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Das Herz von Stein

 

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

 

Band 391 (Band 23)[1]

 

Das Herz von Stein

 

Roman von

Swea von Münde

 

Verlag moderner Lektüre
G. m. b. H.
Berlin SO16, Michaelkirchstraße 23a

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten.
Copyright 1921 by Verlag moderner Lektüre
G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Jugendliebe.

Rechtsanwalt Meinke schlenderte durch die Straßen Münchens und nahm Abschied von all den lieben, vertrauten Stätten, die vor nunmehr zehn Jahren dem jungen Studenten der Jurisprudenz so viel sorglose Lebensfreude vermittelt hatten.

Vor ihm lag jetzt die breite, so überaus eindrucksvolle Maximilianstraße mit dem Prachtbau des Maximilianeums als Abschluß. Dort rechter Hand hinter der Reihe dicker Säulen befand sich das Cafee Maximilian. Wie viele Stunden hatte er dort im Kreise seiner Korpsbrüder gesessen und kaum je daran gedacht, daß das Leben ihm auch einmal ein bitterernstes, grämliches Gesicht zeigen könnte.

Er holte tief Atem. Das war fast ein Seufzer gewesen. Aber – er wollte sich ja diese letzten Stunden nicht mehr vergällen durch trübes Sinnen. Nachher, wenn es so weit war, wenn es diesem Dasein für immer lebewohl sagen hieß, dann würden ihn schon noch genug Gedanken bestürmen!

Er bog jetzt rechts nach dem Hofbräu ab. Dort in der Nähe in einem schmalen, alten Hause hatte er damals anderthalb Jahre gewohnt.

Damals! – All das kam ihm wie ein Traum vor! – Er – er, Heinz Meinke, sollte wirklich einst so ausgelassen heiter, so harmlos genußfroh gewesen sein?! – Damals! – Und vor seinem inneren Auge tauchte das Bild eines reizenden Backfisches auf mit zwei endlos langen, dicken Zöpfen, mit ernsten Augen und Grübchen in den Wangen.

Ein Traum war das Einst: sogar ein holder, keuscher Liebestraum war’s. Und der hatte Hella Banfy geheißen.

Hella! – Wie warm wurde ihm plötzlich im Herzen: so, als ob Maiensonne dieses Herz bestrahlte.

Hella Banfy! – Anderthalb Jahre hatte er bei ihrer Mutter gewohnt, bei dieser stillen Frau, deren Antlitz stets bleich wie das einer Schwerkranken war und nie ein Lächeln kannte. Und genau ein halbes Jahr hatte es dann zwischen Hella und ihm all die süßen Heimlichkeiten, all die verstohlenen Zärtlichkeiten gegeben, die so unendlich rein und poetisch sind.

Dann – ganz plötzlich waren Mutter und Tochter wieder von München verzogen, wo sie in dem alten, engbrüstigen Hause nur zwei Jahre gewohnt hatten. Ganz plötzlich. Und damals hatte Hella sich an ihn geschmiegt und so herzzerbrechend in wildem Abschiedsweh geschluchzt. –

„Ich bleib’ Dir treu,“ hatte er immer wieder geflüstert. „Jeden Tag schreibe ich Dir. Jeden Tag!“

Sie war still geblieben. Nur ihr Schluchzen war zu einem trostlosen Wimmern geworden.

Nach Hamburg waren Frau Banfys Möbel verladen worden. Und dorthin hatte er dann Hella hauptpostlagernd sechs Briefe gesandt. Nie erhielt er Antwort. Dann war er selbst, als er Weihnachten daheim weilte, hinübergefahren. Er fand Banfys nicht. Nach vielen Nachfragen endlich die Gewißheit: Frau Banfy hatte ihre Möbel in Hamburg verkauft und war angeblich nach Amerika ausgewandert. Hella war für ihn verloren, – verschwunden aus seinem Leben, als wäre sie tot.

Da hatte Heinz Meinke etwas getan, das er bereits in München beabsichtigt gehabt hatte. Er konnte es sich leisten, eine Auskunftei mit Nachforschungen nach der eigentlichen Heimat und den näheren Verhältnissen der Banfys zu betrauen, denn nie hatte Hella ja über diese Dinge gesprochen, nicht einmal Andeutungen fallen lassen. Er wußte so gut wie nichts über die Mutter der Geliebten. Nicht einmal, ob sie geschieden war oder nur von ihrem Manne getrennt lebte.

Drei Monate zogen sich diese Ermittlungen hin. Dann war nur eins mit Sicherheit festgestellt worden: daß Frau Mela Banfy nicht aus Dresden zugezogen war, wie sie in München angegeben hatte. – Woher sie gekommen, – ob sie wirklich Banfy hieß und Witwe war, wie in ihrem Anmeldeschein in München vermerkt, – all das blieb in undurchdringliches Dunkel gehüllt.

Heinz Meinke hatte sich nur langsam an den Gedanken gewöhnt, daß die Geliebte nie wieder mit ihrem holden Lächeln ihm gegenüberstehen würde, daß er an sie nur noch wie an eine Tote denken könnte. Jahre brauchte er, um diesen wundervollen Jugendtraum so weit zu vergessen, daß er wieder Freude am Dasein empfinden konnte.

Inzwischen war er Referendar geworden. Er als das einzige Kind eines sehr wohlhabenden Berliner Bauunternehmers hätte seine Jugend ganz anders genießen können. Aber der Verlust Hellas hatte seinem ganzen Wesen für alle Zeit einen besonderen Stempel aufgedrückt. Er war kein Duckmäuser, kein Spielverderber. Aber er taute selten auf. Meist lag etwas Träumerisch-Schwermütiges in seinen Augen, ebenso in seiner Stimme. Aber gerade deshalb, denn er war auch sonst eine gute Erscheinung mit einem sehr sympathischen Gesicht, stellten ihm die Frauen nach. Es reizte sie, diese dunklen, verträumten Männeraugen im Feuer der Leidenschaft aufflackern zu lassen. Es reizte sie: aber – sie hatten keinen Erfolg. –

Dann der Konkurs des Meinkeschen Baugeschäfts: dann verübte der stadtbekannte „alte Meinke“ Selbstmord. Er war arm geworden. Deshalb tat er sich auch sofort nach bestandenem Assessorexamen mit einem Kollegen als Anwalt zusammen. Doch – der Rechtsanwaltsberuf lag ihm nicht. Sein Kollege trennte sich wieder von ihm. Er begann sich nun um Stellen zu bewerben. Es fand sich nichts Passendes. Es ging ihm immer schlechter. Er litt unter der Einbildung, das Schicksal wolle auch ihn auslöschen wie seine Eltern. Er glaubte nicht mehr, daß eine Änderung in dieser Reihe dauernder Fehlschläge eintreten könnte. Dann kam ein Abend, an dem er im Dunkeln in seinem unsauberen, billigen möblierten Zimmer gesessen und sich gefragt hatte: „Wozu lebe ich noch? Was habe ich vom Leben noch zu erwarten?“ – Er mußte aus der Gemütsverfassung heraus, in der er sich jetzt dauernd befand, sich selbst antworten: „Es hat keinen Zweck, dieses Dasein fortzuführen!“

An demselben Abend noch packte er seinen kleinen Koffer, kündigte sein Zimmer und fuhr mit dem Nachtzuge nach München. Weshalb er gerade München als letzte Etappe seines Lebenspfades wählte, wußte er selbst nicht. Jedenfalls hatte er dabei nicht an Hella gedacht. Nein, unklar hatte ihm die Erinnerung an die berüchtigte Isarbrücke bei Hessellohe vorgeschwebt, an die sogenannte Selbstmörderbrücke. Wer dort absprang und in die Tiefe sauste, erreichte nicht mehr lebend den fahlgrünen Spiegel des schäumenden Isar-Flusses. Daran hatte er gedacht – nur den Bruchteil einer Sekunde. Und dann hatte er auch schon den Entschluß gefaßt, sofort nach München zu reisen. Mittags war er angelangt, und jetzt wollte er den Schlußstrich unter seiner Lebensrechnung ziehen. Genau um drei Uhr nachmittags wollte er, so hatte er sich’s vorgenommen, die Zahl der Opfer der Selbstmörderbrücke um eins vermehren. Noch zwei Stunden waren’s bis dahin.

Er wußte selbst nicht, daß er inzwischen längst vor dem schmalen Hause angelangt war, daß er auf der anderen Seite des Bürgersteiges stand und zu den beiden Fenstern seiner einstigen Studentenbude im ersten Stock emporstarrte. Nein – er wußte es nicht. Alles, was er hier in München tat, geschah wie im Traum. Es war so, als ob er gleichsam als Zuschauer die Handlungen eines Wildfremden beobachtete.

Nun aber weckte ihn ein Vorgang aus dieser tiefen Versunkenheit, der zunächst nichts – gar nichts Besonderes an sich hatte.

Droben am linken der beiden Fenster bewegte sich die knallgelbe Gardine ein wenig. Eine Hand schob sie zurück, ohne daß jemand sichtbar wurde.

Da waren abermals in Heinz Meinkes Gedächtnis zehn Jahre wie weggewischt, – wie eine Schrift, die mit dicken, brutalen Buchstaben etwas anderes, etwas so Zartes, Feines bedeckt gehabt hatte. Und das Zarte erschien nun wieder in all seiner wunderbaren Schönheit: der Liebesfrühling von einst.

Denn – genau so hatte ja Hella stets die Gardine beiseite gedrückt, wenn sie nach ihm ausspähte, wenn er ihr versprochen hatte, zur bestimmten Stunde heimzukehren! Genau so!

Und diese Hand und die gelbe Gardine da oben – nichts weiter! – hatten ihm nun wieder das Sonnenland der Jugend geöffnet und ihn gleichzeitig insofern in die Wirklichkeit zurückgeführt, als er nun gleichzeitig erkannte: Es ist ja das alte, engbrüstige Haus, vor dem Du stehst!

Wie gebannt schaute er dort nach oben, wo vielleicht ein ihm völlig gleichgültiger Mensch jetzt wohnte und einen Blick auf die Straße warf. Sicher ein Mensch, den er noch nie gesehen: ein Student vielleicht – wie er es einst gewesen. Nur – kein so glücklicher Student wie er. Nein – das war ja nicht möglich. Nur eine Hella Banfy konnte so beglücken!

Heinz Meinke lächelte ein trauriges Lächeln. Und starrte doch unverwandt hinauf zu der knallgelben Gardine und dem halben Arm, der dort noch zu erkennen war.

Ein Frauenarm! schoß es ihm jetzt plötzlich durch den Kopf. – Er sah ja am Handgelenk das goldene Armband, sah den engen Ärmel einer schwarzen Bluse.

Also kein Student! Eine Frau! – Und – eine seltsame Unruhe befiel ihn plötzlich.

Wenn nun Frau Mela Banfy vielleicht jetzt wieder dort oben wohnte! Es gab ja so mancherlei Zufälle auf der Welt – Zufälle oder – Schicksalsfügungen!

Da – sein Blick wurde noch stierer. Jeder Blutstropfen wich ihm aus dem Gesicht. Ein gurgelnder Schrei kam über seine Lippen – ein Name:

„Hella – Hella!“

Ja – sie war’s! Aus Millionen hätte er sie herausgefunden. Sie war’s!

Droben hatte sich ein Frauenkopf zwischen die Gardinen geschoben. Unter einem kleinen schwarzen Hut quoll eine Welle goldblonden Haares hervor. Große, dunkle Augen, tiefumschattet wie von jahrelangem Leid, dazu ein blasses, schmales Antlitz in dem nur ein Paar rote Lippen noch immer köstlich leuchteten wie einst – das war Hella, das war das Frauenbild dort hinter dem Fenster.

Heinz Meinte jagte wie ein Toller über die Straße, hinein in den Hausflur, die dunklen, ausgetretenen Treppen empor. Jede Stufe kannte er hier: wußte, wo im ersten Stock links von der Flurtür der altehrwürdige Glockenzug hing. Er fand ihn sofort. Ein Ruck – und drinnen bimmelte die Glocke hell und keifend.

Die schrillen Töne brachten ihn zur Besinnung.

Hella – Hella sollte dort am Fenster gestanden haben?! Nein – niemals! Nur seine überreizten Nerven hatten ihm jenes Bild gezeigt, oder – dem Gesicht einer Fremden die geliebten Züge angedichtet!

Jetzt schlurfende Schritte hinter der Glastür. Dann eine zitterige Weiberstimme:

„Wer ist denn dort?“

Er nannte seinen Namen und Stand. „Ich wollte Sie nur einiges fragen,“ fügte er hinzu.

„Ich hin eine alleinstehende Frau. Ich öffne Fremden nicht gern. Bei der jetzigen Unsicherheit,“ kam die Antwort zurück.

„Ich wollte mich nach einer Frau Melanie oder Mela Banfy erkundigen, die hier mit ihrer einzigen Tochter vor zehn Jahren gewohnt hat,“ erklärte er recht deutlich.

„Kenne ich nicht, lieber Herr. Ich bin erst zwei Jahre in dieser Wohnung.“

Meinke hatte diese oder eine ähnliche Erwiderung vorausgesehen. Er dankte der unsichtbaren Alten, entschuldigte sich wegen der Störung und schritt die Treppen hinab.

Vor dem Hause schaute er nochmals zu den Fenstern empor. Dort, wo er vorhin Hella zu erblicken geglaubt hatte, sah er nun eine weißhaarige Greisin, die vielleicht voller Argwohn feststellen wollte, ob der Herr auch wirklich ein Rechtsanwalt gewesen sein konnte, der sich da eben nach einer Frau Banfy erkundigt hatte.

Meinke grüßte nach oben. Der Gruß galt mehr dem alten, schmalen Hause, von dem er jetzt für immer Abschied nahm.

Die Greisin nickte ihm zu. Und der junge Anwalt dachte: „Es ist, als ob das Haus mir lebewohl sagt.“

Dann ging er schnell davon.

 

2. Kapitel.

Das Kind.

Wie in einem Felsenkanon fließt die fahlgrüne Isar bei Hessellohe dahin. Mächtige Steinblöcke ragen hier und dort aus der Tiefe hervor. Schäumend und gurgelnd treffen die Wasser diese Hindernisse, eilen dann, weiß gestreift, hastig davon, vorbei an einzelnen Baumgruppen, die sich auf den Steilufern angesiedelt haben.

Heute an diesem Herbsttage schaute die Isar so finster und mißmutig aus. Nebelfetzen segelten zwischen den Felsenhöhen dahin, folgten dem Flußlauf, zerflatterten, wurden von noch größeren, dichteren Schwaden abgelöst.

Heinz Meinke war etwas zu früh gekommen. Seine Uhr zeigte erst zehn Minuten vor drei, als er vom Westufer aus die Brücke betrat. Ein Ackerwagen rumpelte gerade über sie hin. Der Bauer, der den Einspänner lenkte, blickte den einsamen Wanderer fast mißtrauisch an. Bei solchem Wetter verirrt sich kaum ein Fremder hierher. Wer trotzdem mit so geistesabwesendem Gesicht diese berüchtigte Brücke aufsucht, und wer so modern, so städtisch gekleidet ist, der – der will vielleicht wie so viele andere vor ihm hinab ins gelbgrüne Isarwasser – und hinab in die Hölle, wo die Selbstmörder doch fraglos hingehören. – So dachte der Bauer, wandte den Kopf und schaute dem jungen Fremden nach, bis dieser das andere Ende der Brücke erreicht hatte. Da erst beruhigte er sich und trieb seinen Gaul zu einem faulen Trab an. Der dicht verschleierten, schwarz gekleideten Frau, der er gleich darauf begegnete, schenkte er ebensowenig Beachtung wie dem Köfferchen aus Weidengeflecht, das sie in der Hand trug.

Heinz Meinke war noch die Straße nach Deisenhofen etwa hundert Meter entlanggewandert. Er ging jetzt wieder wie im Traum: er rechnete sich selbst kaum mehr zu den Lebenden. Der Anblick des Trugbildes am Fenster des alten Hauses, diese seltsame Ausgeburt seiner Phantasie, die ihm Hella als reifes Weib gezeigt hatte, war für ihn nur eine Bestärkung seines Entschlusses gewesen, seinem zwecklosen Dasein gewaltsam ein Ende zu machen. Immer klarer war ihm in dieser letzten Stunde geworden, daß es immer nur die Geliebte gewesen, die sein ganzes Denken erfüllt, nach der er sich in einer ihm selbst unbewußten Sehnsucht verzehrt hatte.

Ganz mechanisch holte er seine silberne Taschenuhr hervor.

Noch drei Minuten! – Er mußte also schleunigst umkehren, wenn er genau um 3 Uhr von der Mitte der Brücke aus sich über das eiserne Geländer schwingen wollte.

Er machte kehrt. Gerade der hastigere Schritt, den er nun anschlug, gab ihn dem Leben, der Wirklichkeit wieder zurück. Er, der hier auf Erden nichts mehr zu erledigen hatte als zu sterben, sah nun in den letzten Minuten doch noch etwas wie ein Ziel vor sich: er wollte pünktlich sein und genau um die beschlossene Stunde dort hinab in die Tiefe.

Als er die Brücke betrat, bemerkte er sofort weit vor sich eine dunkle, schlanke Frauengestalt mit einem hellen Koffer in der linken Hand, die mit tief gesenktem Kopf ihm entgegenkam.

Irgend etwas an dieser Frau schien ihm so merkwürdig bekannt. Er hatte stets sehr gute Augen gehabt, und daher stellte er sehr bald fest, daß es lediglich der leichte, gleitende Gang war, der ihn an die Geliebte erinnerte. Hella hatte so eine besondere Art zu gehen an sich gehabt, so etwas Lässig-Graziöses, das vielleicht geziert gewirkt hätte, wenn nicht jede Bewegung so formvollendet-schön abgerundet gewesen wäre.

Hella –! – Abermals sie – abermals, – nur immer wieder sie – seine große, einzige Liebe!

Er starrte der Frau jetzt wie gebannt entgegen. Unwillkürlich wurden seine Schritte zögernder.

Wollte ihm denn seine Phantasie hier aufs neue etwas vorgaukeln, was nie sein konnte – nie Wirklichkeit sein konnte?! Wie sollte Hella gerade zu derselben Stunde wie er hier nach Hessellohe hingeraten sein?!

Nein, nein – es waren ja nur die Nerven, die ihn narrten! Es war die unendliche, jahrelange, unbefriedigte Sehnsucht, die ihn hier in einer Fremden genau so die Geliebte erblicken ließ wie vorhin am Fenster des alten, schmalen Hauses.

Und doch: er blieb stehen! – Was seine Füße bannte, was ihn mit wachsender Erregung die Frau zu beobachten zwang, – darüber nachzudenken hatte er keine Zeit.

Die Frau war jetzt in der Mitte der Brücke angelangt, kehrte Heinz Meinke den Rücken, beugte sich herab und entnahm dem Koffer ein Bündel, legte es auf die breite Brüstung eines Pfeilers und reckte dann plötzlich wie in wilder Verzweiflung die Arme hoch.

Da – vom Westausgang der Brücke her ein schnell sich näherndes knatterndes Geräusch.

Nebelfetzen, die den jungen Anwalt bisher der Frau entzogen hatten, so daß sie hier allein zu sein wohl annehmen konnte, schoben sich nun auch in dichteren Schwaden vor die dunkle, schlanke Gestalt, die jetzt – und das hatte Heinz Meinke gerade noch bemerkt – beim Nahen des Autos entsetzt herumgefahren war.

Nun sah er nichts mehr. Hörte nur das Rattern des Kraftwagens, das jetzt offenbar an derselben Stelle verharrte. Das Auto hatte also halt gemacht. Und ohne Zweifel gerade da, wo die einsame Frau stand.

Meinke begann zu laufen. Irgend ein seltsamer Instinkt trieb ihn vorwärts.

Da – vor ihm aus den grauen Schleiern eine harte, höhnische Männerstimme:

„Närrin – mir hoffst Du Dich entziehen zu können – mir?!“

Die Nebelstreifen wurden dünner. Und Meinke sah, wie die Frau dicht am Brückenpfeiler mit einem hochgewachsenen Manne rang, der sie in das geschlossene Auto zerren wollte.

Dann – ein wahnwitziger Schrei aus einer Weibeskehle.

Und sofort hinterdrein:

„Laß mich – laß mich – laß mich sterben – ebenfalls sterben!“

Heinz Meinke war’s, als hätte ihn ein Faustschlag zurückgeworfen.

Diese Stimme – diese Stimme! Es war die Hellas! Hier war jede Täuschung ausgeschlossen.

Wie gelähmt stand er, den Oberkörper zurückgebogen, die Arme halb vorgestreckt. Er wollte rufen: er wollte vorwärtsstürzen.

Sein Körper gehorchte ihm nicht. Regungslos mußte er Zeuge werden, wie der große, schlanke Herr das arme Weib in das Auto stieß, wie dieses dann anruckte, langsam davonglitt.

Als letztes noch ein halberstickter Ruf:

„Ich will sterben – sterben wie das Kind!“

Dann das Zuknallen der Tür des Kraftwagens. Und so heftig wurde diese Tür zugerissen, daß die Fensterscheibe in Stücke ging, daß Scherben auf die Brücke fielen. –

Längst hatte die graue Nebelflut das Auto verschlungen, längst war jedes Geräusch des sich entfernenden Kraftwagens verstummt, als Heinz Meinke endlich wieder die Gewalt über seinen Körper zurückerlangte.

Die Arme sanken ihm schlaff herab: ein Zittern lief über seinen Leib hin als Folgeerscheinung der ungeheuren Nervenanspannung der letzten Sekunden.

„Hella!“ stöhnte er. „Hella!“

Dann tat er einen Satz vorwärts, wollte wie ein Rasender hinter dem Auto drein.

Doch abermals war’s, als ob ihn eine unsichtbare Faust zurückriß.

Ein leises, klägliches Wimmern war an sein Ohr gedrungen – das jämmerliche Greinen eines winzigen Menschleins.

Er stand wieder und lauschte, brachte auch mit aller Energie Ordnung in das Chaos seiner Gedanken.

Ein Kind –! Und Hella hatte gerufen:

„Ich will sterben – sterben wie das Kind!“

Ein neuer Satz, und er beugte sich über das Brückengeländer, schaute hinab, sah auch etwas Helles eingeklemmt zwischen der eisernen Versteifung des Trägers und diesem selbst, – eingeklemmt dort etwa fünf Meter unter ihm – ein Kind – ein Kind!

Es bewegte sich. Kleine Fäuste griffen in die Luft. Es bewegte sich – und konnte vielleicht im nächsten Moment hinabgleiten in die Tiefe.

Heinz Meinke warf den abgetragenen Ulster von sich, schwang sich über das Geländer.

Daß es ihm gelang, mit dem Kinde im Arm an den vom Nebel feuchten Eisenteilen wieder emporzuklimmen – es kam ihm wie ein Wunder vor.

Nun befand er sich oben auf der Brücke. Und zu seinen Füßen lag umgestürzt der kleine Flechtwerkkoffer, in dem Hella das Kind hierher gebracht hatte, um – es mit sich in den Tod zu nehmen!

Das Kind! – Ihr Kind also – ihr Kind!

Heinz Meinke schaute jetzt zum ersten Male mit bewußtem Blick in das kleine, runde Antlitz mit den dunklen Augen und den goldblonden Löckchen.

Ihr Kind – Hellas Kind! – Ganz andächtig schaute er auf das Püppchen in seinem Arm. Eine tiefe, mitleidige Zärtlichkeit für dieses kleine Wesen, das ein Zufall vor dem Tode bewahrt hatte, quoll in seinem Herzen auf.

Das Kind hatte sich schon wieder beruhigt, starrte ihn nun dauernd an. Und er beugte den Kopf tiefer, lächelte und sagte leise und schmeichelnd:

„So ist’s brav, mein Püppchen. So ist’s brav. Der Onkel meint’s ja nur gut mir Dir – nur gut!“

Dann nahm er den Koffer und schritt nach Groß-Hessellohe zu davon. Doch bevor er noch das Ende der Brücke erreicht hatte, war er auch schon mit einem anderen Entschluß fertig geworden.

Er hatte das Kind erst im Dorfe bei dem Gemeindevorsteher abgeben wollen. – Nein – so sollte dieses Abenteuer doch nicht enden, sagte er sich jetzt. Das Schicksal hatte ihm hier in derselben Minute, wo er selbst zu sterben beabsichtigt hatte, Hella wieder in den Weg geführt, hatte ihn dieses Kind – ihr Kind! – retten lassen. Er wollte diesen Wink einer höheren Macht, daß es für ihn doch noch etwas auf Erden gäbe, wofür zu leben es sich verlohnte, nicht unbeachtet lassen! Er hatte ja jetzt das Kind, und er hatte weiter die Gewißheit, daß Hella als das Weib eines Anderen aus Verzweiflung sich hatte töten wollen. Sie war also unglücklich, sie litt seelisch, sie litt so sehr, daß sie sich dem Manne mit der brutalen Stimme durch den Tod hatte entziehen wollen.

Sein Leben hatte jetzt einen neuen Zweck. Ein neues Ziel schwebte ihm vor: Hella zu suchen und – zu befreien! Das Kind aber sollte in ihm einen neuen Vater haben! –

Wie ein Übeltäter spähte er jetzt um sich. Niemand war in der Nähe. Schnell legte er das in ein helles Tuch eingehüllte kleine Menschenwesen in den Koffer, suchte dann den Bahnhof von Hessellohe auf und bestieg einen Vorortzug, fand ein leeres Abteil, drückte sich in eine Ecke und nahm den Koffer auf den Schoß.

Bis zur Abfahrt des Zuges waren’s noch zehn Minuten. – So hatte Heinz Meinke denn schon jetzt reichlich Zeit, sich die Ereignisse dieser letzten Stunden nochmals mit allen Einzelheiten ins Gedächtnis zurückzurufen und sie auch mit kritischem Verstande zu überprüfen.

Nunmehr, wo er dem Leben durch Hella und dieses Kind wiedergegeben war, vermochte er die Vorgänge bereits wieder klaren Geistes in ihren Besonderheiten zu würdigen.

Da stieß ihm denn sehr bald auf, daß die Frauengestalt, die er am Fenster des alten Hauses gesehen, zwar Hellas Züge besessen, aber doch nicht die, die ihm von früher her so lieb und vertraut gewesen. Es war nicht der reizende, liebliche Backfisch, den er dort erblickt hatte – scheinbar als ein Trugbild! –, sondern ein durch das Leid früh gereiftes junges Weib mit den dunkel umschatteten Augen eines großen, stillen Schmerzes. – Und – genau so hatte Hella ausgesehen, als der Mann sie in das Auto hineinzwang.

War es also wirklich eine Sinnestäuschung gewesen, der er dort vor dem früheren Heim der Banfys zum Opfer gefallen?! Hatte er jetzt nicht den Beweis, daß Hella sich in München befand?! Konnte sie also nicht doch in jener Wohnung gewesen sein und zum Fenster hinausgeschaut haben?! Konnte nicht auch sie von der Sehnsucht nach dem Glück früherer Jahre in jene Räume geführt worden sein, und – konnte die Wohnungsinhaberin sie nicht lediglich verleugnet haben?!

Immer wahrscheinlicher dünkte Heinz Meinke schließlich diese letzte Annahme. Bis sie dann bei ihm zur Gewißheit wurde. Ja – Hella hatte sich dort in der früheren Wohnung ihrer Mutter aufgehalten. Es war keine Sinnestäuschung gewesen! Und – sie hatte auch ihn unten auf der Straße bemerkt und daher die alte Frau gebeten, den Einlaß Begehrenden fortzuweisen. –

Der Zug rollte gen München. Heinz Meinke war in seinem Abteil allein geblieben. Er hatte den Koffer geöffnet, hatte das Kind in den Arm genommen.

Ihr Kind – ihr Kind! – Er schaute und schaute in das kleine Antlitz. Seine Augen wurden feucht.

Das Kind seiner Hella! Und jetzt – sein Kind!

Dann kamen ihm andere Gedanken: dann kamen die Sorgen.

Wo sollte er das Geld hernehmen, sich und das Kind zu erhalten – wo?! Er besaß ja so gut wie nichts mehr an Geld! Kaum dreißig Mark – das war seine ganze Barschaft.

Arbeiten – irgend etwas! Wie gerne wollte er das! Wie gern! Aber – erst Arbeit und Verdienst finden.

So saß er denn mit dem schlafenden Kinde im Arm und grübelte, entwarf allerlei Pläne, verwarf sie wieder. Zunächst wollte er nun jedenfalls nach dem alten Hause eilen und jene Frau aufsuchen, bei der Hella heute doch fraglos geweilt hatte. Vielleicht erfuhr er dort Hellas jetzigen Namen und Wohnort. Und wenn er seine Uhr nebst Kette verkaufte, dann wurde ihm dies wenigstens über die ersten Tage hinweghelfen.

Der Zug fuhr ihm jetzt viel zu langsam. Aber endlich stand er dann doch mit dem Flechtkoffer vor der Flurtür der Frau Theresa Mürztaler und zog am Glockengriff.

 

3. Kapitel.

Ein gütiges Herz.

Abermals gab es mit der mißtrauischen Alten ein langes Hin und Her, bevor Heinz Meinke eingelassen wurde.

Er hatte schon vorher ein Streichholz angerieben gehabt und so den Namen der Wohnungsinhaberin auf dem Porzellanschild an der Flurtür entziffert.

Als er nun der Frau Mürztaler in demselben Zimmer gegenübersaß, in dem er einst als Student gehaust hatte, als er sich in einer mit altväterlichen Möbeln vollgestopften sogenannten guten Stube mit einem sehr verlegen, aber auch sehr gutmütig dreinschauenden alten Weiblein allein befand, merkte er sofort, daß das scheinbare Mißtrauen der noch recht rüstigen Greisin wohl beide Male absichtlich so stark hervorgekehrt worden war, um ihn, ohne unhöflich zu sein, zu verscheuchen.

Er hatte den Koffer mit dem Kinde neben seinen Polstersessel auf den abgetretenen Teppich gestellt und begann nun nach einigen höflichen Redensarten direkt auf sein Ziel loszugehen.

„Frau Mürztaler, heute mittag gegen ein Uhr hatten Sie, als ich bei Ihnen zum ersten Male läutete und nach Frau Banfy fragte, Besuch,“ sagte er und beobachtete das welke, faltige Gesicht da vor ihm recht genau. „Es war eine jüngere Dame in Trauer, die dort an jenem Fenster ein Weilchen gestanden und auf die Straße hinabgesehen hat.“

Die Hände der Greisin streichelten unruhig die Sessellehnen, und ihre Blicke glitten immer wieder über den Weidenkoffer hin, in dem das Kind sich jetzt zuweilen regte. Als Meinke nun schwieg, stieß sie hastig hervor:

„Wie kommen Sie zu dem Koffer, Herr Rechtsanwalt? Ich – ich –“ Sie fing zu stottern an. Sie hatte sich bereits ein wenig verraten.

Meinke erklärte denn auch:

„Sie kennen den Koffer also. Die junge Dame hatte ihn bei sich, nicht wahr? – Weshalb wollen Sie denn vor mir verheimlichen, daß dem so ist? – Ich bin ein alter Bekannter jener Dame, und –“

Da begann das Kind plötzlich zu weinen.

Frau Mürztaler stand schnell auf. „Wie – ein Kind dort in dem engen Korbe?!“ rief sie überrascht. „Oh – aus alledem werde ich nicht klug! – Lieber Herr, Sie täten gut, einmal nachzuschauen, was dem Würmchen fehlt. Ich verstehe mich aufs Kinderwarten.“

Er legte das Bündel auf das Plüschsofa und die Frau wickelte das Kind zunächst aus dem hellen Tuche aus, meinte dabei: „Oh – welch kostbarer wollener Schal. So was Feines habe ich noch nie mit meinen alten Fingern befühlt. – Herr Gott – und hier – hier! Herr Rechtsanwalt, sehen Sie nur, – hier in einen Zipfel des Tuches sind Schmuckstücke lose eingebunden! Aber – das dürften Sie ja wohl wissen, da das Püppchen Ihnen doch anvertraut worden ist.“

Jetzt schaute sie ihn wirklich argwöhnisch an – argwöhnisch und neugierig zugleich, legte dann ein goldenes Uhrarmband, drei kostbare Ringe mit Brillanten, ein paar Ohrringe, ebenfalls Brillanten, und eine Brosche aus kleinen, flachen grünblauen Steinen mit roten Pünktchen auf den Tisch.

Heinz Meinke stierte ganz entgeistert auf den Schmuck. Er ließ sich in den Sessel fallen, stammelte:

„Davon – davon wußte ich nichts! Sonst hatte ich das Kind doch wohl der Behörde übergeben.“

Die Mürztaler sagte nichts mehr, beschäftigte sich jetzt eifrig mit dem vielleicht fünf Monate alten Mädchen, holte warmes Wasser und Leinentücher aus der Küche und rief nur ein paarmal: „Oh – welch feine – feine Wäsche!“

Dann hatte die Kleine sich beruhigt und war wieder eingeschlafen, lag nun in der Sofaecke, bedeckt mit dem weichen, kostbaren Schal.

Frau Theresa Mürztaler setzte sich in den Sessel und prüfte stumm die Schmuckstücke, meinte dann:

„Ich verstehe was davon. Alles echt! Ein Vermögen ist’s! Die Brillantohrringe allein sind heutzutage ihre 50 000 Mark wert.“

„Ganz rechte nickte Heinz Meinke beklommen. „Ein Vermögen! – Schade, daß der Schmuck dem Kinde mitgegeben worden ist. Nun kann ich doch nicht gut die Kleine als – als mein eigen betrachten.“

Die Alte beobachtete ihn. „Herr Rechtsanwalt, was hat es nun eigentlich mit diesem Mädelchen auf sich?“ fragte sie. „Ich ahne, daß hier –“

„Sie sollen alles wissen,“ fiel Meinke ihr hastig ins Wort. „Sie besitzen mehr Lebenserfahrung als ich. Vielleicht können Sie mir nachher einen Rat geben.“

Dann begann er zu erzählen. Nichts verschwieg er, – nichts – schilderte seine Studentenzeit, sprach von Frau Mela Banfy, von seiner Jugendliebe, von dem traurigen, rätselvollen Abschluß dieser tiefen Herzensneigung und von seinen späteren Schicksalen, kam schließlich auf den heutigen Tag, – wie er heute seinem Leben hatte ein Ende machen wollen durch einen Sprung von der Hesselloher Brücke.

Da fragte die Greisin plötzlich, die bisher wortlos zugehört hatte:

„Wie sind Sie denn gerade auf den Gedanken gekommen, die Selbstmörderbrücke für dieses sündige Vorhaben zu benutzen, Herr Rechtsanwalt?“

„Jetzt weiß ich’s!“ erklärte er mit einem Seufzer. „Ja – jetzt endlich weiß ich’s, weshalb es mich gerade nach Groß-Hessellohe zog. An einem herrlichen Junitage hatte ich mal mit Hella einen Ausflug dorthin gemacht. Und da standen wir beide denn auch eine Weile mitten aus der Brücke und hielten uns umschlungen, küßten uns und schauten in die Tiefe hinab. Hella schauderte mit einem Male zusammen, begann ganz unvermittelt zu weinen. Sie hatte oft so trübe Anwandlungen. Und dann flüsterte sie: „Vielleicht wähle ich einst diesen Ort, wenn das Schicksal –“ Da brach sie plötzlich ab. – Ich fragte nicht weiter. – Ja – so war’s, Frau Mürztaler. Ganz unbewußt bin ich durch dieses kleine Erlebnis gerade zu dem Entschluß gelangt, die Brücke auch für mich –“

„Schon gut, Herr Rechtsanwalt. – Und weiter nun? Weswegen führten sie Ihren Entschluß nicht aus?“

Er erzählte, was sich auf der Brücke heute um 3 Uhr nachmittags zugetragen hatte.

Frau Mürztaler lauschte atemlos, stieß hin und wieder kopfschüttelnd ein „Unglaublich – unglaublich!“ aus.

Nun gab es für Heinz Meinke nichts mehr zu berichten: nun saßen die beiden Menschen minutenlang regungslos und stumm da und hingen ihren besonderen Gedanken nach. Dann streckte die alte Frau ihrem Gaste die Hand hin und sagte leise:

„So unwahrscheinlich all das auch klingen mag, – ich weiß, daß Sie mir die volle Wahrheit erzählt haben. Ich weiß es, denn – jene junge Dame, jene Hella, war heute wirklich hier bei mir und benahm sich so seltsam, daß gerade dies mir beweist, wie – Doch ich will erst mal schildern, was mir heute begegnet ist. Es war so gegen ¼1 Uhr mittags, als es an der Flurtür läutete. Ich fragte, wer draußen sei. Eine Frauenstimme antwortete: „Ich möchte mir nur Ihre Wohnung ansehen. Ich habe hier früher mal gewohnt, und die Räume enthalten für mich so viele liebe Erinnerungen.“ – So führte die junge, schwarz gekleidete Dame sich bei mir ein. Dann saß sie hier in diesem Zimmer dort in der Sofaecke. Den Weidenkoffer hatte sie neben sich gestellt. Ich hatte sie allein gelassen, schaute aber durch das Schlüsselloch. Man muß doch vorsichtig sein! Nicht jedes schöne Gesicht ziert eine schöne Seele! – Und so sah ich denn, daß sie das Tuch vor die Augen gepreßt hielt und daß ihr Körper in lautlosem Schluchzen hin und her flog. Sie weinte lange – sehr lange. Dann trat sie an das Fenster, schob die Gardine zurück, zuckte plötzlich zusammen und ließ die Gardine fallen, rief auch dabei irgend einen Namen –“

„Vielleicht – Heinz?“ fragte der junge Anwalt rasch.

„Ja, das mag der Name gewesen sein,“ nickte Frau Mürztaler. Sie sann nach, wiederholte dann: „Das war sogar ganz bestimmt der Name, ganz bestimmt. Sie heißen wohl so mit Vornamen, Herr Rechtsanwalt?“

„Ja, so ist’s! Und deshalb macht es mich auch so glücklich, dieses Heinz, das meiner Jugendliebe bei meinem Anblick sich über die Lippen drängte. Sie werden das verstehen, Frau Mürztaler.“

„Ob ich das verstehe!“ Das alte, gutmütige Gesicht lächelte voll warmen Mitgefühls. „Ja, ja, ich begreife jetzt alles. Auch die dringende Bitte der Dame, sie Ihnen gegenüber zu verleugnen. Sie war dabei so in Angst, und doch auch wieder wie beseligt, weil sie dort unten auf der Straße gestanden und emporgeschaut hatten. Sie flüsterte – so mehr für sich: „Auch er hat mich nicht vergessen! Auch er nicht! Aber wiedersehen kann ich ihn nicht! Das würde mich nur wieder schwankend werden lassen!“ Damit meinte sie doch wohl den Entschluß, mit dem Kinde in den Tod zu gehen. – Sie blieb dann noch fünf Minuten bei mir, nachdem Sie die Treppe wieder hinuntergegangen waren. – Ja, ja – Sie armer Mann haben schon viel gelitten. Vielleicht kommt aber auch noch das Glück. Solch treue Liebe muß ja schließlich belohnt werden.“

Sie drückte Heinz Meinke die Hand. „Jedenfalls sollen Sie in mir eine verschwiegene Bundesgenossin gefunden haben, Herr Rechtsanwalt,“ fuhr sie herzlich fort. „Der Zufall hat uns miteinander bekannt werden lassen. Ich gehöre nicht zu den geschwätzigen alten Weibern. In meiner Brust ist so manches Geheimnis bewahrt. Sprechen Sie sich mir gegenüber nur ruhig aus. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen oder raten kann – ich tue es so sehr gern.“

Meinke behielt die welke Greisenhand in der seinen, sagte leise: „Ja – helfen Sie mir! Ich habe ja so gar niemanden auf der Welt, zu dem ich mich mit meinen Herzensnöten flüchten könnte. Meine Liebe zu Hella ist jäh wieder aufgeflammt, erfüllt mein Inneres vollständig! Ich möchte Hella retten – irgendwie! Was muß sie wohl leiden, wenn sie zu einem solchen Entschluß kam! Wie schlecht muß der Mann sie behandeln, der sie wie ein Wüterich mit rohester Gewalt in das Auto hineinstieß! Oh – wie ich diesen Menschen schon jetzt hasse! Ich wünschte, er stände mir einmal von Angesicht zu Angesicht gegenüber! Dann würde ich ihm beweisen, wozu Heinz Meinke imstande ist!“

Frau Theresa Mürztaler ließ seine Hand nicht los, warnte gütig und eindringlich: „Ruhe, Ruhe, lieber Herr Rechtsanwalt! – Setzen Sie sich wieder. – So, und nun ganz verständig sein, bitte, bitte! Die Ereignisse dieses Tages haben Ihren Nerven böse mitgespielt. Ich werde Ihnen jetzt zunächst einen Imbiß herrichten und eine Tasse Bohnenkaffee aufbrühen. Sie haben ja seit morgens nichts mehr gegessen.“ Sie streichelte seine Hand. „Sie glauben ja nicht, wie sehr ich mich freue, Ihnen so ein wenig mütterliche Liebe schenken zu dürfen. Unsere Ehe war kinderlos. Und in meinem alten Herzen lebt so viel Verständnis für Ihre wunde Seele.“ –

Eine halbe Stunde später saßen Frau Mürztaler und Heinz Meinke in dem behaglichen Wohnzimmer am gedeckten Tisch, während das Püppchen nun in einem zierlich als Bettchen herausstaffierten großen Pappkarton ruhte.

Frau Theresa hatte ihren Gast inzwischen gefragt, ob denn Hella das Kind hatte in den Fluß werfen wollen oder ob es vielleicht durch einen Stoß des miteinander ringenden Paares von der Brüstung des Pfeilers herabgeglitten sei. Worauf der junge Rechtsanwalt voller Überzeugung geantwortet hatte, daß nur das letztere zutreffen könnte, da sonst das Kind niemals zwischen die Pfeilerversteifung hatte fallen können. – Frau Mürztaler nickte dazu und meinte, Hella hielte die Kleine nun doch fraglos für tot, und es sei doch wahrscheinlich, daß nach der Kindesleiche gesucht würde.

„Ich möchte bezweifeln, daß dies geschieht,“ erklärte der Anwalt nun mit drohend gefalteter Stirn. „Dieser brutale Mensch wird weit eher diesen Unfall zu vertuschen suchen. Immerhin will ich gleich morgen früh wieder nach Hessellohe hinaus und mit aller Vorsicht Erkundigungen einziehen. Ich muß Hella finden – ich muß! – Ist denn die Wäsche des Kindes nicht gezeichnet, Frau Mürztaler? Und – sollten in den Schmuckstücken nicht irgendwelche Gravierungen zu entdecken sein?“

Beides traf nicht zu. Auch in dem Weidenkoffer war nichts enthalten, was auch nur einen Anhalt gegeben hätte, wie der Mann hieß, der Hella wie eine Sklavin wieder mit sich fortgeschleppt hatte. –

Frau Theresa stellte ihm dann ein Bett in der guten Stube auf. Sie wollte ihn als „möblierten Herrn“ polizeilich anmelden. Das Kind aber sollte vorläufig unterschlagen werden.

 

4. Kapitel.

Der Feind regt sich.

Der nächste Tag brachte strahlenden Sonnenschein. Bereits um 9 Uhr vormittags war Meinke in Hessellohe. Als er die Brücke betrat, kam ihm ein Bahnbeamter entgegen. Er sprach ihn an und horchte ihn vorsichtig aus, ob etwa heute in aller Frühe der Fluß unterhalb der Brücke abgesucht worden sei. Er erfand eine glaubwürdige Geschichte von einem Freunde, der vielleicht Selbstmord verübt hätte.

Der Fluß war nicht durchsucht worden. Und auch der Gemeindevorsteher in Hessellohe wußte nichts von einem neuen Selbstmord. – So war denn auch hier keine Spur zu entdecken. Meinke wollte schon wieder nach München zurückkehren, als ein unbestimmtes Gefühl ihn nochmals nach der Brücke trieb. Jetzt stand er an jener Stelle, wo gestern nachmittag das Auto langsam sich in Bewegung gesetzt hatte und die Fensterscheibe zersplittert war. Die Glasscherben lagen noch auf dem Brückenbelag verstreut. Sinnend schaute Heinz Meinke auf diese stummen Zeugen der gestrigen Vorgänge.

Dann – er bückte sich schnell, hob ein handgroßes Stück auf. Und gerade in dieses Stück war ein Monogramm eingeschliffen, ein verschlungenes B. v. S.

Meinke war ganz blaß geworden. – B. v. S. – Wenn das die Anfangsbuchstaben des Namens des Mannes waren, der jetzt Hellas brutaler Gebieter war?!

Sein Herz klopfte stürmisch. Und in seinem juristisch geschulten Geiste entwarf er sofort neue Pläne, wie er mit Hilfe dieses Glasstückes den Besitzer des Autos herausfinden könnte.

Es mußte gelingen – mußte! Nur Geduld gehörte dazu! –

Freudig erregt kehrte er zu Frau Mürztaler zurück, die ihn denn auch ebenso froh und herzlich zu diesem Funde beglückwünschte. „Es ist immerhin ein Anfang!“ meinte sie. „Jetzt bin auch ich hoffnungsfreudiger. Jedenfalls müssen Sie aber von Zeit zu Zeit wieder beim Gemeindevorsteher in Hessellohe nachfragen, ob man nicht doch noch nach der Kinderleiche gesucht hat. Ich kann mir gar nicht denken, daß Hella sich damit zufrieden geben wird, daß ihr Püppchen – was sie ja doch annehmen muß – im Isarflusse unbestattet verwest.“

Meinke nickte. „Nein – sie wird natürlich versuchen, ihren Gatten dazu zu bewegen, daß nach der Leiche geforscht wird. Er dürfte sich jedoch weigern, Und – er muß ja Mittel besitzen, Hella gefügig zu machen! Freiwillig wäre sie nie sein Weib geworden. Schon nach der Übersiedelung der Banfys nach Hamburg muß dieser Zwang begonnen haben. Niemals hätte Hella mich sonst ohne Nachricht gelassen! Sie hätte doch wenigstens meine Briefe abgeholt.“

Die alte Frau seufzte. „Armes, armes Mädel!“ sagte sie voll innigen Mitleids. „Was wirst Du alles durchgemacht haben.“

Heinz Meinke wurden die Augen feucht. Mit vibrierender Stimme flüsterte er: „Bei alledem muß ein Geheimnis mitspielen, irgend etwas aus der Vergangenheit von Hellas Eltern. Denken Sie daran, liebe Frau Mürztaler, daß Frau Banfy hier in München fälschlich angegeben hat, aus Dresden zugezogen zu sein. Ich möchte fast behaupten, daß sie gar nicht Banfy hieß. Sie hat vielleicht lediglich jede Spur hinter sich verwischen wollen, als sie sich hier niederließ.“

Meinke und die gutmütige, so mitfühlende Greisin saßen bei der Mittagsmahlzeit, als sie diese Dinge erörterten. Püppchen lag jetzt in einem hübschen Kinderwagen und sog zufrieden an der Milchflasche.

Gleich nach dem gemeinsamen Mittagessen machte sich Frau Mürztaler dann auf den Weg zu einer Bekannten, die draußen in der Nähe der Theresienwiese wohnte und von der sie für das Püppchen Vollmilch zu erhalten hoffte. Sie schärfte Meinke noch ein, niemanden in die Wohnung zu lassen, damit das Geheimnis der Anwesenheit des Kindes bewahrt bliebe.

Heinz Meinke streckte sich auf das alte Sofa im Wohnzimmer hin und versuchte zu schlafen. Er fühlte sich seelisch und körperlich wie zerschlagen. Und er mußte doch frisch sein für das, was er morgen beginnen wollte: Eine Nachfrage in sämtlichen Münchner Hotels und Pensionen nach einem Herrn mir dunklem Spitzbart, dessen Namen B. v. S. als Anfangsbuchstaben haben müßte!

Er schlief auch ein. Dann wurde jedoch so energisch draußen an der Flurglocke gezogen, daß er nach etwa einer halben Stunde aufschreckte, hinausging und, ohne die Sicherheitskette zu entfernen, fragte, wer draußen sei.

Es war ein Dienstmann mit einem Briefe.

Ein Blick genügte ihm. Die Adresse hatte Hella geschrieben! – Er riß den versiegelten Umschlag auf. Ein Zettel war darin, – darauf nur vier Zeilen, aber auch wieder Hellas Schrift.

„Erwarten Sie mich heute 3 Uhr nachm. im Englischen Garten am Chinesischen Turm in der Ostallee. Für mich hängt alles von dieser Begegnung ab. H.“

Meinke zog seine Taschenuhr.

Bereits fünf Minuten nach halb drei! – Er mußte sofort aufbrechen. Er konnte Frau Mürztalers Rückkehr nicht abwarten.

Hastig machte er sich zum Ausgehen fertig. Püppchen schlief fest im Kinderwagen.

Um ½4 Uhr läutete Frau Mürztaler an der Flurtür. Die Kette war ja vorgelegt. Also nützte ihr der Schlüssel nichts. So dachte sie und hoffte, daß Heinz Meinke ihr sofort öffnen würde.

Aber noch dreimal zog sie am Glockengriff. Nichts rührte sich in der Wohnung. Da versuchte sie es doch mit dem Schlüssel. Meinke konnte ja vielleicht für kurze Zeit ausgegangen sein.

Und wirklich: die Kette war nicht vorgelegt. Sie betrat die Wohnstube. Unwillkürlich glitten ihre Augen sofort nach dem Kinderwagen hin.

Leer – leer!

Der braven Alten zitterten die Knie. Sie lief von Zimmer zu Zimmer, lief in die Küche.

Das Kind war verschwunden.

Gerade als sie ganz ratlos und erfüllt von allerlei argwöhnischen Vermutungen in die Sofaecke sank, um sich erst einmal etwas zu erholen, erschien Heinz Meinke, riß die Tür auf, rief:

„Ich – ich fürchte, ich bin schlau genarrt worden. Man hat mich –“

Da sah auch er, daß der Kinderwagen leer war.

„Das Kind – gestohlen!“ schrie er auf. „Man hat mich aus der Wohnung gelockt, um unser Püppchen rauben zu können!“

Hand in Hand saßen dann die Greisin und der junge Anwalt auf dem Sofa und besprachen scheu und angstvoll das Geschehene.

„Nur Hellas Gatte kann den Diebstahl veranlaßt haben,“ behauptete Meinke. „Er hat entweder Hellas Schrift nachgeahmt oder Hella gezwungen, den Brief in dieser Form abzufassen.“

Er stand plötzlich auf, trat an den Kinderwagen heran und rief erregt: „Ah – ich hatte den Brief samt dem Umschlag hier auf das Deckchen gelegt. Jetzt erst fällt mir dies ein. Ich wollte, daß Sie das Schreiben lesen sollten. Dann hätten Sie sofort gewußt wohin ich gegangen war. Auch der Brief ist weg!“

Frau Mürztaler konnte nur immer wieder den Kopf schütteln und über die Schlechtigkeit der Welt und der Menschen zwecklose Bemerkungen machen. Der Verlust des Kindes ging ihr sehr nahe. Sie hatte sich so herzlich gefreut, endlich wieder ein kleines Wesen zu haben, für das sie sorgen durfte.

Meinke hatte sich wieder neben sie gesetzt.

„Ich möchte nur ergründen, woher Hellas Gatte erfahren haben kann, daß das Kind sich gerade hier bei Ihnen befand,“ sagte er jetzt, finster vor sich hinstarrend. „Es gibt dafür nur eine einzige Erklärung: ich hin gestern von einem Verbündeten dieses Menschen oder von ihm selbst beobachtet worden, wie ich das Kind rettete und mit mir nahm. So muß es sein – nur so!“

„Und – ob der Mann nun nicht auch die Schmuckstücke wird wiederhaben wollen?“ meinte die alte Frau zögernd.

„Ah – richtig, – der Schmuck! An den hatte ich gar nicht mehr gedacht. – Wo hatten Sie die Sachen eingeschlossen, Frau Mürztaler?“

„Dort in jener Kommodenschublade liegen sie – in einem Pappkästchen rechts zwischen Wäschestücken.“

Heinz Meinke sah nach, ob die Ringe und all das andere noch da waren. – Nun – es fehlte nichts!

„Frau Mürztaler,“ sagte er jetzt, „eins beweist dieser Kindesraub, nämlich, daß jener Mann den Selbstmordversuch und den gleichzeitigen Mordversuch Hellas unbedingt geheim halten will. Sonst hätte er ja fraglos die Hilfe der Polizei in Anspruch genommen. Daß er diesen raffinierten Entführungsplan durchführte, zeigt deutlich, daß er –“

 

5. Kapitel.

Geisteskrank.

Das gellende Bimmeln der Flurglocke ließ Meinke verstummen.

Frau Mürztaler war zusammengezuckt.

„Mein Gott, – wer weiß, was –“

Da – schon wieder die Glocke.

Und der junge Anwalt, dem nun plötzlich ebenfalls seltsam beklommen zumute war, eilte schon hinaus.

Vor der Flurtür standen drei Männer. Einer davon war ein weißbärtiger, buckeliger Greis.

„Öffnen Sie!“ befahl einer der beiden anderen recht barschen Tones. „Wir sind Kriminalbeamte. – Bitte – etwas schneller!“

Meinke entfernte die Sicherheitskette. Die drei Leute traten ein. Im Flur brannte eine Gaslampe. Der Buckelige kreischte sofort, nachdem er Meinke kaum flüchtig gemustert hatte:

„Er ist’s – er ist’s ganz bestimmt, Herr Oberwachtmeister!“

Dann folgten die Ereignisse, diese so widersinnigen und doch scheinbar so logischen Vorgänge, Schlag auf Schlag.

Der Buckelige war der Inhaber eines kleinen Leihhauses und beschuldigte Heinz Meinke, gestern vormittag aus einem Glaskasten seines Ladentisches verschiedene echte Schmucksachen in einem unbewachten Augenblick gestohlen zu haben. Die Kriminalbeamten kamen jetzt, um hier Haussuchung zu halten, nachdem der Pfandleiher, wie er weiter behauptete, Meinke vorhin auf der Straße erkannt hatte und ihm nachgeschlichen war.

Die Schmuckstücke wurden in der Schublade der Kommode gefunden. Es waren genau die, die der Pfandleiher vermißte. Er hatte sie schon vorher den Beamten beschrieben.

Meinke half alles protestieren nichts. Er wurde verhaftet, und auch Frau Mürztaler durfte vorläufig ihre Wohnung nicht verlassen.

Auf der Polizeidirektion erreichte Meinke dann wenigstens das eine, daß er sofort durch einen Kommissar vernommen wurde. Als er diesem sein Abenteuer auf der Hesselloher Brücke mit allen Einzelheiten geschildert hatte, als er dann hinzufügte, daß der Pfandleiher seiner Überzeugung nach von demselben Manne bestochen war, der das Kind entführt hatte, lächelte der Beamte gutmütig und meinte:

„Herr Rechtsanwalt, kein Mensch glaubt Ihnen das alles. Der Roman ist ja leidlich gut ersonnen, nur – zu unwahrscheinlich. Sie berufen sich auf das Zeugnis der Frau Mürztaler. Na – dieses Zeugnis ist nicht viel wert. Die Schmuckstücke hat die Mürztaler ja selbst dort zwischen den Wäschestücken versteckt, wie sie zugab. – Es tut mir leid. Ich muß die Verhaftung aufrecht erhalten.“ –

Drei Tage blieb Heinz Meinke in einer Zelle des Polizeigefängnisses. Dann wurde er in das Untersuchungsgefängnis übergeführt. Und nun bekam ihn der Untersuchungsrichter Doktor Tonniger „zum weiteren“ überwiesen.

Tonniger ließ sich „den Roman“ nochmals erzählen. Dann stellte er den Pfandleiher Ignaz Laupichler und den Berliner Rechtsanwalt einander gegenüber. Laupichler beschwor seine Aussagen. Und damit war Heinz Meinkes Schicksal besiegelt, ebenso das der armen Frau Mürztaler.

Doktor Tonniger belächelte „den Roman“ nicht, sondern versuchte es mit gutgemeinten Zureden.

„Legen Sie doch ein Geständnis ab,“ sagte er, „Ihre Entlastungsbeweise sind Sandhäufchen, die unter den Fingern zerrinnen. Niemals hat eine Frau dort auf die Pfeilerbrüstung der Brücke ein Kind gelegt, niemals ist ein Kind in der Wohnung der Mürztaler gewesen. Der Kinderwagen beweist gar nichts. Den haben Sie beide gekauft, um das Märchen für alle Fälle glaubwürdiger erscheinen zu lassen. Ich habe in Berlin angefragt. Sie sind arm und ein Mensch, aus dem niemand recht klug wird. – Wozu leugnen Sie?! Seien Sie doch verständig! Gerade Sie als Anwalt müssen Ihre Sache doch selbst schon verloren geben. Sie haben die Schmuckstücke aus Not gestohlen, nicht wahr?“

Meinke war bereits innerlich zu zermürbt, um noch Klarheit in seine Gedanken bringen zu können. Nur etwas tat er: er brüllte in jähem Wutausbruch den Doktor Tonniger an:

„Herr – ich soll gestohlen haben?! Ich?! Und alles soll glatt erfunden sein, was ich zu Protokoll gab?! – Erkundigen Sie sich gefälligst, – in der Wohnung der Frau Mürztaler hat vor zehn Jahren eine Frau Mela Banfy mit ihrer Tochter gewohnt! Und – ich habe nach Hella Banfy vor 9½ Jahren durch den Privatdetektiv Schilling in Berlin Nachforschungen anstellen lassen. Wollen Sie also wirklich behaupten, ich hatte diese Hella Banfy mir sozusagen aus den Fingern gesogen!“

Doktor Tonniger schüttelte den Kopf. „Das behaupte ich durchaus nicht! Hella Banfy mag Ihre Studentenliebe gewesen sein. Dies entlastet Sie aber in keiner Weise. Sie werden mir doch nicht zumuten, Ihren Beschuldigungen Gehör zu schenken, der Ignaz Laupichler hätte von dem „Gatten“ der Hella Banfy sich zu einem Schurkenstreich erkaufen lassen! – Sie wollen also nicht gestehen. Nun gut. Ich schließe dann also die Voruntersuchung und werde die Akten zur Erhebung der Anklage der Staatsanwaltschaft übergeben.“

Heinz Meinke wurde in seine Zelle zurückgeführt. Am 12. Dezember fand die Verhandlung gegen ihn und Frau Mürztaler vor der Strafkammer statt. Er wurde zu neun Monaten Gefängnis, die Mürztaler wegen Begünstigung zu einem Monat verurteilt. – Beide legten gegen das Urteil sofort Berufung ein.

Meinke war jetzt um viele Jahre gealtert. Er verzehrte sich innerlich in ohnmächtiger Wut. Er durchschaute das Spiel jenes Schurken, der fraglos wußte, daß Hella ihn einst geliebt hatte, und der ihn nun verderben wollte.

Er litt an Schlaflosigkeit. Seine Haare waren an den Schläfen grau geworden. Stundenlang hockte er regungslos da und zergrübelte sich den Kopf, wie er dem Gericht beweisen könnte, daß sein „Roman“ Wirklichkeit war.

Und – all das nun wieder Hellas wegen – seiner großen, heiligen Liebe wegen.

Er fand keine neuen Momente, die das Gericht hätte nachprüfen müssen. Er war auch geistig bereits zu stumpf geworden, um seine Sache vorteilhaft vertreten zu können. – Dann, kurz nach der Verurteilung, träumte er von jenem Stücke des Glasfensters des Autos. Der Traum war ihm nach dem Erwachen noch gegenwärtig. Das Stück Glasscheibe hatte er zu seiner Entlastung noch nicht angeführt. Er hatte es in Frau Mürztalers guter Stube in ein Postkartenalbum geschoben.

Das Gericht entsandte einen Beamten nach der Wohnung. Das Glasstück wurde gefunden. Inzwischen waren den Beisitzern der Strafkammer doch allerlei Zweifel gekommen, ob man diesen Berliner Anwalt nicht vielleicht insofern zu Unrecht verurteilt hätte, als der Mann doch auch – geisteskrank sein könnte.

Jedenfalls wurde Heinz Meinke gleich darauf der Privatheilanstalt des Doktors Edwin Paszotta zur Beobachtung für vier Wochen überwiesen, da die staatlichen Anstalten überfüllt waren und Doktor Paszotta als Spezialist für „Verbrecher aus krankhafter Neigung“ galt.

An einem klaren, kalten Januarmorgen brachte ein Auto den Verurteilten nach der Nervenheilanstalt, die weit außerhalb Münchens inmitten eines ausgedehnten Parkes lag.

Als Heinz Meinke dann dem würdigen alten Herrn gegenüberstand, dem diese Goldgrube von „menschenfreundlichem“ Unternehmen gehörte, war sein Entschluß längst gefaßt. Er wollte hier den Kranken, den geistig nicht ganz Normalen vortäuschen, um dem Gefängnis zu entgehen und bei der ersten günstigen Gelegenheit zu fliehen.

Doktor Paszottas widerliche Freundlichkeit ekelte ihn an. Er witterte in dieser „Berühmtheit“ sehr bald einen Menschen wie Ignaz Laupichler, eben ein Werkzeug jenes brutalen Schuftes, der ihn geistig und körperlich durch die Gefängnisstrafe zugrunde richten wollte. Aber er war schlau. Seine Energie war aufs neue erwacht. Er wollte den Kampf gegen jenem Mann, dem Hella verfallen war und der statt des Herzens einen Stein in der Brust haben mußte, wieder aufnehmen – nur auf andere Weise!

Absichtlich warf er jetzt die Einzelheiten seines „Romans“, den der Arzt sich erzählen ließ, durcheinander. Flehentlich bat er dann, allein für sich ein Zimmer zu erhalten: er wolle dort eine neue Verteidigungsschrift in aller Ruhe aufsetzen.

Doktor Paszotta erfüllte ihm diesen Wunsch. So kam Heinz Meinke denn in einen einfenstrigen Raum im zweiten Stock. Das Fenster war stark vergittert. Aber schon in der dritten Nacht hatte der junge Anwalt, wohlvertraut mit allen Ausbrecherkniffen infolge seines Berufes, das Fenstergitter oben gelockert. Nach einer Woche gelang es ihm dann, in einer stürmischen Nacht an der Regenrinne in den Park hinabzuklettern. Er hatte jedoch nicht mit den Hunden gerechnet, die hier allnächtlich die Wächter spielten. Bald waren ihm drei Bulldoggen auf den Fersen. Er mußte schließlich an einem Blitzableiter eines mit zur Anstalt gehörigen, im Hintergrunde des Parkes stehenden Hauses emporklimmen, gelangte so auf den Hausboden und verkroch sich in eine große mit Holzwolle halb gefüllte Kiste.

Das Heulen und Toben des mit Hagelschauern und Schneetreiben vermischten Sturmes übertönte das wütende Kläffen der Hunde und machte es den Wärtern dann auch am Morgen infolge des reichlich gefallenen Schnees unmöglich, dem Flüchtling auf die Spur zu kommen. In der nächsten Nacht wollte Heinz Meinke versuchen, über die nahe Parkmauer das Freie zu gewinnen. Der Hunger trieb ihn aus seinem leidlich warmen Versteck heraus. Um Mitternacht stieg er an dem Blitzableiter abwärts. Neben diesem waren im ersten Stock zwei Fenster erleuchtet. Als Meinke sich in einer Höhe mit ihnen befand, warf er mehr aus Neugier als aus Angst, von dem Bewohner des Zimmers bemerkt zu werden, einen Blick durch einen Spalt in den Vorhängen in diesen großen Raum hinein, wo offenbar ebenfalls ein Kranker untergebracht war, wie die Fenstergitter verrieten.

Und er sah nun wirklich eine Frau an einem Tische sitzen, auf dem eine elektrische Lampe stand. Die Frau schrieb. Jetzt legte sie den Federhalter hin, lehnte sich zurück, strich mit der Rechten über die Stirn.

Heinz Meinkes Lippen entrang sich ein gurgelnder Laut.

Beinahe hätte er den Blitzableiter losgelassen vor ungläubigem Staunen – vor freudigem Schreck!

Die Frau war – Hella – seine Hella!

 

6. Kapitel.

Seelchen Randlow.

Unweit der Anstalt des Doktors Paszotta lag in einem versteckten Tale ein kleines Dorf. Wir wollen es hier Keldingau nennen.

Am Südausgang des Dörfchens steht das Gasthaus „Zur Stadt München“, ein alter, halb verfallener Steinkasten, dessen Wirt Sepp Hilmenpeiler mit der Polizei seit langem auf recht gespanntem Fuße lebte.

Wenn einem, der etwas aus dem Kerbholz hatte, der Boden in München zu heiß wurde – bei Sepp Hilmenpeiler fand er stets einen Unterschlupf. Dessen Haus bot Verstecke, die selbst die feinsten Polizeispürnasen nicht herausschnüffelten.

In einer finsteren, kalten Januarnacht gegen ein Uhr morgens saßen der lange Sepp und zwei berüchtigte Taschendiebe in Hilmenpeilers Wohnstube neben dem Glutwellen aushauchenden Ofen beim Skat. Sepp hatte gerade einen „Null“ gewonnen, als es draußen gegen die Fensterlade pochte. Das Fenster war von innen dicht verhängt. Kein Lichtstrahl konnte hindurchfallen. – Die beiden Gauner, mit schäbiger Eleganz gekleidete jüngere Burschen, schauten Sepp fragend an. Sepp winkte ihnen beruhigend zu, ging ins Nebenzimmer, öffnete hier den einen Fensterladen und brüllte etwas in die Nacht hinaus. Dann tauchte vor dem Fenster die Gestalt eines barhäuptigen Mannes auf, der mit vor Frost klappernden Zähnen um ein Nachtlager bat. Sepp begann eine Art Verhör. Als der Fremde erklärte, er sei aus Doktor Paszottas Anstalt entflohen, ließ Sepp ihn sofort ein.

So lernte Heinz Meinke seine treuen Verbündeten kennen, denn das wurden ihm diese drei Männer sehr bald, die sich um Gesetz und Recht nicht weiter scherten, aber ein sehr feines Gefühl für Lüge und Wahrheit hatten.

Meinke erhielt Speise und Trank und berichtete seine Schicksale, während er heißhungrig die gewärmte Suppe verschlang.

Der kleinere der Taschendiebe, Aloys Scharwenter, spuckte gegen die heiße Ofentür und sagte dann:

„Herr Rechtsanwalt, dös ist so a Geschicht’, wo die Herrn vons Gericht nie begreif’n werd’n, nie! Dazu fehlt ihnen so die richt’ge Menschenkenntnis. Ich für meine Perschon glaub’ Ihna allens Wort für Wort. So a Geschicht’ beißt sich doch niemand aus die Fingernägel aussi! So a Geschicht’, dös ist eben das Leben!“ –

Eine Stunde darauf war Heinz Meinke in einer winzigen Kammer untergebracht und las beim Scheine einer Kerze das, was Hella ihm durch das Gitter des Fensters zugereicht hatte, als er sich ihr durch leises Pochen bemerkbar machte.

„Flieh!“ hatte sie nur geflüstert. „Rette Dich – und vergiß mich!“ – Dann hielt er das dünne Heftchen in den Händen: dann verschwand sie vom Fenster. Und er hatte glücklich die Mauer erreicht, und war querfeldein gelaufen, bis er vor Schwäche umzusinken drohte.

Und nun – nun überflog er die Niederschrift der Lebensschicksale Hella Banfys: nun tat sich ihm die Pforte all dieser dunklen Geheimnisse auf.

„Meine Erinnerungen und meine Leiden“

lautete die Überschrift der eng gefüllten Seiten.

Und – mit welch ungeheurer Tragik setzte dann gleich der Inhalt mit den ersten Zeilen ein! – Heinz Meinke krampfte sich das Herz zusammen. So und so oft mußte er das Heft sinken lassen, um seine Nerven erst wieder zur Ruhe zu zwingen. Aus diesen von Hellas Hand beschriebenen Seiten wuchs ein Mannesbild heraus, wie er es mit so abstoßenden, aber auch in ihrer völligen Gefühllosigkeit fast wieder imponierenden Charakterzügen kaum für möglich gehalten.

* *
*

Er hat mich also doch besiegt. All meine Schlauheit und Vorsicht haben mir nichts genützt. Was ich als Strafe für ihn ersonnen, hat sich gegen mich selbst gewandt.

Ich bin eine Gefangene. Ich mußte ihm gehorchen, als er mich hier zu Doktor Paszotta brachte. Und – ich ging freiwillig hierher, denn meiner armen Mutter Seelenfrieden steht mir höher als mein eigenes, klägliches Scheindasein. Ob ich hier in diesen Mauern, umgeben von Geisteskranken und rücksichtslosen Wärterinnen, dahinsieche oder anderswo, – das bleibt sich ja völlig gleich! Nur das eine wird er nie, nie erreichen: daß er auch mich zur Sklavin seiner Lüste macht, zum Werkzeug jenes Hasses, der aus unerwiderter Leidenschaft geboren wurde. –

Ich habe meine Wärterinnen bestochen. Man hat die Banknoten, die ich für alle Fälle in mein Mieder eingenäht hatte, bei der Leibesvisitation nicht gefunden. So darf ich denn nachts so lange aufsitzen, wie ich mag, darf für den Mann, dem meine Liebe noch heute gehört, all dieses niederschreiben. Und wenn er diese Zeilen einst lesen wird, vielleicht erst nach vielen Monaten, vielleicht erst – nach meinem Tode, dann wird er begreifen, daß ich auf alles verzichten mußte, was meines Lebens Inhalt war. –

Es ist so schwer für diese Niederschrift den richtigen Anfang zu finden. Wo mit all dem Häßlichen, teilweise noch immer Ungeklärten beginnen?! Wo nur?!

Droben im Osten an der Küste des Samlandes steht in einer der vielen Schluchten, die sich weit klaffend durch die berühmte, steile Bernsteinküste zum Meere hinabziehen, mein Vaterhaus, die sogenannte Graben-Mühle.

Die Graben-Mühle hat mein Großvater Ernst Randlow gebaut, hat dann nachher das Wohngebäude erweitert, hat ein Stockwerk aufgesetzt, ein Türmchen angeklebt und so inmitten knorriger Haselsträucher und Erlenbüsche, beschattet von ein paar uralten Eichen und dicken, weißschimmernden Birken, einen recht romantischen Bau entstehen lassen. Mein Vater war das einzige Kind einer sehr glücklichen Ehe. Er heiratete mit 28 Jahren Melanie Banfy, die Tochter eines Königsberger Magistratssekretärs. Nach anderthalb Jahren wurde meine um zehn Jahre ältere Schwester Adele geboren. Als ich dann ebenfalls als Mädchen zur Welt kam, mag mein Vater zunächst recht enttäuscht gewesen sein. Aber er war ein zu gütiger, liebevoller Gatte, um sein geliebtes Weib oder gar mich diese Enttäuschung jemals irgendwie fühlen zu lassen. Unser Familienleben war das denkbar glücklichste. Wir lebten in guten Verhältnissen, und die Eltern konnten Adele und mich in einem Königsberger Pensionat erziehen lassen. Wir Schwestern hatten sehr große Ähnlichkeit miteinander. Besonders Adele war schon mit sechzehn Jahren eine Schönheit. Mit achtzehn Jahren verließ sie die Pension der Frau Doktor Halfner und kehrte nach Hause zurück. Ich als damals achtjähriges Mädel hing mit schwärmerischer Liebe an der schönen, älteren Schwester, die mir die beste Spielgefährtin wurde. Adele, die wir nur „Seelchen“ nannten, war weder eitel noch irgendwie eingebildet auf ihr Äußeres. Sie half tüchtig in der Wirtschaft mit und war, obwohl völlig erblüht, noch ein harmlos-fröhliches Kind.

Sie hatte zahlreiche Bewerber, darunter so manchen, den meine Eltern gern als Schwiegersohn begrüßt hätten, Doch Seelchen dachte nicht ans Heiraten oder ans Verlieben. Sie liebte nur eins – genau wie ich: unser behagliches, poetisches Elternhaus und das Meer.

Sie konnte stundenlang im Sommer am Rande der Steilküste sitzen und in die Ferne hinausstarren, – dorthin, wo Himmel und Meer in eins zerflossen. Sie ähnelte meiner Mutter, die ebenfalls etwas träumerisch veranlagt war und die erst in meinem einfachen Vater jenen Bildungsdrang geweckt hatte, der ihn bald hoch über seine ursprüngliche geistige Schulung hinaushob.

Mit zehn Jahren kam ich dann ebenfalls zu Frau Doktor Halfner in Pension. Sonntags durfte ich jedoch fast regelmäßig heim. Die zwei Stunden Fahrt mit der Samlandbahn machten ja nicht viel aus. – Meine Schwester war auch jetzt noch ein halber Backfisch trotz ihrer zwanzig Jahre. Männern gegenüber belieb sie zurückhaltend und so kühl, daß jeder Freier bald einsah, wie gering seine Aussichten waren, sich das Seelchen von der Graben-Mühle zu erobern.

Wieder vergingen zwei Jahre. Nichts hatte sich inzwischen daheim verändert. Nur ich hatte, jetzt zwölfjährig, die Welt und die Menschen mit anderen Augen ansehen gelernt. Im Pensionat war mir eine sechzehnjährige Russin aus Petersburg, die Tochter dort ausgewanderter deutscher Eltern, Freundin und leider auch in vielen Dingen Lehrerin geworden, die sonst einem Mädchen von 12 Jahren noch völlig fernliegen.

An einem Junisonnabend fuhr ich abends wieder einmal nach Hause. Im Nebenabteil des Aussichtswagens des Samlandzuges saßen ein paar Gutsbesitzer, die ich von Ansehen kannte. Sie sprachen davon, daß ein Herr von Schalling jetzt so viel in der Graben-Mühle verkehre, und Schalling sei ganz der Mann danach, das spröde Seelchen gefügig zu machen, worauf ein anderer wieder äußerte, Schallings Schürzenjägerabenteuer hätten ihn denn doch schon zu berüchtigt in der Gegend gemacht, als daß ein Mädchen wie Adele Randlow ihn als Bewerber ernst nehmen würde.

Die Herren ahnten nicht, daß gerade ich im Nebenabteil saß. Das Thema Borwin von Schalling wurde noch weiter erörtert, und ich bekam noch manches zu hören, was mir diesen Mann, den ich ja bereits persönlich kannte, als gefährlichen Feind des Friedens unseres Hauses erscheinen ließ.

Daß Borwin von Schalling, der vor drei Monaten das in unserer Nähe gelegene große Gut Mahlgeiken gekauft hatte und dem ich schon mehrmals daheim begegnet war, Seelchen den Hof machte, hatte ich selbst bemerkt. Seelchen hatte sogar am vorigen Sonntag zu mir gesagt, als sie mich im Einspänner nach dem Bahnhof brachte:

„Wenn ich nur ein Mittel wüßte, diesem Schalling das Wiederkommen zu verleiden! Der Mensch ist mir so unsympathisch. Hast Du seine langen, schmalen Hände mit der weißen Haut, den dicken blauen Adern und den starken Muskel- und Sehnensträngen bemerkt?! Oh – es sind so brutale Hände, ebenso brutal wie der Blick seiner dunklen Augen, die einem förmlich die Kleider vom Leibe zerren! Er ist mir so furchtbar widerwärtig, Hellachen, – Du glaubst gar nicht, wie sehr!“

So hatte Seelchen zu mir gesprochen. Und nun behauptete einer der Herren nebenan, Borwin von Schalling würde selbst „das spröde Seelchen“ gefügig machen!

Ich wäre am liebsten aufgesprungen und hätte den Herren zugerufen: „Da kennen Sie meine Schwester schlecht! Die läßt sich auch von einem Borwin von Schalling nicht zur Liebe kommandieren!“

Ach – ich dummes Mädel ahnte ja nicht, wie – wie dieser Schalling eigentlich war!

Als der Zug einlief, sah ich Adele auf dem Bahnsteig stehen. Sie war sehr bleich. Sie nahm mich mit seltener Heftigkeit in die Arme, küßte mich und begann dann erst zu sprechen, als der Wagen die Chaussee entlangrollte.

„Hella,“ sagte sie. „Ich weiß, Du bist kein Kind mehr. Du mußt mir helfen, die Eltern zu überreden, daß ich für längere Zeit zur Tante nach Tilsit fahren darf. Ich – ich muß weg von hier, weit weg. Schalling kommt jetzt täglich zu uns. Der Vater ist schon gut Freund mit ihm. Ich merke, daß er es mir nachträgt, weil ich Schalling so ablehnend behandele –“ –

So begann das Unheil.

Adele fuhr nicht nach Tilsit. Der Vater war plötzlich wie verwandelt. Er war unfreundlich zu Adele und mir, denn auch ich zeigte Schalling meine Abneigung ganz offen. Ich durfte jetzt nur jeden zweiten Sonntag nach Hause kommen. Aber: Schalling traf ich stets an.

Seelchen wurde immer schmaler und blasser. Einmal im September desselben Jahres war ich heimlich Zeuge, wie Schalling an Adeles Lieblingsplätzchen am Steilufer ihr eine Liebeserklärung machte. Damals sah ich zum ersten Male, wie entsetzlich die Leidenschaft ein Männerantlitz entstellen kann. Adele wollte fliehen. Schalling hielt sie an den Handgelenken fest. Er war groß und schlank. Und er war alles in allem ein schöner Mann, nur hatte er so etwas vom Mephisto an sich

Adele rief um Hilfe. Und als er sie an seine Brust riß, als er ihr gewaltsam den Kopf zurückbog und sie küssen wollte, da – spie sie ihm, ihrer Sinne nicht mehr mächtig, ins Gesicht.

Er gab sie frei. Sie entfloh. Sie hörte das Lachen nicht, das er ihr nachschickte.

Mir in meinem Versteck wurde eiskalt bei diesem Lachen. –

Schalling ließ sich dann bis zum Januar des folgenden Jahres bei uns nicht mehr sehen. Aber Adele erzählte mir, daß er jetzt viel mit dem Vater auf seinem Gute zusammen sei. – Inzwischen hatte Seelchen den Doktor Würz, einen jungen Arzt aus dem nahen Seebade Rauschen, kennen gelernt. Doktor Würz verkehrte eine Weile bei uns. Dann verbot ihm Vater das Haus unter einem lächerlichen Vorwand. Adele hatte sich jedoch bereits heimlich mit Manfred Würz verlobt. Unsere Mutter begünstigte diese Neigung, mußte dies aber sehr vorsichtig tun, da der Vater auch ihr gegenüber aus seiner Mißstimmung über Seelchens Weigerung, Borwin von Schalling zu heiraten, kein Geheimnis machte und ihr zuweilen erregt vorwarf, Adeles „alberne Launen“ noch zu vergrößern. Kurz: unser glückliches Familienleben hatte dieser Teufel von Mensch bereits zerstört.

Es kam noch schlimmer. Anfang Januar fand sich Schalling wieder bei uns ein und überbrachte uns eine Einladung zu einer großen Treibjagd, an die sich ein Ball im Gutshause anschließen sollte.

Wir mußten zusagen. Papa wollte es. Damals hat Adele dem Vater zugerufen: „Eher töte ich mich, als daß ich diesen Menschen heirate!“

Vater schmetterte die Tür ins Schloß. Im Flur hörten wir ihn fluchen: „Verdammte dumme Gans! Einen mehrfachen Millionär!“ –

Auch Doktor Würz war geladen. Er und Papa standen beim zweiten Treiben in einem Kieferngehölz nebeneinander. – Wir weiblichen Gäste saßen gerade in dem prachtvoll eingerichteten Speisesaale beim Kaffee, waren soeben erst eingetroffen, als man – Manfred Würz auf einer aus Baumästen gefertigten Bahre tot herbeibrachte. Er war gestolpert: sein Gewehr hatte sich entladen, und der Schrotschuß war ihm ins Herz gedrungen. Er war sofort tot gewesen.

 

7. Kapitel.

Der Teufel siegt.

Adele hatte sich über die Leiche geworfen, die für immer stummen Lippen unter herzzerreißendem Schluchzen geküßt und mußte von Mama mit Gewalt weggeführt werden. Sie verfiel in ein schweres Nervenfieber. Erst nach einem halben Jahre war sie wieder so weit hergestellt, daß sie sich frei bewegen konnte.

Borwin von Schalling hatte ihr andauernd die prächtigsten Blumen geschickt, dazu stets Gedichte, die Seelchen zuerst ungelesen zerriß. Aber – schließlich siegte die Neugier. Und dann gab sie mir einige dieser Gedichte zu lesen. Sie waren zart und weich wie der Maiwind, der die Knospen öffnet.

Adele – das merkte ich bald – lernte anders über Schalling denken. Die Gedichte, die Blumen verfehlten ihre Wirkung nicht. Sie waren vielleicht mit das raffinierteste Mittel, das dieser liebestolle Teufel ersonnen hat, um Seelchen für sich zu gewinnen.

Ich fand Adele jetzt oft in Tränen. Ich ahnte, was in ihr vorging. Sie fürchtete Schalling, aber – sie war seinem jetzt so zarten Werben gegenüber nicht mehr so ablehnend wie einst.

Im August dieses Jahres, kurz nach meinem 14. Geburtstage, verlobte sie sich mit Schalling. Ich hatte gerade Ferien, war also abermals Zeugin dieser Szenen, die mir unvergeßlich bleiben werden.

Am Verlobungstage nahm Schalling sich offenbar noch zusammen, um Adele nicht einzuschüchtern. All seine wilde Begehrlichkeit bemäntelte er schlau durch Handküsse und ein fast zu respektvolles Benehmen.

Am nächsten Nachmittag überbrachte er dann die Verlobungsringe und das Brautgeschenk – ein Brillantenarmband in Form einer Schlange, ein wahrhaft fürstliches Geschenk. Und abends, als er mit Adele nach der Steilküste einen Spaziergang machte, schlich ich erfüllt von bösen Ahnungen, hinter drein.

Ich kam gerade zur rechten Zeit. Ich will hier nicht näher schildern wie Schalling in seiner wahnwitzigen Liebesgier Adele die Lippen blutig gebissen, wie er sie mit seinen Küssen halb erstickt hatte.

Ich hörte Seelchens wimmernden Hilferuf. Wie eine Katze sprang ich den großen, kräftigen Mann da in besinnungsloser Wut an, schlug ihm mit den Fäusten in den Rücken, schrie überlaut:

„Lassen Sie meine Schwester los, Sie – Sie Satan!“

Ich will mich kürzer fassen. Dieses Wühlen in so häßlichen Erinnerungen widert mich an. – Adele lief wie gehetzt nach Hause. Ich hinter ihr drein. Und als dritter raste dann Schalling in das Wohnzimmer, wo Adele gerade dem Vater halb irr vor Aufregung zukreischte, daß sie die Verlobung löse.

Sie warf Schalling Ring und Armband vor die Füße. Er blieb ganz ruhig, schickte uns andere herrisch hinaus. Er wollte Adele allein sprechen.

Ich war schlau, eilte vom Garten in die Veranda und konnte so gerade noch hören, wie Schalling zu Seelchen sagte:

„Wenn Du also Deinen Vater ins Gefängnis, nein, ins Zuchthaus bringen willst, dann – bitte!“

Adele saß in einem Sessel. Sie war leichenblaß. Sie antwortete erst nach einer Weile ganz leise:

„Gib mir bis morgen mittag Bedenkzeit.“

„Bedauere! – Borwin von Schalling macht sich nicht zum Gespött seiner Standesgenossen. Wenn ich meine Liebe der Tochter eines Mühlenbesitzers schenke, wenn diese sich mit mir verlobt hat und die Anzeige bereits in den Zeitungen steht, dann heiratet mich dieses Mädchen auch – muß mich heiraten – muß! Ich bin kein Schmachtlappen von Liebhaber! Ich bin Mann! – Entscheide Dich! Entweder hebst Du selbst dort den Goldreif und das Armband vom Teppich wieder auf, oder – Dein Vater wird morgen verhaftet!“

Adele erhob sich schwerfällig und ebenso langsam formte sie nun Wort für Wort.

„Ich muß Dich also heiraten! Ich muß! Du hast mir ja soeben bewiesen, daß Du Gewalt über mich hast. Gut denn – heirate mich! Aber – Du könntest ebenso gut eine Tote zum Weibe nehmen. Ich – verachte Dich, ich – verabscheue Dich und meine Lippen werden Deine Küsse nur dulden, als küßtest Du eine – Leiche.“

Sie bückte sich zweimal, streifte Ring und Armband wieder auf.

Schalling holte die Eltern, meinte ganz harmlos:

„Adele ist bereits versöhnt. In vier Wochen feiern wir Hochzeit.“ –

Adele schwand jetzt förmlich dahin. Nicht anders erging es der armen Mama, die Schalling genau so haßte, wie ich es jetzt tat.

Der Vater betäubte sein erwachtes Gewissen durch Wein, durch Liköre. In vierzehn Tagen war er ein Trinker geworden. In seinen Augen lag stets ein Ausdruck, der mein Mitleid wachrief. Ich hatte das Gefühl, daß Vater namenlos litt, weil er eben nun auch selbst das Unglück seines Kindes voraussah.

Ich hatte Adele flehentlich gebeten, mir doch mitzuteilen, was denn Vater begangen hatte, weshalb Schalling ihn verderben könnte. Adele schwieg. Sie wandelte umher, als wäre ihr Herz erstorben. Kaum daß sie mit Mutter und mir mal ein Wort wechselte.

Am 15. September fand bei uns die kleine Hochzeit statt. Es saßen nur 16 Personen bei der Tafel. Die Herren tranken fast unmäßig, nur um die frostige Stimmung loszuwerden.

Um 8 Uhr abends fuhr das junge Paar zur Bahn. Ich ließ es mir nicht nehmen, den leichten Jagdwagen zu kutschieren. Kurz vor dem Bahnhof befahl mir Schalling, zu halten. Es war bereits dunkel. Ich drehte mich um. Ich sah, daß Schalling Adele mit Gewalt einen winzigen Revolver aus der Kleidertasche riß und die Waffe in einen Teich am Wege schleuderte.

„Gut – fahre weiter!“ rief er dann. „Adele kennt mich noch immer zu wenig!“

„Satan!“ kreischte ich, und all mein Haß lag in diesem einen Wort. Oh – ich hätte ihn umbringen können – damals schon.

Er – lachte!

„Kleine Giftnatter, nach einem Jahre wird Seelchen sich jubelnd in meine Arme schmiegen – wetten?!“

Ich peitschte auf die Pferde ein. Am liebsten hätte ich mit der Peitsche auf Schalling losgeschlagen.

Damals abends fiel mir das Märchen „Das steinerne Herz“ ein. Auch dieser Mann, der nun mein Schwager war, besaß anstatt des Herzens einen Stein in der Brust! Wie hätte er sonst wohl mit einem Weibe, das ihn verabscheute, die Hochzeitsreise antreten können?! –

Vor dem Bahnhof nickte Adele mir nur wortlos zu. Ich weinte und schluchzte, und die Leute ringsum, die ja alle aus unserer Gegend waren und dieses Liebesdrama insoweit kannten, als sie eben wußten, daß Adele ihren Gatten nicht liebte, murmelten Flüche hinter dem reichen Gutsherrn drein. –

An demselben Abend starb mein Vater an Herzschlag infolge übermäßigen Alkoholgenusses.

Kaum war er beerdigt (Mutter hatte dem jungen Paare, das inzwischen in Nizza angelangt war, den Tod nicht mitgeteilt), als die Graben-Mühle verkauft wurde. Mutter und ich fuhren dann nach Berlin: von da weiter nach Wien, wo wir unter dem Namen Banfy (wie Mutter als Mädchen geheißen hatte) ein Jahr wohnten.

Ich begriff nicht, weshalb wir wie Flüchtlinge die Heimat verlassen hatten, weshalb Mutter mit niemandem mehr Briefe wechselte. Nicht einmal an Adele schrieb sie. Umsonst flehte ich meine Mutter an, mir doch all diese seltsamen Heimlichkeiten zu erklären. Sie vertröstete mich stets auf später. – Ich merkte jedoch, daß Mutter große Summen für mir unbekannte Zwecke ausgab.

Dann reisten wir ganz plötzlich nach Dresden, wohnten hier wieder als Banfys möbliert und verlegten ebenso plötzlich unseren Wohnsitz nach München, wo Mutter Möbel kaufte und, offenbar zum Sparen gezwungen, ein Zimmer dann vermietete.

 

8. Kapitel.

Ein Teil des Geheimnisses.

Die glücklichste Zeit meines Lebens begann.

Ich lernte Heinz Meinke kennen: ich lernte die große, reine Liebe, die Seligkeit innigsten Ineinanderaufgehens, kennen!

Ach – es war ein Traum, ein Traum von Glück, so wunderhold, wie es niemals wieder ein so zartes Liebesglück geben kann.

Heinz Meinke!

Heinz, wenn Du diese Zeilen einst liest, wirst Du alles begreifen! Alles! Daß ich nie mehr an Dich schreiben durfte, daß ich tot sein mußte für Dich und Du für mich! – Ach – Du lebtest ja leider in meiner Erinnerung nur zu sehr, nur zu frisch und lockend stand stets Dein liebes Bild vor mir! – Ich sage: leider! Und dieses Leider bedeutet die Qualen ungestillten Sehnens, bedeutet des Verzichtens nie endenden Kummer! –

Du weißt, daß meine Mutter ganz plötzlich München verließ und nach Hamburg – angeblich! – verzog.

Schon Wochen vorher merkte ich, daß Mutter allerhand vor mir zu verbergen hatte, daß ihre nervöse Unruhe sich ständig steigerte. Dann nahm ich einmal dem Briefträger einen Brief ab – aus Ostpreußen, – von Adele! – Ich erkannte ihre Handschrift sofort. Als ich den Brief der Mutter gab, riß sie ihn mir förmlich aus der Hand. Ich flehte sie abermals an, mich doch endlich in ihre Sorgen einzuweihen. Sie wollte mich wieder vertrösten. Aber ich ließ nicht nach mit Bitten, bis sie endlich folgendes mir mitteilte.

Mein Vater hatte ein privatschriftliches Testament hinterlassen gehabt, in dem er Adele zur Haupterbin eingesetzt, Mutter und mich aber auf den Pflichtteil beschränkt und zum Testamentvollstrecker Borwin von Schalling bestimmt hatte. Mutter war überzeugt gewesen, daß diese letztwillige Verfügung lediglich auf Betreiben Schallings aufgesetzt worden war, der sich dadurch an Mutter und mir für unsere ihm stets offen bezeigte Abneigung hätte rächen wollen.

Sie hatte das Testament vernichtet, so daß nun ein von meinem Vater schon früher aufgesetztes Geltung hatte, nach dessen Bestimmungen meine Mutter als Erbin und wir Töchter als Nacherben in Betracht kamen.

Da sie nun aber fürchtete, Schalling könnte von dem anderen Testament Kenntnis gehabt haben, verließ sie schleunigst die alte Heimat und führte dieses unstäte Flüchtlingsleben, immer von der Angst gepeinigt, Schalling wurde ihr nachspüren und sie wegen Unterdrückung der Urkunde zur Verantwortung ziehen. Durch einen zuverlässigen Bekannten hatte sie sich mit Adele insgeheim in Verbindung gesetzt, die ihr dann auch bald die Warnung zukommen ließ, sich vor Borwin in acht zu nehmen, der offenbar Nachforschungen anstelle.

Der letzte Brief Adeles sollte nun, wie meine Mutter behauptete, den Rat enthalten, München schleunigst zu verlassen. – Seltsamerweise gab Mutter mir das Schreiben jedoch nicht zu lesen, so daß mein Argwohn, bei alledem müßten noch andere Dinge mitspielen, noch stärker wurde. Ich konnte mir auch nicht einmal heimlich Einsicht in das Schreiben verschaffen, da die Mutter den Brief sofort verbrannt hatte.

An demselben Abend gab es dann zwischen uns eine große Aussprache Deinetwegen. Mutter beschwor mich, jede Verbindung mit Dir abzubrechen, sobald wir München den Rücken gekehrt hätten. Ich weigerte mich. Ich konnte nicht einsehen, weshalb Borwin vielleicht durch Dich unseren Aufenthalt entdecken könnte, wie Mutter dies befürchtete. Diese Angst erschien mir ganz grundlos. Aber – was vermochte ich gegenüber ihren Tränen, ihren Beschwörungen, ihrer Verzweiflung!

„Wir beide müssen ganz allein für uns leben!“ wiederholte sie immer wieder. „Jeder Verkehr bedeutet für uns Gefahr. Bedenke, daß Heinz Meinke eines Tages auf den Gedanken kommen könnte, sich über unsere näheren Verhältnisse durch eine Auskunftei zu erkundigen. Gerade weil er Dich liebt und ernste Absichten hat, wird er doch wissen wollen, wer wir beide Banfys eigentlich sind. Und – wir leben doch unter einem Namen, den wir nicht führen dürfen! Gerade durch eine solche Auskunftei kann irgendwie auch Borwin auf uns aufmerksam werden! – Hella, wenn Du mich nicht im Gefängnis sehen willst, dann gib Heinz Meinke auf! Vertraue der Zukunft! Vielleicht erblüht auch Dir einst noch ein volles Glück!“

Vielleicht –! – Einst –! – Das war ein schwacher Trost. – Ich habe damals die ganze Nacht geweint. Und unter all den Tränen habe ich meine Liebe zu Dir begraben. Ich gelobte Mutter, nie wieder mit Dir in Verbindung zu treten. – Und dann kam der Abschied.

Heinz, als damals der Zug uns von München entführte, als Du auf dem Bahnsteig meinen Augen entschwandest, da sank ich der Mutter bewußtlos in die Arme. –

Genug von alldem Herzzerreißenden! – Wir verließen Hamburg sofort wieder und übernahmen in Harzburg ein kleines Pensionat, das wir dann ohne Bedienung bewirtschafteten. Wir haben tagaus, tagein nichts als Arbeit gekannt. Von Adele blieb jetzt jede Nachricht aus. Sie fürchtete, Borwin könnte diese Korrespondenz entdecken.

Ich muß hier noch einiges über Adeles Ehe nachholen. Mutter hatte mir dies aus meiner Schwester früheren Briefen erzählt. – Borwins Liebe zu Adele war in der Ehe noch leidenschaftlicher, aber auch noch herrischer geworden. Er erfüllte ihr jeden Wunsch, er verwöhnte sie. Aber – er blieb der rücksichtslose Ehemann, der Liebe forderte und – erzwang. Meiner Schwester Leben wurde so zu einer seelischen Marter, der sie so und so oft zu erliegen drohte. Sie haßte und verachtete ihren Gatten nach wie vor. Sie hätte längst freiwillig diesem Dasein ein Ende gemacht, wenn Borwin ihr nicht gedroht hätte, dann sofort öffentlich gegen die Mutter wegen Beseitigung des Testaments vorzugehen. Dieses unselige Testament, dieser vorschnelle Entschluß meiner Mutter, es zu vernichten, war die Quelle allen Unheils! Hierdurch hatte dieser brutale Egoist das Mittel gewonnen, Adele weiter an sich zu ketten: hierdurch konnte er uns seine Feindseligkeit dauernd fühlen lassen. –

Dies erfuhr ich von der Mutter. Daß sie mir jedoch hierbei vieles unterschlug, war mir gewiß. Ich zergrübelte mir umsonst den Kopf, welches Geheimnis hier noch mit hineinverwickelt sein könnte. Ich fragte mich mit Recht, weshalb Borwin denn, wenn er Mutter und mich seinen Haß spüren lassen wollte, nicht längst die Behörden zu unserer Verfolgung angerufen hatte?! Es gab da so vieles, was mir widerspruchsvoll dünkte und was sich doch mit Hilfe meiner Kenntnis der vorliegenden Verhältnisse nicht klären ließ. –

Jahre gingen hin. Mutter und ich kämpften hart um das bißchen täglich Brot. Ich kannte nichts von der Sorglosigkeit, dem Frohsinn anderer junger Mädchen. Ich war wie ausgestoßen aus dem Kreise derer, die noch vom Leben etwas erhoffen.

Und bei alledem noch stets das Gefühl, daß ich selbst jetzt meiner Mutter Vertraute nicht war, daß sie vor mir Geheimnisse hatte! Stets nahm sie selbst die Briefe in Empfang. Ich merkte, daß sie fürchtete, ich könnte mit Dir einen Briefwechsel beginnen. Weiter aber auch, daß sie noch immer viel Geld für irgend etwas ausgab, das ich nie erfuhr.

Unendlich traurige Jahre waren das. Wenn nicht in einem Winkelchen meines Herzens doch noch immer die geringe Hoffnung gelebt hätte, wir könnten doch noch einmal uns finden, Heinz, dann – dann wäre ich wohl vor der Zeit alt geworden und völlig verblüht. Diese winzige Hoffnung hielt mich aufrecht, bewahrte mir die Jugend.

 

9. Kapitel.

Die Flucht.

So kam der Juni des vergangenen Jahres heran. Wir hatten erst ein paar Gäste im Hause. Der Hauptstrom der Fremden war vor Beginn der großen Ferien nicht zu erwarten.

An einem Vormittag hatte ich gerade in der Küche zu tun. Meine Mutter säuberte den Flur. Da hörte ich sie einen gellenden Schrei ausstoßen. Dann folgte ein ebenso entsetztes:

„Sie – Sie!“

„Borwin von Schalling!“ schoß es mir durch den Kopf. Ich weiß nicht, wie ich gerade auf ihn kam. Vielleicht hatte mir das Entsetzen, die Angst in Mutters Stimme verraten, wer dieser Besucher allein sein könnte.

Ich eilte hinaus. Meine Mutter lehnte kraftlos an der Wand. Vor ihr stand Borwin, mein Schwager, unser Feind, und redete leise auf sie ein.

Er hatte mich nicht kommen gehört. Der Läufer hatte meine Schritte gedämpft. Ich verharrte regungslos dicht hinter ihm und lauschte.

„– Adele ist kurz nach der Geburt des Kindes gestorben. In ihrer letzten, klaren Minute flehte sie mich noch an, ich solle mich mit Ihnen aussöhnen. Ich versprach es ihr. Da verriet sie mir, daß Sie beide hier leben. So hin ich denn jetzt nach dem Begräbnis hierher gekommen, um mit Ihnen persönlich mich –“

Mutters Augen, jetzt nicht mehr so angstvoll wie vorhin, hatten mich entdeckt und waren nun starr und in banger Frage auf mich gerichtet. Hierdurch wurde Borwin aufmerksam, wandte sich um. –

Was dann geschah, war entscheidend für die weitere Tragik meines zerbrochenen Daseins.

Ich habe bereits erwähnt, daß Adele und ich uns sehr ähnlich sahen. Wie groß diese Ähnlichkeit auch jetzt noch sein mußte, wurde nun durch Borwins Verhalten offenbar.

Er prallte bei meinem Anblick zurück, streckte die Arme aus, rief wie von Sinnen:

„Adele, Du lebst – Du lebst!“

In dem Moment tat er mir unendlich leid. Seine Stimme durchzitterte eine so tiefe Sehnsucht, daß es jeden gerührt hätte. Und über sein fahles, schmerzzerwühltes Antlitz lief ein Schein jubelnder Seligkeit hin, der jedoch sofort wieder erlosch.

Ja – damals bedauerte ich ihn aufrichtig. Jeder hätte so empfunden – jeder! Denn jeder mußte ja erkennen, wie schrankenlos er sein jetzt totes Weib geliebt hatte. –

Dann trat er auf mich zu, reichte mir beide Hände. Nur widerstrebend überließ ich ihm die meinen. Wortlos, kraftvoll, wieder ganz der Mann, der nur seinen eigenen Willen kennt, zog er mich der weit offenen Haustür zu, zog er mich mehr ins Helle. Hier starrte er mich minutenlang an. Seine fast schwarzen großen Augen, die mir stets schon unheimlich gewesen, verscheuchten jetzt jede weiche Regung bei mir. Der Schmerz, der meine Seele erfüllt hatte, weil Adele so jung und nach so traurigen Ehejahren gestorben, wurde abgelöst durch ein Gefühl heftigsten Widerwillens.

„Was soll das!“ stieß ich hervor und riß mich los. „Ich denke, in dieser Minute gäbe es anderes zu tun, als –“

Da kehrte der Jammer über meiner Schwester Hinscheiden übermächtig zurück. Ich schluchzte auf, eilte zu meiner Mutter hin. Wir umschlangen uns und weinten, ließen unserer Betrübnis freien Lauf. Um Borwin kümmerten wir uns nicht. Er hatte uns den Rücken gekehrt und starrte in den sonnenhellen Vorgarten hinaus.

Dann hatte Mutter sich wieder gefaßt. Scheu und zart bat sie Borwin, dem sie nie das verwandtschaftliche „Du“ angeboten hatte, näherzutreten. Wir nahmen in dem kleinen Lesezimmer Platz. Borwin zeigte sich jetzt von der besten Seite. Als er uns Näheres über Adeles Tod erzählte, rollten ihm dauernd Tränen über die Wangen. Dieser Mann wurde mir immer mehr ein Rätsel.

Er bot uns an, bei ihm auf seinem Gute zu wohnen.

„Ich verliere den Verstand, wenn ich dort allein bleiben soll, – dort, wo alles mich an Adele erinnert,“ sagte er mit vibrierender Stimme. „Helft mir über den Verlust hinwegkommen. Ich kann Euch eins versprechen: Nirgends werdet Ihr es so gut haben wie bei mir!“

So redete er auf uns ein. Und man merkte, daß all das ihm aus dem Herzen kam.

Er hatte uns um das vertraulichere Du gebeten. Mutter fand sich schnell damit ab. Ich brachte diese Anrede nie über die Lippen. Wenigstens nicht in den ersten Wochen. –

In aller Eile wurde nun unser Fremdenheim verkauft. Borwin erledigte alles. Dann siedelten wir nach der alten Heimat, nach seinem Gute Mahlgeiken, über.

In den ersten vier Wochen ging alles gut. Mutter und ich wohnten ganz für uns in einem Seitenflügel des großen Herrenhauses. Adeles Kind, ein reizendes Mädelchen, das auf den Namen Doris getauft war, warteten wir allein. Die Amme der Kleinen war eine sehr verständige Person, die uns treu ergeben war. Borwin fand sich mehrmals am Tage bei uns ein. Abends verbrachte er gewöhnlich zwei Stunden in unserem behaglichen Wohnzimmer. Er war jetzt sehr aufmerksam, sehr höflich und las uns jeden Wunsch von den Augen ab.

Dann aber begann ganz allmählich die Veränderung in seinem Sichgeben mir gegenüber. – Ich will dies nicht näher ausführen.

Es war an einem Septembertage. Borwin und ich hatten einen Spaziergang nach der Küste gemacht. Ich ahnte bereits, daß sein leidenschaftliches Temperament jetzt meine Person mit heißen Wünschen umgab. Ich tat jedoch als merkte ich nichts, obwohl mein Herz so und so oft in heller Angst zu jagen begann, wenn er mich mit seinen glühenden Blicken verschlang und sein Gesicht sich vor Anstrengung, den Sturm in seinem Innern zu verbergen, förmlich verzerrte.

Es dunkelte bereits, als wir durch die abgeernteten Felder dem Herrenhause zuschritten. Borwin blieb plötzlich stehen.

„Hella,“ keuchte er hervor, „Hella – ich halte es so nicht länger aus! Adele ist nicht tot! Sie lebt in Dir weiter. Und alles, was ich für sie einst fühlte, empfinde ich nun für Dich! – Hella, Du mußt mein werden – mußt!“

Er umschlang mich, riß mich an sich, wollte mich küssen. Es gelang mir freizukommen. Ich floh. Aber er holte mich ein. Mit Riesenkraft nahm er mich in die Arme, hob mich empor, drückte mir die Hände zusammen, machte mich wehrlos.

Da tat ich etwas, das auch Adele einst getan. Ich tat’s aus einem Übermaß von Angst und Widerwillen: ich spie ihm ins Gesicht!

Und dann – dann gellte mir wieder dasselbe harte, höhnische Lachen in die Ohren, das er einst meiner flüchtenden armen Schwester nachgeschickt hatte.

Das Lachen brach plötzlich ab. Ein paar Arbeiter kamen vorüber. Da ließ er mich los, begann sofort eine harmlose Unterhaltung. Ich fühlte noch das Entsetzen über seine Brutalität in allen Nerven, mußte mich erst sammeln. Dann – lief ich davon, hinter den Arbeitern drein, ging dicht hinter ihnen her. So gelangte ich unbelästigt ins Herrenhaus. Um Mutter nicht zu erschrecken, verschwieg ich den Vorfall. Nach dem Abendessen erschien Borwin. Er war sehr wortkarg. Dann, ganz unvermittelt, machte er mir in Mutters Gegenwart einen Antrag.

Mutter wurde blaß vor Erregung. Sie ahnte, daß es nun neue Kämpfe, neue Widerwärtigkeiten geben würde.

Ich erklärte Borwin, ich würde ihn nie heiraten,

„Weshalb nicht?“ fragte er kühl.

„Weil ich Dich hasse! Du hast Adeles Leben vernichtet! Du hast wie ein – Tier an ihr gehandelt. – Ich bleibe nur noch bis morgen in Deinem Hause. Du siehst mich nie wieder. Ich werde mir irgendwo und irgendwie mein Brot verdienen –“

„Das wirst Du nicht, Hella! Du wirst mich heiraten. An demselben Tage, an dem Du von hier fortgehst, werde ich die Verhaftung Deiner Mutter veranlassen. Sie hat ein Testament vernichtet. Und darauf steht zum mindesten Gefängnis!“ Er sagte das so kalt, so herrisch, so ohne jedes Gefühl, daß mir damals wieder der Gedanke kam: Ein Herz von Stein ruht in seiner Brust! Ein Herz, das nur die Befriedigung eigener Wünsche kennt!

Mutter begann zu weinen. Borwin stand auf.

„Ich warne Dich, Hella! Ich drohe nie umsonst. Du wirst mich heiraten – wirst! Ein halbes Jahr nach dem Tode Adeles, und das wäre am 4. Dezember, werden wir uns verloben und vier Wochen später heiraten.“

Dann verließ er uns. In dieser Nacht, wo ich einsah, daß er auch mich bereits in den Krallen hatte, wo ich bis zum Morgen wachlag und mein Haß und Abscheu meine Seele mit finsteren Racheplänen erfüllten, – in jener Nacht entstand bei mir zunächst noch in unsicheren Umrissen der Entschluß, den ich nachher hier in München aufzuführen suchte.

Von da an spielte ich sowohl der Mutter als Borwin gegenüber Komödie. Sehr vorsichtig war ich, änderte scheinbar allmählich meine Ansicht über Schalling, der sich auch wirklich täuschen ließ. Inzwischen gewann ich mir seinen Chauffeur zum Verbündeten. Es war dies ein junger Mensch, der sich in mich verliebt hatte, aber stets mit scheuer Ehrfurcht zu mir aufsah. Er war mir bald blindlings ergeben, zumal Borwin von all seinen Leuten nur gefürchtet wurde.

So kam der Tag heran, an dem die Verlobung stattfinden sollte. Morgens fuhr Borwin nach Königsberg, um die Ringe zu besorgen. Abends hatte er einige bekannte Familien eingeladen. Bei der Tafel wollte er die Verlobung veröffentlichen. – Kaum hatte der Jagdwagen ihn zum Bahnhof gebracht, als ich heimlich mit dem Kinde und Adeles Schmucksachen das Herrenhaus verließ. Der Chauffeur Melzer mit dem Auto wartete schon auf der Chaussee.

Ich hatte nicht einmal von der Mutter Abschied genommen. Nur für Borwin ließ ich einen Brief mit den Worten zurück:

„Ich weiß, wie sehr Du Dein Kind liebst! Du wirst uns beide lebend nicht mehr wiedersehen! Das ist die Strafe, die ich für Dich ersonnen habe!“

Der Chauffeur Melzer hatte alles für die Flucht vorbereitet. Er änderte den Anstrich des Autos. Ungehindert gelangten wir über Berlin nach München. Mich zog es mit aller Macht hierhin zurück. Ich wollte noch einmal das alte, schmale Haus besuchen, in dem ich so glücklich war. Und dann – sollte die Hesselloher Brücke mir und dem Kinde den Tod geben.

Borwin hatte indessen längst unsere Fährte gefunden. In seinem zweiten Auto war er uns gefolgt. Er, dem unbeschränkte Geldmittel zur Verfügung standen, der eine Schar von Privatdetektiven in München aufbieten konnte, meine Wohnung zu erkunden, wußte schon am Morgen nach meiner Ankunft, wo ich abgestiegen war. Melzer jedoch hatte Borwin auf der Straße gesehen, warnte mich noch rechtzeitig. Ich floh mit dem Weidenkoffer durch einen Hinterausgang aus dem Fremdenheim, eilte nach dem alten Hause, wollte von dem Zimmer Abschied nehmen, wo Du einst gewohnt hattest, Heinz.

Alles weitere weißt Du. Als Borwin mit mir auf der Brücke rang, stießen wir das Kind in den Fluß. Und mich, die er als Mörderin der Kleinen bezeichnete, schleppte Schalling hier in die Anstalt Doktor Paszottas. Vielleicht glaubt er, ich werde hier inmitten von Geisteskranken gefügig werden. Er irrt. Ich gehorche ihm. Aber nur insoweit, als es nicht meine Weibesehre betrifft. Ich nehme Rücksicht auf meine arme Mutter. Doch – ihn heiraten – niemals! Dann – werde ich schon Mittel und Wege finden, mir das Leben zu nehmen.

Ich bin nun bereits viele Wochen hier in diesem Kerker. Ich vergehe vor Angst um Dich, Geliebter! Denn ein Mensch wie Borwin –

* *
*

Hier brachen Hellas Aufzeichnungen ab. Hier gerade hatte Heinz Meinke an das Fenster gepocht.

 

10. Kapitel.

Der Retter in der Not.

Heinz Meinke tat in dieser Nacht kein Auge zu. Er vermochte sich zu keinem Entschluß irgend welcher Art durchzuringen. Er war völlig ratlos. – Wie sollte auch er, ein flüchtiger Gefangener, für Hella irgendwie einspringen und den Kampf gegen einen Borwin von Schalling aufnehmen können?!

Er war froh, als dann endlich Sepp Hilmenpeiler mit einem Topf Kaffee und ein paar belegten Broten erschien. Sepp erzählte gleichmütig, daß die Polizei bereits die Umgegend nach dem Flüchtling absuche. Es sei daher besser, meinte er, daß der Herr Rechtsanwalt sich ankleide und den Kaffee im Keller trinke, wo auch bereits Aloys Scharwenter und der „fesche Max“ saßen – in einem versteckten Gemach, sehr behaglich.

Meinke folgte dann Sepp in den Keller. Scharwenter und der fesche Max begrüßten ihn freundlich.

„Wir hab’n noch lange über Sie gered’t, Herr Rechtsanwalt,“ sagte Scharwenter. „Wir helfen Ihna b’stimmt. Nur – Vertrauen müssen’s zu uns haben. Wenn wir auch zu dera Langfinger-Gild g’hör’n, – wir hab’n so a Korpsgeist! Und so a Mordsschweinerei, wie Sie’s durchgemacht hab’n, – das verdient a Straf’!“

Meinke besann sich nicht lange. Ihm war plötzlich ein Gedanke gekommen. Schweigend reichte er Scharwenter Hellas Aufzeichnungen, und der las das Ganze dann seinem Freunde Max vor. – Sepp war bereits wieder gegangen. In dem kleinen Kellerloch brannte eine Petroleumlampe. Meinke konnte genau die Gesichter der beiden Taschendiebe beobachten.

Aloys fuhr sich beim Lesen wiederholt mit der Hand über die Augen. Und der fesche Max murmelte des öfteren drohend: „Wart’, Kanaille!“, – was natürlich Borwin von Schalling galt.

Nachher fand großer Kriegsrat statt. Auch Sepp nahm daran teil. Aloys Scharwenter machte dabei den Wortführer.

Meinke war wie entgeistert, als der intelligente Taschendieb lediglich auf Grund von Hellas Aufzeichnungen behauptete, daß damals bei der Treibjagd seines Erachtens „a große Lumperei“ hinsichtlich des Tode des Doktors Würz vorgefallen sein. Vielleicht hatte sich Doktor Würz gar nicht aus Unachtsamkeit selbst erschossen, sondern sei erschossen worden.

Meinke starrte seinen jetzigen Verbündeten zweifelnd an. Der nickte ihm ernst zu, erklärte nun, es sei doch sehr merkwürdig, daß ausgerechnet der Mann auf jener Treibjagd ums Leben kam, den Adele geliebt hatte. Und einem Menschen wie diesem Schalling könne man alles zutrauen, wie man jetzt ja nach diesem „gemachten Diebstahl“ bei Laupichler wisse. Der Gutsbesitzer hätte vielleicht gleich zwei Fliegen mit einem Schlage erledigt: den Nebenbuhler beseitigt und Hellas Vater in die Krallen gekriegt.

Meinke rief jetzt kopfschüttelnd: „So denken Sie also, daß der Graben-Müller den Doktor erschoß und daß Schalling diese Tatsache nur verschwieg, um den unglücklichen Schützen dauernd seinen Wünschen gefügig zu machen?“

Aloys wiegte den pomadeduftenden Kopf hin und her.

„Nö, Herr Rechtsanwalt, i mein’ immer, der Schalling hat die G’schicht noch seiner befingert. Er wird den Schuß abgefeuert haben, aber der Graben-Müller dacht’ eben, er selber wär’s gewesen. So a Luderei ist all’ schon dag’wesen, Herr Rechtsanwalt.“

Meinke sprang auf. „Unmöglich – unmöglich!“ rief er. „Schalling ein Mörder –! Und dazu solche Heimtücke?!“

Da erklärte der fesche Max gelassen: „Hab’n Sie a Ahnung, Herr Rechtsanwalt! So a Viechskerl wie der Schalling, der macht mit ’n Teifel a Bündnis, wenn’s um a Weib geht!“

Scharwenter beendete jetzt diese Debatte, indem er sich erbot, sofort nach München hinein „aufs Spioniere“ zu gehen.

„Wir müssen wissen, ob dieser Schalling sich noch in der Stadt herumdrückt,“ sagte er weiter. „I werd’ das schon besorge. Dös is a Kleinigkeit für a Körl wie ich.“

„No – i kimm’ alleweil mit,“ meinte der fesche Max. „Wir werd’n uns so a bissel zurechtstutze, damit die Hörren von dera Polizei nicht sofort zupacke.“

Eine Stunde später verließen sie einzeln die Dorfkneipe und versuchten dann auch einzeln ihr Glück. Aloys hatte schon einen ganzen Plan fertig. Er begab sich sofort zu dem Pfandleiher Laupichler, tat sehr mißtrauisch, fragte, ob sie auch nicht belauscht werden könnten und flüsterte:

„I komm’ von den Herrn von Schalling –“

Laupichler verfärbte sich.

„Der Hörr von Schalling will Ihna sofort sprech’n, Hörr Laupichler, – von wegen den Meinke. Sie wissen schon. Die G’schicht wird faul! – Fix, mach’n sich fertig. Und dann geh’n ’s direkt zu ihm. I bleib’ hinterdrein. Man soll uns nicht zusammensehn –“

Scharwenter spielte seine Rolle so vorsichtig, daß der Pfandleiher in seiner Angst jetzt fragte:

„Was ist denn passiert? Der Meinke –“

„– jo, – der Meinke ist aussigekniffen aus die Anstalt! Das ist passiert! Und’s wird noch mehr passier’n! – Aber – fix! Der Hörr von Schalling –“

„Jessas Maria und Joseph,“ stöhnte Laupichler. „Hätt’ ich mich nur nicht auf die Sach’ eingelassen! Aber – so ein feiner Herr! Wenn die solche –“

„Pah – a Angsthas’ san’s, Hörr Laupichler!“ fiel ihm Aloys ins Wort. „Der Hörr von Schalling macht mit mir noch ganz a andres G’schäft! Zehntausend krieg’ i dafür!“

„So?! Ein anderes Geschäft?! Was denn?“

„Nix! Sie glaub’n wohl, i sei so a Depp, allens auszutratschen! Do haben ’s lang dran! Zehntausend krieg i – dös ist die Hauptsach’. So a Geschicht’ wie die mit ’n gestohl’nen Schmuck hätt’ i für zweitausend beschwor’n!“

„Sie vielleicht – ich nicht!“ meinte Laupichler und zog den Überrock an. Dann verschloß er seinen Laden, hängte ein Schild: „Vorläufig geschlossen“ an die Tür und ging davon. Scharwenter blieb dicht hinter ihm. So kamen sie in die Dachauerstraße. Vor einem vornehmen Fremdenheim blieb der Pfandleiher stehen und schaute sich nach Aloys um. Der trat jetzt an ihn heran und flüsterte: „Warten’s auf der andern Straßenseit’!“

Er wußte jetzt Bescheid: Schalling wohnte also in diesem Pensionat.

Er stieg die Treppe empor und lautete an der Flurtür. Es war jetzt ½10 vormittags, und das Mädchen, das ihm öffnete, erklärte, Herr von Schalling sei daheim und sitze beim Frühstück.

Gleich darauf stand der Taschendieb vor dem ostpreußischen Gutsbesitzer. Und abermals spielte er seine Rolle aufs glänzendste, erklärte ganz leise, der Pfandleiher Laupichler schicke ihn. Es seien gestern abend Kriminalbeamte bei Laupichler gewesen und hatten sich ganz genau nach der Herkunft der Schmuckstücke erkundigt, die Meinke gestohlen hatte. Laupichler fürchte, die Sache stände jetzt sehr faul. Er wolle Herrn von Schalling sprechen, traue sich aber persönlich nicht her. Er warte unten vor dem Hause auf der anderen Straßenseite.

Borwin von Schallings Stirn lag in Falten. Er trat schnell an das Fenster und schaute hinaus, Wirklich – dort ging Laupichler auf und ab!

Sein Herzschlag stockte für einen Moment. Zum ersten Male in seinem Leben hatte er das Gefühl der Unsicherheit, glaubte er, daß ihm der Boden unter den Füßen schwanke.

Er wandte sich um. Aloys hatte sein Federmesser in der Hand und reinigte sich gemütlich die Fingernägel.

„Wer sind Sie denn eigentlich?“ fuhr Schalling ihn barsch an. Aber der Ton gelang ihm nicht recht.

„Ehrlich g’sagt, Herr Baron, – ein Taschendieb! I’ kenn den Laupichler schon lang – als gutzahlenden Hehler.“ Er kniff ein Auge zu.

„Ich habe mit diesem Laupichler nichts zu schaffen!“ schnauzte Schalling grob. Er sah jetzt nur darin seine Rettung, jede Bekanntschaft mit dem Pfandleiher abzuleugnen. „Der Kerl muß verrückt sein! Was will er eigentlich von mir?“

Aloys lächelte. „Der Meinke ist aussigekniffen aus der Anstalt letzte Nacht, Herr Baron. Heit’ um 8 Uhr früh war er bei Laupichler und ihm gedroht, alles würd’ nun an den Tag kommen – auch die Sach’ mir dem Doktor Schürz – Würz – oder so ähnlich war der Name, sagt der Laupichler. Dann ist der Meinke wieder verschwunden.“

Schallings Stirn bedeckte sich mit Schweißperlen. Er trat an den Frühstückstisch und goß ein Glas Wein herunter.

Aloys grinse heimlich. – „Wart’ – Dich hab i bald ganz fest!“ dachte er.

Schalling drehte sich wieder um, faßte in die Tasche und reichte Scharwenter einen Hundertmarkschein.

„Bestellen Sie Laupichler, daß er mich nicht weiter belästigen soll,“ flüsterte er. „Er braucht keine Angst zu haben. Ihm kann nichts geschehen.“

Aloys steckte die Banknote ein. „Geben ’s a Pflaster gegen die Angst, Herr Baron! Der Laupichler ist a Hasenfuß. So an Tausender macht ihn mut’ger.“

Schalling zögerte. Dann holte er doch ein paar Scheine heraus und drückte sie dem Diebe in die Hand.

„Verschwinden Sie jetzt!“ befahl er kurz.

Doch – plötzlich ward Aloys ein anderer. Er reckte sich höher, langte in die Westentasche, hielt Schalling eine Messingmarke hin (es war eine ganz gewöhnliche Biermarke) und rief:

Im Namen des Gesetzes verhafte ich Sie, Borwin von Schalling, wegen Meineides, geleistet in der Strafsache kontra Heinz Meinke und wegen Mordverdachts. Ich bin Kriminalbeamter. Das Haus ist umstellt. Laupichler hat alles gestanden und geht auf Befehl drüben auf und ab.“

Schalling erbleichte, biß sich die Lippen blutig. Ein wildes Keuchen drang aus seiner Brust hervor.

„Ah – Sie haben mich überlistet,“ sagte er dann mir einem Auflachen. „Meine Hochachtung! – Ich soll Ihnen wohl sofort folgen?“

„Sofort. – Bitte, machen Sie sich zum Ausgehen fertig.“

„Wie Sie wünschen. – Ich darf doch dort in mein Schlafzimmer hinein?“

„Gewiß. Jede Flucht ist ja unmöglich.“

Schalling verschwand hinter der Tür. Aloys aber lauschte atemlos. Er ahnte ja, was folgen würde.

Und nun – drinnen ein Knall, – ein Schuß!

Scharwenter riß die Tür auf. Dort auf dem Diwan zu Fußenden des Bettes lag Borwin von Schalling. Er hatte sich eine Kugel in die Schläfe gejagt.

Die telephonisch benachrichtigte Polizeiwache schickte sofort zwei Beamte denen Aloys alles mitteilte, – auch daß er hier den „Kriminal“ gespielt hätte. Man verhaftete ihn, ebenso Laupichler, der nun unter dem Druck der Aussage des Taschendiebes sofort eingestand, daß Schalling ihn durch 20 000 Mark bestochen hatte, Meinke als Dieb hinzustellen.

Der junge Rechtsanwalt wurde bereits mittags im Auto durch einen Kommissar von Sepp Hilmenpeiler abgeholt und legte der Polizei dann Hellas Aufzeichnungen vor. Man entließ ihn sogleich aus der Haft und stellte ihm sogar das Polizeiauto zur Verfügung, um Hella aus Doktor Paszottas Anstalt ungesäumt nach München bringen zu können. Zur Sicherheit gab man ihm einen Kriminalbeamten mit.

Das Auto langte um fünf Uhr vor dem Haupttore der Anstalt an. Der Pförtner wollte die beiden Herren nicht sofort einlassen. Da wurde der Beamte so deutlich, daß das Tor schleunigst aufflog. Heinz Meinke lief mehr, als er ging, die Gartenwege entlang jenem Seitengebäude zu.

Auch hier machte eine Wärterin allerhand Einwendungen, bis auch sie vor der Polizeiautorität andere Saiten aufzog. Meinke und der Beamte ließen sich Hellas Zimmertür aufschließen. Dann klopfte Meinke an. Er hatte schon durch das Guckloch in der Tür festgestellt, daß Hella am Tische saß und las.

Hellas hob erstaunt den Kopf.

Man klopfte?! – Sie war das hier nicht gewöhnt. Niemand tat es hier.

Da – abermals das Pochen. Ganz unruhig wurde sie plötzlich.

Sie dachte an Heinz, an ihre Aufzeichnungen. Sollte etwa –

Sie eilte zur Tür, rief mit halberstickter Stimme, während ihr Herz immer schneller jagte, ein hoffnungsdurchzittertes Herein.

Meinke war schon neben ihr, drückte die Tür wieder zu, breitete die Arme aus.

„Hella – endlich – endlich!“

Zehn Jahre des Leides versanken. –

Sie hielten sich umschlungen. Sie waren wieder jung wie einst. Und ihre Lippen tranken Seligkeiten. –

Ob Aloys Scharwenters Vermutung, daß Schalling der Mörder des Doktors Würz war, wirklich zutraf, wurde nie aufgeklärt. Aber Frau Melanie Randlow, geb. Banfy, teilte jetzt nach Schallings Tode Hella und Heinz ganz offen mit, daß sie denselben Verdacht gehegt und seit vielen Jahren verschiedene Privatdetektive beauftragt gehabt hätte, in dieser Hinsicht Material gegen Schalling zu sammeln. Für diese Zwecke hatte sie Unsummen geopfert, stets jedoch ohne Erfolg. Schalling war es aufgefallen, daß in seiner Nähe so oft allerlei fremde Leute auftauchten. Er hatte das Richtige geahnt und seiner Gattin Adele gegenüber einmal geäußert, seine Schwiegermutter solle sich hüten, diese Spioniererei noch weiter fortzusetzen: er würde sie sonst nicht mehr schonen.

Dieser Verdacht gegen Schalling und diese kostspieligen Nachforschungen waren es gewesen, die Frau Mela Randlow vor Hella so ängstlich geheimgehalten hatte. –

Auch Frau Mürztaler war sofort nach Laupichlers Geständnis in Freiheit gesetzt worden. Die brave Alte war selig, als sie dann das Püppchen wiedersah, das Schalling vorläufig in München in Pflege gegeben hatte. Der schlaue Aloys und ebenso auch der fesche Max büßten ihre freudige Hilfsbereitschaft mit je einem Jahr Gefängnis, da sie gerade wieder etwas auf dem Kerbholz gehabt hatten. Aber – sie machten sich nichts draus! Sie waren stolz darauf, dem Recht einmal zum Siege verholfen zu haben. –

Anderthalb Jahre später.

Einer der großen Dampfer auf dem Starnberger See trägt eine fröhliche Geburtstagsgesellschaft nach dem am Nordufer gelegenen Ort Tutzing. Man feiert Hellas Geburtstag, und außer dem jungen Ehepaare Meinke, dem Püppchen, Frau Randlow und Frau Mürztaler sind auch Aloys und der fesche Max mit von der Partie. Das eine Jahr Gefängnis liegt hinter ihnen. Frau Hella hofft bestimmt, die beiden „Familienfreunde“ für dauernd einem ehrlichen Leben zurückgewinnen zu können.

Man ist sehr vergnügt. Nachher in Tutzing beim Mittagessen hält Aloys eine große Rede auf Frau Hella, die in den Vers ausklingt:

„Wir leeren diesen Schoppen Wein

Auf das treue Herze Dein,

Auf dies Herz, das nicht von Stein,

Sondern stets voll Sonnenschein!“

Da drückte Heinz Meinke seinem Weibe heimlich die Hand. Sie schauten sich an und verstanden sich.

Das Herz von Stein schlug nicht mehr.

Und ringsum war jetzt lachender, seliger Sonnenschein.

 

Ende!

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Anmerkung:

  1. Dieser Text ist der Neuauflage (ab 1929) Die guten Vergiß mein nicht-Romane, Band 23 entnommen. Copyrightvermerk von 1921 und Druckplatten stammen aus der Erstauflage, vom Verlag ist lediglich die Titelseite neu erstellt worden.