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Das Grab der Namenlosen

 

 

Olaf K. Abelsen

Abenteuer

Abseits vom

Alltagswege

 

Das Grab der Namenlosen[1]

 

Einzig berechtigte

Bearbeitung a. d.

Schwedischen von

M. Schraut

 

– Band 42 –

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 16

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschließlich das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1932 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO 16
Buchdruckerei: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 16

 

1. Kapitel.

Das mächtige Tier, das da unten zwischen den Klippen und Riffen und Steinblöcken des Buchtstrandes im lauen Sonnenschein sich ruhelos hin und her schob, als ob es die drohende Gefahr unklar witterte, machte nun in seinen schwerfälligen Bewegungen sekundenlang halt und drehte den rüsselbewehrten Kopf nach der Landseite zu und schien auch den Büchsenlauf erspäht zu haben, der droben auf der Felskanzel der Steilküste eilends zurückgezogen wurde.

Mit verblüffender Schnelligkeit schob es den spindelförmigen Leib hinter einen der vielen dunklen Basaltklötze und kam nicht wieder zum Vorschein.

Das Tier war ein männlicher junger See-Elefant, also ein Angehöriger jener Robbenart, die ausgewachsen bis zu acht Meter lang wird.

Träge, überfette Gesellen sind es, diese Seesäuger, und nur zur Paarungszeit befällt sie ein Mut, eine Angriffslust und eine Kampfesfreude, die dann die rüsselartige Verlängerung ihrer Schnauze seltsamerweise etwa wie die Haube einer gereizten Brillenschlange anschwellen läßt.

Schön sind sie nicht, diese Rüsselburschen aus der Familie der Robben, aber ihr Fell liefert nun einmal vorzügliches Stiefelleder, und so ungern ich gerade diese immerhin selten gewordenen Tiere abschieße, – der Elefantenjüngling dort hätte trotz der eigentümlichen Begleitumstände eins auf den Pelz gebrannt bekommen, wenn nicht …

Ja, wenn nicht …!

Was hatte mich eigentlich davon abgehalten, nicht doch noch abzudrücken?!

… Ich wußte es eigentlich selbst nicht recht.

Freund Kituri zischelte mir denn auch jagdeifrig und umso enttäuschter zu:

„He, Tuwan, – du nicht schießen?! He – nun große Robbe schwimmen weg, und harte Felsen fressen weiche Schuhsohlen!! He – das besser sein, Tuwan?!“

In allgemeinverständliches Deutsch übersetz hieß das etwa:

„Herr, du hast dich kolossal dumm benommen. Das Tier war uns sicher, unsere Stiefel brauchen notwendig frische Sohlen, und deinetwegen kann ich mir nun die Füße auf dieser verd… Felseninsel wund laufen!“

Kituri war zu sehr an Respekt gewöhnt, um derartige Ehrlichkeit zu riskieren. Er umschrieb alles, was er an mir auszusetzen hatte, mit etlichen verblümten Fragen und etlichen geringschätzig-frechen „He’s“, – daran war ich nun schon gewöhnt.

Drei Wochen Robinsonade auf der entlegensten aller unbewohnten Rieseninseln hatte mir des jungen Malaien Besonderheiten restlos enthüllt, übrigens zu Kituris Vorteil. Jeder Tag hatte mir den sehnigen schlanken Burschen mit dem scharfen, kühnen Profil als Gefährten seelisch nähergebracht.

Eins wunderte mich bei Kituris sonst so rascher Auffassungs- und nie fehlender Beobachtungsgabe: Daß nicht auch er an dem Rüsselträger irgend etwas wahrgenommen haben sollte, das ihn stutzen ließ.

Wie mich – – unwillkürlich.

Nun war es an mir, ihm zu antworten …

Aber diese Antwort erfolgte nicht.

Anderes begab sich …

Kituri umkrallte meinen Arm …

Flüsterte nur – noch leiser:

„He, – du sehen, Tuwan?!“

Frage!! Und ob ich es sah …

Urplötzlich war da zwischen den Steinen eine menschliche Gestalt erschienen. Ein Weib … ein Mädchen – wie wir in Robbenfell gekleidet, nur mit einer gewissen Koketterie, mit einem gewissen – na sagen wir der Örtlichkeit entsprechend – einem gewissen Südpolarschick.

Kerguelenland liegt ja schließlich an der äußersten Treibeisgrenze des Südpols.

Also ein Weib …

Mit äußerst vorsichtigen Bewegungen, mit äußerst geschmeidigem Körper, mit einer modernen Repetierbüchse im Arm und mit anderen ähnlichen Dingen im breiten Ledergurt …!

Die Lederkappe mit Pelzbesatz hatte sie tief ins Genick geschoben. Der Wind, der vom Meere her in jaulenden Stößen durch die Felsenenge der Bucht stieß, spielte mit braunem Haar, das halb gelöst umherflatterte. Jeder Schritt der Fremden war gleichsam Beweis höchsten Mißtrauens, jede Kopfbewegung nur Wachsamkeit.

So näherte sie sich hier in diesem Winkel der Südwestküste, den wir bisher nicht betreten hatten, gerade jenem Steingebilde, das mir schon längst aufgefallen war.

Die Natur leistet sich zuweilen seltsame Scherze.

Daß sie aber ausgerechnet drei Felsenkreuze nebeneinander auf einer glatten Stelle des Steinstrandes unweit der Steilküste aufbaut, war denn doch etwas zu viel des Guten oder Zufälligen, – wie man es nimmt.

Als Kituri und ich vor zehn Minuten lautlos diese Felskanzel durch eine Art Kamin erreicht hatten, als wir den Jüngling von See-Elefant sich sonnen sahen und sofort an unsere schadhaften Stiefel gedacht hatten, war mein Blick zunächst achtlos über die drei Steingebilde hinweggeflogen …

Zunächst …

Das änderte sich. Da das Tier wiederholt hinter Klippen verschwunden war, hatte ich Zeit genug gefunden, mir die Kreuze genauer anzusehen.

Nur Menschenhände konnten diese Steinklötze aufeinandergeschichtet haben, nur Menschenhände hatten am Fuße der Kreuze die verwelkten, bereits halb zerfetzten Kränze aus Moos und Flechten niedergelegt.

Richtige Kränze, – nicht anders wie die, die man auf den Bergfriedhöfen der kahlen gebirgigen Teile meiner schwedischen Heimat antrifft.

… Mooskränze, gewunden um einen ringförmig gebogenen Ast irgend eines angetriebenen Baumstammes, – denn Kerguelenland und Bäume oder blühende Blumen oder dergleichen?! Da müßte man lange suchen! Da müßte man wie wir droben im Nordteil der Insel das eine Zaubertal kennen, das Paradies dieses kalten Nebelreiches.

Aber dieses Paradies kennen wenige, und die, die es bewohnten, fuhren vor drei Wochen heim in die freundlichen Gefilde des gesitteten Europas, nach denen ich so gar keine Sehnsucht verspüre – im Gegenteil!

… Also jedenfalls Mooskränze, in die man helle Flechten als Blumen mit hineingewunden hatte …

Zeichen von Liebe und treuen Gedenkens für Verstorbene, – zweifellos aus Liebe und Pietät von jener Frau dort hergestellt, bevor die Regengüsse und wütenden Stürme und kurzen Schneetreiben vor fünf Tagen über die Insel hinweggefegt waren und auch jenen Kränzen übel mitgespielt hatten, – genau wie uns beiden!

Denn auch uns hatten sie etwas geraubt, das in seiner Art unersetzlich war: Meinen Hund!

Wo dieses Prachtexemplar von rasseunreiner Blutmischung seit jener Nacht geblieben, mochten die Götter wissen …

Und die wußten es wohl auch nicht …

So mir nichts dir nichts verschwindet kein Hund von Montes Klugheit und Treue, obwohl – und hier kommt das Häkchen der Sache! – obwohl besagter Monte schon vorher Ausreißgelüste gezeigt und ganze Tage irgendwo in dieser schauerlichen Einöde gewildert hatte.

Gewildert! – Was sonst?!

Trotzdem auch diese Annahme auf erhebliche Widersprüche stieß, die schwer lösbar erschienen. Es gab hier auf Kerguelenland kein Wild, es hat hier außer Robben noch nie Wild gegeben, und die durch Schiffe eingeschleppten Mäuse und Ratten sind für Monte kaum ein Ersatz für ein jagdbares Tier …

Mithin: Freund Montes Verschwinden fiel in die Reihe ungelöster Fragen, die Kituri und mich seit einiger Zeit ohnedies in Atem gehalten hatten.

Eine dieser Fragen stand nun dort als verkörperte Antwort vor den drei Kreuzen und betrachtete offenbar mißvergnügt die schwer beschädigten Kränze.

Die Frau …!

Die große Unbekannte …

Das Wesen, dessen Fährten wir hier und dort am Weststrande angetroffen hatten im Ufersand …

Fährten plumper Stiefel …

Auch unsere Beinhüllen waren eigenes Fabrikat …

Wie verständlich …

Eine Schuhfabrik existierte hier nicht und würde pleite gehen.

Denn das ist sicher: Außer Kituri und mir und der Frau dort dürfte sich auf Kerguelenland kein zweibeiniges Wesen von der Art Homo sapiens umherdrücken …

Zweibeinige wohl schon … Sogar Herrschaften im Frack und weißer Weste: Pinguine nämlich!

Die ja! –

Die verkörperte Antwort da unten an den Steinkreuzen war übrigens für eine Miß Robinson verteufelt hübsch und schneidig.

Schneid lag in der ganzen Haltung des straffen Körpers, – jener Schneid, der keine Furcht, der nur Vorsicht kennt …

Und wie vorsichtig war die braunlockige Europäerin!!

Mochten auch die sturmzerfetzten Kränze ihr Herz noch so schmerzlich berühren: Ihre Augen wanderten blitzschnell hierhin, dorthin, und daß sie die in den Arm gehängte Büchse nicht zum Spaß bei sich trug, bewiesen schon die nächsten Minuten.

Uns hier droben auf dem Felsenbalkon konnte sie unmöglich sehen.

Geröll deckte uns …

Aber als dann aus einem schwarzen Schlund der Steilwand hinter den Kreuzen ein vierbeiniges Geschöpf mit gesträubtem Genickhaar und unverkennbarer Wolfsfarbe und Wolfsstatur hervorschoß und die Frau anzuspringen suchte, da erlebten wir beide ein kurzes, trauriges Schauspiel, in das wir nicht mehr als Friedensstifter eingreifen konnten …

In Sekunden war alles vorüber …

So gründlich vorüber, daß dieses Ende unbedingt einen neuen Anfang erheischte.

Und auch der kam …

Zunächst aber …: Es war ein Wolf, der da die Frau wie toll ansprang, – einer jener Wölfe, die hier oben im Norden mit ihrer Herrin gehaust hatten.

Ein Ausreißer …

Besser – eine Ausreißerin, die nicht mit an Bord genommen werden konnte, als die Paradiesbewohner heimwärts fuhren.

Die Wölfin war gesucht worden, bevor das Schiff in See ging.

War nicht gefunden worden: Auch eine der ungelösten Fragen!

Und jetzt – armes zahmes Geschöpf! – jetzt mußt du hier, inzwischen wohl halb verwildert, ausgerechnet dieser geistesgegenwärtigen, treffsicheren Miß Robinson vor die Büchsenmündung geraten!

Miß Robinson wich drei Schritte zurück …

Im Nu hatte sie die Waffe im Anschlag, und bevor die Wölfin noch den zweiten Satz vollendet hatte, knallte ein einziger Schuß …

Kopfschuß …!

Das sah ich schon daran, wie das Tier zusammenbrach …

Arme Wölfin …! Sie klatschte zu Boden, rollte sich hin und her, lag still, lag auf dem Rücken. Zuckte mit den Beinen, und alles war vorüber.

Die Frau aber, gewiß nicht aus Feigheit, zog sich langsam von der flachen, erhöhten Uferstelle nach den dunklen Basaltblöcken am Buchtstrande zurück und … verschwand …

Freund Kituri atmete vor Erregung pfeifend und keuchend wie ein überhitzter Dampfkessel …

Der Vergleich Kituri-Dampfkessel hinkt … Denn letzterer atmet nicht, sondern atmet nur das Übermaß des Dampfes aus oder … zerplatzt.

Bis zum Zerplatzen kam es ja nun bei Kituri durchaus nicht, dazu war der Malaie noch zu widerstandsfähig, zu jung, zu kraftstrotzend.

Aber viel fehlte nicht, und mein brauner Gefährte, Lebensalter etwa achtzehn schätzte ich, (er selbst behauptete sechzehn, besaß jedoch nichts Taufscheinähnliches oder sonstwelche Personalpapiere), wäre jetzt zumindest mit einem Freudenschrei emporgeschnellt, wenn ich nicht rechtzeitig dieses jugendliche Ungestüm eingedämmt hätte …

„Bleibe liegen, – – sonst …!!“

Und dieses „Sonst“ kannte Kituri schon …

Er verzichtete, er hielt sogar den Atem völlig an, zumal er mich freudig-mitfühlend lächeln sah …

Und der Grund?!

… Neben der toten Wölfin, deren pralle, große Zitzen mir so allerlei verrieten, war ein zweites Tier aufgetaucht:

Mein Monte …!

Mein alter treuer Gefährte – mit zerfetzten Ohren, die trostlos herabhingen, mit schleifendem Schwanz, mit geducktem Kopf: Ein Bild des Jammers …!

Und so benahm er sich auch …

Er schlich, er stand still, stieß die erschossene Wölfin mit der Nase an, beschnupperte die Schädelwunde, umkreiste den Kadaver mehrmals, setzte sich plötzlich, reckte den wolfshundähnlichen Kopf in die Höhe und ließ ein schauerliches Klagegeheul erschallen …

Totensang für sein Weib!

Nichts anderes: Totensang für die gemordete Gattin, der er in Treue hierher gefolgt war.

Kituri starrte mich entsetzt an.

Sogar sein etwas verhärtetes Gemüt empfand diese Töne als einen ohrzerreißenden, herzbewegenden Trauerchor, – und wie stets bei solchen Angelegenheiten stellte er mich als den verantwortlichen Redakteur hin …

„He, – – du rufen mußtest, Tuwan, damit Frau nicht schießen …! Du wissen, Tuwan, daß Wölfin sein zahm … Du …“

„Halt’s Maul, – – sonst!!“

Der rauhe, aber herzliche Ton eignet sich im Umgang mit Kituri am besten.

Obwohl mir gerade in dem Augenblick so gar nicht nach Grobwerden zu Mute war.

Mein Monte tat mir leid …

Ich überschaute nun das Geschehene, und ich begriff Montes Schmerz.

Sein Totensang endete mit einem so schrillen verpfuschten Akkord, daß mir alle Zähne stumpf wurden und daß die Pinguine drüben auf der flachen Insel der Bucht noch eilfertiger durcheinanderwatschelten – etwa wie ein aufgestörtes Ensemble von Herren im Frack, die gerade am grünen Tisch über neue Friedensmöglichkeiten der Völker verhandeln, und die dann durch eine lärmende, sehr unangemessene Dynamitbombe daran erinnert werden, daß Gewalt allemal vor Recht geht … noch immer.

Monte hatte seine Totenarie hiermit eingestellt, ließ den Schädel wieder sinken und gewährte in all seiner stummen Verzweiflung ein noch trauri[geres Bild.][2]

Und sein Herr?!

Oh, – ich kannte ihn … Fast zwei Jahre waren wir nun bereits auf Gedeih und Verderb verbunden …

Ich wußte: Auch bei ihm würde die Reaktion eintreten, auch er würde sich zum Rächer der Gemordeten aufwerfen wollen, – – und dann?!

Sollte ich auch ihn abknallen lassen?!

Niemals!

Ich erhob mich, – ich wollte rufen, ich …

… Die Ereignisse kamen mir zuvor …

Monte war sich bewußt geworden, was hier geschehen, – – mit einem Ruck war er hochgeschnellt, mit einem grimmen Blaffen flog er auf die Basaltblöcke zu, tauchte zwischen ihnen unter.

Und sein Herr?!

Leichtsinn war es …

Der Abhang war fast senkrecht, ich fand nirgends rechten Halt, ich rutschte in die Tiefe, landete unten mit zerschundenen Händen, Knien, mit zerrissenen Hosen … Was tat es?! Ich rannte weiter, ich brüllte jetzt – – brüllte: „Nicht schießen!! Nicht schießen!! Monte – – hierher!!“

Ich fand die Stelle, wo Monte in das Gewirr der Uferfelsen hineingerannt war … Ich fürchtete jeden Augenblick, ein Schuß könnte knallen, mein Hund könnte aufheulen, – – ich könnte zu spät kommen …

Ich kam nicht zu spät …

Da stand Monte, zwischen zwei Blöcken, die halb im Wasser lagen, stierte in das Wasser hinab, das Rückenhaar zur Bürste gesträubt, die Beine steif vorgestemmt …

Er wandte den Kopf, und aus seinen rehbraunen Augen traf mich ein Blick, der mehr als Worte sagte …

Hundeaugen, – nur Hundeaugen …

Nur?!

… Alle Qual der Kreatur lag in diesem todestraurigen und trotzdem von grimmer Wut durchglühten Blick …

„Monte!!“

Ganz leise …

Denn ich verstand sein Weh …

Und da bewegte sich die buschige Rute, da trottete er auf mich zu, rieb den Kopf nach alter Gewohnheit an meinem Oberschenkel und … trottete weiter, schaute sich um, ob ich ihm auch folgte …

Trottete vorbei an der Toten, zwischen den Grabkreuzen hindurch, die keinerlei Inschrift auf ihren rauhen Steinflächen zeigten, – – trottete hinein in das Felsloch … schaute sich um …

Gestank schlug mir entgegen …

Mein Feuerzeug funkte …

Ein Büschel Flechten brannte …

– In einem Winkel der kleinen Höhle lagen auf weichem Moospolster drei winzige Wölflein, – so jung, daß sie noch nicht einmal die Augenlider geöffnet hatten …

Wölflein, fett, rund, blind, vielleicht vier Tage alt …

Und vor fünf Tagen war Monte uns nachts im Schneegestöber ausgekniffen …

Schneegestöber! Denn Kerguelenland kümmert sich den Dr… was drum, ob es Sommerzeit ist, ob es am Tage zwölf Grad Wärme sind! Kerguelenland, Nebelland, hat seine eigenen Späßchen und Späße und Nicken und Tücken.

Hinter mir sagte Kituris helle Malaienstimme:

„He, du nun kannst ersäufen kleine Wölfe, Tuwan … Oder totschlagen … Montes Kinder das sein, Tuwan …! He, warum du nicht schießen auf fremde Frau?! Wenn du schießen, sie nicht schießen, dann Wölfin noch leben. – Ersäufen, Tuwan?!“

„Ja, dich, du Schwätzer!!“

– Mittags ein Uhr wanderten zwei Männer und ein Hund gen Osten mitten in die Bergwildnis Kerguelenlandes hinein.

Der eine Mann trug ein frisch abgehäutetes Wolfsfell, in dem wie in einem Beutel drei winzige Tierchen durcheinanderwirbelten und zuweilen seltsame Töne ausstießen, die an das klägliche Wimmern eines hungrigen Säuglings erinnerten.

Nach einstündigem Marsche erreichten sie das Tal, wo an den Nordabhängen in einer Lichtung eines üppigen Buschwerks des berühmten Kerguelenkohls, der hier strauchartig auftritt, ein großes Lederzelt sich erhob, neben dem friedlich ein Pferd, eine Ziege und zwei Schafe an den jüngeren Kohlsprossen knabberten.

… Unser Lager …

 

2. Kapitel.

Miß Robinson.

Unser Lager, nicht unser Heim hier auf Kerguelenland. Unser Heim lag weit im Norden, unser Heim war das paradiesische Tal, in dem Menschen, Haustiere und ein halbzahmes Wolfsrudel jahrelang in der Verborgenheit gelebt und gesucht hatten – gesucht nach sagenhaften Reichtümern, die, als wir sie fanden, nur eine grüne, schillernde, im Fackellicht sprühende Straße waren, eine Straße der Hoffnung.

Also unser Lager, unser Getier, – – und nun auch wieder Freund Monte, der verlorene Sohn, der zärtliche Vater.

Und darauf kam es an: Der zärtliche Vater!

Monte zeigte sich von einer neuen Charakterseite. Vielleicht von seiner besten. Neben der Treue, die er mir trotz allem bewahrt hatte.

Man muß Monte gesehen haben, wie scharf er aufpaßt, daß seinen Sprößlingen ja nichts zustieße. Man muß ihn beobachtet haben, wie er den Malaien, mit dem er sonst gut Freund war, auf keinen Fall an die drei grauen blinden kleinen Fettwänste heranließ.

Nur ich durfte dies wagen. Und auch mich behielt er im Auge, als hätte ich insgeheim mich doch mit Mordgedanken tragen können.

Kituri stand abseits, als ich den ersten Versuch unternahm, die Ziege als Wolfslamm zu benutzen.

Monte saß dicht daneben, – ich saß auf einem Stein, in meinem Schoße krabbelten die mutterlosen Wollbündelchen.

Ich hielt das erste mit beiden Händen an eine der Zitzen, – der Erfolg blieb aus.

Die Ziege hatte nichts gegen die neue Rolle einzuwenden, aber die Wolfsjungen, obwohl noch blind, vermißten den gewohnten Muttergeruch, vermißten die gewohnte Größe der nahrungsspendenden Euterwarzen …

Kituri lachte …

„He, – – besser totschlagen, Tuwan! Ich das gleich sagen …!“

Kituris Allerweltskenntnisse, gesammelt in den unmöglichsten Stellungen, Berufen, Örtlichkeiten, soll man nicht gering bewerten.

Der schlanke, sehnige Bursche, eine Art brauner Lebenskünstler, war gegen meinen Willen und ohne Wissen derer, die zur Zivilisation zurückkehrten, bei mir geblieben.

Heimlich ausgekniffen war er am Tage der Abfahrt der Freunde und bezähmten Gegner, – er selbst einst Gegner, dann mein Schatten, mein unaufdringlicher Diener – aus Sympathie für mich, aus ehrlicher Zuneigung.

Als der dunstige nördliche Horizont des Indischen Ozeans die Davonsegelnden verschluckt hatte, da war Kituri demütig zum Vorschein gekommen. „Tuwan, ich dich lieben, ich bei dir bleiben …“

Aus dunklen Malaienaugen hatte mich ein flehender Blick getroffen.

Ich hatte Kituri die Hand gedrückt. Damit war die Sache erledigt. Und das war nun drei Wochen her.

Inzwischen hatte Kituri mir gegenüber jenen besonderen Ton gefunden, jene besondere Art Umgangsform, die nie den notwendigen Respekt vermissen ließ, aber …, – nun, es war eben Kituris „Ton“, und dieser famose Bursche paßte in keine Schablone hinein, ich hütete mich auch, ihn in eine sogenannte europäische Form zu pressen. Mir sind die Halbwilden zumeist lieber als die schmalzigen Kulturerzeugnisse von Europas übertünchter Höflichkeit.

„Warte ab, mein Sohn!“, erklärte ich nur.

Ich nahm das Wölflein in die Linke, faßte mit der Rechten die Zitze und ließ ein paar Tropfen köstlicher Milch auf das rote Wolfsschnäuzchen rinnen.

Und siehe da: Das Mäulchen öffnete sich, eine winzige Zunge leckte das lebenspendende Naß, und gleich darauf klaffte das zahnlose Mäulchen ganz weit und bemächtigte sich gierig der Milchwarze und lutschte und lutschte und grunzte vor Behagen, – das Wolfsbäuchlein schwoll an und – – die nächste Nummer kam heran, bis alle drei Monte-Sprößlinge satt waren.

Kituri hatte sich längst wortlos entfernt und bemühte sich um unser eigenes Mittagessen, das vorläufig noch infolge der Konservenvorräte recht reichhaltig war.

Monte aber – und mir war das ein klarer Beweis väterlicher Dankbarkeit – leckte mir nachher schweifwedelnd die Hände und tat sich beruhigt neben dem Wolfsfell nieder, auf dem die drei jüngsten Neulinge unseres Lagers im milden Sonnenschein behaglich schliefen, umgeben von dem vertrauten Geruch der mütterlichen Nähe, ahnungslos, daß es nur noch der Pelz der Mutter war und daß der Kadaver irgendwo in jener Bucht auf steinigem Grunde ruhte, – – an der Bucht der Gräber der Namenlosen.

Ich schritt zur Kochstelle hin, wo Kituri neben dem durch Kohlstücke genährten Feuer und neben dem dampfenden Kochtopf hockte und mir wie vorwurfsvoll die aus den Stiefellöchern hervorlugenden Zehen seiner keineswegs kleinen Füße zeigte.

Nun, – frisches Schuhleder brauchten wir allerdings, und es war bei mir beschlossene Sache, noch heute dem bewußten See-Elefantenjüngling den Lederrock auszuziehen, obwohl – – ja, obwohl sich bei mir da ein Gedanke eingenistet hatte, der sich nicht mehr fortweisen ließ …

Abwarten …

Die drei plumpen Grabkreuze und die sturmzerfetzten Kränze würden ihr Geheimnis wohl hergeben müssen, von Miß Robinson schon ganz abgesehen!

Junge schneidige Damen pflegen kaum ganz allein auf einer Insel zu hausen, die nicht einmal mehr für Robbenfänger einige Anziehungskraft hat …

„Fertig, Tuwan …“, meldete Kituri stolz und stellte einen Aluminiumteller mit einem unenträtselbaren Gemengsel vor mich hin, das trotz allem tadellos roch.

Auch Monte erhielt seinen Teil, sogar den Hauptteil, und beinahe wäre es jetzt zu einer Katastrophe gekommen, da Freund Montes väterliche Rücksichtnahme und Fürsorge denn doch allzu weit ging …

Zum Glück bemerkte ich die Geschichte noch rechtzeitig …

Und die Geschichte war so.

Kituri hatte Montes gefüllten Freßnapf neben das Wolfsfell und die drei schlafenden fetten Wollbündel gestellt, und Vater Monte seinerseits glaubte besonders selbstlos und fürsorglich zu handeln, als er nun eines seiner Kindlein vorsichtig beim Genick nahm und … in die Schüssel tunken wollte, in der sehr irrigen Meinung, eine Hauptmahlzeit aus Büchsenfleisch, Gemüse und aufgeweichtem Hartzwieback könnte seinen Kindlein nach der Ziegenmilch nur zuträglich sein.

Ich mischte mich schleunigst ein, zog Monte zurück, Monte knurrte unwillig, und daß er es mir gestattete, ihm das quiekende blinde Tierchen aus dem Maule zu nehmen, stellte wohl an seine Selbstbeherrschung recht starke Anforderungen.

Es war nur ein erheiternder Zwischenfall, – dennoch stimmte er mich bedenklich, und ich gab meine ursprüngliche Absicht, sofort nach Tisch wieder aufzubrechen, vorsichtigerweise auf, da wir unser Lager notwendigerweise anderswohin verlegen mußten, wo unsere Nomadenkarawane auch in unserer Abwesenheit besser geschützt sei.

Ursprünglich hatte ich Kituri diesen Umzug allein überlassen wollen, – dies ging nicht an, Monte hätte Kituri zerfleischt, wenn der Malaie die Wölfe angerührt haben würde.

Das Tal, in dem unser Zelt in einer Lichtung der Nordabhänge und des fast mannshohen Gestrüpps stand, war ja an sich schwer zu finden, denn Kerguelenland hat in seiner Südhälfte so wilde, teilweise unzugängliche Gebirgsmassen, daß bei der Kahlheit des Gesteins unsere Fährte nur mit Hilfe von Hunden von der Bucht bis hierher hätte verfolgt werden können.

Und doch: Wußte ich denn, ob Miß Robinson nicht mit einer ganzen Schar vielleicht wenig angenehmer Gesellen irgendwo auf einer der vorgelagerten Inseln hauste?!

Möglich war alles, auch das Vorhandensein einer Hundemeute.

Und daß Miß Robinson uns und unseren Abzug von der Bucht irgendwoher heimlich beobachtet hatte, stand für mich fest.

„Kituri, – das Zelt abbrechen!! Etwas flink, mein Sohn! Ich suche derweil einen neuen Lagerplatz … Und du paßt scharf auf, verstanden! Mit unserem friedlichen Nomadenleben ist es vorbei … Kerguelenland beherbergt noch andere Gäste …“

Was tat Kituri?!

Auch das war kennzeichnend für ihn …

Sein größter Stolz war eine Vorderladerflinte, dazu eine ähnlich antike Doppelpistole, beides Perkussionsmodelle, also mit Zündhütchen!

Als Radaumacher waren diese Armierungsstücke, so weit ich es bisher beurteilen konnte, unübertrefflich.

Über ihre Schußleistungen konnte ich bisher nichts angeben.

Was also tat Kituri?!

Er hob seine geliebte Flinte empor, klopfte mit dem gekrümmten Zeigefinger auf den Kolben, grinste und zeigte dabei seine spitz zugefeilten oberen vier Schneidezähne, – – und dann legte er los …

Komisch, daß all diese Malaien aus einem bewußten Nordwestwinkel Borneos bei bestimmten Gelegenheiten wie die Affen schnattern: Galopptempo!

„He, – – du denken, Tuwan, ich, Kituri, sein blind und dumm … He, nicht so sein?! Doch so sein! Du denken, du allein werden finden See-Elefant und Haut ausziehen und fragen das, was stecken in Haut: „He, Miß, was du hier treiben?!“ – So du denken …! Und nicht denken, daß See-Elefant auch haben Büchse und können schießen … Und wenn du tot sein, Tuwan, armer Kituri auch tot sein, auch Monte und drei Wolfsjunge und Pferd, Ziege, Schafe – ganze Karawane! – He, nicht so sein?! Also nehmen du Kituri besser mit. Monte schon allein bewachen Lager … Monte jetzt Tiervater und Teufel, er genügen …!“

Ein ganz geriebener Bursche, dieser Kituri!!

Das wußte ich längst.

Ein gewiegter Diplomat, ein gerissener Schwätzer mit einer schlau verbrämten Taktik.

Schmunzelnd gab ich ihm recht. Im Grunde steckte hinter all seinem Gerede ja nur der Wunsch nach Klärung der einen Frage: Ob auch ich denselben Wunsch hegte wie er!

Und das tat ich, das war ja eben das Merkwürdige an dem ganzen Abenteuer drunten an der Bucht gewesen: Von Anfang an waren mir die Bewegungen des See-Elefanten so eigentümlich erschienen, daß ein gewisser Jägerinstinkt mir gesagt hatte, es handele sich überhaupt um kein Tier, sondern um eine Haut, in der etwas ganz anderes steckte!

Das war es!

„… Du kommst also mit, Kituri, – gut … Beeilen wir uns … Es gibt bestimmt wieder Nebel, und ich habe keine Lust, mich nachher auf dem Rückmarsche zu verirren.“

Unser Tal hier wurde von einem recht geräuschvollem Bache durchströmt, der in der Mitte der Talsohle eine Art Staubecken bildete und dann in dünnen Kaskaden über drei steile Terrassen nach Süden abfloß.

Wertvoll an diesem Stausee war für uns bisher nur dessen Reichtum an einer Art Forellen und Aale gewesen, die man fast mit der Hand greifen konnte.

Wertvoller war jetzt die kleine Insel, die mit dem gestrüppartigen Kerguelenkohl so dicht bewachsen war, daß sie ein ebenso sicheres wie bequemes Versteck bot.

Die Verlegung des Lagers wurde denn auch in kurzem besorgt, der See war flach, das Hinüberschaffen der Ziege und der Schafe bereitete keinerlei Schwierigkeiten, und gegen drei Uhr nachmittags machten Kituri und ich uns erneut auf den Weg zu der bewußten Bucht.

Mit dem Nebel auf Kerguelenland ist es nun eine sehr eigentümliche Sache. Die große Insel ist als Nebelland geradezu verschrien. Vielleicht zu Unrecht. Wie überall sind diese Nebel von besonderen Witterungsbedingungen abhängig. Kommt der Wind längere Zeit von Süden, vom Südpol her, so treten diese unangenehmen Nebelbildungen selbst in den drei kurzen Sommermonaten allabendlich mit ziemlicher Regelmäßigkeit auf. Herrscht dagegen Nordwind, der ja stets die warmen Luftmassen vom Indischen Ozean herüberbringt, so kann es geschehen, daß die Insel auch wochenlang nebelfrei bleibt. Die Berichte der Südpolarexpeditionen, die Kerguelenland zum Gegenstand eingehenderer Untersuchungen machten, lauten deshalb auch äußerst widerspruchsvoll. – Das war mir sehr wohl bekannt, das waren nicht Schulerinnerungen, sondern Ergebnisse des Studiums jener Spezialwerke, die mir die in die wohlgepflegten Arme der Zivilisation zurückgekehrten Freunde zurückgelassen hatten.

Bücherweisheit mag in vielem totes Wissen sein. Oft genug ist sie unentbehrlich und liefert genügend Stoff zu eigenen, vielleicht anders gearteten Beobachtungen.

Jedenfalls lagen die Dinge heute, wo wir den Nebel so gar nicht gebrauchen konnten, keineswegs günstig für uns. Der Wind hatte gestern nach Westen gedreht, und schon dies mahnte zur Vorsicht. Schwenkte die Brise nur noch etwas nach Süden herum, so mußten wir unweigerlich mit dem plötzlichen Auftreten starker Nebelmassen rechnen, zumal wir in der Ferne weite Treibeisfelder wahrgenommen hatten.

Wir hatten also allen Grund, uns zu beeilen, wenn wir nicht von diesem eisigen Gebräu feinster Wassertropfen überrascht werden sollten.

Daß Freund Kituri auf seinen bereits mehrfach geflickten Seehundsstiefeln auf diesem körnigen Felsboden bedenklich hinterherhinkte, konnte ich ihm kaum verargen, denn auch ich fühlte jeden Stein und jedes Steinchen. Wir beide hatten wunde Füße, und die aus Wolldecken vorhin frisch geschnittenen Fußlappen hatten auch nur die erste halbe Stunde vorgehalten, dann waren sie durchgescheuert, waren zwecklos.

Kituri entsann sich seiner buntscheckigen Dienstzeit an Bord von allerlei Schiffen und zog das Register derbster Jan Maat-Flüche auf, was er selten tat, sehr selten.

Kituri kam mir schließlich unweit der Bucht aus den Augen, und trotzdem gab es bei mir kein Nachlassen, kein Abwarten … Es war da irgend etwas in mir, das mich vorwärtsdrängte, – es war da eine Flamme in meiner Seele, die immer höher züngelte und die mir irgend etwas ganz Besonderes verhieß.

Dieser rastlose, zähe Eifer, die Bucht unbedingt vor Erscheinen der Nebelschwaden zu erreichen, und womöglich noch die Nachbarinseln wenigstens mit dem Fernglase abzusuchen, sollte denn auch belohnt werden.

Ich merkte, daß die Bucht nahe war …

Ich sah die Möwenscharen kreisen, ich hörte bereits das Geschrei der Pinguine, ich setzte mich in Trab, nur die letzte Strecke legte ich kriechend zurück und gelangte so wie beabsichtigt weiter westlich an eine weniger abschüssige Stelle der Felswand …

Schob den Kopf etwas vor, schob ihn durch das Geröll am Rande des Abhangs und … zog ihn schnell wieder zurück.

Unten vor den drei plumpen Grabkreuzen hatte ich vier Männer bemerkt, die genau wie ich selbst von Kopf bis Fuß in Robbenfellen steckten.

Bewaffnete Leute, – ausgesucht große Gestalten, wahre Riesen …

Und neben ihnen saß, im Schoße eine Menge blühender Blumen, dieselbe Frau, die ich Miß Robinson getauft hatte …

Das war nicht alles.

Mittelpunkt der seltsam widerspruchsvollen Szene dort in der Tiefe am Strande war ein fünfter Mann. Genau so praktisch gekleidet wie die übrigen, nur schlanker, etwas kleiner, und mit Seehundsriemen gefesselt wie ein Schwerverbrecher.

Er stand so, daß ich ihm gerade ins Gesicht sehen konnte.

Dieses Gesicht fiel mir auf. Mußte auffallen, schon durch die Blässe, die etwas Ungesundes an sich hatte, und durch den hellbraunen, kurz gehaltenen Spitzbart und durch den Ausdruck der Züge.

Die aufrechte, fast herausfordernde Haltung des Mannes widersprach dem melancholischen, in sich gekehrten Blick der dunklen Augen und dem schmerzlichen, versonnenen Lächeln um den schöngeschwungenen Mund und um die kraftvoll gemeißelte Kinnpartie. Der Mann schaute ins Leere, obwohl er das mittelste der Kreuze dicht vor sich hatte und ebenso die Steilwand des Buchtufers eine unüberwindliche Schranke zwischen ihm und jener Leere aufrichtete, die in seiner Seele herrschen mochte, – weshalb?!

… Leise säuselte die Brise in den Felsklüften wie Geisterstimmen.

Matt schien die Sonne auf diese Gruppe von Menschen hernieder.

Verträumt brandeten einige Wellen der steigenden Flut gegen die Steingestade.

Störend wirkten die Schreie der Möwen und der geschäftigen Pinguine, die drüben auf ihrer Insel in langen Reihen auf den Klippen auf Beute lauerten und urplötzlich hinabschossen in die blaugrüne Flut wie losgeschnellte Torpedos.

Völlig unberührte rauhe Natur der antarktischen Zone bildete die Kulisse dieses unbegreiflichen Schauspiels.

Unbegreiflich …

Miß Robinson flocht frische Kränze für die Gräber. Zwei Kränze waren fertig, den dritten drehte sie mit flinken Händen und griff nach Moos und Blumen und Flechten und Baumbast angetriebener Stämme, die von irgendwoher sich mit den unberechenbaren Strömungen bis an diese einsamen Gestade verirrt hatten.

Die vier Riesen, schwer bewaffnet, ernst, etwas finster, hatten in ihren blondbärtigen, tiefgedunkelten Gesichtern für mich als Nordländer etwas ungemein Vertrautes. Es mußten Norweger sein, Leute von den Fischerdörfern jenes Fjordes, den nur im Sommer die Touristen auf weißen Luxusdampfern überfluten.

Nur das Nordland erzeugt solche Recken, nur das Meer, der Sturm, die Sonne tönt diese stillen verschlossenen Gesichter zu Mahagonifarbe.

Mit einem sehr vorsichtigen erneuten Blick fing ich weitere Einzelheiten des seltsamen Bildes ein, das gerade infolge der Lautlosigkeit der handelnden Personen eigenartig aufreizend wirkte.

Eine mir sonst fremde Erregung packte mich.

Hier war nichts von unmittelbarer Gefahr, nichts von dem aufstachelnden Reiz drohenden Kampfes, hier war nur das eine: Das finstere Schweigen der vier blonden Wikinger, die fast beabsichtigte Teilnahmlosigkeit der Frau, die jetzt irgendwoher auch blühende Blumen geerntet hatte, und die völlige Gleichgültigkeit und Versonnenheit des Gefangenen.

Und dazu diese Umgebung …!

Gerade diese …!

Düstere Felsmassen, denen selbst der Sonnenschein die Trostlosigkeit nicht nehmen konnte, das glitzernde Buchtwasser, die Seevögel, die fernen Bergketten und die noch ferneren Eisfelder im Süden auf offener See …

Und – – das Schweigen …

Dieses Schweigen, das tausend geheime Drohungen in sich schloß und tausend ungelöste Fragen.

Flinke Finger beendeten den letzten Kranz …

Die Frau mit dem schmalen, leicht gebräunten Gesicht schaute auf.

Die temperamentvolle Nase, kühn und selbstbewußt wie das ganze Antlitz, in dem graue, kühle Augen leuchteten, schien der Gradmesser der Stimmung der Miß Robinson zu sein.

Die Nase wurde noch schärfer, kecker, verwegener, die feinen Nüstern schmiegten sich enger an das Nasenbein, und die frischen Lippen öffneten sich …

„Es wird Zeit“, sagte sie laut und hart.

Es klang wie ein Urteilsspruch.

Sie erhob sich, tat die wenigen Schritte zu den Gräbern, legte die Kränze nieder, beachtete den Gefesselten nicht. Er war Luft für sie, luftleerer Raum, nicht vorhanden, – ein verächtliches Nichts, nicht einmal ein wertloser Stein, dem man vielleicht ausweicht.

Sie sprach zu den Steinen und Felsen, zu den Pinguinen, zu den vier Recken vielleicht, als sie den Mund abermals öffnete.

„Alles, was Sie vorbringen, Hektor Belard, ist Lüge, muß Lüge sein … Wir haben Sie endlich erwischt – endlich! Aber wir sind keine Henker, Ihr Blut ist es nicht wert, unsere Hände damit zu beschmutzen. Ihr Schicksal kennen Sie … Sie haben es verdient.“

Der Mann, der hier Hektor Belard genannt wurde, hatte sich der Frau langsam zugewandt. Seine Haltung blieb dieselbe, nur seine Augen flammten und um den Mund trat ein fremder, neuer Zug.

Er lachte plötzlich …

Jenes Lachen von Männern, die keine Worte finden für das Maß berechtigter Verachtung für die Schwächen anderer, denen ein Zufall das Übergewicht, die Macht in die Hände gespielt hat.

Die Frau zuckte unter diesem schneidenden Lachen doch zusammen.

Ein scheuer Blick flog über das bleiche Gesicht des Gefesselten hin, – aber dieser Blick glitt eilends zur Seite, haftete auf dem mittelsten der Steinkreuze, schien aus den Felsklötzen Kraft, Haß, Vernichtungswillen herausholen zu wollen.

„Es ist Zeit!“, sagte sie eisig.

Und einer ihrer Begleiter packte den Mann wie ein federleichtes Bündel und trug ihn hinab zwischen dieselben Basaltblöcke, die ich bereits kannte.

Da erst gewahrte ich am Strande, bis zum Bug verdeckt durch die Höhe der Felstrümmer, das Achterteil eines kleinen Motorbootes mit zerschrammten Planken.

Und gerade da schob sich lautlos wie eine Schlange die übergeschmeidige Gestalt Kituris neben mich.

Gerade da wurde ich abgelenkt von den Vorgängen unter mir, – Kituri, der Rekordschwätzer, fragte flüsternd im Eiltempo:

„He, was da sein, Tuwan?! Ich nur hören Stimme von Frau und fühlen eigene Fußsohlen wie höllisches Feuer … – He, – – wo sein See-Elefant für neue Stiefel?! Du hier liegen, und du nicht denken an Nötigstes, Tuwan, – – Haut von Frau nicht gut für Stiefel, und …“

Kituri klappte den Mund eilends zu.

Irgendwoher waren kurz hintereinander vier Schüsse gefallen …

Der derbe Fluch, der Freund Kituris höchst ungeeignetem Erscheinen galt, kam mir nicht mehr über die Lippen …

Die Tragödie da unten war in ein neues Stadium getreten …

 

3. Kapitel.

Die Grotte der Wikinger.

Möwen, Pinguine, Wildenten, – alles Wassergetier erhob gellenden Protest gegen diese vier Schüsse und gegen das Knattern und Knallen des ausgeleierten Motors des kleinen Bootes …

Die Luft war erfüllt von wirbelnden Wolken, von dem Rauschen tausender von Schwingen, von dem Getöse der Vergaserexplosionen …

Das Schauspiel schien seinen Höhepunkt in dem Tumult wirrer Töne gefunden zu haben.

Kituri lugte neben mir durch das Geröll …

Herr Kituri schwieg …

Dort unten schoß im ziellosen Zickzack durch das klare Buchtwasser das kleine Motorboot … Der Gefangene saß auf der Mittelbank, am Heck quer über der Ruderpinne lag der Recke – wie tot …

Und die übrigen Wikinger und die Frau?

Wie weggewischt …

Verkrochen zwischen den Ufersteinen hatten sie sich, ihre Büchsen hatten sie nicht mehr, – nur Miß Robinson schien als Einzige nicht angeschweißt zu sein, Miß Robinson hatte alle Hände voll zu tun, die Armschüsse ihrer Getreuen zu verbinden.

Ein Blick zeigte mir das …

Ein zweiter galt wieder dem wild gewordenen Benzinkahn …

Herr Kituri, sonst so zungenfertig wie eine schnatternde Ente, vergaß diese fragwürdige Fertigkeit und holte nur ganz tief und pfeifend Atem.

Begnügte sich mit dem üblichen küstenenglischen Fluch:

„Damnettonnerr!!“

Was bekanntlich „Verdammt!“ in englischer und französischer Verschmelzung bedeutet …

Hatte Grund dazu, der Kituri … War eine sportliche Leistung wie die Neuerscheinung dort im echten Fellkajak heranpaddelte wie ein Blitz … War die zweite Dame, die doch eigentlich auf Kerguelenland nichts zu suchen hatte …

War ein Weib, auch in Robbenfellen, vielleicht noch zierlicher die Lederkluft, noch reicher verbrämt mit Pelzwerk … War beim ersten Hinsehen ein gesundes Jungmädchengesicht mit ein paar blonden Stirnlöckchen …

Täuschte der Eindruck …

War ein Weib aus einem Guß, war ein Mund von harter Energie, war ein Näschen, das in der Erregung zu vibrieren schien …

Gehörte zu dem Gefangenen, die Kajakmiß …

Hatte im Nu ihr Faltboot neben dem Benzinkahn, hielt sich am Bootsrand fest, stoppte den spuckenden Motor und beugte sich über den Hingestreckten.

„Vorsicht, Gwenda …!!“

Hell und scharf klang die Warnung, – – gerade noch rechtzeitig …

Ein verteufelt schlauer Bursche, der anscheinend Angeschrammte …

Fuhr hoch aus der unbequemen Lage über der Ruderpinne, – – fuhr mit der unverletzten Hand nach einer zarten Kehle, griff ins Leere, starrte in eine Büchsenmündung …

Die Kajakmiß befahl genau so laut und scharf, wie der noch immer Gefesselte sie gewarnt hatte:

„Springen Sie über Bord … Das Wasser ist flach … Springen Sie!!“

Das war nicht mehr das frische, kerngesunde Jungmädelgesicht. Das war ein Frauenantlitz mit zwei scharf abgezirkelten weißen Flecken neben der Nase, – Zeichen stärkster Erregung, unbeugsamen Wollens und Willens.

Der riesenhafte Bursche, dem der linke Arm schlaff herabhing, so daß aus dem Ärmel das Blut herabsickerte, erhob sich zögernd …

Hatte vielleicht eine neue Überraschung sich ausgeklügelt …

Besann sich …

Denn der Büchsenlauf, der vorhin die vier Kugeln so blitzschnell und so unheimlich sicher auf die richtigen Stellen verschickt hatte, ohne ärgeres Unheil anzurichten, folgte jeder Bewegung des Mannes, ließ keinerlei Zweifel darüber aufkommen, daß eine fünfte Kugel weniger rücksichtsvoll ihren Weg wählen würde …

Der Mann deutete ein Achselzucken an, sprang ins Wasser, das ihm bis an die Hüften reichte, und watete auf die nahe Pinguin-Insel zu.

Ein Messer blinkte im fahlen Sonnenglast, der Gefesselte war frei, der Motor knatterte wieder, und Boot und Kajak entschwanden zum anderen Ufer, wo zwischen turmhohen Geröllmassen eine schmale Seitenbucht abbiegen mußte …

… Kerguelen-Fasching …!!

Mit Bleibohnen, – mit einer Miß, die strafen wollte, mit einer zweiten, die erstaunlich flink den Dingen eine andere Wendung gegeben hatte.

Fasching in Robbenkostümen …

Ballsaal eine Bucht mit Steilwänden und empörten geflügelten Zuschauern …

„Damnettonnerr!!“, keuchte Freund Kituri …

Diesmal beließ er es bei dem fragwürdigen Zwischenruf.

Flüsterte – Galopptempo: „He, – nun wir haben die vier da unten …! Tuwan, wir beide nehmen gefangen die Miß, – vierter Mann auf Pinguin-Insel sich selbst verbinden kaputten Arm. Auch er keine Büchse haben … Büchse bleiben in altem Motorkahn … – He, – du denken anders, Tuwan?!“

Mein Gesichtsausdruck gefiel ihm nicht.

Freilich dachte ich ganz anders.

Was half es uns, die Miß Robinson samt Begleitung in unsere Gewalt zu bekommen?!

Gar nichts half uns das, war nur eine Last für uns. Sollten wir die fünf etwa mit ins Innere schleppen?! Ging uns die Sache überhaupt etwas an?! Vorläufig doch nur insofern, als wir die Überzeugung gewonnen hatten, daß hier auf Kerguelenland zwei Parteien einander rücksichtslos befehdeten und daß die Möglichkeit vorhanden, wir selbst könnten mit in Dinge hineingezogen werden, die lediglich für mich den einen Reiz besaßen, ihrem Ursprung nachzuspüren.

Kituris Übereifer war somit verfehlt. Zweckmäßig handelten wir nur, wenn wir feststellten, wo diese Miß Robinson, die den drei Grabkreuzen den Blumenschmuck spendete und die daher irgendwie mit diesen letzten Ruhestätten unbekannter Namenloser seelisch verbunden war, ihren geheimen Schlupfwinkel hatte, von dem aus sie dem Manne nachstellte, den sie selbst mit Hektor Belard angeredet hatte.

„Freund Kituri“, raunte ich dem enttäuschten Malaien zu, „vorläufig werden wir gar nichts unternehmen … Schiebe daher deinen kühnen Schädel nicht allzuweit vor … Wir haben den Vorteil für uns, daß wir den Leuten unbemerkt auf den Fersen bleiben können, und …“

Da verstummte ich …

Zufällig waren meine Augen in die Ferne geschweift, zufällig dorthin, wo die jenseitigen flacheren Buchtwände den Blick auf das südwestliche Polarmeer freigaben.

Aber dort war nichts mehr von den weißen Streifen der Eisfelder zu bemerken, dorther zog eine endlose graue Mauer heran, wie festgeklebt auf die blaugrünen Wogen, wie niedergehalten auf dem Ozean durch die heißen Fäuste des Sonnengottes, dessen blankes, rundes Antlitz hoch droben im Äther schwebte und hochmütig herabblickte auf diese einsame, große Insel, deren Gebirgsmassen, Hochebenen, Flüsse, Bäche und Seen vielleicht aus stolzer Höhe ein freundliches Bild vortäuschten, die aber, in der Nähe gesehen, nur eins vermögen: Die Seele mit Schauern einer trostlosen Wildnis zu erfüllen!

Wildnis, – das ist Kerguelenland …!

Zwecklose, nutzlose Wildnis, hineinversetzt an den Rand des Südpols, – eine Brücke zu den eisstarrenden Unendlichkeiten der Antarktis, eine Vorschule für die, die den Südpol bezwingen möchten.

So war meine Hoffnung, der Wind könnte mehr nach Nordost drehen und die Nebelgespenster uns fernhalten, doch trügerisch gewesen.

Der Nebel kam …

Kam mit der frischen Brise, kam als langgereckte Mauer, als fest geschlossene Armee in breiter Angriffsfront …

Nebel auf Kerguelenland …

Ich wußte, was das zu bedeuten hatte …

Das war das Blindsein mit sehenden Augen, das war das planlose Umherirren in einem finsteren Labyrinth von tausenden von irreführenden Gassen und Straßen, – – das war für uns die Gefahr, den Rückweg zu unserem Lager zu verfehlen, und – falls der Nebel tagelang anhielt – die noch größere Gefahr des Verlustes unserer Karawane, unserer Tiere, Vorräte und all dessen, was uns die Einsamkeit hier bisher nicht nur erträglich, sondern auch zu freudigsten Stunden ungebundenster Freiheit gestaltet hatte.

„Kituri, – – der Nebel!!“

Oh – – er begreift schon … Sein Kopf fährt empor.

„Damnettonnerr!! Zurück zum Lager, Tuwan …!“

„Ja – – du!“

Die schwarzen Augen des jungen Burschen treffen die meinen.

„He – und du, Tuwan?“

„Ich will wissen, wo diese Miß Robinson hier haust … Verschwinde!! Ich vertraue dir … Sieh’ zu, wie du mit Monte als Wolfsvater und mit dem Säugen der Wölflein fertig wirst … – Keine Widerrede, – – beeile dich …! In einer halben Stunde ist der Nebel da …! Renne, was deine Lungen nur hergeben …! Lebe wohl, Kituri … Weg mit dir!!“

Treue Seele, – – er zögert, – – er gehorcht, kriecht zurück, das Geröll verdeckt ihn, – ein letztes Kopfnicken, eine kurze Handbewegung, und ich bin allein.

Nochmals ein Blick über den Ozean …

Dann ein Blick in die Tiefe …

Auch dort ein verändertes Panorama, – die weite Bucht hat ihren Frieden zurückerhalten, die Vogelscharen haben sich beruhigt, der Mann von der Pinguin-Insel ist verschwunden, und soeben biegt als letzte Gestalt die schlanke Miß Robinson in die schützenden Basaltklötze am Buchtufer ein, und der noch immer in der Sonne funkelnde Meeresarm ist leer, still, friedvoll – – wie sonst, wenn nur die drei Grabmäler dort von unbekannten Geschehnissen dieser Steinwildnis ihre Geheimnisse in stummer ernster Sprache zuraunen.

Still, friedvoll die Bucht …

Nichts erinnert mehr an die aufrüttelnden Szenen von vorhin.

Nur die frischen Kränze sind einziger, sichtbarer Beweis dessen, was sich hier abspielte.

Ich warte …

Ich erwarte, daß nun dort unten zwischen den Blöcken, die wie gesprengte Teile einer Hafenmole halb im Wasser liegen und deren zackige Höhe ungewisse Schatten auf die Bucht wirft, ein zweites Boot erscheinen wird …

Erscheinen muß …

… Alles bleibt tot, still …

Nur die Pinguine stehen wieder auf den Klippen als raublustige Posten, als elegante Taucher mit scharfen Augen für jedes Fischlein … Nur die Möwen kreischen träge, und sogar die Wildenten schnattern unaufdringlicher, als ob gerade sie genau wüßten, was dort von Südwest heranzieht.

Nebel – – Nebel.

Ich warte … warte … – Nervenprobe ist es!

Bin ich deshalb hier zurückgeblieben, um mir schließlich doch noch ein Wild entgehen zu lassen, dessen Schlupfwinkel ich unbedingt kennen lernen muß, – schon unserer eigenen Sicherheit wegen?!

Wie war es doch vor Stunden, als dort unten an derselben Stelle zwischen den Blöcken der junge See-Elefant seine geschickten Kriechübungen anstellte und letzten Endes damit doch nur eins bezweckt hatte: Auszukundschaften, ob der Buchtstrand sicher sei und ob man es wagen könnte, die schützende Haut abzustreifen, – – man, die Miß Robinson, die dann die Wölfin erschoß und entfloh, – – wieder in ihrer See-Elefantenhaut?! War sie wirklich schwimmend entkommen, oder gab es dort in der Tiefe zwischen den riesigen Basaltklötzen irgendeinen anderen heimlichen Weg in heimliche Fernen?!

Noch länger warten?!

Etwa bis die graue Wolkenwand sich so weit vorgeschoben hätte, daß alles, alles ringsum grauer lichtloser Tag würde?!

Fieberte nicht alles in mir nach Betätigung, nach Lösung der einen Frage: Wer war diese Frau, die so liebevoll drei namenlose Gräber schmückte, – wer waren die, die dort unter den Kreuzen ruhten hier auf Kerguelenland, hier am allerletzten Endzipfel jener Welt, die Gutes und Böses und Gute und Böse hinausschickt in fremde Zonen mit habgierigen oder forscherfreudigen oder auch abenteuerlustigen Sinnen – – wie mich etwa? Wer war es?! Und die Frage mußte man anpacken mit harten zähen Fäusten und ihrer dunklen Hüllen entkleiden und den freigelegten Kern fest zwischen die Finger nehmen und ihn gegen das Licht halten und sieghaft rufen: „Nun sehe ich dich! Nun weiß ich alles!!“

Höchste Zeit war es, allerhöchste Zeit sogar, diese Versäumnis nachzuholen … Zu lange schon hatte ich mich täuschen lassen und auf ein Boot geharrt, – – und kein Boot kam, alles blieb still.

Nur eins kam: Der eisige, dichte, hämische, graue Geselle, der Nebel!

Entschluß und Tat ballen sich zusammen zu ein paar kühnen Sprüngen, vielleicht leichtfertigen Sprüngen die Steilwand hinab … Von Vorsprung zu Vorsprung, von schmalem Felsgrat zu schmalem Felsgrat, – mit federnden Gelenken, mit federnden Knien, mit vorgestrecktem Arm, der die kostbare Büchse vor dem Stoß gegen das harte Gestein schützen soll …

Mit noch eiligeren Sätzen dann hinein zwischen die zackigen, zerklüfteten, dunklen Felsgiganten, – vielleicht etwas leichtfertig, aber die Sekunden sind kostbar …

Drüben das andere Buchtufer ist bereits grau umklammert von den Vorboten der großen Nebelarmee, Wolkenflöckchen sinken bis auf das Wasser hernieder, Wolkenflöckchen vereinigen sich zu undurchsichtigem Dunst …

Der Nebel ist da …

Die Sonne verkriecht sich …

Fahles Halbdunkel wie bei einer Sonnenfinsternis deckt Meer und Land … Wie ein Mond hinter nächtlichem Gewölk glotzt der Sonnenball trübe durch die anmarschierenden Schleier …

Und ich stehe zwischen den Felsen, lasse die Augen umherirren, finde auch nicht das allergeringste Anzeichen der Gegenwart von Menschen …

Kaltes totes Gestein scheint mich höhnisch anzugrinsen mit seinen Zufallsfratzen, die ihm die Natur aufdrängte in Rissen und Buckeln und Falten und Sprüngen …

Leer die Stätte, die nicht leer sein dürfte …

Und doch leer!!

Also?!

Da gibt es nur eine Antwort, eine einzige, eine einzige zutreffende: Doch ein geheimer Weg irgendwohin!

Und deshalb – – mit zwei, drei Griffen raffe ich vom Ufer halbtrockenen Seetang, angeschwemmte Äste, eine morsche Planke auf …

Licht muß ich haben, wenn ich dieses Spiel gewinnen will … Eine Laterne wäre besser … Ein Feuer und eine Fackel tun es auch …

Hinein mit dem Brennmaterial dort in den grottenähnlichen dunklen Winkel, in dem bereits die Finsternis lauert. Wenn irgendwo, dann muß hier der Faden zu finden sein, an dem ich mich weitertasten könnte …

Zischend und sprühend funkt mein Feuerzeug, ein Flämmchen züngelt – spitz, dünn, – Benzindunst umweht mich, eine trockene Alge knistert, qualmt, flackert hoch, – – eine zweite, dritte, – ich kauere am Boden, aus Flämmchen werden Flammen, Holz knallt und wehrt sich gegen die Glut, – – glüht auf, brennt, – – längst ist der Nebel sogar schon in diesen grottenartigen Winkel eingedrungen, aber das Feuer verscheucht ihn, die morsche Planke splittert, gibt lange Stücke kiendurchsetzten Holzes, und dieses Holz tropft von schwarzem Harz, als die rote Lohe es erst einmal umkrallt hat … – So habe ich mir damals das Licht erkämpft, das ich brauchte, – das Licht, die Beleuchtung, und mit knallendem Plankenstück als Fackel besichtige ich die Wände der hier aneinandergepreßten Blöcke und will finden – will!!

Und finde …

Es ist wirklich nichts Besonderes an diesem Funde. Wer so – sagen wir – unbegabt ist, in eine Ecke zwischen Basaltgeröll eine riesige Platte noch älteren Urgesteins aufzubauen, das sich in Farbe und Struktur zu stark von der Umgebung abhebt, mag sich nicht wundern, wenn ein so alter Weltentramp wie ich mit leisem Lächeln diese Platte betrachtet und sich sagt: „Ein Wandschirm könnte kaum weniger dazu geeignet sein, vor einer Zimmerecke aufgestellt zu werden, um ein Mauerloch zu verbergen!“

Und das sage ich mir, ziehe die Platte mit beiden Fäusten zurück und … finde etwas, das weder Stollen noch Höhle noch Grottengang genannt werden könnte …

Nennen wir es: Breiter Felsenriß, – breit und hoch genug für einen kriechenden Menschen, – – das ist alles! – Immerhin, es ist ein Weg, und daß dieser Weg ein Ziel hat, beweisen drei nichtige, wertlose Dinge, drei abgebrannte Zündhölzer.

Dieser enge Weg führt allmählich aufwärts, – ein Vergnügen ist es nicht, mit einer qualmenden Fackel, einer Büchse und drei langen Holzscheiten (für späteren Bedarf) diese enge Kluft zu überwinden – Meter um Meter, bis aus Meter und Meter vielleicht ihrer fünfzehn geworden sind und plötzlich diese qualmerfüllte Enge sich weitet und meiner Lichtquelle rötliche Streifen in stillem Wasser sich wiederspiegeln und ich mich aufrichte und staunend und ungläubig um mich blicke …

Dies hier ist eine Höhle …

Eine Wassergrotte, gespeist durch die Meeresfluten der nahen Bucht, vielleicht zehn Meter hoch, vielleicht kreisrund – – wie eine steinerne Glocke, die man in das Gestein des hohen Strandstreifens hineinzauberte und mit Wasser füllte …

Ihr Durchmesser, schätze ich flüchtig, dreißig Meter …

Doch das, was dieser Steinglocke ihren eigentümlichen Reiz verleiht, ist nicht der im Fackellicht flimmernde Wasserspiegel …

Nein, – etwas anderes zwingt mich, den Atem anzuhalten und staunend hinüberzustarren zu den drei Felsenpfeilern, die da aus der ruhevollen Flut emporwachsen und das Gewölbe der Höhlendecke zu tragen scheinen.

Drei Steinpfeiler, drei klobige, unregelmäßig geformte, trotzige Natursäulen, breit, wuchtig, kantig, – trotzdem seltsam an Gebilde von Menschenhand erinnernd, und doch niemals von Menschenhand hergestellt, nur ebenfalls ein Spiel der Naturgewalten wie diese Wasserhöhle, mitten im Wasser stehend mit geringem Zwischenraum in einer Reihe.

Wie droben die drei Grabkreuze!!

Und der Gedanke gibt den Dingen ein anderes, ein neues Gesicht …

Der Gedanke zaubert Möglichkeiten hervor, die nachgeprüft werden müssen.

Oder müßten …

Nicht immer sind wir so weit Herr unserer selbst, daß wir dem Neuen, Unerwarteten gegenüber auch all das andere berücksichtigen, was da zu berücksichtigen wäre …

Die Hand, die mir urplötzlich die Büchse wegreißt, hat gleichzeitig auch die Blende von einer großen Laterne geöffnet. Kaltes, weißes Karbidlicht umspielt mich, und – – ich habe die Partie verloren …

Für’s erste …

Miß Robinsons blonde Recken mögen leicht angeschrammt sein … Kerlen von solchem Wuchse macht das nichts. Kerle wie diese vier Wikinger in Robbenfell lachen über einen Fleischschuß im Oberarm.

Wer nicht lachte, das war ich, das war Miß Robinson …

„Mr. Abelsen, geben Sie sich keiner Täuschung darüber hin, daß wir Ihre Einmischung nicht wünschen und daß wir Gewalt anwenden, falls Sie sich nicht zu bestimmten Zusagen bequemen.“

Kurz, scharf, aufreizend selbstbewußt diese unzweideutigen Sätze …

Kalt, grell, lauernd wie funkelnde Raubtieraugen die Strahlen der großen Laterne …

Gleichgültig, kraftstrotzend, dennoch sprungbereit wie treue, auf den Mann dressierte Rüden die vier Wikinger …

Ich selbst?! – Die Frau stand im Schatten, nur die letzten Flammen meiner Behelfsfackel beleuchteten matt ihre feinen, stolzen, klaren Züge …

„Woher kennen Sie meinen Namen?“, – und die Verbeugung meinerseits sollte andeuten, daß ich Wert auf die Anbahnung friedlicher Beziehungen lege …

Eine schroffe Handbewegung … „Es genügt: Wir kennen ihn … Wir kennen auch Ihren Begleiter oder Gefährten … Wir kennen sogar das Tal im Norden, in dem Ihre Freunde wohnten. – Wollen Sie versprechen, diesen Südwestteil der Insel fernerhin zu meiden? Kerguelenland ist groß genug, Mr. Abelsen … Bleiben Sie an der Südostküste oder im Norden in der Nähe Ihres paradiesischen Tales. – Wollen Sie?“

Ich hatte derweil die zwei anderen Holzscheite auflodern lassen, und ich stand noch immer halb mit dem Gesicht nach dem Wasser hin.

Über das stille Becken schossen die roten Blitze der Flackerflammen meiner qualmenden Hölzer …

Miß Robinson kannte meinen Namen.

Mich kannte sie nicht …

Wenn ihre Wikinger sich diesen schroffen herrischen Kommandoton gefallen ließen, – – nun gut, – – ihre Sache!

Und wenn diese Miß Robinson glaubte, mich bereits so fest in den feinen Katzenkrallen zu haben wie vorhin den bleichen Hektor Belard, – – nun, – – eben ein Irrtum …

„Gewalt!“, hatte sie gedroht …

„Schnelligkeit, – – keine Rücksicht“, dachte ich …

Ich sah ja, daß das Becken dort links von mir eigentümliche Blasen und Wellen schlug, daß die jetzt in der Bucht steigende Flut auch hier die Grotte höher anfüllte …

Und ich tat zweierlei, – zweierlei, das wie ein einziger Schlag der Überraschung wirkte …

Eine Laterne flog durch einen Fausthieb ins Leere, ein Männerkörper bückte sich, schnellte vor, packte im Sprunge die treue Büchse, – – und Dunkelheit erfüllte die Grotte, das Wasser spritzte auf, zischend erloschen zwei Fackeln …

 

4. Kapitel.

Das Asyl eines Sträflings.

Kituri massiert mich … Kituris fabelhaftes Mundwerk steht nicht eine Sekunde still. Kituri will meinen durchnäßten, durchfrorenen Leib erwärmen und peinigt meine Ohren …

Er ist ein guter Kerl, der Malaie … Auf seine Art liebt er mich.

Seine Art ist grundverschieden von der zivilisierter Freunde.

Er massiert und frottiert, – ich halte still, ich habe keine Lust, mir nach diesen eisigen Stunden in eisigen durchnäßten Kleidern etwa eine Lungenentzündung zu holen.

„He, Tuwan, – also du finden unterirdischen Kanal zur Bucht … – Gut, – du schwimmen, du fliehen, du irren im Nebel umher, bis du unser Lager riechen … Du sagen selbst: Riechen! – Ich sagen: Kituri immer schlau sein, Kituri ahnen, daß du uns suchen, deshalb große Feuer von alte holzige Reste von Kerguelenkohl … Der sehr stinken, sehr weit stinken …“

„Fast zu weit …! – – Höre auf, ich danke dir, ich bin bereits rot wie ein Krebs … Sieh’ nach dem Teewasser, und dämpfe deine Stimme, denn dein Pfadfindermittel könnte auch meine Verfolger in die Nähe locken …“

Kituri schwitzt … In dem Lederzelt brennt eine Laterne, brennt der für Kerguelenland fast zu luxuriöse Hartspirituskocher. Ich zwänge ein frisches Wollhemd über den Leib und krieche unter die Wolldecken, neben denen unser Tieridyll sich niedergetan hat: Monte mit seinen drei Kindern und der mütterlichen Wolfshaut!

Monte ist nur noch Vater. Monte hat mich zwar freudig, aber ohne jene übermäßige Zärtlichkeit begrüßt, die ich an ihm gewohnt bin – oder war. Sein treues Hundeherz gehört zur Zeit mehr seinen halb verwaisten Sprößlingen als mir. Ich verarge ihm das nicht. Im Gegenteil, – dieser neue Zug seines Charakters ist keineswegs zu unterschätzen, und wenn Monte erst merkt, daß wir seine Wolfskinderlein genau so sorgsam pflegen, wie es die Wölfin getan hätte, wird er seine bissige Gereiztheit gegenüber Kituri sehr bald ablegen und wieder wie früher unser wertvoller Beschützer und Fährtenleser sein.

In die dunstgeschwängerte Hitze des Lederzeltes mischt sich nun der Geruch von Tee. Kituri hockt neben dem Kocher. Er füllt einen Becher, reicht ihn mir samt einem Hartzwieback und flüstert dazu:

„Auch Brandy, Tuwan? Auch Zucker? – Zucker hier sein in Büchse, Brandy liegen hinter Montes Lagerstatt. Besser, du nehmen Flasche …“

Ja, ich nehme sie … Monte beäugt mich scharf.

Vatersorgen …

Unser Nachtmahl wird schweigend verzehrt.

Unsere flache Felseninsel hier in dem rauschenden Bergbach bietet trotz der vereinzelten kräftigen Kohlstauden zu wenig Sicherheit gegen unerwünschten Besuch.

Ich merke, daß Kituri, dessen Gehör vorzüglich ist, nun andauernd lauscht. Meine Warnung, daß sein stinkendes Feuer auch die Verfolger zumindest in die Nähe gelockt haben könnte, ist auf fruchtbaren Boden gefallen.

Ich verlasse mich mehr auf Monte.

Der starkknochige Hund liegt auf dem Wolfsfell, halb zur Kugel zusammengerollt, die Schnauze auf der einen Vorderpfote, die klaren blanken Augen halb offen. Zwischen seinen Hinterschenkeln krabbeln die fetten Wollknäuele seiner noch blinden Kinder, und ihr leises Winseln und quieken gibt unserer Lederhütte den zarten Reiz eines weltfernen Säuglingsheims.

Ich verspüre eine wohlige Müdigkeit, ich spüre nichts mehr von jener eisigen Kälte, die mir draußen im Nebel bis auf die Knochen gedrungen war. Ich würde einschlafen, wenn ich nur die Augen für Sekunden schließen würde, aber ich darf es nicht, ich habe Pflichten – gegen uns selbst.

Und dann ist da noch etwas, das mir keine Ruhe läßt, das immer wieder den Kreis der träge fließenden Gedanken durchbricht: Das Bild der Wasserhöhle mit den drei Steinpfeilern!

Wer hätte je gedacht, daß Kerguelenland, letzter Zipfel der Welt vor den Eismauern des Südpols, derartige Fülle von verwischten Spuren großer Tragödien bergen könnte?!

Meine kecke Flucht aus der Wassergrotte, dieser minutenlange Kampf im unterirdischen Kanal gegen die hereindrängende Flut, und dieser Sieg im letzten Augenblick, wo die Atemnot mir bereits die Sinne schwinden ließ, – – belanglos! Dieses Irren in durchnäßten Kleidern durch die erbarmungslose Menge der Nebelschwaden, die wie Todesgespenster sich an mich zu klammern schienen, – noch belangloser!

Wichtig allein die Tatsache, daß es nun hier auf dieser Rieseninsel drei Parteien gibt, die einander aufreiben möchten.

Wichtig allein unsere Sicherheit …!

Und das vergesse ich nicht, das sorgt mit dafür, daß der Schlaf mich flieht, daß ich Monte beobachte, daß ich genau so scharf auf die Geräusche von außen achte wie Freund Kituri.

Das Winseln und Quieken der drei Wölflein wird lauter und anhaltender.

Drei Schnäuzchen suchen umsonst an Montes Bauchseite nach milchspendenden Zitzen.

Tieridyll …

Wildnisidyll …

Anderer Art, als die Phantasie der Herren Berufskollegen es sich austüftelt.

Anderer Art, weil hier über dem Ganzen die widerspruchsvolle Stimmung der toten Bergeneinsamkeit, des rauschenden Baches, des undurchsichtigen Nebels und unklarer Gefahren lastet.

… Die drei Wölflein haben Hunger …

„Kituri, wie ist es, – hast du unsere Pfleglinge gesäugt?“

Ich sitze auf den Wolldecken und schlüpfe zunächst mit den Beinen in trockene Hüllen.

Der Malaie, dem zwischen den spitzgefeilten Vorderzähnen die Tabakpfeife wippte, deutet ein verlegenes Achselzucken an.

„He, Tuwan, – – du Monte kennen?!“

… Also, er hat die Wölflein nicht versorgt!

„Hole die Ziege herein, Kituri …“

Er beeilt sich … Er scheut weitere Fragen. Als er das Zeltleder, den Eingang, losschnürt, setzt sich Monte mit steifen Vorderbeinen aufrecht. Sein mächtiger Kopf mit den zerfetzten Ohren ist auf eine bestimmte Stelle des Rundzeltes gerichtet – etwa nach Norden.

Und dann kommt aus seiner breiten Brust jenes dumpfe, warnende Grollen, das Gefahr anzeigt …

Immerhin: So ganz nahe kann diese Gefahr noch nicht sein …

Kituri lüftet das Leder, und das Gurgeln und Quirlen des Bergbaches wird von fernen Stimmen übertönt …

Also doch!

Der Feind hat das Tal gefunden …

Nur eins noch nicht …

Ich drehe rasch die Laterne ganz klein, der Lichtschein verschwindet, Halbdunkel umgibt uns.

Von draußen dringen die Nebelgespenster wie Dampf in unser Zelt, Kituri schlüpft hinaus, kehrt mit der Ziege zurück, und gerade da höre ich abermals die rufenden Stimmen …

Nun, wenn Miß Robinsons Wikinger dieses Tal nicht kennen, werden sie das Inselchen hier niemals finden.

Das Zeltleder wird verschnürt, und ich bemühe mich jetzt um die neunte Abendstunde erneut um das kleine Kunststück, den Wölflein die Ziegenmilch schmackhaft zu machen.

Monte beobachtet mich, und als das erste fette kleine Geschöpfchen in meiner Hand freudig am Euter säugt, beginnt Montes Rute dankbar zu pendeln.

Tieridyll …

Wildnisidyll … Mit allem Beiwerk, mit dem nervenaufpeitschenden ungewissen Vorgefühl drohender Zusammenstöße mit dem Feinde, – – und mit all dem unnennbaren Zauber, den nur das Abseits vom Alltag gewährt.

Ich habe die Laterne wieder etwas höher geschraubt. Kituri liegt lang am Boden und hat den Kopf unterhalb des Zelteinganges ins Freie geschoben, – geduldig steht die Ziege da, auch das dritte Wölflein ist nun satt, und Monte tut sich nieder, und die drei fetten Sprößlinge wühlen sich zwischen seine Bauchhaare und schlafen und schmatzen behaglich …

Dann fällt plötzlich draußen irgendwo ein Schuß …

Ein Schuß wie ein dumpfer Paukenschlag, halb verschluckt vom Nebelgebräu …

Irgendwo …

Im Nu ist Monte auf den Beinen …

Steht steif, – lauscht …

Steht und läßt die Rute sinken, hat immer noch so viel Vatergefühl, daß er mit der Vorderpfote das Wolfsfell über seine Sprößlinge deckt.

Kituri schiebt sich weiter ins Freie, greift nach seiner geliebten Flinte, winkt mir zu, – eine sehr unbestimmte Handbewegung.

Ich erwische seinen linken Fuß, ich sehe seine zerfetzten Sohlen seiner hohen Seehundsstiefel, ich sehe Blutkrusten an dem Leder, die durchgescheuerten Sohlen, das nackte Fleisch …

„Zurück, Kituri!“

Er gehorcht widerwillig …

Er kauert vor mir …

„He – du etwa wollen gehen, Tuwan?! – Du sein halbkrank, du …“

„Du bleibst …!! – – Monte!!“

All das nur im Flüsterton …

Ob Monte gehorchen wird? – Er schaut flüchtig auf seine warm bedeckten Sprößlinge, er duckt sich zusammen, das dicke Genickhaar hebt sich, in der Hundeseele streiten die stärksten Triebe, – – der Charakter siegt, und Monte überläßt Kituris Aufsicht seinen gesättigten Nachwuchs.

Ich nehme Monte an die Leine, wir drücken uns unter der Lederbahn in die eisige Nässe des Nebels, und nach der Hitze im Zelte legt sich diese schwere, undurchsichtige Dunstmasse wie ein Eisenreif mir um die Brust. Doch der heiße Tee, Kituris Massage, der Schluck Brandy und die Gewißheit, daß hier im Tale nicht alles geheuer sein kann, sagen das Blut eilfertiger durch die Adern, und – wenn es noch nötig wäre! – gibt mir die frisch gereinigte und geölte Sniders und die ebenso sorgfältig behandelte Coldpistole jenen allerletzten Anstoß zu freudigem Sicherheitsgefühl, zumal ich jetzt wieder den einen einzigen vierbeinigen Begleiter neben mir habe, der mit besseren Sinneswerkzeugen und höherer Intelligenz ausgestattet ist als wir Zweibeinigen, angeblich höchstentwickelten Wesen …

Weder von unseren Schafen noch dem Pferde noch den Felsen oder dem mannshohen Kohlgestrüpp ist etwas sichtbar …

Graue Wände umgeben uns, elastisch wie Gummi, feige zurückweichend wie ein Krustentier, das sich in seinen Panzer zurückzieht und doch allzeit die Fühler wieder hervorstreckt, – Nebel, Nebel, das Wahrzeichen von Kerguelenland, hartnäckig, trügerisch, ohne Lücken, überall vorhanden, jedes Geräusch abschwächend und umformend, – – Nebel, Nebel …

Monte tappt vorwärts, keucht leise …

Monte ist wie sein Herr …

Jagdfieber, Abenteuerlust glüht ihm im Blute …

Alter Monte, wir beide sind ja aufeinander eingespielt … Alter Monte, wenn wir unsere gemeinsamen Erlebnisse auskramten, dann könnten wir Bände füllen …

Er drängt vorwärts … Sein Keuchen wird zum Winseln … Sein Eifer warnt mich … In ungeheuren schattenhaften Umrissen wächst vor mir ein trojanisches Pferd aus den grauen Schleiern hervor, – unser Pferd, – – Pferd von Troja, riesig, unwahrscheinlich groß … Der brave Braune steht hier zwischen den Kohlstauden und langweilt sich, reibt sein Maul vertraulich an meiner Schulter, – – Monte zieht mich weiter …

Wasser quirlt, schäumt, gurgelt, – es hilft nichts, ich muß das neue Bad auf mich nehmen, die eisige Nässe reicht nur bis zu den Hüften, – kaum bis zu den Hüften, ich spüre sie nicht, – – Monte will vorwärts, Monte muß etwas wittern, sein Winseln wird eindringlicher, mahnender …

Und wir stehen wieder auf trockenem Gestein, tappen weiter – im Eilschritt …

Das Tal, von West nach Ost die Berge spaltend, hat sehr unregelmäßige Wände, viele Terrassen, viele steile Stellen, viele Geröllhalden, auch Reste von Lavafluten aus fernen Erdepochen.

Monte wendet sich gen Osten …

Ich glaubte vorhin, der Schuß sei im Westen gefallen …

Monte trabt …

Für mich ist jeder Schritt, sobald wir über körnigen Boden kommen, eine Qual. Mir ergeht es nicht anders als Kituri: Wund gelaufene Füße!

Dann wird die Leine schlaff, Monte steht still, und – ich stehe still …

Sehen kann ich nichts …

Ich höre nur …

Ein Stöhnen, einen halb zurückgedrängten Schmerzenslaut …

Seltsam genug: Die Töne wiederholen sich noch häufiger, aber immer schwächer, und trotzdem verharrt Monte an derselben Stelle und macht keine Miene, der Frau zu folgen.

Denn es ist eine Frau, die hier irgendwo eine Schußverletzung erhielt, die das Schmerzgefühl zu meistern sucht und die im Nebel entschwindet, vielleicht getragen von einem der Wikinger, – vielleicht ist es Miß Robinson, obwohl so manches dagegen spricht.

Am widerspruchsvollsten bleibt das eine:

Monte rührt sich nicht!

Und Monte würde sich den Teufel etwas darum scheren, ob da vor uns ein Weib oder drei oder vier Männer und eine Frau sich befänden, – Monte ist kein verzärteltes Stubenhündchen mit gewissen Hemmungen, die man auch als Feigheit deuten könnte.

Aber Monte steht steif und starr wie am Boden festgewachsen. Ich fühle seine Rippen an meinem Oberschenkel, fühle daher auch das leise Zittern, das durch seinen gestrafften Leib geht …

Ein Zittern der Jagdgier, der verärgerten Enttäuschung …

Wie etwa ein auf die Fuchsjagd dressierter Teckel am ganzen Leibe bebt, wenn ihm die Beute mit kühnem Sprung in eine Astgabel einer Kiefer entfleucht, unerreichbar für die krummen Teckelbeine und die scharfen Zähne.

So etwa …

So zittert Monte …

Und leiser und leiser werden die Töne, wird Stöhnen und pfeifendes Atemholen, – – löst sich in Nebel auf, in Nichts, – – verklingt, – – bis die große beklemmende Stille um uns ist, die Stille der schwadenerfüllten Kerguelennacht … –

Was bedeutet dies alles?! Ich begreife Monte nicht, ich fühle nur an dem Vibrieren seiner Glieder, daß hier Ungewöhnliches sich abspielt, – ich strenge ganz umsonst mein Gehör an, ich vernehme kaum mehr das Rauschen des Bergbaches und das klingende Plätschern der Kaskaden des aufgestauten Sees, in dem unser Inselchen und unser Lager verborgen, unbeachtet dahinträumt von Urzeiten dieser Insel, als die vergletscherten Bergkuppen noch Vulkane waren …

So still ist es ringsum …

Stille des Todes wäre zu viel gesagt. Denn diese Stille birgt ihre Drohungen und Gefahren und haßerfüllten Menschen, die einander an die Kehle wollen und irgendwo lauern und irgendwoher ihre Kugeln verschicken und ein Weib trafen …

Nein, ich höre nichts …

Aber Monte rührt sich nicht …

Sein Herr rührt sich nicht … Beide warten auf irgend etwas … – Beide?! Ob nicht doch der feinere, unverdorbene Instinkt des Tieres hier trotz Nebel und Finsternis mir abermals weit überlegen ist?!

… Die seltsame Unruhe in meinem Blute gilt nur den Zweifeln über das, was sich hier in meiner unmittelbaren Nähe abspielte.

Was denn?!

Trug man die Verwundete davon?!

Hätte ich nicht Schritte hören müssen?! Wir stehen ja hier auf körnigem Geröll, auf steinbesätem Felsboden … Meine Fußsohlen brennen, sie beweisen am nachdrücklichsten, daß sogar ein Robbenstiefel an muskelstrotzenden Wikingerfüßen niemals eine Last wie eine verlebte Frau lautlos hätte bergen können …

Was war geschehen?!

Ich spähe zwecklos geradeaus in die elastische und doch unbezwingbare Mauer des Nebels …

Ich spähe zwecklos in das graue Gebräu, das mir sogar Montes Gestalt nur als verwaschenen großen Fleck zeigt. Ich gebe mich keinerlei Illusionen hin, daß dieser Nebel weichen könnte, – – es sei denn, der Wind spränge plötzlich um … Dann – käme er von Norden aus der Unendlichkeit des Indischen Ozeans mit feinen aufgespeicherten Wärmemengen – dann würde sich das Wunder vollziehen, daß die Sommermonate dieser Insel der Antarktis bescheren wie droben am Nordpol auch zur Sommerszeit: Die Sonne würde scheinen, obwohl es Nacht sein müßte, und Kerguelenland böte mir dieselbe Freude wie jenen Touristenscharen, die auf bequemen Dampfern alljährlich das Nordkap besuchen, um die Mitternachtssonne kennen zu lernen.

Und käme der andere Wind, der die Nebelarmee zurückdrängte in ihre eisigen Gefilde, dann – ja dann wäre vielleicht manches gewonnen, aber auch manches verloren …

Auch diese trüben Dunstmassen haben ihr Gutes … Auch sie sind Schirm und Schutz und Deckung, und …

Wie durch einen Schwerthieb zerhauen zerfällt die Gedankenkette …

Stimmen …

Irgendwo …

Raunende Stimmen …

Wenige Worte …

Wieder Stille …

Stimmen, die lediglich Montes jagdgieriges Keuchen verstärken und lediglich seine Rippen enger an meinen Schenkel pressen, als ob der Druck mich warnen sollte …

Ich horche wieder … Es sind also doch noch Leute in der Nähe, ich bin nicht allein hier oben auf irgend einer der Bergterrassen … irgendeiner, irgendwo …

Und dann – Minuten später, Minuten, die durch fast zu volles Anspannen aller Sinne ausgefüllt sind – dann schräg über mir, schräg vor mir ein heller Fleck, der langsam sich senkt, als ob die verdunkelte Sonne urplötzlich ausgerechnet Kerguelenland besuchen wollte …

Ein schiefer Vergleich, gewiß …

Ein Glück, daß der Sonnenball auf solche Scherze verzichtet … Die ganze Erde wäre in zwölf Stunden ein einziges Krematorium, und niemand brauchte sich mehr zu bemühen, meine Gebeine dereinst zu bestatten.

Immerhin: Ein Lichtfleck senkt sich …

Vielleicht die Laterne eines Freiballons, die von den Balloninsassen angezündet wurde in der eitlen Hoffnung, künstliches Licht könnte dieses graue Nichts der eisigen dichten Schwaden bekämpfen …

… Senkt sich langsam, behutsam, dieser verschwommene Fleck …

Immer langsamer …

Und Monte zittert noch stärker …

Monte gibt keinen Laut von sich …

Sein Herr duckt sich zusammen …

Instinkt bei mir? – Vielleicht Instinkt, zurückgewonnen in langen Jahren einsamer Wanderfahrten, deren Wege aus dem Abseits kamen, ins Abseits gingen und keine Wege waren …

Instinkt?!

Ich weiß, daß etwas geschehen wird …

Ich sehe nur den verwaschenen Fleck, der nun in einer Höhe mit meinem Kopfe schwebt – irgendwo, vielleicht zehn Meter entfernt, vielleicht zwanzig, vielleicht nur fünf …

Ich beuge das rechte Knie zum Sprunge …

Das teuflische Brennen der gemarterten Fußsohlen ist vergessen … Alles ist vergessen … In solchen Augenblicken denkt man nicht an diese Nichtigkeiten, die da Unbehagen oder Schmerz heißen oder gar vorsichtiges Überprüfen all dessen, was gegen ein persönliches Eingreifen sprechen könnte.

Die Sache ist eben die, daß ich diese Geschichte gründlich satt habe, daß ich eine Entscheidung herbeiführen will – – so oder so …

Das ist es …

Und deshalb werde ich nur Tatmensch, nur Mann mit dem einen rücksichtslosen Wunsch: Zupacken, – – die Sonne da entgeht mir nicht, denn wo eine Lichtquelle dieser Art, da auch ein zweibeiniges Wesen! Und das will ich haben …

Monte flattert …

Gleitet an meinem Schenkel tiefer, – – duckt sich, wie sein Herr sich duckte …

Ich lasse Montes Leine los … Sie fällt ihm über den Rücken, – er spürt es, daß er frei ist, und die Umrisse seiner übergroßen Hundegestalt, übergroß nur durch die alle Konturen verschleiernden Wasserperlchen, gleitet lautlos in das Nichts hinein, in das Nichts, in die Leere, in die Fülle des kalten Nebels …

Soll ich warten, bis man meinen Monte da in diesem Nichts mit Kugeln begrüßt?!

Ich schnelle vorwärts …

Ein langer Satz …

Ein Panthersprung …

Und während ich noch in der Luft schwebe, heult Monte wütend auf, knallt ein Schuß, brüllt eine helle Stimme irgend einen kurzen scharfen Befehl …

Und während ich im Sprunge blindlings ungeahnte Zwischenräume durchmesse, nähere ich mich auch der starken runden Lichtquelle, deren ungewisser, umwölkter Schein klarer und klarer wird.

Dann pralle ich gegen irgend etwas, das nicht festes Gestein, nicht festes Holz ist, – etwas, das ein wenig unter diesem Stoß nachgibt, und mit einem Male liege ich da irgendwo auf zähem Leder, das über Holzleisten gespannt ist …

Gesicht nach unten …

Über mir das glotzende schillernde Auge der runden Laterne …

Die urplötzlich erlischt …

Eine Eisenfaust packt mein Genick, eine Stimme gurgelt mir ins Ohr – – englische Worte, arg verstümmelt?

„Liege still, oder …!!“

Und da fühle ich dieses „Oder“ bereits …

Messerspitze …

Im Genick …

Vor solchem „Oder“ kapituliert man besser, zumal wenn die Gedanken ohnedies genügend Ablenkung haben …

Ich fühle es ja: Ich schwebe empor …

Sehr schnell …

In diesem Lederkasten, samt dem Kerl, der da so verdammt nach Kautabak und Alkohol duftet …

„Liege still!“, warnt er nochmals …

Was überflüssig sein dürfte …

Das Eigentümliche meiner Lage verscheucht alle Bedenken … Ist Kerguelenland denn plötzlich Märchenreich geworden?! Erst die drei Grabkreuze, dann die Wassergrotte mit den drei Felsenpfeilern, dann die stöhnende Verwundete … Und nun gehe ich denselben Weg wie sie: Aufwärts! Irgendwohin …

In einem Korbe, der an einem Seile blitzschnell hochfliegt, in einem Förderkorb, – – wo kein Bergwerk vorhanden, wo nur die unberührte Wildnis die Einsamkeit predigt …

Alle Bedenken schwinden …

Und hastig flüstere ich zurück:

„Ich bin Abelsen, – – nicht Ihr Feind …! Weg mit dem dummen Messer!!“

Der Korb gleitet empor …

Der Kerl über mir holt tief Atem …

„Wirklich, – – Abelsen?! War das Ihr Hund, der dem Norweger den Spaß versalzen hat …?!“

Eigentlich brauche ich nicht mehr zu bejahen.

Schon in des Fremden Art der Fragestellung liegt Glaube, nicht echter Zweifel.

Die Faust lockert sich …

„Natürlich mein Hund, – wer sonst?!“

Die Faust verschwindet, die unangenehme Messerspitze desgleichen …

„Entschuldigen Sie, Herr … Ein verzeihlicher Irrtum …“

Plötzlich spricht der Mann deutsch, ganz fließend, aber so mit einem merklichen Beiklang von friesischem Platt …

Dann drehe ich mich um, so daß ich sitze …

„Herr, ich habe Ihnen zu danken … Der verfl… norwegische Bandit hatte mich schon gepackt … Ihr Hund verdarb ihm den Spaß … – Sitzen Sie bitte still … Wir sind sofort oben … Und verzeihen Sie meine etwas derben Ausdrücke. Mein Name ist John Levkusen, Lev…kusen, Herr Abelsen … Kapitän John Levkusen, zur Zeit bestgehaßter Mann auf ganz Kerguelenland, weil ich für die Belards eintrete … – das so nebenbei, das verstehen Sie nicht und werden Sie auch nicht verstehen … – Hallo, wir sind angelangt. Bitte leise … Wir müssen jedes Geräusch vermeiden … Wenn Sie sich vorsichtig aufrichten, werden Sie über sich einen Balken fühlen … Auf diesem Balken rutschen Sie nach dorthin …“

Etwas wie ein Arm deutete mir eine Richtung an …

Ich bin im Bilde, folge dem Rate, fühle das Ende des Balkens, erhebe mich, gestützt von einer Männerhand …

„… Es ist Herr Abelsen, Hektor …“, rannt irgendwo Kapitän Levkusen … „Da ist nun schon nix gegen zu wollen, Hektor: Unser Asyl erhält Zuwachs!“

„Sie sind uns willkommen“, sagt leise eine Männerstimme dicht vor mir. „Bitte, – geben Sie mir Ihre Hand … Ich führe Sie … – Onkel John, du schwingst wohl den Kranbalken ein … Hast du Gwendas Büchse?“

„Und ob!! Wie geht es ihr?“

„Zum Glück nur ein glatter Durchschuß … In acht Tagen ist die Geschichte verheilt – – bei Gwendas Natur!“

„Schwein gehabt, das Mädel …! – Bringe Abelsen nur ins Warme, Hektor … Ich besorge hier draußen schon das Nötige … Ihr Hund, Abelsen, ist übrigens schlauerweise ausgekniffen. Der Schuß ging vorbei … – Na, darüber reden wir später, – – oder auch nicht …“

Hektor Belard geleitete mich weiter, Schritt für Schritt …

Schweigend … Im Nebel, durch den Kerguelennebel.

Und dann ein leises, knarrendes Geräusch …

Lichtfülle schlägt mir entgegen, Wärme, – – meine Augen blinzeln unsicher über die neue Umgebung hin.

Es war das Asyl eines Sträflings, es war ein fast unmögliches Wunder für Kerguelenland …

Es war ein Asyl und gleichzeitig eine prunkvolle Behausung für den verwöhntesten Geschmack.

 

5. Kapitel.

Gwendas nächtliches Stelldichein.

Tage sind über alledem dahingeglitten, Tage ohne wesentliche Bedeutung, denn das, was mir wesentlich erscheint, wird hier im Asyl bei zufälligen Redewendungen nur gestreift, nie absichtlich in das Gespräch hineingezogen.

Kituri, Monte, die drei Wölflein und ich bewohnen einen der weniger eleganten Räume, deren Fenster nach der Seitenschlucht hinausgehen.

Hektor Belards Palast – nennen wir es schon Palast! – bleibt dem ursprünglichen Bewohner reserviert. Wir sind nur Gäste …

Ob gern gesehen, das fragt sich …

Das ist und muß uns auch gleichgültig sein, denn die Schicksalsverbundenheit zwingt uns das Miteinanderleben auf.

– Der Uhrzeit nach ist es jetzt elf Uhr abends.

Die Sonne richtet sich nicht nach Uhrzeigern, die Sonne schwimmt in milchigem Gewölk am Himmel, und die Helle ist noch immer so groß, daß ich an einem Tisch am linken Fenster ohne Augenüberanstrengung schreiben kann.

Fabelhafter Luxus: Ein richtiges Tintenfaß mit zwei Näpfen, eine sehr dekorative Löschblattunterlage, gutes Papier, gute Federn – – nichts fehlt.

Da müßte doch eigentlich die Feder nur so über das Papier flitzen, zumal auch das Unwesentliche nunmehr festgehalten werden will.

Müßte …

Zumal doch auch noch die Zigarre dazu beiträgt, in dieser sonnenhellen Abendstunde mein Tagebuch zu ergänzen, denn Nikotin und Hirn, behauptet Käpten John nicht als einziger, stehen in Wechselbeziehung zu einander. Bei ihm trifft das sicherlich zu, denn nach der vierten Sumatra, Farbe Schwarzgrün, galoppiert seine Phantasie, alle Balken biegen sich, und es duftet mehr nach faustdicken Lügen als nach der schweren Sumatra.

Und schließlich: Ich bin hier mit Monte und seinen nunmehr sehenden Kindlein allein, der Dauerschwätzer Kituri hat draußen Wache, – – und trotz allem: Ich komme nicht recht vom Fleck, ich weiß nicht recht, wo anfangen, wo fortsetzen, und in meiner Zerstreutheit male ich auf das Löschblatt in Rundschrift, die eiligst verläuft, ein paar Namen.

„Damnettonnerr!!“, würde Kituri fluchen, – – auch mir ist danach zu Mute.

Da habe ich nun das letzte Kapitel so verheißungsvoll beendet, habe etwas vorweggenommen, das erst hierher gehörte, habe Hektor Belard als Sträfling bezeichnet, und baute diese Behauptung doch nur auf Vermutungen auf, denn mit kahlen, klippen, klaren Tatsachen wartet man mir nicht auf … Man läßt mich raten … Man zeigt mir, daß das Dreiklee Hektor, Gwenda, Old John keine Vertrauten braucht …

Und nun Schluß damit. – Also werden wir Chronist, Zeitungsreporter, etwas Ähnliches …

Örtlichkeit: Eine Bergterrasse an der Nordseite der steilen Talwand, hoch droben, wo der Berg einen mächtigen Mützenschirm vorschiebt und wo er nach Norden in ähnlicher Art fast die ganze Schlucht überdacht, die ich vom Fenster vor Augen habe. Jedenfalls eine Terrasse, die gleich gut von unten und oben geschützt ist, die außerdem im Hintergrunde Hektor Belards „Palast“ birgt.

Nun, – „Palast“, – das heißt, den Mund etwas zu voll nehmen. Aber ein Haus aus Schiffsplanken und Steinen, das innen feinste Mahagonitäfelung, feinste Teppiche, Möbel, Gemälde, Bronzen, Porzellane und anderes zeigt und im ganzen sechs bewohnbare Räume besitzt, – das ist eben für Kerguelenland ein Palast! Umso mehr Palast, Zauberburg, Göttersitz, als das ganze von außen so wunderbar geschickt mit Steinplatten verkleidet ist, daß selbst ein Mann mit einem Riesenfernrohr, der sich etwa jenseits auf der anderen Talhöhe aufpflanzte, niemals merken würde, daß hier droben Menschen hausen.

Nein, dazu hat Hektor Belard sein Asyl zu schlau und zu kunstgerecht angelegt.

Er allein?! – Schon hier beginnt der Komplex ungelöster Fragen.

Er spricht nie darüber … Nur Gwenda, die längst wieder auf den Beinen ist, entschlüpfte einmal eine Äußerung, die ihr einen strafenden Blick des reichlich um zehn Jahre älteren Bruders eintrug, außerdem ein unwilliges Krächzen des alten Patentlügners John Levkusen, Kapitän a. D., im übrigen bierehrlichste, biederste Seemannshaut vom Nordkap bis hinab zu unserer verwünschten Insel.

Also – – Äußerung entschlüpfte … Gwenda sagte nur: „Daß ihr das in wenigen Wochen geschafft habt, – – unglaublich!“

Mehr nicht … Nur das … Aber sie hatte „ihr“ gesagt, also war es nicht Hektor allein gewesen, – der hätte auch wohl Jahre nötig gehabt, derartiges zu Stande zu bringen. Als ehemaliger Ingenieur kann ich derartige Arbeiten doch abschätzen, von den rein technischen Dingen schon ganz abgesehen, wozu ich zum Beispiel den Kranbalken samt Förderkorb, Gegengewicht, Zahnradgetriebe und ähnlichem rechne. Das Gegengewicht wiegt ja allein vier Zentner, ist ein schmaler Felsblock, der gerade in einer der breiteren Spalten der Terrasse reibungslos auf und ab zu gleiten vermag.

Als ich damals am ersten Abend meiner Anwesenheit hier im „Asyl“ das Haus mir von innen angeschaut hatte, erklärte ich Hektor Belard klipp und klar:

„Hierzu haben Sie einen ganzen Passagierdampfer verschrottet!“

Und er?! – Er schwieg, und Käpten John schielte seitwärts und schob eiligst den Priem in die andere Backe.

Mithin – als nüchterner Chronist: Dieses Berghaus ist mal ein Dampfer gewesen, sogar ein recht luxuriös eingerichteter.

Mal …

Wann?!

Keine Ahnung …! –

Also Fortsetzung: In dieser ersten Nacht sprang der Wind nach Norden um, der Nebel verzog sich, und da Miß Robinson samt ihren Wikingern abgezogen war, weil sie nicht ahnte, daß ihr Todfeind gerade hier seinen Schlupfwinkel hatte, wurde meine „Karawane“ aufgelöst, Pferd und Schafe trieben wir in ein Nebental, Kituri, Monte, drei Wölflein und unser Hab und Gut wurde nach oben befördert.

Meinen Wünschen entsprach dies keineswegs. Aber Belard „lud uns ein“, und diese Einladung – – nun, ich will höflich bleiben! – war nicht abzulehnen.

Um die Sachlage richtig zu kennzeichnen: Wir sind mehr Gefangene als Gäste, wir bewahren die Formen des guten Tons, aber das eine ist gewiß: Wollten Kituri und ich einmal das Asyl verlassen, ich glaube, der Aufzug würde „zufällig“ nicht funktionieren. … Ganz abgesehen von der einwandfrei feststehenden Tatsache, daß unsere drei Gastgeber unbedingt noch einen zweiten geheimen Weg ins Tal hinab kennen, den sie uns nicht verraten. Auch muß noch betont werden, daß es nur für einen Vogel möglich ist, die Terrasse ohne totsicheren Genickbruch zu verlassen.

Somit käme ich zu dem Trio selbst.

Da ist Hauptperson: Hektor Belard. – Sehr sympathischer stiller Mensch, der hinter der Maske etwas versonnener Melancholie und hinter der durch Fieberluft gelb-weiß-farblos gebleichten Haut eine ungeheuere Energie verbirgt, vielleicht sogar eine kalte Brutalität, die vor nichts zurückschrecken mag. Letzteres ist nur Annahme von mir. Beweise habe ich nicht. Noch nicht. Nur den einen Beweis, daß Belard Sträfling in Neukaledonien gewesen sein dürfte. Woher dieser Beweis? Nun, – – ein Sträflingsanzug, eine Sträflingskappe und die zugehörigen Stiefel nebst grell gestreiftem Baumwollhemd. Und – – die Gesichtsfarbe!! Wer jahrelang in den Sümpfen der Sträflingskolonie Bazillen schlucken mußte, dem hilft keine Tropensonne mehr, dessen Haut bleibt unempfindlich. Mir sind bereits mehrere dieser Unglücklichen über den Weg gelaufen, ich kenne diese fahle Farbe, und als ich zufällig, wirklich zufällig, in Hektor Belards Zimmer hinter den Reihen aufgestapelter Bücher das Bündel Sträflingskleider fand, da wollte es derselbe Zufall, daß Belard zugegen war, daß ihn zum ersten und bisher einzigsten Male die Ruhe verließ und er die Schranktür heftig zuwarf und mit heiserer Stimme mich hinauswies …: „Ich möchte allein sein …!“

Ist dies ein Beweis? Kann man das noch „Vermutung“ nennen?!

… Trotzdem: Zugegeben hat Belard nichts, – nur zugeworfen hat er die Schranktür …

Als ob er die Frage nach der Herkunft der Sträflingskleider von vornherein verhindern wollte.

Das ist Hektor, so weit ich ihn bisher kenne. – Und sein Schwesterlein Gwenda?!

Auch aus ihr ist nur schwer klug zu werden …

Gesundes, frisches Naturkind, jung, vielleicht achtzehn, vielleicht auch älter, unbekümmert – – so der erste Eindruck …

Und der täuscht … Das zeigte dieses Mädel dort in der Bucht mit ihren blitzschnellen Schüssen, mit ihrem windschnellen echten Fellkajak, als sie den Bruder befreite, der jener Miß Robinson durch Mißgeschick und Ungeschick in die Finger geriet …

Hier im Asyl freilich ist Gwenda trotz der verletzten Schulter nur Hausfrau und steht mir freundschaftlich am nächsten.

Käme Nr. 3, – Käpten John Levkusen, der „Onkel“ der Geschwister, offenbar nur Patenonkel oder Ähnliches, – der Patentschwindler mit dem Doppelzentnersack von Seemannslügen auf dem Buckel, daher die wild geschweiften Beine, daher das bartumwallte Froschmaul, daher die kleinen, in Spiritus schwimmenden Froschäuglein, daher vielleicht auch der Verlust einiger Zähne, die ihm schwer gereizte Zuhörer seiner Seeschlangenmärchen ausgeschlagen haben mögen …

Als Mensch, als Ganzes genommen?!

… Ich sagte schon: Biederste Haut, aber … auch mit ihm ist nicht gut Kirschen essen …!!

Das Messer sitzt ihm verdammt locker …

Das weiß ich am besten.

Von Schußwaffen hält er weniger … Er schleppt da stets als Andenken an irgend ein siamesisches Hafennest ein wundervolles Messer mit verzierter Lederscheide mit sich herum … Jede Hausfrau wäre stolz darauf. Nur daß Onkel John wenig Neigung zeigt, mit seinem feinen, gehämmerten Kneif Brot oder Fleisch zu zerschneiden, es sei denn lebendes Fleisch von ihm persönlich sehr unangenehmen Gesellen …

Das ja … lebendes Fleisch …! Und besonders Miß Robinson würde ich dringendst empfehlen, diesem schönen Messer aus dem Wege zu gehen. Womit ich Onkel Johns Charakteristik schließen kann.

Bliebe nur noch die Frage nach der Nationalität des Trios übrig: Bestimmt Deutsche – bestimmt, obwohl sie auch davon nicht sprechen … Nur deutsch sprechen sie unter sich und mit mir, beherrschen nebenher auch das Englische und Französische … Und auch das sei erwähnt: Die Unterhaltung zwischen uns darf nie die Miß Robinson und deren Wikinger berühren, nie die drei Grabkreuze der Namenlosen! Das Thema ist verboten. Als ich einmal darauf anspielte, daß die Miß Robinson doch zweifellos irgendwo ein ebenso tadelloses Versteck hätte wie wir hier oben, sagte Onkel John mit frischester Grobheit: „Abelsen, – einen guten Rat gebe ich Ihnen! Verbrennen Sie sich nicht das Maul!! Die Person mag weiter Miß Robinson heißen! Nun Schluß damit!“

Und dann schlug er mit der knochigen Faust auf den Tisch, und zwei schöne Teegläser, die allerdings Grog enthielten, gingen zum Teufel!

Mithin – wie sagt ein schnittiger Reporter da?! – mithin – – nun, er sagt kurz und bündig: Ich tappe hier völlig im Dunkeln, die Hände sind mir gebunden, die Zunge ebenso, – – ich muß Geduld haben, vielleicht erfahre ich später mehr. –

So …

Das wäre erledigt. Und nun muß ich auch meine Schreiberei zusammenpacken, denn um Mitternacht habe ich Freund Kituri als Wache abzulösen.

Es ist so weit.

Ich nehme die Büchse, schnalle den Pistolengurt um und streichele Monte den Kopf, der wieder bei seinen Wölflein liegt und wohl am liebsten mitkommen möchte. Er erhebt sich halb, ich drücke ihn wieder auf sein Lager zurück, ich brauche ihn draußen nicht, dieses Asyl hier ist eine Festung, wie sie kunstvoller kaum angelegt werden könnte.

Leise durchschreite ich den läuferbelegten Flur, um die anderen nicht zu wecken, schiebe die Riegel der Balkentür zurück und trete ins Freie.

Es ist Mitternacht – und es ist Tag!

Gewiß, der Glanz der Sonne ist matt, ohne Kraft, die Temperatur mag sechs Grad Wärme betragen, und doch spürt man den warmen Nordwind, man „riecht“ den Indischen Ozean, von dem her die kräftige Brise über die große Insel weht.

Ich bleibe stehen, genieße wieder das Bild der eigenartig geformten Terrasse wie so oft schon …

Der Terrassenrand wölbt sich überall schüsselartig empor, am Rande liegen Steine umher, sogar einzelne Felsblöcke, – drüben jenseits des Tales, wohl fünfhundert Meter entfernt, zieht sich die Parallelkette der Berge hin, von weißen Streifen belebt, die in dauernder Unruhe sind: Schäumende Gießbäche und Rinnsale!!

Im Ostwinkel ist unser Haustier untergebracht, die milchspendende Ziege. Dort tritt auch eine Quelle zu Tage, fast eine Fontäne mit rundem Becken, mit stark kalkhaltigem Wasser, wie man an den weißen Niederschlägen am Bassinrande sieht.

Die Ziege meckert leise, – wir sind gute Freunde, auch einen Namen hat die Geis erhalten, Gwenda taufte sie „Kerguela“, – nun, Kerguelenland hatte gegen Kerguela nichts einzuwenden. Es gibt hier nur diese Ziege, es gibt ja wohl überhaupt kaum eine Insel, die so arm an Säugetieren ist wie dieser äußerste südliche Zipfel der Welt.

Freund Kituri – das kenne ich schon – sitzt im Sonnenschein am Terrassenrand gerade dort, wo dieser überdachte Felsbalkon den scharfen Knick nach Norden macht in die enge Schlucht hinein.

Sitzt und raucht, hat eine Wolldecke um die schmalen, kräftigen Schultern und döst vor sich hin. – Auch dies haben all diese Asiaten gemeinsam: Sie können sich in einen Zustand gedankenloser Ruhe versehen, sie schalten alles aus, alles, sie schlafen im Wachen und sie träumen nicht einmal.

Gewiß, – dieses Ausschalten jeglicher Eindrücke mag ihnen geistige Entspannung und Auffrischung bringen. Trotzdem bleiben sie Instinktgeschöpfe, jedes Geräusch, das ungewöhnlich, schreckt sie auf, jede Veränderung im Landschaftsbilde bringt die gleiche Wirkung hervor.

Kituris gesenkter Kopf schnellt trotz meiner leisen Schritte herum …

Leise Schritte in neuen Stiefeln aus den Vorräten Hektor Belards …

„He – schon Zeit sein, Tuwan?! Du noch warten, Kituri nicht schlafen, Kituri horchen, vorhin rieselte Sand über Terrassenrand … Mir das nicht gefallen, Tuwan …“

Er deutete dorthin, wo tatsächlich ein Häuflein gelben Sandes auf der Felsterrasse liegt … –

Mir gefällt das erst recht nicht.

Ich blicke nach oben. Die Felsmütze der Terrasse reicht etwa bis zum Rande, nur zwei Meter sind ohne dieses Felsendach, das sich, unsichtbar für uns, nach oben zu einem Höhenkamm auftürmt. Zwischen Terrasse und Dach liegen durchschnittlich sechs Meter Zwischenraum, an manchen Stellen liegt das Dach tiefer, da die Oberfläche, besser die uns zugekehrte Unterseite, sehr unregelmäßig ist.

Nein, – dieses Sandhäuflein muß Verdacht erregen! Gewiß, die einzigen Landsäugetiere von Kerguelenland, eingeschleppte Mäuse und Ratten, könnten vielleicht für dieses Sandrinnsal verantwortlich gemacht werden. Aber ich weiß nur zu gut, daß diese Nager lediglich in den Niederungen und in den oft endlosen Gestrüppen von Kerguelenkohl hausen, niemals auf nackten Felshügeln.

Ein Vogel, der da über uns etwa eine sandige Stelle mit den Krallen aufgewühlt haben könnte, kommt auch nicht in Frage. Kerguelenland kennt nur einen Binnenvogel, eine Entenart, und in ganz wenigen Exemplaren den sogenannten Scheidenschnabel, – beide Arten bevorzugen die Fluß- und Seeufer.

Kituri liest mir wohl die Gedanken von der Stirn ab, erhebt sich und tritt zu mir.

Da erst sehe ich, daß er seine Donnerbüchse gespannt hat, daß er also mit einem Angriff rechnet …

„He – – ein Mensch dort oben, Tuwan …“, sagt er gedämpft. „Ich das gleich denken, Tuwan. Ich nur so tun, als ob auf nichts aufpassen … – He, – wir Mensch da oben fangen, – wie du denken? Sein doch Feind, bestimmt Feind von Horde von Miß Robinson … Sein große Gefahr für uns, sein entdeckt Terrasse hier, müssen Mann festnehmen, Tuwan …“

Der schlanke, sehnige Kituri in seiner Wolldecke, dem offenen Lederrock und Hemd und dem breit vorgewölbten Brustkasten gleicht auffallend einem jener Phantasieindianer, wie unsere überhitzte Knabenphantasie sie uns ausmalte.

Wir beide stehen etwa ein Meter vom Dachrande entfernt, vor uns liegt das verräterische Häuflein Sand, unsere Augen sind aufwärts gerichtet, wo das zackige Randgestein der Felsmütze scharf gegen den blaßblauen Himmel abschneidet.

Kituri hat kaum das letzte Wort ausgesprochen, als von oben her abermals Sand herabrieselt, dem plötzlich eine Ratte folgt, die mit dumpfem Schlag vor uns niederfällt, vor Schmerz laut aufquiekt und mit gebrochenem Rückgrat hilflose Kriechbewegungen macht.

Der Malaie schlägt mit dem Büchsenkolben zu und wirft sie dann in das Tal hinab.

„He – doch nur Ratte, Tuwan!“, sagt er achselzuckend. „Wühlratte, Tuwan, – – ich gehen schlafen …“

Für ihn ist die Geschichte erledigt, er nickt mir zu, hüllt sich malerisch in seine Decke und schreitet dem Hause zu, die Tür wird leise geschlossen, und ich bin mit meinen Gedanken allein.

Guter Kituri, du ahnst nicht, daß ich diesen Zwischenfall doch ganz anders bewerte wie du! Die Ratte war schon schwerverletzt, als sie herabfiel, und sie fiel nicht durch eigenes Ungeschick über den Dachrand hinweg, sie sollte fallen, sollte uns täuschen, – – sie fiel auf die Füße und hätte sich niemals das Rückgrat auf diese Weise brechen können.

Gewiß, – dort oben lauert ein Feind, sogar ein sehr gerissener Gegner, der, da die Felswand nach oben sehr steil ansteigt, sich zweifellos in dem mürben Gestein mit äußerster Vorsicht Stufen hergestellt hat, wobei er nur das Pech hatte, auf eine sandige Stelle zu stoßen und das verräterische Sandgeriesel hervorzurufen. Er suchte diesen Fehler auszugleichen, – wo er so schnell die arme Ratte herbekam, ist seine Sache …

Meine Sache ist es, dem Burschen dort oben den Rückweg abzuschneiden. Kituris Behauptung, uns drohe Gefahr, stimmt schon. Mag ich mich hier im Asyl auch halb als Gefangener fühlen, mag auch, wenn Kituri und ich die Wache haben, der Förderkorb absichtlich samt seinem Antrieb in der Felskluft dort drüben unbenutzbar sein, – letzten Endes sind wir hier Gäste, denen es an nichts fehlt …

Und zu alledem kommt bei mir noch ein weiterer Umstand, der mich scharf überlegen läßt, wie ich den Feind dort droben abfassen könnte: Mir liegt etwas daran, auch einmal mit einem der Leute der Miß Robinson ein vertraulicheres Wort zu wechseln und vielleicht dadurch diese dunklen Fragen zu klären.

Vorläufig verhalte ich mich ganz still. Ich überlege, will nichts übereilen, will meinen Plan so entwerfen, daß er einen Mißerfolg ausschließt.

Die Wege vom Abseits, und mögen sie vorläufig hier auf dieser hohen Talterrasse ihren Abschluß gefunden haben, – diese Wege erfordern allzeit genauestes Überprüfen der Verhältnisse und Begleitumstände, sobald sie eben in ein Gebiet der Gefahr münden.

Und deshalb beginne ich auf und ab zu schreiten, deshalb mache ich dabei mehr Lärm als nötig, denn der Mann dort oben würde ja mißtrauisch werden, wenn er nichts mehr von einer Wache bemerkte oder hörte.

Und er horcht, – er horcht angespannt, er muß sogar dicht am Rande des Terrassendaches hocken und wagt sich nicht zu rühren. Jedes herabkollernde Steinchen könnte seinen Trick mit der Ratte wieder nutzlos machen.

Nun ist mein Plan fertig … Es ist der einzige, der Erfolg verspricht.

Und ich wende mich dem Winkel zu, wo die Ziege ihr Heim hat und wo allerhand Schiffsreste aufgestapelt liegen, auch lange Bootshaken …

Mit diesen Bootshaken habe ich schon längst geliebäugelt.

Wenn Hektor Belard glaubt, mich hier gegen meinen Willen festhalten zu können, irrt er sich.

Ich könnte längst mit Kituri, Monte und den Wolfssprößlingen auf und davon sein … längst.

Ich kenne längst den einen Bootshaken mit fester Stange von sechs Meter Länge, längst auch die Stelle vor unseren Fenstern dort hinter dem Terrassenknick, wo der Eisenhaken sich in das Gestein einbeißen könnte.

Heute nacht werden aus unbestimmten Fluchtgedanken ganz bestimmte andere Vorsätze, heute gilt es dem Gegner, und wenn ich nicht ausgesprochenes Pech habe, muß ich meinen Zweck erreichen.

Meine Schritte werden leiser.

Mag der Mann droben denken, ich hätte mich niedergesetzt.

Ich schleiche um die Biegung der Terrasse, – hier wird der Felsbalkon schmäler, hier biegt auch das steinverkleidete Haus rechtwinklig ab.

Drüben starren die dunklen Felsmassen dieser Seitenschlucht, – mit Anlauf könnte man hinüberspringen in eins der Löcher, die in dem kahlen Basalt überall gähnen.

Auch hier zieht sich die Felsmütze entlang, auch hier ist die Terrasse überdacht, auch hier soll dieses Dach steil sich emportürmen – soll, – ich habe es von oben noch nicht gesehen.

Jetzt werde ich es sehen

Der Bootshaken wird gehoben, die Eisenkralle findet über mir im Gestein sicheren Halt, ich hänge die Büchse um, recke die Arme hoch, umklammere die Stange, will den ersten Klimmzug wagen …

Will …

„Abelsen, – das ist nicht schön von Ihnen”, sagt hinter mir Gwenda mit leichter Drohung.

Die Arme sinken, ich drehe mich um, und Gwenda Belard hält mir mit dem gesunden Arm eine Pistole entgegen.

Gwenda …

Jungmädelgesicht … Etwas bleich durch die Verwundung und durch das leichte Wundfieber …

Gwendas graublaue Augen fixieren mich starr …

„Wo wollen Sie hin, Abelsen?! Sie wissen, bevor nicht der Nebel wieder erscheint, sind wir an unser Asyl gefesselt. Die Leute der Miß Robinson suchen nach uns … – Wo wollten Sie hin …?!“

Gastfreundschaft …

Gastfreundschaft?! – Und das Mädel droht mir …!

Ein so blutjunges Ding verkennt hier die Sachlage so vollkommen, daß es die Waffe gegen mich erhebt?!

Im Grunde ist die Situation ja mehr lächerlich als irgendwie ernsthaft. Nur eins mißfällt mir gründlich: Daß ich, ausgerechnet ich, hier nun in eine Pistolenmündung schaue, die zweifellos rechtzeitig Kugeln spucken wird …

Dann nämlich, wenn ich mich nicht dazu herbeilasse, mein Tun zu erklären.

Und das widerstrebt mir.

Solch ein blutjunges Ding – – und ich, dem die Sonne aller Erdteile den Nacken bräunte?!

Aber der Gesichtsausdruck Gwendas warnt mich, auch eine gewisse lebensprühende Erinnerung warnt mich ebenso: Wie dieses Mädel mit vier Schüssen vier blonde Hünen anschweißte!

„… Wir haben einen Spion über uns, Gwenda“, sage ich leise. „Ich will ihn abfangen …“

Plötzlich lächelt sie … Plötzlich ist das Harte, Energische aus ihrem Antlitz weggewischt …

Urplötzlich …

„Ach so, – – Spion …!! Wohl der Sand, die Ratte …! – Freund Abelsen, damit Sie es wissen: Ich war dort droben, – das ist es. Geben Sie sich keine Mühe, mich zu greifen, Sie haben es hier bequemer …“

Und lächelnd winkt sie, ich solle den Bootshaken nur an seinen Platz zurücktragen.

Ihre Augen aber weichen mir aus …

Sie lügt.

Lüge ist ihr Lächeln, ihr halber, mißglückter Ablenkungsversuch …

Alles Lüge …

Und weshalb?!

Treibt sie ein falsches Spiel sogar mit Bruder und Käpten John?!

„Gwenda!!“

Schließlich bin ich doch nicht irgend jemand …

Von diesem Mädel mich narren lassen?!

Niemals!!

„Gwenda, – – Sie sprachen soeben die Unwahrheit, und …“

In ihren Augen flammt es auf. Das sind nicht mehr die harmlosen frohen Augen eines blutjungen Geschöpfes, das vielleicht nur Weib ist, mit all den kleinen Unzulänglichkeiten, die dem unvermännlichten Frauentyp anhaften müssen, weil sie mit zu dem unbewußten Reiz der Frau gehören, das sind die glühenden Lichter einer schönen Katze, die bereits die Krallen hervorstreckt, um das ahnungslose Mäuslein in die Fänge zu bekommen.

Und mehr noch als dies: Die Lippen, frisch und sanft in ihrer Röte wie köstliche Pfirsichhaut, werden zum schmalen Strich, biegen sich an den Winkeln abwärts zu dem kampflustig vorgeschobenen Kinn, – – und ich schweige jäh.

Nicht weil Gwenda Belard, Schwester des zweifellos entsprungenen Sträflings, in ihrem ganzen Wesen, in Haltung und Miene diesen bedrohlichen Wandel zeigt …

Nein, – weil hinter diesem Mädchen sich lautlos das eine Fenster geöffnet hat, weil Kituri mit erstaunlicher Gelenkigkeit und Geräuschlosigkeit aus diesem Fenster gestiegen ist, in der Linken nur zwei Wolldecken – nichts weiter … Und weil er mir flüchtig zunickt, die Decken nun mit beiden Armen hebt, fallen läßt, und weil ich nur auf diesen Augenblick gewartet habe …

Weil ich zupacke, – so zupacke, daß das eingehüllte, verblüffte, blinde Mädel nicht etwa doch einen Schuß abzufeuern vermag …

Auch Kituri packt zu, – und bevor Gwenda Belard noch recht weiß, was geschieht, ist sie ein hilfloses Bündel, ist sie bereits in unserem Zimmer, wird in die dunkle Nebenkammer geschoben, und der Malaie bleibt als Wächter bei ihr.

Zum ersten Male seit Tagen haben wir die Möglichkeit, in aller Heimlichkeit diese Gastfreundschaft zu kündigen und uns die Freiheit zurückzuschaffen, die wir notwendig brauchen, wenn wir wie vordem als harmlose Naturfreunde diese Bergwildnis durchstreifen wollen.

Und das will ich …

In diesen letzten Minuten habe ich mich ohne viel Abwägen über das Für und Wider zu diesem Entschluß aufgeschwungen … Was gehen mich die Fehden dieser beiden Parteien an, von denen ich nur die Partei Belard bisher kenne. Soll ich mich etwa, ohne beide Teile gehört zu haben, zu Hektor Belard bekennen?! Sind die Ursachen der Zwistigkeiten dieser hier nach Kerguelenland verwehten Fremden samt dem Beiwerk der drei Grabkreuze, der Wassergrotte und all den sonstigen, undurchsichtigen Nebenerscheinungen wirklich das Aufgeben unseres eigenen Ungebundenseins wert?!

Niemals!

Mein Herz schlägt für das große Abseits, weil ich darunter die unberührte Natur und ihre Wunder verstehe, weil ich die Menschen immer nur als Störenfriede empfunden habe, die mir ungewollt mit ihren Trieben und ihrem Treiben diese Natur verfälschten.

Schluß damit!

Kerguelenland ist Niemandsland …! – Was bedeutet es, daß es dem Namen nach Frankreich gehört?! Wo liegt la belle France und wo diese Insel, die die Schauer der steinernen Einsamkeit in sich birgt!

Schluß damit …!

Sogar der Mann dort oben auf dem Dach der Terrasse, den Gwenda mir nach den letzten Erfahrungen vorenthalten möchte, ist mir weit gleichgültiger geworden, bedeutet für mich nur noch ein Hindernis, nichts weiter.

Hindernisse räumt man weg, – so oder so …

Und der Gedanke begleitet mich, als ich die Stange des Bootshakens nun abermals packe und mich in Klimmzügen emporziehe und schließlich den Kopf über den Rand der Felsenmütze strecke …

Sehr behutsam, – was unnötig ist, denn Hektor Belard hat nicht zu viel gesagt, als er mir gelegentlich erklärte, das „Dach“ sei eine sehr steile, sehr zerklüftete, unübersichtliche Steinwildnis für sich …

Ich turne vollends empor. Es ist gar nicht so schwer, hier festen Fuß zu fassen und sich nach rechts hinüberzuarbeiten, – dorthin, wo die Ratte herabkollerte.

Die Spalten und Risse sind tief, man kann sich hineinschmiegen wie in Ackerfurchen, und mit einem Male habe ich den Mann vor mir, der all diese letzten Ereignisse heraufbeschwor. Unwillkürlich halte ich den Atem an …!

Die Überraschung ist zu groß …!

Ich redete hier immer von drei Parteien, oder auch nur zwei …

Es sind vier Parteien …

Der Greis dort gehört niemals zu Miß Robinsons Truppe – niemals! Das beweist schon seine ganze äußere klägliche Erscheinung, das beweisen seine sogenannten Waffen und das niederdrückende Bild seiner Gesamterscheinung.

Wenn ich das Mädchen mit dem goldbraunen Haar, das die Gräber so pietätvoll pflegt, Miß Robinson genannt habe: Auf diesen bärtigen, runzligen alten Mann paßte die Bezeichnung „Einsiedler auf unbewohnter Insel“ weit besser!

 

6. Kapitel.

Der greise Bogenschütze.

Die Überraschung ist zu groß …

Ich liege in der Felsspalte, habe den Mann im Profil vor mir …

Der Greis mit dem schlohweißen Barte, mit der scharfen Hakennase und dem primitiven Speer zwischen den Knien, den seine mageren Hände umspannt halten, sitzt auf einem Steine genau dort, wo der Sand herabgerieselt ist. Man sieht noch die sandige Stelle zu seinen Füßen, die wie seine ganze Gestalt in Robbenfellen stecken, die höchst primitiv zusammengenäht sind, wahrscheinlich mit Tiersehnen … Außerdem sind die Kleidungsstücke plump, beschabt, brüchig, – sogar die Mütze aus Robbenfell, unter der eine Fülle weißer Locken hervordringt, ist nichts als ein armseliger Lederbeutel ohne jede Form.

Der alte Mann sitzt gebückt, den Kopf vorgeneigt – – wie lauschend – – worauf?! Etwa auf ein Zeichen Gwendas?!

Für mich steht es fest: Er wartet auf Gwenda, und das Mädchen unterhält heimlich Verbindung mit ihm.

Wohl seit langem. – Dies bleibt vorläufig Vermutung von mir.

Der alte Mann horcht und wartet. Vielleicht sollte der herabrieselnde Sand, den er mit dem Ende des Lanzenschaftes lockerte, ein Signal für seine junge Verbündete sein – zu einer heimlichen Zusammenkunft. Alles spricht hierfür, alles, Gwenda muß Kituri und mich beobachtet haben, als wir dem „Manne auf dem Dache“ auf die Spur kamen, ihr plötzliches Erscheinen auf der Terrasse war kein Zufall, das bewies ihr ganzes Auftreten.

Was tue ich nun mit diesem greisen Robinson, der mit seinem weißen Bart, mit seiner dunkelgetönten Gesichtsfarbe und mit seiner Insulanerkluft und den primitiven Waffen (über dem Rücken trägt er einen Bogen und einen Lederköcher mit sechs Pfeilen mit Eisenspitzen) fast wie ein Museumsstück ausschaut?!

Jedenfalls merke ich dem Manne an, daß er sehr trüben Gedanken nachhängt.

Sonst wäre er vorsichtiger.

Mag er die Siebzig längst hinter sich haben – und das dürfte zutreffen –, seine Sinne sind sicherlich scharf und geübt. sein hagerer Leib noch immer kräftig, sein Auge klar und voll gedämpften Feuers vielseitiger Lebenserfahrungen.

Was tue ich mit ihm?

Seine Person wirft im Grunde all meine schönen Freiheitsentschlüsse um.

Es wäre herrlich gewesen, diesen ganzen unklaren Knäuel von Fragen, den die beiden streitenden Parteien samt dem Beiwerk bilden, einfach ins Feuer zu werfen und das Hirn von diesem Ballast zu befreien und wieder das prächtige Karawanendasein aufzunehmen, das Kituri, Monte, ich und unsere Haustiere die letzten Tage so uneingeschränkt, so freudig genossen haben.

Doch diese siebzig Jahre Schicksal dort, verkörpert in einem Manne, der hier auf Kerguelenland einsam, verborgen, weltflüchtig vegetiert und daher mir seelisch nahesteht, da auch ich das zunächst bitterharte Los des Geächteten erfahren habe, – diese halbe Mumie und Ruine, dieses trübe sinnende Menschenwrack verlangt Rücksichtnahme und Zurückstellung der eigenen Wünsche.

Ich will die Zeit nicht vertrödeln, ich kann nicht abschätzen, was bei einer Unterredung zwischen dem Fremden und mir herauskommen wird und wie lange sie dauern könnte.

Da regt der Alte sich plötzlich.

Er legt die Lanze mit bedächtiger Bewegung bei Seite und schiebt Bogen und Köcher bequemer, um sich an dem Fels in seinem Rücken anlehnen zu können.

Wenigstens scheint es so …

Sein Platz auf dem Stein mit der nach hinten ansteigenden Naturlehne genügt ihm wohl nicht, er sitzt unbequem, – so scheint es – und er nimmt ebenso bedächtig seinen Bogen und Köcher und legt sie in den Schoß, spielt geistesabwesend mit der starken Bogensehne, spannt den Bogen wie im Spiel, und ich sehe, daß dieser Bogen aus vier mit Sehnen fest verbundenen Treibholzstücken gefertigt ist, – ein primitives, aber vielleicht wirksames Kunstwerk.

Der alte Mann schaut niemals zur Seite, immer nur geradeaus oder auf seine Waffe.

Alter Mann, – wenn hier in meiner Felsspalte ein Beobachter läge, der bisher lediglich den Schreibsessel als olympischen Sitz hoher Weisheiten gedrückt hätte, wäre dir dein kluges Spiel vielleicht gelungen.

So aber?!

Hier belauert dich einer, der auch einst eine ähnliche Tracht wie Hektor Belard trug, der auch einst unter Einsatz des eigenen Lebens die Freiheit erobert und seitdem nur das Abseits als Heimat hat …

Und die Leute abseits vom Alltag, alter Mann, fallen auf derartige Dinge nicht herein!

Da magst du nun auch urplötzlich – und die Gelenkigkeit und Fixigkeit erkenne ich an! – hinter deinem bisherigen Sitz untertauchen und ebenso geschwind einen Pfeil abschießen, der famos gezielt war.

Zugegeben: Das Ding hätte meinen rechten Oberarm durchbohrt, – so war der Schuß berechnet gewesen.

Doch, alter Mann, dein Gegner hier hat einen ganzen dicken Packen Erfahrungen gesammelt, – dein Schuß geht fehl, – im übrigen bist du gar nicht mein Gegner, – was weiß ich von dir – – nichts!

Du hast ja nur geschossen, weil du noch immer auf das Erscheinen deiner Verbündeten Gwenda hoffst – – das ist es!!

Und weil du mich – Wildnismanieren! – ausschalten möchtest.

Du bist mir als Mensch ja weit interessanter als all die übrigen Leutchen, die hier die Insel der Riesenkohlstrünke und der Riesensee-Elefanten unsicher machen.

„Hallo – – lassen Sie doch die Scherze, alter Freund …!!“

Der halblaute Zuruf aus sicherer Deckung klärt die Sachlage nur wenig.

Er späht durch das Geröll, – ich spähe durch die Steine, – er hat einen zweiten Pfeil bereit, – meine Büchse droht weit ernster.

Nur das eine bringt ihn in Vorteil: Seine Waffe ist lautlos, meine Waffe würde Hektor Belard und den säbelbeinigen Käpten John sofort wecken, und das liegt nicht in meiner Absicht.

Er antwortet nicht.

Ich muß die Taktik ändern.

Wir müssen irgendwie zu einer Verständigung gelangen – irgendwie …

„Hallo, ich bin nicht Ihr Feind … Ich möchte neutral bleiben … Mich gehen diese Geschichten gar nichts an … Ich will meine volle Bewegungsfreiheit zurückgewinnen. Wer Sie auch sein mögen, von mir haben Sie nichts zu fürchten … Ich denke, wir bringen uns gegenseitig etwas Vertrauen entgegen und sprechen uns erst einmal gründlich miteinander aus …“

Und nach diesen Worten, die schließlich Eindruck machen müssen, erhebe ich mich und winke ihm freundschaftlich zu.

Das wirkt.

Er tut ein Gleiches, – ich klettere näher, und nun stehen wir einander auf drei Schritt gegenüber.

Ich sehe sein zerfurchtes altes Leidensgesicht, in dem doch noch die Zeichen der kampffreudigen Jugendfrische klar hervortreten, und meine erste Empfindung ist Mitleid …

„Abelsen?“, fragt er kurz.

„Ja …“

Er kennt also meinen Namen.

Natürlich durch Gwenda.

Seine klaren, klugen, etwas durchdringenden Augen prüfen mich mit dem Recht der überreifen Jahre gegenüber der Reife eines erfahrenen Mannestums.

Sein Blick entblößt mein Inneres, und dieses Abschätzen und Abwägen und Zögern spricht nur für den Greis.

Das ist keiner von denen, die eilfertig ein Urteil sich bilden und sich durch Äußerlichkeiten täuschen lassen.

Wir stehen hier im bleichen Schein der Mitternachtssonne auf zerklüfteten Felsen, unter denen das Asyl Hektor Belards erbaut wurde. Wir vergessen diese Umgebung, denn wir beide haben Wichtigeres vor: Uns gegenseitig zu prüfen!

Und das ist eine andere Art Prüfung wie etwa die, die so zwischen Zivilisierten üblich.

Hier wird mit anderen Maßen gemessen.

Hier heißt es: Bist du ein ganzer Kerl, dem ich Vertrauen schenken kann, oder bist du es nicht?!

Nun – ich überschätze mich nicht …

Und er schätzt mich richtig ein.

Viele Worte macht er nicht.

„Abelsen, – Bewegungsfreiheit? – Wie meinen Sie das?“

Ich erklärte es ihm ebenso knapp.

Er nickt ernst. „Ich verstehe Sie, Abelsen … – Gut, holen Sie den Malaien, den Hund und was Sie sonst noch mitnehmen wollen. Es ist ein weiter Weg zu meinem stillen Reiche … Sie sind mir willkommen. Gemeinsam können wir beraten. Vielleicht bleiben Sie dann nicht neutral. Es geht hier um sehr ernste Dinge, um Menschengeschicke, und – gibt es ein Höheres, als in die Irre gegangene Seelen zurückzuführen auf den rechten Pfad? – Beeilen Sie sich … Sagen Sie Gwenda, daß ich Sie als meinen Verbündeten betrachte, sagen Sie ihr zum Beweise, daß dies Tatsache, nur ein Wort, und sie wird Ihnen glauben. Das Wort lautet: Kalla Mori! – – Und nun zögern Sie nicht … Also: Kalla Mori!! – Grüßen Sie Gwenda … Sie wird sich freuen … – – Gehen Sie, mein Freund … Ich warte …“

Einen Augenblick empfand ich ein ungewisses Mißtrauen.

Wenn der Greis etwa in der Zwischenzeit die Flucht ergriffe?! – – Doch nein, die Augen trügen nicht.

Als ob der Alte meine Gedanken erriete – er mag genügend Menschenkenner sein! –, streckt er mir die knochige, faltige, braune Hand hin …

Das ist ein Händedruck, der alles besagt, bei dem jedes Wort sich erübrigt.

„Ich komme …!“, – hiermit verabschiede ich mich vorläufig …

Klettere über Felsen und Klüfte des steinernen Daches zu der Stelle, wo die Eisennase des Bootshakens am Rande der gewaltigen Felsmütze winkt, gleite hinab in die Tiefe und stehe gleich darauf Gwenda Belard gegenüber, deren Gesichtsausdruck mehr forschende Ängstlichkeit als Unwillen über ihre Gefangenschaft verrät.

Ich habe keine Zeit, ich lasse sie nicht lange im Zweifel über meinen Friedensschluß mit ihrem alten Freunde, dem greisen Robinson.

Als ich zur Bestätigung das Wort Kalla Mori erwähne, fährt ihr Kopf empor …

„Oh – Jörn hat Ihnen auch das mitgeteilt?!“

Also Jörn, – immerhin etwas.

„Nein, – nur Kalla Mori als Erkennungswort sozusagen“, – ich will nicht lügen, ich könnte Gwenda aushorchen, es widerstrebt mir … Es genügt mir, daß das Mädel nun eifrig mithilft … Und wie eifrig!

Ich klettere wieder an dem Bootshaken empor, nehme ein Tau mit, befestige es oben, – Montes Nachwuchs wird emporgehißt, dann Monte selbst, auch die Ziege muß mit, und all das geschieht im Galopptempo, all das muß erledigt sein, bevor uns etwa Hektor oder Käpten John in die Quere kommen …! –

Nun, – droben steht auch ein Helfer, und der alte sehnige Weißbart ist wertvoll, hat trotz der Last der Jahre Muskeln und Sehnen aus Stahl und verfügt über eine Beweglichkeit, die beneidenswert erscheint …

Kituri?!

Kunststück, – Kituri macht das Unmögliche möglich …

Kituri verdreifacht sich, Kituri überläßt sogar seine Böller von Vorderlader dem Alten …

Und Gwenda treibt unmerklich zur Eile an …

Was sie fürchtet, weiß ich sehr wohl: Die unerwartete Einmischung der beiden Schläfer!

Hoffentlich schlafen sie …

Nun ist es so weit, nun komme ich als letzter empor …

„Leben Sie wohl, Abelsen …“, flüstert Gwenda hastig … „Sorgen Sie für Jörn, sorgen Sie für die Säuberung der Frage Kalla Mori …“

Seltsame Ausdrucksweise …!

Die Mädchenhand schmiegt sich in die meine, dann packe ich die Stange, will den ersten Klimmzug tun …

Will …

Mit diesem Klimmzug sollte ein neuer Abschnitt der Geschichte des Grabes der Namenlosen eingeleitet werden …

Sollte …

Die Karawanenreise nach dem Reich des greisen Jörn … – „Reich“ – „sein Reich!”, – wie großartig das klingt …

Habe keine Ahnung bisher, wo dieses Reich liegen, wie es aussehen mag …

Gwenda, am offenen Fenster lehnend, winkt mir zu …

Winkt so jäh, so eigentümlich verängstigt, daß ich unwillkürlich horche …

Eine Tür knarrt …

Das kann nur die Tür an der Südseite des „Asyls“ sein – die schwere, steinplattierte Balkentür …

Das kann nur Hektar oder John sein, – wer es ist, bleibt gleichgültig. Die Gefahr ist dieselbe. Schon eine verfrühte Entdeckung unserer Flucht kann die bösesten Folgen haben, deren Umfang Gwenda offenbar weit besser übersieht als ich, denn ihr frisches Gesicht hat plötzlich alle Farbe verloren, und ihre Züge zeigen eine Bestürzung, die an Verzweiflung grenzt.

Mich selbst bringt weniger das Knarren der Tür und die drohende Entdeckung unseres beschleunigten Abzuges als diese klare, eindeutige, hilflose Verstörtheit des Mädchens für Sekunden in Verwirrung.

Für Sekunden …

Und es handelt sich hier nur um Sekunden.

Ich selbst kann die Situation nicht retten, das weiß ich …

Sekunden nur, – dann treibt ein herrischer Wink die Schwester des Sträflings Hektor Belard um die Ecke der Terrasse.

In solchen Augenblicken vergißt man die Höflichkeit …

Vielleicht begreift Gwenda gerade deshalb meine Wünsche so schnell, weil diese schroffe Handbewegung gleichsam auch die Gefahr unterstreicht.

Das Blut flutet in ihre Wangen zurück, und mit schnellen Schritten entfernt sie sich, biegt um die Ecke der Terrasse und entschwindet meinen Blicken …

Ich horche angespannt, ich höre, wie Gwenda harmlos lacht, wie sie irgend jemandem antwortet, wie sie eilfertig ein Gespräch in scherzhafter Form fortsetzt, nur um den, der mich entdecken könnte, drüben festzuhalten und außer Sichtweite zu bannen.

Ich bewundere das Mädel.

Und ich sage mir gleichzeitig, daß ihr doch unendlich viel daran liegen muß, den greisen Robinson vor Käpten Levkusens scharfen Augen zu schüren, – denn John Levkusen ist ihr Partner bei dieser Komödie, die nur von ihr mit echt weiblicher Schlauheit geleitet wird.

Ich warte nicht länger.

Im Nu bin ich oben auf dem Steindach, ziehe den Bootshaken und das Tau ein und folge den beiden anderen, die zum Glück mit dem Anstieg nicht gezögert haben.

Kituri schleppt ein schweres Bündel, der alte Robinson schleppt das Wolfsfell mit den drei Wolfsjungen, auch für mich liegt noch eine Last bereit, ich schultere sie, und eilends geht es aufwärts zum Höhenkamm, mindestens noch zweihundert Meter steiler Anstieg, – – ich bin völlig außer Atem, als ich droben anlange und nun erst das Bergpanorama im Mitternachtssonnenschein voll überschauen kann.

Jörn, der Greis, scheint hier in dieser Bergwildnis jeden Schritt zu kennen, wendet sich nach Osten, wo eine Felskluft in treppenartigen Terrassen in die Tiefe führt. Ich springe von Stufe zu Stufe, – die anderen sind weit voraus, – ein flüchtiger Blick nach dem Hutrand des Terrassenfelsens hat mir gezeigt, daß von dorther keine Gefahr droht, Gwenda hat ihre freiwillige Pflicht trefflich erfüllt, der säbelbeinige Käpten ist arglos geblieben, mag annehmen, daß das Mädchen mich als Wache abgelöst hat.

Und trotzdem sind diese letzten Minuten nicht nur durch die Angst vor dem Entdecktwerden und nicht nur durch die körperliche Anstrengung des Ansteigens für mich zu einer unerhörten Anspannung der Nerven geworden.

Was hier am allermeisten ins Gewicht fällt, ist die ungelöste Frage, weshalb Gwenda ihrerseits so starke Verzweiflung zeigte, als die Gefahr so nahe lag, Levkusen könnte mich zurückhalten und den greisen Robinson zu Gesicht bekommen.

Das ist’s, – darum geht es hier: Wer ist dieser Alte, der mit Gwenda heimlich sich trifft und den weder Hektar Belard noch John sehen sollen?

… Wer also? – – Das sind müßige Gedanken, das sind zwecklose Grübeleien …

Zumal mein Monte neben mir dahintrottet und wir nun im Geschwindmarsch unten in eine Schlucht einbiegen, in der wir zu unserer Überraschung auch die übrigen Haustiere unserer kleinen Karawane wiederfinden: Pferd und Schafe!

Ein Segen, daß unsere Ziege niemals mit diesen ihren vierbeinigen Gefährten so enge Freundschaft schloß, daß sie das Ensemble von Gaul und Schafen mit freudigem Meckern begrüßt!

Weiter geht es …

Der Packsattel des zottigen Braunen nimmt uns die Hauptlast ab, ich führe den Gaul und trage Montes Nachkommenschaft, – – der greise Robinson bleibt fünfzig Meter voraus, leitet uns durch verschlungene, wilde Abgründe, die wir als unpassierbar gemieden hätten, und nach gut zwanzig Minuten öffnet sich vor uns eines jener endlosen wassergefüllten Täler, die für Kerguelenland genau so kennzeichnend sind wie für Norwegen, nur daß dort den stillen Bergseen die Menge der Gießbäche fehlt, die hier wie blendend weiße Streifen senkrecht das Gestein durchziehen und zumeist unten in feinstem Sprühregen die ruhige Seefläche bestäuben.

Unser Führer hält sich am linken Seeufer, – wir müssen einige eisige Duschen der Wasserfälle in Kauf nehmen, wir gelangen in ein zweites Tal, in ein drittes, – – unser Robinson schreitet mit ungeminderter Schnelligkeit dahin, und Kituri hat seine liebe Not, die großartige Karawane zusammenzuhalten.

Mehr als eine Stunde ist verflossen …

Wieder folgen wir dem Laufe eines engen Felsenkanons, in dem eine empfindliche Kälte und eine trübe Dunkelheit herrschen …

Und dann – niemand könnte uns hier auf diesen Pfaden auf der Spur bleiben, da die Staubfälle der Seen auch die geringsten Fährten verwischen – dann ein neuer Bergsee, größer als die bisherigen, anders in der Farbe, anders in der Zusammensetzung, noch reicher an Gießbächen, an kahlen Felseninseln, aber zweifellos irgendwo mit dem offenen Meere in Verbindung stehend, wie die Flutmarken an den Ufern beweisen, die einen Unterschied der Höhe des Wasserspiegels von gut ein Meter andeuten.

Ein wunderbarer See ist es …

Dunkelgrün die Farbe, nach Osten zu ins Blaugrüne spielend, – die Gestade steil wie ungeheure Mauern, die Nordabhänge bedeckt mit Gestrüpp von Kerguelenkohl, die Gestade bedeckt mit Felsklötzen, die Palästen oder Ruinen gleichen, der See selbst geschmückt mit helleren Flecken: Inseln, auf denen die Wunderpflanze dieses Landes in jungen Schößlingen grünt.

Und fast genau in der Mitte ein größeres Eiland, über dem eine feine Dampfwolke schwebt.

„Mein Reich!!“, sagt der Alte ernst und melancholisch. „Jene Insel, meine Freunde, ist seit Jahren meine Heimat … Jene Insel entging bisher den wenigen Forschern, die sich in diese Wildnis wagten … – Kommt, ihr werdet schauen, – ihr werdet nicht fragen, denn das Fragen ist verboten … Sehen ist gestattet … Ich weiß, ihr werdet fragen wollen, und die Fragen werden euch auf der Zunge brennen … Löscht diesen Brand, es tut nicht gut, einen Griff in die Vergangenheit zu wagen, die man mit eisernen Riegeln abschließen sollte vor aller Welt …“

Kituri, der inzwischen mit seinem Getier glücklich zur Stelle war und wie ein Jüngling im Dampfbad schwitzte, denn die Ziege und die Schafe hatten dauernd Ausbruchsversuche gemacht, merkte wohl wie ich an dem besonderen Tone des Greises, daß die Insel drüben in dem blaugrünen Bergsee mehr verberge, als wir uns irgendwie vorstellen konnten.

Ein scheuer Blick aus dunklen Malaienaugen traf den Alten, Kituri öffnete den Mund, aber – er blieb stumm.

Der Schwätzer Kituri wagte keine Frage.

Und dann kam die erste – nun, sagen wir ruhig: verblüffende Überraschung.

Jörn (Vatersname war noch unbekannt) – also der weißbärtige Jörn tat so etwa dasselbe, das mit früheren Ereignissen eine gewisse Ähnlichkeit hatte.

Er kletterte zwischen die Mauertrümmer am Ufer, die so auffällig Ruinen von klobigen Bauten glichen, und brachte ein Faltboot zum Vorschein, dessen primitive Bauart nur dem Mangel an geeigneten Werkzeugen zuzuschreiben war.

Die Insel war gut achthundert Meter entfernt, wir mußten dreimal übersetzen, das Boot trug nicht die ganze Karawane, und als erste Fracht schifften Jörn, die Monte-Kinder, Monte und ich uns ein. Der zottige Gaul ging aus Anhänglichkeit allein ins Wasser und schwamm hinterdrein.

Jörn und ich ruderten.

Die Ruder waren Blattruder aus angetriebenen Ästen, unten mit Fell überspannt, – leicht und flink glitt das Boot über die stille Wasserfläche, und ich mußte mein Temperament etwas zügeln, um nicht durch übermäßige Kraftentfaltung auf meiner Seite den Kurs zu gefährden, ich war begierig darauf, was ich sehen würde, denn je näher wir der Felsenmasse der Insel mit ihren steilen Gestaden und ihren steinigen Hügeln und üppigen Gestrüppmassen und der schwebenden Dampfwolke rückten, desto seltsamer erschien mir die ganze Form und Natur des Eilandes, desto klarer traten Einzelheiten hervor, die mich immer stutziger machten …

Aus der Ferne hatte die Insel wie eine geschlossene Masse gewirkt, – – jetzt unterschied ich deutlich die aufeinandergeschichteten Steine, aus denen die senkrechten Ufer bestanden.

Menschenwerk also, zumindest zum größten Teil …

Es mochten da am Ufer einige Riesenexemplare gelegen haben, – die Lücken waren ausgefüllt worden, Jörn hatte sein „Reich“ in eine Festung verwandelt, der Zweck blieb mir unklar, bis – ja bis derselbe Jörn direkt auf die Mauer zuhielt und hier in Wasserhöhe eine Art Tor aufschwang und so den Eingang zu einem Kanal bloßlegte …

Wir glitten hinein, der Gaul hinter uns fand mit den Beinen Grund, und Jörn scheuchte ihn nach vorn, schloß die Pforte und schob den Lederkahn weiter.

Die Kanalufer waren mindestens drei Meter hoch, oben stand Gestrüpp, natürlich Kerguelenkohl, was sonst, – aber zwischen den knorrigen Stauden der seltsamen Pflanze wuchsen Glockenblümchen, leuchteten die Allerweltsdinger, die weißen Gänseblümchen mit den gelben oder rötlichen Mitteltupfen.

Nach einigen Windungen verbreitete sich diese Wasserrinne, und – – das Blattruder entglitt mir fast.

Da war ein Wasserbecken, ein Inselchen, und mitten darin lag ein völlig verrosteter Frachtdampfer mit gekappten Masten, mit gekapptem Schornstein, – ein uralter mittelgroßer Rattenkasten von Schiff …

Zwei Stahltrossen hielten ihn fest, und ringsum entstiegen der eigentümlich braunschwarzen Flut des Inselchens andauernd platzende Blasen, deren Inhalt, Wasserdampf, langsam emporstieg und in höheren Luftschichten zerflatterte …

Das also war Jörns Reich …!

Eigenartig genug mutete es an …: Dampferwrack, Dampf, See, Felsen, Gestrüpp, an den Ufern ganze Felder von bescheidenen Blümlein …

Das war nicht alles …

Mochte das Schiff außen auch noch so verlottert sein, mochte das Schiff mit den umgelegten Masten und dem Schornstein noch so verwahrlost wirken: An Deck schien im übrigen musterhafte Ordnung zu herrschen …

Und das schönste, belebendste von allem: An der Reling lehnten zwei Mädchen in Robbenfellen ohne Kopfbedeckung mit pikanten, gebräunten Gesichtern, die Zug um Zug einander so ähnlich sahen, daß es sich nur um Zwillinge handeln konnte.

Mädchen zweierlei Rasse, das erkannte ich sofort, Mischlinge!

Der Vater mochte Europäer gewesen sein …

Die Erfahrung eines alten Weltentramps trügt nicht:

Es waren die Augen Hektor Belards, die ich in diesen beiden Mädchenaugenpaaren wiederfand!

… Plötzlich erschien neben den Mädchen eine Farbige, – es mußte eine Eingeborene von Neukaledonien, von der großen Sträflingskolonie sein.

Mutter der halbwüchsigen Mädchen, die uns staunend entgegenblickten …

Eine Mutter von noch immer überraschender Schönheit und Anmut, obwohl durch ihre schwarze Haarfülle sich bereits graue Streifen zogen …

„Kalla Mori“, rief Jörn den dreien in deutscher Sprache zu … „Ich bringe Gäste, sorgt für ein Frühstück … Der Morgen naht, und die Mitternachtssonne wandelt sich in Morgensonne …“

… So lernte ich drei weitere Mitspieler eines dunklen Schauspiels kennen, dessen einzelne Akte für mich bisher keinen Übergang besaßen, da die Hauptszenen aus dem mir verhüllten Schoße des Einst fehlten.

 

7. Kapitel.

Schneesturm: Kerguelensommer!

… Wieder ist es, als säße ich in meinem Zimmer des Asyls Hektor Belards.

Ich sitze anderswo, obwohl die Umgebung hier wahrlich nicht den Ausschlag gibt, sondern nur das, daß ich die Feder in der Hand halte und grübele …

Jedes Schiff hat seinen kennzeichnenden Geruch …

Wie die Menschenrassen … – Dieses Schiff „Trinakria“ duftet nach der Fröhlichkeit weiblicher Jugend, die trotz aller Widersprüche, trotz all der heimlichen Sorgen sich ihr Recht auf Unbekümmertsein nicht rauben läßt … Die beiden Mädel hier müssen Hektors Kinder sein, und Kalla Mori, die dunkelhäutige reife Schönheit ist ihre Mutter.

Unwillkürlich formt die Feder doch Worte, Sätze, das Papier bedeckt sich mit schwarzen Zeilen, die nichts als Augenblickseindrücke sein können …

Fragen ist ja verboten …

Ich mache auch gar keinen Versuch, Fragen zu stellen, seit vierundzwanzig Stunden leben wir hier im Inselreiche Jörns, des greisen Robinsons, und noch immer scheint unverdrossen die Sonne, noch immer führt der Nordwind vom Indischen Ozean die Wärmemengen herbei, verteilt sie über die große Kergueleninsel und sorgt für wahrhaft sommerliche Temperatur.

Mittags hatten wir gestern fünfzehn Grad.

Mittags hat auch Kituri, der dem einen holden schlanken Geschöpf übereifrig in der Küche half, offenbar sein Herz endgültig verloren. Seitdem umschlich Kituri das Mädchen, das nur Setta genannt wird, wie ein verliebter, bescheidener Kater …

Was sehr belustigend wirkt …

Kituri als Verehrer einer hellbraunen jungen Schönheit, – – man erlebt immer neue Überraschungen!

Man hat hier im Grunde nur damit zu tun, sich nicht zu wundern.

Gewiß, wie der alte Frachtdampfer hierhergelangt in dieses Inselbecken, das ist längst geklärt: Der See besitzt eine Verbindung mit dem Meere, und der Inselsee hat eine verbaute breite Einfahrt.

Das alles hat Jörn zugegeben.

Aber – wer ist dieser Jörn, dieser greise Robinson, der mit aller Vorsicht im See Fische fängt, der zur Meeresküste im Osten rudert, Seesäuger harpuniert und die Seinen ernährt und kleidet und dennoch meinen Rat gebraucht, meine Hilfe, um den Anlaß zu der Fehde zwischen drei Parteien, die hier im Verborgenen hausen, zu beseitigen?!

Wer ist es?!

Seemann, zweifellos …

Und all die übrigen Fragen?!

Da stockt der flatternde Gedankenfluß, da stoppt die Feder, und mein Blick fällt durch das Kabinenfenster drüben auf den Strand, wo sich ein Liebes- und Tieridyll aufgetan hat.

Da sitzen Kituri und Kalla Setta (das ist ihr unverkürzter Name) im Sonnenschein und säugen Montes Kinderlein. Friedfertig läßt die Adoptivmama Ziege sich alles gefallen, ihr Euter enthält übergenug Nahrung für die drei strammen Wolfsbastarde, die nun bereits Lust zu kleinen Raufereien untereinander zeigen und aus Fettwänsten mit unförmigen Bäuchlein echte Wolfssprossen geworden sind …

Kalla Setta betreut die übermütige Gesellschaft, und Vater Monte liegt behaglich ausgestreckt dabei und hat jedes Mißtrauen verloren.

Wirklich ein Idyll in der Vormittagsstunde.

Man könnte darüber Poet werden, – falls Poesie nötig.

Ist nicht dieses ganze Abseits Poesie?!

Ist es nicht wundervoll, daß die Pinguine hier auf der Insel so zahm geworden sind, daß sie sich von Jörn, Kalla Mori und den Mädchen streicheln lassen und sogar bereits vor uns Neulingen die Scheu abgelegt haben?!

Doch das Leben, die kalten unerbittlichen Tatsachen reden eine fremde Sprache, die diesen Zauber zerstört. Plötzlich tut sich die Tür auf. Der greise Robinson tritt ein, gemessenen Schrittes wie stets, voller Würde, umgeben von dem Hauch einer Hoheit, der schwer zu erklären ist.

„Störe ich, Abelsen …?“

„Durchaus nicht … Nehmen Sie Platz, Jörn.“

Er lugt durch das Fenster.

Ein gütiges Lächeln wischt die gereifte Härte von seinen Zügen.

„Jammerschade, Abelsen … Es gibt Sturm und Nebel und Kälte. Das Barometer und meine alten Knochen verraten es … Jammerschade für die Jugend, Abelsen … Für uns beide zum Segen. Die Sache muß ein Ende haben, so oder so …“ Seine Stimme grollt. „Ich habe es satt bekommen, dieser Senta Barsoel wegen, die den Teufel im Leibe hat, hier ebenfalls mein Grab zu finden.“

Sein zerfurchtes Gesicht umwölkt sich immer drohender.

„In einer Stunde spätestens springt der Wind um … Dann werden Sie etwas erleben, Abelsen. Das verdammte Loch dort in den Randbergen nach Süden zu ist wie die Mündung einer Trompete. Es ist nicht der erste Orkan, der über mein kleines Reich hinwegfegt. Vielleicht wird dieser Orkan der tollste. Meine Glieder reißen wie wundgescheuerte Haut, – ich kenne das. So schlimm war es noch nie, aber für uns kann es nicht schlimm genug werden. Miß Robinson soll einsehen, daß selbst das Gold keine Gerechtigkeit schafft, wenn man in Vorurteilen befangen ist …“

Andeutungen …

Sie schweben haltlos in der Luft wie die Dampfwolken des Inselchens mit seinem entweder morastigen oder vulkanischen Untergrund, – – unschädliche Dampfwolken, kein Gas, – geruchlos, – warm, Wärmequelle des Inselbeckens.

Jörn, der Alte, hat den Kopf in die Hand gestützt.

Seine scharfen klaren Augen haften prüfend auf meinen abwartenden Zügen.

„… Ich möchte Ihre Gedanken lesen, Abelsen …“

„Über die Miß Robinson, die also Senta Barsoel heißt?! – Das klingt norwegisch, schwedisch, dänisch …“

„Das ist eine Norddeutsche – wie ich, droben aus dem Holstein’schen, von der Küste, Abelsen. Jörn Jarmond mag fremdländisch klingen, – – ist deutsch, Abelsen! – – Also nun wissen Sie es: Jörn Jarmond! Behält sich leicht, der Name … Leichter, als man hinter Ihre Stirn blickt! Was wissen Sie, was denken Sie?!“

„Schwer anzufangen. Jörn …“ Ich deute ein Achselzucken an. „Da wären die drei Grabkreuze, da ist unter dem erhöhten Ufer der Südwestbucht eine Wassergrotte mit drei Steinpfeilern, und diese Pfeiler ragen durch die Höhlendecke hindurch, – das werden die Fundamente der Kreuze und wahrscheinlich die Grabkammern von drei Sträflingen sein, – – wie Hektor Belard ein Sträfling war.“

Seine Augen weiten sich … All dies Wissen ist ihm neu, – neu als mein Wissen.

Nichts fragen, befahl er …

Nichts sagen!, – befahl ich Kituri …

Der Alte reibt seinen Rübezahlbart. „Bitte, erzählen Sie … Woher wissen Sie dies alles? Wir haben nachher Zeit genug während der langen Wanderung. Also nicht jetzt, Abelsen … Wir müssen aufbrechen … Der Wind dreht hier oft so schnell, als triebe eine Riesenfaust einen Blasebalg in andere Richtung … Da – hören Sie die Windstille … Das ist ja stets das Vorzeichen. Die Brise schläft ein, die säuselnden Bergkuppen stellen ihre Orgeln ab, und die ganze Natur versinkt in Schweigen …“

Als ob er mir da Unbekanntes offenbarte?! – Er fügt auch sofort hinzu: „Sie werden über diese Dinge Bescheid wissen, Abelsen … Ich sagte ja schon: Ohne Nebel sind wir an diese Insel gebannt … Der Nebel wird kommen, vielleicht noch Ärgeres, dann werden wir längst unterwegs sein, wir haben einen weiten Weg vor uns, wir drei, denn Ihr Hund muß mit …“

Die kurze Pause, die er einfügt, mag der Vorläufer des Wichtigsten sein, das mir anvertraut werden soll.

Jörn Jarmond hat den edelgeschnittenen Charakterkopf tief geneigt und scheint nach Worten zu suchen.

Derweil packe ich meine Schreiberei zusammen und blicke dabei wieder einmal – Tierliebe und Freude an dem Idyll drüben! – zum Ufer hinüber.

Ein zweites Fellboot liegt jetzt neben dem, das Kituri und Setta Mori benutzt haben, – ein Kajak für nur zwei Personen.

Die Gruppe dort hat sich vergrößert, – die Mutter der Zwillinge Setta und Warra ist hinzugekommen, – Warra ist vielleicht etwas zierlicher gebaut, aber die Gesichter sind dieselben, die Augen- und Nasenpartien stammen von Hektor Belard, nur Stirn, Mund und Kinn sind Erbteil der dunkelhäutigen Mutter.

Während Kalla Mori, deren Name das Erkennungswort für mich gegenüber Gwenda bedeutete, sich etwas abseits hält, haben ihre Töchter und der verliebte Kituri nur Sinn für die ausgelassenen Wölflein, die zweifellos Montes Temperament geerbt haben.

Kalla lehnt an einem Felsen, ein voll erblühtes Weib, eine reife Frucht der Liebe, die bereits andere Früchte schuf, in ihren dunklen Augen schillert nachdenkliches Versunkensein in abwegige Gedankengänge, die nicht zu dieser Szenerie passen mögen.

Kalla Mori ist dem Gesichtsschnitt nach eine echte Kaledonierin, also zur melanesischen Völkergruppe gehörig, ohne jeden negroiden Einschlag mit Ausnahme der Lippen und des sanft gerundeten flachen Kinns. Melanesien erzeugt würdevolle Frauengestalten, und gerade die Weiber der Uvea-Insel, die mit zu Neukaledonien gehört, sind ihres Ebenmaßes und ihrer angenehmen Züge wegen berühmt …

Da beginnt der Alte wieder, und diesmal fällt wirklich das entscheidende Wort:

„Abelsen!“

„Bitte …“ – Ich wende den Kopf …

„Ich kann mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen …?“

„Überflüssige Frage …“

Er nickt bedächtig. „Nun gut, Abelsen, hier hat ein schrecklicher Irrtum, ein ganz unbegründeter Verdacht Haß und Feindschaft emporsprießen lassen. Sie wissen: Haß macht blind, völlig blind, Haß ist wie ein Lianenschößling, wächst im Nu, genährt von der Hitze menschlicher Torheiten, umklammert selbst gesundes Holz, erstickt es, – – Schmarotzerpflanzen, Abelsen!“

Er spricht sehr ernst … Leichte Trauer überschattet seine Stimme …

„… Sie werden das alles nachher selbst einsehen, und Sie werden mir suchen helfen, Abelsen, vielleicht kommt Ihnen ein erlösender Gedanke, den wir brauchen, – – sonst … sonst … ist all diese Mühe, diese Entbehrung, diese Einsamkeit zwecklos gewesen …“

Ich soll nicht fragen.

Nun frage ich doch … „Und was soll ich suchen?“

Die Antwort kommt ohne Zögern:

„Erik Barsoels Testament!“

Ich stutze nun trotz allem, worauf ich vorbereitet war …

„Miß Robinsons Bruder?“

„Ja, Abelsen, – auch ein Sträfling, einer der drei, die in der Grotte bestattet wurden … – Machen Sie sich bereit … Wir müssen aufbrechen, die Zeit drängt …“

Dann geht er, still, in sich gekehrt, – – und ich denke an den Vergleich mit den Lianen, die das gesunde Holz umspinnen und zur Fäulnis bringen, – – Schmarotzer …

– Aufbruch …

Es geht nicht alles so glatt, wie wir denken.

Da ist zunächst Monte. Gewiß, Monte weiß seine Kinder in treuer Hut, aber Monte ahnt wohl, daß es eine Expedition für Tage werden kann, er sieht es an unseren prallen Lederrucksäcken, an den darübergeschnürten Wolldecken. Er hat eine feine Witterung für derartiges, eine sehr feine. Bevor er ins Boot springt, muß ich ihm sehr gut zureden.

Und dann ist da Freund Kituri … Er fühlt sich zurückgesetzt, er mault, die Abenteuerlust brennt ihm doch noch stärker im Herzen als die Liebe, diese junge Neigung. – Nun – er verzichtet … Jörn Jarmond will sein Reich nicht ohne männlichen Schutz lassen – – sagt er … Und besänftigt den grollenden Märzkater, der aus Settas Augen als Entschädigung einen Blick auffängt, der so allerlei verheißt.

Anders steht es mit Kalla Mori, der Mutter der Zwillinge.

Diese Frau, die zumeist sich in hoheitsvolles Schweigen hüllt, wird energisch.

„Jörn, mein Interesse an dem, was ihr vorhabt, ist wohl das stärkste“, erklärte sie in einem Tone, der keinen Widerspruch duldet.

Und Jörn gab nach.

So sind es denn drei Menschen und ein Hund, die den Abseitspfad an der Seenkette entlang dahinwandern … Jenen pfadlosen Weg, über den die niederstürzenden Gießbäche hinwegstäuben, deren eisige Nässe wir nur durch den Schutz von Robbenfellen entgehen, die wir über die Köpfe breiten.

Inzwischen ist die sommerliche Wärme bereits von kalten Vortruppen der Südpolargebiete gewichen. Ganz sacht hat es von Süden angefangen zu fauchen – ganz sacht nur … Es säuselt und winselt in den Klüften und Zacken, und die Gestrüppfelder auf den Nordabhängen beugen sich vor den ersten Windstößen in anderer Richtung als vordem … gen Norden!

So beginnt der Tanz …

Der alte Jörn, der mir doch zugesagt hatte, während des Marsches mir so manches anzuvertrauen, schweigt sich aus, vielleicht weil Kalla Mori dabei ist. Er spielt wieder den Führer, er beschleunigt das Tempo, – über den mattblauen Himmel fliegen bereits Wolkenfetzen, und als wir eine Paßhöhe erreichen, die guten Fernblick über das Polarmeer bietet, gewahre ich die verhängnisvollen weißen Streifen der berüchtigten Eisfelder, über denen die eiskalte Luft der Antarktis gelastet hat und nun in Bewegung gerät und gegen die bisherige wärmere Luftströmung ankämpft.

Jörn und Kalla Mori sind nach flüchtigem Blick über die südlichen Meeresteile weitergeeilt.

Mich selbst bannt irgend etwas am Platze, das stärker ist als der Wille des Vorwärtsstrebens. Ich weiß genau, daß gerade dieses Zusammenprallen zweier in der Temperatur so grundverschiedener Luftschichten Erscheinungen hervorruft, die man gewöhnlich nur in voller Klarheit über heißen Wüstenstrichen antrifft.

Gemeint ist die Luftspiegelung, die so oft beschriebene Fata Morgana.

Ich kenne sie in all ihren vielfachen Formen, – noch nie sah ich sie in Gebieten der Polargegenden.

Meine physikalischen Kenntnisse als ehemaliger Ingenieur wecken die Hoffnung in mir, daß eine Fata Morgana auftreten könnte …

Nur könnte …

Und das Bild will ich mir nicht entgehen lassen, mag die Luftspiegelung mir nun Teile der Eisfelder oder Teile von Kerguelenland oder nur das Meer zeigen.

Ich harre geduldig, Monte hockt neben mir.

Um die Paßhöhe faucht der ständig anwachsende Sturm, – aber dort drüben in der Ferne, das weiß ich, ist die warme Luft sozusagen vor der Kälte geflüchtet und lagert noch zwischen dem aufziehenden Gewölk.

Ich warte …

Es ist sonderbar, wie so urplötzlich eine Stimme aus dem Unterbewußtsein sich wieder gemeldet hat und wie diese Stimme mich festzaubert und mich festhält …

Ich werde etwas sehen …

Ich fühle diese Gewißheit …

Dunkle Fetzen vom Gewölk schweben heran. Zwischen ihnen klafft noch der matt-lichtblaue Sommerhimmel …

Und an diesem mattblauen Spiegel wird urplötzlich eine seltsame Veränderung wahrnehmbar.

Es ist ein Spiegel, und er scheint sich nach rückwärts zu senken, bis die Konturen einer Felsküste und eines brandenden Meeresgürtels immer schärfer sich ausprägen …

Wunderbar plastisch ist dieses Bild, – es verschiebt sich, es zeigt den Eingang einer Bucht, eine vorgelagerte, hochgetürmte Felseninsel, und da das Gemälde verkehrt liegt, gewinne ich Einblick in die zerrissenen Gestade der Insel und ihrer Einschnitte und Buchten und sehe in einer dieser Buchten ein Schiff ankern, eine weiße Jacht mit kurzem dicken Schlot …

… Eine Wolke verwischt das Bild, – – alles ist vorüber, und doch bin ich froh, daß ich der stummen Stimme gehorcht habe.

Ich zweifele keinen Augenblick daran, daß diese Jacht Eigentum der Miß Robinson ist, deren Bruder hier verstarb, begraben wurde und ein Testament hinterlassen haben soll. Ich habe mir sehr genau das hervorstechende Merkmal der Insel eingeprägt, einen Berg an der Südküste, der eine dicke Felsenhaube wie eine Mütze trägt. Ich werde die Insel, die nur zu Kerguelenland gehören kann, bestimmt finden, – – wann, das ist gleichgültig …

Ich habe Miß Robinsons sorgsam gehütetes Versteck entdeckt, und das ist die Hauptsache.

Meine Gefährten sind mir längst aus den Augen gekommen.

Das schadet nichts …

Ich habe Monte bei mir, ich habe Montes Nase als beste Hilfe, und der Pfad vor uns hat keine spurenvernichtenden Staubbäche mehr.

Ein letzter Blick nach Süden.

Ein Blick, der mich zur Eile antreibt.

Das Gemälde ist völlig verwandelt, die Fata Morgana verschwunden, oben schiebt sich eine schwarze Wolkenwand unheimlich schnell heran, unten über dem bereits kochenden Ozean flattern die grauen Nebelgeister, noch keine geschlossene Masse, aber ein Heer, das sich zur Schlacht entwickelt, das seine Truppen fächerartig ausbreitet. Ich setze mich in Trab, in Galopp …

Monte läuft voran, den Kopf gesenkt, – im Eiltempo geht es den Paß abwärts, Felswände schneiden hier dem Sturme den Weg ab, Felswände benutzen ihre höchsten Zacken als Orgelpfeifen …

Die Musik schwillt an …

Die Hochebene, die ich überquere, liegt gleichfalls im Windschutz …

Aber die Sonne ist verschwunden, trübe Dämmerung deckt das Gelände, ich trabe mit Maß und Sparsamkeit, ich will die Kräfte schonen, ich will haushalten mit Muskeln und Sehnen …

Weiß ich, was mir noch bevorsteht?!

Da kommt sie bereits heran, die schwarze Wolkenbank, lastet auf den Bergkuppen, und mit ihr der Nebel, der unvermeidliche Kerguelennebel …

Doch diesmal tritt ein Neues hinzu …

Ich habe die Westgrenze der Hochebene erreicht, biege in einen langen Kanon ein …

Die Finsternis wächst …

Der Sturm wächst zum Orkan …

Die Orgelpfeifen droben werden Posaunen, und mit einem Schlage setzt ein Schneetreiben ein, vor dem selbst der freche Nebelgeselle sich verkriecht.

Das ist kein Schneefall, Schneesturm, das ist nicht der gefürchtete Blizzard Nordamerikas, das ist wie eine kompakte Schneemasse, die durch die Orkanstöße in kleine Teile aufgelöst wird.

Im Nu ist der Kanon selbst tief unten von Schneeschanzen erfüllt, im Nu ist um mich her nur die Finsternis und das unbeschreibliche Schneegestöber und das Heulen und Jaulen und Winseln losgelassener Raubtiere, dazu ein Hagel von Steinen, die der Orkan über die Ränder des Kanons fegt …

Monte?!

Unsichtbar …

Ich selbst – blind …

Ein Stein trifft meine Mütze, ich taumele, ich rappele mich hoch, ich greife wieder nach dem Robbenfell, halte es als Schirm mit beiden Händen über den Kopf …

Plötzlich vor mir das schmerzliche Aufheulen meines Hundes …

„Monte!!“

Ich brülle es mit voller Lungenkraft, ich sauge die eisige Luft ein, diese Luft sticht die Kehle wie mit Nadeln …

„Monte!!“

Und da trete ich auf etwas Weiches, das keine Schneeschanze ist …

Es ist mein Hund …

Er jault kläglich …

Ich nehme ihn in die Arme, ich will heraus aus dieser Hölle von Kanon, aus diesem Steinregen, aus diesem satanischen Lärm der entfesselten Elemente.

Ich lege die Robbenhaut über uns, klemme sie fest, so gut es geht, fühle die Püffe der niederrasselnden Steingeschosse und stolpere weiter …

Stolpere …

Es geht um das Leben …

Ich weiß es …

Der Schneesturm nimmt an Stärke noch zu, – niemals machte ich Ähnliches durch …

Ich tappe blind dahin, schramme mit dem Ellbogen an der Felswand hin – als Richtungsweiser.

Wegweiser wäre hier zu viel gesagt.

Plötzlich hört die Felswand auf, der Kanon ist zu Ende, vor mir wirbelt es weiß, – – weiße Riesenflocken …

Ich stehe still …

Unmöglich, sich auf diese breite Talsohle hinauszuwagen …

Schanzen stemmen sich mir entgegen, Schneeschanzen, turmhoch, oben spitz, – im nächsten Augenblick hat der Sturm die Spitzen geköpft …

Ich weiche zurück, drücke mich an die südliche Steinwand, – – Monte wimmert, warm fließt es über meine Hand …

Montes Blut …

Steine prasseln, Schneeflocken jagen hin und her, Schneewolken stieben auf, – – mein nasses Gesicht, das ungeschützt ist, bedeckt sich mit einer Eishaut.

Das nennt man Kerguelensommer …

Das ist der Sommer im letzten Zipfel der Welt vor dem Südpol.

Sommer, – mit vielleicht zehn Grad Kälte, wo vor kaum drei Stunden noch fünfzehn Grad Wärme herrschten …

Sommer auf Kerguelenland …

Nun weißt du es …

Und wenn du einmal am Schreibtisch einen Atlas vornimmst und dazu ein streng wissenschaftliches Werk über diese große Insel, und wenn in diesem Buche zu lesen: „Jahresdurchschnittstemperatur 4 Grad Wärme …“, – dann schmeiße den Schmöker in die Ecke und stelle dir vor, was ich dir schildere: Auf Kerguelenland mit annähernd normalen Temperaturen zu rechnen, ist Unfug …!! Grober Unsinn …

 

8. Kapitel.

Der Wendepunkt der Tragödie Kalla Mori.

… Und trotzdem muß ich weiter …

Muß …

Vor mir in diesem wilden Hagel von Steinen, Schnee, Eisstücken befinden sich ja zwei Menschen, die mit mir schicksalsmäßig verbunden sind, denen ich selbst diese Treue wahren muß, alles daranzusetzen, mich mit ihnen zu vereinen.

Meine Schuld war es, daß wir auseinander kamen. Meine Pflicht ist es, daß wir gemeinsam uns durchkämpfen können.

Montes Winseln ist verstummt. Aber er regt sich noch, er strampelt mit den Beinen, und die Kopfwunde scheint doch nicht so arg gewesen zu sein …

Ich setze ihn nieder, nehme ihn an die Leine, er hockt zwischen meinen Beinen, – kein schlechter Platz!

Dann ein aufmunternder Pfiff …

Monte verläßt den sicheren Platz, und da der Orkan gerade Programmpause hat, stürmen wir darauf los, – – nur vorwärts – – vorwärts!

Weit kann es ja nicht mehr sein bis zur Bucht der Grabkreuze!

Wir weichen Schneeschanzen aus, fallen in schneegefüllte Löcher, – – wir geben unser Letztes her, wir atmen auf, – – der Sturm zerpflückt die finstere Wolke, für Minuten bricht sogar die Sonne durch, und wir fühlen uns wie Eskimos, sind Eskimos, Schneemänner mit eisgepanzerten Körpern, – – nur daß der Südpol keine Bewohner kennt, wie droben in der Arktis die fast schon sagenumwobenen Eskimostämme …

Monte trabt, galoppiert …

Monte läßt sich nicht stören, als die Schneefinsternis uns wieder zudeckt, Monte findet die Fährte, und plötzlich höre ich die Schreie der Pinguine und Möwen und das Branden von Wasser und lasse mich zwischen Steinblöcke zerren, in deren Winkel pechschwarzes Dunkel lauert.

Hier verhält mein Hund …

Hier erst fühle ich, wie erschöpft ich bin …

Mein Atem pfeift …

Meine Beine schmerzen, die überanstrengten Muskeln ziehen sich zu Krämpfen zusammen …

Matt falle ich auf irgend einen flachen Stein, schnüre das Bündel los, hole die Laterne hervor und eine filzumhüllte Aluminiumflasche.

Trinke erst …

Feuer rinnt mir in den Magen hinab, Feuer lodert in mir auf …

Alkohol – – Brandy …

Und dann knistert das Feuerzeug, dann zuckt das andere Flämmchen hoch, die Laterne brennt, und ich – – sitze auf der Steinplatte, die den Eingang zu der Wassergrotte verdeckte, als mir vor Tagen ihre eigentümliche Struktur auffiel.

Der Felsentunnel liegt frei … Jener enge Stollen, in dem ich entlangkroch, um nachher der Miß Robinson doch ein Schnippchen zu schlagen und zu flüchten und den anderen Weg zu wählen …

Durch den unterirdischen Zufluß zur Höhle der drei Steinpfeiler …

– – Nicht wahr, all das liest sich so im warmen Sessel im sicheren Hort einer behaglichen Wohnung hinterher wunderschön … All das ist so ein nettes Nervenpülverchen, damit man nicht ganz einroste und versauere im Alltagstrott.

All das ist ja schwarz auf weiß für so und so viel Kleingeld zu haben und heißt:

Das Grab der Namenlosen.

Aber all das selbst erleben mit fiebernden Pulsen, mit zuckenden Muskeln, mit glühend brennender Gesichtshaut, – – ein ander Ding, Amigo!!

Ein ganz ander Ding …!!

So anders, Amigo, daß dir zum Beispiel die Finger steif und gefühllos wie Bretter sind und daß du zum Umfallen müde bist …

Müde?! Erschöpft?! Ausgepumpt?!

… Gar kein Ausdruck für den Zustand!

Und da hilft der Brandy …

Gut, – mag er dich auch nur aufpulvern …

Er hilft …

Du wirst wieder Mensch, wirst wieder lebendes Wesen, – – und du vergißt das soeben durchkämpfte, du hältst die blauroten Pfoten über die Laterne und reibst und knetest sie und bildest dir ein, eine gütige Fee hätte dich in einen Palast versetzt …

Einbildung …

Draußen winselt, jault, faucht und heult der Schneesturm, draußen, Amigo, drei Schritt entfernt, tollt das Heer der Schneeflocken wie Federn in einer Glastrommel, die entstäubt werden soll …

Und wenn du Herz hast, Amigo, dann beugst du dich zu deinem Hündchen herab und betastest seine Wunde und reichst ihm einen gebratenen Fisch – – wie ich es tat.

Monte fraß auch …

Monte ist Philosoph … Man muß die Feste feiern, wie sie fallen …

Sie fallen zur Zeit auf Weihnacht: Bratfisch, Brandy, – – das ist doch schon allerhand Gutes, dazu eine brennende Laterne und einen kahlen Felswinkel zwischen Basaltblöcken. –

Scherz bei Seite …

Ich lebte auf … Ich fühlte mich wieder Mensch, ich fühlte, daß dieser ruhelose Wanderer vom Abseits die helle Freude genoß, gesiegt zu haben gegen die Dämonen dieses Schneehöllenpfuhles …

Freude sollte man mit Vorsicht genießen, denn, sind ihre Gründe nicht völlig widerstandsfähig gegen mißgünstige Zwischenfälle, folgt nur zu leicht ein Umschlag ins Gegenteil.

Wie hier … – Monte, allzeit Gradmesser für berechtigtes Sicherheitsgefühl, hebt mit einem Ruck den Kopf und windet nach dem Stollen hin.

Der Stolleneingang zur Wassergrotte ist offen, die Grotte ist unser Ziel gewesen, Kalla Mori und Jörn müssen sich dort in den Tiefen der Felsen befinden, haben sich bis hierher trotz des Schneeorkans durchgeschlagen. Aber eins gibt zu denken: Montes Verhalten! Monte kennt meine Gefährten, er würde ihretwegen niemals diese warnende, angriffsbereite Haltung zeigen.

Jetzt drängt er vorwärts, knurrt, knurrt noch stärker, jedoch ganz dumpf, sein bekanntes Grollen …

Ich hasche nach seiner Leine, sonst wäre er mir in den engen Tunnel entwischt. Furcht kennt Monte nicht, er ist ein Draufgänger, bei dem leider die Intelligenz versagt, wenn er jemanden wittert, dem er an die Kehle möchte.

Ich schraube die Laterne herunter, und mit dem schwindenden Licht empfinde ich auch wieder mit aller schreckvollen Deutlichkeit die satanische Wucht des Unwetters, das da draußen sich austobt und die Wasser der Bucht offenbar zu hohen Wellen aufwirft …

Das Brandungsgeräusch, diese an- und abschwellende Fortissimomusik, die doch eigentlich dem offenen Meere und seinen Gestaden vorbehalten bleibt, – dieses ruhelose Brüllen und Donnern und zischende Zerstieben anprallender Wassermassen ist so kräftig, daß dagegen die Fanfaren des Sturmes sanfte Flöten werden.

Ich horche unwillkürlich schärfer hin.

Sehen kann ich nichts.

Ich sehe nur einen weißen Vorhang wirbelnder Flocken, der in ewiger Bewegung ist, ich sehe nur die Wölkchen einzelner weißer Sturmvöglein, die in lustigem, neugierigem Spiel bis in meinen Zufluchtsort tänzeln …

Das sehe ich …

Aber mein Ohr fängt all das Übrige auf, und ich sage mir, daß die Bucht den Geräuschen nach ein kochender Kessel sein muß. Ich habe den Lauf dieser Bucht noch nie verfolgt, – sie kann unmöglich in gerader Linie im Südwesten ins Meer münden, sie muß mit ihrer Mündung trompetenartig nach Süden sich biegen, sie muß dort einem Trichter gleichen, in dessen breite Öffnung der Ozean seine Wellenberge hineinjagt.

Nur Wellenberge?!

Hat nicht das Meer nach dem Südpol hin seine Eisfelder, seine leicht loszubröckelnden Eismassen an den Rändern von Inseln, die nie, oder nur selten ihr kahles Gestein von diesen weißen Mänteln entblößt sehen?!

Vernehme ich nicht an der Bucht das Geräusch sich reibender Eisschollen, – sollten diese Stöße gegen die Basaltblöcke hier, die alles erzittern lassen, nur der Brandung zuzuschreiben sein?!

Unmöglich! –

Es macht den Eindruck, als sollte über diesen Teil von Kerguelenland eine große Katastrophe hereinbrechen, als ob bereits das Inselgefüge wankte, nachgäbe und irgendwie irgendetwas sich vorbereitete, das in seinen Folgen unausdenkbar sei.

Doch Montes Zerren an der Leine wird noch ungestümer, wird zur bösartigen Aufforderung: Gib mich frei!!

Er knurrt, er fletscht die Zähne …

Sein Herr zaudert nicht länger …

Was dort in der Wassergrotte auch geschehen sein mag, noch geschieht: Ich will es wissen, will meinen Teil daran haben!

Die Pflicht ruft. Jörn und Kalla Mori haben Anspruch auf meine Hilfe.

Falls sie der Hilfe bedürfen …

Also hinein in den engen Stollen …

Schon einmal schob ich mich darin entlang, – damals sah ich die drei massiven Steinpfeiler mitten im Grottensee, damals wollte Senta Barsoel, Miß Robinson und Besitzerin einer schlau versteckten Jacht, mich durch ihre Wikinger einfangen wie eine Robbe, aber die Robbe tauchte, wagte das Leben und entkam.

Heute, – ja heute …, – – so anders, denn ich bin keine acht Meter vorgedrungen, als der mir vorauskriechende Monte jäh abstoppt und sich wie ein Flitzbogen zusammenkrümmt … mit hochgesträubtem Nackenhaar, mit allen Zeichen, daß da hinter der scharfen Biegung des Stollens irgendwie etwas Feindseliges lauert.

Und dann schnellt er vorwärts …

Er kann es …

Sein Körper füllt den Felsentunnel nicht vollends aus, sein Leib ist trainiert, flink, geschmeidig wie ein Wiesel, und im Sprung drückt er den Büchsenlauf nieder, der uns das Lebenslicht ausblasen sollte …

Sollte …

Denn das weiße, vor Erregung farblose Gesicht Senta Barsoels läßt keinerlei Zweifel zu, daß das Mädchen abgedrückt hätte …

Gewiß, auch jetzt noch fährt ihre Hand unter den Leib zum Pistolengurt, – – es ist zu spät …

Monte ist über ihr …

Ich kann nur warnend rufen:

„Hand von der Waffel! Liegen Sie still!!“

In dieser Felsenenge, die die Geräusche von draußen nur verschwommen aufnimmt, dröhnt meine Stimme wie durch ein Schallrohr …

„… Werfen Sie die Waffen weg, Senta Barsoel, – – schnell! Monte weiß sehr genau, ob Sie gehorchen, und die Folgen haben Sie zu tragen!“

Drei Geschöpfe stecken hier in einer Felsenkluft, können nicht vorwärts, nicht rückwärts …

Drei, die im Grunde keinen Anlaß hätten, einander zu bekämpfen, wenn nicht das Dunkel ungeklärter Fragen unbegründete Parteinahme herbeiführte.

Meiner Laterne blendender Leuchtstreifen liegt klar und unerbittlich über dem Bilde vor mir:

Monte hat die Miß Robinson mit den Pfoten niedergedrückt, hat ihr sein rücksichtsloses, starkes Gebiß um den Nacken gelegt …

Die Frau dort weiß, daß sie die Partie verloren hat, selbst wenn etwa hinter ihr ihre Wikingerriesen im Felsentunnel lauerten und schießen wollten …

Wollten …!

Die Frau da, Schwester des Sträflings Erik Barsoel, hat sich zu weit vorgewagt. Ihr Oberleib liegt vor der scharfen Biegung, und sollte dort hinter ihr etwa doch etwas auftauchen, das einem Büchsenlauf ähnlich sähe, würde es bei mir schneller knallen. Ich habe die Laterne in der Linken, in der Rechten die gespannte Pistole, – mir ist nicht beizukommen, und Senta Barsoel wird beichten müssen. –

Auf meinen Befehl hin hat sich eine sehr bescheidene Stimme gemeldet:

„Rufen Sie Ihren Hund zurück, Abelsen … Es ist nicht sehr vornehm, eine einzelne Frau derart anzufallen, – ich wehre mich ja gar nicht …“

Vornehm?!

Den Ausdruck sollte man auf Kerguelenland streichen! War es „vornehm“, daß Senta mit dem kreideweißen, zu allem entschlossenen Gesicht über den Lauf ihrer Büchse visierte und – – abgedrückt hätte?!

Nur keinen Bluff, Senta! Du bist Deutsche, du sprichst das Deutsche ebenfalls mit dem gewissen weichen, gemütlichen Beiklang der Leute von der Waterkant, du bist Eriks Schwester, im übrigen ein tolles Kätzchen …!

Kätzchen sollen die Krallen nicht zeigen, das erfuhrst du schon einmal.

Aber Kätzchen lassen sich auch streicheln, wenn man ihnen beweist, daß das Kratzen unnötig ist.

„Sind Sie allein hier, Senta Barsoel?“

„Ja …“

„Und wo sind Jörn Jarmond und Kalla Mori?“

… Wir geraten also auf den trügerischen Weg des Frage- und Antwortspieles …

Zögern drüben. Dann noch kleinlauter: „Ich ließ die beiden wegschaffen … – Ich bin allein.“

Wegschaffen?! Die beiden sind also wirklich abgefangen worden.

„Wohin?!“ Das klingt recht drohend.

Schweigen drüben …

Seltsame Situation …

„… Wohl nach Ihrer Insel und nach Ihrer Jacht, Senta? Nach der Insel mit dem Kappen-Berg …“

Nur ein hastiger pfeifender Atemzug folgt zunächst.

Dann …:

„Woher wissen Sie?!“

Leiser Schreck durchzittert die drei Worte.

„Ich weiß es, Senta … – Wie ließen Sie die beiden in Ihren Schlupfwinkel bringen?“

„Durch die Pinasse, Abelsen …“

„Bei dem Orkan?!“, fahre ich empört auf.

„Die Pinasse ist seetüchtig, und … und die Insel liegt nordwärts unter Windschutz …“

Meine Empörung wird zu flammender Entrüstung.

„Sie sind toll!! Wahnsinnig!! Vor dem Buchteingang steht eine ungeheuere Brandung, auch das Treibeis ist bis in die Bucht gedrungen. Das ist Mord, Senta …!!“

Ein Schluchzen, – – Tränen …

„Das … das wußte ich nicht … Ich bin bereits drei Stunden hier …“

Ich muß lachen, – hart, bitter, voller Angst um das, was geschehen sein kann … kann …

„Leichtfertig, – – wie leichtfertig haben Sie da mit Menschenleben gespielt in all Ihrem unvernünftigen und sicherlich unbegründeten Haß!“

… Tränen drüben …

Und als ob Monte auch dafür Verständnis hätte, – – er gibt die Frau frei, von der ich so wenig weiß …

Zu wenig! Denn diese drei gegnerischen Parteien, die sich in den Namen Senta Barsoel, Hektor Belard und Kalla Mori verkörpern, treiben hier eine zu undurchsichtige Fehde …

Drei Parteien, – – und zwischen den dreien ungewiß schwebend wie Schmetterlinge oder Hornissen im wilden Luftwirbel der entfachten Leidenschaften: Gwenda Belard, ich, Freund Kituri, Patentschwätzer, neuerdings verliebter Grünling!

Armes einsames weltfernes Kerguelenland, – ließest du es dir je träumen, daß hier in deinen Bergwildnissen und auf deinen vorgelagerten Inseln und auf deinen bezaubernden Hochlandseen jemals derartige Dramen sich abspielen würden?!

… Monte kriecht etwas zurück, Montes Schweif pendelt vor meinem Gesicht.

Er ist versöhnt, sein Instinkt sagt ihm, daß hier nichts mehr zu fürchten sei …

Ich …?!

Ich frage berechtigt: „Und wie wollen Sie zurück zu Ihrer Insel, Senta?“

„Im Ruderboot, Abelsen … Es liegt zwischen den Blöcken versteckt …“

„Wahnwitz!“ … Nur das …

Und wieder die ehrliche Erklärung, die vieles entschuldigt:

„Abelsen, ich ahnte ja nichts von dem Unwetter …! Erst als das Wasser in der Grotte jetzt so schnell zu steigen begann, dachte ich an die Rückkehr …“

Wasser steigen …!!

Und da – denn bisher hielt mich diese Unterredung in Bann – da erst fühlte ich, der ich hier auf sanft ansteigendem Steinboden liege, die Ellenbogen aufgestützt, daß meine neuen Stiefel aus den Vorräten von Hektar Belards Asyl merkwürdig kühl und kalt sind …

Sie liegen im Wasser!!

Ein einziger Blick nach rückwärts: Schillerndes Wasser füllt den Tunnel, steigt … steigt …

„Senta – – zurück in die Grotte!! Zurück! Sie haben recht, die Buchtwasser dringen auch hier bereits ein, draußen lauert der Tod, nur die Grotte wird uns schützen!! Zurück also, – – wir folgen!“

Die Feindschaft ist getilgt …

Des Weibes Antlitz rötet sich tief … entfärbt sich …

„Abelsen, steht es wirklich so schlimm da draußen?!“

„Es ist die Hölle, Mädchen, – – die grausamste Hölle! Es ist Kerguelensommer mit Orkan, Schneetreiben, mit Einbruch der Eisfelder, mit Sturmflut!“

Ihre tränenverschleierten Augen hängen an den meinen …

Und jäh kommt es über ihre Lippen:

„Mädchen?! Mädchen?! – Ich bin ja Hektor Belards Frau, – – sein Weib gewesen für kurze Wochen als halbes Kind noch, dann fuhr er davon, – – Eriks wegen, behauptet er …“

All das rauscht nur als verworrener Klang an meinem Ohr vorüber …

„Senta – – zurück!! Es wird ernst, das Wasser dringt mir bereits in die Stiefel – – zurück!!“

Senta gehorcht …

Die Tragödie um Kalla Mori erreicht ihren sturmumtosten Höhepunkt.

 

9. Kapitel.

Sentas Versucher.

… Nicht wahr, das liest sich doch alles so hübsch flüssig am warmen Ofenplatz, verehrter Wanderer des Alltags!

Das jagt dir so ein angenehmes Kribbeln über die Haut, und du denkst dankerfüllt: „Ich habe es besser, ich habe dicke Filzschuhe an, – und nasse Füße und Kälte?! Kenne ich auch – so gelegentlich … nicht oft!“

Und dann blätterst du die Seite um und bist begierig, was nun eigentlich werden wird. Du empörst dich in deinem Pharisäerherzen über diesen Hektor Belard, der daheim ein blutjunges Weib sitzen ließ und Ehebruch trieb und Kalla Mori zum Kebsweibe nahm!!

Bremse deine Empörung, – es gibt Verhältnisse, Tatumstände, die stärker sind als wir.

Lies nur weiter, und erinnere dich dessen, was dir bereits über die Wassergrotte bekannt ist …

… Über den Höhlensee mit den drei mächtigen Steinpfeilern zucken die Streifen zweier Laternen hin, tanzen auf und ab, scheinen aus den Tiefen des Beckens zu kommen, scheinen aufzuglühen in dem eng begrenzten Schlunde der heute leicht quirlenden Wellen, die durch den andauernden Zustrom neuer Wassermassen von der Bucht her erzeugt werden.

Senta, ich, Monte stehen hier auf dem stark erhöhten Ostuferstreifen. Das von Rissen und Spalten klaffende Deckengewölbe, das auf den drei Pfeilern zu ruhen scheint, enthält seine bescheidenen Geheimnisse. Senta wendet sich einem breiten Riß zu und zieht einen Kajak hervor, dem man die Fabrikware anmerkt: Paddelboot, im Rucksack zu verpacken, – – bereits zusammengesetzt, noch feucht, innen zwei Paddel, dazu eine größere Karbidlaterne, beinahe schon Luxus für diese Grotte, deren Durchmesser keine fünfzig Meter beträgt.

Senta Belard – man wird sie jetzt so nennen müssen – sagt in dem früheren frischen Ton, jedoch ohne all das Befehlshaberische, allzu Selbstbewußte …:

„Es ist der mittlere Pfeiler, Abelsen … Das Grab liegt nach Norden zu … Fahren Sie zuerst hinüber. Für uns drei ist das Boot nicht tragfähig genug.“ Diese Senta ist nicht mehr die, die wir kannten …

Ich mißtraue ihr nicht mehr, wenige Worte vorhin haben genügt, manches zu klären.

Man hat hier von allen Seiten mit kleinen Unwahrheiten, Entstellungen und Geheimniskrämerei gearbeitet, man errichtet Wände aus dunklem Stoff, aus Verschwiegenheit und Frageverbot, – man wünschte meine Parteinahme, aber – – man befehdete sich weiter bis aufs Messer. Urheberin dieses unwürdigen, zwecklosen Zustandes ist Senta, darüber besteht kein Zweifel mehr. Vor ihr aber, auch das reime ich mir zusammen, hat Jörn Jarmond irgendwie die Lage noch zugespitzt, verschärft … –

Der Kajak mit mir und Monte schießt davon, wenige Blattschläge genügen, dann ist der Steinpfeiler erreicht, ich drücke das Boot dicht an die Natursäule heran, und der Laternenschein zeigt mir auf der Vorderseite eine Aushöhlung, die man getrost Grabkapelle nennen kann.

Ich steige aus, hebe Monte heraus, dann zieht Senta den Kajak an der vorher am Bug befestigten Leine wieder zu sich zum Ufer und nimmt selber im Boote Platz, – Vorgänge, die ich nicht sehe, nur ahne, weil sie so geschehen müssen.

Die Öffnung im Pfeiler, die Gruft, enthält einen Hügel aus Steinen und Sand, der dick mit Moos belegt ist. Man erkennt sofort, daß hier eine natürliche Spalte im Gestein als Grab benutzt und sehr sorgsam abgedichtet wurde. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß die Leiche Erik Barsoels sich hier trotz der Feuchtigkeit des Sees sehr gut erhalten hat und mumifiziert wurde, da der Sand bestimmt starke Mengen von natürlichem Natron enthält. Seine Farbe ist grauweiß.

Ausgeschmückt ist dieser Felsenraum in dem mittleren Pfeiler durch zwei pyramidenförmige schwarze Steine, auf denen silberne mehrarmige Leuchter ruhen mit weißen Kerzen, ferner mit Mooskränzen an den Wänden, am Grabhügel und Kreuzen aus hellen Flechten, deren größtes zu Häupten des Hügels festgestützt ist.

Monte, der zunächst wenig Teilnahme zeigt, beginnt plötzlich eilfertig hin und her zu laufen und schießt ebenso plötzlich mit kühnem Satz in den See zurück, wobei er ein seltsam kurzes wütendes Aufheulen hören läßt.

Was ihn zu diesem Tun – er ist mir ja im Moment aus den Augen! – bewog, weiß ich nicht.

Aber nimmermüde Vorsicht mahnt mich zu äußerster Wachsamkeit.

Blitzschnell berechne ich, daß der Kajak bereits wieder zurück sein müßte, daß also Senta irgend etwas zugestoßen sein muß.

Ich begreife nur nicht, was …

In diese Grotte kann jetzt niemand eindringen, sie ist abgesperrt für die Außenwelt, zwei Wege gibt es hier hinein, beide sind unpassierbar?

Ich lösche schnell die Laterne.

Ich höre Monte knurren – – irgendwo …

Irgendwo hinter mir im anderen Teile des Grottensees, der meinen Blicken entzogen. Ich habe nur die eine, nördliche Hälfte vor mir.

Daß gerade hier an Erik Barsoels Grab vielleicht noch das Drama wirklich irgendwie recht tragisch werden könnte, will mir noch immer nicht in den Kopf.

Seltsam: Auf der quirlenden Wasserfläche zeigt sich kein Lichtschein mehr, auch nicht von der anderen Seite …

Nachdem nun meine Laterne erlosch, herrschte tiefste, dräuendste Finsternis. Ich kauere hinter dem Hügel, spähe ins Leere und horche … Ich horche, wie nur ein alter Savannenläufer horchen kann, der jedes Geräusch sofort zerlegt und wertet. Ich horche und fühle auf der Haut das feine kühle Prickeln, das so ganz anderer Art ist wie etwa die überhitzte Spannung eines eifrigen Lesers.

Gefahr!!

Das ist es …!

Man empfindet sie instinktiv, – – man wird abseits vom Alltag vielleicht ein primitiver Naturmensch nach Anschauung dekadenter Kaffeehausliteraten und Weltbeglückensvereinler, aber das Primitive gibt dir zurück, was eine kranke Überkultur dir heimlich stahl: Ererbte Instinkte!

Gefahr also …

Und ich lächele dazu …

Eine Leine klatscht ins Wasser …

Tropfen fallen von dieser Leine …

Ein sehr törichter Herr, der dort naht … Ich habe das eine Ende der Leine ja unten am Felsenpfeiler an eine Zacke geknotet, damit Senta sich nur mit der Leine herüberzuziehen brauchte samt dem Kajak.

Jemand kommt … Und der Jemand hat böse Absichten … – Mag er … Mir liegt nichts daran, hier etwa einen Schießstand zu installieren, aber den Sicherungsflügel der Büchse schiebe ich doch herum …

Ich bin bereit …

Jäh überfällt mich blendende Lichtfülle, zweifellos das Strahlenbündel der großen Karbidlaterne …

Ebenso jäh ducke ich mich tiefer, und die bleierne Wespe zerstiebt hinter mir am Gestein und beschädigt mit ihren Bleispritzern nur meinen ohnedies wertlosen Lederhut und die Lederjacke.

Also so ist es gemeint!!

Wartet, ihr Herrschaften, ihr kennt mich sehr schlecht …!

Hinter dem Grabhügel wälzt sich jemand hin und her, stöhnt, liegt still, stöhnt wieder, immer leiser, – – ist erledigt …

Ist erledigt, denkt der im Kajak …

Muß ein übler Bursche sein …

Und dumm …

Dafür kann er nichts …

Nur die heimtückische Kugel offenbarte seine Sinnesart.

Dummheit ist ein Geschenk der Götter. In diesem Falle bestimmt.

Der Kerl landet, steigt aus, beleuchtet mich.

Ich liege halb auf der Seite, kehre ihm den Rücken zu. – Mehr als die Kehrseite verdient er nicht.

Er bückt sich, will mich herumwälzen …

Will …

Spare ihm die Mühe, habe ja alles fein berechnet, und das Programm klappt von A bis Z.

Z ist der Fausthieb unter das Kinn …

Fausthieb, Marke Hammerschlag …

Das zweite Z trifft die Herzgrube, und der Bursche sackt zusammen. Ich kann nur noch die Laterne auffangen, damit die Linse nicht in Scherben geht.

Da liegt er, japst, – – es ist ein mir noch unbekannter Wikinger, ein großer Mensch mit geradezu pompöser Kapitänsuniform, sehr feinem Spitzbart und etlichen Goldzähnen, die zur Zeit den Felsboden zieren. – Nicht meine Schuld …

Man schießt nicht so niederträchtig heimtückisch auf halbwegs anständige Menschen, oder man muß es sich gefallen lassen, wie Gesindel behandelt zu werden.

„Hast du ihn, Christian?“, brüllt irgendwo irgendeiner …

Christian also …

Natürlich habe ich ihn – und wie!!

Der, der da vom Ufer her fragte, hat ebenfalls deutsch gesprochen, doch so mehr mit fremdem Akzent aus gewissen Grenzlanden.

Da das Gewölbe die Stimme verzerrt, darf ich es schon wagen, etwa in derselben Mundart zu antworten.

„Habe ihn … Komme rüber …!“

Als ob mein Ruf für einen vierbeinigen Jemand nur das Signal bedeutete: Ein Aufschrei, – – ein Poltern – – Stille, durch die nur die schwachen Schallwellen eines behinderten Knurrens kommen!

Was dort los ist, weiß ich …

Monte ist los, Monte muß den Christian-Rufer von hinten angesprungen haben und liegt nun über ihm, Zähne am Genick.

Nun – der Mann ist auch versorgt …

Ein dritter scheint nicht anwesend zu sein.

Mein dekorativer Christian wird gebunden, glotzt mich an, die Besinnung kehrt ihm zurück, und über sein braungelbes Gesicht fliegt ein Ausdruck teuflischen Hasses.

Ein so satanischer Haß blinkt in diesen hellen Augen, daß ich mir sofort sage: Hier geht es um ein Weib, wahrscheinlich um Senta!

Der „feine“ Wikinger muß zunächst, mit der Leine eng verschnürt, sich hier noch etwas langweilen.

Monte bittet durch verstärktes Knurren um Ablösung.

Schließlich begreiflich: Ein Hunderachen kann nicht ewig im Genick kitzeln, ohne wirklich zuzubeißen.

Der Kajak fliegt hinüber, und ich finde genau die Situation, die ich erwartet hatte: Ein zweiter dekorativer Schiffsoffizier in Blau mit Goldtressen gibt mir Verwendung für den Rest der Leine …

Der Herr sitzt nun im Geröll, und auf meine Frage, wo Senta geblieben, grinst er derart unverschämt, daß …

Schweigen wir.

Jedem steigt einmal die Galle ins Blut, und dieser feixende Bursche ist noch dümmer als Herr Christian.

„Monte, – – such’!“

Senta ist schnell gefunden … Senta liegt in derselben Felsspalte, die den Kajak barg, und die beiden feinen Herren haben es nicht nur beim Fesseln bewenden lassen, sondern auch einen Knebel benutzt.

Senta ist sehr bleich …

„Christiansen ist ein Schuft!!“, – – also Christian Christiansen der eine feine, der andere, erste Steuermann, Holger Holgefors.

„… Sie sind heimlich zurückgeblieben“, stößt Senta unnötig scharf hervor.

Ich beruhige …

„Stimmt – ganz unnötig … Christiansen wird einen Zahnarzt brauchen, und Holgefors eine Stirnkompresse. Die Sache ist so weit erledigt, kleines Mädel …“

„Bitte, – ich bin zweiunddreißig!“

Welche Wunder auf Kerguelenland: Eine Frau, die wie zwanzig aussieht, gibt ihr richtiges Alter an!!

Senta hat Humor und muß selber lachen.

„Genau so viel Zähne hat ein Mensch – – oder etwa so viel …“, lenke ich ab. „Christiansen hatte sie auch … Schade. – So, nun paddeln wir beide hinüber, Frau Senta, Monte bleibt bei Holgefors …“

Die Grabkapelle strahlt im hellsten Lichte …

Zwei Menschen sitzen neben dem Hügel, der dritte fühlt sich weniger behaglich.

„Also beichten Sie, Frau Senta …“

Sie hat den Kopf in die Hand gestützt …

Sie hat Christiansen keines Wortes mehr gewürdigt …

Das Grottenbecken steigt noch immer, der Orkan scheint an toller Wut noch zugenommen zu haben …

Sie beginnt … Sie macht nicht viele Worte. Ihre Ausdrucksweise ist Poesie, selbst wenn sie erregt wird. Aber sie bezwingt sich …

Und so höre ich denn den ersten Teil einer bunten Mär von Liebe, Abenteuerlust, Freundschaft und heimlichen Intrigen …

Eine Geschichte, die ich damals hätte mitstenographieren müssen …

Heute, – – ob ich die Worte finde, die Senta fand …

Vielleicht … Ich will es versuchen …

 

10. Kapitel.

Man beschwört die Toten.

… War da ein Mädel mit goldbraunen Locken, das gern auf der Hafenmole der kleinen Fischer- und Handelsstadt, hart an der Grenze nach Norden zu gelegen, mit ihresgleichen und mit wilden Buben spielte … War ein Mädel, keck und trotzig und selbstherrlich, unglaublich verwöhnt von dem einzigen Bruder, der, weil älter, jeden Tag mit seinem großen Fischkutter hinausfuhr und das Schwesterlein in Behaglichkeit aufziehen wollte.

Senta und Erik Barsoel waren eben sehr früh elternlos geworden, und so war es heilige Pflicht dieses ebenso trutzigen, selbstherrlichen Eriks, für die wilde kleine Range zu sorgen.

Hatte da diese urdeutsche Stadt, in die nur wenige Fremde von jenseits der Grenze eingeheiratet und nur wenig das kernige Deutschtum verfälscht hatten, einen Schifferadel wie all diese Nester an grünen Buchten mit blitzblanken Häusern und uralten Türmen und uralten Chroniken.

Auch die Barsoels rechneten zu dieser edlen Wikingerzunft, genau wie ihre Nachbarn, die Belards, genau wie der Käpten John Levkusen, – man hielt treue Kameradschaft, man fühlte sich schicksalsverbunden, als die Zeiten schlechter wurden und das bisher scheinbar unerschöpfliche Meer jahrelang die großen Fischzüge vermissen ließ.

Not pochte an diese und jene Tür, und so kam es denn, daß vor dem großen Kriege Levkusen all sein Hab und Gut veräußerte, den Frachtdampfer „Trinakria“ in der Versteigerung erstand und Erik Barsoel als Steuermann mit auf die Trampfahrt nach Ozeanien nahm, wo er mit den Eingeborenen der zahllosen Inselgruppen noch günstige Geschäfte abzuschließen hoffte.

Inzwischen war aus dem goldbraunen Wildling Senta ein flügges, verliebtes Mädel geworden, weit über ihre eben erst sechzehn Jahre hinaus reif an Seele und Körper, aber noch immer von einem Temperament überhitzt, das aus spielerischer Laune und einer gewissen Freude am Herrschenwollen den ernsten, gediegenen Hektor Belard das Freien recht schwer machte. Da waren unter der Unzahl ihrer Bewerber auch einige, die schnell aus Eifersucht Haß ummünzten, als die jugendstrahlende Senta nun doch vor des Bruders Ausreise kurz entschlossen dem stillen Hektor Belard die Hand zum Lebensbunde reichte.

Die „Trinakria“ ging in See, auf der Mole stand der ganze Schifferadel, winkte freudige Grüße hinterdrein, – abseits hielten sich Christian Christiansen, halber Landfremder, mit seinem Anhang.

Viele gab es im Städtchen, die diesem Christiansen und seinem Freunde Holger Holgefors alles Schlechte zutrauten. Zu diesen vielen gehörte leider die sonst so kluge reife Senta durchaus nicht, obwohl sie wußte, daß ihres jungvermählten Gatten Familie gerade von den Christiansens heimlich und heimtückisch angefeindet wurde.

Wochen verstrichen.

Spärlich kamen Nachrichten von der „Trinakria“, sehr spärlich, bis sie ganz ausbleiben.

Und dann …

„… Abelsen, eines Morgens war’s, als Christiansen scheinbar sehr aufgeregt, scheinbar voller Teilnahme bei uns erschien, hineinplatzte in unser junges Eheglück mit einer französischen Zeitung …

Abelsen, Hektor und ich, dazu Gwenda, die mir mehr als nur Schwägerin war, der ich, selbst noch so jung, die Mutter zu ersetzen verstand, starrten mit bleichen Gesichtern den Unglücksboten an.

Was brachte der Bote?! – Eine Schreckenskunde, eine Nachricht, die wir gar nicht fassen konnten … John Levkusen und Erik und die ganze Besatzung waren von einem französischen Schiffe wegen unerlaubter Robbenjagd hier an den Küsten von Kerguelenland und wegen bewaffneten Widerstandes zur Deportation verurteilt worden, für lebenslänglich, nach Neukaledonien …! Die „Trinakria“ selbst sollte gesunken sein, die französischen Auslandsmeldungen berichteten von offener Piraterie, lehnten jede Einmischung deutscher Behörden ab …

Abelsen, Sie ahnen nicht, was mir Erik als Bruder galt … Ich vergötterte ihn, und trotz meiner heißen Liebe zu meinem stillen, wortkargen Gatten, der das Leben so überaus ernst nahm, verstand es der Mensch da, den ich nun endlich durchschaut habe, mich derart zu beeinflussen, daß ich von Hektor forderte, er solle Erik zu befreien versuchen …“

Sentas glühende Augen hatten den gefesselten Christiansen gestreift … Und der Verräter und Intrigant hatte noch tiefer den Kopf gesenkt und sich nicht gerührt, wagte kein Wort der Verteidigung mehr.

„… Er hetzte mich auf, Abelsen, – – und wie gut verstand er es …! Er redete von Freundespflicht, denn Erik und Hektor waren ja wie Brüder gewesen … Er wußte, daß Hektor soeben durch eine Erbschaft zu Geld gekommen, – – und ich?! – – Mich empörte meines jungen Gatten bedächtiges Prüfen und Abwägen, mich empörte seine tagelange Untätigkeit, und mit dem Zeitpunkt, Abelsen, setzte die Entfremdung zwischen uns ein … Heute gebe ich zu: Er war der Besonnenere, Klügere, er litt unter meiner Kälte, er warnte vor Christiansen, und – – er goß damit nur Öl ins Feuer … Nach einer stürmischen Szene zwischen uns erklärte er mir in seiner unerschütterlich ruhigen Art: „Du hast keinen Grund, meine Entschlossenheit anzuzweifeln … Ich habe bereits drüben in der Hafenstadt einen billig zum Verkauf ausgeschriebenen schnellen Dampfer erworben … Morgen steche ich in See … Hüte mir Gwenda!“ – – Abelsen, das traf mich wie ein Faustschlag, das war für mich die Widerlegung all dessen, was ich Hektor zum Vorwurf gemacht, das entsprach aber auch durchaus dem verschlossenen Charakter Hektors, der meinem aufbrausenden Temperament stets seine eiskalte klare Überlegung und Überlegenheit entgegengestemmt hatte ohne besondere Kraftanstrengung … – Es kam zu keiner wahren Aussöhnung zwischen uns, der Riß war bereits zu tief geworden, wir schieden beide voneinander als Schwerenttäuschte, wir – – sollten uns viele Jahre nicht wiedersehen …“

Bisher hatte sie wohl der Nähe des mißgünstigen Christiansen wegen ihre Fassung mühsam bewahrt.

Was sie weiter sprach, wurde von Tränen und mühsam unterdrücktem Schluchzen halb verwischt. vieles mußte ich erraten.

„Die Fortsetzung, Abelsen? – Gerade damit könnten Sie mich verschonen, wenn nicht Jörn Jarmond, den Sie den alten Robinson nennen, genau wie Hektor, Gwenda und Käpten Levkusen sich alle Mühe gegeben hätten, den Tatbestand durch starres Schweigen oder gar durch bewußte Entstellungen, wie mir sehr wohl bekannt, noch undurchsichtiger zu gestalten. Auch ich habe mein Teil dazu beigetragen, nur daß ich für mich die eine Rechtfertigung bereithalte: Ich kämpfte um die Wahrheit!“

Und dies stieß Senta bereits wieder mit jener Stimme hervor, die ihr ungestümes Draufgängertum verriet. Doch sie mäßigte sich sofort wieder, – es war nur ein Rückfall in ein altes Leiden, und seelisch sichtlich zermürbt sprach sie nun über Jörn Jarmond, den würdigen Greis mit den jungen Augen und dem weltklugen, etwas schmerzlichen Zug in dem so hageren, so braungegerbten Gesicht.

„… Zum alteingesessenen Schifferadel unseres Grenzstädtchens gehörte auch Jörn Jarmond, der sich gern für sich allein hielt, der trotzdem alles wußte, alles kannte, alles verzieh – ein großer Lebensphilosoph, der volle vierzig Jahre kaum jemals von den unsicheren, geliebten Planken eines Ozeanseglers heruntergekommen war. Alle achteten ihn, alle, – mit allen stand er auf freundschaftlichem Fuße, und doch spürten auch alle sein geistiges und charaktermäßiges Übergewicht. Zu meinem Erstaunen hatte Hektor auch Jörn Jarmond bereits für seine abenteuerliche Befreiungsfahrt gewonnen, was mich umso mehr wunderte, als der alte Käpten abseits der Stadt wie ein Einsiedler hauste und seine Rosenstöcke und Spalierbäume mehr zu lieben schien als selbst das weite Meer, dem er seine Jugend geopfert hatte. Mein Staunen wurde zu hellem Jubel: Jörn Jarmond war ja für uns so etwas wie eine oberste Gottheit, wie ein Wundertäter. Mit seiner Hilfe würden Erik und die übrigen befreit werden, – in meines Herzens gläubiger Seligkeit machte ich einen letzten Versuch, mich mit Hektor vollends auszusöhnen! Sollte ich denn meinen Mann wie einen mir Entfremdeten ziehen lassen?! – Abelsen, Abelsen, es ist ein harter, dickköpfiger Schlag, die Leute von da oben … Zu hart …!“

Sie preßte die Lippen fest zusammen. Ich ahnte, daß sie sich jetzt einer Szene erinnerte, wo sie abermals als liebendes Weib kühl abgewiesen worden war.

Ohne jeden Übergang sprach sie von der Jacht „Elbfeuer“, die Hektor Belard so schnell und insgeheim erworben hatte. „Das Schiff brauchte einen Mann mit Kapitänspatent für große Fahrt … Da sprang eben Jörn Jarmond ein … Hektor selbst konnte nur Steuermann, Schiffsoffizier werden. Mit zwölf Mann ging „Elbfeuer“ in See, doch Zweck und Ziel der Reise wurden verraten – irgendwie. Heute kenne ich den, der den Angeber aus Eifersucht spielte: Christiansen! Er wollte auch Hektor aus dem Wege schaffen, wie er es vordem mit Erik und Levkusen getan. Es ist so …!!“

Der Gefangene hinter uns, hinter dem Grabhügel, hatte ein höhnisches Lachen ausgestoßen.

Und da war Senta herumgeschnellt … Da enthüllte der Laternenschein ihre tränenfeuchten Züge, die setzt in heller Empörung zuckten.

„Sie … Sie wagen es noch zu lachen!! Schamlos sind Sie, ein schamloser Verräter, – – ich wünschte, daß mein Bruder sich hier aus seiner Felsengruft erhöbe und …“

Sie hatte sich bereits wieder abgewandt, ihr Blick ruhte wieder auf der unruhigen, quirlenden Wasserfläche zu unseren Füßen …

Nicht grundlos schwieg sie jäh, nicht ohne Ursache entschlüpfte ihren Lippen ein zitternder Schrei:

„Abelsen, – – um Gott, ich habe die Toten beschworen!!“

Der großen Laterne klares Licht erhellte diese Hälfte des Grottenbeckens, und dort in der glitzernden, von frisch zuflutendem Wasser ewig ruhelosen Tiefe waren ein Frauenkopf, ein Teil des Oberkörpers und ein Rettungsring aufgetaucht, in dem die Unglückliche leblos hing und von der Strömung zweifellos durch den unterirdischen Kanal hier in diese Felsenhöhle hineingezogen worden war.

Mein eigener Herzschlag setzte aus, – –: Die Frau war Kalla Mori, die Farbige, die Mutter der Kinder Hektor Belards, dessen rechtmäßige Gattin hier an meiner Schulter lehnte und die Fäuste bebend gegen die Schläfen preßte, als ob ihr der feine Kopf springen wollte vor der Überfülle der anstürmenden Gedanken, die … eine Tote heraufbeschworen hatte, und gerade die farbige Frau, die irgendwie in Hektor Belards dunkles Sträflingsdasein eingegriffen hatte, – – irgendwie …

Der Anblick der still dahintreibenden Leiche war erschütternd, meldete eine Katastrophe, die ja vorauszusehen gewesen.

Im Nu war ich unten im Kajak …

Im Nu hatte ich den Körper Kalla Moris geborgen. Er war böse zugerichtet, die Kleider waren zerfetzt, aber das Gesicht war unverletzt, und in den gebrochenen Augen lag ein tröstender Ausdruck einer fast freudigen Hinnahme dieses endgültigen Geschicks, während um die Lippen ein wehmütiges, gütiges Lächeln spielte.

Senta schaute regungslos zu, wie ich den Leib ihrer verhaßten Feindin mit meiner Jacke bedeckte. Sie hatte die Hände gegen das Herz gepreßt, sie fühlte wohl ihr Gewissen schlagen, und offenbar hatte sie die Fähigkeit zur richtigen Einschätzung ihrer selbst verloren …

„Ich bin schuld an ihrem Tode …“, murmelte sie …

„Niemals!“, widersprach ich energisch. „Hier hat das Schicksal eingegriffen … Glauben Sie mir, Kalla Mori ist gern gestorben, ich habe ja Gelegenheit gehabt, sie auf Jörns Insel und auf dem dort versteckten Dampfer „Trinakria“ zu beobachten … Diese Ärmste litt unendlich, – – weshalb, das werden Sie besser wissen, Frau Senta, denn Sie werden die Gelegenheit kaum unbenutzt gelassen haben, diese Unglückliche auszuforschen, und ich bin überzeugt, sie hat Ihnen die volle Wahrheit gestanden, die sie vielleicht rechtfertigen konnte und ebenso Hektor Belard, der nach allem, was Sie über ihn mir berichteten, niemals ein leichtfertiges Spiel mit einer Eingeborenen der Sträflingsinsel begonnen haben kann. Angesichts dieser Toten, Frau Senta, die Ihnen nun den Weg freimachte zum Herzen Ihres Gatten, bitte ich Sie: Seien Sie weder zu schnell bereit, eine Verantwortung zu tragen, die Sie nicht zu tragen brauchen, noch verhehlen Sie mir auch nur das Allergeringste …!“

Sie lächelte nur bitter-schmerzlich. „Als ob ich zum Verschweigen noch den Mut fände, Abelsen …! – – Aber, – – sehen Sie, – – sehen Sie nur, das Wasser steigt ungewöhnlich schnell, es benetzt bereits den Rand dieser Grotte … Wie erklären Sie sich das, wie nur?! Der Spiegel der Bucht draußen liegt doch gut fünf bis sechs Meter tiefer als diese Grotte, und …“

Ein Wink brachte sie zum Schweigen …

Ich horchte …

Und was ich hörte, forderte schleunigste Sicherheitsmaßnahmen.

 

11. Kapitel.

Erik Barsoels letzte Botschaft.

… Was ich hörte, war Montes bekanntes Winseln – als erstes.

Solche Töne stößt er nur aus, wenn er sich in Not befindet, wenn er von mir Hilfe erwartet!

Und das zweite, weit Bedrohlichere: Das war ein Plätschern und Rauschen, als ob mit einem Male hier in der Wassergrotte ein Gießbach, gespeist durch eine mächtige Quelle, seine Schleusen geöffnet hätte.

Abermals sprang ich in den Kajak, der nun bereits mit unseren Füßen in einer Höhe schwamm.

Eine der Laternen nahm ich mit, ruderte mit voller Kraft, sah das Unheil, das Unglaubliche, fast Sinnverwirrende:

Aus der Mündung des Stollens quoll ein Strom Wasser hervor, vermischt mit Eisstücken, Seetang, toten Pinguinen …

Eine grausige Flut …

Eine Flut, die auch Monte und den gefesselten Holger Holgefors bereits durchnäßt hatte!

Was mußte da draußen in der Bucht nur geschehen sein, was wohl?!

Sturmflut, – also jähes Ansteigen der Küstengewässer weit über das normale Maß?! Nur das?!

Nein, – dies war mehr als nur windgepeitschte Meeresfülle der Bucht, dies war anderen Einflüssen zuzuschreiben, und die hießen: Springflut!

Also ein katastrophales Aufbäumen des Ozeans, das auf Einflüsse aus dem Weltenraum zurückzuführen war, auf den Mond, wie viele annehmen, was keineswegs erwiesen.

Ich weiß es nicht.

Ich hatte Springfluten erlebt, die urplötzlich Wassermauern von zehn Metern Höhe auftürmten und diese Mauer dann als vernichtende, endlose, einzige Woge in die Ferne oder gegen die Gestade schickten, – und zehn Meter ist noch bescheiden angegeben, ist nicht übertrieben … Es sind Springfluten von doppelter Höhe beobachtet worden. Die Küsten der Halbinsel Florida wissen ein trübes Lied davon zu singen, und jene Luxusbuden, die dort entstanden, sind oft genug als Trümmerhaufen zurückgeblieben, Schiffe fand man meilenweit im Binnenlande, Luxusjachten landeten auf Hoteldächern, und der Todesopfer waren es dann Hunderte, Aberhunderte!

Also Springflut …!

Und wenn der Felsenschlauch der Bucht draußen etwa bereits bis zur Hälfte gefüllt war, dann … dann mußten wir hier ertrinken, dann würde diese Grotte in vielleicht zehn Minuten neue Tote bergen …

Vielleicht …!

Ich gab den Kampf nicht auf gegen dieses Verhängnis …

Holgefors, der Wikingerbandit, wurde im Kajak verstaut. Monte schwamm nebenher.

Jetzt war die Höhle hier kein stilles Plätzchen der Andacht mehr …

Immer toller gurgelte der Wasserstrahl aus der Stollenmündung hervor, immer zahlreicher wurden die zertrümmerten Stücke von Eisschollen, die diesen wilden Tanz mitmachten.

Die Hölle war los …

Einer Hölle war ich entronnen …

Eine andere hatte mich eingefangen …

Und ebenso urplötzlich dann etwas wie ein dumpfer Knall …

Ein dröhnendes Brüllen, das aus dem Tunnel kam, den wir vor kaum einer halben Stunde noch kriechend passiert hatten.

… Ein Knall wie von einer Explosion …

Und doch keine Explosion … Etwas Ähnliches, – das zeigte mir das eigene Auge, das gebannt an der Stollenmündung hing.

Ein Eispfropfen, der bisher den Tunnel noch zum größten Teil abgedichtet hatte, war unter dem übermäßigen Druck der Wassermassen herausgestoßen worden!

Und welch ein Druck mußte diesen Pfropfen gelöst haben!!

Aus dem Loche flog ein Schrapnell von Eisstücken hervor, gefolgt von einer kompakten Wassermasse, wie aus dem Strahlrohr einer Spritze.

So ungeheuer mußte der Druck der Buchtwasser sein, daß dieser Strahl im flachen Bogen im Becken plätschernd und zischend und gurgelnd landete …!

Nun hatte also diese Grabhöhle hier zwei Zuflüsse für das Übermaß dieses unerwünschten Meeressegens, nun gab die Bucht von ihrem unerwünschten Segen auch uns etwas ab – – etwas, – – zu viel!!

Das Wasser stieg rapide …

Als ich am Mittelpfeiler landete, standen Senta und Christiansen bereits bis zu den Knien im Wasser, und der Kajak stieß gegen Erik Barsoels Grabhügel.

Wo trockener Boden gewesen seit vielen Jahren, da war nun das Meer gekommen frech und kühn und schonte selbst die Gebeine der Toten nicht!

Christian Christiansen, den Senta die Fesseln abgenommen hatte, hielt Kalla Moris Leiche in den Armen.

Sein Gesicht war vielleicht infolge dieser Naturereignisse in jedem Zuge, in jeder Linie verändert worden.

Für jeden, der einmal vom Wege abirrte und den rechten Weg nicht wiederfand, gibt es eine Stunde der Schicksalswende, der inneren Einkehr, gibt es einen grell beleuchteten Wegweiser: „Kehre um!! Das ist Einkehr!! Finde dich zurück zu dir selbst!“

Was war Christiansens Schuld und Schuldursprung?

… Eifersucht, Liebe …!!

Gewiß, das Unfertige, die Voraussetzung zum Schlechten, mochten bereits in ihm geschlummert haben: Erbteil, ererbte Unzulänglichkeit!

Jetzt hatte er den Wegweiser gesehen, und die Last, die er sorgsam im Arme hielt, war die Peitsche, die ihn unaufhaltsam zurücktrieb von der unrechten Straße auf die schmale, dornigere Bahn derer, die ihr Gewissen rein erhalten wollen.

Ich sah es dem Blick seiner Augen an, daß der Mann als Gegner nicht mehr zu fürchten.

Er war besiegt, niedergebrochen, – er fürchtete nicht den Tod, wohl aber die Folgen seiner Verräterei, die sich nun auch hier an uns auswirken könnten.

Senta war bleich, gefaßt …

Das Wasser stieg …

Es stieg allzu schnell …

Christiansen ruft mir zu:

„Man kann den Felsenpfeiler an der linken Seite neben der Grabgrotte bis unter das Deckengewölbe erklimmen, Herr Abelsen …“

Und Senta fügt hinzu – ohne viel Hoffnung:

„Es wäre eine Galgenfrist, nichts weiter …“

Daß diese mächtige rissige Steinsäule überall genügend Halt für Hände und Füße bietet, habe ich längst gesehen.

Ich wate zum Grottenrand, beuge mich hinaus und beleuchte das Gestein.

Frage schnell: „Frau Senta, suchten Sie auch dort oben nach irgendeiner Niederschrift Ihres Bruders?“

„Ja … Christiansen war emporgestiegen …“

Der bekehrte Wikinger ruft beschämt:

„Ich habe Sie belogen, Frau Belard … Ich fand etwas … Eine Zinkröhre, wie sie zur Aufbewahrung von Fieberthermometern in den Tropen benutzt werden … – Verzeihen Sie mir … Hier ist die durch Wachs wasserdicht verschlossene Röhre …“

Im Augenblick habe ich wenig Interesse für derartige „Testamente“ … Gewiß, Erik Barsoels letzte Aufzeichnungen können sehr aufschlußreich sein, – uns jedoch sitzt der Tod im Nacken, die Kälte des Wassers, das mir nun bereits bis zu den Hüften reicht, mahnt an anderes.

Nochmals beleuchte ich die Pfeilerwand …

„Christiansen, legen Sie die Toten in den Kajak, auch Monte muß in das Boot“, befehle ich kurz …

Und doch bin ich nicht recht bei der Sache, wenigstens nicht in dem Maße, wie unser Geschick es zu erfordern scheint …

Trotzdem ist mein ganzes Sinnen und Trachten nur auf eine Rettungsmöglichkeit gerichtet.

Denn – an dem Felsenpfeiler, das sehe ich, rieselt von oben Wasser herab in dünnen Streifen, woraus sich zweierlei folgern läßt: Erstens, – die Bucht muß tatsächlich durch angestautes Wasser bis über die Grabkreuze droben gefüllt sein, und zweitens, – die Höhlendecke, durch die die Felsenpfeiler hindurchreichen, kann nicht vollkommen wasser- oder luftdicht abgeschlossen sein!

Bald wird es sich zeigen, ob ich recht behalte.

Ich habe die Büchse Senta übergeben, ich beginne den Anstieg, Wassertropfen klatschen auf meine Mütze, das Gestein ist feucht und glatt, aber die Risse sind tief, Vorsprünge erleichtern die ungemütliche Kletterpartie, – – endlich bin ich dicht unter der Gewölbedecke, sitze im Reitsitz auf einer Felszacke und richte die Laternenlinse auf das zerklüftete Urgestein, das mit der Decke in eins zu verschmelzen scheint.

Ich erkenne sofort die Stelle, wo offenbar Christiansens eilige Hände ein Loch, das durch Geröll verschlossen gewesen, freigelegt haben …

Hier in diesem Loche muß die Zinkröhre untergebracht gewesen sein. Christiansen hat sich sehr töricht benommen, er hätte das Loch wieder schließen sollen … Denn als ich es nun noch sorgfältiger ableuchte, finde ich darin eine Ritze, die sich schräg nach oben zieht und in der ebenfalls bereits ein Bächlein bescheidenster Art abwärtsrieselt, zu meiner größten Überraschung einen metallenen Ring, – es kann Eisen sein.

Ich sehe ihn nicht, ich fühle ihn nur …

Ich fühle, taste mit langgereckten Fingern noch höher …

An den Ring ist eine dünne Kette geschmiedet, die sehr straff gespannt ist, – auch der Ring selbst ist eng festgeklemmt, jedoch leicht fest anzupacken. Man könnte daran ziehen, man könnte, wenn man – – unüberlegt handeln wollte …

Ich hüte mich vor derartigen Experimenten, wenigstens vorläufig. Ich weiß ja, daß wir noch mindestens eine Viertelstunde vor dem grimmen eisigen Wasser sicher sind, daß wir alle hier dicht unter der Gewölbedecke einen Sitzplatz finden werden und daß jede Springflut nur kurze Zeit derartige Wassermengen aufzustauen vermag.

Ich beleuchte also die eigentliche Grottendecke neben dem massiven Pfeiler.

Ich lasse mir Zeit …

Wer auf irgend etwas hofft, muß sorgsam prüfen. Nicht nur mit den Augen. – Da sind ebenfalls Spalten, Zacken, Risse … Da ist aber auch schräg über mir, mehr nach Westen zu (ich hocke hier an der Nordseite des Pfeilers) eine verräterisch-glatte, anders geartete Steinfläche – wie die glatte Fratze irgend eines Intriganten …

Und an den Rändern dieser sehr unregelmäßig geformten Intrigantenfratze wachsen grüne Moosstreifen, deren schmale Bänder deutlich beweisen, daß die Wurzeln der Moospolster nach oben in weiches, nahrhaftes Erdreich gedrungen sind.

Mithin?! – Ja, mithin könnte ich an dem Ringe ziehen, und ich bin überzeugt, daß dann mit dieser glatten Fläche irgend etwas geschehen würde.

Da …

„Machen Sie mir Platz, Abelsen …!!“

Herrisch, erregt klingt Frau Sentas Stimme.

Ich helfe ihr, – wir sitzen einander gegenüber auf der Felsnase … Dicht gegenüber …

Durch die Moospolster, die voller Wasser gezogen sind, tropft die Nässe herab … Tropft klatschend auf unsere Ledermützen und Felljacken …

Frau Senta strengt ihre fiebernde Stimme unnötig an … Gewiß, die Riesenfontäne drüben arbeitet noch immer, unter uns schillert die Wasserfläche von Eisstücken, deren Kanten scharfe Lichter aufblitzen lassen …

Und – das Wasser steigt …

Gleichgültig, – – mag es steigen …

Ich horche nur, ich höre nur …

„Abelsen, … ich habe die Röhre geöffnet … Ich habe Eriks, meines Bruders Niederschrift gefunden … gelesen, Abelsen … gelesen! Bevor ich Ihnen den Inhalt mitteile, will ich preisgeben, was ich zu sagen mich schämte …, ganz kurz sagen: Jahre hörte ich nichts von Hektor, meinem Gatten, der mit Jörn Jarmond ausgezogen war, Erik zu befreien. Ich wußte nun, daß auch Hektors Jacht „Elbfeuer“ für verschollen galt, daß auch er und der alte Jörn meines Bruders Schicksal teilten als Sträflinge … Das wußte ich … – Und dann geschah etwas, was ich zuerst nicht begriff: Eines Nachts verschwand Gwenda aus unserem Städtchen, und niemand fand ihre Spur. Sie war gegangen – – heimlich, ohne Abschiedswort, hatte nur das Allernötigste mitgenommen … – Das ist genau zwei Jahre her, Abelsen … Nur zwei Jahre …!!“, wiederholte sie mit ungeheurer Bitterkeit. „Aber die Gesamtzeit, in der ich dieses Leid ertrug, beträgt vierzehn Jahre, – – sogar genau gerechnet vierzehn Jahre und fünf Monate … – Also Gwenda, meine Schwägerin, verschwand … Und nach einiger Zeit geschah es, daß Christian Christiansen, der immer den ergebenen Freund gespielt hatte, obwohl er oft viele Monate verreist war, zu mir kam und mir die angeblich untrüglichen Beweise überbrachte, daß auf Neukaledonien und nachher hier auf Kerguelenland folgendes geschehen sei:

All meine Verwandten und Freunde, also auch Erik und mein Gatte, seien mit Hilfe der Tochter eines Eingeborenenhäuptlings entflohen, zuerst sei meinem Mann die Flucht geglückt, er brach mir die Treue, und die farbige Häuptlingstochter Kalla Mori gebar ihm Zwillinge, die er mit sich nach Kerguelenland, also hierher, nahm … Dann seien Erik und zwei Leute der Besatzung des Dampfers „Trinakria“ ebenfalls nach Kerguelenland geflüchtet und – – von meinem Gatten ermordet worden, – – begreifen Sie: Ermordet, Abelsen!! – Christiansen zeigte mir ja die Photographien der Gräber, Christiansen war in aller Heimlichkeit hier gewesen, Christiansen behauptete nun, daß Käpten John Levkusen in Hektors Auftrag Gwenda in aller Stille aus unserem Städtchen abgeholt habe – zu ihrem Bruder, zu meinem Gatten also, der sich in kultivierten Ländern nicht mehr zu zeigen wage. – Abelsen: Mord, und ich glaubte daran!! – – Ich besaß Geld genug, ich kaufte – welches Satyrspiel um die Person meines Bruders!! – die Motorjacht „Adler“, ich übergab Christiansen das Kommando, er stellte die Besatzung zusammen, wir fuhren in größter Heimlichkeit hierher, wir fanden das sichere Versteck drüben auf der Nachbarinsel, und …“

„Ich weiß …“, winkte ich schnell ab … „Die Dinge sind mir nun völlig klar, Frau Senta … Trotzdem, – die Neugierde, auch das Letzte zu erfahren, zerfrißt mich … Ich verstehe Ihren Seelenzustand, mir ergeht es nicht anders … – Lesen Sie mir Eriks Niederschrift vor … Ich leuchte Ihnen.“

… Und zu alledem diese Umgebung …

Zu alledem diese glockenförmige Felsengrotte mit dem unerbittlich steigenden Wasser, mit dem donnernden, polternden, brausenden Gießbach, mit dieser blinkenden Flut unter uns und dem Tropfenfall von oben …

Eine fast gespenstige Szenerie … Und doch als Bühnenbild, so recht geeignet für diese unglaubliche, seltsame, fast groteske Lösung dieser Tragödie von irrenden, büßenden Menschenherzen.

Senta drückt das Papierblatt dicht an den Leib … Und las fliegenden Atems:

„Kerguelenland, im Oktober 192…

Wir drei, zwei Matrosen der „Trinakria“ und ich, sind nun gleichfalls dem Mori-Stamme entflohen und durch Hektor hierher gebracht worden, – nur noch Gerippe, verseucht vom Fieber, krank, kraftlos – zu kraftlos, um in dieser rauhen, gesunden Luft genesen zu können. Ich jedenfalls fühle den Tod nahen … Ich habe Hektor gebeten, mich in der Aushöhlung dieses Steinpfeilers der Grotte beizusetzen … Mit letzter Kraft schreibe ich dies – – für alle Fälle! Hektor würde es nie dulden, daß ich derart für ihn Partei nehme und dadurch deine schwesterliche Liebe verlöre, Senta! Für dich schreibe ich dies nieder, – möge ein Zufall dir dies vor Augen bringen, damit du deines Gatten Verhalten milder beurteilst, der fest entschlossen ist, ein Verschollener zu bleiben – auch für dich! – Senta, ihm danken wir unsere Freiheit, er opferte sich. Kalla Mori und ihr Stamm verborgen uns unter der Bedingung bei sich, daß er des farbigen Mädchen Geliebter wurde. – Sei gerecht, Senta! Es ging nicht nur um seine Freiheit, sein Leben, sondern um uns alle! Es war ein Opfer von ihm, daran ist nicht zu deuteln, – es war kein Treubruch an dir! Und dennoch leidet er darunter, leidet unendlich schwer, ist noch stiller, verschlossener geworden … – Meine Kraft erlahmt, Senta … Ich weiß, es ist aus mit mir, ich werde sterben. Sollte je die Stunde kommen, wo du etwa doch durch Schicksalsfügung mit Hektar wieder vereint wirst, dann verzeihe ihm, – – denn er war treu – dir treu, uns treu!! – – Lebe wohl … Mag dir ein Höherer zu einem friedlichen Glück verhelfen. –

Dein Bruder Erik.“

 

12. Kapitel.

Meine Familie, mein Abseits.

Das Grab der Namenlosen …

Ich habe keine Namen, nichts auf den Grabkreuzen gefunden, als ich sie zum ersten Male sah. Ich sah nur einen jungen See-Elefant, der dort zwischen den ungeheuren Basaltklötzen sich vorwärtsschob, und die sturmzerfetzten Kränze …

Heute?!

Alles ist so anders … Die Folgen der Springflut sind weggewischt, die Sonne scheint, mein Lederzelt steht oben am Buchtufer … Vor dem Zelt spielen drei fette Wölflein auf dem Rücken Montes, ihres Vaters, – daneben steht die friedfertige Ziege …

Lagerleben …

Und auf der Bucht schwimmt die weiße Jacht, Menschen eilen hin und her, – jeder hat seine Beschäftigung.

Auch der Schwätzer Kituri …

Er kocht Mittag, er bratet Fische über dem offenen Feuer neben dem Zelt und singt dazu ein malaiisches Lied.

Ja – alles so anders …

Eriks letzter Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Zwar nicht so leicht, wie das Geschick sonst wieder Liebende zusammenführt.

Nein, – es gab noch bittere Minuten für uns in der unheimlichen Felsenfalle, deren Wassermassen sich erst senkten, als wir, die Eingesperrten, hoch droben am Mittelpfeiler klebten und die Flut uns gierig nachrückte, als ob es doch kein Entrinnen mehr geben sollte.

Und kurz bevor ich feststellte, daß das Wasser langsam, ganz langsam sank, dröhnten plötzlich über uns dumpfe Schläge, unter deren Wucht die glatte Fläche, die mir sofort so verdächtig vorgekommen war, erbebte und zu splittern drohte. Da erst wagte ich es, – da erst packte ich den Ring, zog daran, zog noch stärker, und – – allmählich klappte die zackige Platte herab, und Tageslicht drang herein, und ein Mann, der eine schwere Axt in den Händen hielt, beugte sich über die Öffnung: Hektor Belard!!

Dann sah er uns, – dann ein Schrei der Erlösung:

„Gott sei es gelobt, – – ihr lebt!!“

Und ein zweiter Schrei antwortete ihm – heller, sehnsüchtiger, glückseliger:

„Hektor, – – verzeihe mir …! Erik hat mir die Wahrheit verraten, – ich beschwor die Toten, und ein Toter gab mir das Glück, und eine Tote ging still aus dem Wege, damit wir uns ohne Scheu ein neues Glück schaffen könnten …“

… Möglich, daß Senta sich noch herzlicher ausdrückte … Möglich, daß ich sehr energisch mithalf, daß Hektor sein Weib in die Arme nehmen und an sich pressen konnte, als wollte er sie nie mehr freigeben …

– Reden wir von Tatsachen … Erweisen wir den Opfern der Springflut letzte Ehre: Von den Insassen der Pinasse, die den alten Jörn und Kalla Mori zur weißen Jacht bringen sollte, lebte keiner mehr, ward nur noch Kalla Mori als Leiche geborgen …

Der greise Jörn Jarmond, dieser gütige mitfühlende Mann, der Kalla Mori und ihre Kinder nach Kerguelenland gebracht und nur Gutes gewollt hatte, als er Hektor Belard durch Gwenda langsam auf die Anwesenheit seiner Geliebten und seiner Kinder vorbereiten lassen wollte, – der greise Jörn ward nie gefunden, sein Grab wurde das Meer, das er fast vierzig Jahre lang durchkreuzt hatte …

Kalla Mori haben wir neben Erik Barsoel in der Grotte im großen Steinpfeiler bestattet, – so war es Sentas Wunsch …

Kalla Moris Töchter werden nun sehr bald heimkehren mit Vater und Stiefmutter und Käpten Levkusen und wohl auch mit Freund Kituri, der nun einmal sein Herz endgültig verloren hat, in das Fischerstädtchen droben in Deutschland am rauschenden Nordmeer.

Bald …

Es ergeht mir ja stets so: Menschen kommen aus dem endlosen Nichts der Gegenwart auf meinen Abseitspfad, halten eine Weile mit mir Schritt, – – und biegen wieder ab … heimwärts, nachdem ihr Leid getröstet, ihre Torheit ausgeglichen und ihre Sinne sich dem Alltagstrott wieder angepaßt haben.

Zufallsabenteurer sind es …

Und ich?!

Arm in Arm tauchen da plötzlich Hektor und Senta vor mir auf.

„Abelsen, Sie müssen uns begleiten“, fleht Frau Senta … „Morgen gehen wir in See …!“

Und ich?!

Ich erwidere ernst: „Ich begleite Sie, meine Freunde, – – in Gedanken …! Und wenn ich dann allein hier bin auf Kerguelenland, werde ich wieder Nomade spielen und mit meiner Karawane südwärts ziehen, wo die beiden ewigen Gletscher winken und das ganze unbekannte Hochland der Kergueleninsel … – Oh, nicht allein ziehe ich, Frau Senta … Monte ist bei mir, und Monte …, aber über die Intelligenz von Hunden wollen wir nicht sprechen. Ich bin wirklich ein unverbesserlicher Naturfreund, Weltentramp und Tierliebhaber … Ich komme vom Abseits nicht los, liebe Frau Senta … Ich liebe es, wie Sie Ihren Hektor lieben, und wenn meine Füße diesen unberührten Boden des Abseits unter sich spüren, dann sind dies, Frau Senta, vielleicht die Küsse, die Sie Ihrem Gatten spenden …“

Das glückliche Paar vor mir bittet nicht mehr. Es wäre ja doch umsonst …

Wir schauen nur ganz still zu, wie Montes drei Kinderlein mir vertrauensvoll auf den Schoß krabbeln …

Und da begreifen sie vielleicht, daß ich diese Tierchen doch nicht dem trostlosen Schicksal überantworten darf, in einer zivilisierten Stadt auf Polizeibefehl in einen Käfig gesperrt zu werden …

Das Abseits kennt keine Käfige …

Ich kenne nur die Schönheit der Natur, die freie Weite und das Glück, ohne eine paragraphierte Gerechtigkeit leben zu dürfen …

Und das ist viel wert.

Bezweifeln Sie das?! – bitte, dann lernen Sie einen Kerguelensommer kennen, wie ich ihn kennen lernte …

Kerguelensommer, – – Sie wissen doch …: Sturm, Schneetreiben, Kampf mit den Elementen!

… Das Abseits eben …

Mein Abseits …

Mein Glück …

 

Nächster Band:

Das Reich der Toten.

 

 

Anmerkungen:

  1. Buchtitel auf der Umschlagseite: „Das Grab des Namenlosen“.
  2. Eine Zeile doppelt, dafür fehlt hier eine andere. Text sinngemäß ergänzt.