben, die Zunge war zurückgefallen und versperrte den Schlund.

Er stellte die Tasse wieder beiseite und sank auf den Schemel neben dem eisernen Klappbett und vergrub das schmerzzerwühlte Gesicht in den Händen und preßte die Fingerspitzen gegen die hämmernden Schläfen, – das Schicksal schenkte ihm nichts, nichts! Es war aus, seine Hilfsmittel gegen das Gespenst des Todes waren erschöpft, Lotte mußte hier jämmerlich zugrunde gehen … durch seine Schuld …!! Er hatte in dem Übermaß der Freude, Lotte wieder in den Armen halten zu dürfen, das Wichtigste versäumt, er hätte auf Astrid achten müssen! Aber er hatte sich der Seligkeit des Wiedersehens hingegeben, ohne an die unmittelbare Gefahr zu denken.

Die Selbstvorwürfe überfielen ihn mit aufpeitschender Grausamkeit, aber sie hatten doch den einen Vorteil: Bert Medem sprang wieder auf die Füße und reckte die Fäuste in unbesiegtem Widerstand gegen die Heimtücke des unbegreiflichen Fatums gen Himmel und biß die Zähne von neuem zusammen, – er wollte, er durfte nicht kleinmütig werden, es mußte sich Hilfe herbeizwingen lassen – irgendwie …!

Seine Blicke irrten durch den Felsenraum mit den plumpen Wandreliefs und den Rissen und Sprüngen in der Steindecke, deren ursprüngliche zackige und unregelmäßige Form kein Meißel je angetastet hatte, – Wurzeln der Bäume hatten sich durch die Risse hineingedrängt und hingen dort oben wie ein Netzwerk von dicken Spinnweben. Medems Blick belebte sich plötzlich. Eine schnelle Ideenverbindung fuhr durch sein Hirn wie ein elektrischer Schlag. Sein Körper straffte sich noch mehr, und mit einem Satze war er oben auf dem Tische und schnitt mit dem Taschenmesser einige Wurzeln ab, roch an den Schnittflächen und … tat einen tiefen, erleichterten Atemzug. Mit Sorgfalt wählte er die richtigen Wurzeln aus, stieg wieder vom Tische herab und zerkleinerte sie, nachdem er abermals Wasser in den Kessel gegossen und die Spiritusflamme angezündet hatte. Absichtlich schaute er nicht mehr nach Astrids Lager hinüber, er wollte sich nicht diese allerletzte Hoffnung durch den Anblick ihrer bedrohlichen Hinfälligkeit vorzeitig zerstören lassen. Eine ungewöhnliche Klarheit des Denkens war über ihn gekommen und ließ ihn nun nach etwas suchen, das er unbedingt gleichfalls brauchte.

Die, von denen Astrid hier zur Strafe eingesperrt werden war, hatten immerhin ihrer Gefangenen außer Büchern auch Schreibpapier und Gänsekiele an Stelle eines Federhalters bereitgelegt, – Gänsekiele aus Vorsicht, genau wie sie ihr auch nur Holzlöffel und hölzerne Gabeln überlassen hatten, um jeden Befreiungsversuch zu erschweren. Es waren eben sehr bedachtsame Männer, die Astrid nur zu gut kannten und die in allem sicher gehen wollten.

Der Wurzeltee war fertig. Medem trat an Lottes Lager heran und zwang sich zur allergrößten Ruhe. Er rückte die Kissen höher und brachte Lottes Kopf in eine Lage, die ihm die notwendigen Verrichtungen erleichterten. Er öffnete ihr den Mund und zog die Zunge nach vorn und benutzte die Gänsefeder zum Reizen der Kehle, bis Lotte zu husten begann, dann erst wagte er den ersten Versuch, ihr den neuen Tee einzuflößen. Zunächst mißlang dies, aber Bert hatte sehr bald gelernt, noch geschickter vorzugehen.

Der Tee duftete eigentümlich scharf, und Medem hatte insgeheim nur die eine Sorge, er könnte mit dem Mittel gegen die Herzschwäche unvorsichtig umgehen und die Menge unrichtig bemessen haben. Lotte schluckte. Nur wenig rann daneben. Bert hielt inne und stellte die Tasse weg und harrte auf die Wirkung, indem er den Puls dauernd kontrollierte, der kaum mehr spürbar war. Dicke Schweißperlen standen auf seiner Stirn, – er wünschte nur, daß auch Lottes fieberheiße trockene Stirn sich erst einmal mit Perlchen bedeckte, – es war ja nicht der erste Fall von Vergiftung durch Schlangendornen, den er behandelte, nur daß ihm in den früheren Fällen die nötigen Medikamente zur Verfügung gestanden hatten.

In diesen Minuten, wo es sich erweisen sollte, ob auch die Wurzeln des zur Heilmittelbereitung so wichtigen Baumes außer der Rinde und den Blättern verwendbar seien, schaltete Medem abermals alle Gedanken an ein Mißlingen aus und flehte nicht einmal die Vorsehung an, ihm gnädig zu sein, – er war überzeugt, das Mittel würde helfen, und … es half, der Puls wurde kräftiger, und nach einer zweiten Dosis des Tees, den Lotte nun schon ohne Nachhilfe schluckte, erschienen auf ihrer Stirn wirklich auch die ersten feinen Schweißperlchen.

Bisher hatte Bert sich mit schier übernatürlicher Kraft aufrecht gehalten. Jetzt kam die Reaktion nach dieser peinvollen Selbstbeherrschung. Er sank vor dem Bett in die Knie und barg seinen Kopf in den Decken und ein Schluchzen wollte ihm die Brust sprengen, – auch das überwand er, denn das plötzlich in ihm emporquellende Glücksgefühl und ein Geräusch von der Treppe her trieben ihn wieder auf die Füße.

Er stand da mit blanken Siegeraugen und horchte.

„Hallo … – wer da …?“

„Hallo …!!“ kam eine heisere Stimme zurück.

Bert stürmte die Stufen hinan … – –

*

– Patrick ritt heimwärts, – es war kein gemächlicher Ritt, es war ein wildes Jagen, und nur der Ire mit seinem sehnigen Körper konnte es sich zumuten, dieses Tempo in einem Gelände durchzuhalten, wo überall heimtückische Erdlöcher drohten und Dornenverhaue und Dickicht, das ihm die Kleider vom Leibe riß wie Stacheldrähte aus Eisen. Zweimal flog Patrick aus dem Sattel, schon beim ersten Male erhob er sich fluchend, verstummte und starrte den niederträchtigen Baum an, dessen Luftwurzeln ihn zu Fall gebracht hatten. Er schnitt große Stücke von der Rinde ab und jagte weiter, er wußte ja, Medem und Lotte waren dort eingesperrt, und Lotte hatte in die Schlangendornen gegriffen. –

„Hallo, Mr. Medem!“ Patricks Baß war zur Fistel geworden, Patrick hatte nur noch Kleiderfetzen auf dem Leibe, und draußen lag der arme Gaul, den er geritten hatte, im Grase und verdrehte die Augen und zitterte wie im Fieber und keuchte.

Die beiden Männer standen sich auf der Treppe gegenüber. Pat hielt Medem strahlend mit seinen zerkratzten Händen ein Bündel Baumrinde hin.

„Ich weiß, was hier geschehen ist, ich bringe Kampferbaumrinde, Mr. Medem, das wird gegen die Herzschwäche helfen, die ja stets bei diesen Vergiftungen sich einstellt.“

Bert klopfte ihm derb auf die Schulter. „Sie sind ein braver Kerl, mein lieber Pat, und ich werde es Ihnen zu danken wissen, ebenso Lotte, daß Sie uns droben die Tür geöffnet haben, – aber mit der Kampferrinde kommen Sie zu spät, ich habe zum Glück noch rechtzeitig daran gedacht, daß neben dem Rasamala ein Kampferbaum wächst und habe die Wurzeln benutzt.“

Patrick O’Konnor machte zwar ein etwas enttäuschtes Gesicht, aber da Medem ihm dann die Summe nannte, die er ihm schenken wollte und ebenso den Betrag, den Lotte freudig hergeben würde, – da er außerdem seinem verehrten Herrn nun auch helfen durfte, die Kranke an eine schattige Stelle ins Freie zu schaffen und auch noch verschiedene Aufträge erhielt, die er recht diplomatisch erledigen sollte, war er mit den Erfolgen dieses Tages doch außerordentlich zufrieden. – –

 

17. Kapitel.

Vor dem Mausoleum Peter Lorenzens.

Es war elf Uhr vormittags.

Die Gräfin Arrenberg hatte soeben mit Hanna, Günter und dem wieder als Kaufmann gekleideten Fakir das Frühstück auf der nördlichen Veranda eingenommen und wünschte nun die Plantage zu besichtigen. Daß Lotte und Medem noch immer abwesend waren, hatte Hanna zunächst sehr beunruhigt, aber die Erklärung des alten Birra, die in ganz besonderem Tone vorgebracht wurde, man solle sich der beiden wegen nicht weiter beunruhigen, sie befänden sich wahrscheinlich im Lotos-Bungalow, genügte allen, nur die Gräfin rümpfte etwas die Nase und nahm ihren Günter nachher ein wenig beiseite und hielt ihm einen geharnischten Vortrag über seine Rechte und Pflichten als Lottes Verlobter, wozu Günter auffallend schweigsam blieb und nur zu Hanna hinüberschielte.

Er hatte sich mit ihr wieder so vortrefflich unterhalten, wobei ihn nie wie im Gespräch mit Lotte das scheußliche Gefühl überkam, ihr geistig allzu sehr unterlegen zu sein, obwohl auch Hanna nicht sehr rücksichtsvoll mit ihm umging und ihm dauernd unter die Nase rieb, daß er sich endlich daran gewöhnen solle, vom Rockzipfel der Mutter loszukommen. „Sie sind doch ein erwachsener Mensch und ein Mann!!“ hatte sie gesagt, und Günter hatte seufzend erwidert: „Das macht die Erziehung, außerdem kennen Sie meine Mama nicht …!“ – „Sie wird mich dann kennenlernen!“ meinte die frühere Erzieherin der jungen Rani leichthin.

Nun saßen Hanna und Günter, nachdem sie sich von der Gräfin und Birra ganz im stillen abgesondert hatten, was durchaus in Hannas Absicht lag, im Parke in dem großen Zypressenrondel auf der Marmorbank gegenüber dem Eingang zu Peter Lorenzens Mausoleum. Beide rauchten und waren in Gedanken versunken, nur daß diese Gedanken sehr verschiedener Art waren und doch denselben Gegenstand umspielten. Günter seufzte wieder sehr viel und sehr verstohlen, und sein hübsches, nur etwas weichliches Gesicht sah bekümmert aus.

Gewiß, die Vindhya-Plantage gefiel ihm, auch gegen Indien hatte er trotz des Elefantenrittes nichts einzuwenden, nur die Geschichte mit den Brillenschlangen war ihm etwas auf die Nerven gefallen, aber am meisten bedrückte ihn doch anderes, so zunächst sein Verhältnis zu Lotte und dann der Gedanke an das erste Zusammentreffen mit Medem. Er hatte da vorhin in Medems Zimmern dessen Jagdtrophäen sich angeschaut und fühlte nun die allergrößte Hochachtung vor einem Manne, der die Tiger so ungefähr wie harmlose Wildkaninchen erlegte und der seine Räume mit geradezu spartanischer Einfachheit eingerichtet hatte und doch hier der ungekrönte König einer Zauberwelt blieb, denn die Plantage stellte ja ein kleines Fürstentum für sich dar.

So groß und so vielgestaltig hatte sich Günter den Riesenbetrieb nie ausgemalt, und wenn er daran dachte, daß er hier etwa die Verantwortung übernehmen müßte, dann wurde ihm sehr bänglich zumute, – es war ja ausgeschlossen, Medem zu entlassen, wie seine Mutter heute wieder angedeutet hatte, das würde eine nette Katastrophe geben! Medem mußte bleiben!

Er raffte sich auf und sagte zu seiner kleinen reizenden Vertrauten: „Hannachen, mir ist sehr wenig wohl zumute!“ Dann kam ein langer Seufzer und eine endlose Pause, die er damit ausfüllte, daß er Hannas Hand ergriff und mit ihren Fingern spielte, als ob er daran abzählte: „Ja, nein, ja, nein, ja“, und dann nahm er einen neuen Anlauf und stieß hervor: „Ich kann Lotte nicht heiraten, unmöglich!“

Hanna atmete auf, – dieses Bekenntnis erleichterte ihr ihre eigene Aufgabe ganz wesentlich, obwohl ihre Person hier zunächst nicht mitsprach.

Günter, der nun einmal im Zuge war, sprach sich jetzt das Herz frei.

„Sehen Sie, Hannachen, ich war da doch in Arrenberg verraten und verkauft, bevor Lotte zu uns kam. Ich hatte keinen Menschen, mit dem ich ein vernünftiges Wort reden konnte, denn die Mama und unser Bekanntenkreis, – Horizont gleich Null, immer nur dasselbe Thema: „Wir haben Anspruch auf einen gewissen Lebensstandard, mögen die anderen auch hungern!“ Wenn ich schon das Wort Lebensstandard hörte, wurde mir schlecht. Kein Mensch borgte uns mehr einen Pfifferling, aber … der Lebensstandard verlangte, daß man so tat, als besäße man noch was. Und dann kam Lotte in diese muffige Luft hineingeweht wie ein Orkan aus fremdem Lande, Tropenglut fiel in die frostige Förmlichkeit einer in Vorurteilen und angemaßten Rechten erstarrten Umgebung. Ich selbst war ja nicht viel besser als die andern, bewahre, ich lebte so in den Tag hinein und plapperte sinnlos nach, was mir von Kindheit an eingetrichtert war: Graf Arrenberg, uralter Adel so etwa von den Menschenaffen her – entschuldigen Sie, Hannachen, aber manchmal wuchs mir dies alles wirklich zum Halse heraus. Ich las ja Zeitungen, und wenn auch Mamas Leib- und Magenblatt immer noch so tat, als wäre die Weltgeschichte ab Anno neunzehnhundertvierzehn zum Stillstand gekommen, so war das eben Vogelstraußpolitik für die spärlichen Abonnenten. Ich steckte die Nase heimlich auch in andere Blätter, und dort fand ich ganz anderes, dort sprach man vom Werte der Einzelpersönlichkeit, dort geißelte man schonungslos alles, was morsch und faul und rückständig war. Und dann kam, wie gesagt, Lotte, die Vertreterin einer fremden Welt, und ich unterlag diesem Neuen und staunte Lotte an, die mit der Mama so umsprang, wie ich’s nie gewagt hätte, und aus alledem entstand bei mir die Sehnsucht nach einem Menschen, der mir Kamerad und Vertrauter sein sollte und daraus erwuchs der leicht begreifliche Irrtum der Liebe. – So war’s.“

Hanna saß ganz still da und freute sich. Niemals hätte sie Günter für fähig gehalten, so verständig und gerecht die Sachlage zu beurteilen. Er war doch wertvoller und reifer, als sie angenommen hatte.

Er sprach weiter. „In unserer Familie hatten wir da ein räudiges Schaf, wie Mama sich auszudrücken beliebt, das war eine Bürgerliche, meine Urgroßmutter. Sie war natürlich sehr reich und sehr klug und soll mit Goethe korrespondiert haben, ich glaube, von der habe ich vieles geerbt, nicht die Klugheit, aber die freieren Anschauungen, die Lotte dann noch mehr weckte und Sie, Hannachen – heimliche Mondscheinfahrt auf dem Kanal Grand!“ Er drückte Hannas Finger stärker und flüsterte etwas heiser: „Was soll nun werden? Die Mama schwärmt schon für die Plantage und würde mich … – Heiliger Nepomuk, da ist sie!!“

Die Gräfin und Birra näherten sich vom Flugplatze her, und Frau von Arrenberg trug den Kopf noch höher und sagte gerade zu dem Fakir in ihrem sehr mäßigen Schulenglisch: „Das ist ein königlicher Besitz, ein Wunder, wie ein einfacher Marschbauernsohn so etwas hat schaffen können. Nur der Medem muß irgendwie abgefunden werden, der Mann ist einfach unmöglich!“

Für die Gräfin war noch vieles unmöglich, am unmöglichsten aber war die Gestalt, die nun unter den Bäumen auftauchte und schon von weitem freundlichst winkte.

Hanna und Günter hatten sich etwas schuldbewußt der lieben Mama wieder zugesellt, und Hanna übernahm nun die Verstellung.

„Das ist Mr. O’Konnor Patrick, meine rechte Hand.“

Pat machte vor der Gräfin einen mäßig tiefen Kratzfuß. Seit er auf der dreckigen Kulibrigg mit einem Matrosen zusammengewesen, der ein richtiggehender Baron war, imponierte ihm der Adel absolut nicht mehr, außerdem mißfiel es ihm gründlichst, daß die Gräfin ihn durch ihre Lorgnette wie ein Wundervieh anstierte und Schritt für Schritt zurückwich, obwohl er sich doch um die zerfetzten Hosen in der Hüftgegend, damit ja nicht das öffentliche Schamgefühl verletzt würde, einen wundervollen Lendenschurz, nämlich sein Taschentuch, umgegürtet hatte. „Das ist Ihre rechte Hand, Fräulein Reis?!“ fragte die Gräfin mit gutem Recht sehr gedehnt, denn Pat sah mehr nach einem Strauchdieb als nach einem auch nur leidlich anständigen Menschen aus.

Günter konnte sich ein Lächeln nicht verbeißen, denn er hatte durch Hanna über Patrick schon so allerlei gehört. Es war sein Pech oder sein Glück, wie man’s nehmen will, daß Pat dieses Lächeln bemerkte und es sehr übelnahm, denn er war jetzt ein reicher Mann, nachdem ihm Medem, den er sehr verehrte, fünfzigtausend und Lotte ihm sogar hunderttausend Rupien geschenkt und Bert ihm zudem die Stelle als Oberverwalter der Plantage angeboten hatte.

Das Lächeln ärgerte ihn, und da er ja auch den Herrschaften hier sehr diplomatisch einige unumstößliche Tatsachen so etwas durch die Blume mitteilen sollte, entledigte er sich seines Auftrags in ziemlich undiplomatischer Form und recht gereizten Tones.

„Sie sind doch der Exverlobte der armen Lotte, nicht wahr? Nun, dann soll ich Ihnen und Ihrer Mama einen schönen Gruß bestellen von dem nettesten Brautpaar, das ich bisher gesehen habe, und die ganzen Herrschaften möchten abends hübsch vernünftig nach dem Lotos-Bungalow kommen und nichts übelnehmen, denn die Geschichte mit dem Grafen und Lotte war doch nur ein Versehen hinsichtlich der gegenseitigen Gefühle, zumal doch Sie, Mr. Graf, in die Miß Chef verschossen sind, sonst würden Sie wohl nicht mit ihr schon in Venedig die Mondscheinfahrt auf dem dreckigen Kanal mit den vielen Apfelsinenschalen und den Küchenabfällen unternommen haben, was doch immer ein Zeichen …“ – – Armer Pat, weiter kam er nicht. Die Gräfin war dicht an ihn herangetreten und schaute ihn mit Blicken an, daß selbst Pat zurückwich.

„Was reden Sie da?!“ fragte sie unheimlich ruhig. „Wer hat sich verlobt, wer? Ich habe das nicht ganz begriffen …“

In diesem Augenblick beging Günter die heroischste Tat seines ganzen Lebens. Ehe es sich Hanna versah, hatte er sie vor aller Augen geküßt und erklärte dann freudestrahlend und mit einer Selbstverständlichkeit, die verblüffend wirkte:

„Hanna und ich haben uns verlobt, liebe Mama, und da Hanna jetzt noch, wenn der Radscha heiratet, das große Ehrengeschenk erhält, weil sie doch die Rani erzogen hat und wir mithin Arrenberg wieder …“ – –, auch er kam nicht zu Ende … – – Die Gräfin hatte ihre Momente, in denen sie wahrhaft groß war, – so jetzt! Sie war Dame von Welt, sie besaß jene Schlauheit, die man sich so leicht innerhalb eines Kreises anlernt, der die ungeschminkte Aufrichtigkeit als Unerzogenheit und die kleine Zwecklüge als erlaubt ansieht und so in Widersprüchen sich bewegt, die man bemänteln muß, – sie hatte einmal schon Olliver Dalton bewiesen, daß sie scheinbar unberechenbar war, – jetzt, wo sie den Millionentraum zerflattern sah, wo sie ihren Jungen außerdem zum ersten Male wahrhaft männlich sein Zukunftsglück verteidigen und fast herausfordernd ihr Einverständnis als selbstverständlich vorwegnehmen sah, siegte abermals nicht nur diese kühle Schlauheit, sondern auch ein wärmeres Gefühl, das ihrem großen Jungen galt, – sie hatte ja nur das eine Kind, und es wäre unnatürlich gewesen, wenn sie nicht angesichts Günters strahlenden Blicken aus rein mütterlichem Empfinden heraus Hanna nun in die Arme geschlossen und geküßt hätte und dies mit mehr Herzlichkeit, als sie für Lotte je hatte aufbringen können, da zwischen ihr und Lotte doch stets wie eine unsichtbare Scheidewand der Gedanke an die Millionenheirat gestanden hatte.

Pat, der seine Miß Chef über alles liebte, wurde ob dieser Szene so gerührt, daß er sich schnäuzen mußte und dazu seinen Lendenschurz benutzen wollte, – er ließ ihn aber doch schnell wieder sinken, da es ihm nicht ratsam schien. Er entfernte sich schleunigst nach dem Schlosse zu und lief im Flur ausgerechnet der frechen Kröte, der Zofe Bessy Drout, in die Arme, mit der er soeben schon einen kleinen Speech gehabt hatte, als er nach den Herrschaften gefragt hatte, worauf Bessy ihn entsetzt auf seinen gewesenen Tropenanzug aufmerksam machte. Und jetzt tat sie es abermals und meinte hilfsbereit: „Ich werde Ihnen einen der Anzüge Mr. Medems an den Ärmeln und Beinkleidern kürzen, und dann sehen sie wie ein Kavalier heute abend aus – im Bungalow zur Verlobungsfeier, zur doppelten Verlobungsfeier.“

Worauf Pat sie verdutzt anstierte: „Was zum Teufel wissen Sie von doppelter Verlobungsfeier?!“

„Ich weiß stets alles“, kicherte Bessy vielsagend.

„So?! Alles? – Dann passen wir fein zusammen, denn auch ich weiß immer alles. Gut, machen Sie mir die Hosen kürzer, Sie sind ein vernünftiges Frauenzimmer, vorher holen Sie mir aber noch eine Flasche Whisky von der guten Sorte, die ganz große Flasche …!!“

 

18. Kapitel.

Der Mharatte erklärt …

Lotte erwachte. Ihr Erwachen war traumhaft-unwirklich. Sie lag im Freien auf einer bunten Seidendecke, und ihre beiden Hände ruhten im Wasser, das in zwei Rinnsalen ihre Lagerstatt umfloß wie zwei Quellen des reinen Glückes. Vor ihr dehnte sich der Teich mit seinen vielfachen Wasserpflanzen aus, vor ihr schimmerte die Pracht der grünen Wildnis, die hier am Lotossee herrlicher als anderswo die Farbenfülle ihrer Blüten und Sträucher und Gräser und der ebenso farbenfrohen Felspartien zeigte. Auf der Oberfläche des Weihers schwammen keine Lotosblumen. Nur die runden Riesenblätter, tiefgrün und am Rande etwas nach oben gebogen, deuteten die Stellen an, wo die keuschen Wasserrosen sich vor den heißen Strahlen der Sonne in der Tiefe verborgen hatten, um erst nachts wieder aufzusteigen aus ihrem Elfenreiche, dessen mattes Dämmerlicht sie nun in Schlaf gewiegt und ihre weißen Blütenblätter wie die Äuglein von Kindern des Wundersees geschlossen hatte.

Ganz leise murmelten die beiden von Medems kundiger Hand derart umgeleiteten Wasserläufe an Lottes Lagerstatt vorüber und kühlten die mißhandelten Finger, die bereits wieder infolge dieses Dauerbades ihre ursprüngliche Form zurückgewannen. Unter Lottes Kopf lag ein Kissen, und so konnte sie denn den ganzen See überblicken und sich allmählich erst zurückfinden in die grauenhafte Erinnerung der letzten Minuten, bevor sie das Bewußtsein verloren hatte. Langsam und ohne sie zu sehr zu erschrecken wurden die Einzelheiten der Vorgänge ihr wieder gegenwärtig, und doch erschien plötzlich auf ihrer Stirn, auf der ein kecker, durch die schattigen Büsche dringender Sonnenstrahl spielerisch hin und her zu tänzeln schien, eine sich immer mehr vertiefende Falte unmutigen und peinvollen Nachdenkens.

Wie war das doch gewesen, wie nur? Da war doch, als sie vor dem Tiger in die Höhle flüchtete, noch eine Frau außer ihr zugegen gewesen? – Eine Frau? – Wer nur, wer? – – Mit einem Male dachte sie an Astrids Entführung und an die Tür der Felsenhöhle, die doch so schwere Riegel gehabt hatte. Und Bert war dort gewesen bei dieser Frau!

Die Stirnfalte vertiefte sich noch stärker, und Lotte krampfte sich plötzlich das Herz in wehem Verzicht zusammen. Bert und Astrid – natürlich hatte Bert nach Astrid gesucht und sie gefunden und …

Heiße Röte schlug ihr ins Gesicht … Sie entsann sich ja nur zu genau, daß sie Bert in die Arme gesunken war und ihn geküßt hatte … Sie hatte an seiner Brust geruht, und dann war mit einem Male die Lampe erloschen, und es war Nacht geworden um sie her – auch in ihrem Geiste. Von da an wußte sie nichts mehr.

… Ein Geräusch neben ihr … Sie wendet den Kopf …

Ein blasser Mann mit tief umschatteten Augen beugt sich zu ihr herab. Es sind die Schatten der überstandenen Todesangst, die seinen Blick wie umflort erscheinen lassen. Er lächelt Lotte freudig an und sagt seltsam heiser, als gehorche ihm die Stimme nicht ganz: „Endlich munter und wach, mein Liebling?“

In seinen Wimpern schimmert es feucht, und sein bleiches Gesicht rötet sich wie unter dem frohen, schnelleren Pochen des Herzens.

In Lottes Seele meldet sich kein Frohsinn, kein Glücksgefühl. Lotte denkt nur immer an die andere und daran, daß dieses „Liebling“, das Bert da soeben sprach, nur der guten Kameradin gelten kann, der Verbündeten jener Stunde, als er in ihrem Schlafzimmer weilte und alles darauf hindeuten sollte, daß sie seine Geliebte sei.

Sie schließt schnell die Augen, und dunkles Rot färbt ihre Wangen und steigt bis zur Stirn, bis zu der einen blonden Haarsträhne, die das einzige Anzeichen von bescheidener Koketterie bei Lotte ist.

Ahnt Medem, was in ihr vorgeht? – – Vor Wochen hätte er es vielleicht noch nicht geahnt, da war er noch ein Mann, der den goldenen Mittelweg noch nicht gefunden hatte. Jetzt steht er mit beiden trutzigen und starken Beinen auf diesem Pfade der letzten Erkenntnis und dankt im stillen dem Schicksal sogar für die Stunden unendlicher Pein, die er dort in dem alten Höhlentempel für Lotte und für sich durchlitten hat, denn was sie ihm an neuen Offenbarungen gaben, diese Stunden, das möchte er nun nicht mehr missen, da Lotte ja lebt und völlig genesen wird.

Das ist der andere, der neue Bert, der sich nun über Lotte beugt, indem er neben ihr in dem Rinnsal kniet und die murmelnde Quelle nur wieder zum Sinnbild der ewigen, naturgewollten Schöpfungskraft wird. Es ist der neue und doch der frühere Bert, der jetzt mit aller Zartheit fragt:

„Lotte, soll ich dir erklären, weshalb Astrid dort unten weilte und daß sie mir nicht mehr gilt als eine Wildfremde?“

Sie öffnet schnell die Augen und schaut ihn an und … lächelt plötzlich. In diesen graublauen Friesenaugen, die die Weite und die Größe und die Unendlichkeit des Meeres widerspiegeln, ist auch das Leuchten des Meeres bei Sonnenaufgang. Aus den tiefsten Tiefen strahlt es hervor und enthält alles, was hier auch ein Weib zu verschenken hat, wie Lotte es ist.

Sie lächelt nur und hebt die Hände aus den rieselnden Quellen und schlingt die Arme um Medems Hals und zieht ihn zu sich herab und küßt ihn und flüstert nur:

„Endlich – endlich! Ohne dich wäre das Leben leer geblieben!“

Ein sanfter Windstoß fährt über den Lotosweiher, und all die Wasserpflanzen mit den bunten Dolden und all die Bäume ringsum verneigen sich, und ein Rauschen geht durch die Zauberwildnis am Lotossee, als ob auch die Natur sich verneige in Andacht vor dem Wunder der Vereinigung zweier Menschenherzen.

*

In dem dämmerigen Raume mit den vergitterten Fenstern sitzt wieder der alte Mharatte mit dem langen, von Silberfäden durchzogenen Bart, und in der andern Ecke neben der Lampe sitzt der junge Fürst von Beldari.

„Es ist mein Wunsch“, sagt der Radscha träumerisch, „daß Sie, mein lieber Freund und Helfer, sowie alle die, die Ihnen nahe stehen, an meiner Hochzeitsfeier teilnehmen, und der sonst so strenge Oberbhuta hat nichts dagegen, – ausnahmsweise.“

Fürst Ghawi lächelt mit einem Male etwas vieldeutig.

„Er hat nämlich ein schlechtes Gewissen, der alte Oberpriester. Ich war ihm zu mächtig geworden, aber nun, wo er selbst sich bei diesem Spiel fast die Finger verbrannt hätte, da Agdera Chan die Herausgabe aller Tempelschätze verlangt hatte, hat er vorhin reumütig gebeichtet. Ernest Dalton war der geheimnisvolle, maskierte Besucher, dem der Oberbhuta damals die Röhre mit den Bazillen aus der Tasche wegzauberte und sie nachher dem treuen Birra zeigte.“

„Ich wußte das längst“, meinte der Mharatte gelassen, „aber ich durfte es nicht darauf ankommen lassen, daß bei mir auf der Plantage die Cholera ausbrach, ich hatte auch keine direkten Beweise. Jedenfalls wußte Cray nichts davon, – ein Schurke dieses Ausmaßes war er doch nicht, er hatte nur enorme Schulden bei Dalton. Nun, das alles ist nun ja erledigt, auch Olliver Dalton dürfte verhaftet und sehr gern bereit sein, den Lorenzenhof, den er ja nur erwarb, um sich irgend ein Druckmittel gegen Lotte zu sichern, wieder zu veräußern. Astrid und Cray sind gemeinsam unterwegs nach Norden, und Hanna meldete mir soeben telefonisch und freudestrahlend ihre Verlobung.“

„Sie verfügen über ein vollendetes Nachrichtensystem, mein verehrter Freund!“ Der Fürst verneigte sich anerkennend.

„Das stimmt, Radscha. Ich hätte auch die kleine Revolution bei Ihnen verhüten können, aber Birra und ich kamen überein, daß es so am bequemsten sei, die Schuldigen zu bestrafen. Sie sind tot! Ich habe nie eine übertriebene Vorstellung von dem Werte eines Menschenlebens gehabt, – nur um ein Leben habe ich mich in der letzten Stunde über die Maßen gesorgt, – nun, die neuesten Nachrichten Patricks lauteten sehr beruhigend, und“ – er schwieg eine Weile – „aus diesem letzten Fall ersehen Sie, Radscha, daß auch mein Überwachungssystem nicht ganz zuverlässig war …“

Ghawi erhob sich. „Ich muß jetzt gehen.“ Seine Stimme hatte wieder einen träumerischen Klang angenommen. „Miß Hanna sagte mir, daß meine zukünftige Gemahlin sehr schön und sehr klug sein soll. Auf Hannas Urteil ist Verlaß. Ich freue mich auf meine Hochzeit, und dies um so mehr, als ich alle meine Bekannten, insbesondere Sie, meinen väterlichen Ratgeber und Freund schon meines Vaters, um mich sehen werde.“

Der Mharatte erhob sich gleichfalls und geleitete seinen Gast durch eine Tür hinter der Seidenbespannung in eine versteckte und von Felsen überdachte Höhle der Randberge und weiterhin bis in ein Tal, wo die Elefanten und ein großes Gefolge den Fürsten erwarteten. Die beiden Männer schieden mit einem stummen Händedruck, und der Mharatte hütete sich, dem festlichen Troß des Radscha allzu nahe zu kommen und kehrte in sein verschwiegenes Versteck zurück, das er nur nachts verlassen hatte, um seine weitschauenden Pläne, die ein sehr gewagtes Spiel mit Menschenherzen gewesen, persönlich beaufsichtigen zu können.

*

Auch dieser Tag, an dem Patrick so glänzende Geschäfte gemacht hatte, neigte sich seinem Ende zu, – die Sonne versank hinter den westlichen Kuppen der Vindhyaberge, und ein frischer Lufthauch kräuselte den Spiegel des Lotossees. Die Abenddämmerung kam, und die ersten vorwitzigen Lotosblüten schoben ihre Köpfchen über die Oberfläche hinaus und blickten sich neugierig um, denn am Tage hatten sie nun nicht mehr das Weinen einer Frau vernommen, sondern nur noch ein melodisches Lachen und eine Männerstimme, die so und so oft „Liebling“ rief, – und das hatte ihnen weit besser gefallen und das hatte sie so neugierig gemacht.

Jetzt ertönten Stimmen in der Nähe, und ein Reitertrupp mit vielen Dienern und lodernden Fackeln näherte sich.

Allen voran trabte der neue Oberaufseher der Plantage, Mr. Patrick O’Konnor, und hielt der Gräfin, die dicht hinter ihm war und die sich nun mit ihm völlig ausgesöhnt hatte, auf seine Art Vortrag, wobei er sein eigenes Ich dauernd in den Vordergrund schob, was ihm ja auch zukam. „Kampferrindentee hilft gegen alles. Ich weiß das längst, ich weiß überhaupt immer alles, auch daß die Zofe Bessy heimlich Miß Hannas Zigaretten klaut. Aber das werde ich ihr schon abgewöhnen, ich heirate sie nämlich, denn sie hat mir heute die Hosen so gut kürzer gemacht, daß ich solch eine Frau brauche. Außerdem weiß auch sie immer alles, und das ist mir zu gefährlich, – wenn zum Beispiel Herr Bert seine Zigarren durchzählt, wird er sich wundern. Kommen wir auf den Kampfertee zurück, – ich war mal Kautschuksammler droben in den Sümpfen von Annam, das ist nämlich ein Land nach Osten zu, und da bekam ein Kerl von uns den Durchfall und gleich so, daß er …“

„Erzählen Sie lieber von Lotte …“ unterbrach ihn die Gräfin hastig.

„Wie Sie wollen, obwohl die Geschichte der Annam-Ruhr auch sehr interessant ist, denn ich gab dem Kerl gleich so starken Tee, daß er in fünf Minuten tot war.“

„Tot?! – Ich denke, der Tee hilft gegen alles?!“

„Na, zum Deibel, nennen Sie das keine Hilfe, wenn ich dafür sorge, daß der arme Kerl sich nicht zwecklos fünf Stunden quälen muß?! Gegen die Annam-Ruhr ist noch kein Kraut gewachsen, und je früher einer stirbt, desto besser.“

„Gemütsmensch!!“ rief Hanna vom Sattel aus. „Jetzt aber Trab, sonst wird das Abendessen kalt. Der Mharatte verlangt Pünktlichkeit!!“

*

Das Wiedersehen zwischen Bert und Lotte einerseits und den beiden Arrenbergs andrerseits gestaltete sich weit zwangloser, als die Beteiligten sich dies ausgemalt hatten, da hier die gesellschaftliche Gewandtheit der Gräfin und Lottes natürliche Herzlichkeit wesentlich mithalfen, der ersten Begrüßung alles Peinliche zu nehmen. Die Gräfin schloß Lotte in die Arme und bat sie weiterhin um das verwandtschaftliche Du, – und auch Bert, der den Arrenbergs hier zum ersten Male persönlich gegenübertrat, besaß die weltmännische Sicherheit, Günter sofort fest die Hand zu drücken und ihm und Hanna mit einem Scherzwort zu gratulieren.

Lotte war noch etwas schwach und saß im Speisezimmer in einem mit Kissen weich ausgelegten Sessel. Nur der Mharatte fehlte vorläufig und ließ sich durch Medem entschuldigen, auch Lotte hatte ihn noch nicht zu Gesicht bekommen und war sehr gespannt auf diesen erprobten Freund ihres Onkels, der doch offenbar schon immer hier auf der Plantage sehr viel zu sagen gehabt hatte.

Man setzte sich also zunächst ohne ihn zu Tisch und öffnete nach altindischer Sitte die Geschenkpäckchen, die vor jedem Platze bereitlagen. Es kamen da Kostbarkeiten zum Vorschein, die nur ein sehr reicher Mann sich als Angebinde für seine Gäste leisten konnte. So hatte die Gräfin zum Beispiel ein Brillantarmband vorgefunden, das einfach unschätzbar war und das sie auch sofort anlegte, während Günter neben einem Brillantringe einen von Medem ausgestellten Scheck über einen Betrag erhielt, der vollauf genügte, das Gut Arrenberg schuldenfrei zu machen. Auch Hanna war mit einer Perlenkette und mit einem vom Fürsten Ghawi stammenden Scheck beglückt worden, – niemand war leer ausgegangen, und Lotte und Medem fanden Verlobungsringe vor, die überraschend gut paßten, selbst Pat konnte zufrieden sein, denn die Uhrkette und die Busennadel schätzte er sachkundig ab und errechnete einen Betrag, der seinem sonstigen Reichtum durchaus entsprach.

Das Speisezimmer des Lotos-Bungalows war mit Blumen genau so prächtig geschmückt, wie die Tafel selbst. Die Gäste waren nach englischer Sitte in großer Abendtoilette erschienen, und alles hier bewies Kultur und verfeinerten Geschmack, sogar die Diener trugen Handschuhe und servierten mit einer Gewandtheit, daß die Gräfin, die sich nun vollkommen mit der Wandlung der Dinge ausgesöhnt hatte, Medem immer wieder ihre volle Anerkennung aussprach.

Nachdem das Vorgericht serviert und die Weingläser gefüllt waren, erhob sich Medem, klopfte an sein Glas und bat um kurzes Gehör.

„Meine lieben Freunde“, begann er mit einem versteckten Lächeln, „ich habe eine Pflicht übernommen, die nicht so ganz einfach ist, denn ich möchte Sie alle nicht zu sehr erschrecken, da – ich einen geliebten und verehrten Toten wieder lebendig machen muß. Er selbst wird Ihnen sofort persönlich erklären, weshalb ein so trügerisches Spiel nötig war, – allerdings hat auch er mir noch nicht alles von seinen geheimen Absichten offenbart, in die wohl nur unser Freund Birra restlos eingeweiht sein dürfte.“

Der Fakir nickte.

In demselben Augenblick öffnete sich die Tür und Peter Lorenzens hohe, imposante Gestalt mit dem langen blonden Vollbart trat ein und schritt auf Lottes Platz zu, beugte sich über das Mädchen und sagte ganz schlicht:

„Da hast du mich, kleine Lotte. Ich bin dein Onkel Peter, und wie du siehst, erfreue ich mich der besten Gesundheit.“

Dann küßte er sie auf die Stirn und den Mund setzte sich auf seinen bisher freien Stuhl und schaute sich lächelnd im Kreise um, sah nur überall die halb erschrockenen Mienen der Nichteingeweihten und lachte dann geradezu übermütig.

„Ich will euch nicht mit einer langen Vorrede aufhalten“, meinte er schmunzelnd. „Die Geschichte meines Sterbens ist bald erzählt, schwieriger ist schon die andere Sache, denn da habe ich etwas gewagt, das ebenso leicht hätte zum Schlechten ausschlagen können. Ihr wißt alle, daß der Resident Lord Cray und die Daltons sich zusammengetan hatten, um mir die Plantage zu rauben und daß sie hierbei in der Wahl ihrer Mittel nicht gerade sehr anständig vorgingen. Besonders Ernest Daltons Schurkenstreich mit den Cholerabazillen, die aus dem von ihm eingerichteten Laboratorium stammten, hätte hier auf der Plantage selbst bei größter Wachsamkeit viel Unheil anrichten können.“

Er blickte zu Birra hinüber, und der Fakir nickte nur wieder sehr ernst.

„Aber es lag mir nebenbei noch an etwas anderem“, fuhr Lorenzen bedächtiger fort. „Ich hatte Medem schätzen gelernt und wußte auch durch Hannas Berichte aus Deutschland, daß Lotte ein Charakter war, der es verdiente, einmal hier die Herrin zu spielen. Hanna hatte, bevor sie in meine Dienste trat, die junge Rani drei Jahre erzogen und ihr traute ich genügend Menschenkenntnis zu, Lotte richtig zu beurteilen. Mein sehnlichster Wunsch war nun der, daß die beiden jungen Menschen, die meinem Herzen am nächsten standen, nämlich Lotte und Bert, sich zusammenfanden und heirateten. Ich hinterließ zwei Testamente, wie nur Birra wußte, eins, das Lotte zur Erbin einsetzte, und ein zweites, noch nicht eröffnetes und jetzt ungültiges, das Medem für den Fall zum Erben machte, daß er und Lotte sich nicht heirateten, – Lotte war für diesen Fall mit einer Million in bar abgefunden werden.

Nun, ich hatte Glück. Nachdem ich durch den Trank, den Freund Birra mir verschafft hatte, einen todesähnlichen Zustand hervorgerufen hatte und beigesetzt worden war, holte mich Birra aus dem Sarge wieder hervor und von da an spielte ich den Mharatten. Mein Plan glückte, obwohl er einige Male sehr bedenklich am Scheitern war, so in Venedig, wo Lotte beinahe den Grafen geheiratet hätte, – was allerdings verhindert worden wäre.“

Er schmunzelte vergnügt und drohte Lotte mit dem Finger.

„Mädel, du hast mir noch zweimal hinterher einen bösen Schreck eingejagt. Damals, als du nur durch die Schlauheit Medems den Lord täuschtest und sogar bekehren konntest und dann, als die Astrid euch eingesperrt hatte, – aber das alles liegt ja nun glücklich im Schoße der Vergangenheit, und wenn ich alter Heiratskuppler mich nun hier so im Kreise meiner Lieben umsehe, wird mir das Herz warm und ich denke, ihr alle könnt zufrieden sein mit dem, was ich mir da ausgeklügelt hatte. Und jetzt wollen wir vergnügt sein und zunächst mal die beiden Brautpaare hochleben lassen. Pat, alter Knabe, rufe mal die Dienerschaft herein und sorge für den Sekt, denn an dieser Familienfeier soll alles teilnehmen, was zur Plantage gehört, hier herrscht ein ganz patriarchalisches Verhältnis.“

Das Hoch auf die beiden Brautpaare war weithin zu hören und lockte auch den Mann noch näher herbei, der als Flüchtling und mit den schlimmsten Absichten hierhergekommen war.

Die Gräfin hatte sich mit Lorenzen aufs beste unterhalten, nur eins war ihr nicht recht bekommen: Der viele Sekt, der aus Anlaß der zahlreichen Brüderschaften, die man allseits abschloß, notwendig getrunken werden mußte. Sie schritt daher nun in den mondhellen Park hinaus und entfernte sich immer weiter vom Hause, wo jetzt bereits die Radiomusik der Feier die fröhliche Weihe gab und Pat zu allgemeiner Erheiterung einen Matrosentanz vorführte.

Die Gräfin war glücklich und mehr als zufrieden und ließ ihr neues Armband im Mondschein funkeln …

Das, was sie und Günter erlebt halten, erschien ihr wie ein Traum und zugleich wie eine höhere Fügung. Sie hatte nun einen Blick in eine Welt getan, die ihr bis dahin fremd gewesen, sie hatte Menschen kennengelernt, deren Eigenart sie jetzt voll zu würdigen wußte, sie fühlte, daß eine Unmenge von Vorurteilen von ihr abgefallen waren und daß ihre Augen Welt und Weltgeschehen und Schicksalswalten nun anders zu bewerten gelernt hatten. Auch für sie war das indische Erlebnis ein inneres Erleben und eine innere Wandlung geworden.

Sie freute sich dessen, sie sah ihren Sohn glücklich, und sie hatte nur das eine Kind gehabt, jetzt besaß sie noch eine kluge Schwiegertochter und Freunde, denen sie ewig dankbar sein würde.

Sie schreckte aus diesen angenehmen Gedanken jäh empor.

Vor ihr stand ein Mann im schmutzigen Tropenanzug mit zerbeultem Tropenhelm und unrasiertem Gesicht, in dem ein Monokel höhnisch schimmerte.

„Ich wußte ja, daß wir uns wiedersehen würden“, sagte Olliver Dalton haßerfüllt. „Nun können wir unsere Rechnung ja sofort ausgleichen. Ich brauche Geld! Her mit dem Armband, – ich kenne es, – es ist an hunderttausend Rupien wert. Her damit!!“

Frau von Arrenberg betrachtete den zum Banditen herabgesunkenen Dalton mit aller Ruhe und Verachtung, – sie griff nach dem Armband und sagte nur mit eisigster Geringschätzung:

„Bitte, – wenn Ihnen damit gedient ist!“

Ihre vornehme Gelassenheit reizte Dalton zur Wut. Er fühlte die tiefe Verachtung, mit der sie ihn strafte, und er kam sich selbst in diesem Augenblick so erbärmlich vor, daß der Haß nur noch stärker und sinnloser in ihm aufflammte.

Er streckte die Hände aus und wollte in seiner blinden, zügellosen Mordgier, den Hals Frau von Arrenbergs umklammern. – –

– – Woher die Kugel kam, die ihn jäh niederwarf, erfuhr niemand, – und die eine, die es wußte, schwieg. – –

Als die Gräfin den Schuß, der unmittelbar neben ihr aus einem Gebüsch abgegeben wurde, hörte und Olliver zusammenbrechen sah, schrak sie nur einen Schritt zurück, beugte sich dann wieder über den Toten und richtete sich wieder auf, – das Loch in der Stirn besagte ihr genug. Sie kehrte in den Bungalow zurück und berichtete nicht eine Silbe von dem Geschehenen, um das Fest nicht zu stören … Der Schuß war infolge der Tanzmusik nicht gehört worden.

Kurz nach ihr erschien Günter, der sie im Parke gesucht hatte, weil er durch ihr langes Ausbleiben beunruhigt worden war. Günter beichtete Hanna noch in derselben Nacht das Vorgefallene und erging sich dabei in den bittersten Vorwürfen gegen sich selbst seiner Voreiligkeit wegen.

Seine Braut schaute ihn groß und lange an.

„Du machst dir Vorwürfe?“ sagte sie dann leise und schmiegte sich zärtlich an ihn. „Weshalb? Du hast nur deine Mutter verteidigt und einen wertlosen Menschen ausgetilgt. Vergiß nie, daß hier unter der Sonne der Tropen, wo das Blut eiliger durch die Adern rollt, alles mit anderem Maße gemessen werden muß – alles. Wie hätte sonst ein so nüchterner und praktischer Mensch wie Peter Lorenzen wohl auf den Gedanken kommen können, dergestalt Vorsehung zu spielen, – hat nicht auch er mit Menschenschicksalen gespielt, und sind nicht Menschenschicksale wertvoller als … ein … verspielter Mann wie Olliver?!“

Dann legte sie ihm die Arme um den Hals und küßte ihn mit einer so beglückenden Hingabe, daß Günter aus diesem Kuß zu spüren und herauszufühlen glaubte, was sie nicht ausgesprochen hatte: Daß sie ihn nun erst für das hielt, was sie ihm hatte anerziehen wollen, den Mann, der auch einmal mit aller Rücksichtslosigkeit sich als Vollnatur zeigte.

*

… An der Ostseite des Vindhya-Gebirges träumt ein kleiner Bergsee unter rauschenden Uferpalmen und wispernden, buntblühenden tropischen Bäumen seine ureigensten exotischen Märchen …

Es sind nicht alles nur Märchen … Die Märchen, von denen die auf der Seeoberfläche nächtens erscheinenden Lotosblumen einander zuraunten wie allwissende Elflein, sind Wahrheit geworden.

In den weiten Prunkgemächern des Vindhya-Schlosses feiert man Doppelhochzeit. Europäische Bräuche und indischer phantastischer Zauber mit allem sinnbetörenden Gepränge vereinigen sich, um dem Fest eine Weihe zu geben, wie dieses Fleckchen Erde, das einst Wildnis war und das durch die Energie eines eisernen Mannes ein Paradies und Stätte höchster Zivilisation wurde, sie nie gesehen.

Der Radscha hat seine Staatselefanten und sein Musikkorps zur Verfügung gestellt, von Allahabad sind viele Gäste herübergekommen, das Schloß gleicht einem Bienenhause und alles ist froh und heiter und übermütig, und nur die arme Gräfin und Patrick als Festordner haben ihre Sorgen und finden keine Ruhe.

Im großen Festsaale brennen alle Lampen und dazu ungezählte Lichte unter gelben Seidenschirmchen. Die Festtafel vereinigt die Elite der weiteren und nächsten Umgebung, – die beiden Brautpaare sitzen unter Baldachinen, vor ihnen in flachen Kristallgefäßen schwimmen Lotosblumen mit endlosen Stengeln und Wurzeln und Blättern …

Die Festansprachen sind vorüber.

Medems Diener tritt hinter den Stuhl seines Herrn und flüstert ihm etwas zu. Nimmt die Kristallschalen mit den Lotosblüten und verschwindet still.

Bert beugt sich zu Lotte hinüber und raunt ihr zu: „Es war dein Wunsch, Liebling. Es wird Zeit. Du wolltest nicht, daß auch nur eine der Lotosblüten als Tafelschmuck etwa später einginge. Es wird Zeit.“

Sie entfernen sich heimlich, und niemand achtet auf sie.

Draußen steht der Leibelefant seiner Hoheit mit den Prunkschabracken, dem edelsteinbesetzten Kopfschmuck und dem vergoldeten, überdachten Tragkorb. Fackelträger stehen bereit, die rote Flackerglut der brennenden Harzfackeln vermehrt nur noch das Märchenhafte des Bildes.

Der Mahut läßt das gewaltige Tier niederknien, und Bert hilft Lotte in den Tragkorb hinein. Ein schweigsamer Zug, umloht von dem Lichte der knisternden Brände, gefolgt von Dienern, die die Schalen mit den Lotosblüten tragen, bewegt sich dem See zu.

An derselben Uferstelle, wo Bert einst der Geliebten im Schatten der Büsche ein Lager neben der rauschenden Quelle bereitet hatte, erhebt sich ein großes Zelt, und im Wasser schwimmt ein zierliches Boot.

Das junge Paar besteigt es und nimmt die Kristallschalen mit. Dort, wo die keuschen anderen Blüten auf der Oberfläche schwimmen, vollzieht Lotte eine schlichte symbolische Handlung der Dankbarkeit gegenüber ihren Lieblingen und versenkt die Stengel und Wurzelballen der beiden Pflanzen wieder in der Tiefe des träumenden Sees, damit auch nicht eines dieser zarten und scheuen Kinder der Nacht Schaden erleide und damit sie wieder Wurzeln schlügen und weiterwüchsen zur Freude der ebenso keuschen und schönen Schwestern, auf deren Blütenblättern das Mondlicht ruht wie segnende Strahlen des ausgestirnten Firmaments …

Die Stengel versinken, und die grünen großen Blätter schwimmen wieder in ihrem Kreise der Schwestern, und die Blüten öffnen sich dankbar und blicken dem Boote nach … –

Eng umschlungen stehen zwei Menschen unter dem gewaltigen Dach des Rasamala und … schweigen … Auch die Wildnis schweigt …

Nur die Herzen sprechen zueinander … Drunten zwischen den grünen Büschen schimmert das weiße Zelt und wartet. Drüben weit ab vom Ufer lagern die Fackelträger und der mächtige Elefant als Schutzwache dieser Nacht der Erfüllung …

Bert wartet auch …

Dann hebt Lotte das Gesicht zu ihm empor, schließt erschauernd die Augen und küßt ihn und wispert: „Ich … bin … müde …“

Ihre heißen Lippen reden eine andere Sprache. In ihrem Kuß liegt die selige, völlige Besitzergreifung des Mannes, der noch nie einem anderen Weibe gehörte …

Bert hebt Lotte in seine Arme und trägt sie hinein in das Prunkzelt, und der Vorhang rauscht herab …

Über den See fährt ein sanfter Windhauch hin, und alle Bäume und Büsche verneigen sich, und die Lotosblumen recken die weißen Köpfe höher und wispern noch eilfertiger miteinander …

Der Lufthauch verweht.

Das feierliche Schweigen der Wildnis senkt sich wieder hernieder, nur in weiter, weiter Ferne jault ein Tiger.

Und auch die Stimme der Wildnis erstirbt und nun ist alles still …

Nacht der Erfüllung …

… Hochzeitsnacht … – –

 

Ende.

 

 

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Anmerkungen:

  1. Lotos-See (1 X) / Lotossee (14 X) – in der Vorlage befinden sich beide Schreibweisen, daher alles auf Lotossee geändert.
  2. Lotoshut / Lotos-Hut – in der Vorlage befinden sich beide Schreibweisen, auf Lotoshut geändert.
  3. Kapitel 10; 11 und 13 sind in der Vorlage ohne Kapitelüberschrift.