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Das gesperrte Schloß

 

 

Vergiß mein nicht

Bibliothek der besten Romane

 

Band 349

 

Das gesperrte Schloß.

 

Roman von

Walter Kabel.

 

Verlag moderner Lektüre, G. m. b. H., Berlin 14,
Dresdenerstraße 88–89.

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte vorbehalten. Copyright by Verlag mod. Lektüre G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

In der Untergrundbahn.

Es sind Kriegserinnerungen, die ich der Mit- und Nachwelt auf diese Weise zugänglich mache.

Die verehrten Leser, die wahrscheinlich infolge der Überproduktion in diesem Spezialartikel bereits einen leisen Schauder bei dem Worte „Kriegserinnerungen“ empfinden, brauchen wirklich nicht zu erschrecken. Eigentlich kommt vom Kriege hier recht wenig vor; er spielt eine Nebenrolle. Die Hauptrolle spielt die, die mir soeben über die Schulter guckt und sagt:

„Schatz, – ich bitt’ Dich, verändere nur die Örtlichkeit und die Namen so gründlich, daß niemand merkt, wer die Heldin ist. Ich habe doch eine ganze Menge Bekannte, und es wäre mir überaus peinlich, wenn sie erführen, wie das gesperrte Schloß uns beide zusammengeführt hat.“

Ich verspreche alles, was verlangt wird, drücke unter diese mündliche Verpflichtungsurkunde ein mündliches Siegel in Gestalt eines Kusses (es können auch mehrere gewesen sein) und – bin wieder allein in meinem Arbeitszimmer, schüttele den Kopf über die mangelhafte Logik der Frauen und kratze mir verzweifelt die Stelle, wo sich auch bei mir einst ein voller Scheitel in lieblichen Wellen über das Schädeldach schmiegte. – Ja – mangelhafte Logik! Das Kunststück soll mir mal einer vormachen, die Geschichte des gesperrten Schlosses zu schreiben, ohne mein Frauchen so mitzuerwähnen, daß nicht gleich jeder ihrer Vettern fünften und sechsten Grades schreit: „Ach – das ist ja die Hilde, – schau, schau, also auf die Art hat sie sich ihren Mann geangelt! Na – nun wissen wir’s ja!“ – Kurz, es ist einfach unmöglich, Hilde aus diesen Kriegserinnerungen auszuschalten. Ebenso gut könnte man versuchen, ohne „hinten rum“ besorgte Lebensmittel in diesem vierten Kriegsjahr auszukommen, – auch ein Unding! – Also: Hilde muß mit hinein, es geht nicht anders! Und die lieben Leserinnen mögen selbst entscheiden, ob sie irgend welchen Grund hat, das Urteil der Welt über ihr Benehmen mir gegenüber in jenen kritischen Tagen zu fürchten.

* * *

Ich hatte mich, bevor der Krieg ausbrach, schlecht und recht als Schriftsteller durchgekämpft, mal gefastet, mal geschlemmt, aber selbst in den Tagen allgemeiner Börsenleere vom 15. bis 30. jeden Monats nie die gute Laune verloren.

Am 17. Juli 1914 – ich habe mir den Tag sehr genau gemerkt! – wollte ich mir morgens meine Brötchen aus dem Bäckerladen in der Augsburgerstraße wie immer holen, als ich gewahr wurde, daß meine Kasse an totaler Erschöpfung litt. Da ich nun in besagtem Laden bereits mit verschiedenen Reichsmark „hing“ und die erneute Mahnung des Inhabers um Begleichung der „kleinen“ Rückstände befürchtete, wenn ich wieder ankreiden ließ, schnallte ich mir – bildlich gesprochen – den Riemen enger und pilgerte nach dem Untergrundbahnhof Wittenbergplatz, um zu Freund Karfunkel zu fahren, der sicher noch trotz des 17. Tages dieses ereignisreichen Monats über Bargeld verfügte und mir ebenso sicher mindestens mit drei Mark unter die Arme griff.

Es war so gegen zehn Uhr, als ich mir die Fahrkarte löste, für die ich mir das Geld durch Umwechseln von drei 10-Pfennig-Briefmarken bei meinem Zigarettenlieferanten besorgt hatte. Man sieht, ich war also sogar noch im Besitz von „Wertpapieren“ gewesen.

Der Zug war ziemlich leer. Ich fand in einem Nichtraucher 3. Klasse noch einen Sitzplatz und zwar gerade dicht an der Fensterwand, die hier die Trennung zwischen dem „vornehmeren“ Publikum der 2. Klasse und dem bescheideneren der 3. Klasse bewirkte.

Auf der vornehmen Seite war’s noch leerer. Da saßen nur ungefähr zehn Personen, die ich mir aus Langeweile etwas genauer ansah. Die meisten waren einen eingehenderen Blick nicht wert. Es war „Masse“, wie ich die Durchschnittsmenschen gern bezeichne. Nur drei ließen es lohnend erscheinen, sie näher zu beäugen.

Da war zunächst ein älterer Herr, recht würdig und stattlich, mit grauem Vollbart und ein Paar großen, hellen Augen, die leider mit einem Ausdruck tiefen Grames unverwandt durch die Seitenfenster ins Weite starrten.

Ihm schräg gegenüber saß ein jüngerer Herr, fraglos ein Pole oder Ungar. Überelegant gekleidet und mit einem stark verlebten, wenn auch sonst ganz regelmäßigen Gesicht, lehnte er nachlässig in der Ecke, hatte die Beine übereinander geschlagen und tat so, als ob er seine Morgenzeitung studierte. Ich stellte jedoch fest, daß er immer wieder in der Richtung des würdigen Graubarts mit den Blicken etwas zu suchen hatte. Und dieses Etwas konnte nur die junge Dame sein, die neben dem älteren Herrn ihren Platz hatte.

Ich will besser sagen: junges Mädchen! Denn ich schätzte auf ein Alter von kaum achtzehn, und das einfache, wenn auch geschmackvolle Leinenkleid und der schmucklose Strohhut paßten nicht recht zu dem anspruchsvollen Ausdruck „Dame“. Nein – dieses holde, frische Kind mit aschblondem Haar und dunklen Nixenaugen verdiente eine noch ganz andere Bezeichnung, sagte ich mir damals gleich. Und ich dachte an eine Elfe, dachte „Elfchen müßtest du heißen, du liebliche Blume, die du sicherlich nicht in dem Häusermeer der Großstadt aufgewachsen bist!“ – Also Elfchen nannte ich sie in Gedanken. Sie hatte ja auch eine zierliche Figur von knospenhafter Fülle, und der ganz leichte bräunliche Schimmer auf ihren Wangen verriet ständigen Aufenthalt in Gottes freier Natur. –

Station Bülowstraße stieg der Graubart aus, reichte Elfchen die Hand, streichelte ihr noch liebkosend das holde, liebe Gesicht und ließ sie allein – allein mit dem schwarzhaarigen Lebejüngling, an dessen linker Hand ich eine Menge funkelnder Ringe bemerkte, wie er auch seiner Kleidung nach fraglos recht begütert sein mußte.

Elfchen kehrte ihm jetzt sehr deutlich halb den Rücken zu, um seinen frechen Blicken zu entgehen. Ich war gespannt, ob dieses kleine Abenteuer nicht noch einen ernsteren Ausklang haben würde. Und ich täuschte mich nicht. Gerade als der Zug die Hochbahnstrecke über den Geleisen des Potsdamer Güterbahnhofs passierte, erhob sich der Geschniegelte und setzte sich unverfroren neben Elfchen, begann auch sofort in leidenschaftlicher Weise auf sie einzusprechen, was ich an seinen Gesten und Kopfbewegungen merkte.

Plötzlich schlüpfte Elfchen auf den Eckplatz dicht neben mich, das heißt, wir waren noch immer wenn auch nur durch die Glaswand getrennt, ich konnte nun aber doch das Folgende aus diesem Grunde sehr gut beobachten.

Der Schwarze belästigte sie weiter, nahm abermals mit einem Lächeln, in dem eben so viel Unverschämtheit und Anmaßung als heißes Liebesflehen und brutale Sinnlichkeit lagen, neben ihr Platz, begann wieder mit seinen sicher halb tollen Bitten und Zudringlichkeiten, griff dann sogar nach Elfchens Hand, unbekümmert um die anderen Fahrgäste, und hätte vielleicht in seiner Raserei noch mehr gewagt, wenn ich nicht noch zur rechten Zeit einen so wild verängstigten Blick des lieblichen Kindes aufgefangen hätte, daß ich sofort aufsprang, die Verbindungstür nach der 2. Klasse hin öffnete, den parfümduftenden Geck einfach bei der Schulter packte und zurückriß.

Dies geschah gerade, als der Zug mit größter Geschwindigkeit wieder unter der Erde untertauchte, das Tageslicht jäh verschwand und dafür die Lampen im Wagen aufglühten.

Der Schwarze, der halb auf die Polsterbank gefallen war, schnellte empor, wollte sich mit erhobener Faust auf mich stürzen, wurde jedoch von einem anderen Fahrgast, einem wahren Athleten, beim Wickel genommen und derb durchgeschüttelt, wobei der breitschultrige Helfer mit beißender Ironie sagte:

„Nein, Bürschchen, – hier wird nicht gerauft, hier benimmt man sich anständig, – oder aber es gibt noch ein paar Püffe extra, vor denen ich warnen möchte. Meine Faust hinterläßt stets Spuren und – gelockerte Zähne!“

Dann gab er den Schwarzen frei, der erst mich und dann den Athleten mit einem haßerfüllten Blicke musterte und dies so durchdringend, als ob er sich unsere Gesichtszüge für alle Zeit einprägen wollte. Auch schien er etwas sagen zu wollen, biß sich aber nur in ohnmächtigem Grimm auf die Lippen und verließ dann nach kurzer Zeit schon bei der Station Leipziger Platz den Wagen, ohne von Elfchen irgendwie noch Notiz zu nehmen.

Und Elfchen und ihre Beschützer? – Ja, das war sehr merkwürdig. Sie hätte uns doch wenigstens danken können, dem Athleten und mir. Aber – sie huschte gleichfalls in überstürzter Hast auf den Bahnsteig, sagte kein Wort – nichts. Nur – nur ihre Augen bedankten sich bei uns mit einem warmen, freundlichen Blick.

 

2. Kapitel.

An der Grenze Ostpreußens.

Es ist Zeit, daß ich den verehrten Lesern Tobias Karfunkel vorstelle, den ich bekanntlich einer bescheidenen Finanzoperation wegen besuchen wollte.

Wie er heißt, ist schon gesagt: Tobias (August Jeremias) Karfunkel. Wir nennen ihn stets noch wie früher Topp. Er hat nichts dagegen. Und mein Ältester kann auch schon „Topp“ lallen, was den Topp besonders freut.

Nun zu dem Beruf. Da wird die Sache schon schwieriger. Eigentlich ist Topp alles und nichts. Er lebt von „Gelegenheiten“. Mal spielt er bei Tanzgesellschaften Klavier, mal schreibt er Novellen oder fabriziert illustrierte Witze, dann wieder gibt er Privatstunden in Mathematik und neuen Sprachen oder verdient als Berichterstatter ein paar Mark, schließlich betätigt er sich auch als Händler, erwirbt auf Auktionen Rari- und Antiquitäten, Gemälde, Bücher, Sammlungen oder übernimmt ein dem Verkrachen nahes kleines Zigarren-, Papier- oder ähnliches Geschäft, bringt es infolge seiner Umsicht wieder in die Höhe und verkauft es mit Profit weiter. Polizeilich gemeldet ist er als Schriftsteller. Und die Schriftstellerei hat auch uns beide zu Freunden gemacht. Wie das kam, gehört nicht hierher.

Nach dem Beruf das Äußere. – Nun: Topp ist kein Adonis! Nein, dazu ist er einmal zu mager, dann hat er zu lange Arme und zu kurze Beine und endlich dürfte auch sein wie durch eine Wringmaschine gezogenes Gesicht mit der schmalen Hakennase, dem breiten Munde und dem rötlichen Tatarenschnurrbart höheren Ansprüchen kaum genügen, zumal er noch, ganz abgesehen von einer gellenden Fistelstimme, verschiedene Eigentümlichkeiten an sich hat, die ihn gerade bei dem ausschlaggebenden Geschlecht (das sind Sie, meine Damen!) nicht sehr beliebt machen. Im übrigen ist er ein Mensch, „mit dem man Pferde stehlen gehen kann“, wie man zu sagen pflegt, d. h. ein in jeder Beziehung hochanständiger Charakter.

Topp wohnte damals und wohnt heute noch in einer engen Gasse in der Nähe des Spittelmarktes vier Treppen hoch in der Mansarde, hat zwei Stuben, eine winzige Küche und das sonst noch notwendige Nebenräumchen zu seiner Verfügung und hält sich in der Person der Witwe Schmudecke eine Aufwärterin, die sich jeden Vormittag umsonst bemüht, in diesem Trödelkramladen von Wohnung Ordnung zu schaffen.

Topp empfing mich im Schlafrock und mit einem Infanteriehelm auf dem Kopf.

„Ich beginne zu rüsten, lieber Berd“, meinte er, auf den Helm deutend. „Der Mord an dem Thronfolgerpaar in Serajewo wird einen Weltbrand entfachen.“

Mir war der Weltbrand zunächst noch herzlich gleichgültig. Weit wichtiger erschien mir der 5 Mark-Schein, den Topp mir dann nach kürzerer Aussprache überreichte.

Als ich ihm mein Abenteuer in der Untergrundbahn erzählte, erklärte er, dahinter stecke fraglos, was die drei Personen Graubart, schwarzer Jüngling und Elfchen anbetreffe, ein ganzer Roman. Daß er hiermit recht hatte, stellte sich später heraus.

Bedeutend früher traf aber Topps Prophezeiung hinsichtlich des Weltbrandes ein. Als die Kriegserklärungen der Entente-Mächte Schlag auf Schlag einander folgten, als die Begeisterung überall in hohen Wogen auch bis zu Topps Mansarde emporbrandete, meldeten wir beide uns als Kriegsfreiwillige und wurden, als für Fußlatscher alias Infanterie untauglich, dank der Fürsprache eines Gönners Topps eines richtiggehenden Generals, bei den Ulanen in Th. eingestellt, wo es mein Freund bereits innerhalb vierzehn Tagen zu gelindem Arrest, Strafwachen und ähnlichen Anerkennungen seiner militärischen Fähigkeiten brachte. Erst im zweiten Monat unserer Ausbildung merkten Topps Vorgesetzte, welch prächtiger Mensch hinter dem taperigen Rekruten steckte, und als wir dann an die Front kamen, war er der Liebling der ganzen Schwadron.

Ende Januar 1915 erhielten ein Gefreiter, Topp und ich eines Tages den Auftrag, gegen die ostpreußische Grenze hin aufzuklären; besonders sollten wir feststellen, ob etwa neue russische Verbände im Anmarsch seien.

Wir brachen, wohlversehen mit Proviant, absichtlich abends auf, schlängelten uns im Schneegestöber durch die feindlichen Vorposten hindurch und konnten dann scharf zureiten, da der Gefreite Kregstakis in der Nähe zu Hause war und jeden Schleichpfad im Walde so gut kannte, daß ich mit der Annahme wohl nicht ganz fehlgehe, daß Kregstakis im Frieden ein ganz gefährlicher Wilderer gewesen sein muß. Als Soldat war er kaum zu übertreffen. Leider – leider hatten wir aber ganz unglaubliches Pech, insofern nämlich, als wir mitten in einem Buchenwalde einer Kosakenpatrouille von sieben Mann begegneten, die auch „leider“ noch nicht so betrunken waren, daß sie ihre Karabiner nicht mehr halten konnten. – Kurz: unser lieber Kamerad erhielt einen Schuß durch die Brust, rief uns noch zu: „Flieht nach Norden!“ – und dann war sehr bald um uns herum nichts mehr als Tannenforst, Schnee und düstergrauer Himmel.

Topp meinte nach Verlauf von drei Stunden, die Geschichte komme ihm nicht recht geheuer vor. Wir hätten doch unbedingt schon auf irgend ein menschliches Wesen stoßen müssen.

Ich zog die Karte hervor, und an einem Kreuzweg suchten wir uns zu orientieren. Es stellte sich heraus, daß mein Kompaß die ostpreußische Luft nicht vertrug, total versagte und wir einen mächtigen Kreis beschrieben hatten.

Wir ritten daher so ziemlich in entgegengesetzter Richtung weiter, passierten einen kleinen Eichenhain, und Topp sagte gerade: „Da vor uns liegt ein Dorf“, als hinter uns Pferdegetrappel laut wurde, Schüsse knallten und wir schleunigst aus dem gemächlichen Schritt in Galopp überzugehen gezwungen waren. Hinter uns her jagten so einige dreißig russische Dragoner, und sie mit ihren offenbar ausgeruhten Pferden hätten uns ganz sicher eingefangen, wenn Topp nicht auf den glänzenden Gedanken gekommen wäre, daß wir uns in einen tiefen Graben links vom Wege hineinfallen lassen sollten. Der Graben war nämlich dicht mit großen Farnkräutern von über ein Meter Höhe gefüllt, und das Gelände wieder so unübersichtlich, daß die Russen erst zu spät gewahr werden mußten, daß sie nur den Spuren zweier reiterlosen Pferde folgten. Außerdem war die Abenddämmerung inzwischen angebrochen, und wenn wir nicht gerade erlesene Pechvögel waren, konnte man hoffen, die Verfolger auf diese Weise loszuwerden.

Topp war vor mir, zügelte seine Braune etwas und – flog auch schon mitten in die braun und gelb verfärbten Farnstauden hinein. Ich ihm nach – und zwar so geschickt, daß wir dicht nebeneinander zu liegen kamen.

Wir hörten dann die wilde Jagd an uns vorbeirasen, warteten noch mit klappernden Zähnen etwa eine Stunde bis zur völligen Dunkelheit und krochen aus unserem Versteck hervor.

Ich will mich jetzt kürzer fassen. Nach etwa dreißig Minuten lag vor uns in einem Tale ein Dorf, rechts davon aber dicht an dem dunklen Forst ein großes, schloßartiges Gebäude. Inzwischen war es dem Wetter eingefallen, daß 2–3 Grad Kälte für Ostpreußen doch viel zu wenig seien und daß ein Schneegestöber gleichfalls zur Winterfreude gehöre.

Wenn wir nicht elend im Freien umkommen wollten, mußten wir schleunigst Zuflucht in einem Gebäude suchen. Aber: in dem Dorfe lagen Russen, so daß wir schleunigst diese Rekognoszierung aufgaben und uns dem großen Bauwerk zuwandten, in dem nirgends Licht brannte. Alle Fenster waren dunkel. Nur in einem Hause daneben sahen wir ein paar erleuchtete Scheiben.

Topp erklärte jetzt, er halte die Kälte keine fünf Minuten länger aus, und er wolle daher zusehen, ob wir nicht irgendwie in den großen „Kasten“ dort hineingelangen könnten. Da gerade setzte das Schneetreiben wieder mit besonderer Heftigkeit ein. Auf allen Vieren krochen wir durch eine Hecke und durch den Garten auf die Rückseite des schloßartigen Baues zu. Dieser wurde von zwei Posten bewacht, die ihn ständig in entgegengesetzter Richtung umkreisten. Außerdem sahen wir auch, daß an dem Vorder- und Hintereingang noch je ein russischer Infanterist Wache hielt. Unsere Aussichten waren also recht gering, hier ein Quartier zu finden. Trotzdem harrten wir aus. Und dies wurde auch wirklich belohnt. Die Ablösung kam, und die ganze hier jetzt vereinte Militärmacht stand vorn vor dem Gebäude. Ehe ich noch recht wußte, was Topp vorhatte, rannte er schon die Stufen zu der Hinterterrasse empor, kletterte an den starken Efeustämmen bis zum ersten Stockwerk hoch, schlug eine Scheibe ein und – war verschwunden, das heißt im Innern des „Kastens“ glücklich gelandet.

Als ich dann denselben Weg nach oben nahm, wäre ich in letzter Sekunde beinahe noch von den neu aufziehenden Posten erwischt worden. Aber – die Gefahr ging glücklich vorüber.

Wir waren also nun geborgen – vorläufig! Ich kann jedoch nicht behaupten, daß ich mich gemütlich fühlte hier in diesem Hause, von dem wir nichts wußten, als daß sämtliche Fenster dunkel waren und daß es sehr scharf bewacht wurde.

Topp, der als Soldat so manches zuge- und verlernt hatte, zeigte sich der Lage weit mehr gewachsen als ich, zog seine langen Stiefel aus, stellte sie in eine Ecke und begann nun den Raum, in dem wir uns befanden, näher zu untersuchen, wobei er sich hauptsächlich auf den Tastsinn verlassen mußte, da hier nur in der Nähe der beiden Fenster etwas wie halbe Dämmerung herrschte.

Topp meldete dann, es handele sich offenbar um ein Fremdenzimmer, zog nun die dichten, blauen Stoffvorhänge zu und zündete zu meinem Entsetzen! – ein Licht an. Er behauptete, dies hätte gar keine Gefahr. Durch die Vorhänge könnte auch nicht der winzigste Lichtstrahl hindurch.

Gemeinsam begannen wir dann auf Strümpfen und zumeist im Dunkeln das Gebäude zu durchsuchen. Sämtliche Türen waren unverschlossen, überall herrschte leidliche Ordnung. Natürlich konnte sich dieser Rundgang jetzt nur auf eine ganz flüchtige Besichtigung beschränken. Wir wollten nur feststellen, ob irgend jemand zur Zeit hier wohnte.

Nun – dies war nicht der Fall! Ich will jedoch erwähnen, daß es mir in einem der Vorderzimmer des ersten Stockwerks so vorkam, als ließe sich noch mit dem Geruchsorgan ein Rest von Zigarettenrauch nachweisen. Ich glaubte nachher jedoch, ich müßte mich doch wohl getäuscht haben, denn Topp hatte fraglos die bessere Nase von uns, und er sagte nichts.

Als Unterkunft wählten wir dann vorsichtigerweise einen Kellerraum. Die Keller waren sämtlich luftig und – sehr sonderbar – unverschlossen. Überall steckten die Schlüssel, sogar im Weinkeller! – Unser „Salon“ war der Aufbewahrungsraum für leere Kisten, Fässer und andere Dinge, die man anderswo unterzubringen sich nicht Zeit gelassen hatte.

Abermals konnte ich hier nun die Findigkeit Topps bewundern. In kurzem hatte er, nachdem wir die beiden Fenster verhängt hatten, beim Scheine zweier Kerzen und mit meiner Hilfe aus Kisten, alten Läufern, zerissenen Teppichen und so weiter in einer Ecke für uns ein Kämmerlein hergerichtet, dessen Vorhandensein niemand von außen bemerken konnte. Es war gerade groß genug, daß wir darin etwas gebückt stehen, aber ausgestreckt liegen konnten und noch nebenbei ein wenig Platz hatten.

Die Heizfrage löste Topp ebenfalls in genialer Weise, indem er in einer Blechschüssel Spiritus (davon lagerte im Weinkeller ein ganzes Faß) einfach verbrannte, was für dieses Hüttchen auch durchaus genügte. Ein warmes Quartier hatten wir nun also, und sogar eins mit voller Verpflegung. Fanden wir doch die Räucherkammer nicht minder gut gefüllt wie den Weinkeller, und stöberte doch Topp in einem verstaubten Verschlage des letzteren ein stattliches Regiment von Gläsern mit eingemachten Früchten und Konservenbüchsen auf.

Kurz: das reine Schlaraffenland! – Na – es war uns zu gönnen! Wir hatten lange genug draußen gefroren, und der Tod hatte uns auch dicht im Nacken gesessen!

Während der Mahlzeit konnten wir uns nun auch in Ruhe über dieses große Gebäude und seine Besonderheiten aussprechen. Diese bestanden hauptsächlich darin, daß es von den Russen doch offenbar nicht nur gemieden, vielmehr auch unter scharfe Bewachung gestellt war, die nur den Zweck haben konnte, diesen dicht an der Grenze liegenden deutschen Herrensitz vor Plünderung und Verwüstung zu schützen.

Topp pflichtete mir in jeder Beziehung bei, als ich ihm dies auseinandersetzte. Zu meinem Erstaunen sagte er dann:

„Ich weiß auch, wem dieses Schloß gehört, wie es heißt und wie alt es ist. Oben in der Bibliothek hängt ein Bild dieses Bauwerks, wie es vor achtzig Jahren aussah. Am Rande stehen allerlei Notizen in zierlicher Schrift, die ich schnell überlesen konnte. – Eigentümerin des Rittergutes und Schlosses Madauen ist eine Familie v. Zechanowski, ein polnisch-deutsches Adelsgeschlecht, wie aus der Schreibweise des Namens hervorgeht. Polen würden sich Czechanwki schreiben. – Der älteste Teil des ein langgestrecktes Viereck darstellenden Gebäudes, der Eckturm, steht bereits anderthalb Jahrhunderte. Dann sind nach und nach mit wenig Geschmack immer mehr Räume angeklebt worden. Deshalb auch die verschiedene Größe der Fenster. Die linke Seite wurde erst vor zehn Jahren angebaut, um die hellen Gesellschaftszimmer zu erhalten, die wir dort fanden.“

Topp gähnte jetzt. „Ich bin müde, werde mein Himmelbett aufsuchen. Gute Nacht.“ Und er kroch unter seine Decke, die über ein Polster von Holzwolle und Strohhüllen, wie man sie über Weinflaschen streift, gebreitet war. Nach drei Minuten schnarchte er schon derart, daß ich fürchtete, er könnte uns verraten, falls mal eine nächtliche Revision des Schlosses stattfand.

Ich war gleichfalls recht abgespannt. Aber der Reiz dieses seltsamen Abenteuers war wiederum auch stark genug, den Schlaf von meinen Lidern zu scheuchen. Ich hatte ja so viel zu denken, meine Phantasie so weiten Spielraum. So saß ich denn da, starrte bald in das flackernde Licht der Kerze, bald auf Topps offenen Mund, aus dem all diese unglaublichen Laute hervorquollen.

Etwas wie Freude an diesem Abenteuer überkam mich dann plötzlich. Ich hatte schon als Knabe alles Seltsame geliebt, besonders in Büchern, denn meine Kindertage waren ja so still und friedlich dahingeflossen ohne besondere Ereignisse oder auch nur die Möglichkeit, solche absichtlich herbeizuführen.

Leise erhob ich mich, nahm den Leuchter und schlich in den Kellerraum hinaus, wo ich zunächst nach einer Pappschachtel suchte, um mir etwas wie eine Blendlaterne herzustellen. Nachdem mir dies ganz leidlich gelungen war, stieg ich, wieder auf Strümpfen, nach oben. Lautlos glitt ich über die dicken Läufer der Flure hin, schaute dann durch eines der Fenster des Billardzimmers in den Vorgarten hinab.

Das Schneetreiben hatte aufgehört. Der Mond stand jetzt als volle Scheibe am Himmel. Ich sah den Posten vor dem Haupteingang, sah die beiden anderen, die langsam das Schloß umkreisten. Ich war beruhigt. Nein – niemand ahnte, daß zwei deutsche Feldgraue hier einen sicheren Schlupfwinkel gefunden hatten – niemand!

Ich wagte es jetzt sogar, das andere Fenster leise zu öffnen, um mir das gegenüberliegende, von mir nur durch eine Reihe von Buchen getrennte Wirtschaftsgebäude genauer zu betrachten. Das kahle Astgewirr der Bäume hinderte mich hierbei nur wenig.

Drüben waren in einer Höhe mit mir vier Fenster erleuchtet. Helle Vorhänge versperrten jedoch den Einblick in jene Räume. – Wer mochte dort wohnen? Vielleicht die Russen, die das Schloß bewachten? Oder Beamte des Gutes, die nicht geflüchtet waren? – Es war unmöglich, diese Fragen mit Sicherheit zu beantworten. Jedenfalls mußte ich mich für das erste damit zufrieden geben, zu wissen, daß dort Menschen hausten. Im Laufe der Zeit, sagte ich mir, werden wir schon dahinter kommen, wen wir zu Nachbarn haben, – wir, die neuen Schloßbewohner aus eigener Machtvollkommenheit.

 

3. Kapitel.

Das „kleine“ Geheimnis.

Wenn ich auch weiß, wie wenig die meisten Leser in Romanen lange Beschreibungen von Örtlichkeiten und ähnlichem lieben, muß ich doch nochmals auf die Lage und die Bauart des Schlossen Madauen kurz zu sprechen kommen, – des besseren Verständnisses des Folgenden wegen.

Das Billardzimmer, von dem aus ich das Wirtschaftsgebäude beobachtete, lag im ersten Stock und war das westlichste der Vorderräume, also ein Eckzimmer. Ein Fenster ging nach dem Vorgarten hinaus, das andere nach der Seite. Dieser Flügel war, wie schon erwähnt, neu angebaut. Aus dem Billardzimmer gelangte man nacheinander in ein Herrenzimmer, eine Bibliothek und einen Salon. Diese Räume gehörten zum neuen, zum Westflügel, und bildeten eine zusammenhängende Flucht. Dann kam man aus dem Salon in den alten Flügel; zuerst in das Jagdzimmer, dann in einen dreifenstrigen Speisesaal, schließlich in ein Schlafzimmer, dessen Außenwand gleichzeitig die Mauer des Eckturmes bildete, der das flache Ziegeldach des großen Bauwerks weit überragte. – Im ganzen gab es also im ersten Stock sieben Vorderräume. Nach hinten heraus, von diesen durch einen langen Flur getrennt, waren ebenso viele Zimmer vorhanden, die jedoch bis auf ein Speise-, ein Musik- und ein Spielzimmer sowie eine Fremdenstube nicht möbliert waren. In das Fremdenzimmer hatten wir uns ja von außen her Zutritt verschafft. – Im Erdgeschoß wieder befanden sich nach dem Hintergarten zu die Wirtschaftsräume, nach vorn aber drei Bureauzimmer der Gutsverwaltung sowie eine Art von Privatmuseum, dessen Schätze, auf drei Zimmer verteilt, wir bisher nur ganz flüchtig gemustert hatten. Im Erdgeschoß waren sämtliche Fenster, die etwa zwei Meter über dem Erdboden lagen, vergittert. Zwei Flure in Kreuzform gab es hier, im Gegensatz zum ersten und zweiten Stock, wo nur ein Längskorridor vorhanden war. Das zweite Stockwerk enthielt nur leere Räume, die zum Teil als Vorrat-, Wäsche- und Kleiderkammern benutzt zu werden schienen. Ein Dachboden fehlte, oder besser er bestand nur aus einem langgestreckten, ganz niedrigen Raum, der Mäusen, Fledermäusen und Sperlingen zur alleinigen Benutzung überlassen war.

Der Park hinter dem Schlosse war recht ausgedehnt und erstreckte sich nach Norden zu bis an den Wald. Nach Westen zu lag außerhalb des Parkes das zweistöckige Wirtschaftsgebäude, dahinter, durch eine Allee von hohen Tannen getrennt, eine riesige Scheune, ein nicht minder großer Stall und noch ein drittes Wohnhaus. Im Südwesten wieder konnte man vom Billardzimmer aus die niedrigen Hütten, das Pfarrhaus und das Kirchlein des Dorfes erkennen, in dem wir zuerst einen Unterschlupf hatten suchen wollen.

Ich hoffe, daß der geneigte Leser mit Schloß Madauen vorläufig nun genügend vertraut ist, um unsere weiteren Erlebnisse leichter verstehen zu können. –

Ich hatte vorhin gesagt, daß ich das nach Westen zu hinausgehende Fenster des Billardzimmers geöffnet hatte, um nach dem Nebenhause hinausspähen zu können. Die Scheiben waren nämlich infolge des Schneesturms so dicht auf dieser Seite des Schlosses mit Flocken verklebt, daß ein Hindurchsehen unmöglich war. Die Kälte, die durch das Fenster einströmte, machte sich sehr bald sehr unangenehm fühlbar, so daß ich, zumal es ja drüben nichts zu beobachten gab, den Fensterflügel wieder schließen wollte. Da aber wurde mir gegenüber an einem der hellen Fenster der Vorhang zurückgeschlagen. Gegen den Hintergrund des durch eine große Hängelampe erleuchteten Zimmers erkannte ich deutlich die Gestalt einer weiblichen Person, die nun minutenlang regungslos blieb und ins Weite zu starren schien, während hinter ihr ein älterer Mann im Zimmer ruhelos auf und ab ging.

Nach einigen Minuten verschwand die Frau wieder. Und gleich darauf erlosch auch in demselben Zimmer das Licht. Dafür wurde ein weiteres Fenster plötzlich hell.

Ich drückte jetzt das Fenster vorsichtig zu. Ich fror so sehr, daß meine Zähne vor Frost klappernd aneinanderschlugen, schalt mich einen Narren, weil ich mich unnötig und zwecklos der starken Kälte ausgesetzt hatte.

Dieses Frostgefühl war’s, das mich auf den Gedanken brachte, mich durch einen Likör zu erwärmen. Ich wußte, daß nebenan im Herrenzimmer an der Wand ein gut gefülltes Likörschränkchen hing, mit dessen Inhalt wir, Topp und ich, schon vorher bei dem Rundgang durch unser „Hotel“ geliebäugelt hatten.

Nachdem ich meine aus der Pappschachtel hergestellte Blendlaterne ein wenig geöffnet hatte, betrat ich durch die nur angelehnte Tür das Nebengemach. Es war dies dasselbe, in dem ich den leichten Tabakgeruch zu spüren vermeint hatte.

Auch hieran dachte ich, als ich jetzt das Likörschränkchen, in dem der Schlüssel steckte, aufschloß und mir eine dickbauchige Flasche Kirschwasser heraussuchte. Ich entfernte den Korken, der nur halb in den Hals eingedrückt war, mit den Zähnen und setzte die Flasche an den Mund, freute mich schon auf das Stärkungsmittel, wurde aber doch im letzten Augenblick noch gestört – gestört durch seltsame Töne, die mir bald einen eisigen Schauer über den Rücken jagten.

Ich glaube, niemand wird mich deswegen für einen Feigling halten, weil wimmernde, klagende Laute, die jetzt irgendwoher an mein Ohr drangen, meine Hände zittern machten und meinen Herzschlag beschleunigten. Ich befand mich ja in einem riesigen Gebäude, in das ich heimlich eingedrungen war, das ich für unbewohnt hielt und in dem ich mich von mancherlei Gefahren umlauert wußte. Selbst für einen Menschen mit allerbesten Nerven wären diese plötzlich einsetzenden Töne, die in der mich umgebenden Stille doppelt unheimlich wirkten, eine harte Probe gewesen. Meine Nerven waren nie besonders taktfest.

Ich setzte die Flasche wieder ab, lauschte und – bebte an allen Gliedern. – Ja – es war wie ein fernes wimmerndes Weinen, was ich hörte. Woher es kam, vermochte ich nicht zu unterscheiden. Wenigstens zunächst nicht. – Es verstummte dann eine Weile, begann aber sofort aufs neue und noch deutlicher. Da glaubte ich annehmen zu dürfen, daß die Töne von oben aus dem zweiten Stock zu mir drangen. Ich paßte genau auf. Ja – das Wesen, mochte es nun Mensch oder Tier sein, das diese Laute ausstieß, befand sich in den Räumen über mir. Eine Täuschung hielt ich für ausgeschlossen. – Dann riet ich auf eine Katze. Diese geschwänzten Mäusefänger verfügen ja über Stimmen, die recht verschiedenartige Töne zu bilden vermögen. – Also eine Katze! Da wurde ich wieder ruhiger. – Mag sie jaulen so viel sie will, dachte ich und nahm den ersten Schluck, den zweiten – Ah – das tat wohl! Der den Likör mal eingekauft hatte, besaß Verständnis für Kirschwasser.

Zum dritten Schluck kam es nicht.

Beinahe wäre mir die köstliche Flasche aus der Hand gefallen, als hinter mir nun plötzlich eine Stimme sagte:

„Wohl bekomm’s!“

Ein Glück, daß Topp auch als Vaterlandsverteidiger sein Fistelorgan nicht verloren hatte und ich daher sofort erkannte, wer sich da lautlos ins Zimmer geschlichen hatte.

Mein Freund, in der Hand eine der meinen ähnliche Blendlaterne, trat näher, nahm mir die Dickbauchige wortlos ab und – trank mit solcher Ausdauer, daß ich zupackte und noch etwas für mich rettete.

Dann sagte Topp: „In Zukunft unterlaß besser diese Soloausflüge, lieber Berd. Sie sind unter den hier obwaltenden Umständen nicht ganz ungefährlich. Als ich vorhin aufwachte und sah, daß unser Versteck Dich nicht mehr beherbergte, bin ich Dir schleunigst gefolgt. Nur zu zweien dürfen wir uns hier bewegen, um jeder Zeit auch gemeinsam einer Überraschung, die ja kaum eine angenehme sein kann, vorbeugen oder ausweichen zu können. – Die Katzenmusik hatte Dich soeben etwas aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht. Sie klingt nicht schön, fällt auf die Nerven, was ich ohne weiteres zugebe. – Du bist doch auch für Katze, nicht wahr?“

Als ich zustimmend nickte, begann das Wimmern gerade wieder von neuem. Topp lauschte mit hochgerecktem Kopf, meinte dann leise:

„Es ist keine Katze!“

Bevor ich noch eine Bemerkung machen konnte, winkte er mir schon und schritt voran in die Bibliothek, die von dem Herrenzimmer nur durch einen dicken, roten Vorhang, der die Türöffnung verdeckte, getrennt war. Dann trat er durch die nur angelehnte Flurtür in den Korridor hinauf und schlug die Richtung nach der breiten Treppe ein, die im alten Flügel lag und bis auf den Boden führte.

Im oberen Flur standen wir eine Weile still und horchten, bis wir die seltsamen Laute abermals vernahmen. Topp schlich weiter, machte dann vor der letzten Tür des neuen Flügels halt. Diese Tür ging in eins der als Wäschekammer benutzten Zimmer.

Aber: die Tür war jetzt von innen verschlossen!

Jetzt! Vorhin nämlich bei dem Rundgang hatten wir sie noch unversperrt gefunden.

Da – abermals das Wimmern! Wir hörten es nun wirklich dicht vor uns.

Topp beugte sich zu mir hin, flüsterte mir ins Ohr:

„Was tun wir nur? – Eine Katze ist das auf keinen Fall, vielmehr ein Kind. – Wie kommt dieses hierher? Wozu ist die Tür verschlossen? Befindet sich noch ein Erwachsener bei dem armen Wurm, das da drinnen so kläglich weint?“

Ich flüsterte zurück: „Am besten, wir ziehen uns in unser Versteck zurück. Die Sache gefällt mir nicht, birgt für uns Gefahren.“

Topp hauchte ein „Allerdings!“ legte die Hand wieder auf den Türdrücker und stellte abermals fest, daß von innen zugesperrt war. Dann bückte er sich und versuchte durch das Schlüsselloch zu sehen.

„Drinnen alles dunkel“, meldete er. „Was bedeutet das nur?“

„Das Ende unserer Bewegungsfreiheit hier in unserem Hotel“, entgegnete ich. „Wir kehren am besten schleunigst in den Keller zurück, bevor wir hier überrascht werden.“

Topp zauderte noch, machte dann aber doch kehrt und schritt der Treppe zu. Hinter uns verklang das wimmernde Weinen.

Wir krochen in unseren Schlupfwinkel hinein, zündeten die Kerzen an und machten beide nicht gerade sehr freudige Gesichter, wie wir gegenseitig feststellten.

Topp langte dann nach einer Konservenbüchse, öffnete sie mit seinem Taschenmesser und sagte dann leise, ohne aufzuschaun:

„Ob Kinder in dem Alter – denn das weinende Wurm muß noch ziemlich jung sein – wohl schon Zigaretten rauchen?“

„Was heißt das?“

Er hielt mir die offene Büchse hin. Ich sah darin sehr appetitlichen Aal in Gelee, griff zu – Topp hatte recht: Auf das Kirschwasser gehörte ein fester Happen hinauf!

„Das heißt“, begann er kauend, „daß ich vorhin bei unserem ersten Rundgange gerochen habe, daß im Herrenzimmer vor wenigen Stunden, ich möchte sogar behaupten, erst eine Stunde vor unserem Einzug in das Schloß, jemand geraucht hat. Ich sah auch auf dem Aschbecher auf dem Schreibtisch drei Zigarettenstummel liegen, von denen der, den ich an die Nase hielt, ohne daß Du es gewahr wurdest, noch an der Mundseite feucht war. Es waren Stummel von Zigaretten mit Mundstück, Marke Kronprinz.“

Ich beeilte mich zu erklären, daß ich genau dieselbe Beobachtung mit Hilfe meiner Nase gemacht hätte.

„Siehst Du, – dann wird’s wohl stimmen“, meinte Topp eifrig und fischte ebenso eifrig ein neues Stück Aal aus der Büchse heraus. „Unser Hotel hat also seine Geheimnisse. – Wer war der Raucher? – Ein Russe, ein Soldat? – Was wollte er hier?“ Topp machte eine Pause, als erwarte er eine Antwort.

„Natürlich ein Soldat!“ entgegnete ich. „Vielleicht ein Offizier, der Befehl hat, die Räume täglich zu revidieren.“

Topp grinste derartig, daß sein breiter Mund den rötlichen Stoppelbart, der Wangen und Kinn bedeckte, in Falten legte.

„Berd“, sagte er, „Du bist auf dem Holzwege! Sogar sehr. Der Raucher hat sich nämlich im Herrenzimmer mindestens eine Stunde lang aufgehalten. Beweis: Sechs weitere Zigarettenstummel, die auf der Aschenschale auf dem Mitteltisch lagen und die auch noch feucht waren. – Neun Zigaretten – dazu braucht man ungefähr eine Stunde.“

„Du scheinst auf diese Leistung Deiner Logik sehr stolz zu sein“, meinte ich achselzuckend. „Aber – Dein überlegenes Grinsen ist recht wenig angebracht. Es können nämlich auch zwei, drei Raucher dagewesen sein.“

„Ne, Berd, – eben nicht! Die Mundstücke hat ein und dieselbe Hand in sehr kennzeichnender Weise geknifft, wie manche Leute das an sich haben, und dieselben Lippen beziehungsweise Zähne haben sie angefeuchtet und unten halb zerkaut, wie es nervöse Raucher tun.“

„Die reine Detektivarbeit, die Du da so in aller Eile fertiggebracht hast –!“ sagte ich ironisch.

Topp zuckte die Achseln. „Man muß die Augen nur wirklich zum Sehen zu gebrauchen verstehen. – Jedenfalls: Ein Mann hat dort neun Zigaretten kurz vor unserem Eindringen geraucht. – Es fragt sich: Hat der Betreffende mit Wissen der russischen Wache das Schloß betreten oder ist er heimlich gekommen wie wir? – Ich möchte behaupten: heimlich!“

„Grund?“

„Die Tageszeit, die er sich für seinen Besuch gewählt hat. – Er war kurz vor uns da, also nach Eintritt der Dunkelheit. – Weshalb nicht am Tage, wenn er ein Recht hatte, das Schloß zu betreten? Weshalb zu einer Zeit, wo er künstliche Beleuchtung brauchte?“

„Hm – sehr anfechtbar!“

„Allerdings. Aber Du wirst zugeben: Meine Beweisführung ist nicht ganz sinnlos, nicht wahr? – Gut, lassen wir die Frage zunächst offen. – Gute Nacht.“

Er deckte sich zu, legte sich aus seinem primitiven Bett möglichst bequem zurecht und war sehr bald eingeschlummert.

Ich desgleichen. Das machte das Kirschwasser –

 

4. Kapitel.

Der dritte im Bunde.

Meine Uhr zeigte neun, als ich aufwachte. – In unserer „Hütte“ brannte nur eine Kerze. Und – Topp war nicht da, erschien dann aber sehr bald und sehr eilig, raunte mir zu: „Eine Revision“, blies das Licht aus und flüsterte weiter, ich solle mich ganz mäuschenstill verhalten.

Nun – ich will gleich sagen: Die Revision, die ein russischer Offizier sehr oberflächlich vornahm, besser: vorgenommen haben mußte, verlief für uns ohne jede Unannehmlichkeit. Der Russe, der noch zwei Soldaten bei sich hatte, kam zwar auch in die Kellerräume, dies aber nur, um sich eine Flasche Kognak aus der Weinabteilung zu holen, wie wir beobachten konnten, da er nachher seine Begleiter vorausschickte und unten an der Treppe im Erdgeschoß einen gehörigen Stärkungsschluck nahm, was Topp sehr empörte, der neben mir auf Strümpfen keine fünf Schritt hinter dem Russen stand, dem wir, sehr bald wieder fast zu keck geworden, nachgeschlichen waren.

Ja, die Revision war wirklich sehr oberflächlich gewesen, was wir einmal an ihrer schnellen Erledigung und dann daran merkten, daß wir die Tür im zweiten Stock noch genau so versperrt fanden wie in der Nacht.

Jetzt, wo unser Hotel durch die draußen freundlich scheinende Wintersonne ebenso freundlich erleuchtet war, begnügte sich Topp jedoch nicht damit, nur lauschend vor der Tür zu stehen, die das „kleine“ Geheimnis hütete.

„Ich muß hinein!“ sagte er. „Denn das Kind ist doch fraglos ohne Wissen und Willen der Russen hier. Wozu sonst die auch jetzt noch von innen verschlossene Tür?! Weshalb kümmert sich niemand um das Kind? Es ist jetzt ja bereits zehn Uhr vormittags, und keine Seele hat diesen Türdrücker inzwischen berührt, sonst wäre das Häufchen Staub, das ich gestern oben auf den Messinggriff gestreut habe, weggewischt worden.“

Topp holte aus dem Erdgeschoß – in einem der Bureaus fand er einen Handwerkskasten – eine Stichsäge und begann dann dort, wo die Türfüllung am dünnsten war, seine Einbrecherarbeit.

Topp verlor jedoch bald die Geduld, pochte leise an und sagte:

„Öffne! Dir geschieht nichts! Wir sind Deutsche!“

Ich gestehe ein, daß mir dieser Zuruf mehr als leichtsinnig vorkam. Wir verrieten so einem Unbekannten nicht nur die Anwesenheit Fremder im Schlosse, sondern auch gleich, daß es sich um Deutsche handelte. Aber mein Freund war offenbar seiner Sache ganz sicher, daß ein Kind sich in dem Zimmer ohne Wissen der Wachen verberge.

Und wirklich –! Die Tür ging plötzlich auf. So plötzlich, daß wir zurückprallten.

Ein Knabe von vielleicht zehn Jahren stand vor uns, gekleidet in einen dunkelblauen Anzug. Das blonde Haar hing ihm wirr in das krankhaft gerötete Gesicht, aus dem uns ein Paar große, dunkle fieberglänzende Augen angstvoll entgegenstarrten.

„Wer – wer sind Sie?“ fragte der Kleine, dem man sowohl an der Kleidung als auch an dem feinen Gesichtsschnitt und der Aussprache des Deutschen den Angehörigen reicherer und gebildeter Stände anmerkte, mit heiserer, belegter Stimme. „Wenn Sie deutsche Soldaten sind, so werden Sie mich schützen und nicht verraten“, fügte er hinzu.

Topp beruhigte das Kind durch ein paar herzliche Worte, reichte ihm die Hand, mußte dann aber schnell zuspringen und zugreifen, da der kleine Bursche mit einem Male schwankte, eine Stütze suchend in die Luft griff und – ohnmächtig wurde.

„Hohes Fieber“, erklärte Topp. „Tragen wir ihn in unser Versteck.“

Dort wachte das Kind bald wieder aus seiner Bewußtlosigkeit auf, aber nur, um sofort in wilde Fieberdelirien zu verfallen.

Topp schickte mich nach oben. Ich sollte nach einem Medizinschränkchen suchen, auch Trinkwasser und eine Flasche Fruchtsaft mitbringen.

So begann unser Kampf um ein fremdes, junges Leben. – Tobias, der auch von der Arzneikunde etwas verstand, übernahm die Behandlung. Ich hatte aus dem Medizinschranke in einem der Bureaus alles mitgebracht, was mir geeignet schien. Topp flößte dem Kinde in Wasser gelöste Aspirintabletten ein, machte dann einen Prießnitzumschlag um die Brust, da der Kleine stark röchelte und die Lunge angegriffen zu sein schien.

Ich mußte indessen die „Hütte“ vergrößern. Unser Patient hielt uns bis zum Abend völlig in Atem. Da erst wurde er ruhiger und schlief ein.

Topp stellte über unseren kleinen Patienten allerlei Vermutungen auf. Sie waren ja alle sehr fein durchdacht, trafen aber auch nicht im entferntesten das Richtige, wie sich später ergab. – Topp hatte auch die Taschen des Kindes durchsucht, aber außer einem feinen Schnupftuche mit buntem Rande und unwichtigen Kleinigkeiten nur zwei altertümlich geformte größere Schlüssel gefunden, deren Bärte auf Kunstschlösser an einer Truhe oder dergleichen hindeuteten.

Nachdem Tobias seiner Neigung zu künstlich aufgebauten Schlußfolgerungen genügend nachgegangen war, sagte er ganz unvermittelt:

„Ich wäre beinahe mit dem Raucher zusammengestoßen –!“

Erst verstand ich gar nicht, was er meinte. Dann aber überschüttete ich ihn – was leicht verständlich ist, mit einer Menge von Fragen, die er mir zusammenhängend beantwortete, indem er folgendes berichtete:

„Ich bin eigentlich von vornherein in der Absicht nach oben in den neuen Flügel gegangen, um festzustellen, ob der Unbekannte heute nicht vielleicht zu derselben Zeit sich wieder einfinden würde. Ich gebe zu, daß ich etwas leichtsinnig war, insofern nämlich, als ich mit der Möglichkeit gar nicht rechnete, er könnte bereits anwesend sein. Es war wirklich ein Glück, daß meine Aushilfsmorgenschuhe, bestehend in drei Paar übereinander gezogenen Socken, meine Schritte völlig unhörbar machten und daß der Drücker des Billardzimmers nicht quietschte. Ich trat ein, wollte gerade an das Seitenfenster, um nach dem Wirtschaftsgebäude ein wenig hinüberzuspähen, als ich nebenan im Herrenzimmer ein leises Geräusch hörte. Es klang wie das Aufziehen einer sich klemmenden Schublade. – Die Verbindungstür war halb offen. Diesem ersten Geräusch folgten sofort halblaute Worte einer Männerstimme: „Verdammt – wieder nichts! Es ist zum –“ Wahrscheinlich also „zum Verrücktwerden“. Aber der im Herrenzimmer verschluckte das eine Wort. – – Du kannst Dir vorstellen, Berd, was für einen Schreck ich bekam, als mir der Fremde so unvermutet deutliche Zeichen seiner Gegenwart gab. Zuerst wollte ich mich schleunigst zurückziehen. Dann hielt ich es doch für richtiger, zu bleiben und mir den Herrn genauer anzusehn. Ich vertraute eben fest darauf, daß er sich hier ganz sicher und allein wähnte. Sein Benehmen bewies denn auch, daß ich mit Recht mich auf sein Sicherheitsgefühl verlassen hatte. Er bewegte sich so, als ob es weit und breit für ihn keine Gefahr überrascht zu werden gäbe. Welche Schlüsse hieraus und aus seinem ferneren Verhalten zu ziehen sind, können wir nachher erörtern. – Ich lugte also, im Dunkeln stehend, durch die Türspalte hinein. Er saß vor dem schweren, großen Eichenschreibtisch, der, wie Du Dich besinnen wirst, einen hohen Aufsatz mit zahlreichen Schubfächern und zwei Mittelschränkchen hat. Als Leuchte benutzte er eine jener elektrischen Taschenlaternen mit langer Brenndauer, wie man sie jetzt in kleinem Format herzustellen weiß. Er trug eine Pelzmütze, einen halblangen Pelz mit Biberkragen, hohe Stiefel mit Sporen und – gib acht! – vor dem Gesicht einen falschen Bart, der offenbar, an einem Draht befestigt, wie eine Brille über die Ohren gehakt war. Neben ihm lag auf einem Stuhl eine Reitgerte mit silbernem Knopf in Form einer Raubvogelkralle, die eine Kugel umklammert hält. – Man muß eben auf jede Kleinigkeit achten, lieber Berd. Auf jede! Die Reitpeitsche kann ihn verraten, obwohl er sein holdes Antlitz maskiert hatte! – Er rauchte Zigaretten, steckte immer eine an der anderen an. Und – er rauchte mit derselben nervösen Hast, mit der er auch den Schreibtisch durchwühlte, wobei er verschiedentlich neue Verwünschungen über seinen Mißerfolg ausstieß. – Dann erhob er sich, stellte die Taschenlampe so, daß ihr Schein nur gegen das Holz des Aufsatzes fiel und begann im Zimmer hin und her zu gehen. Jetzt hatte ich die beste Gelegenheit, mir seine Gestalt und seine Bewegungen einzuprägen. Wer weiß, wozu letzteres noch gut ist –! – Öfters blieb er stehen, schaute sich in dem geräumigen Zimmer um, schien jedes einzelne Möbelstück zu prüfen und begann dann plötzlich stets dort seine Suche wieder aufzunehmen, wo seine Blicke irgend eine Hoffnung auf Erfolg in ihm hatten aufsteigen lassen, – bald riß er einen Schrank auf, bald durchblätterte er Bücher des Wandbrettes, bald zog er eine Tischschublade hervor, bald faßte er mit der flachen Hand zwischen die Polsterung der Sessel und des Sofas hinein. – So trieb er es eine ganze Weile. Dann sah er nach seiner Uhr, fluchte von neuem, nahm Reitgerte und Taschenlampe und verschwand nebenan in der Bibliothek. – Ich ihm nach. Aber – ich kam zu spät, mußte ja auch vorsichtig sein! Jedenfalls steht das eine fest: Er durchschritt die ganze Zimmerflucht bis in den alten Flügel; bis in das letzte Zimmer nach vorn heraus, bekanntlich ein Schlafzimmer, konnte ich den Geruch seiner Zigarette spüren. Wie er aber das Schloß verlassen hat, welcher besondere Weg ihm hierzu zur Verfügung stand, entzieht sich meiner Kenntnis – vorläufig! – – So, mein lieber Berd, das also ist mein Abenteuer mit dem Raucher. – Ich will nun anschließend gleich bemerken, daß folgendes sich hinsichtlich der Person und der Absichten dieses Mannes vermuten läßt. Also: Der Unbekannte wohnt offenbar ein Stück von Madauen ab. Er kommt zu Pferde. Zum Vergnügen schleppt niemand abends eine Reitpeitsche mit sich herum und trägt an hohen Stiefeln Anschnallsporen. Er muß weiter mit den zur Bewachung des Schlosses getroffenen Maßnahmen recht genau Bescheid wissen, – eben daß die Räume nur einmal am Tage revidiert werden. Sonst würde er nicht wagen Zigaretten zu rauchen. Er rechnet damit, daß der Geruch des Tabaks sich bis zum anderen Morgen verflüchtigt haben wird und daß keiner der Herren Rußkis so schlau – wie wir! – ist, aus den liegen gebliebenen Stummeln allerlei zu schließen. Ferner betritt er das Schloß nicht etwa durch den Haupteingang, sondern auf einem anderen Wege, also – heimlich und ohne Erlaubnis des russischen Wachkommandos. Schließlich sucht er im Herrenzimmer irgend einen bestimmten Gegenstand, – sicherlich wohl Papiere, und zwar solche, die für ihn von größter Wichtigkeit sein müssen. – – Du wirst zugeben, daß all diese Kombinationen durchaus zwanglos aus den beobachteten Tatsachen abgeleitet sind. – Oder bist Du anderer Ansicht?“

„Wie könnte ich das?! – Alles paßt tadellos zu Deinen Feststellungen, ohne jede Frage!“

Topp langte nach einer Zigarette, sagte nachdenklich:

„Greif’ nur ruhig gleichfalls zu. Was der Fremde darf, dürfen wir auch.“

 

5. Kapitel.

Eine alte Bekanntschaft.

Wir hatten gegessen, getrunken, hatten unser merkwürdiges Hüttchen fast zu sehr vollgequalmt und wollten bereits zur Ruhe gehen, als ich die Lust verspürte, nochmals ein wenig in den dunklen Räumen umherzuwandern. Ich war noch ganz munter, und etwas Bewegung konnte mir nichts schaden. Mein Körper, an allerlei Strapazen in der letzten Zeit gewöhnt, vertrug die erzwungene Muße schlecht; ich hatte ein dumpfes Gefühl im Kopf und jene Mattigkeit in den Gliedern, die die Folgen der Untätigkeit sind.

Topp erklärte, er wolle sich von oben aus der Bibliothek noch ein Buch holen; man müsse auch hier für seine Bildung etwas tun.

Da unser Patient ganz fest und ruhig schlummerte, konnte er wohl für kurze Zeit ohne Aufsicht bleiben, Topp kam also mit.

Wir stiegen die Treppen aufwärts, jeder mit seiner Blendlaterne in der Hand, die wir nur ganz wenig geöffnet hatten, so daß vor uns zwei dünne Strahlen einhertanzten. In der Bibliothek gab es, wohlgeordnet in Eichenregalen mit grünen Vorhängen davor, einige hundert Bände, darunter das meiste wissenschaftliche Werke. – Topp hatte bald etwas nach seinem Geschmack gefunden. Ich für meine Person hätte mir ja nicht gerade die Familiengeschichte des Geschlechtes Derer von Zechanowski herausgesucht! Na – de gustibus non est disputandum! Die Geschmäcker sind halt verschieden –! – Es war ein dicker, in Leder gebundener Band, den Topp mit nach unten nahm, indem er mir zuraunte: „Bleib’ nicht zu lange weg und sei vorsichtig!“

Er ging davon; ich aber in das Herrenzimmer hinüber, wo ich mir die Zigarettenmundstücke ansah, aus deren besonderer Art des Kniffs Freund Karfunkel so kluge Schlüsse gezogen hatte. Der Tabakgeruch war noch deutlich zu spüren.

Dann begab ich mich in das Billardzimmer und stellte mich an das Fenster, von dem aus man nach dem bewohnten Wirtschaftsgebäude hinüberspähen konnte.

Die Scheiben waren heute nur noch wenig von außen mit Schnee bedeckt. Eine klare, mondhelle Winternacht lagerte draußen über der weißen Umgegend. Die Posten schlenderten müde auf dem ausgetretenen Pfad um das große Gebäude herum.

Drüben im Nebenhause zeigten sich dieselben Fenster erleuchtet wie gestern. Und genau wie gestern fragte ich mich, wer dort wohl wohnen mochte.

Ich war etwas enttäuscht. Kein Vorhang wurde gehoben, keine Frau erschien und schaute in die Winterlandschaft hinaus. Ich suchte die Bauart des Nebenhauses näher festzustellen. Es war zweistöckig, hatte einen schmalen Vorgarten mit niedrigem Lattenzaun, sieben Fenster Front und eine Eingangstür, zu der vier Steinstufen hinaufführten.

Dann wurde meine Aufmerksamkeit dadurch wieder auf die erleuchteten Fenster gelenkt, daß sich nun auf den Vorhängen die Schatten mehrerer Personen abzeichneten, die vielleicht bisher um den Tisch herum gesessen hatten, an dem ich gestern den älteren Mann bemerkt hatte.

Die Schatten verschwanden jedoch bald. Dafür geschah etwas weit Wichtigeres: die Haustür öffnete sich und heraus traten eine Frauengestalt und drei Soldaten. Diese vier Personen kamen nun langsam auf das Schloß zu – für mich sofort ein Grund, mich ernstlich zu beunruhigen. Die Vermutung lag nahe, daß die Leute womöglich unserem „Hotel“ noch einen späten Besuch abstatten wollten.

Wenige Schritte vor meinem Fenster machten die vier halt und schienen lebhaft miteinander zu sprechen. Die Frau, die einen langen, dunklen Mantel und ein weißes Tuch um den Kopf trug, stand jetzt so, daß ich ihr vom Monde hell beleuchtetes Gesicht sehen konnte.

Ich schaute hin, zuckte zusammen, schaute schärfer hin, glaubte erst an eine Sinnestäuschung – Nein – eine Verwechselung war hier ganz ausgeschlossen! Dafür hatte ich das zarte Antlitz meiner blonden Elfe mit den dunklen Augen – der Elfe aus der Untergrundbahn in Berlin! – doch zu gut in der Erinnerung! Kein Zweifel: sie war’s! Es war die holde Unbekannte, die ich damals vor der Zudringlichkeit des geschniegelten Laffen hatte schützen dürfen –!

Seltsame Verkettung von Umständen, seltsame Wege von Erdenpilgern –! dachte ich. Über ein halbes Jahr lag jene Begegnung nun zurück. Und doch war jede Einzelheit noch so lebhaft in meinem Gedächtnis haften geblieben, als handelte es sich um ein für mein Leben höchst eindrucksvolles Ereignis. Das war doch nun keineswegs der Fall. Ich hatte ja das kleine Abenteuer von damals längst vergessen gehabt, kaum noch daran gedacht. Dazu waren eben weit erschütterndere Dinge auf mich eingestürmt, Dinge, denen gegenüber alles andere in den Hintergrund trat: der Weltkrieg, meine Beteiligung an dieser Riesentragödie, die die ganze Erde in Atem hielt. Was galt wohl im Vergleich hierzu ein holdes Mädchen mit stillen, träumerischen Nixenaugen –?!

Nun aber, wo ich dieses Elfchen wieder vor mir sah, lebte die Vergangenheit wieder auf – Ich erinnerte mich, daß ich damals gleich vermutet hatte, dieses liebreizende junge Kind müßte vom Lande stammen; erinnerte mich an den leichten bräunlichen Schimmer ihrer Haut; auch an ihren ernsten Begleiter, von dem ich angenommen hatte, er trüge wohl eine schwere Last mit sich herum. –

Die vier setzten sich abermals in Bewegung – in Richtung auf den Haupteingang. Ich glitt an das zweite Fenster, preßte mein Gesicht an die Scheiben, um besser beobachten zu können. Alle Gedanken an Berlin und die Untergrundbahn waren wieder ausgelöscht; nur die Gegenwart lebte wieder, die Angst um unsere Sicherheit –! – Zwei der Russen, die das Mädchen begleiteten, waren Offiziere. Und einer von ihnen zog nun etwas aus seiner Tasche, das nur ein Schlüssel sein konnte –

Ich hatte genug gesehen; stürmte die Treppen hinab in den Keller, kroch in unsere Hütte. Topp saß und las in dem dicken Bande, las und – rauchte!

Ich riß ihm die Zigarre aus der Hand, keuchte hervor:

„Revision!“

Er begriff sofort. Sein Gesicht wurde lang.

„Der Keller stinkt nach Tabakqualm“, stöhnte ich. „Sie werden’s riechen, und dann – dann –“

„Fenster auf –! Gegenzug machen!“ sagte Topp kurz. Er hatte sich schon wieder gefaßt.

Wir versuchten zu lüften, so gut es ging. Taten’s auf die Gefahr hin, daß einem der Posten die offenen Kellerfenster auffielen. Es half nichts. Es mußte sein. – Dann packte mich Topp plötzlich am Arm.

„Unser Patient –! Er muß eingeweiht, geweckt werden –“ Er lief davon. Ich blieb am Eingang der Kellertreppe stehen und lauschte weiter auf die Geräusche, die mein Ohr erreichen: Schritte, Stimmen, Türenklappen. –

Topp kehrte zurück. „Gott sei Dank, der Junge ist munter und wird sich still verhalten“, flüsterte er atemlos, „Wir müssen jetzt die Fenster schließen –vorwärts!“

Wir merkten, daß das Lüften ein wenig genützt hatte, aber nicht genug; wir schauten uns wortlos an und verstanden uns. Unsere Blicke sprachen: Verloren – alles verloren! Sie werden Euch finden!

Topp wollte die Fenster in unserem Kellerraum nochmals öffnen. Ich sollte derweilen bis zum letzten Augenblick an der Kellertreppe ausharren und erst hinunterflüchten, wenn die vier Miene machten, auch die Keller zu durchsuchen.

Vorläufig waren wir offenbar noch in Sicherheit. Ich hörte, wie die Stufen der Haupttreppe knarrten. Das war noch ein Aufschub – Man revidierte erst oben im ersten Stock. Mochten sie! Sie würden nichts finden – höchstens die Zigarettenstummel.

Am wichtigsten war ja, daß der Tabakqualm aus dem Keller verschwand! Und in dieser Beziehung gestaltete sich unsere Lage mit jeder Minute günstiger. Meine Hoffnung stieg. Alles würde glücklich enden –

Scheinbar ist unser Gehör in der Dunkelheit doppelt scharf. Das liegt daran, weil unsere Sinnesorgane durch nichts anderes abgelenkt werden und unsere ganze Fähigkeit, äußere Eindrücke in uns aufzunehmen, nur auf Geräusche konzentriert ist.

Ganz plötzlich glaubte auch ich eine besondere Art von Geräusch in nächster Nähe zu unterscheiden. Ich will noch erwähnen, daß mein Standort auf der oberen Stufe der Kellertreppe, die mit einem Holzverschlage versehen war und im hinteren Teile des Flures des Erdgeschosses lag, derart war, daß ich wenige Schritte vor mir den vernagelten Ausgang auf die Parkterrasse hatte und daß ich mithin, selbst wenn es hell gewesen wäre, den Flur selbst nicht überblicken konnte. Die Tür zu dem Treppenniedergang war weit geöffnet und diente in dieser Stellung sozusagen noch als Schallfänger.

Ich hörte also besonders geartete Geräusche, denn es handelte sich nicht um ein einzelnes, gleichbleibendes, wie ich bald feststellte. Ich glaubte etwas wie einen unterdrückten Seufzer, dann hastige Atemzüge und darauf das undeutliche Rauschen von Frauengewändern zu unterscheiden –

Jedenfalls war das eine sicher: irgend jemand hatte vom Längsflur aus die Richtung nach dem Hinterausgang eingeschlagen, kam nun langsam den Querflur entlang. Und dieser jemand konnte nur das junge Mädchen sein, das mit den Russen zusammen vorhin das Schloß betreten hatte, – das Mädchen – meine Bekanntschaft von der Untergrundbahn her, wenn man hier überhaupt von einer Bekanntschaft sprechen kann.

Es waren sehr widerstreitende Empfindungen, die mich jetzt bewegten. Allerlei Fragen drängten sich mir blitzschnell auf. Der anfängliche Schreck wurde durch den Gedanken verdrängt, daß mir von diesem Mädchen wohl kaum Gefahr drohte. Gab ich mich ihr zu erkennen, würde sie mich sicherlich nie verraten, – falls sie mich eben entdeckte. – Mehr noch schoß mir durch den Kopf. Aber – es war, als ob ein heller Streifen, der urplötzlich auf die vernagelte Tür vor mir fiel, – der Schein einer halb abgeblendeten Laterne! – diese weiteren Gedanken als unnötig ausstrich.

Unwillkürlich drückte ich mich dichter an die Holzwand, hob auch schon den einen Fuß, um rückwärts schreitend nach unten zu flüchten. – Zu spät –! Eine dunkle Gestalt tauchte vor mir auf, das grelle Licht der Laterne traf mein Gesicht –

Ich stand da wie erstarrt. – Was wird nun folgen? – Wie ein Feuerrad kreiste nur immer diese eine Frage in meinem Kopf.

Von dem Mädchen sah ich eigentlich nur das helle Kopftuch. Sonst nichts –, höchstens noch ganz verschwommene Umrisse –

So vergingen Sekunden. Sie rührte sich nicht, ich ebenso wenig –

Dann kam es wie ein Hauch über ihre Lippen:

„Von mir haben Sie nichts zu fürchten – Ich heiße Hildegard Markwart, bin eine Deutsche. Ich weiß seit gestern, daß sich im Schlosse jemand verborgen hält. – Haben Sie den kleinen Danilo gefunden? Ist er bei Ihnen –?“ Ich merkte, wie erregt sie war. Ihre Stimme zitterte. Und die Laterne in ihrer Hand tanzte in der bebenden Hand mit ihrem grellen Lichtschein hin und her.

„Der Knabe ist bei uns“, flüsterte ich hastig zurück.

„Wie geht es ihm?“

„Gut. Er war recht krank, aber die Gefahr dürfte vorüber sein.“

„Dem Himmel sei Dank! – Nehmen Sie ihn weiter in Ihre Obhut, falls diese Durchsuchung für Sie günstig verläuft. Ich muß jetzt nach oben – Könnten wir uns nicht irgendwie miteinander verständigen –? Ich hätte Ihnen so viel zu sagen –“

Ich dachte nach. Aber mir fiel nichts ein. Wie sollten wir auch in Verbindung treten, wo das Schloß so scharf bewacht wurde –!

Da – und ich fuhr entsetzt herum! – neben mir Topps heisere, hohe Stimme:

„Morsealphabet – Lichtblitze – Billardzimmerfenster – gegen elf Uhr abends stets, auch heute – aber Vorsicht!“ Er sprach im Depeschenstil. Das Mädchen verstand sofort, erwiderte:

„Gut, sehr gut! So wird es gehen – – Verbergen Sie sich jetzt! Ich werde zusehen, daß die Keller nur oberflächlich revidiert werden. – Leben Sie wohl – alles Gute!“

Sie verschwand. Das Rauschen ihrer Röcke verstummte schnell.

Topp zog mich die Treppe hinab. „Komm’, – der Rauch ist weg. Wir müssen gerade großes Pech haben, wenn sie uns finden –“

Wir krochen wie immer auf allen vieren in den künstlich aufgeschichteten Gerümpelhaufen hinein, setzten uns auf unsere Lagerstätte und tauschten nur hin und wieder eine kurze, geflüsterte Bemerkung aus. Auch der Knabe fragte einmal leise: „Ob man uns hier entdecken wird –?“ – Er war ganz auf unserer Seite, der Kleine, fürchtete, hoffte mit uns.

Zehn Minuten vergingen. Dann Stimmen, Schritte. Wir verstanden, wie das Mädchen sagte: „Hier kann er nicht sein – Ich sehe ein, daß meine Vermutung recht unsinnig war.“

Ich hatte den ganz bestimmten Eindruck, daß diese Worte mehr für uns als für den gesprochen wurden, der darauf in schlechtem Deutsch entgegnete: „Ich gleich gewußt habe, wie falsch Sie haben gedacht, Fräulein Hildegard. Ist unmöglich, in Schloß zu kommen ohne meine Erlaubnis.“

Die Schritte entfernten sich von der Tür unseres Kellerraumes, verklangen. Nach einer Weile einen dumpfen Knall: die Vordertür war zugeworfen worden – die Gefahr vorüber –!

 

6. Kapitel.

Was Danilo erzählte.

Ein Streichholz flammte auf. Topp zündete die Petroleumlampe an, meinte aufatmend: „Das waren etwas ungemütliche Minuten – tatsächlich! Die Russen müssen wieder sehr oberflächlich gesucht haben – zum Glück! Im Gedanken an den Sägeschnitt in der Türfüllung des Zimmers oben im zweiten Stock war mir nicht gerade wohl zu Mute!“

Da erst dachte auch ich an dieses verräterische Zeichen.

„Du hast ganz recht, Topp, – wenn sie das bemerkt hätten!“

Mein Freund nickte nur, wandte sich dann an den Knaben, der halb aufgerichtet auf seinem Lager saß und uns mit seinen großen, verständigen Augen beobachtete.

„Also Danilo heißt Du, kleiner Freund. Wir erfuhrens von Fräulein Hildegard, die sehr besorgt um Dich ist. Wir sprachen mit ihr nur ganz flüchtig. Sie vertraut uns, hat uns gebeten, Dich weiter unter unsere Obhut zu nehmen – Willst Du uns jetzt nicht auch als Deine guten Freunde behandeln und uns erklären, wie Du in das Schloß hineingelangt bist und weshalb Du überhaupt hierher flüchtetest? – Du siehst, ich weiß über Dich bereits so etwas Bescheid. Das Schloß gehört Deinem Vater, dem Majoratsherrn Peter von Zechanowski. Deine Mutter wieder ist Gisela, geborene Freiin von Grallhuß.“

Der Knabe setzte sich ganz aufrecht, streckte erst Topp, dann mir die schmale Kinderhand hin und sagte dazu: „Ich mußte vorsichtig sein – Sie werden mir das nicht verargen, wenn Sie erst erfahren haben, wie schwerwiegende Gründe ich zum Mißtrauen gegen jeden Menschen habe.“ Er sprach wie ein Erwachsener. Er bewies nicht nur seinen frühreifen Verstand auf diese Weise, sondern auch durch den Ton, in dem er diese Sätze vorbrachte, eine tiefe Bitterkeit, die uns beiden seltsam nahe ging. Was mußte er wohl durchgemacht haben, um so schlecht bereits in diesem Alter von den Menschen zu denken –!

Nach kurzer Pause fuhr er fort: „Ich bin Ihnen so dankbar für alles, was Sie an mir getan haben – für alles! Mein Vater wird Sie reich belohnen. Ich werde ihm erzählen, wie gut Sie zu mir waren. Alle deutschen Soldaten sind gut und edel. Wenn ich groß bin, werde ich Offizier bei der Gardekavallerie in Berlin. Mein Papa ist dort Rittmeister gewesen, von der Reserve. Jetzt halten ihn die Russen gefangen. Er soll ein Spion sein. Aber es ist nicht wahr. Böse Leute haben ihn bei den Russen angeschwärzt. In Warschau hat er viele Feinde. Die Polen dort im Nationalklub hassen ihn, weil er nicht gegen die Preußen sich aufgelehnt hat. Wir Zechanowskis sind Deutsche, gute Deutsche –“

Topp mochte einsehen, daß wir schneller Aufschluß erhalten würden, wenn er Danilo nach dem fragte, was uns zu wissen wichtig war. Wir erhielten dann von unserem kleinen Freunde folgende Angaben über dessen Familie und traurige Erlebnisse, nachdem Topp noch kurz bemerkt hatte, daß ihn die bis in die jüngste Zeit ergänzte Familienchronik, die er vorhin studiert hatte, bereits in die Verhältnisse des Hauses Zechanowski leidlich eingeweiht hätte. –

Kurz vor Ausbruch des Krieges war der Vater Danilos (der Knabe besaß nur noch eine jüngere Schwester, die in einem Pensionat in Harzburg erzogen wurde) nach Warschau gereist, um dort noch schnell größere Beträge einzuziehen, die ihm aus dem Verkauf der vorjährigen Ernte noch zustanden. Danilo blieb mit seiner zarten, kränklichen Mutter, seinem Hauslehrer und dem übrigen Hauspersonal auf Schloß Madauen zurück. Der Majoratsherr, der seiner Gattin versprochen hatte, in drei Tagen wieder zurück zu sein, schickte dann aber am Donnerstag vor der Kriegserklärung einen Händler mit einer geheimen Botschaft zu seiner Frau, daß man ihn aus Warschau nicht mehr abreisen ließe und daß die Seinen unverzüglich mit den wertvollsten Sachen sich nach Königsberg begeben sollten, da der Krieg in kurzem ausbrechen würde, den Rußland mit allen Mitteln offenbar herbeiführen wollte. Leider hatte Danilos Mutter hiernach die Vorbereitungen zur Abreise jedoch mit ziemlicher Lässigkeit betrieben, sicher gemacht durch die Ruhe, die die Behörden in Ostpreußen gegenüber dem drohenden Kriegsgewitter zeigten und durch die kaum wahrzunehmenden kriegerischen Maßnahmen deutscherseits. So war es denn gekommen, daß das kaum eine halbe Meile von der Grenze entfernte Schloß bereits am Sonntag nachmittag nach der am Tage vorher erfolgten allgemeinen deutschen Mobilmachung von einer Schwadron Kosaken unter Führung von zwei Offizieren besetzt wurde, daß Frau von Zechanowski als angebliche Mitwisserin der Spionagetätigkeit ihres Mannes verhaftet und zusammen mit ihrem kleinen Sohne in dem Pfarrhause des nahen Dorfes Madauen gefangen gesetzt wurde, während das Schloß selbst von den Dienstboten verlassen werden mußte und sofort streng bewacht wurde, damit nichts daraus an Papieren und sonstigen Dingen entfernt werden konnte, die als Belastungsmaterial gegen den Majoratsherrn vielleicht zu gebrauchen wären. Die kränkliche Mutter des Knaben befand sich noch heute im Pfarrhause, da ihr Gesundheitszustand eine Überführung nach Rußland unmöglich machte. Sie wurde von den Russen, die hier ein starkes Wachkommando Infanterie zurückgelassen hatten, nicht gerade roh, aber doch mit unnötiger Härte behandelt. Danilo, den man wohl für ungefährlich hielt, hatte sich stets frei bewegen dürfen und mit den Offizieren sogar Freundschaft geschlossen, die hier in allem, wie sie andeuteten, nur höheren Befehlen gehorchten und das Los von Mutter und Kind gern erleichtert hätten. –

Das, was der Knabe dann weiter zu berichten wußte, klang so abenteuerlich, daß wir es zunächst für bloße Erinnerungen an wirre Fieberträume hielten. Topp wußte aber durch allerlei Fragen sehr bald einwandfrei festzustellen, wie all diese rätselhaften Erlebnisse des armen Jungen tatsächlich nur zu sehr der Wirklichkeit entsprachen. –

Vor vier Tagen war Danilo abends noch in den Pfarrgarten gelaufen, um einem[1] Schneemann, den die russischen Soldaten ihm gebaut hatten, eine Soldatenmütze aufzusetzen, die er heimlich dem Hauptmann Schalinkow aus Übermut weggenommen hatte. Schalinkow war des Knaben bester Freund, und Danilo glaubte sich mit ihm diesen Scherz wohl erlauben zu dürfen. Als er dem Schneemann gerade die Mütze überstülpte, wurde ihm jedoch ganz unversehens von hinten eine schwere Decke über den Kopf geworden, er selbst hochgehoben und davongetragen. Zunächst glaubte er an einen harmlosen Streich von Leuten des Wachkommandos, wurde schließlich jedoch ängstlich, da der, der ihn fortschleppte, noch immer nicht halt machte, begann sich daher zur Wehr zu setzen und auch um Hilfe zu rufen, was nur zur Folge hatte, daß der Entführer ihm ein paar derbe Püffe versetzte. So ging es wohl eine Stunde vorwärts. Dann hörte Danilo einen zweiten Mann polnische Worte mit dem Kindesräuber wechseln, wurde nun auf die Füße gestellt und sofort gebunden, ohne daß man die Decke entfernte. Er merkte jetzt, daß er sich im Innern eines Gebäudes befand und zwar in einem Raum, in dem es nach Essen roch und eine leidliche Wärme herrschte. Die Stricke, die man ihm um Hand- und Fußgelenke geschlungen hatten waren in rohester Weise ganz fest zugezogen worden, schnitten ihm in das Fleisch ein und verursachten unerträgliche Schmerzen. Eine Schütte Stroh diente ihm als Lager, auf das man ihn wie ein lebloses Bündel geworfen hatte. Abermals hörte er nun wieder leises Flüstern, roch auch den Rauch eines Herdfeuers und Tabakduft, hörte weiter Löffel klappern und das Knistern brennender Scheite. So vergingen einige Stunden. Vor Erschöpfung schlief Danilo für kurze Zeit immer wieder ein. Als er abermals erwachte, da die Stricke unerträglich drückten, merkte er, daß der Raum inzwischen eiskalt geworden war und die Kälte ihm bald die Glieder förmlich erstarren ließ. Kläglich um Schonung und Mitleid immer wieder rufend, mußte er zu seinem Entsetzen gewahr werden, daß er sich allein in dem unbekannten Gemache befand. Seine nunmehr unternommenen Versuche, die gleichfalls um seinen Leib festgebundene Decke zu entfernen, glückten erst nach vielen Anstrengungen, die immerhin das eine Gute hatten, daß er sich dabei einigermaßen erwärmte. Als die dicke Decke – es war eine schwarze, große Reisedecke – ihm endlich über den Kopf glitt und er sich nun neugierig und angstvoll zugleich umschaute, vermochte er nichts zu sehen als lediglich rechts von ihm ein paar noch glühende Holzstückchen auf einem offenen Herde. Mühsam wälzte und schob er sich auf den Herd zu, ebenso mühsam konnte er dann von einem Reisighaufen einige Äste auf die Feuerstelle hinaufwerfen, auch die glimmende Glut zu neuen Flammen durch eifriges Hineinblasen entfachen. Die Angst, hier erfrieren zu müssen, gab dem aufgeweckten Knaben nichts nur rettende Gedanken sondern auch jene zielbewußte Hartnäckigkeit ein, die schließlich doch zum Erfolge führt.

Jetzt konnte er beim Scheine des flackernden Reisigs auch den Raum überblicken, in dem er sich befand. Es war ohne Zweifel eine jener einfachen Hütten, wie sie sich Waldarbeiter an ihrer Arbeitsstelle schnell aufbauen, um sich ihr Essen wärmen zu können und einen Unterschlupf bei Wetterunbill zu haben. – Sein ganzes Trachten war jetzt darauf gerichtet, die Fesseln loszuwerden. Auch hierbei verriet er eine nicht gewöhnliche Findigkeit, da er an der Schneide einer verrosteten, in einer Ecke lehnenden Axt zuerst die Stricke um die Fußgelenke durchfeilte und dann auch die der Hände in Angriff nahm, eine Arbeit, die ihn seiner Berechnung nach Stunden aufhielt. Endlich der Bande los und ledig, eilte er sofort nach der Tür des aus rohen Baumstämmen erbauten Hüttchens, fand sie aber von außen verschlossen. Ein Fenster oder dergleichen gab es nicht; der Rauch zog durch ein in das flache, aus dünnen Stämmchen gebildete Dach eingefügtes Ofenrohr ab.

Nunmehr völlig erschöpft und übermüdet, warf der Junge sich weinend wieder auf das Strohlager, wickelte sich in die Decke und schlief bis in den hellen Vormittag hinein. Draußen schien die Sonne, ließ den Schnee auf einer kleinen Waldlichtung glitzern. Die Tür wies genug Ritzen auf, um hindurchlugen und sich des Tageslichtes freuen zu können, während im Innern selbst völlige Dunkelheit herrschte.

Das Herdfeuer war jetzt völlig erloschen; auch nicht eine Spur von Glut war mehr vorhanden, die sich hätte zu wärmenden Flammen neu beleben lassen. Eisige Kälte erfüllte das kleine Blockhaus; Hunger peinigte den Knaben nicht minder, und in trostlosester Verzweiflung verkroch er sich wieder unter die Decke und in dem Stroh. Viele Stunden brachte er so bald schlafend, bald wachend zu, stets von der Angst vor dem Wiedererscheinen der Leute gequält, die ihn zu irgend welchen schändlichen Zwecken hierher geschleppt hatten. Dann packten ihn der Mut und die Tatkraft höchster Verzweiflung. Abermals sann er darüber nach, wie er aus seinem Gefängnis entfliehen könne. Die verrostete Axt fiel ihm ein, und mit ihrer Hilfe zerstörte er die aus biegsamen Kaddigstämmchen hergestellten Angeln der Tür, gelangte so ins Freie, in den bereits von der Abenddämmerung abermals verdunkelten Wald, begann einen Fahrweg entlangzulaufen, ohne zu wissen, wohin dieser führte. Nur ein Gedanke trieb ihn vorwärts: eine möglichst weite Strecke zwischen sich und seine Peiniger zu bringen!

Bald rann ihm der Schweiß über das Gesicht trotz der schneidenden Kälte; bald ging ihm der Atem aus und zwang ihn zu kurzer Rast. Aber die Frostschauer, die ihn nur zu schnell schüttelten, jagten ihn weiter.

Wie lange er so durch die Stille und Dunkelheit des Forstes geeilt, wie oft er, dem Umsinken nahe, sich Minuten lang ausgeruht, konnte er nicht mehr sagen. Das, was er in den letzten Tagen durchgemacht hatte, ließ jetzt ein hitziges Fieber ihn befallen und ihn halb unbewußt alles weitere tun, ließ ihn, als er plötzlich den Waldrand erreichte und Schloß Madauen vor sich sah, die Richtung nach einem am äußersten Ende des Parkes stehenden alten Pavillon einschlagen, mit dem es eine besondere Bewandtnis hatte.

Der Urgroßvater Danilos, der das Schloß erbaut hatte, war vorsichtig genug gewesen, in Rücksicht auf die damaligen unsicheren Zeiten für sich und die Seinen einen aus dem Eckturm nach dem Pavillon führenden unterirdischen Gang als heimlichen, nur den nächsten Familienmitgliedern bekannten letzten Rettungsweg anzulegen. Dieses Geheimnis, stets treu behütet und von Generation auf Generation weitervererbt, hatte der jetzige Majoratsherr vor Antritt seiner verhängnisvollen Reise nach Warschau seiner Frau und seinem Erben für den Fall der Not anvertraut und ihnen genaue Angaben über die Anlage des Ganges gemacht.

Zur rechten Zeit war in dem fieberglühenden Hirn des Knaben diese Erinnerung aufgetaucht, hatte er den baufälligen Pavillon betreten, aus dem ihm von dem Vater näher bezeichneten Versteck die beiden Schlüssel herausgeholt, die zu den Schlössern der Geheimtüren paßten, von denen die eine sich in der Wand des Pavillons, die zweite in der Mauer des Turmes befand. – Dies waren die seltsam geformten Schlüssel, die wir in der Tasche unseres kleinen Patienten entdeckt hatten.

Er gelangte auf diese Weise, durch den stockdunklen Gang sich Schritt für Schritt vorwärtstastend, auch wirklich in das Schloß, in dem wir kurz vorher Zuflucht gesucht hatten, und versteckte sich in dem Zimmer des zweiten Stocks, wo wir ihn nachher auffanden. –

Welch furchtbare, für eine Kindesseele mehr als tiefgreifende und für einen so wenig an Strapazen gewohnten Körper aufreibende Erlebnisse hatte unser kleiner Freund hinter sich –! – Topp und ich waren geradezu erschüttert, als wir erst eingesehen hatten, daß der Knabe all das wirklich hatte überstehen und erdulden müssen, waren aber auch nicht weniger ergriffen über das seltsame Walten der Vorsehung, die uns gerade zur rechten Zeit in das gesperrte Schloß geleitet hatte, um dem armen Jungen noch rechtzeitig Hilfe angedeihen zu lassen, ohne die er vielleicht kläglich umgekommen wäre. –

Erwähnen muß ich noch, daß er auf Topps Frage, weshalb er nicht wieder nach dem Pfarrhause und zu seiner Mutter zurückgekehrt sei, erwiderte, er habe den Russen nicht recht getraut und geargwöhnt, seine Entführung könnte mit deren Einverständnis erfolgt sein, was er auch jetzt noch annähme.

Sodann erfuhren wir von ihm auch näheres über das Nachbargebäude, an dessen Fenster ich meine Berliner Bekanntschaft zuerst zu Gesicht bekommen hatte.

Es wäre das sogenannte Verwalterhaus, und Hildegard die einzige Tochter des Oberinspektors Markwart, der bereits dem Vater des jetzigen Majoratsherrn treu gedient, in den letzten Monaten aber mit Herrn Peter von Zechanowski nicht mehr so gut wie früher gestanden hätte, – weshalb, wüßte er nicht. Jedenfalls wäre Herr Markwart, den er sehr gern hätte, stets sehr traurig und bedrückt gewesen. Daß er nach der Kriegserklärung nicht zusammen mit den Bewohnern des Dorfes Madauen geflüchtet wäre, hätte seinen Grund in seiner großen Anhänglichkeit an die Familie seines Herrn, dessen Besitz und Frau und Kind zu schützen ihm höher als die eigene Sicherheit gestanden hätten.

Bei diesen Angaben über die Bewohner des Nebenhauses dachte ich sofort an jenen älteren, würdigen Herrn, der Hildegards Begleiter damals in der Untergrundbahn gewesen war. Und einige weitere Fragen an Danilo genügten auch herauszubringen, daß Markwart und seine Tochter tatsächlich im Monat Juli zu kurzem Besuch in Berlin gewesen waren.

 

7. Kapitel.

Morsezeichen.

Topp bat unseren kleinen Patienten nun, einzuschlafen zu versuchen. „Dich hat diese Unterhaltung sehr angestrengt, lieber Dan, und Du mußt noch geschont werden. Also leg’ Dich jetzt brav aufs Ohr, mach’ die Augen zu und schlummere bald ein in dem beruhigenden Gedanken, daß wir über Dich wachen und auch zusehen werden, ob wir nicht Deinem Vater irgendwie behilflich sein können, den Verdacht der Spionage zu entkräften und so für Deinen Papa die Freilassung zu erwirken.“

Dan, wie wir ihn fortan nannten, schlief denn auch wirklich in kurzem ein.

Ich aber konnte Topps letzte Sätze nicht vergessen, in denen er unserem Schützling ein Versprechen gegeben hatte, das, wie ich meinerseits annahm, nur hingeredet sein konnte, um den Knaben zuversichtlicher zu stimmen.

Als ich dieser Überzeugung jetzt auch Ausdruck gab, schüttelte mein Freund jedoch den Kopf und erwiderte:

„Vorbei vermutet, lieber Berd! Ich hätte in dem Kinde nie derartige Hoffnungen erweckt, wenn nicht bereits ein bestimmter Verdacht in mir aufgestiegen wäre, wer vielleicht hinter diesen gegen Dans Vater und gegen den Jungen selbst gerichteten Umtrieben als treibende Kraft stecken könnte. – Die Familiengeschichte derer von Zechanowski hat mir nämlich auch darüber Aufschluß gegeben, daß das Majorat nach dem Tode des jetzigen Besitzers an den jüngeren Bruder namens Anton fallen würde, falls – gib acht! – der kleine Dan nicht vorhanden wäre –! – Was hältst Du nun zum Beispiel von folgender Theorie: Dieser Anton sucht, um das Majorat an sich zu bringen, den Bruder durch den Schurkenstreich einer Angeberei an die Russen, die zur Verhaftung und vielleicht zu einem Todesurteil für den Älteren führt, zu beseitigen, dann durch eine noch größere Schandtat auch den Erben, unseren Dan, aus dem Wege zu räumen, – denn der Raub des Knaben und die Unterbringung in der Waldhütte ist ja, scharf beurteilt, nichts anderes als ein Mordversuch, da der Kleine sich bei der Kälte in dem sicher ganz versteckt liegenden Blockhause nur zu leicht den Tod holen konnte! Wie gesagt, es ist das nur eine Theorie, die ebenso gut ganz verfehlt sein kann. Wir wissen ja nichts über den Herrn Anton von Zechanowski, nichts – – bis jetzt! Aber morgen werden wir Dan ausfragen. Dann dürften wir schon klarer sehen, hoffe ich.“

Diese Mutmaßung Topps erschien mir durchaus nicht so ganz aus der Luft gegriffen. Ich betonte dies auch und fügte voller Interesse noch hinzu:

„Wie, wenn dieser Anton vielleicht gar der maskierte Besucher des Schlosses, unser Zigarettenraucher wäre –?! – Spricht nicht zum Beispiel für diese Annahme besonders die Tatsache, daß der Unbekannte doch offenbar ebenfalls den geheimen Gang benutzt?!“

Topp erwiderte ebenso eifrig: „Siehst Du, Berd, daran habe ich auch bereits gedacht! – Doch: Wir müssen erst feststellen, wie Dan über diesen Onkel urteilt. – Übrigens ist es jetzt auch höchste Zeit, daß wir nach oben ins Billardzimmer gehen und uns mit Fräulein Markwart telegraphisch in Verbindung setzen.“

Wir betraten das Billardzimmer. Drüben im Verwalterhause waren sämtliche Fenster dunkel. Trotzdem war anzunehmen, daß Hildegard noch wachte und auf unser Eröffnungszeichen für den Blinkverkehr wartete.

Topp stellte seine Laterne auf ein vor das Seitenfenster gerücktes Tischchen, an dem auch ich Platz nehmen mußte, bewaffnet mit Bleistift und Papier, um die Zeichen von drüben zu notieren. In einem Lexikonband unter „Telegraphie“ fanden wir dann auch ein Morsealphabet, so daß wir nun mit allen Vorbereitungen fertig waren.

Eine Reihe von Lichtblitzen, die Topp nun durch Öffnen und Schließen seiner Laterne durch das Fenster hinausschickte, wurde sofort von drüben aus der Tiefe des einfenstrigen Zimmers beantwortet. Unsere Verbündete war also auf dem Posten.

Topp signalisierte dann hinüber: „Bitte morgen gleich nach Dunkelwerden gegen sechs Uhr Zusammenkunft im Parkpavillon. Größte Vorsicht.“

„Werde kommen und vorsichtig sein“, lautete die Antwort, an die sich die Frage anschloß:

„Soll ich meinen Vater ins Vertrauen ziehen?“

Wir berieten kurz, wie wir uns hierzu stellen sollten. Topp depeschierte zurück:

„Vorläufig nicht“, und fügte hinzu: „Nach wem wurde heute das Schloß durchsucht?“

„Danilo“, meldeten die Lichtblitze.

„Dacht’ ich mir’s doch!“ meinte Topp. „Ich bin überaus gespannt, was Fräulein Markwart uns mündlich über das Verschwinden des Kindes und darüber berichten wird, wie sie auf die Vermutung gekommen ist, der Knabe könnte sich hier im Schlosse aufhalten.“

Die Lichtblitze von drüben wechselten schon wieder in längeren und kürzeren Pausen ab. Ich schrieb genau die Reihenfolge der Zeichen abermals auf und stellte dann die Worte zusammen.

„Soll ich Lebensmittel mitbringen?“ wollte Hildegard wissen.

„Ja – Brot und Butter“, antwortete Topp und sagte zu mir: „Wir müssen etwas Abwechselung in unsere Konservenkost bringen.“ – Ich war damit sehr einverstanden,

„Wird geschehen. Noch etwas?“ bemerkten die Lichtblitze in ihrer lautlosen, leider recht umständlichen Art.

„Nein. Gute Nacht. Auf Wiedersehen.“

Damit endete dieses erste Ferngespräch. – Wir beide waren mittlerweile in dem eiskalten Zimmer tüchtig durchgefroren und beeilten uns, wieder in unseren warmen Schlupfwinkel zu kommen, wo der Spirituskocher, der uns bereits verschiedentlich zu etwas Warmem verholfen hatte, jetzt dazu benutzt wurde, einen kräftigen Glühwein zu brauen. Wir aßen auch wieder eine Kleinigkeit und legten uns dann schlafen.

Topp, dessen gute Nerven ich immer aufs neue anstaunte, war denn auch bald fest eingeschlummert. Mir mit meiner regen, heute besonders lebhaften Phantasie blieb der Schlaf fern. Ich überdachte die Ereignisse dieser Nacht und stellte allerlei Vermutungen auf über die Zusammenhänge zwischen der Verhaftung von Danilos Vater und dem Raube des Knaben, suchte das Dunkel dieses Intrigenspiels durch Kombinieren zu lichten und gelangte so mit meinen Gedanken unwillkürlich zu der Person Anton von Zechanowskis. – Ich erinnerte mich nun auch an den jungen Laffen, der Hildegard in der Untergrundbahn belästigt hatte, – daran, daß dieser zudringliche Mensch wie ein Pole oder Ungar ausgesehen hatte, und folgte dann einer plötzlichen Eingebung, die mich leise aus unserem Schlupfwinkel hinausschleichen ließ. Ich hastete die Treppen empor und suchte in den Zimmern des neuen Flügels – nach einem Photographiealbum, fand es auch und nahm es mit hinab.

Auf diese Weise stellte ich fest, daß Hildegards frecher Verehrer und Anton von Zechanowski tatsächlich ein und dieselbe Person war. Seine Photographie in dem Album trug auf der Rückseite die Widmung: „Meinem lieben Bruder zum Weihnachtsfest 1913. – Anton.“

Ich war recht stolz auf diesen Erfolg. Topp hatte mir bewiesen, wie scharfsinnig er zu überlegen verstand. Nun konnte auch ich ihm zeigen, daß er mir – in Punkto Schläue doch nicht so sehr weit über war. – Meine Stahluhr war halb zwei, als ich mich auf meinem Lager ausstreckte und die Petroleumlampe ausdrehte. –

Topp weckte mich leider schon um sieben Uhr früh.

„Geh’ an Deine Morgenarbeit, Berd“, meinte er. „Heize ein und räume auf. Ich werde inzwischen das Frühstück besorgen. – Übrigens – weshalb hast Du das schwere Album heruntergeschleppt? Etwa Anton von Zechanowskis Bildes wegen? – Das hättest Du Dir sparen können. Von dem schönen Anton hängt ja ein großes Brustbild im Herrenzimmer neben dem Schreibtisch.“

So machte mir Topp wieder mal klar, daß ich ihn mit nichts überraschen konnte, denn er fügte mit seinem nicht gerade angenehm klingenden Auflachen hinzu: „Natürlich ist er Hildegards stürmischer Verehrer – nicht wahr? – Dies lag ja ebenso nahe wie die Vermutung, er dürfte unser Zigarettenraucher sein.“

Ich nickte nur und begann etwas verärgert und enttäuscht meine kleinen Pflichten zu erledigen. – Aufräumen klingt sehr großartig. In unserem Hüttchen war ich im Handumdrehen damit fertig. Dann sorgte ich für die Erwärmung des engen Raumes auf die übliche Weise und half auch Topp, der für Danilo eine Suppe kochte.

Der Knabe schlief noch wie ein Murmeltier, aß dann mit wahrem Heißhunger und war so frisch und munter, daß ein Rückfall bei ihm kaum mehr zu befürchten stand.

Vorsichtshalber hatten wir nach der Zubereitung des Frühstücks wieder etwas gelüftet, obwohl dies kaum nötig gewesen wäre.

Während des Morgenimbisses setzten wir das gestrige Gespräch mit unserem kleinen Dan – eigentlich war es ja beinahe ein Verhör – fort. Topp stellte wieder eine Menge Fragen, die die Sachlage jedoch leider noch mehr verwirrten. – Ich will hier nur kurz anführen, was wir noch von Dan erfuhren.

Zunächst über sein Verhältnis zu Hildegard folgendes: Diese hatte mit Frau von Zechanowski als gebildetes Mädchen stets in regem Verkehr gestanden. Die beiden Frauen waren sich recht nahe getreten, und Dan nannte die Tochter des Oberinspektors, die er offenbar schwärmerisch liebte, nur Tante Hilde. Sie hatte nach der Verhaftung der Gutsherrin, da die Russen nur ihren Vater schärfer bewachten, ohne ihn jedoch ärger zu belästigen, auch Zutritt im Pfarrhause erhalten und die schwächliche Dame nach besten Kräften gepflegt und getröstet, ebenso wie sie sich auch Dans in mütterlicher Weise angenommen und oft mit ihm gespielt hatte, um ihm Zerstreuung zu schaffen. Sie mochte gefürchtet haben, daß das Gemüt des Knaben durch die traurigen Erlebnisse, besonders durch das ständige Beisammensein mit der völlig verzweifelten und gebrochenen Mutter, ungünstig beeinflußt werden könnte und war deshalb bemüht gewesen, wenigstens etwas Sonnenschein um das bedauernswerte Kind zu verbreiten. –

Uns fiel hierbei am meisten der Umstand auf, daß die Russen mit Markwart so glimpflich umgingen, da sie doch anderswo die Bewohner der ostpreußischen Grenzkreise sofort verschleppt hatten. Topp meinte, hier spräche wohl kluge Berechnung mit, da der Oberinspektor als einzige mit den Verhältnissen des Majorats gut vertraute Persönlichkeit für dessen Bewirtschaftung zunächst kaum entbehrt werden könnte. –

Sodann äußerte sich Dan über seinen Onkel Anton in einer für diesen durchaus günstigen Weise. Er wußte nichts Nachteiliges vorzubringen, schilderte im Gegenteil das Verhältnis zwischen den Brüdern als ein sehr herzliches und nie durch Zwistigkeiten bisher getrübtes, sprach stets von dem „lieben“ Onkel und meinte nur, daß einzig und allein Frau von Zechanowski den Schwager stets kühl und zurückhaltend behandelt hätte. –

Hier gab es also auch nicht die Spur eines Beweises für Topps Argwohn gegen den jüngeren Zechanowski, der, soweit Dan bekannt war, bei Kriegsausbruch in Königsberg geweilt hatte, wo er einem Artillerieregiment als Reserveoffizier angehören sollte. Einen festen Beruf hatte er offenbar nicht, sollte aber sehr viel malen und in Königsberg auch ein Atelier haben. Er war also fraglos einer jener Nichtstuer, die ihren müßigen Lebenswandel durch künstlerische Neigungen zu bemänteln suchen. –

Auf Topps Frage, weshalb Dan nicht versucht hätte, bei Hildegard nach seiner Flucht aus der Waldhütte ein sicheres Unterkommen zu finden, erwiderte unser kleiner Schützling, ihm wäre es zu gefährlich erschienen, sich in das Verwalterhaus zu wagen, in dem auch ein Teil des Wachkommandos untergebracht wäre. – Jedenfalls hielt er an der Überzeugung fest, daß die Russen zum mindesten von seiner Entführung vorher unterrichtet gewesen sein müßten, wenn nicht gar der Raub selbst von ihnen ausgegangen wäre.

Hierüber konnten wir uns vorläufig keine eigene Meinung bilden. Wir hofften aber bestimmt, daß Hildegard uns über diese Fragen näher aufklären würde.

 

8. Kapitel.

Schöner Besuch.

Die regelmäßige Revision, die die Russen auch heute rein als Formsache behandelten und wieder sehr oberflächlich vornahmen, erfolgte gegen zehn Uhr vormittags und ging ohne Zwischenfall vorüber. Wir waren nun also vorläufig ganz sicher in unserem Schloß-Hotel und konnten in Ruhe sowohl die Besichtigung der im Erdgeschoß befindlichen Sammlungen als auch die Untersuchung des unterirdischen Ganges erledigen.

Das Privatmuseum des Majoratsherrn war recht reichhaltig und enthielt viele Stücke, die uns lebhaft interessierten. Rüstungen aus der Zeit des Ritterordens, Waffen, altlitauische Truhen, Gewebe, Trachten und auch eine Jahrhunderte alte Stubeneinrichtung mit einem noch höchst primitiven Webstuhl. Unter den Waffen fielen uns ein paar Armbrüste auf, zu denen auch lange Pfeile mit Eisenspitzen vorhanden waren. Topp nahm eine dieser Schußwaffen von ihrem Platze herab und zeigte mir, wie gut sie im Stande war. Nachher erzählte uns Dan, daß der Vater gern damit nach der Scheibe geschossen hätte.

Darauf begaben wir uns in den alten Flügel des ersten Stockes und zwar in das letzte Zimmer neben dem Turm. Hier, wo der Maskierte dem ihn verfolgenden Topp ganz aus den Augen – besser! aus der Nase – gekommen war, fanden wir auch bald im Wandgetäfel nach des Knaben Angabe die Geheimtür, die sich mit einem der altertümlichen Schlüssel leicht öffnen ließ. Versehen mit unseren Laternen und jeder auch mit einem Revolver, die wir dem Waffenschranke entnommen hatten, stiegen wir eine enge Treppe hinab, die in einem Schacht steil abwärts führte. Sie mündete in den gemauerten Gang, wo die Luft verhältnismäßig gut und es auch leidlich warm war. Topp deutete dann auf dem Wege nach dem Pavillon auf drei Zigarettenstummel, die auf dem Boden des Ganges lagen und uns den Beweis lieferten, daß der Unbekannte wirklich auf diese Weise sich Zutritt zum Schlosse verschaffte.

Topp erklärte im Anschluß an diesen Fund, er wäre doch überzeugt, daß nur Anton von Zechanowski der geheimnisvolle Besucher sein könnte. Wer wüßte sonst wohl noch etwas von dem unterirdischen Gange, meinte er. Es handele sich doch um ein Familiengeheimnis, das kaum einem Fremden anvertraut worden sein dürfte.

In dem halb verfallenen Pavillon hielten wir uns nur ganz kurze Zeit auf. Das kleine Backsteinhäuschen in maurischem Stil mit seinen erblindeten und gesprungenen Fenstern stand in einer Gruppe von mächtigen Tannen auf einem Hügel. Nach dem Dorfe Madauen zu war ein Durchblick durch die Nadelbäume freigehalten. Wir erkannten deutlich das Pfarrhaus neben der Kirche und bemerkten auch auf dem Felde zwei der russischen Offiziere, die mit Jagdgewehren armen Häslein nachstellten.

Wieder im Schloß angelangt, sahen wir erst einmal nach unserem kleinen Freunde, der ganz behaglich auf seinem Lager ruhte und beim Schein der Lampe in einer Reisebeschreibung las, die Topp ihm aus der Bibliothek geholt hatte.

Topp hatte schon am Morgen einen neuen Umbau unserer „Hütte“ geplant. Wir wollen sie geräumiger und höher, auch dichter zum Schutz gegen die Kälte machen. Wir schleppten aus dem ganzen Gebäude alles zusammen, was uns für unsere Zwecke geeignet erschien, und schufen in zwei Stunden einen ganz gemütlichen Schlupfwinkel, der doch von außen wie ein regelloser, bis unter die Decke aufgeschichteter Haufe von Kisten, Körben, zerbrochenen Tischen und Stühlen und anderem Kram aussah.

Nach dem Mittagessen hielten wir ein Verdauungsschläfchen, saßen dann an dem neu aufgestellten Tisch und tranken heißen Kaffee. Topp meinte da: „Abends gibt’s hoffentlich Brot und Butter zum Tee“ und leckte sich die Lippen im Vorgenuß der ersehnten Dinge, die Hildegard uns spenden wollte.

Die Zeit schien mir heute geradezu Bleigewichte an den Füßen zu haben. Mit solcher Ungeduld sah ich der Begegnung mit dem Mädchen entgegen, das mir eine wunderbare Schicksalsfügung wieder in den Weg geführt hatte. Topp merkte, wie unstät und nervös ich war, lachte und meinte: „Stelldicheinfieber – eine ähnliche Erscheinung wie Kulissenfieber!“

Endlich zeigte meine Uhr fünf Minuten vor sechs. Wir konnten aufbrechen.

Dan bat uns noch, der lieben Tante Hilde einen herzlichen Gruß zu bestellen; sie möchte ihn doch hier besuchen kommen. Das ginge doch so leicht und gefahrlos.

Als wir durch die sehr geschickt in der dicken Pavillonmauer angebrachte Geheimtür das kleine Bauwerk betraten, war Hildegard bereits anwesend – mit einem großen Paket – begrüßte uns zwanglos durch Handschlag und ließ sich unsere Namen nennen. Sie benahm sich sehr sicher und gewandt, wenn sie auch etwas erregt war. Dann schlug sie selbst vor, noch ehe wir Dans Grüße ausgerichtet hatten, im Schlosse die notwendigen Dinge zu besprechen, wo wir doch sicherer und ungestörter wären.

Des Knaben Freude, als unser Schlupfwinkel so liebreizenden Besuch erhielt, war groß. Hildegard nahm Dan in die Arme, küßte ihn und setzte sich dann neben ihn auf ein Fußbänkchen.

Hier, wo die Lampe unsere bärtigen Gesichter und unsere abgetragenen Uniformen nur zu deutlich den Blicken unseres Gastes zeigte, wurde ich in Gedanken an unser wenig empfehlendes Äußere recht verlegen. Topp focht das alles nichts an. Für weibliche Schönheit hatte er nie viel übrig gehabt. Und jetzt gehörte all sein Sinnen und Trachten lediglich den dunkeln Rätseln, die mit dem Schlosse, seinem Besitzer und dem Knaben verknüpft waren.

Zunächst mußten wir die zumeist stummen Zuschauer spielen, da unser Schützling das junge Mädchen völlig mit Beschlag belegte. Nach einer Weile verstand es Hildegard dann aber, Dan zum Erzählen seiner Abenteuer zu bewegen. Sie ahnte wohl, wie sehr wir darauf brannten, von ihr zu hören, welchen Eindruck das spurlose Verschwinden des Knaben auf dessen Mutter und die Russen gemacht hätte, und ergänze daher Dans Bericht durch verschiedene Bemerkungen, die uns den gewünschten Aufschluß gaben.

Frau von Zechanowski hatte die ihr vorsichtig beigebrachte Unglücksnachricht mit bewundernswerter Fassung hingenommen. Als Hildegard sie tröstete und ihr Hoffnung gab, daß Dan sicherlich sehr bald sich wiedereinfinden würde, hatte sie teilnahmslos den Kopf geschüttelt und gemeint, sie wisse das besser; der Himmel erspare ihr keine Prüfung; Danilo würde niemals wieder zurückkehren.

Dieses Verhalten des bemitleidenswerten Weibes gab Topp nachher Veranlassung mir zu erklären, daß die Frau offenbar ahne, von welcher Seite aus ihr dieser neue Schlag zugefügt worden sei. „Wenn ich mal Gelegenheit hätte, sie zu sprechen“, sagte er, „würden wir den Entführern wohl ziemlich rasch auf die Spur kommen.“ –

Die Russen wieder hatten ohne Zweifel, was Hilde wiederholt betonte, keine Ahnung, wer hier als Kinderräuber in Frage käme. Aus ihrem ehrlichen Eifer, Dan seiner Mutter wieder zuzuführen, ging zu Genüge ihre Anteilnahme für die kränkliche Dame hervor, ebenso aber auch, daß sie an diesem Verbrechen völlig schuldlos waren.

Darüber, wie Hilde auf den Gedanken gekommen, Dan könnte sich im Schlosse verborgen halten, erfuhren wir folgendes: – Sie hatte sofort nach Bekanntwerden des Verschwindens des Knaben an einen sorgfältig vorgearbeiteten Streich polnischer Fanatiker von jenseits der Grenze geglaubt, die den Majoratsherrn seiner deutschen Gesinnung wegen so bitter haßten, hatte sich dann auch selbst an der Suche nach dem Kinde beteiligt und ebenso auf eigene Faust kleinere Streifen durch den Wald unternommen. Hierbei war ihr am Waldesrand die einzelne, im lockeren Schnee undeutlich ausgeprägte menschliche Fußspur aufgefallen, die sie bis zum Pavillon hin verfolgt hatte. Da sie nun von ihrem Vater wußte, daß man sich in der Gegend halb als Sage erzählte, ein unterirdischer Gang solle von dem kleinen Bauwerk nach dem Schlosse hinführen, da sie ferner aus der Kürze der Fährten auf Eindrücke von Kinderfüßen geschlossen hatte, glaubte sie annehmen zu können, daß Danilo im Schlosse aus irgend welchen Gründen Zuflucht gesucht hätte. Sie teilte nach längerem Zögern dem russischen Hauptmann Schalinkow, dem Befehlshaber des Wachkommandos, gestern bei Gelegenheit eines Abendbesuches bei ihrem Vater diese ihre Vermutung mit und erreichte auch, daß die Russen sofort das Schloß gründlicher als bisher revidierten – freilich ohne Erfolg.

Topp schaltete hier die Frage ein, durch welche Beobachtungen Hilde denn zu der Mutmaßung gelangt wäre, das Schloß hätte jetzt neue Bewohner erhalten, die sich jedoch vor jedermann zu verbergen suchten. – „Bei unserer ersten Begegnung an der Kellertreppe machten Sie doch eine hierauf abzielende Bemerkung, gnädiges Fräulein“, fügte er hinzu.

Hilde lächelte ein wenig. „Allerdings – diese Bemerkung fiel meinerseits“, erklärte sie. „Was ich beobachtet habe, war nur recht wenig. Einer von Ihnen, meine Herren, stand vorgestern nacht am Fenster des Billardzimmers und schaute zu mir herüber. Er mag angenommen haben, daß man ihn bei der Dunkelheit nicht sehen könnte. Gewiß – ich bemerkte auch nur einen Schatten, aber meine Augen sind eben vorzüglich. Von meinem Zimmer aus benutzte ich dann einen Krimstecher – und das Glas zeigte mir nun die Gestalt eines Mannes, der sogar den einen Fensterflügel geöffnet hatte. Da ich nun wußte, daß russische Dragoner zwei deutsche Kavalleristen bis dicht an das Schloß gehetzt hatten, lag es für mich ziemlich nahe anzunehmen, diese Flüchtling könnten hier eingedrungen sein und sich verborgen halten. Weil ich dies vermutete, blieb ich bei der Durchsuchung des Schlosses auch im unteren Flur und näherte mich dem Kellereingang, eben in der Hoffnung, die Deutschen könnten im Keller ein Versteck gefunden haben und mir könnte es vielleicht gelingen, mich schnell mit ihnen zu verständigen, was dann ja auch geschah. – Um ganz ehrlich zu sein: Zuerst – gleich nach dem Verschwinden Danilos – habe ich sogar Sie beide im Verdacht gehabt, sich des Knaben bemächtigt zu haben, um in seiner Person eine Art Geisel sich zu verschaffen. Sehr bald sah ich aber das Unhaltbare dieses Verdachtes ein und gelangte zu der anderen, soeben erwähnten Vermutung.“

Topp glückte es, den kleinen Dan jetzt eine Weile aus dem um so ernste und wichtige Dinge sich drehenden Gespräch auszuschalten. Er setzte seine Ausfrager-Tätigkeit wohlüberlegt fort und bat Hilde nun um nähere Angaben über Anton von Zechanowski.

Bei diesem Namen blickte das junge Mädchen überrascht auf. In ihrem lieblichen Gesicht, in dem trotz der weichen Linien bei genauerem Hinsehen sehr gut ein Zug von zielbewußter Willensstärke zu bemerken war, zeigte sich jetzt Verlegenheit und eine gewisse Verschlossenheit.

„Wie sind Sie gerade auf diesen Herrn gekommen?!“ sagte sie bedächtig, „Der Bruder des Majoratsherrn ist jedenfalls ein durchaus ehrenwerter Charakter, wenn man –“ sie zögerte etwas – „wenn man seine starke Hinneigung zum weiblichen Geschlecht nicht mit in Betracht zieht. Dieses leichte Entflammtsein für Frauenschönheit hat ihm wohl schon manchen Streich gespielt.“

Topp schaute mich an. „Dort, gnädiges Fräulein, sitzt jemand, der in diesem Punkte bereits Erfahrungen gemacht hat, – vergleiche Untergrundbahn!“

Hilde verstand diese Anspielung sofort, beugte sich vor und musterte prüfend mein bartumwuchertes Banditengesicht. Dann stieß sie hervor: „Wie – sollten Sie etwa einer jener beiden Herren sein, die mich vor Anton Zechanowskis Zudringlichkeiten geschützt haben? – Ja – jetzt erst erkenne ich Sie wieder! – Oh, haben Sie herzlichsten Dank für diese Ritterlichkeit! Wie freue ich mich, jetzt noch Gelegenheit zu finden, Ihnen dies zu sagen. – Ich fürchte die zügellose Leidenschaftlichkeit Anton Zechanowskis, der mich seit einem Jahr mit – mit Anträgen verfolgt und von dem ich erst durch den Krieg befreit worden bin.“

Sie hatte mir die Hand gereicht, schaute mich so lieb an, daß mir ganz eigen zu Mute wurde. – Damals in jenem Augenblick hat sich mein Schicksal vollzogen. Ich habe diese herrlichen, ausdrucksvollen Augen nicht mehr vergessen können.

Topp, dem dieses lyrische Zwischenspiel wohl höchst ungelegen kam, räusperte sich laut. – Unsere Hände gaben sich wieder frei. Und Topp fragte weiter:

„Wo mag Anton von Zechanowski jetzt stecken?“

Hilde schaute nun meinen Freund geradezu durchdringend an.

„Herr Karfunkel, hinter diesem Forschen verbirgt sich etwas Besonderes“, meinte sie. „Hegen Sie gegen den jüngeren Bruder Verdacht, und worauf bezieht dieser Verdacht sich?“

Topp schnitt bei dem Worte Karfunkel eine schmerzliche Grimasse.

„Wollen Sie mir einen Gefallen tun, gnädiges Fräulein“, sagte er nun. „Nennen Sie mich nie Karfunkel. Ich finde den Namen entsetzlich, abschreckend, häßlich. Bitte – reden Sie mich doch mit Topp an. Herr Topp klingt tausendmal besser als Herr Karfunkel.“

Hilde lächelte wieder. „Gut – abgemacht, Herr Topp. – Aber: eine Bedingung stelle ich! Sie müssen mich Fräulein Hilde nennen; auch Ihr Freund, mein tatkräftiger Beschützer. Ich bin es so wenig gewöhnt „gnädig“ zu heißen. Ich bin meist sogar nur das Hildchen für alle Bekannten.“ So, wie sie dies mit rührender Harmlosigkeit und Offenheit sagte, klang es geradezu herzerwärmend. Und ich beeilte mich zu erklären, ich würde von der Erlaubnis dieser Anrede gern Gebrauch machen.

Topp äußerte sich ähnlich und erzählte dann fast in einem Atem all das, was mit dem geheimnisvollen maskierten Besucher in Verbindung stand.

Hilde merkte man nur zu sehr an, welchen Eindruck dieser knappe Bericht auf sie machte. Sie schüttelte dann jedoch sehr energisch den Kopf und erwiderte:

„Nein – hier sind Sie auf ganz falscher Fährte. Anton von Zechanowski ist sehr bald, bei den ersten Gefechten hier in Ostpreußen, gefangen genommen worden und dürfte sich irgendwo im tiefsten Rußland befinden. Er ist dieser Zigarettenraucher auf keinen Fall! Ebensowenig wie er der Entführer Danilos ist. Nein – nein – zu Schlechtigkeiten ist er nicht fähig – bestimmt nicht! Er mag seine Fehler und Schwächen haben wie wir alle. Aber – er bleibt ein Ehrenmann!“

Topp sah recht enttäuscht aus. Er hatte in diesem Punkte wohl eine andere Ansicht zu hören gehofft. –

Hildegard rüstete sich nun zum Aufbruch. Dan wollte sie nicht fortlassen; begann sogar zu weinen. Sie versprach, sehr bald wiederzukommen und ihm auch Spielsachen mitzubringen. Er bestellte viele Grüße und tausend Küsse an die Mutter. „Sie soll nicht mehr weinen, Tante Hilde“, meinte er. „Mir geht es ja so gut hier. Es ist alles so – so abenteuerlich, beinahe wie in einer Indianergeschichte –“

Topp blieb bei Dan zurück. Ich begleitete Hilde bis in den Pavillon. Unterwegs meinte sie, wie man es nur anstellen könnte, den Knaben nach seiner völligen Genesung unverfänglich wieder auftauchen zu lassen. „Er kann doch nicht so lange Ihnen beiden zur Last fallen, bis Sie selbst das Schloß als Schlupfwinkel aufgeben. Und – wann wird das sein?“

„Oh – Dan ist uns keine Last, – nein, im Gegenteil! Wir haben ihn schnell liebgewonnen, würden ihn sehr vermissen. – Ja – wann wir das Schloß verlassen, das vermag ich nicht zu sagen. Es richtet sich ganz nach den Umständen. Nicht früher jedenfalls, als bis wir sichere Aussicht haben, die deutschen Linien unbehelligt zu erreichen.“

Wir betraten jetzt den Pavillon. Hilde hob den Arm und deutete auf die Lichter des Dorfes Madauen.

„Dort härmt sich eine arme Frau in Angst und Sorge um den Gatten und den Sohn ab“, meinte sie voll innigen Mitleids. „Ich werde sie noch heute aufsuchen und ihr erzählen, wie gut Dan hier aufgehoben ist.“

„Ist eigentlich dem Majoratsherrn bereits der Prozeß gemacht worden?“ fragte ich darauf.

„Nein. Noch nicht. – Ja, denken Sie, der eine der Offiziere des Wachkommandos wollte sogar wissen, daß Herr Peter von Zechanowski hier nach Madauen gebracht und hier abgeurteilt werden soll. Er lebt jedenfalls noch. Eigentlich erscheint die lange Verzögerung der Verhandlung gegen ihn doch recht merkwürdig. Ich habe bei dieser ganzen Sache das Gefühl, als ob man mit Herrn von Zechanowski noch besondere Zwecke verfolgt. Mit Spionen hält man sich doch sonst nicht gerade lange auf. In diesem Falle liegen jetzt bereits viele Monate zwischen Verhaftung und Hauptverhandlung.“

Ich mußte Hilde recht geben. Weshalb schonte man den Majoratsherrn wohl, weshalb war er noch immer ein Gefangener, kein Verurteilter?!

Ich konnte daher nur erwidern, und was ich sagte, entsprang einem starken Empfinden der Art, wie ich es benannte:

„Man sieht, selbst in unserer Zeit ist die Romantik noch lange nicht ausgestorben. Unsere Zeit soll nüchtern, prosaisch und ohne jenen Hauch seltsamer Abenteuerlichkeit sein, der die Menschen von früher über den Alltag hinaushob; unsere Zeit soll Selbstsüchtige züchten, vom jetzigen Kriege ganz abgesehen. Das ist ja alles nicht wahr. Es gibt schon noch Romantik und Poesie genug auf der Welt, nur die Menschen wissen sie nicht zu finden, hasten daran vorüber. – Liegt nicht über dem, was mein Freund und ich hier erleben, ein starker romantischer Schimmer? Ich bemerke ihn jedenfalls täglich, stündlich in diesem merkwürdigen Dasein, das wir hier zu führen gezwungen sind. Und selbst die gütige Fee ist nun erschienen, die diesen Reiz noch erhöht –“

Hilde lächelte ein wenig. Das Dämmerlicht des sternenklaren Winterabends machte ihre Züge vielleicht noch weicher und lieblicher.

„Gewiß – es mag viel Romantik dabei sein“, sagte sie leise. „Aber leider auch unendlich viel Trauriges. Menschliche Leidenschaften, Neid und Mißgunst der Staaten aufeinander und andere niedrige Triebe haben hier mitgeholfen, diese Romantik zu schaffen. Und – die gütige Fee, wie Sie sich eben ausdrückten, ist auch nur ein armes Menschlein, behaftet mit Unzulänglichem, mit einem Herzen, das sich hinaussehnt seit langem aus der Enge dieses stillen Landlebens. Die Welt da draußen außerhalb Madauens lockt und ruft. – Ich möchte hier nicht mein ganzes Leben verbringen –“

Dann reichte Hilde mir schnell die Hand. – „Auf Wiedersehen –!“ Und sie huschte davon.

Ich blickte ihr nach, wie sie Gebüschgruppen als Schutz benutzend, dem Verwalterhause zueilte.

 

9. Kapitel.

„Halt – keinen Schritt weiter!“

Topp hatte inzwischen für das Abendessen gesorgt. Er empfing mich mit einer anzüglichen Bemerkung. – „Na, noch so etwas Süßholz geraspelt?! Berd, Berd, halte Dein Herz recht fest!“

„Laß die Witze!“ Es mag ziemlich scharf geklungen haben. Er schaute mich an, schüttelte den Kopf.

„Für solche Dinge ist die Jahreszeit schlecht gewählt, Berd. Aber – auch der Mai wird ja kommen!“

Dan, der wieder auf seinem Lager aufrecht saß, bestürmte mich mit Fragen, ob Tante Hilde auch gut nach Hause gekommen wäre. Es machte fast den Eindruck, als ob er etwas eifersüchtig auf uns war, weil Hildegard sich mit uns so viel unterhalten hatte.

Topp hatte aus einer Büchse Rindfleisch in Kraftbrühe eine vorzügliche Suppe gekocht. Als Nachtisch gab es zum Tee Butterbrot, für uns ein wirklicher Genuß! – Nachher versenkten wir uns in unsere Bücher. Ich hatte mir aus der Bibliothek ein Werk über die Geschichte Litauens herausgesucht, das mich recht fesselte. Gegen neun Uhr wurde Dan müde und sagte uns gute Nacht. Wir verhüllten die Lampe so, daß sein Bett im Schatten lag. Als er eingeschlafen war, teilte ich Topp mit, was Hildegard mir über das Gerücht erzählt hatte, der Majoratsherr sollte zur Aburteilung hierher gebracht werden. Vor Dan hatte ich über diese Dinge nicht sprechen wollen.

Topp legte seine Familiengeschichte der Zechanowskis, die ihm noch immer als Lektüre diente, bei Seite und sagte dann ungefähr dasselbe, was Hilde und ich über das Hinausschieben des Prozesses gegen den Schloßbesitzer von Madauen im Pavillon geäußert hatten.

„Wir sind durch den Besuch Hildegards“, fuhr er fort, „keinen Schritt in der Klärung all dieser Rätsel vorwärtsgekommen. Leider nicht! Wenn Anton von Zechanowski nicht unser Zigarettenraucher ist, wer dann sonst wohl?! – Ich lasse mir diese Dinge fortwährend durch den Kopf gehen, finde aber nirgends auch nur den geringsten Fingerzeig, der auf eine befriedigende Theorie hindeuten könnte. Am merkwürdigsten bleibt, daß der maskierte Besucher sich hier doch offenbar nur zu dem Zweck einstellt, in dem Herrenzimmer ganz bestimmte Papiere zu suchen. Das dürfen wir nicht übersehen! Besäße ich eine ungezügelte Phantasie, so würde ich vielleicht gar vermuten, daß der Majoratsherr selbst es ist, der hier kommt und geht wie das Mädchen aus der Fremde. – Doch – alles Reden ist unnötig. Wenn wir etwas erreichen wollen – Du weißt ja, ich möchte womöglich Peter von Zechanowski irgendwie helfen, – müssen wir handeln.“

Ich zuckte die Achseln. „Wir – handeln?!“ meinte ich ironisch. „Ausgerechnet wir, die hier wie Gefangene leben! Bin neugierig, wie Du das anstellen willst?!“

„Abwarten. Ein guter Gedanke kommt über Nacht. – Was aber Deinen Einwand anbetrifft, lieber Berd, wir seien hier so gut wie eingekerkert, so kann ich Dich nur darauf aufmerksam machen, daß unser Kerker doch ein geheimes, für uns jederzeit benutzbares Schlupfloch hat.“

Er griff wieder nach seiner Familienchronik. Ich merkte aber, daß er die Seiten nicht umblätterte und immer auf dieselbe Stelle starrte. Seine Gedanken waren also fraglos ganz wo anders als bei den Schicksalen des alten Adelsgeschlechts.

Dann holte er seine Stahluhr hervor.

„Zehn“, meinte er leise. „Wie wär’s, wenn wir nach oben gingen und nachsähen, ob unser Raucher wieder dagewesen ist?“

Ich war einverstanden. – Wir hatten uns schon vormittags aus den Garderobenschränken mit zwei dicken Fahrpelzen, Pelzschuhen und -westen und Handschuhen versehen, zogen die Sachen nun bis auf die Schuhe über, steckten die Revolver in die Tasche, nahmen unsere Blendlaternen und schlichen lautlos wie immer auf unseren drei Paar Socken die Treppen empor. Die gefütterten Überziehschuhe hatten wir über die Schulter gehängt. Wir sahen so höchst abenteuerlich aus, zumal wir uns noch die Köpfe mit sogenannten Baschliks[2] verhüllt hatten, die wir uns gestern bereits „entliehen“ hatten. Diese Nordpolfahrer-Vermummung war auch nötig. Draußen zeigte das Thermometer 19 Grad Celsius[3], und oben in den Zimmern auch noch 10–12 Grad.

Wir mußten damit rechnen, daß der Maskierte vielleicht noch anwesend war und richteten uns ganz danach ein. Wie Gespenster glitten wir mit abgeblendeten Laternen dahin. Selten nur knarrte eine Treppenstufe oder quietschte eine lose Diele. Wir wußten schon, welche Stufen und Dielen wir zu vermeiden hatten.

So kamen wir bis in den Flur des ersten Stockes. Topp hatte einen kleinen Vorsprung.

Ich mußte jetzt einem großen, reich geschnitzten Eichenschrank ausweichen, der rechts an der Wand stand. Ich hatte den rechten Arm weit vorgestreckt, um nicht gegen dieses Hindernis anzurennen, denn trotz der Schneelichtdämmerung draußen und trotz des Flurfensters gerade vor uns konnte man so gut wie nichts sehen.

Da – ich prallte förmlich zurück! – hörte ich eine leise, sehr energische Stimme rufen:

„Halt – keinen Schritt weiter!“

Gleichzeitig zuckte der Strahlenkegel einer elektrischen Taschenlampe auf und fiel auf Topps Oberkörper.

Mein Freund stand gleichfalls wie erstarrt da. Ich war etwa fünf Schritt hinter ihm. Halb unbewußt trat ich jetzt nach rechts hinter den Schrank, drückte mich ganz in die Ecke. Mir war plötzlich siedend heiß geworden. Was denkt man nicht alles in einem solchen Augenblick! Unser Hirn gebiert ganze Ketten von jagenden Gedanken. – Wer war der Mann, der Topp gestellt hatte? Einer der Russen? War er allein, waren es mehrere? Oder hatten wir es mit dem Maskierten zu tun?

Ich hatte ja nichts gesehen, nichts zu erkennen vermocht. Der Lichtkegel hatte mich zu sehr geblendet. Lediglich die Umrisse von Topps pelzverhüllter Gestalt hatte ich vor mir gehabt und davor die Lichtquelle, die Taschenlampe. Wer sie in der Hand hielt, wußte ich nicht.

Jetzt war ich wieder lediglich auf mein Gehör angewiesen. Und – ich bekam genug zu hören – übergenug.

„Wenn Sie auch nur die geringste Bewegung machen, fährt Ihnen diese Saufeder – (Saufeder – ein kurzer Spieß mit langer Stahlspitze in Messerform. Wird zum Abtun von Wildschweinen benutzt.) – in die Rippen“, sagte der Unbekannte jetzt in tadellosem Deutsch. Und gerade dieses Deutsch war es, das mich nun vermuten ließ, wir wären von dem Maskierten überrascht worden.

„Ich denke gar nicht daran, mich zur Wehr zu setzen“, erwiderte Topp kläglich und vorzüglich den vor Schreck ganz Fassungslosen spielend. „Tun Sie mir nichts, ich bitte Sie! Ich bin ein deutscher Soldat, den die Russen gehetzt haben und der dann hier ein Versteck fand. Haben Sie Erbarmen mit mir! Die Russen werden mich als Spion erschießen, wenn Sie mich verraten. Sie scheinen Ihrer Aussprache nach doch selbst Deutscher zu sein.“

„Wo ist Ihr Gefährte?“ fragte der Maskierte scharf, – denn daß er es war, ging ja aus Topps Angstgewinsel hervor. „Ich weiß, Ihr seid zu zweien den Dragonern entkommen. – Keine Lügen, Bursche, – mit mir ist nicht zu spaßen!“

„Oh – weshalb sollte ich lügen, Herr. Der arme Berd ist in der Nacht erfroren, bevor es uns gelang, in das Schloß einzudringen. Seine Leiche liegt am Waldesrand unter dem Schnee. Er hatte einen bösen Schulterschuß abgekriegt und zu viel Blut verloren. Ich bin allein hier. Und ich flehe Sie bei Gottes Barmherzigkeit an: Verraten Sie mich nicht! Ich habe Weib und Kind daheim in Berlin, und wenn ich nicht zurückkehre, müssen sie verhungern.“

Ich gebe zu: Wenn ich der Maskierte gewesen wäre, ich hätte Topp gleichfalls geglaubt. Seine Worte klangen so schlicht und so wahrheitsgetreu, daß jeder sich hätte täuschen lassen.

„Ob ich Dich den Russen ausliefern werde, hängt von verschiedenem ab“, begann der Unbekannte wieder. „Geh’ voran! Aber nochmals – wage keinen Fluchtversuch! Du siehst hier diese gute Stoßwaffe! – Ich habe auf Dich gewartet, Bursche! Du bist für mich doch nicht schlau genug, Deine Anwesenheit hier verheimlichen zu können! In der Staubschicht des Rauchtischchens des Herrenzimmers hier bemerkte ich verwischte Stellen. Der Zigarrenkasten war offenbar zu öffnen versucht worden. Die Russen konnten das nicht getan haben. Sie wagen es nicht, sich an den Sachen in den Zimmern hier zu vergreifen. Also mußte es ein Fremder gewesen sein.“

Die Stimme des Maskierten wurde leiser und leiser. Topp und er waren in das Herrenzimmer eingetreten. Ich hörte jetzt zwar den Freund etwas erwidern, verstand aber die Worte nicht. Die Tür war nur angelehnt, nicht eingeklinkt worden.

Was tun? – Sollte ich nach unten flüchten, mich verbergen? – Niemals! Ich durfte Topp nicht im Stiche lassen! – Ich dachte an das Billardzimmer. Wenn ich geräuschlos dort eindringen konnte, war es mir vielleicht möglich, die beiden weiter zu belauschen. Hier auf dem Flur durfte ich nicht bleiben. Das war zu gefährlich.

Nun: es gelang! Ich war im Billardzimmer. Die Tür nach dem Nebengemach stand halb offen. Ich ging Schritt für Schritt vorwärts, bis ich hinter dem offenen Türflügel stand. Durch die Spalte konnte ich jetzt sogar den Raum so weit überblicken, daß ich auch mit den Augen die Vorgänge darin zu verfolgen im Stande war.

Topp saß auf einem Sessel am Mitteltisch. Der Unbekannte, der genau so angezogen war wie damals, als mein Freund ihn beobachtet hatte, stand dicht vor ihm; die Saufeder hielt er nachlässig im Arm. Ohne Zweifel hatte er die Überzeugung gewonnen, daß Topp ein sehr harmloser Gegner wäre.

„Meine Bedingungen sind folgende“, sagte der Maskierte jetzt und legte die Taschenlampe so auf den Tisch, daß ihr Lichtkegel gerade auf Topps Gesicht ruhte. – „Ich werde Sie noch heute bis zu den deutschen Vorposten bringen, die zwei Meilen westlich von hier stehen. Sie werden mir durch einen Eid das Versprechen geben, niemandem zu erzählen, daß Sie je in diesem Schlosse waren. – Wollen Sie darauf eingehen?“

Der Unbekannte sprang mit Topp wie mit einem Landstreicher um; nannte ihn bald du, bald Sie, ganz wie es ihm einfiel. Er hatte überhaupt ein recht herrisches Auftreten. Etwas Überhebendes, Hochmütiges lag in seinem Benehmen; aber auch eine vor nichts zurückschreckende Energie.

Topp wischte sich die Augen, erwiderte halb schluchzend:

„Ob ich darauf eingehe? Natürlich – sofort, sofort!“

„Gut denn. – Wirst Du aber auch Deinen Eid halten? Bist Du ein gläubiger Christ, dem ein Schwur heilig ist?“

„Na – ich will ehrlich sein, Herr. Ich habe das Beten erst wieder gelernt, als mir die Kugeln um die Ohren pfiffen. – Aber – Sie können sich auf mich trotzdem verlassen. Schon aus Dankbarkeit werde ich Ihren Wünschen nachkommen. Damit Sie sehen, daß ich Ihnen nichts verheimliche, will ich Ihnen noch anvertrauen, daß ich doch nicht allein hier im Schlosse bin.“

„Ah – so hast Du –“

„Nein – nein, mein Gefährte ist wirklich tot. Aber einen kleinen Jungen fand ich hier bewußtlos im unteren Flur liegen. Er war schwer krank –“

Dieser Topp! War das nur ein gerissener Bruder! Ich merkte ja: er führte den Maskierten aufs Glatteis. Und wie gut gelang ihm das!

Der Unbekannte hatte sich mit allen Zeichen höchster Spannung und Erregung vornübergebeugt, als kaum die Worte „kleinen Jungen“ gefallen waren. Als Topp jetzt natürlich absichtlich – eine Pause machte, rief er mit ganz belegter Stimme:

„Und – und was ist aus dem Knaben geworden?“

„Gestorben! – Ich habe mir alle Mühe gegeben, ihn zu retten. Er blieb bewußtlos, schlief sanft ein –“

„Oh – gestorben – tot!“ Es klang wie ein Seufzer der Erleichterung. Dann fragte er hastig: „Also er blieb besinnungslos? Du hast Dich nicht mit ihm verständigen können?“

„Nein. – Ich habe ihn nach oben in eins der Fremdenzimmer gebracht und sauber in eine leere Kiste gebettet, eine Decke über ihn gebreitet. Ich habe keine Schuld daran, daß er starb, wirklich nicht. Ach – es war so ein hübsches Kind –“

Der Maskierte stand jetzt in Gedanken versunken da, achtete nicht mehr auf Topp, der sich jetzt, ich sah es ganz deutlich, sprungbereit zusammenduckte.

Ich ahnte, was folgen würde. Nun – er sollte den Kampf mit dem Maskierten nicht allein auszufechten brauchen.

Da – da trat das Erwartete schon ein! Wie ein Blitz schnellte Topp hoch. Seine langen Arme streckten sich aus, seine Hände umklammerten den Hals des völlig Überraschten. Die beiden Menschen rollten jetzt in verzweifeltem Ringen auf dem Teppich hin und her. Der Maskierte hatte gleichfalls Topps Kehle gepackt. Ich kam gerade zur rechten Zeit, hielt dem Gegner die Arme fest, bis er unter meines Freundes Griff halb erwürgt matter und matter wurde.

„Gardinenschnur!“ keuchte Topp „Schnell – schnell!“

Ich schnitt zwei lange Stücke ab. – Dann war der Feind besiegt, gefesselt. Wir legten den fast völlig Bewußtlosen auf den Diwan. Ein Knebel war überflüssig. Wir brauchten nicht zu fürchten, daß unser Mann um Hilfe rufen würde.

Topp wischte sich den Schweiß von der Stirn.

„Dank’ Dir, Berd! – Ich hoffte, daß Du dort im Billardzimmer die Komödie belauschen würdest, rechnete auf Deine Unterstützung! – Jetzt wollen wir uns den seltenen Vogel doch mal näher ansehn.“

Er nahm dem Manne den falschen Bart ab.

„Anton von Zechanowski!“ entfuhr es mir.

„Ich ahnte es“, sagte Topp gelassen. „Er hat sie alle zu täuschen verstanden – dieser Kindesmörder!“

 

10. Kapitel.

Der Umzug in das neue Versteck.

Topp begann die Taschen des Wehrlosen zu durchsuchen. In der inneren Tasche des Reitpelzes steckte ein gelber, großer Umschlag, der mit Papieren vollgepfropft war. Auch die Brieftasche war dick gefüllt mit russischen und deutschen Banknoten und Schriftstücken. Weiter hatte unser Gefangener noch zwei ähnliche Schlüssel bei sich wie die, die wir bei Dan gefunden hatten. Eine Mauserpistole trug er in der rechten äußeren Pelztasche.

Er war inzwischen wieder zu sich gekommen. Seine dunklen Augen verfolgten mit einem Ausdruck tödlichen Hasses jede unserer Bewegungen. Aber er blieb stumm. Die Lippen waren fest aufeinander gepreßt.

Topp steckte den Umschlag, die Brieftasche, die Schlüssel und die Pistole zu sich, sagte dabei:

„Sie sind Anton von Zechanowski. Wir werden jetzt mit Ihnen ein Verhör anstellen. Ertappen wir Sie auf der geringsten Unwahrheit, haben Sie keinerlei Schonung zu erwarten.“

Der Gefesselte hob etwas den Kopf, lachte höhnisch auf.

„Schonung?! Von Euch?! – Ein Wort von mir und Ihr werdet an die Mauer gestellt!“

„Bitte, sprich dieses Wort!“

Zechanowski knirschte mit den Zähnen.

„Unverschämter, Du wagst es, mich zu duzen! Ich werde Euch beweisen, daß –“

„Bitte, – was willst Du beweisen? Nur immer heraus mit der Plempe.“

Der Gefangene sah wohl ein, daß Topp sich nicht einschüchtern ließ.

„Geben Sie mich frei und mir meine Sachen zurück! Sie sollen zehntausend Mark dafür erhalten“, sagte er ganz bescheiden plötzlich.

„Bedauere. Ich heiße nicht Anton von Zechanowski. Bin nicht käuflich. – Sie werden jetzt unsere Fragen wahrheitsgemäß beantworten. Wenn Sie lügen, sperren wir Sie gefesselt in den unterirdischen Gang ein.“

„Verfl… – auch das wissen Sie!“

„Oh, wir wissen noch viel mehr. – Geben Sie zu, Danilo, Ihren Neffen, entführt und in der Waldhütte seinem Schicksal überlassen zu haben?“

Das Gesicht des Gefangenen überzog Leichenblässe.

„Sie – Sie erfinden da ja köstliche Räubergeschichten“, versuchte er zu höhnen. Aber es gelang ihm schlecht. Man merkte ihm die Angst an. Seine Augen irrten unstet umher.

„Also Sie leugnen?“

„Natürlich! – Ich liebe Danilo; das weiß er sehr gut. Und wenn er noch leben würde –“

„Oh – er lebt schon, ist frisch und munter. – Eine Fortsetzung des Verhörs ist zwecklos. Sie kommen in den unterirdischen Gang. Nach vierundzwanzig Stunden werden Sie gefügiger sein.“

Anton von Zechanowski wurden die Beine und Füße freigegeben. Er folgte ohne Widerstand, ohne ein Wort bis in das Schlafzimmer im alten Flügel. – Topp schickte mich dann eine Waschleine holen. Wir banden den Gefangenen damit so fest, daß er sich kaum rühren konnte. Erfrieren würde er hier unten nicht, wo kaum ein Grad Kälte sein konnte. Wir hatten ihm jetzt auch alle Taschen gänzlich geleert, so daß er nicht einmal mehr sein Taschenmesser besaß. Wir waren seiner ganz sicher. Eine Flucht war ausgeschlossen.

Wir ließen ihn allein. Er verdiente keine Schonung. Topp hatte ganz recht damit. Ein solcher Heuchler und grausamer Schurke mußte hart angefaßt werden.

Inzwischen war es höchste Zeit für uns geworden, in das Billardzimmer hinaufzugehen, da wir ja mit Hildegard Markwart ein für allemal die Verabredung getroffen hatten, stets abends gegen elf Uhr aufzupassen, ob sie uns irgend etwas mitzuteilen hätte.

Tatsächlich bemerkten wir sofort drüben in dem dunkeln Zimmer in längeren Zwischenräumen willkürliche Lichtzeichen, die unsere Aufmerksamkeit erregen sollten.

Dann begann die Blinklichttelegraphie. – Das, was uns Hildegard meldete, war sogar von höchster Wichtigkeit. Ich hatte folgendes aus den Morsezeichen zusammengestellt:

„Morgen früh trifft Standgericht mit Peter v. Z. hier ein. – v. Z. wird im Schloß untergebracht. Ziehen Sie in den unterirdischen Gang um.“

Das war wirklich eine Alarmnachricht.

„Unglaublich! Möchte nur wissen, weshalb die Russen den armen Mann hierher schleppen?!“ meinte Topp. „Ohne Frage hat das eine besondere Bedeutung.“

Unverzüglich machten wir uns an die Arbeit des Umzuges nach dem neuen Versteck. Daß Hildegard sogar daran gedacht, wo wir uns am besten verbergen könnten, bewies so recht, wie besorgt sie um unsere Sicherheit war. Wir hatten den unterirdischen Gang freilich schon längst als letzte Zufluchtstätte für die Stunde der Not im Auge gehabt.

Da wir, ohne unseren Kellerraum zu erleuchten, nicht an die Arbeit gehen konnten, wurden zunächst die beiden niedrigen Fenster abermals so sorgfältig verhängt, daß auch nicht ein Lichtstrahl uns den Posten draußen verraten konnte.

Dann begann der Umzug, bei dem auch Dan eifrig half. Es war wirklich erstaunlich, wie schnell der Knabe sich erholt hatte.

Wir brachten eine große Menge von allerlei Gegenständen in den neuen Schlupfwinkel, zum Schluß auch alles an Konserven und sonstigen Lebensmitteln, was wir vorfanden. Sogar das Fäßchen Spiritus machte den Umzug mit.

In dem Gange, der dort, wo die schmale Treppe aus dem Schlafzimmer mündete, ein viereckiges Gelaß bildete, errichteten wir eine neue Hütte, um es darin wärmer zu haben. Alte Teppiche, Decken, leere Säcke, auch Betten wurden über die aus Kisten und Tischplatten hergestellten Wände und über das Dach gebreitet. Schön sah das Ganze nicht aus. Aber es war praktisch.

Der Gefangene, den wir jetzt eine Strecke weiter im Gange selbst auf einem Lager von Flaschenstrohhüllen und Decken festgebunden hatten, beobachtete uns unausgesetzt. Ohne Frage zerbrach er sich den Kopf darüber, weshalb wir wohl unser Versteck hier hinab verlegten.

Erwähnen muß ich noch, daß Dan, als wir ihm erzählt hatten, wen wir nun als Gefangenen bewachten und wie dieser und kein anderer sein grausamer Entführer gewesen war, zu unserer Überraschung mit traurigem Gesicht erklärte, er hätte dies bereits im stillen gefürchtet, da es ihm aufgefallen wäre, daß die Stimme des Mannes, obwohl sie verstellt wurde, mit der seines Onkels doch gewisse Ähnlichkeit gehabt hätte. Dan kümmerte sich um ihn denn auch nicht im geringsten. Selbst als jener zwei Mal bittend „Danilo, Danilo“ rief, wandte er ihm mit verächtlicher Gebärde den Rücken zu.

Die neue Hütte war fertig. Die Inneneinrichtung war dieselbe geblieben. Nun aber fiel uns doch noch dieses und jenes ein, was wir von oben noch holen mußten: Petroleum, Bücher gegen die Langeweile, noch einen Stuhl für Dan und andere Kleinigkeiten. So wurde es zwei Uhr morgens, bevor wir zur Ruhe gehen konnten. Vorher wurden jedoch noch die Fesseln des Gefangenen genau untersucht. Auf seine Bitte hin – er war jetzt sehr kleinlaut geworden – erhielt er auch noch Essen und eine Tasse Tee. Wir brachten es eben nicht fertig, ebenso brutal und grausam zu sein wie er.

Wir schliefen bis gegen neun Uhr. Die Morgenarbeiten – Zubereitung des Frühstücks und Aufräumen der Hütte – waren bald erledigt; auch der Gefangene wurde wieder mit Speise und Trank versorgt.

Dann schlich Topp nach oben bis vor die Geheimtür und öffnete sie vorsichtig nur ganz wenig, lauschte und wagte sich erst in das Zimmer hinein, als er sich überzeugt hatte, daß niemand in der Nähe war. Er blieb eine halbe Stunde etwa aus, und ich begann mich bereits mit allerlei Befürchtungen zu quälen, als er auf der Treppe wieder auftauchte und eilig zu uns trat, die wir in dem Gang auf und ab marschiert waren, um uns Bewegung zu machen.

„Soeben wird Dein Vater in das Schloß gebracht, Dan“, sagte er leise. – Bisher hatten wir unserem kleinen Freunde verschwiegen, welches der wahre Grund des Umzuges gewesen, hatten ihm vielmehr nur erklärt, Hildegard hätte uns vor einer neuen, sehr genauen Revision aller Räume gewarnt.

Dan sanken die Arme schlaff herab.

„Mein Vater?“ Er brachte die Worte kaum über die Lippen.

Topp weihte ihn nun in alles ein. – Dan begann zu schluchzen.

„Mein Gott – was wollen sie nur gerade hier mit ihm?!“ stieß er hervor. – Also auch ihm fiel genau dasselbe auf wie uns.

Topp tröstete ihn, sprach ihm Mut zu. „Wir werden Deinen Vater zu befreien versuchen, lieber Dan“, meinte er sehr bestimmt. „Heute abend gegen sechs kommt Tante Hilde wieder her. Sie wird uns alles mitteilen, was uns zu wissen nottut.“

Glückliche Kindheit! – Wie schnell und kräftig sprießt nicht in den jungen Herzen das Pflänzchen Hoffnung auf!

So auch hier. Dan wurde ganz froh und heiter, redete dann immer nur von seinem Vater und dem bevorstehenden Wiedersehen.

 

11. Kapitel.

Die kluge Hilde.

Die Stunden bis zum Anbruch der Dunkelheit wollten auch heute gar nicht vergehen. Wir drei sahen ja mit derselben hochgesteigerten Spannung Hildegards Besuch entgegen.

Kurz vor sechs schickte mich Topp dann in den Pavillon, um „den Gast feierlich einzuholen“, wie er sich ausdrückte. Er grinste dabei wieder so recht diabolisch. Für Liebe und dergleichen hatte er ja keine Spur von Verständnis. Für ihn war Hilde ein Menschenkind wie jedes andere; nur äußerlich netter und ein wenig klüger als die übrigen Geschöpfe – „mit langen Haaren und kurzem Sinn –“

Natürlich wollte Dan durchaus mit. Doch Topp blieb fest.

„Keine Rede davon! Damit Du Dich erkältest! Nein, mein Junge, – mit dem Onkel Berd ist’s was anderes. Den erwärmt sein Herz. Außerdem siehst Du Tante Hilde ja doch in kurzem.“ –

Draußen war heute höchst ungemütliches Wetter. Ein heftiger Sturm trieb den feinen Schnee zuweilen in dichten Wolken hoch, daß man glauben konnte es schneite. – Ich stand an einem der Fenster des Pavillons und starrte in den Park hinaus. Hilde verspätete sich. Trotz des dicken Pelzes begann ich zu frieren. Dann – dann tauchten gerade in einer Sturmpause zwei vermummte Frauengestalten vom Walde her kommend auf, und gleich darauf raunte Hilde mir atemlos zu:

„Hier – Frau von Zechanowski. Es ist mir geglückt, ihr die Flucht zu ermöglichen.“

Die Dame, eine sehr schlanke, sehr zarte Blondine, ist völlig erschöpft, drückt mir aber doch kräftig die Hand, sagt: „Wie soll ich Ihnen nur all das danken, was Sie für meinen Jungen getan haben!“

Ich gehe voran die enge Treppe abwärts. Hilde als letzte schließt die Geheimtür. Frau von Zechanowski ist in Sicherheit.

Ich kläre die beiden Damen schnell über die Gefangennahme des jüngeren Zechanowski auf. Wir hatten ja gestern nacht davon abgesehen, Hilde durch die Blinksprache hiervon zu verständigen. Es hätte zu lange gedauert.

In den matten Augen der Leidenden glüht es bei dieser Nachricht drohend auf.

„Ah – gefangen!“ Man hört heraus, wie sehr sie sich freut, daß dieser Schurke in unserer Gewalt ist.

Wir gehen weiter den Gang entlang, kommen an dem Lager des Gefesselten vorüber, der aufrecht dasitzt und uns entgegenstiert. Der Schein meiner Laterne fällt auf sein Gesicht; es ist wieder aschfahl.

Frau von Zechanowski bleibt stehen, auf Hilde gestützt, sagt kalt und schneidend:

„Elender Mordbube, damit Du es weißt: Nicht Peter entwendete Dir die Papiere, sondern ich tat’s, ich, die Dich längst durchschaut hatte.“ Sie will noch mehr hinzufügen. Da fliegt ihr aber schon Dan entgegen. –

Ich beabsichtige nicht, hier rührende Szenen zu schildern. Der Leser wird selbst so viel Phantasie besitzen, sich ausmalen zu können, wie uns dieses Wiedersehen zwischen Mutter und Kind, zwischen einer schwergeprüften Frau und ihrem bereits für tot betrauerten Söhnchen, ans Herz griff.

Dann saßen wir alle um den Tisch herum. Hilde erklärte, sie hätte es sehr eilig. Sie müsse unbedingt daheim sein, wenn Frau von Zechanowskis Flucht entdeckt würde. – Wie es ihr gelungen, diese zu begünstigen, darüber gab sie folgendes an.

Der Leidenden waren im Obergeschoß des Pfarrhauses zwei Zimmer angewiesen worden. Dort hatte auch Dan gewohnt. Als Bedienung wurde ihr die Frau des Feldwebels des Wachkommandos, die ihrem Manne als Marketenderin gefolgt war, bewilligt. Die Russin war eine fanatische Deutschenhasserin und hatte die Dame diesen Haß auch stets fühlen lassen. Gestern war sie dann plötzlich an Ruhr erkrankt und in das nächste Lazarett geschafft worden. Hilde hatte dem Hauptmann Schalinkow unauffällig eine im Dorf zurückgebliebene, etwas beschränkte alte Frau als Ersatz empfohlen. Diese, die die Dame natürlich nicht halb so streng bewachte als die Russin es getan hatte, besaß neben ihrer geistigen Minderwertigkeit noch eine große Vorliebe für alkoholische Getränke. Eine Flasche Kornbranntwein, die Hilde heute mittag in das Pfarrhaus geschmuggelt und in die Kammer der Alten so in einen Schrank gestellt hatte, als ob sie dort vergessen wäre, versprach den Fluchtplan wesentlich zu fördern. Frau von Zechanowski, mit der Hilde diesen Plan mittags genau durchgesprochen hatte, war mit allem einverstanden. Als die Alte dann bereits um vier Uhr nachmittags deutliche Anzeichen eines starken Rausches verriet, rüstete die Dame sich in aller Stille zum Verlassen des Hauses, packte das Allernotwendigste in ein flaches Bündel und steckte ihre Wertsachen zu sich. – Um halb sechs schlief die Alte in ihrer Kammer wie eine Tote. Hiermit hatte Hildegard gerechnet. – Es galt jetzt nur noch den Posten zu täuschen, der unten an der Treppe Wache hielt. Auch hier hatte Hilde der Dame einen vortrefflichen Rat gegeben. Die Alte trug im Winter wie alle Dorfbewohnerinnen zum Schutz gegen die Kälte ein großes wollenes Tuch, das über den Kopf genommen und unterm Kinn zusammengesteckt wurde; außerdem im Hause stets klappernde Holzpantinen. – Frau von Zechanowski sollte nun versuchen, die Alte darzustellen, deren Tuch sich umhängen, die Pantinen überziehn und mit einem Eimer in der Hand recht geräuschvoll die Treppe hinabgehen, als wollte sie den Eimer auf dem Hofe entleeren. – Diese Idee erwies sich als sehr glücklich. Der Posten sah kaum hin, als das Pantinengeklapper die neue Wärterin der Gefangenen ankündigte. Unbehelligt gewann Frau von Zechanowski das Freie, eilte dann auf Umwegen nach dem mit Hilde verabredeten Treffpunkt, einer leerstehenden Schmiede unweit der Ställe, und fand sich hier mit dem jungen Mädchen zusammen. – Daß die Russen Hilde sofort beargwöhnen würden, hier ihre Hand mit im Spiel gehabt zu haben, war mit Sicherheit anzunehmen. Es war also nur ratsam, wenn sie recht bald nach dem Verwalterhause zurückkehrte und – hierzu riet Topp – dann in Begleitung ihres Vaters nach dem Pfarrgebäude ging, als ob sie der Dame noch einen Besuch abstatten wollte. Dies würde einen Teil des Verdachts gegen sie zerstreuen, zumal wenn durch sie selbst die Flucht erst entdeckt würde.

Topp bewies also auch hier wieder, daß er „mit allen Hunden gehetzt“ war. Ich war wirklich stolz auf meinen Freund. Hilde fand seinen Vorschlag geradezu glänzend, wie sie gutgelaunt sich ausdrückte, und wollte ganz nach Topps Anweisungen handeln.

Nach diesen Erörterungen, die in aller Eile erledigt wurden, brach sie dann auch sofort auf. Ich begleitete sie wieder bis zum Pavillon.

Der Sturm hatte noch zugenommen. Der Schnee stob in hohen Wogen vor den Windstößen auf und erfüllte den ganzen Park mit weißen Schleiern, in denen Hilde nur zu schnell meinen Blicken entschwand.

Ihre herzlichen Abschiedsworte klangen mir noch in den Ohren nach, als ich nach unserem Versteck zurückkehrte. Hier hatte man auf mich gewartet, da Frau von Zechanowski uns noch über ihren Gatten verschiedenes mitteilen mußte, was nicht weniger wichtig war als das heute bereits Geschehene.

Der Majoratsherr war gegen halb zehn vormittags im Schlitten unter starker Bedeckung in Madauen eingetroffen und zunächst in das Verwalterhaus gebracht worden. Er wurde von den russischen Soldaten, die mit seiner Bewachung betraut waren, gut behandelt, wenn auch nicht einen Augenblick allein gelassen. Immerhin hatte Hilde auf Hauptmann Schalinkows Fürsprache hin ihn begrüßen dürfen. Es war ihr gelungen ihm zuzuflüstern, für sich als Wohnraum im Schlosse das Schlafzimmer neben dem Turm sich auszubitten. – Herr von Zechanowski hatte sofort gemerkt, daß Hilde ihm diesen Rat in ganz besonderer Absicht gab, hatte ihn befolgt und auch wirklich das Schlafzimmer zugewiesen erhalten. – Die in einem zweiten Schlitten angelangten Mitglieder des Standgerichts, vier höhere Offiziere, hatten in den Räumen des neuen Flügels Quartier bezogen. – Daß die Verhandlung gegen den Majoratsherrn hier in Madauen stattfinden sollte, war anscheinend lediglich eine Rücksichtnahme auf seine kranke Gattin, die als Zeugin vernommen und ihrem Manne gegenübergestellt werden sollte, vielleicht, um ihn so leichter zu einem Geständnis zu bewegen. Ganz klar waren die Gründe dieses von höherer Stelle aus erfolgten Befehles nicht. Und Topp äußerte sich zu diesen Ausführungen der Dame denn auch sehr zurückhaltend, meinte, er könnte an eine solche Rücksichtnahme schwer glauben. – Die Hauptsache blieb aber, daß wir Herrn von Zechanowski jetzt jeden Augenblick ebenfalls befreien konnten. Und dieser Umstand war es auch gewesen, der Hilde veranlaßt hatte, dafür zu sorgen, seiner Gattin die Flucht zu ermöglichen.

Die Dame meinte dann noch, es wäre wohl ratsam, ihren Mann erst um Mitternacht, wenn in dem jetzt mit zahlreicher Einquartierung belegten Schloß alles zur Ruhe gegangen wäre, mit Hilfe der Geheimtür seinen Wächtern zu entführen, von denen, wie Hilde ausgekundschaftet hätte, ein Posten vor der Tür seines Zimmers, ein zweiter vor dem Hause unter den Fenstern auf und ab patrouillierte.

Topp machte hierzu ein sehr bedenkliches Gesicht.

„Wenn ich ganz ehrlich sein darf, gnädige Frau: Dieser Plan gefällt mir nicht! Deswegen nicht, weil wir erstens Markwart und Tochter meines Erachtens großer Gefahr aussetzen, wenn wir sie nicht gleichzeitig in Sicherheit bringen. Die Russen werden sich in ihrer Wut über das Entweichen von zwei Gefangenen an ihnen rächen, werden sie der Begünstigung beschuldigen und – – vielleicht nur zu kurzen Prozeß mit ihnen machen. Sie verstehen wohl, was ich meine, gnädige Frau.“

Die Dame seufzte und nickte. „Ja, ja, Sie haben ganz recht mit diesen Bedenken. – Nein – diese lieben Menschen dürfen wir auf keinen Fall preisgeben. – Was tun wir nur?“ Sie sprach sehr leise, machte einen völlig erschöpften Eindruck. Die Aufregungen dieses Tages hatten an ihre Kräfte zu hohe Anforderungen gestellt.

„Es gibt aber noch einen anderen Grund“, sagte Topp nun, „der zur Vorsicht rät. Wenn Ihr Herr Gemahl aus dem gut bewachten Zimmer so lautlos und spurlos verschwindet, müssen die Russen, falls sie nicht gerade lächerlich beschränkt sind, notwendig auf den Gedanken kommen, daß der Raum einen geheimen Ausgang haben muß. Sie werden nach diesem Ausgang suchen und dann sehr wahrscheinlich die Geheimtür finden. – Hätte ich vorher gewußt, wie die Dinge jetzt liegen, dann würde ich Fräulein Hilde den Schlüssel zur Pavillongeheimtür mitgegeben haben. Wir besitzen davon jetzt ja zwei Stück.“

Ich saß stumm wie ein Unbeteiligter dabei. – Wie ein Unbeteiligter –?! Ach – weder Topp noch die Dame ahnten ja, welch verzehrende Angst ich im Herzen um Hilde empfand. Jetzt, wo mein Freund so nachdrücklich auf die zu befürchtende Rache der Russen hingewiesen hatte, erschien mir Hildes Leben schon allein wegen der Flucht der Frau von Zechanowski in ernstester Gefahr zu schweben. Wie leicht konnte der Verdacht, die Flasche Branntwein in das Pfarrhaus lediglich zu dem Zweck, um die Alte für Stunden unschädlich zu machen, sich auf Hilde lenken! Schon dies würde genügen –! Ein Standgericht im Kriege hält sich nicht lange mit Sammeln von Beweismaterial auf.

Ich saß stumm da und grübelte und grübelte –

Hilde und ihr Vater mußten noch in dieser Nacht hier bei uns einen Unterschlupf finden – mußten! Aber – wie nur ließ es sich bewerkstelligen, sie zu warnen und ihre Vereinigung mit uns zu ermöglichen –?!

Plötzlich ein Gedanke – abenteuerlich, vielleicht leichtsinnig, – aber immerhin einen Versuch wert!

Ich stand auf, sagte, ich wollte nur mal nach unserem Gefangenen sehen. Topp schaute mich verwundert an, schwieg aber.

Wenige Minuten später war ich im Park, schlich auf das Verwalterhaus zu. Ein Glück, daß der Sturm so arg wütete und die Luft mit feinen weißen Wolken aufstiebenden Schnees erfüllte –! – Ich hoffte, ich würde Markwarts noch auf dem Wege zum Pfarrhaus abfassen können. – Die beiden Fenster im Verwaltergebäude waren hell. Dies sprach dafür, daß Vater und Tochter noch daheim waren.

Ich verbarg mich im Gesträuch nahe am Wege nach dem Dorfe. Hier mußten die beiden vorüberkommen. Und: ich war wirklich keine Minute zu früh erschienen.

Drei Personen – leider drei! – tauchten in dem Schneegestöber auf –

Drei Personen –!! Der dritte war sicherlich Hauptmann Schalinkow, den ich stark im Verdacht hatte, daß er Hilde sehr aufdringlich den Hof machte. – Alles schien verloren – Wie nur konnte ich diese neue Schwierigkeit beseitigen – wie nur?!

Ich setzte jetzt alles auf eine Karte. Es war ein mehr als verwegenes Spiel. Aber ich fand keinen anderen Ausweg.

Ich ließ die Drei an mir vorüber, ging ihnen dann nach, bis ich auf zehn Schritt hinter ihnen war, rief nun laut:

„Fräulein Hilde – Fräulein Hilde –!!“ – Ich hoffte (und ich hatte mich nicht verrechnet), sie würde meine Stimme erkennen, ahnen, daß Besonderes passiert wäre und mir entgegeneilen.

So kam es auch. Die Drei blieben stehen, blickten sich nach mir um. Wieder rief ich und winkte dazu.

„Schnell – hier der Schlüssel zu der Pavillonpforte. Fliehen Sie mit Ihrem Vater sofort in das Versteck –!“ Meine Worte überstürzten sich.

Dann führte ich eine kleine Komödie auf, tat, als ob ich betrunken wäre, suchte Hilde zu umarmen, stieß sie schließlich roh in den Schnee und hetzte querfeldein dem Walde zu.

Hilde hatte augenblicklich begriffen, worauf es ankam; rief um Hilfe, schrie dem herbeistürzenden Schalinkow zu: „Nehmen Sie den Mann fest! Er darf nicht entkommen –!“

Der Hauptmann stürmte auch wirklich hinter mir drein. Sämtliche Schüsse aus seiner Pistole feuerte er auf mich ab – traf nicht! Ich war flinker wie er. Als ich ihn erst weit genug fortgelockt hatte, war es mir ein leichtes, mich seinen Blicken ganz zu entziehen.

In Schweiß gebadet kam ich nach etwa zehn Minuten im Pavillon an. Hilde wartete hier auf mich. Ihr Vater war bereits in unserem Schlupfwinkel geborgen. Sie dankte mir für meine Opferfreudigkeit. – Ach – das war ja zu viel Lohn für das, was ich getan. Ich war geradezu verlegen, mich als Held hingestellt zu sehen.

Auch Markwart und Frau von Zechanowski feierten mich, als ob ich ein großes Heldenstück ausgeführt hätte. Und Topp sagte als letzter der Lobpreisenden: „Ich ahnte, daß Du etwas Ähnliches vorhattest.“ Er gab mir die Hand, drückte die meine kräftig. Das war mir fast so viel wert als Hildes Anerkennung. –

Markwarts waren wirklich, ohne nochmals in ihre Wohnung zu gehen, sofort durch den Park nach dem Pavillon geeilt, hatten aber doch noch bemerkt, daß die sechs auf mich abgefeuerten Schüsse die Wache alarmiert hatten, und waren daher meinetwegen sehr in Sorge gewesen.

Ohne Zweifel waren jetzt sämtliche Russen auf den Beinen. Der Hauptmann mußte inzwischen wohl auch eingesehen haben, daß er nur hinters Licht geführt worden war. Man würde jetzt also sicher die ganze Umgebung absuchen, meinte Topp, und es dürfte recht lange dauern, bis im Schlosse wieder Ruhe eingetreten wäre. – Dies hieß nichts anderes, als daß wir die Befreiung des Majoratsherrn noch für Stunden hinausschieben müßten.

 

12. Kapitel.

Letzte Abenteuer.

Wir benutzten diese Zeit dazu, noch eine zweite Hütte für die beiden Damen und den kleinen Dan zu errichten.

Mittlerweile hatte der nie versagende Topp sich bereits einen Plan zurechtgelegt, wie wir die Befreiung des Schloßherrn in Szene setzen wollten.

Erst gegen ein Uhr morgens begannen wir mit den notwendigen Vorbereitungen. Topp beabsichtigte nichts anderes, als die abergläubische Angst der einfachen russischen Soldaten für seine Zwecke auszunutzen.

Wir drei – Markwart wollte durchaus ebenfalls mithalten – stiegen die steile Treppe empor, Topp öffnete leise die Geheimtür und horchte einige Minuten, bis er sicher war, daß in dem dunklen Zimmer sich nur ein einzelner Mensch befinden konnte, dessen unruhiges Hin- und Herwälzen auf dem Bett verriet, daß er noch wach war.

Topp glitt in das Zimmer hinein, rief leise:

„Herr von Zechanowski?“

Sofort kam Antwort. – Wir verständigten uns flüsternd mit dem Majoratsherrn, der uns mitteilte, daß alle zwei Stunden ein Unteroffizier das Zimmer beträte und sich überzeugte, ob der Gefangene auch noch da wäre. – Weiter erfuhren wir, daß die Tür nach dem Flur hin unverschlossen sei, dicht davor aber ein Posten stehe, der sehr oft abgelöst würde.

Topp – ich habe darauf schon hingedeutet – trug ein Leinenlaken, das ihn von Kopf bis Füßen einhüllte, und hatte sich das Gesicht mit Mehl ganz weiß eingerieben. –

Ich glaube, ich habe es nicht nötig, hier noch eine eingehende Schilderung von der tadellos geglückten Überwältigung des Postens vor der Tür zu geben. Unsere Erlebnisse im Schlosse Madauen sind auch so wohl spannend genug. Ich will mich also kurz fassen.

Topp öffnete lautlos die Tür. Der Posten stand schläfrig an der gegenüberliegenden Wand des Flurs, hielt das Gewehr mit dem aufgepflanzten Bajonett vor sich auf den Boden gestellt und – ließ es vor Schreck fallen, als er in der dunklen Türöffnung plötzlich „den Geist“ erblickte, der drohend den Arm nach ihm ausstreckte.

Diesen Moment, wo der Russe unfähig war auch nur einen Schrei auszustoßen, benutzte Topp zu einem kühnen Satz, bekam den Mann bei der Kehle zu packen, streute ihm gleichzeitig bereitgehaltenen Kalkstaub in die Augen, blendete ihn so und gestattete uns, ihm unbemerkt beizubringen. – Der Russe, von einer solchen Übermacht niedergerungen, war blitzschnell in das Zimmer gezerrt und gefesselt und geknebelt worden, wurde so in das Bett gelegt und mit dem Zudeck bedeckt.

Dann verschwanden wir ebenso lautlos durch die Geheimtür. Fand man jetzt den überwältigten Posten, so würde man annehmen, daß Herr von Zechanowski durch die Tür nach dem Flur entwischt sei; niemand würde unter diesen Umständen an einen geheimen Ausgang denken. –

Ich übergehe die Wiedersehensszene zwischen den endlich vereinten Eheleuten, will nur erwähnen, daß es noch Stunden dauerte, bevor wir uns schlafen legten, und daß der Schloßherr seinen Bruder keines Blickes würdigte, nur sagte, die große Abrechnung sollte am nächsten Morgen vorgenommen werden.

Ein Schurke stand vor seinen Richtern. Das Tribunal bestand aus allen denen, die in dem unterirdischen Gange einen sicheren Schlupfwinkel gefunden hatten.

Es war ein Tribunal, das den Elenden nur moralisch richten wollte. Herr von Zechanowski spielte den Ankläger, unterstützt von seiner Frau.

Was bekamen wir da alles zu hören –!! Wir wußten ja bereits von einigen Schandtaten dieses vollendeten Heuchlers, erkannten aber jetzt erst seine ganze unglaubliche Verworfenheit.

Er versuchte nicht zu leugnen. Mit gesenktem Kopf stand er da, stumm, bleich, ein verkörpertes Bild der Angst und ohnmächtigen Grimmes. –

Sein ganzes Sinnen und Trachten war darauf gerichtet gewesen, das Majorat an sich zu bringen. Er hatte durch gefälschte Schriftstücke den Bruder als deutschen Spion hingestellt, der nur nach Warschau gekommen wäre, um zum Schaden Rußlands dort tätig zu sein; weiter hatte man auch auf seine Veranlassung hin das Schloß sofort nach Kriegsausbruch besetzt und Frau von Zechanowski und Danilo gefangengenommen, ebenso auf seine Bitte hin das Schloß vor einer Plünderung geschützt. – Schon dies bewies deutlich, welchen Einfluß er bei den Russen besaß und daß er bereits im Frieden verräterische Beziehungen zu den russischen Militärbehörden unterhalten hatte. Letzteres gab auch die Erklärung für all das ab, was uns bisher noch dunkel geblieben war.

Der Schurke war seit langem russischer Spion. Dies hatte Frau von Zechanowski bereits ein halbes Jahr vor dem Kriege erkannt, hatte aber umsonst versucht, auch ihren Gatten hiervon zu überzeugen. Dann war der Verräter acht Tage vor Ausbruch der Feindseligkeiten unerwartet in Madauen erschienen, wo er offenbar an der Grenze heimliche Zusammenkünfte mit russischen Agenten gehabt hatte. Und damals gelang es Frau von Zechanowski, dem von ihr beargwöhnten Schwager einen Umschlag mit Schriftstücken zu entwenden, aus denen klar hervorging, daß er nicht nur als Spion in russischem, sondern auch in englischem Solde gestanden und England mit wichtigen Nachrichten über innerpolitische Vorgänge im Zarenreiche versorgt hatte. Diese Papiere öffneten nun auch endlich dem vertrauensseligen Majoratsherrn gründlich die Augen. Er schwieg jedoch vorläufig und verbarg den Umschlag mit den Schriftstücken in einer im Herrenzimmer stehenden Truhe. – Anton von Zechanowski ließ sich nichts anmerken, daß der Diebstahl der Papiere ihn aufs höchste beunruhigte, blieb noch drei Tage in Madauen und reiste dann angeblich nach Königsberg ab. Sein Bruder sah ihn erst in Warschau wieder – in seiner Gefängniszelle, wo der Elende sich einfand, um den Bruder zu überreden, ihm das Versteck jenes wichtigen Umschlags anzugehen, wofür er ihm seinerseits zur Freiheit verhelfen würde. Er hatte also von vornherein den Schloßherrn im Verdacht gehabt, ihm die Papiere entwendet zu haben, suchte sich nun auf diese Weise wieder in ihren Besitz zu bringen, wobei er natürlich nie ernstlich die Absicht gehabt hatte, sein Versprechen, dem Bruder die Flucht zu ermöglichen, auch wirklich einzulösen. Dies hatte der Majoratsherr auch sofort durchschaut und gedroht, den Russen von dem Doppelspiel des Schurken Mitteilung zu machen, falls dieser nicht dafür sorge, daß die Verhandlung gegen ihn zum mindesten hinausgeschoben wurde. – So war es gekommen, daß Herr von Zechanowski durch des Bruders Einfluß leidlich gut behandelt worden war, so war es aber auch zu erklären, daß jener veranlaßt hatte, die nicht länger hinauszuschiebende Standgerichtssitzung in Madauen stattfinden zu lassen, da er hoffte, hier Mittel und Wege zu finden, dem Bruder das Geheimnis des Verstecks der Papiere irgendwie zu entlocken.

Nach diesem Versteck hatte er inzwischen heimlich aufs eifrigste gesucht. Er hatte sich in der nahen Grenzstadt Poladze einquartiert und war stets zu Pferde nach Madauen geritten. Das Pferd stellte er in nächster Nähe bei einem polnischen, ihm treu ergebenen Bauern unter. – Zu diesen Angaben bequemte er sich, als er einsah, daß seine Sache doch verloren war.

Er fand endlich auch den Umschlag, prallte aber, als er frohlockend das Schloß wieder verlassen wollte, mit Topp vor der Tür des Herrenzimmers zusammen, was für ihn recht unangenehme Folgen hatte. Die Schriftstücke hatte Topp jetzt im Besitz, und der Verräter selbst stand gefesselt uns gegenüber. –

Damit war sein Schuldkonto jedoch noch lange nicht zu Ende. Er hatte sich in Hilde verliebt. Als sie ihn abwies, begann er gegen Markwart zu intrigieren, verdächtigte ihn bei dem Schloßherrn, operierte auch hier mit gefälschten Briefen, die scheinbar bewiesen, daß der Oberinspektor sich grobe Unredlichkeiten hatte zu Schulden kommen lassen.

All diese Schurkereien hielt ihm sein Bruder nun zum Schluß mit folgenden Worten vor:

„Ein Abgrund von Verworfenheit tut sich vor uns auf! Eine Bestie in Menschengestalt sehen wir vor uns, die nicht nur dem Bruder nach dem Leben trachtete, – nein, sogar ein unschuldiges Kind dem sicheren Tode des Erfrierens und Verhungerns überliefern wollte! – Von diesem Augenblick an habe ich keinen Bruder mehr! Jedes Band zwischen uns ist zerschnitten. Gott wird Dich strafen, ebenso wie er uns auf wunderbare Weise durch diese beiden wackeren Landsleute gerettet hat!“ –

Damit war diese denkwürdige Gerichtssitzung zu Ende. – –

Auch meine Schilderung unserer seltsamen Erlebnisse kann ich hiernach dem Schluß entgegenführen.

Noch vier Tage mußten wir in unserem Versteck ausharren. Inzwischen hatten wir bereits alle Vorkehrungen getroffen, nachts das Schloß zu verlassen und zu Fuß uns bis zu den deutschen Vorposten durchzuschlagen, deren Stellung Topp und ich auf zwei langen Patrouillengängen ausgekundschaftet hatten, so daß ein Mißlingen dieser Flucht kaum zu befürchten war. Wir wollten nur noch eine Nacht abwarten, in der mit Schneefall zu rechnen war, damit unsere Spur verweht und uns das passieren der russischen Linien erleichtert würde.

Dieser Nachtmarsch blieb uns erspart. Die Winterschlacht in Masuren verscheuchte eines Nachmittags auch Hals über Kopf das russische Wachkommando, von dem wir in diesen vier Tagen in unserem unterirdischen Versteck in keiner Weise belästigt worden waren.

Der näher und näher rückende Kanonendonner, den wir selbst in unserem Schlupfwinkel vernahmen, belehrte uns, was draußen vorging.

Gegen sechs Uhr abends an diesem Tage waren Topp und ich wie immer in den Pavillon hinaufgestiegen und hatten die ersten deutschen Kavalleriepatrouillen beobachtet, die sich vorsichtig dem von den Russen bereits geräumten Schlosse näherten.

Eine halbe Stunde später waren wir erlöst – frei, – begrüßten jubelnd unsere wackeren Ulanen, die ihren Augen kaum trauten, als ihnen hier wohlbehalten eine ganze Gesellschaft von Landsleuten entgegentrat –

Und wieder drei Tage darauf wurde Anton von Zechanowski standrechtlich erschossen. Das Schicksal, das er seinem Bruder zugedacht hatte, ereilte ihn selbst. Ohne Reue trat er den letzten Gang an. –

Topp und ich erhielten vom Armeeoberkommando sofort vierzehn Tage Erholungsurlaub, den wir in Madauen als Gäste unseres Freundes, des Schloßherrn, verbrachten, wurden außerdem Gefreite und mit dem Eisernen Kreuz „in Anerkennung besonderer Umsicht und Tapferkeit“ ausgezeichnet.

Diese zwei Wochen genügten, aus Hilde und mir ein seliges Brautpaar zu machen. Freilich – der Abschied nachher, als wir wieder zur Truppe mußten, war doppelt schwer.

Ein halbes Jahr lang haben Topp und ich uns dann noch mit den Rußkis herumgeschlagen, bis uns dieselbe heimtückische Granate wieder in den unbedeutenden Zivilistenstand zurückbeförderte; mir zerriß ein Splitter den linken Oberarm derart, daß ich jetzt nur noch die rechte Hand gebrauchen kann; die andere ist wie der ganze linke Arm gelähmt; Topp hatte noch größeres Pech. Er trägt jetzt ein künstliches rechtes Bein, ist aber trotzdem der alte geblieben. –

Unlängst haben wir unseren Stammhalter getauft. Es war ein großes Fest. Die ganzen Madauer Freunde waren erschienen – mit zahlreichen Paketen, die es uns möglich machten, unsere Gäste gut zu bewirten.

Hilde sieht in ihrem Mutterglück noch reizender als früher aus.

Mein Ältester hat die Namen Tobias, Peter, Berd erhalten. Aber Hilde hat sich ausbedungen, daß er nicht Topp in der Abkürzung genannt wird. „Es klingt doch zu komisch“, hat sie gemeint.

Frauen sind nun mal so –

Außerdem hat ihr der große Topp recht gegeben, freilich mit seinem diabolischen Grinsen und den Worten: „Rufen sie ihn Töppchen, Frau Hilde, das klingt weicher und zärtlicher –!“ –

Hiermit schließe ich die Geschichte des gesperrten Schlosses –

 

Ende.

 

Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

 

Verlagswerbung:

Preis 1 Mk. und 25 Pfg. Teuerungszuschlag.

Zu beziehen durch jede Buchhandlung sowie vom Verlag.
Verlag Moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 14.

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „einen“.
  2. Der Baschlik ist eine kapuzenartige Haube mit zwei langen Zipfeln, die wie ein Schal um den Hals geschlungen werden können. Siehe auch Wikipedia: Baschlik.
  3. Gemeint sind damit Temperaturen unter Null, also Minusgrade.