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Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin SO, Michaelkirchstraße 23 a
Roman von Walther Kabel.
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Verlag: Verlag moderner Lektüre Max Lehmann, Berlin SO 16 – Druck: Buchdruckerei Kurt Lehmann, Berlin SO 16. –
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Verlag moderner Lektüre Max Lehmann, Berlin SO 16, Michaelkirchstraße 23a.[1]
Egon Sermo kam vom Strande. Er war ein Frühaufsteher, hatte seinen Morgenspaziergang bereits hinter sich, obwohl es erst halb acht war. Und das ist für ein Seebad noch nachtschlafende Zeit, besonders für eins wie Laggow, wo man sich mehr zerstreuen als erholen will.
Sermo bog in den Südpark ein, ging an dem hohen Bau des Warmbades vorüber und die Hauptpromenade entlang.
Alles wie ausgestorben noch. Ein altes Weib fegte die Wege, ein Stubenmädchen eilte vorüber, in der Ferne klingelte ein Milchwagen … und die nahe See rauschte leise, in den Blättern raunte und wisperte es, Sonnenstrahlen glitten durch die Baumkronen und malten helle Flecken auf den Boden. Jedem, der die Natur nur etwas liebte, hätte das Herz aufgehen müssen. Sermo war Naturschwärmer. Aber er fühlte heute nichts als die Sorgenlast, die ihm das Herz zusammenzudrücken schien, und Hunger – Hunger!
Mit gesenktem Kopf schritt er dahin, wie ein Wanderer nach weitem Wege. Und er dachte stets dasselbe: „Gestern waren’s etwa zwanzig Personen gewesen, darunter sicher die Hälfte mit Freikarten, vorgestern etwa fünfundzwanzig … und heute bei diesem prachtvollen Wetter würden’s wahrscheinlich nur zehn sein …“ Und wenn er jetzt in sein armseliges Stübchen in dem verwitterten, poetischen Fischerhause zurückkehrte, würden auf dem Tischchen das Kännchen mit dem dünnen Kaffee und der Teller mit den zwei trockenen Brötchen stehen … Immerhin etwas Genießbares!
Rechterhand lugten durch das Grün die Vorderfronten weißer Villen. Wie gut es doch Leute hatten, die dort absteigen konnten – – – Aber Egon Sermo scheuchte den Neid schnell wieder in den hintersten Winkel seines sorgenbeschwerten Herzens zurück. Er hatte sich sein Schicksal ja selbst bereitet. Er könnte jetzt auch dort in einer der Villen der Bedienung klingeln und sich ein großartiges Frühstück bestellen … bestellen … – könnte …!
Er nahm den Strohhut ab. Ihm war plötzlich ganz heiß geworden. Ein Gedanke war durch sein müdes Hirn gehuscht … Wenn er eine Depesche schickte. Es würde das erstemal sein, seit er nicht mehr mit den Seinen in Verbindung stand. Sie würden ihm Geld senden, ohne Zweifel. Neunzig Pfennige besaß er gerade noch für das Telegramm …
Er preßte die Lippen zusammen. Niemals – niemals! Damit sie zu Hause triumphieren konnten! Nein – soweit war es denn doch noch nicht …!
Er beschleunigte unwillkürlich seine Schritte. Wenn er die Brötchen und den Kaffee im Magen hätte, würde er die Welt wohl wieder mit anderen Augen anschauen. Was der Hunger nicht alles fertig bringt! Depesche – lächerliche Idee!
Das Fischerhäuschen lag ziemlich am Ende des Ortes hinter einer Düne. Auf hohen Stangen trockneten die Netze dicht davor, zwei Boote lagen frisch geteert im Sande.
Die alte Frau saß vor der Tür und befestigte Köderfischchen auf den Haken der Dorschangeln. Die Arbeit ging ihr flott von der Hand. Auf Egon Sermos freundlichen Morgengruß antwortete sie mit einem Brummen. Er war mit fünfundzwanzig Mark Miete im Rückstand …
Sermo trat in den kleinen Flur und öffnete links eine niedrige Tür. Sein erster Blick fiel auf den Tisch. Der Morgenkaffee war noch nicht da, sein zweiter traf das verkniffene, faltige Gesicht Basil Olfers, der auf dem kleinen harten Sofa saß und einen Zigarrenstummel im linken Mundwinkel hatte.
„Morgen, Sermo.“
„Morgen.“ Sie reichten sich die Hand. Sermo warf Hut und Stock auf das noch ungemachte Bett.
Basil Olfer, der Komiker, deutete auf ein paar Brotkrümel, die auf der roten Tischdecke lagen.
„Die Reste Ihres Frühstücks, Sermo!“, meinte er mit kläglicher, schuldbewußter Miene. „Ich kam vor vier Minuten etwa her, sah die köstlich gelbbraunen Semmeln, und die hungernde Bestie in mir siegte über alle Bedenken …“
Sermo schaute den Kollegen ärgerlich an. Dann lächelte er. „Vielleicht hätte ich das ebenso gemacht.“
„Das glaube ich nicht. In meiner Handlungsweise ist eine feine Abtönung edelster Menschenfreundlichkeit, auf die Sie wahrscheinlich nicht gekommen wären: ich habe das Tablett mit dem leeren Teller und dem leeren Kännchen in die Küche Ihrer fischduftenden Wirtin getragen, um Ihnen nicht durch den Anblick der Öde auf besagtem Tablett das Herz schwer zu machen. Eigentlich hätte ich auch die Krümel entfernen sollen …“ Und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Meine edle, adlige Wirtin, Frau von Zalewska, hat mich heute morgen sieben Uhr an die Luft gesetzt. Ich bin augenblicklich obdachlos. Meinen Koffer hat sie zurückbehalten. Sermo, ich kenne das aus Erfahrung, das ist der Anfang vom Ende. Wenn Basil Olfer keinen Kredit mehr hat, dann kracht die Kunstbude in den nächsten Tagen zusammen.“
Sermo nickte nur. Das Lächeln war von seinem Gesicht längst wieder verschwunden. Dann öffnete er das eine Fenster und rief Frau Zechke zu: „Kann ich noch eine Portion Morgenkaffee bekommen, liebe Frau Zechke?“
„Ja, jetzt hab’ ich zu tun, und wenn Sie nicht …“ Das weitere verstand er nicht. Er hatte das Fenster schnell zugeschlagen.
Der Komiker tat, als zerdrücke er eine Träne im Auge. „Ach über diese verruchte Welt! Aber warten Sie, Sermo, ich hole Ihnen schnell vom nächsten Bäcker ein paar Brötchen, notabene, wenn Sie noch Geld haben! Ich besitze gerade noch eine Dreipfennigmarke, der auch bereits das wertvollste fehlt – der Klebstoff.“
Sermo dachte an die Depesche. Nur einen Moment, dann warf er Olfer das Geld hin – neunzig Pfennig!
„Vorwärts – und für den ganzen Mammon, damit wir mal wieder satt werden.“
Basil Olfer stürzte im bloßen Kopf davon. Nach zehn Minuten war er wieder da, brachte eine große Papiertüte und einen – leichten Fuselgeruch mit.
Er schüttete die Brötchen auf den Tisch, reihte sie in drei Gliedern auf und sagte kopfschüttelnd: „Wie zerstreut man doch zuweilen sein kann! Ich habe mich zuerst in dem Laden geirrt. Es war eine Kneipe, wie ich zu spät erkannte. Aus Anstand mußte ich drei Kümmel trinken. Dann erst fand ich den Bäcker.“
Und mit großartiger Handbewegung: „Greifen Sie zu, Sermo! Die Pferde sind gesattelt.“ Er biß in eine Semmel hinein und fuhr fort: „Übrigens bin ich eine Ausnahme von der Regel. Die Regel lautet: Alle Säufer haben rote Nasen, Backenbärte und schwimmende Augen. Trifft bei mir nicht zu.“
Er ließ sich wieder in die Sofaecke fallen. Und eifrig kauend, sagte er dann:
„Haben Sie nicht mal Jura studiert, Sermo?“
„Das wissen Sie doch!“, meinte Egon Sermo achselzuckend.
„Ich weiß aber nicht, wie weit Sie es als Jurist gebracht haben.“
„Was soll das? – Nun, ich war zwei Jahre bereits Referendar, als …“
„… als Sie die größte Dummheit Ihres Lebens begingen und – Operettentenor wurden. Hat Ihnen die Juristerei keine Freude gemacht? Es muß doch interessant sein, Verbrecher zu verknacken.“
„Ansichtssache! Und dann, die Juristerei beschäftigt sich auch mit anderen Dingen, lieber Olfer – Zivilprozessen und ähnlichem, was für mich geradezu ein Brechmittel war. Wenn es mir der Justizminister schriftlich gegeben hätte, daß ich mal Untersuchungsrichter werden würde, dann würde ich vielleicht geblieben sein. Die Tätigkeit greift hinein ins sprudelnde Leben, klebt nicht am toten Buchstaben. Für alles andere war ich ein zu unruhiger Geist.“
„Aha!! Großartig! Paßt ausgezeichnet!“, rief der Komiker und nahm die vierte Semmel in Angriff.
Sermo schaute ihn kopfschüttelnd an.
„Was paßt? – Na, reden Sie doch, Olfer! Sie verderben mir durch Ihre Andeutungen die ganze Freude am Schlemmermahl.“
„Kommt schon, kommt schon! – Ich habe da bei der edlen Frau von Zalewska einen Russen kennengelernt …“
„… weiß Bescheid, Arzt aus Moskau.“
„Richtig. Boris Chulusoff heißt der Knabe. Sympathischer Name … Chulusoff … soff … soff!! Gute Zigaretten hat er. Sie haben sie ja selbst geraucht. Zweihundert Stück hat er mir dafür geschenkt, daß ich gestattete, unter meiner Adresse sich Briefe aus Berlin schicken zu lassen.“
„Briefe stimmt nicht ganz“, verbesserte sich Olfer, „es handelte sich nur um Drucksachen, Zeitungen.“
„Immerhin merkwürdig“, meinte Sermo. „Wie hat er denn Ihnen gegenüber sein Ansinnen begründet?“
„Na – er verreist viel, und da fürchtet er, daß ihm in der Pension die Zeitungen nicht sorgfältig genug aufgehoben werden könnten.“
„So, so! – Und weswegen erzählen Sie mir dies, Olfer?“
„Weil ich heute morgen stutzig geworden bin. Bei der Geschichte stimmt irgend was nicht. Sie werden bald merken, warum. – Also, die Zalewska beförderte mich heute in aller Herrgottsfrühe an die frische Luft, da sie meine Bude gerade günstig vermieten konnte. Vor meinem Abgang sagte ich der gütigen Edeldame noch, daß ich jetzt leider für Herrn Chulusoffs Zeitungen nicht mehr die Verantwortung übernehmen könnte. Und bei dieser Gelegenheit platzte die Zalewska mit der Bemerkung heraus, daß der Moskauer Doktor seine ganze sonstige Korrespondenz an sie senden ließe. Da hätte er sich wohl auch wegen der Zeitungen aus Berlin an sie wenden können. Sehen Sie, Sermo, das gab mir einen richtigen Rucker! Mein Zigarettenspender erschien mir plötzlich in etwas eigenartigem Licht; an die Zalewska alle Briefe – denn sie betonte, daß er unter seinem Namen noch nicht ’ne Ansichtskarte erhalten hätte – und an mich Berliner Skandalblättchen, komisch“, sagte der Komiker, „und dies wohl mit Recht!“
„Skandalblättchen? – Wie meinen Sie das?“, fragte Sermo und legte eine angebissene Semmel weg. Er war mit einem Male satt.
„Im ganzen erhielt ich in drei Wochen für Chulusoff sieben Zeitungen.“[2]
„Kam die Zeitung im Kreuzband oder im Umschlag?“
„Letzteres. Aber die Umschläge hatten so dünnes Papier, daß man den Zeitungskopf durchlesen konnte. Übrigens habe ich zwei dieser Sendungen hier bei mir. Chulusoff ist seit drei Tagen wieder in Danzburg, wo er sich im städtischen Krankenhause Operationen ansehen wollte. Ich will ihm die beiden Zeitungen persönlich auszuhändigen, da vielleicht etwas Rauchbares dabei abfällt.“
Sermo trat mit den länglichen Briefen ans Fenster, gab sie dann aber dem Komiker gleich wieder zurück.
„Etwas seltsam kommt mir dieser Doktor auch vor, Olfer“, meinte er gleichgütig. „Aber – ich denke, wir haben mit unseren eigenen Angelegenheiten genug zu tun. Es ist Viertel neun. Um halb beginnt die Probe. Brechen wir also auf.“
Das Laggower Sommertheater, Direktor Blendermann, benutzte die Bühne des erst im Vorjahre fertiggestellten neuen Kurhauses, eines Prachtbaues von sehr eigenartiger Architektur, über dessen Schönheit die Meinungen freilich recht geteilt waren.
Von der hundsmiserablen Akustik konnten auch Sermo und Olfer, die eben den Saal betraten, ein trübes Liedlein singen.
Das Personal, soweit es bei der Probe für eine neue Operette zu tun hatte, war bereits vollzählig versammelt. Nur der Direktor fehlte. Es wurde dreiviertel neun, noch immer nichts von Karl Blendermann, obwohl er doch die Spielleitung hatte.
Man stand auf der Bühne in Gruppen umher. Soeben hatte die komische Alte laut verkündet: „Er ist ausgerückt – paßt auf!“, als der Erwartete in Begleitung des Kurdirektors von der Haupttreppe her den Saal betrat.
Blendermann wirkte neben der hohen Gestalt des Rittmeisters a. D. von Quarg noch kleiner und dicker. Er machte ein Gesicht, als hätte man ihm soeben sein Todesurteil verkündet. Der Kurdirektor war ebenfalls sehr ernst. Seine Verbeugung gegen die Komödianten oben auf der Bühne fiel heute überraschend höflich aus.
Der Direktor blieb mitten vor der Bühne stehen, nickte den Schauspielern kurz zu, nahm den Hut ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und begann:
„Kinder, um es gleich zu sagen: die Geschichte hier ist aus! Ich bin ausgepumpt! Zehntausend Mark habe ich besessen, als ich am fünfzehnten April nach Laggow kam. Jetzt ist das Geld futsch, und ich schulde noch an Gagen einige neunhundert Mark. Das Wetter trägt hauptsächlich die Schuld. Seit vierzehn Tagen hat es keinen Tropfen geregnet. Wer geht an so schönen Juniabenden ins Theater? Und noch in einen Raum wie diesen, wo die verdammten hellblauen Vögel das Publikum erwarten und jeder Kalauer vorn am Souffleurkasten buchstabiert werden muß, weil ihn sonst die famose Akustik auffrißt. Also, Kinder, ich bin pleite, total! Und auch die Kurdirektion hilft mir nicht aus der Patsche heraus.“
Herr von Quarg räusperte sich laut, und klemmte das Monokel fester.
„Sie denkt gar nicht daran“, fuhr Blendermann mit erhobener Stimme fort, sich schnell in Wut redend. „Sie hat mich unter falschen Versprechungen hergelockt. Dies hier ist kein Theatersaal, dies ist eine Bude, in der man heulende Derwische, Feuerschlucker und ähnliche Künstler auftreten läßt, nicht aber eine Operettengesellschaft!“
Herr von Quarg machte kurz kehrt und verließ den Saal. Und der arme Direktor sprach weiter, schimpfte, jammerte, tröstete und erklärte zum Schluß, daß er bereits abends abreise, nach Kolberg, wo er für den erkrankten Charakterdarsteller einspringen könne.
Still ging das Komödiantenvölkchen auseinander. Jeder wußte, daß Blendermann ein ehrlicher Kerl war und die Wahrheit gesagt hatte. Die meisten ahnten nicht, wovon sie die nächste Woche leben sollten. Alle waren gedrückter Stimmung. Aber nicht verzweifelt. Wozu waren sie denn Künstler?! Das Leben schwer zu nehmen war eine Dummheit, man verhungert nicht so leicht in einem geordneten Staatswesen.
Sermo und Olfer blieben zusammen. Schweigend gingen sie durch den Kurgarten auf den Seesteg hinaus bis zum äußersten Ende, wo die Dampferanlegestellen sich zu beiden Seiten befanden und soeben der Tourdampfer nach der am Horizont gerade noch sichtbaren Insel Halen festgemacht hatte, um die Laggower Fahrgäste aufzunehmen.
Der Dampfer hatte einen Verein an Bord und aus diesem Grunde auch eine Musikkapelle, die ein Potpourri spielte. Er kam von Danzburg, der nächsten größeren Hafenstadt.
Olfer pfiff die Melodie mit: „Freut euch des Lebens, so lange noch …“ „den schönsten Platz, den ich auf Erden hab, das ist die Rasenbank am Elterngrab …“
„Paßt glänzend zusammen!“, meinte der Komiker. „Und paßt auch für uns! Theaterpleite – freut euch des Lebens – Elterngrab!! Mensch, was willst du noch mehr!!“
Sie standen an der Brüstung des Steges und schauten auf die geputzten Menschen herab, die den Dampfer füllten.
„Was nun?!“, fragte Sermo kleinlaut. „Was gedenken Sie zu tun, Olfer?“
„Still, still – ich brüte“, erwiderte er nachdenklich. „Ich brüte eine Idee aus … die Musik hat mir einen Gedanken eingegeben – das Potpourri mit seiner bunten, unsinnigen Folge von Melodien … Bunte Bühne – Kabarett – hm – es käme auf einen Versuch an. Will doch gleich mal mit dem Kurdirektor sprechen. Warten Sie hier auf mich, Sermo. Das Ei darf nicht kalt werden … Vielleicht ernährt es uns und einige Kollegen.“
Er eilte hastig davon.
Der Tourdampfer fuhr ab. Natürlich spielte die Musik: Muß i denn, muß i denn zum Städtle hinaus …
Egon Sermo setzte sich auf die nächste Bank und überdachte seine Lage. So schlecht wie jetzt war es ihm noch nie ergangen, noch nie …! Was sollte werden? Ein anderes Sommerengagement? Ausgeschlossen! Am achtzehnten Juni! Und Olfer würde mit seiner Idee sicher auch kein Glück haben. Der Gedanke an sich war ja ganz gut … und der Komiker besaß auch Organisationstalent. Aber … es gab eben so verschiedene Aber dabei …
Ein leichter Parfümgeruch umwehte Sermo. Er schaute auf, eine Dame war vorübergegangen. Er erkannte sie sofort, lächelte traurig …
Bei Blendermanns „Kindern“ hatte diese schlanke, schöne Frau nur der „Stammgast“ geheißen, eben weil sie fast jeden Abend den blauen Vögeln und der Akustik zum Trotz die Vorstellungen besucht hatte.
Die Soubrette wollte wissen, daß es eine Witwe wäre, obwohl sie so jung schien, so sehr jung.
Egon Sermo hatte sich um diese Frau nie gekümmert. Wenn es gerade der Zufall fügte, hatte er sie hin und wieder verstohlen betrachtet. Doch nur weil sie eben der „Stammgast“ war. Jedenfalls nahm er kein persönliches Interesse an ihr, wie er ja überhaupt, was die holde Weiblichkeit anbetraf, alle althergebrachten Ansichten über einen Operettentenor völlig umwarf. Vielleicht wurde er aber gerade deshalb das Ziel zahlloser, duftender Brieflein, und sehnsüchtiger Blicke. Beide ließen ihn kalt. Er hatte seine guten Gründe dafür. Nur zum Teil war’s Charakterveranlagung.
Die Dame trug heute weiße Leinenschuhe, weißen Leinenrock und eine schlichte, weiße Spitzenbluse. Dazu den Kopf unbedeckt, so daß das aschblonde, gescheitelte Haar mit dem starken, tief aufgesteckten Zopf ganz freilag. Zum Schutz gegen die Sonne bediente sie sich eines violett-roten Schirmes mit sehr langer Herrenkrücke. Ein Hauch von Vornehmheit umgab sie. Dafür hatte Sermo Verständnis.
Sie stand jetzt mit dem Rücken nach ihm hin auf dem Stegkopf, schaute offenbar dem Dampfer entgegen, der von der Insel Halen her sich jetzt der Landungsbrücke näherte.
Sermo wußte, daß es der zweite Tourendampfer war, der den Verkehr nach dorthin vermittelte, daß er um sieben Uhr früh regelmäßig den Hafen der Insel verließ, gegen zehn in Laggow war und „Drache“ hieß, ein sehr häßlicher Name für das mit allem Komfort eingerichtete Vergnügungsschiff.
Die Dame zeigte ganz deutlich einen gewisse Unruhe, wechselte des öfteren ihren Platz, sprach mit dem Fahrkartenkontrolleur der Dampfergesellschaft, der in einer kleinen Holzbude saß, und hob dreimal die rechte Hand, um nach der goldenen Armbanduhr zu sehen.
Außer ihr befanden sich kaum zwei Dutzend Menschen auf dem Steg. Zumeist wohl Badegäste, die den Dampfer zur Fahrt nach dem zweiten größeren Seebad an der Ostseite der weiten Bucht benutzen wollten.
Der Dampfer legte an. Er war nur schwach besetzt. Vielleicht zehn Personen stiegen hier aus.
Die Dame hatte sich an das Fahrkartenhäuschen gestellt und sich die Leute angesehen, die die breite Holztreppe von der tiefer gelegenen Dampferbrücke heraufkamen. Sie hatte jemand erwartet, ohne Zweifel. Und sie stand noch immer dort, obwohl jetzt bereits die Laggower Fahrgäste durch die Sperre hindurch gelassen wurden.
Dann geschah etwas Besonderes. Sermo hörte lautes Rufen. Es kam vom Deck des „Drachen“ her, und er glaubte das Wort tot oder ein Toter zu verstehen. Neugierig erhob er sich, ging bis ganz vorn und beugte sich über das Geländer.
An der geöffneten Reeling des Dampfers, durch die die Laufplanke nach der Brücke hinüberführte, standen der Kapitän, der Steuermann und ein Junge mit einer Goldborte an der Mütze. Der Kapitän machte ein wütendes Gesicht und der Junge bewegte fortwährend die Lippen, war ganz blaß und deutete wiederholt nach dem Hinterschiff. Was die drei besprachen, war oben auf dem Steg nicht zu verstehen. Aber Kapitän und Steuermann waren offensichtlich gleich ratlos, was sie tun sollten.
Egon Sermo folgte einer Eingebung des Augenblicks, drängte sich durch die vor der Treppe aufgereihten Gaffer hindurch, nickte dem Fahrscheinkontrolleur kurz zu und eilte die Holzstufen hinab, schritt über die Laufplanke und lüftete leicht den Strohhut.
„Ich vermute, daß hier an Bord irgend etwas geschehen ist, Herr Kapitän. Ich bin früher Jurist gewesen. Wenn ich Ihnen vielleicht irgendwie behilflich sein kann …“
Die drei von der Besatzung des „Drachen“ musterten den gutgekleideten Herrn erst erstaunt, dann aber mit freundlichen Blicken, und der breitschultrige Kapitän erwiderte schnell:
„Eine widerwärtige Geschichte, Herr. Unten im Salon hat sich jemand erschossen während der Fahrt. Der Schiffsjunge hat’s eben erst bemerkt.“
„Ein Mann ist’s“, fügte der kleine Bursche hinzu, „und mit ’nem Revolver.“
„Kann ich mal in den Salon hinunter?“, meinte Sermo.
„Bitte, ich komme mit“, unterbrach ihn der Kapitän, „ich war auch noch nicht unten.“
Der Salon war ganz in Rot gehalten. Zwischen den beiden langen Tafeln lag auf dem Teppich ein mittelgroßer, anständig gekleideter Mann, daneben ein Revolver. Schon von der Tür aus sah Sermo die Wunde in der rechten Schläfe.
Der Mann lag halb auf der linken Seite und hatte die Beine etwas angezogen. Die Augen waren weit aufgerissen und verglast. Der Tod war ohne Frage bereits eingetreten.
Sermo schaute sich prüfend um. Rechts auf der Polsterbank, die sich die Wand entlang zog, stand eine Handtasche, auf der eine schwarz und grau karierte Reisemütze lag. Die Sachen gehörten sicherlich dem Selbstmörder.
„Schließen Sie den Salon ab und lassen Sie alles so, wie es ist“, sagte Sermo zu dem Kapitän. „Der Mann ist tot. Erstatten Sie nach Ankunft in Danzburg sofort Anzeige. Kennen Sie den Herrn?“
„Nein. Der Schiffsjunge meint, der Mann wäre erst vor vier Tagen mit uns nach Halen gefahren und hätte dort im Kurhaus gewohnt. – Also Sie raten mir, ruhig abzufahren?“
„Gewiß, die Hauptsache ist, daß niemand mehr den Salon betritt.“
„Gut. Danke sehr, mein Herr. Vielleicht dürfte ich um ihren Namen bitten – für alle Fälle.“
„Egon Sermo, Operettentenor des Laggower Sommertheaters.“
Der Kapitän und der Steuermann machten mit einem Male sehr lange Gesichter.
„Sie sagten doch, Sie wären Jurist“, meinte der Kapitän zögernd.
„Gewesen – gewesen! Tun Sie jedenfalls, was ich Ihnen riet. Dann werden Sie keine Ungelegenheiten haben.“
Als Sermo die Treppe zum Steg wieder hinaufging, kam ihm Basil Olfer ein paar Stufen entgegen.
„Da soll sich ja jemand erschossen haben, Sermo! Stimmt’s?“, fragte er ganz laut. „Haben Sie den Toten gesehen?“
„Ja, aber kommen Sie! Sonst stürzt sich die ganze sensationshungrige Rotte auf mich, wofür ich danke.“
Er entging ihr doch nicht. Zuerst stellte ihn der Fahrscheinkontrolleur. Sermo antwortete nur mit einem Kopfnicken. Als zweiter drängte sich ein älterer Herr an ihn heran, offenbar Provinzonkel. Auch er wurde mit ein paar knappen Worten abgespeist. Und während Sermo dies in nicht sehr freundlichem Tone tat, fühlte er geradezu, daß ein Augenpaar durchdringend auf ihm ruhte.
Er blickte auf. Kaum drei Schritte von ihm stand die Dame, „der Stammgast“, neben dem Kurdirektor, der gerade halblaut etwas zu ihr sagte. Doch sie schien gar nicht hinzuhören, hatte nur Interesse für Sermo und offenbar für die kurze Auskunft, die er dem älteren Herrn gab. In ihren, von langen, dunklen Wimpern halb beschatteten Augen lag ein rührender Ausdruck von heimlicher Angst und verzweifelter Hilflosigkeit. Sermo hätte nicht Schauspieler sein müssen, wenn er diesen Ausdruck nicht richtig hätte einschätzen können.
Jetzt begegneten sich die Blicke dieser beiden Menschen. In den seinen war vielleicht zu deutlich ein stummes Forschen. Jedenfalls schoß der Dame plötzlich das Blut ins Gesicht und sie wandte schnell den Kopf zur Seite.
Egon Sermo hatte sie heute zum ersten Male aus nächster Nähe genau betrachtet. Und da war in seinem Geist unvermittelt eine ganz, ganz schwache Erinnerung aufgetaucht … Während er jetzt neben Basil Olfer den Steg hinunterschritt, setzte sich der Gedanke immer klarer in ihm fest: du kennst diese Frau von früher her, du bist ihr schon einmal im Leben begegnet … Aber der Komiker ließ ihm keine Ruhe zum Grübeln. Er hatte den Selbstmörder längst wieder vergessen über der bunten Bühne. Sein altes, faltiges Gesicht strahlte. Er war jetzt so recht in seinem Element.
„Sermo, ich sage Ihnen, dieser Reminghoff ist ein Geschäftsmann aus dem ff“, begann er. „Kaum hatte ich ihm meinen Plan entwickelt, als er auch schon so vollkommen im Bilde war, als wäre er sein Leben lang Variete-Direktor gewesen. Morgen abend fangen wir an, aber in der ersten Etage im Cafe. Vorläufig acht Tage auf Probe gegen freie Verpflegung und fünf Emm pro Tag. Für Plakate und alles andere sorgt Reminghoff. Außer uns beiden sollen noch mitmachen: die Gunnar, die kleine Lenz, Heinrize, Orlegg und Brinkmann als Kapellmeister. Wir müssen diese fünf sofort aufsuchen, sonst verkrümelt sich diese Bande womöglich nach anderen Weltgegenden.“
Hinter ihnen auf den Stegplanken erklang ein eiliger, fester Schritt.
„Pardon, einen Augenblick, meine Herren.“ Es war der Kurdirektor.
„Habe da soeben gehört, daß sich auf dem „Drachen“ jemand erschossen hat“, wandte er sich an Sermo. „Haben Sie den Selbstmörder gesehen? So, bitte beschreiben Sie ihn mir doch. Ein Bekannter von mir wohnt zurzeit auf Halen, und … man kann nie wissen …! Ich bin etwas in Sorge jedenfalls.“
Sermo schaute dem langen Rittmeister prüfend in das rotbraune Gesicht. Um Quargs Lippen spielte sonst immer ein Lächeln, das zum Teil verbindlich, zum Teil hochmütig und ein wenig blöde-blasiert war. Heute besaß er für Sermos Luxaugen noch eine weitere Schattierung, leichte Verlegenheit – und die kam auch in der ganzen Art und Weise zum Vorschein, wie der Rittmeister a. D. seine Bitte um nähere Beschreibung des Selbstmörders vorbrachte.
Quarg log. Die Geschichte von dem Bekannten in Halen hatte er erfunden. Das stand bei Sermo fest. Und sofort dachte er an die Dame, den „Stammgast“; der Sache wollte er doch mal auf den Grund gehen.
Die prüfenden Augen des Tenors waren dem Kurdirektor sichtlich unangenehm. Das eingefrorene Gewohnheitslächeln wurde noch um eine Kleinigkeit verlegener.
Nun, Sermo hatte keinen Grund, die Auskunft zu verweigern. Und so erwiderte er denn: „Der Herr mag etwa vierzig Jahre alt gewesen sein, trug einen blonden Spitzbart, gescheiteltes Haar von derselben Farbe und war in einen schwarz und grau karierten Anzug gekleidet. Seine gelben Schnürstiefel hatten amerikanische Form, sehr breit, kurz und dicksohlig.“
Quarg markierte ein erleichtertes Aufatmen.
„Gott sei Dank, er ist es nicht! – Ich bin Ihnen sehr verbunden, Herr Sermo. Morgen, meine Herren.“
Er ging auf eine der Bänke zu, die hier dicht am Kurhause in zwei Reihen auch in der Mitte des Steges standen, setzte sich und vertiefte sich in eine Zeitung.
Der Komiker nahm seine Schilderung der näheren Ausführung seiner glänzenden Idee wieder auf. Als die beiden Schauspieler dann aber hinter die Südkolonnade des Kurgartens verschwunden waren, wo man sie vom Steg aus nicht mehr sehen konnte, blieb Sermo plötzlich stehen und fiel dem Kollegen etwas rücksichtslos ins Wort:
„Schon gut, lieber Olfer. Ich bin überzeugt, die Sache wird klappen. Jedenfalls gebührt Ihnen mein herzlichster Dank, Sie Retter aus bitterster Not. Ich muß mich jetzt aber hier verabschieden, ich habe noch ein kleines Privatgeschäft zu erledigen.“
Dann schritt er der Südkolonnade zu und blickte von hier aus nach dem Steg hinüber. – Herr von Quarg las nicht mehr Zeitung, sondern schlenderte neben der „Dame“ den Steg aufwärts.
Sermo pfiff leise durch die Zähne. Er wußte jetzt Bescheid.
Einige Minuten später hatte er Olfer in der Seestraße wieder eingeholt. Der Komiker stand mit der Soubrette Gunnar vor dem großen Fenster eines Schuhgeschäftes und redete eifrig auf das einfach gekleidete Mädchen ein.
„Ach, da kommt Sermo zum Glück!“, rief er. „He, Sermo, es ist gut, daß Sie mir als Helfer erstehen! Dieses Kind hier fürchtet Mamas Einspruch gegen die Beteiligung an meiner Schöpfung. Ein Unfug, Kleine! Ich werde mit Ihrer Mutter selbst sprechen. Was ist denn dabei, auch einmal als Kabarettsängerin aufzutreten? Mamachen braucht keine Angst zu haben.“
Die Soubrette bedauerte den verkrachten Direktor Blendermann von ganzem Herzen. „Er war wirklich ein anständiger Charakter – aber so schönes Sommerwetter hält kein Sommertheater aus.“
„Uns fehlten eben ein halbes Hundert Stammgäste wie jene Dame, die immer rechts in der Loge saß“, lenkte Sermo das Gespräch geschickt auf den gewünschten Gegenstand.
Sie schaute ihn mißtrauisch von der Seite an. Eine feine Röte war ihr in die Wangen gestiegen.
„Kennen Sie eigentlich den Namen dieser Dame?“, fragte er nach einer Weile.
„Wie – Sie kennen ihn nicht?“, meinte Lotte Gunnar etwas ungläubig.
„Nein – möglich, daß ihn mir jemand von uns mal genannt hat. Aber er ist mir längst wieder entfallen.“
„Woher denn heute gerade Ihr Interesse für den Stammgast?“, fragte sie leise auflachend. „Das Sommertheater ist ja durch den Wettergott ermordet, und der Stammgast wird daher wieder zum bloßen Kurgast.“
„Sehr richtig. Immerhin besteht ja die Möglichkeit, daß die Dame der Bunten Bühne treu bleibt. – Also – wie heißt sie, wer ist sie, und so weiter. Wenn ich mich recht besinne, sagte Olfer, daß Sie hierüber Aufschluß geben könnten.“
Lotte Gunnar merkte, daß Sermo wirklich nicht Komödie spielte. Er kannte den Namen nicht, wußte nichts von jener Frau. Und dies alles war der beste Beweis dafür, daß noch keiner der Kollegen ihm von dem Gerücht Mitteilung gemacht hatte, das in dem Künstlervölkchen der Sommerbühne so und so oft erhört worden war: die Dame sollte lediglich Egon Sermos wegen erscheinen, solle sich in ihn verliebt haben …
Die Hauptsache für Lotte Gunnar aber war, daß er Frau Eva Kaldenhoven doch offenbar genau so gleichgültig gegenüberstand, wie all den anderen weiblichen Kurgästen, die ihn mehr oder weniger aufdringlich anschwärmten.
Lotte Gunnar erzählte jetzt, daß sie der Logenschließerin Frau Gaffke ihre Kenntnis über Frau Kaldenhoven verdanke, da jene mit der reichen Witwe in einem Hause wohne, einer kleinen Villa der Haffnerstraße, in der der Logenschließerin Mann Hauswart, Gärtner und Diener – alles in einer Person – sei. Jedenfalls müsse die Dame wohl sehr vermögend sein, da sie die ganze Villa für den Sommer gemietet und außer Köchin und Zofe auch ein Auto und ihren Schofför aus Berlin mitgebracht habe.
Lotte hätte noch mehr hinzufügen können: daß Frau Kaldenhoven erst 24 Jahre alt sei, daß sie für Arme und Notleidende stets eine offene Hand habe, daß die Frau Gaffke die Freundlichkeit der Witwe gar nicht genug habe loben können, und daß die Mieterin ganz für sich allein lebe und jedem näheren Verkehr aus dem Wege gehe. Aber sie schwieg. So ein bißchen raffiniert war sie auch, wie alle Frauen, wenn sie heimliche Wünsche im Herzen nähren.
Gerade als die Mitglieder der Bunten Bühne, Direktion Basil Olfer, fürstlich Greizscher Hofschauspieler a. D., auf der Terrasse des Kurhauses an einem besonderen Tisch die Suppe von einem sehr hochmütig herabblickenden Kellner serviert bekamen, war die Danzburger Kriminalpolizei an Bord des Dampfers „Drache“ eifrig damit beschäftigt, die Personalien des Selbstmörders festzustellen.
Das war nicht ganz einfach, denn der Tote hatte in der Tasche seines grauen Jacketts ein in Glanzleder gewickeltes Päckchen Papiere bei sich gehabt, unter denen sich auch zwei Auslandspässe befanden, die auf verschiedene Namen ausgestellt waren und deren Persönlichkeit mit dem Äußeren des Toten sehr wenig übereinstimmten. Der Rest der Papiere waren teils chiffrierte Briefe, teils flüchtige Notizen in Chiffreschrift. Im übrigen war aus den beschlagnahmten Sachen nicht das Geringste zu erfahren, weder woher der Mann stammte, noch sonst etwas, das über ihn hätte Aufschluß geben können.
Kriminalinspektor Wangel war selbst auf dem Dampfer erschienen, nachdem ihm der Wachtmeister Kargowski telephonisch gemeldet hatte, daß der Tote offenbar eine etwas geheimnisvolle Persönlichkeit wäre.
Wenn Danzburg auch eine große Hafenstadt war, so ereigneten sich hier doch sehr selten Kriminalfälle, die einem eifrigen Beamten wie Wangel Gelegenheit gegeben hätten, die Wahrheit seiner am Stammtisch oft getanen Behauptung zu beweisen, daß er das Gras wachsen höre.
In dem roten Salon des „Drachen“ hatte er nur sehr bald die Überzeugung gewonnen, daß jetzt endlich der Tag gekommen sei, all die losen Spötter zum Schweigen zu bringen, die Wangel für eine Hauptkraft im Dauerskat, nicht aber im Kampf gegen dunkle Geheimnisse ansahen.
Daheim wartete seiner ein Leibgericht: Brataal mit Gurkensalat! – mochte er kalt werden, mochte die teure Gattin auch noch so zetern über seinen überflüssigen Diensteifer – sie nannte alles überflüssig, was er in amtlicher Eigenschaft außerhalb der Bürostunden unternahm – mochte sie in drei Teufels Namen!! Hier gab es einen Fall, würdig, durch einen Meisterdetektiv aus einem Schlagerfilm bearbeitet zu werden.
Wangel verhörte nacheinander hier gleich an Ort und Stelle den Kajütwärter[3] Fritz Schmucke, fünfzehn Jahre alt, den Steuermann Ehrlich und den Kapitän Ewald.
Mit streng gerunzelter Stirn fragte Wangel jetzt den Kapitän, ob er auch keinen Unbefugten nach Entdeckung des Toten durch den kleinen Kajütwärter in den roten Salon hereingelassen hätte. Er fragte, nur um zu fragen, weil er eben gerade nichts Besseres zu sagen wußte.
So kam es heraus, daß Egon Sermo, Operettentenor, ohne Aufforderung den Dampfer und dann auch den roten Salon betreten hatte.
Wangels Augen wurden größer. – Hm – ein Komödiant! – und dieses merkwürdige Interesse für den Selbstmord! – schon faul!
Wangel notierte sich den Namen.
Dann schickte er Ewald, Ehrlich und den Jungen wieder hinaus.
Kriminalwachtmeister Kargowski hatte während des Verhörs sich immer wieder an der Leiche zu schaffen gemacht.
Jetzt trat er, der früher Gardefeldwebel gewesen war, dicht an seinen Vorgesetzten heran und flüsterte ihm vertraulich etwas ins Ohr.
„Nicht möglich, Kargowski!“, rief Wangel.
Der Wachtmeister beugte sich über den Toten und … zog ihm eine blonde Perücke vom Kopf.
„Und der Bart ist auch falsch“, sagte er ernst.
„Kinder, ich bin satt!“, stöhnte Basil Olfer. „Jetzt fehlt nur noch eine gute Zigarre.“
„Wie im Schlaraffenland!“, lachte Hilda Lenz und deutete auf den Kellner, der mit einer Zigarrenkiste auf dem Tablett sich eben durch die Tische schlängelte.
„Wahrhaftig! Der gute Reminghoff denkt an alles!“, nickte der Komiker wohlgefällig und streichelte sich die Billardkugel, seinen haarlosen Kopf.
Als die Herren der Tischrunde die ersten Züge aus den 30-Pfennig-Zigarren taten, schnitt Sermo die Trinkgeldfrage an.
„Wir müssen doch anstandshalber dem Kellner was geben, wenn wir hier auch Freitisch haben“, meinte er.
„Selbstredend!“, sagte Basil Olfer großartig, griff in die Tasche und holte zu Sermos maßlosem Erstaunen eine Handvoll Kleingeld heraus, legte eine Mark auf den Tisch und erklärte: „Für Sie habe ich mitbezahlt, Sermo!“
Im ganzen kamen so 2,60 Mark zusammen, die der Komiker dem hoheitsvollen Kellner mit den Worten übergab:
„Hier, Freundchen! Und wenn Sie morgen wieder uns mit so ’nem Gesicht bedienen, als wären wir hohe Fürstlichkeiten, in deren Gegenwart man möglichst würdig erscheinen muß, so werde ich mal mit Herrn Reminghoff sprechen, verstanden?“
Der Mann im Frack knickte etwas zusammen, lächelte bescheiden, bedankte sich höflich und verduftete.
Eine Viertelstunde später zerstreute sich die Bunte Bühne. Olfer und Sermo schlenderten durch den Kurgarten an den Strand und legten sich unter den Steg in den Sand. Hier war es wunderbar kühl, und Olfer erklärte sofort, er würde dieses Plätzchen vielleicht auch als Nachtquartier benutzen, – „falls mir Reminghoff in seiner Güte nicht auch noch eine Schlafstelle zuweist.“
Sermo schaute den kleinen beweglichen Mann jetzt drohend an.
„Sie – heraus mit der Sprache, – woher haben Sie mit einem Male das viele Geld?!“, fragte er, dem andern die geballte Faust vors Gesicht haltend.
Olfer seufzte und streichelte wieder seine Billardkugel, was bei ihm stets ein Zeichen von stärkerer Gemütsbewegung war.
„Die gute Hilda!“, sagte er dann leise. „Wirklich ein liebes Tierchen. Ich traf sie gerade beim Kofferpacken. Sie wollte nach Danzburg abdampfen, wo sie den Direktor der Kaiserhallen kennt, und wo sie als japanische Sängerin mit ihrem Kostüm aus der Geisha auftreten wollte. Als ich ihr von meiner Neugründung erzählte, flog sie mir um den Hals. – „Gott sei Dank, Olfer, – der Direktor der Kaiserhallen ist nämlich gräßlich verliebt!“ – Dann schilderte ich ihr unser Semmelfrühstück von heute morgen, und da zog ihren letzten echten Brillantring vom Finger – sechs lagen schon da, wo auch unsere wertvollere Habe gegen Motten konserviert wird – und schickte mich vier Straßen weiter in das uns beiden so vertraute Häuschen, an dem ein so bescheidenes Schild „Pfandleihe“ hängt. Achtzig Mark und den Schein brachte ich Hilda zurück. Sie wollte mit mir teilen, ich nahm aber nur zwanzig – für mich, und hier sind zwanzig für Sie, Sermo! – Los, Söhnchen, – machen Sie keine Geschichten! Stecken Sie den Mammon weg. Ich bitte Sie – unter Kollegen!“
Sermo schob das Geld in die Westentasche.
„Ich würde dieses Darlehen nicht annehmen, wenn ich nicht dazu sehr triftige Gründe hätte“, sagte er mit Betonung. „Sehr triftige sogar. Ich muß heute noch nach Danzburg fahren, um dort der Polizei einen Besuch abzustatten.“
Basil Olfer blieb der Mund offen stehen. „Wie – Polizei?“, meinte er kopfschüttelnd, dann zog er die Augenbrauen hoch. „Aha, wegen Chulusoff, nicht wahr?“, fragte er gespannt.
„Nein, des Selbstmörders wegen!“
Da erst erinnerte sich Olfer des Dampfers.
„Ach so – richtig – das Opfer des roten Salons. Aber trotzdem, was haben gerade Sie damit zu schaffen?“
Egon Sermo schwieg und malte mit dem Zeigefinger Figuren in den weißen Sand. Es wurde schließlich ein Monogramm daraus, ein vielfach verschlungenes E. K. – der Komiker beachtete dies nicht.
„Nun, Sermo?!“, munterte er den Kollegen zum Sprechen auf.
Und Sermo fragte, indem er Olfer ernst anblickte:
„Können Sie ein Geheimnis für sich behalten, auch wenn Sie wieder mal versucht haben, Ihre Nase und Backenpartie ohne Schminke zu röten?“
„Je voller ich bin, desto klarer denke ich. Zuletzt schlafe ich ein. Ein Schwätzer war ich nie!“
„Gut, geben Sie mir Ihre Hand, Olfer, und versprechen Sie mir, zu schweigen und mir auch zu helfen, falls Sie letzteres wollen. Freie Zeit haben Sie ja jetzt genügend.“
„Topp, Söhnchen – abgemacht! Aber nun raus mit der Leberwurst! – oder ist’s ’ne Blutwurst?“
„Die Frage können Sie sich selbst beantworten, wenn ich Ihnen sage, daß …“
Sermo sprach ganz leise. Und Olfer las ihm die Worte voller Interesse fast von den Lippen ab. Dann sagte er: „Donnerwetter, Söhnchen, – die Geschichte hat’s in sich. Gehörig anscheinend!“
„Sie werden also zu der Frau hingehen?“
„Natürlich! Und mit Vergnügen! Und – auf den Kopf gefallen sind wir ja, zum Glück, nicht! Basil wird auch als Amateurdetektiv seinen Mann stehen!“
„Gut. – Nun noch etwas über den Russen. – Hat er damals von Ihnen Diskretion über die Briefgeschichte verlangt?“
„Nein! – Meinen Sie etwa, Sermo, daß der „Drache“ und der Russe irgendwie zusammenhängen?“
„Ich glaube kaum. – Jedenfalls wollen wir dem Chulusoff etwas auf die Finger sehen. Fragwürdig kommt mir der Mensch vor. Erwähnen Sie ihm gegenüber auf keinen Fall, daß Sie mir etwas von der Volksorgel[4] erzählt haben. Ich werde mir unauffällig alle Nummern dieses Revolverblattes besorgen. Die Nummern von heute morgen habe ich mir gemerkt. Bin sehr neugierig, was ich in diesen beiden Exemplaren finden werde.“
*
Wangel zog die Schultern bis an die Ohren hoch.
„Begreifen Sie das, Kargowski?“
„Nein, Herr Inspektor. Da hätten wir’s uns sparen können, den Mann vorzuladen!“
„Allerdings.“ Und Wangel sagte nun zu dem Schutzmann, der soeben den Operettensänger Egon Sermo angemeldet hatte: „Ich lasse bitten.“
Der Inspektor war immer höflich. Und zu dem Wachtmeister: „Sie können protokollieren, lieber Kargowski. Ich werde mir den Herrn sehr streng vornehmen.“
Die Fenster des Dienstzimmers standen weit offen. Und so hörten die beiden Beamten jetzt deutlich die Turmuhr der nahen Johanneskirche fünf schlagen.
Dann trat Egon Sermo ein, verbeugte sich leicht, näherte sich dem großen, grünbezogenen Tisch und stellte sich Wangel vor: „Egon Sermo.“
„Kriminalinspektor Wangel. – Kargowski, einen Stuhl für den Herrn. – Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Sermo. Was führt Sie zu mir?“
Sermo hatte Wangel sofort wiedererkannt. Das war ja der ehemalige Häuptling von der sechsten Kompagnie, genannt der „Waschlappen“. Und Sermo hatte im selben Bataillon bei der achten sein Jahr abgedient. – Na – mit dem würde er ja wohl einig werden.
„Was führt Sie zu mir?“, hatte der Inspektor gefragt, und Sermo war es nicht entgangen, daß dabei in den gutmütigen Augen Wangels ein lauernder Ausdruck erschienen war.
„Sollten Sie das nicht wissen, Herr Hauptmann?“, meinte er. Das „Hauptmann“ war Absicht.
Wangel fuhr leicht zusammen, wurde verlegen.
„Woher kennen Sie meine frühere Dienststellung?“, fragte er unsicher.
„Ich war Einjähriger bei der achten, Herr Inspektor.“
„So so. – Na gut. – Und – hm ja – ob ich weiß, weswegen Sie mich aufsuchen … vielleicht!“
„Der Kapitän wird Ihnen fraglos von meiner – na, sagen wir – Einmischung berichtet haben, Herr Inspektor. Und da lag für Sie der Schluß doch sehr nahe, daß ich nur wegen des Selbstmörders mich hier eingefunden haben kann.“
Wangel wurde unbehaglich zumute. Dieser Komödiant war so ganz anders, als er ihn sich vorgestellt hatte. Eine recht gute Erscheinung. Bis auf das bartlose Gesicht kaum etwas vom Schauspieler. Und – Einjähriger von der Achten! Dann wußte der Mensch sicher auch, wie der Häuptling von der Sechsten allgemein genannt worden war, – unangenehm, sehr unangenehm! Am besten war, dem Herrn gleich zu beweisen, daß man den Waschlappen gleichzeitig mit der Uniform ausgezogen hatte …!
„Wie kamen Sie dazu, sich dem Kapitän gegenüber als Jurist auszugeben? He? Überhaupt – was hatten Sie auf dem Dampfer zu suchen?“
Sermo lächelte liebenswürdig.
„Sie vergreifen sich etwas im Ausdruck, Herr Inspektor, woran vielleicht der Kapitän Schuld trägt, dem ich sagte, ich wäre Jurist gewesen! Und das stimmt auch. Ich war zwei Jahre Gerichtsreferendar, bevor ich zur Bühne ging.“ Er faßte in die Tasche und holte ein paar Papiere heraus. „Hier bitte, Herr Inspektor, – die Beweise.“
Wangel blätterte darin, reichte die Schriftstücke Sermo zurück und meinte, jetzt wieder in sehr höflichem Ton:
„Danke sehr, – Sermo ist also nur Ihr Künstlername.“
„Ich bin Ihnen dafür noch die Erklärung schuldig, Herr Inspektor“, begann Sermo wieder, „aus welchem Grunde ich den Dampfer überhaupt betrat. Ich habe von jeher, besonders als Referendar, gerade der Strafjustiz besonderes Interesse entgegengebracht. Als ich nun heute vormittag auf dem Seesteg in Laggow saß und merkte, daß auf dem Dampfer etwas Besonderes sich ereignet haben müßte, folgte ich einer Eingebung des Augenblicks und bot dem Kapitän meinen Rat an.“
„Na, – allerdings, dann liegt die Sache doch anders, als ich zuerst annahm“, sagte Wangel verbindlich.
„Ja – die Sache liegt sogar völlig anders!“, meinte Sermo mit sehr ernstem Gesicht.
Der Inspektor horchte auf, und auch Kargowski, der sich an ein kleines Nebentischchen gesetzt hatte, spitzte die Ohren.
„Völlig anders!“, wiederholte Sermo und wandte den Kopf dann nach dem Wachtmeister hin. „Darf ich in Gegenwart dieses Beamten ganz offen sprechen, Herr Inspektor?“
„Gewiß, gewiß. Er ist der tüchtigste meiner Leute, der Kriminalwachtmeister Kargowski.“
„So, dann bin ich beruhigt. Sie nehmen an, Herr Inspektor, daß der Mann in dem roten Salon ein Selbstmörder ist, nicht wahr? Nun – der Mann ist zwar durch einen Revolverschuß getötet worden, aber es war nicht seine eigene Hand, die die Waffe auf seine Schläfe richtete!“ Sermo sagte das mit solcher Überzeugung, daß die beiden Beamten sich unwillkürlich weit vorbeugten und – ein Zufall – gleichzeitig riefen:
„Und die Beweise hierfür?“
„… sind meines Erachtens vollständig genügend“, fügte Sermo hinzu. „Ich will den Herren das Nähere erklären. – Der Salon des Dampfers ist ganz in Rot gehalten und hat einen dicken, ziemlich langhaarigen, roten Teppich ohne Muster, nur kaum merkliche hellere Längsstreifen sind eingewebt. Dieser Teppich muß kurz vor dem traurigen Ereignis – um weder von Mord noch von Selbstmord vorläufig zu sprechen – mit einer Teppichmaschine gereinigt worden sein, und zwar nicht gerade sorgfältig, da der, der die Teppichmaschine bediente, sehr zum Nachteil des Gewebes gegen den Strich gebürstet hat, das heißt – das Gewebe gehörig aufgerauht hat. Ein derart mißhandelter Teppich nimmt nun jeden Fußtritt recht übel und zeigt dem Auge eines aufmerksamen Beobachters durch das Festhalten jedes einzelnen Fußtapfens, wie wenig sachgemäß man mit ihm durch die Rollbürste der Maschine umgegangen ist. In unserem Falle hier jedoch müssen wir dem nachlässigen Gebrauch der Maschine dankbar sein, denn als ich in Begleitung des Kapitäns und des Steuermanns in der Tür des Salons angelangt war, fiel mein Blick zuerst auf den Toten, dann aber auf die Spuren von Stiefeln, die in dem weichen Gewebe wie in feuchtem Sande scharf ausgeprägt waren.“
Wangel unterbrach hier den Schauspieler: „Gestatten Sie mir eine Zwischenbemerkung: der Kajütwärter, der den Toten auch zuerst entdeckte, hat den Salon tatsächlich kurz nach der Abfahrt von der Insel Halen gereinigt.“
„Ja, und er hat die Teppichmaschine so benutzt, daß er von der der Tür gegenüberliegenden Wand strichweise, auch unter den Tisch entlang, nach der Tür hin gebürstet hat, wodurch er selbst dann nach Beendigung der Arbeit beim Verlassen des Raumes nur eine einzige Spur hervorrief, die links an der langen Wand hinführte. Diese Spur des Jungen ist mit einer anderen kaum zu verwechseln, er hat bei der Reinigung des Salons ganz sicher Segeltuchschuhe mit Gummisohlen, sogenannte Turnschuhe, und zwar noch wenig benutzte, getragen. Die Gummisohlen solcher Turnschuhe sind geriffelt, und diese Riffelung war auch bei den Eindrücken auf dem Teppich deutlich zu erkennen.“
Sermo machte eine Pause und dachte nach. Dann fuhr er fort:
„Nach dem kleinen Kajütwärter haben dann bis zur Ankunft am Steg in Laggow nur noch zwei Personen den Salon betreten. Als erster kam der Mann, der jetzt tot ist. Seine Fährte ist ebenfalls recht charakteristisch gewesen. Er trug amerikanische Schnürschuhe, sehr breite Form. Und diese Fährte ging von der Tür nach rechts auf die Mitte der langen Polsterbank an der Steuerbordwand zu. Dort hat der Mann sich niedergelassen, hat seine Reisetasche neben sich gestellt und wahrscheinlich geraucht und gelesen oder auch nur bei einer Zigarre seinen Gedanken nachgehängt. Der Tisch links von seinem Sitz war ihm am nächsten, denn in dem dort stehenden Aschbecher hat er die Asche seiner Zigarre abgestreift. Alle anderen Aschbecher waren gesäubert.“
„Stimmt, Herr Inspektor“, wagte Kargowski zu bemerken. „Ich habe ja auch eine halb aufgerauchte Zigarre unter der Polsterbank rechts gefunden.“
„Ist die Zigarre noch vorhanden?“, fragte Sermo rasch.
„Nein, ich habe sie ins Wasser geworfen, durch eins der Salonfenster – von einem Selbstmörder ’ne Zigarre, die raucht nicht mal ein Straßenkehrer.“
„Das hätten Sie nicht tun sollen, Herr Wachtmeister“, meinte Sermo, „die Zigarre hätte ich mir gern angesehen. Man hätte aus der Länge des Restes ungefähr feststellen können, wann das ‚Ereignis‘ geschehen ist. In dem Aschbecher lag noch ein kurzer Stummel. Der Mann hat also die zweite Zigarre gerade vorgehabt, als der andere Mann erschien. Doch lassen wir diese Erörterungen. Sie sind schließlich nicht von so großer Wichtigkeit. Also der andere betrat den Salon. Seine Spur deutet auf einen sehr schmalen Fuß hin. Außerdem ging dieser andere mit den Fußspitzen auffallend einwärts. Er dürfte vielleicht starke O-Beine haben.“
Inspektor Wangel lachte jetzt kurz auf, lehnte sich in seinem Stuhl zurück, zwinkerte Sermo vielsagend zu und meinte:
„Ich denke, wir spielen jetzt nicht länger Komödie voreinander, nicht wahr? Sie sind nie im Leben Operettentenor gewesen!! Sie sind entweder Privatdetektiv oder ein Kollege von mir!“
Sermo zuckte leicht die Achseln.
„Leider nicht, bedauere! Ich bin Operettensänger, tatsächlich!“
„Dann haben Sie Ihren Beruf verfehlt!“, rief der Inspektor ganz erregt. „In Ihnen steckt ja ein kriminalistisches Genie, ein zweiter …“
Sermo machte eine abwehrende Handbewegung.
„Lassen Sie mich meine Kombinationen erst zu Ende entwickeln“, sagte er gelassen. „Vielleicht verwerfen Sie mein Endresultat dann. – Ich fahre also fort. Der andere betrat den Salon, hatte hinter sich die Tür geschlossen und ist dann direkt auf den friedlichen Raucher zugegangen. Gesetzt hat er sich nicht. Ich nehme an, er wird den Revolver schon beim Eintritt in der Hand gehabt haben, vielleicht versteckt unter einem Mantel, den er über dem Arm trug. Er sprach dann den Raucher an, der völlig ahnungslos war, was ihm bevorstand. Vielleicht hat er ihn um Feuer gebeten. Jedenfalls hat er sein Opfer bewogen, den Kopf etwas nach links zu drehen, damit die rechte Schläfe bequemer für die Mündung der Waffe zu erreichen war. Dann drückte er im geeigneten Augenblick ab. Der Knall wurde durch das Rauschen der Wellen und das Arbeiten der Schiffsmaschinen übertönt. Das Opfer sank wahrscheinlich nach hinten über. Vielleicht finden sich an den Polstern irgendwelche Blutspuren, die auf dem dunkelroten Stoff natürlich schwer zu bemerken sind. Dann packte der andere den leblosen Körper, schleppte ihn – die Spuren sprechen so klar dafür, als hätte ich den Vorgang miterlebt – in die Mitte des Salons, ließ ihn fallen, legte die Waffe daneben und eilte zur Tür hinaus. Ich denke mir, daß der Mörder zu alledem kaum länger als zwei Minuten gebraucht hat.“
„Donnerwetter!“, entfuhr es Wangel, „eine nette Bescherung. Also Mord – Mord.“
Kargowski räusperte sich.
„Darf ich auch etwas dazu bemerken, Herr Inspektor?“, fragte er. Als Wangel eifrig nickte, fügte er etwas kleinlaut hinzu, daß er Herrn Sermos Angaben über die Spuren in der Hauptsache bestätigen könne. „Ich habe darauf aber nicht weiter geachtet, besinne mich jedoch genau, daß von der Polsterbank, wo die Reisetasche stand, zwei ziemlich parallele Striche über den Teppich nach der Mitte liefen, die natürlich durch die auf dem Teppich entlangschleifenden Schuhe des Toten, den der Mörder schleppte, entstanden sind. Leider sind ja jetzt inzwischen so viel Leute in dem roten Salon gewesen, daß die Fährten völlig verwischt sein müssen. Aber vielleicht fahre ich gleich mal hin und suche nach Blutflecken auf der Polsterbank.“
„Wir fahren alle drei“, meinte Wangel in hellem Eifer und erhob sich.
Doch Sermo winkte ab.
„Nein, Herr Inspektor, mag der Herr Wachtmeister nur allein hinfahren. Wenn wir drei erscheinen, erregt das nur Aufsehen. Alle Welt soll in dem Glauben erhalten bleiben, die Polizei beruhige sich bei der Annahme eines Selbstmordes. Wir dürfen den Täter nicht dadurch vielleicht warnen, daß Sie, Herr Inspektor, den Salon nochmals in Augenschein nehmen, was leicht bekanntwerden könnte. Besonders will ich mich aber auf dem Dampfer nicht sehen lassen. Ich bin nämlich zu Ihnen gekommen, um Ihnen meine freiwillige Mitarbeit anzubieten. Und ich werde am leichtesten Erfolge erzielen, wenn niemand ahnt, daß ich Sie ein wenig unterstützen will.“
Wangel setzte sich wieder.
„Sehr richtig, Herr Sermo, sehr richtig! Kargowski muß allein nach den Blutspuren suchen. Und stellen Sie sich dabei recht geschickt an, Kargowski! Alles Aufsehen vermeiden! Die Hauptsache aber: Schweigen – schweigen! – So, nun gehen Sie!“
Der Wachtmeister eilte hinaus. Wangel streckte jetzt Sermo die Hand über den Tisch hin.
„Mein lieber Herr Sermo, ich bin Ihnen ja zu unendlichem …“
„Lassen Sie das, bitte, Herr Inspektor“, wehrte der Tenor bescheiden ab. „Sie gestatten mir also, auf eigene Faust mich dieses Kriminalfalles etwas anzunehmen?“
„Welche Frage?! Natürlich – natürlich – ich bitte Sie sogar darum.“
„Das wäre dann also in Ordnung, Herr Inspektor. Ich habe nämlich jetzt reichlich freie Zeit, mich der Sache nachdrücklichst zu widmen. Unsere Sommerbühne in Laggow ist heute verkracht. Wir werden aber ein Kabarett im Kurhaus aufmachen. Und dazu sind keine Proben nötig. Ich bin tagsüber also völlig Herr meiner Zeit.“
„Oh, das tut mir aber aufrichtig leid, daß das Operettentheater vom Publikum so wenig unterstützt worden ist, Herr Sermo. Andererseits muß ich ja wieder als Beamter froh sein, in Ihnen einen Bundesgenossen gefunden zu haben, der durch Berufsarbeit kaum gestört wird.“ Und nach kurzer Pause: „Haben Sie sich schon irgendeine Ansicht über unseren Fall gebildet, Herr Sermo?“
„Ja – mit gewissen Einschränkungen. Natürlich liegt ein vorher genau überlegter Mord vor. Ich möchte sagen: ein Attentat! Der Tote sollte aus dem Wege geräumt werden, und der Mörder wartete hierzu nur die günstige Gelegenheit ab. Er befand sich mit seinem späteren Opfer zusammen in Halen. Er benutzt denselben Dampfer, führt die Mordwaffe bei sich, belauert den anderen, sieht ihn im Salon verschwinden, überlegt sich: daß bei dem schönen Wetter kaum einer der wenigen Fahrgäste noch auf den Gedanken kommen wird, den Salon aufzusuchen, setzt alles auf eine Karte – denn er konnte ja immerhin bei der Ausführung der Tat überrascht werden – und schießt den Ahnungslosen nieder. Ich betone: den Ahnungslosen, wodurch ich darauf hinweisen will, daß der Tote den Mörder als Feind nicht gekannt hat, da er sonst wohl nicht so leicht niederzuknallen gewesen wäre.“
„Ganz meine Meinung, Herr Sermo. Ich habe nun aber auch für Sie einige Überraschungen in Bereitschaft, die die Person des Toten betreffen. Erstens: Der Mann trug eine Verkleidung – Perücke und Bart. Er ist in Wirklichkeit bartlos und trägt das Kopfhaar – dunkelblond – ganz kurz geschoren. Zweitens: Über seine Persönlichkeit hat sich bis jetzt noch nichts vermuten lassen.“ Der Inspektor gab zu diesem Punkt nähere Erklärungen. „Drittes: Bei ihm gefundene chiffrierte Briefe und Notizen zeigen, daß der Tote kein alltäglicher Mensch gewesen ist. Ein Mann, der nichts bei sich trägt, was über seine Person Aufschluß geben kann, der zwei Pässe besitzt, der verkleidet ist, dessen Wäsche nicht gezeichnet ist, der chiffrierte Schriftstücke in Menge bei sich führt – ein solcher Mann ist immer stark verdächtig.“
„Gewiß. Besaß er Geld oder Wertsachen?“
„Etwa achthundert Mark deutsches Geld und eine goldene Uhr nebst goldener Kette; die Uhr ohne jedes Monogramm, obwohl sie sehr teuer gewesen sein muß: Schweizer Fabrikat, Sprungdeckel, Kalenderzeiger. Dann noch ein billiges Taschenmesser, einen Füllfederhalter, eine Zigarrentasche aus Bastgeflecht – Dutzendware – und einen einzigen Schlüssel, ein schmales, langes Ding, das zu einem jener Patentschlösser gehören dürfte, wie sie sich in Türschlössern einschrauben lassen, sogenannte Schloßsicherungen.“
„Und was enthielt die Reisetasche?“
„Nichts, außer einem Nachthemd und Kammzeug.“
„Könnte ich mir all diese Sachen einmal ansehen, Herr Inspektor?“
„Gern. Ich habe sie dort in jenem Schrank.“ Wangel erhob sich und holte die Reisetasche, in der jetzt auch der ganze Inhalt der Taschen des Toten lag.
„Die Glanzleinwand mit den Papieren fehlt“, sagte der Inspektor, indem er die Sachen einzeln auf dem Tisch aufreihte. „Unser Sachverständiger für Geheimschriften soll versuchen, den Schlüssel zu den Chiffren zu finden. Ich hoffe, daß die Schriftstücke uns noch recht nützlich sein werden.“
Egon Sermo schaute sich das Eigentum des Ermordeten nur flüchtig an. Lediglich der Schlüssel schien ihn zu interessieren.
„Darf ich ihn für zwei Tage mitnehmen?“, fragte er den Inspektor jetzt.
„Aber gewiß. Doch – wozu gerade den Schlüssel? Hören Sie, lieber Herr Sermo, das kommt mir so vor, als ob Sie bereits eine bestimmte Spur verfolgten.“
„Sie irren sich, Herr Inspektor. Was ich mit dem Schlüssel vorhabe, sage ich Ihnen später.“ Er schob ihn in die Tasche und nahm dann des Toten lederne Reisetasche in die Hand.
„Schon viel gebraucht“, meinte er. „Kann nicht ganz billig gewesen sein.“ Er öffnete sie. „Oh, auch hier die Firma ausgetrennt. Da – sehen Sie, Herr Inspektor. Hier oben am Futter haften noch die Fäden, mit denen das Firmenschildchen angenäht war. Der Mann ist wirklich sehr vorsichtig gewesen.“ Dann hielt er den Lederbügel fest und schüttelte die Tasche.
„Donner noch eins!“, rief Wangel. „Da klappert doch etwas.“
„Allerdings“, lächelte Sermo und hielt den Boden der Tasche ans Ohr und schüttelte wieder. „Hier unten steckt das Geheimnis.“ Er befühlte den Boden von innen, drehte die Tasche um und betrachtete die acht Messingknöpfe, die außen über das Bodenleder hinausragten. Zwei davon in den Ecken einer Schmalseite waren verbeult. Sermo versuchte, sie zu drehen. Es gelang ihm nicht. Dann nahm er die Spitze des Korkziehers seines Taschenmessers zu Hilfe. Der eine Knopf gab nach. Es war eine Schraube. Auch der andere Knopf ließ sich herausdrehen. Nun konnte man einen Teil des Bodenleders hochbiegen. Darunter lag eine Photographie, Visitformat – sonst nichts.
Neugierig beugten sich zwei Köpfe über das Bild.
„Ein Student!“, rief Wangel enttäuscht aus. „Ein Student mit Mütze und Band.“
Sermo sagte nichts, kehrte die Photographie um. Auch hier war die Firma des Photographen wegradiert.
„Unglaublich“, meinte der Inspektor. Er achtete nicht auf Sermos Gesicht – zum Glück! Dieser hatte die Zähne in die Unterlippe gepreßt, so fest, daß ein Blutstropfen hervordrang. Und die Blässe dieses Gesichts war erschreckend.
Sermo ließ das Bild fallen – absichtlich – und bückte sich danach. In diesen Sekunden hatte er seine Fassung und seine normale Gesichtsfarbe wiedererlangt.
Er schob das Bild wieder in das Versteck zurück, schraubte die Köpfe fest und sagte achselzuckend:
„Mit der Photographie können wir auch nichts anfangen.“
Dann berieten die beiden Herren, welche Schritte zu unternehmen seien, um die Fahrgäste des Dampfers unauffällig vernehmen zu können. Vielleicht erhielt man hierdurch einen weiteren Hinweis auf den Mörder.
Sermo schlug vor, in die Danzburger Zeitungen eine Notiz einrücken zu lassen, deren Inhalt er sofort schriftlich entwarf.
„Sehr gut“, lobte Wangel, „wird gemacht.“
Gleich darauf kehrte auch Kargowski zurück – mit triumphierendem Gesicht.
„Das Polster der Rückenlehne zeigt an einer Stelle einen schwachen Blutfleck, der noch ziemlich frisch aussieht“, meldete er.
Wangel schlug Sermo vertraulich auf die Schulter.
„Also auch mit dieser Vermutung haben Sie recht behalten, Sie zweiter Sherlock Holmes. Sie müssen den ganzen Operettenkram wirklich an den Nagel hängen, Bester! Ich sorge dafür, daß Sie bei uns in kurzem Kommissar sind.“
Sermo lachte. „Da kennen Sie mich schlecht, Herr Inspektor. Zum Beamten tauge ich nicht. Ich bin ein zu unruhiger Kopf. Ordnung ist mir verhaßt. Jedes Amtszimmer kommt mir wie ein Gefängnis vor.“
Wenige Minuten später schritt er dem Bahnhof zu. Er ging sehr langsam wie im Traum. Und immer wieder fragte er sich: Wie kann nur jenes Bild gerade in die Tasche gelangt sein – wie – wie …?!
Selbst im Vorortzug nach Laggow sah er noch den jungen Studenten in Band und Mütze vor sich, ein frisches, junges Gesicht mit kleinem Bärtchen auf der Oberlippe … Und sein Hirn wälzte ruhelos stets aufs neue die dunkle Frage wie einen Felsblock hin und her, der nicht von der Stelle will …
Die Eisenbahnfahrt von Danzburg nach Laggow dauerte nur zwanzig Minuten. Um sieben Uhr traf Sermo wieder in dem Badeort ein, kaufte dann noch einiges zum Abendbrot und begab sich in seine Wohnung. Dort hatte er sich mit Basil Olfer verabredet. Dieser war jedoch noch nicht da.
Sermo suchte seine Wirtin auf, um ihr zehn Mark auszuhändigen. Frau Zechke flickte gerade in den Dünen Netze. Als er ihr das Geld gab und erklärte, er hoffe, den Rest seiner Schuld auch bald begleichen zu können, meinte die wortkarge Frau: „Dann waren Sie wohl schon auf der Post?“
„Auf der Post? – Was soll ich denn dort?“
„Na, vor ’ner Weile war der Postbote hier und suchte Sie. Er hatte eine Depesche mit Geld. Ich verstehe nicht, daß man auch Geld telegraphieren kann. Sie sollten sich’s abholen, sagte der Krischke, so heißt nämlich der Postbote.“
Sermo war sprachlos. „Geld – Geld für mich? Das muß ein Irrtum sein!“
„Nee – alles hat seine Richtigkeit. Die Adresse war so: Egon Sermo bei Frau Zechke, Wäldchenstraße 20. Stimmt’s also?“
„Wieviel war’s denn, und wer war der Absender, Frau Zechke?“
„Das durfte der Krischke nicht sagen. Aber gehen Sie doch und holen Sie’s.“
„Das tue ich – sofort!“
Als Sermo zwanzig Minuten später sein Zimmer betrat, saß Olfer behaglich in der Sofaecke und hatte eine vierkantige Flasche Kümmel vor sich nebst einem plumpen, der Frau Zechke entliehenen Schnapsglas.
Sermo blieb am Tisch stehen und sagte, ohne Olfer zu begrüßen:
„Die Welt geht unter – tatsächlich!“
„Trinken Sie ’nen Kümmel, auf daß Ihnen wieder besser werde!“, meinte Olfer trocken. „Ich liebe solche Redensarten nicht. Die Welt wird hübsch artig bestehen bleiben, sonst wird ja aus der Bunten Bühne nichts.“
Sermo faßte in die Brusttasche und warf eine ganze Menge Hundertmarkscheine auf den Tisch.
„Ei verflucht!“, kreischte der Komiker. „Und das haben Sie etwa von der Post geholt? Die alte Zechke murmelte etwas von telegraphiertem Geld.“
Sermo nickte. „Von der Post. Aber glauben kann ich es noch immer nicht, daß die tausend Mark wirklich mir gehören. Ein Kouleurbruder hat sie mir durch die Danzburger Bank anweisen lassen. – Hier ist die Depesche. – ‚Habe mächtigen Dusel gehabt. In treuem Gedenken an Deine stete Hilfsbereitschaft – Dein Kouleurbruder Karl.‘ – Sie können mich totschlagen, Olfer – ich habe keine Ahnung, wer dieser Karl sein mag. Wir hatten zu meiner Zeit etwa sieben in der ‚Borussia‘ mit dem Vornamen Karl.“
„Söhnchen – so ein Blödsinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen! Das Geld gehört Ihnen – basta!“
Sermo legte Hut und Stock weg und setzte sich an den Tisch.
„Ein netter Tag heute!“, meinte er. „Mir wirbelt der Kopf.“
„Mensch, trinken Sie doch einen Kümmel! – Hier – weg damit!“
Sermo goß den Schnaps hinunter. Basil Olfer streichelte die Hundertmarkscheine.
„Hübsche Vögelchen …! Wenn mir doch mal ein paar ins Haus flattern wollten! – Ach so – momentan habe ich ja kein Haus – bin obdachlos.“
„Nehmen Sie sich, was Sie brauchen, Olfer, und geben Sie auch der Hilda das Geld zurück.“
„Söhnchen – Sie sind leichtsinnig! Wenn ich mir nun zum Beispiel drei von den Vögelchen fangen würde?“
„Dann würde ich sagen: Basil Olfer hat seinen bescheidenen Tag.“
„Gut – also vier!“ Er faltete die Scheine zusammen und schob sie in die Tasche, reckte sich plötzlich gerade und meinte: „Geben Sie mir schnell einen Spiegel, Sermo! Ich muß mir unbedingt mein Gesicht ansehen. Mit vierhundert Mark in der Tasche kenne ich mich schon lange nicht mehr.“
Egon Sermo packte seine Einkäufe in die Ofenröhre, seine Speisekammer.
„Es wäre eine Torheit, kalt zu Abend zu essen, wenn man dieses Vergnügen, sich nur von Brötchen zu nähren, drei Tage genossen hat, abgesehen vom heutigen Tag. Kommen Sie, Olfer, ich lade Sie zu einem Festmahl ein. Den Kouleurbruder wollen wir mit Sekt leben lassen.“
„Glänzende Idee! Aber die Hilda muß mit dabei sein, das gute Tierchen!“ Er erhob sich und griff nach seinem Hut.
„Unmöglich, Olfer – heute müssen wir allein bleiben. Ich habe mit Ihnen ernste Dinge zu besprechen. Sie wissen ja – Selbstmord und so!“
Basil Olfer schnitt ein saures Gesicht. „Schon wieder die Blutwurst? Hat das nicht Zeit bis morgen?“
„Nein – nicht eine halbe Stunde. Gehen wir.“
Frau Zechke kam gerade aus den Dünen. Sermo reichte ihr einen der Scheine. „Da – als Vorschuß auf die Miete und das Frühstück. Von morgen ab bitte ich mir aber wieder bestrichene und belegte Brötchen aus, auch darf der Kaffee besser werden.“
Sermo und Olfer entschieden sich für das Hotel Metropol in der Seestraße, das Reminghoff gehörte, dem Kurhauspächter, einem wirklich außerordentlich tüchtigen Geschäftsmann. Dort verkehrte das beste Publikum, viel Offiziere der Danzburger Garnison und des in dem Vorhafen Breemünde stationierten Geschwaders.
In der Weinabteilung fanden sie noch einen freien Ecktisch. Hilda Lenz saß mit zwei Herren einige Tische weiter und nickte den Kollegen sehr vergnügt zu.
„Die Hilda scheint ja gut untergebracht zu sein“, knurrte Olfer. „Sogar Austern ißt die Bande!“
„Können wir auch haben!“, lachte Sermo. Er stellte dann sachkundig eine Speisekarte zusammen, obenan Austern, und reichte dem Kellner den Zettel. Dann wandte er sich dem Komiker zu, der ein randloses Einglas eingeklemmt hatte und Hilda beobachtete.
„Also, Olfer, mein Besuch in Danzburg hat sich gelohnt“, begann er.
Der Kellner brachte den Rheinwein. Sermo füllte die Gläser und trank Olfer zu. Dann sagte er: „Es liegt wirklich ein Mord vor, Olfer.“
Da wurde auch der Komiker ernst. „So! Ich hoffte noch immer, Ihre Teppichkombinationen würden sich als harmloser Dunst herausstellen.“
Sermo erzählte jetzt ganz eingehend von seiner Unterredung mit Wangel. Nur das Bild erwähnte er nicht, das unter dem Boden der Ledertasche gelegen hatte.
Inzwischen waren die Austern gekommen und auch vertilgt worden. Der Kellner brachte nun das Zwischengericht. Als er wieder davongeschwänzelt war, sagte Olfer:
„Söhnchen, da hätten wir uns also wirklich schön aufs Glatteis begeben! Ich sehe ein, jetzt können wir nicht mehr zurück. Wir müssen weiter die Liebhaberdetektive spielen. Ist ja schließlich auch ganz interessant.“
„Was haben Sie bei der Logenschließerin ausgerichtet? Waren Sie dort?“, fragte Sermo sachlich.
„Und ob! Die Gaffkes wohnen in der Villa im Keller. Ich hätte der Gaffke nie so viel Kinder zugetraut. Bis sechs habe ich gezählt. Dann fand ich mich nicht mehr heraus. Es sind sehr saubere Leute. Alles sah wie geleckt aus. Auch der dazu gehörige Ehemann verdient gelobt zu werden. Ich traf die Familie gerade beim Nachmittagskaffee an, wurde eingeladen, erhielt eine Stulle mit Pflaumenmus und nachher noch zwei Pflaumenschnäpse, Hausfabrikat, aber tadellos. Natürlich platzte ich nicht gleich mit dem Namen Kaldenhoven heraus. Ganz im Gegenteil. Ich erzählte der jetzt für den Abend beschäftigungslosen Logenschließerin von meiner Neugründung und bat sie, die Garderobe zu übernehmen. Sie griff mit beiden Händen zu, und Herr Gaffke holte zum Dank die Pflaumenschnapsflasche. Nun erst schlängelte ich mich dem Thema Kaldenhoven zu. Ich sage Ihnen, Sermo, ein Untersuchungsrichter hätte sich nicht geschickter benehmen können. So erfuhr ich denn, daß die liebe, gnädige Frau seit einiger Zeit ganz verändert wäre, so traurig, so nachdenklich und so schreckhaft. Vor einer Woche hätte auch der Schofför Belling, so ein richtiger, schnoddriger Berliner wäre er, in die Villa ziehen müssen. Er schliefe jetzt auch im ersten Stock, wo er doch gar nicht hingehöre. Aber die schöne, gute Dame hätte wohl Angst vor Einbrechern. – Sermo, wenn die Gaffke erst aufgezogen ist, spielt sie auch die ganze Platte ab, bis zum letzten Ton! Ihr Mann lächelte dazu. „Sie hat rein ’nen Narren an der gnädigen Frau gefressen, Herr Olfer“, meinte er und warf dann noch eine Bemerkung ein, mit der Angst vor den Einbrechern wäre es wohl doch nicht so schlimm, sonst hätte Frau Kaldenhoven dem Schofför nicht erlaubt, eine dreitägige Tour nach – geben Sie acht, Söhnchen – nach Halen zu machen, von der er erst heute vormittag zurückgekehrt wäre, der feine Berliner! Na, was sagen Sie nun, Söhnchen?! Heute vormittag mit dem Dampfer „Drache“! Und er hätte der Gnädigen auch wunderschöne, fette, frischgeräucherte Flundern mitgebracht.“
Sermo wiederholte sinnend: „Heute vormittag …!“ Und er drehte die Sektflasche spielend zwischen den Fingern und beobachtete die Perlen, die vom Grunde langsam emporschwebten und an der Oberfläche zerplatzten.
„Ja – heute vormittag!“, fuhr Olfer wichtig fort. „Und der Gaffke gab nun auch seinen Senf dazu. Belling, sagte er, war kaum zu Hause – ich arbeitete gerade im Garten –, als die Gnädige über den Hof in die Garage stürzte, wo der Schofför die Pneumatiks aufpumpte. Ganz blaß war sie. Ich glaubte sie wolle dem Belling Krach machen wegen irgend etwas. Die Türe der Garage stand offen. Ich konnte also hineinsehen. Na – und da bemerkte ich, daß die Gnädige zu Belling leise sprach, und wie auch er mit einem Male wie eine Leiche wurde. – Ist das nicht eine komische Geschichte, Herr Olfer? So redete der Gaffke, und ich glaube kaum, daß ich von seinen Worten irgend etwas vergessen habe. Mein Gedächtnis ist ja glänzend. – So, Söhnchen, das habe ich heute erreicht als Detektiv. Als ich merkte, daß die Gaffkes nichts mehr wußten, was mich interessierte, machte ich eine großartige Handbewegung und sagte: Wozu sprechen wir eigentlich so viel von der Dame? Ich bin doch wegen der Garderobenangelegenheit hergekommen. Gehen Sie nachher gleich zu Herrn Reminghoff, liebe Frau Gaffke, und teilen Sie ihm mit, daß Sie Garderobenfrau werden sollen. Ich denke, Sie werden dabei mindestens vier Mark den Abend rausschlagen. – Da bekam ich den zweiten Pflaumenschnaps und verabschiedete mich, ein Wohltäter – ein Spion – pfui Deubel! – Prost, Söhnchen!“
Sermo stürzte den Inhalt der Sektschale hinunter.
„Der Zusammenhang scheint mir nachgewiesen“, meinte er grüblerisch, „die schöne Frau Eva wartete fraglos voller Unruhe auf den „Drachen“. Nachher schaute sie mich mit so seltsamen Blicken an, als ich den Provinzonkel so kurz abfertigte, und schließlich schickte sie noch den Rittmeister hinter uns her …! Dann die Szene in der Garage …! Olfer, ich gehe jede Wette ein, daß die Frau mehr über den Toten weiß, als wir ahnen.“
„Die Wette lehne ich ab. Ich würde reinfallen. Natürlich ist jetzt ein Zusammenhang gegeben. Und den habe ich festgestellt – zum Teil wenigstens!“
„Ohne Frage, Sie haben Ihre Sache glänzend gemacht! Wer hätte das gedacht, daß wir schon heute abend wissen würden, wo wir unseren Hebel ansetzen können. Ich bin wirklich ungeheuer gespannt, was bei dieser Geschichte herauskommen wird. Wer mag nur der geheimnisvolle Tote sein? – Olfer, regt sich in Ihnen nicht auch die Sensationslust gegenüber diesen Rätseln?“
„Selbstredend! Es ist doch mal was anderes als nur Kollegentratsch und Nahrungssorgen. – Übrigens, der Sekt ist vorzüglich. Wir könnten bei der Marke bleiben!“
Sermo bestellte Zigarren. Sie waren schon beim Kaffee angelangt.
Reminghoffs massige Gestalt in tadellosem Gehrock schob sich zwischen den Tischen mit verbindlichen Verbeugungen durch.
Er kam, um die beiden Schauspieler zu begrüßen, bat, Platz nehmen zu dürfen, und zeigte ihnen dann die bunten Reklameplakate für das neue Kabarett, die er in Danzburg hatte drucken lassen.
„Sie sind ein Hexenmeister“, meinte Olfer anerkennend. „So fix bringen auch nur Sie eine Sache in Schwung. Ich habe heute nachmittag eine Frau Gaffke zu Ihnen geschickt. War sie –“
„Erledigt!“, nickte der Vielgewandte. Er liebte unnütze Worte nicht.
Als er kaum fort war, tänzelte Hilda Lenz herbei.
„Sie wollen wohl einen Kindergarten auftun?“, meinte Olfer mit einem Blick auf die beiden Herren.[5]
Da erhob sie sich – bitterböse. „Und mit diesem Reibeisen halten Sie es aus, Sermo?! Na, – amüsiert euch weiter!! Wiedersehen!“
Egon Sermo schaute den Komiker durchdringend an.
„Basilius, mein lieber Freund, mir ist eben ein Licht aufgegangen!“, sagte er schmunzelnd. „Ich glaube, das Reibeisen ist auf Grünzeug so ein wenig …“
„Halt’s Maul, Söhnchen!“, unterbrach ihn Olfer polternd. „Füll’ die Schalen! Wir wollen Brüderschaft trinken. Du hast mir gleich gefallen, als wir die erste Probe, umgeben von gelben und hellblauen Vögeln, in dem Stalle mit der Musterakustik hatten. – Prost, Sermo – auf gute Kameradschaft!“
Sie tranken aus und schüttelten sich die Hand.
„So“, meinte Olfer dann, „nun will ich mal was erzählen, Söhnchen, was du noch nicht zu wissen scheinst, du hochmoralischer Tenor. Man munkelt hier allgemein, daß die Kaldenhoven nur deinetwegen fast täglich meine Clownswitze und deine mäßige Stimme mit einem Logenbilett bezahlt hat – nur deinetwegen! Sie soll dich heimlich unheimlich lieben!“
„Blödsinn!“ Sermo zuckte die Achseln.
„Na – ganz ausgeschlossen wäre es ja nicht, Söhnchen! Und wäre es der Fall, so hätte die Kriminalsache „Der Tote im roten Salon“ auch gleich einen dramatisch-erotischen Beigeschmack – Blutwurst mit Herzensweh!“
„Der Kalauer war recht übel“, sagte Sermo unwillig. „Mit solchen Dingen scherzt man nicht.“
„Ach so, denkst du etwa, daß jeder Arzt bei jedem Patienten, den er glücklich unter den Sargdeckel gebracht hat, vor Reue bittere Tränen vergießt? – Nimm das Leben nicht zu ernst, Söhnchen, auch nicht unsere Detektivspielerei. – Im übrigen: an der Sache ist nicht zu rütteln – falls die Frau Interesse für dich hat – –, daß du vielleicht jemandem Schlingen legen wirst, der deinetwegen soundso oft das Gelb- und Blauvögelein auf sich genommen hat.“
Sermo lachte kurz auf. Es klang hart, fast brutal.
„Als ich die Juristerei beiseite schmiß, Olfer, da mußte ich beweisen, daß ich Energie im Leibe hatte. Ich habe es bewiesen – gehungert, gedarbt, obwohl ich es bis dahin nicht kannte. In meinem Elternhaus ging’s stets aus dem Vollen. Und jetzt habe ich mir wieder ein Ziel gesteckt: ich werde diesen Mord aufklären. Es mag dir als Marotte erscheinen, Basil! Aber das ist es nicht, wirklich nicht. Dazu bin ich zu ernst, zu schwerfällig. Hat ein Weib hier mit hinter den Kulissen gewirkt – schlau, raffiniert, heimlich, wie sie alle sind –, so sollen sie sehen, daß ein Mann ihnen über ist.“
Dagobert von Quarg kam herbeigeeilt, grüßte hierhin, grüßte dorthin.
„Himmel, will der etwa zu uns?“, meinte Olfer. „Wahrscheinlich, nun wird’s Tag.“
„’n Abend, meine Herren – gestatten, daß ich bei Ihnen Platz nehme? – Danke verbindlichst.“ Quarg war unheimlich liebenswürdig für Olfers Geschmack.
Der Rittmeister hängte Hut und Stock an den Ständer und Olfer flüsterte Sermo zu:
„Du – der kommt in ganz bestimmter Absicht. Aufgepaßt also!“
Der Kurdirektor setzte sich umständlich.
„Habe zu meiner großen Freude von Reminghoff gehört, daß Sie, meine Herren, Laggow trotz des traurigen Endes unserer Sommerbühne erhalten bleiben“, begann er und steckte sich eine Zigarette an. „Ein sehr glücklicher Gedanke, die Bunte Bühne – in der Tat. Ich als Kurdirektor und somit als bezahlter Amüsierrat nehme das regste Interesse an der Sache …“
So wurde zunächst eine gute Viertelstunde lang dieses Thema erörtert und der Komiker hatte darüber seine mißtrauische Regung schnell vergessen, zumal der Rittmeister versprach, die Neuschöpfung nach Kräften zu unterstützen.
Dann war der Gegenstand erschöpft und Quarg lenkte das Gespräch auf den armen Blendermann, meinte, dieser habe ihm bitteres Unrecht getan, er hätte wirklich keine Beihilfe mehr bei der Badeverwaltung durchsetzen können.
„Der Wetterengel hat’s mit Blendermann schlecht gemeint, meine Herren – das müssen Sie doch selbst zugeben“, sagte er dann. „Ja, wenn alle Kurgäste so theaterliebend gewesen wären wie Frau Kaldenhoven – wenn! Aber leider – leider bildet die entzückende Witwe eine Ausnahme. Sie ist überhaupt eine geistig sehr rege Dame, zeigt für alles Teilnahme, auch Mitgefühl. Heute vormittag sagte sie zum Beispiel zu mir in bezug auf den Selbstmörder in Laggow, der sich da auf dem Dampfer das Leben genommen: „Wenn der Mann womöglich eine Familie unversorgt zurückläßt …“ – Ist das nicht ein schöner Zug, meine Herren? – Und dann bat sie mich, ich solle mich doch erkundigen, ob hier nicht wirklich Not durch Geld zu lindern wäre. – Ich habe denn auch vorhin die Polizei in Danzburg angeklingelt und gefragt, ob man mir nicht Name und Adresse des Toten angeben könne. Leider erhielt ich den Bescheid, daß der Mann von auswärts sein müsse. Jedenfalls scheint die Polizei bisher nicht viel oder besser gar nichts über die Persönlichkeit des Toten ermittelt zu haben. – Frau Kaldenhoven wird enttäuscht sein. Aber – ich kann ihr nicht helfen. – Notabene, Herr Sermo – sie wollte, glaube ich, sich gern von Ihnen persönlich noch erzählen lassen, wie der Mann aufgefunden worden ist und so weiter. Wundern Sie sich also nicht, wenn dieses Prachtexemplar von Frau sie mal anspricht dieserhalb. Sie kennen sie doch wohl persönlich?“
„Bedaure!“, meinte Sermo kurz.
„So – na, über gesellschaftliche Förmlichkeiten ist Frau Kaldenhoven erhaben. Sie wird Sie schon zu finden wissen, lieber Herr Sermo.“
„Über den Toten ist mir genau so viel oder so wenig bekannt, wie Ihnen, Herr Rittmeister“, sagte Sermo achselzuckend. „Die Dame wird mit ihrem Wunsch, sich als Wohltäterin zu zeigen, also noch warten müssen, bis über den Mann Näheres feststeht.“
„Hm – sehr liebenswürdig klang das eben nicht – ehrlich gesagt!“, lächelte Quarg kopfschüttelnd. „Seien Sie doch froh, die schöne Frau auf diese Art kennenzulernen!“
„Da haben Sie mich doch wohl falsch verstanden, Herr Rittmeister!“, verteidigte sich Sermo jetzt sehr eifrig. „Ich bin natürlich dem Schicksal sehr dankbar, wenn es mir die Bekanntschaft einer reizenden Frau vermittelt. Natürlich.“
„Lüg’ du und noch einer“, dachte Olfer. „So ein Heuchler. Er meint als Detektiv! – Aber er macht seine Sache gut, das muß man ihm lassen!“
Der Rittmeister verabschiedete sich nun bald und ging an einen anderen Tisch, wo er ärgerlich näselte:
„Angenehme Freuden meiner Stellung als Amüsierrat! Man muß sich da zu den Schmierenonkels setzen, weil sie ’n Kabarett auftun wollen.“
Zu gleicher Zeit sagte Sermo sehr ernst zu dem Komiker:
„Basil – eine andere Wette: der Rittmeister hat auch irgendwelchen Argwohn gegen die Frau gefaßt!“
Olfer blickte überrascht auf.
„Meinst du wirklich?“
„Ja! Ich fühle geradezu, daß er an dieses Interesse für die unversorgte Familie nicht glaubt. Er wittert etwas … Und hierüber muß ich mir volle Klarheit verschaffen. Zwei Jäger auf derselben Fährte können sich gar zu leicht um den Erfolg bringen.“
Eine Stunde später stellte sich bei Olfer das letzte Stadium weinfrohen Genießens ein; er entschlief sanft – und Sermo hatte alle Mühe, ihn, nachdem er schnell die Rechnung beglichen hatte, zu ermuntern. Arm in Arm verließen sie das Metropol.[6]
Halb acht morgens.
Frau Zechke klopfte zum dritten Male bei Sermo an – mit der Faust. – Nun endlich vernahm sie ihres Mieters Stimme: „Einen Augenblick!“
Dann wurde der Türriegel zurückgeschoben und Frau Zechkes Augen erblickten durch die Türspalte hindurch ein seltsames Bild: mitten im Zimmer lag auf dem Unterbett, bedeckt mit einem hellgrauen Ulster, ein Mensch, von dem aber nur eine riesige Glatze sichtbar war.
„Nanu – was ist …“
„Das ist das oberste Ende meines Freundes Olfer, liebe Frau Zechke“, erklärte Sermo rasch. „Geben Sie nur das Tablett her und bringen Sie noch eine Portion Frühstück. Auch saure Gurken müssen reichlich dabei sein.“
Die Alte brummte und die Tür schnappte ins Schloß.
Sermo stellte das Tablett auf den Tisch, öffnete die Fenster und begann seine Morgentoilette.
Er rasierte sich heute noch sorgfältiger als sonst. Vielleicht sprach ihn Frau Kaldenhoven heute an … Das war der einzige Grund, weshalb er eifriger als gewöhnlich den Bartstoppeln zu Leibe ging. Er gestand sich das ruhig selbst ein.
Basilius Olfer war auf seinem Nachtlager gestern sofort eingeschlafen. Sermo aber hatte noch stundenlang wachgelegen. Der Wein hatte seine Nerven rebellisch gemacht, sein Hirn hatte eine wilde Gedankenhetze vollführt. Um zwei Fragen spielten die Gedanken wie ein Mückenschwarm bei Gewitterluft … Wo hatte er diese Frau schon früher gesehen und – wie kam das Bild in die Reisetasche des Toten, das Bild – die Photographie des Studenten?!
Und je länger er über diese erste Frage nachgedacht hatte, ohne daß dieser Schimmer einer Erinnerung festere Formen annahm, desto reger wurde in ihm der Wunsch, Eva Kaldenhoven gegenüberzutreten und sie zu fragen: Wo und wann sind wir uns schon begegnet?
Auch jetzt dachte er wieder an sie; während er aus seinem Koffer ein frisches Oberhemd hervorsuchte, dachte er an die unerbittliche Logik seiner Schlußfolgerungen, die Eva Kaldenhoven mit dem Mord auf dem Dampfer in Verbindung brachten.
Dann wurde er auf Olfer aufmerksam. Der Komiker hatte kräftig genießt, stierte jetzt wild um sich und richtete sich auf.
„Morgen Basilius! Komm zu dir! Du befindest dich bei Mutter Zechke“, rief Sermo ihn an.
Olfer klappte den offenen Mund geräuschvoll zu, betastete sich den Rücken und murrte:
„Wo ich mich befinde, ist schnuppe, aber wie ich mich befinde, ist wichtig. Und ich befinde mich hundsmiserabel, nicht nur in der Schädelgegend, sondern auch auf der Kehrseite. Dieser fürstliche Pfühl scheint mir etwas hart gewesen zu sein.“
Es klopfte und Frau Zechke brachte ein Riesentablett und einen scheußlichen Geruch von Seefischen mit. Sie hatte morgens schon die Flundern vom Nachtfang sortiert.
Ihr „Guten Morgen“ klang mürrisch und der Blick den sie Olfer zuwarf, drückte ihre ganze Verachtung für das leichtsinnige Komödiantenpack aus.
„Liebe Frau Zechke“, begann er harmlos, „Sie erinnern mich ganz kolossal an eine Dame, die ich sehr gut gekannt habe. Denken Sie, die Ärmste, die Schauspieler nicht leiden konnte, wurde vom Himmel furchtbar bestraft. Sie verfiel nämlich in Irrsinn und bildete sich ein, nun selbst Schauspielerin zu sein, haßte sich daher selbst, beschimpfte sich. Traurig, nicht wahr?“
Die Alte begriff nicht sofort. Dann aber schoß sie mit einem „Selber irrsinnig“ zur Tür hinaus.
„So, nun ist mir ganz wohl“, lachte Olfer und erhob sich von seinem Parterrepfühl.
Dann saßen die beiden Kollegen beim Frühstück und gingen die Ereignisse des gestrigen Tages nochmals durch, um sich über einen Feldzugsplan für heute zu einigen. Es gab mancherlei zu besprechen und Basil mußte sich bereit erklären, nochmals Frau Gaffke aufzusuchen, während Sermo sofort nach Danzburg fahren wollte. Er hoffte, um zwölf wieder zurück zu sein.
*
Auch Dagobert von Quarg nahm zur selten Zeit in seiner Junggesellenwohnung das erste Frühstück ein. Seine Dienstwohnung lag neben den Büros der Kurdirektion im Hauptgebäude des Warmbades, wo sich auch der Lesesaal, das Schreib- und Musikzimmer befanden.
Seine drei Zimmer zeigten die typische Einrichtung des Heims eines unverheirateten Mannes: etwas zusammengewürfelte Möbel von sehr verschiedenem Wert, zahlreiche Sportbilder, Waffendekorationen, Peitschensammlungen, Jagdtrophäen. Der Rittmeister hatte sich als persönlichen Diener einen der Boten der Kurverwaltung, einen pensionierten Polizeiwachtmeister einer kleinen Kreisstadt, mühsam angebändigt.
Wer diesen Herrn Heinrich Dreyer nur einmal zu Gesicht bekam, verstand sofort, weshalb der Wachtmeister frühzeitig und etwas gewaltsam in den „wohl verdienten“ Ruhestand versetzt worden war. Dreyer war sozusagen das Gegenstück zu Basil Olfer. Wenn es diesem bis jetzt erspart geblieben war, sichtbare Zeichen seiner alkoholischen Neigung mit sich herumzutragen, so hatte jener infolge Mißgunst der Schönheitsgöttin die Vorliebe für Spirituosen mit einer blauroten Knollennase und einer äußerst verdächtigen Gesichtsfarbe bezahlen müssen. Trotzdem war der erste Eindruck, den man von Dreyer empfing, eher günstig als abstoßend. Seine stillvergnügte Miene, die selbst in unangenehmen Lagen sich nur wenig veränderte, dazu die kleinen, pfiffigen Schweinsäuglein und eine klapperdürre Gestalt, die stets in einen peinlich sauberen Dienstrock von grünem Tuch eingezwängt war, machten ihn zu einem Original, das jedermann kannte. Man nannte ihn allgemein den grünen Kakadu.
Dreyer hatte dem Rittmeister soeben die Morgenpost überreicht; vier Rechnungen von Geschäftsleuten aus Quargs früherer Garnison und einen großen Brief von feinstem Büttenpapier und einem Wappen in der Ecke.
Der Rittmeister las dieses Schreiben zuerst. Der Absender war der Staatsanwalt Botho von Gerting in Berlin, Quargs Intimus.
Gerting schrieb: „Lieber Bert! Dank für Deine Zeilen! Wenn meine Antwort kurz ausfällt, so trägt die Firma Moser u. Co. daran die Schuld. Diese Herren haben sich erlaubt, eine etwas schwindelhafte Pleite zu inszenieren. Ich vertrete die Anklage. Da es sich um Millionenschiebungen handelt, sind vier Aktenstücke entstanden, aus denen ich für die betreffenden Herren den Strick zu drehen habe und in denen soviel smarte Kniffe enthalten sind, daß ein schwaches Gemüt daraus ein Lehrbuch für besseres Hochstaplertum machen könnte. Also ich stecke bis an die Ohren in Arbeit! Immerhin bin ich imstande, Dir über jene Dame ziemlich erschöpfende Auskunft, zum Teil auf Grund eigener Wissenschaft, geben zu können. Leider keine Deinen Absichten günstige. E. K. ist eine Frau mit einem großen Fragezeichen. Sie stammt aus einer guten, aber total verarmten Familie. Der Vater endete durch Selbstmord, die Mutter war morphiumsüchtig und soll sich jetzt in einer Irrenanstalt oder in einem Sanatorium befinden. Geschwister sind auch vorhanden; über diese vermag ich nichts anzugeben. E. K. kam mit zwanzig Jahren zu dem millionenschweren Kunsthändler K. als Privatsekretärin. (Ihr Mädchenname ist notabene Meizen, was Dir vielleicht schon bekannt sein dürfte. Der Vater war Domänenpächter mit dem Titel Amtsrat.) Der bereits 58jährige K., bis dahin eingefleischter Junggeselle mit recht widerlichen Schrullen, verliebte sich in die schöne E. und heiratete sie. Das wohl etwas zweifelhafte Eheglück dauerte nur zwei Jahre. Dann – hm, ja, dann starb K. ohne Testament und E. wurde Erbin eines auf vier bis fünf Millionen geschätzten Nachlasses. Er starb … Ein Staatsanwalt, wie ich es leider bin, muß seine Zunge und seine Feder ganz besonders hüten. Also – er starb. – Willst Du über K.s Ende Näheres wissen, so wende Dich (aber ohne Dich auf mich zu berufen) an die Auskunftei Siegwart, Berlin S., Kreuzbergstraße Nr. 102. – Spare Dir aber besser die Mühe und das dazu gehörige Geld. Befolge meinen Rat: Gib Deine Pläne auf, Dich durch diese Heirat dem Frondienst Deiner jetzigen Stellung zu entziehen! Laß die Hände davon!! – So, das wäre alles, und – hoffentlich genügt es! Was mich selbst betrifft, so werde ich Dich nächstens durch eine Verlobungsanzeige überraschen. Es wird eine reine Neigungsheirat. Die Mitgift besteht aus einer 5 mit fünf Nullen. Für heute Schluß. Es grüßt Dich in alter Treue Dein Botho.“
Quarg, der in einem Korbsessel am Frühstückstisch saß, ließ die Hand mit dem Brief sinken und schaute mit halbgeschlossenen Augen nachdenklich vor sich hin. Seine Miene, die erst etwas enttäuscht gewesen war, hellte sich nun plötzlich auf. Er erhob sich schnell, ließ sich von Dreyer den hellgrauen Rock bringen, zog die Hausjacke aus und den Rock über und ging mit Gertings Brief in der Hand durch die Vorhalle in sein Büro hinüber, wo er in seiner Eigenschaft als Kurdirektor von 9–12 Uhr vormittags für die Badegäste zu sprechen sein mußte – mußte, leider Gottes! – Denn diese Sprechstunden waren die bittersten Tropfen in Bert von Quargs von pekuniären Sorgen bereits reichlich verdüstertem Dasein. Da fanden sich Herren und Damen mit allerlei Anliegen und allerlei verrückten Beschwerden ein. Da mußte er die dicke, aufgedonnerte Frau Viehhändler genau so gnädige Frau titulieren wie eine Frau Regierungsrat, mußte zu dem Kanzleisekretär genau so höflich sein wie zu dem Landrat, mußte tun, als nähme er an all diesen Leuten das lebhafteste persönliche Interesse und durfte nicht mal durch ein Wimperzucken Ungeduld oder gar versteckte Wut verraten.
Seufzend setzte er sich an den großen Tisch und suchte einen Briefbogen hervor.
Kaum hatte er die Überschrift „Auskunftei Siegwart, Berlin“ fertig, als auch schon der Anmeldejunge eintrat und mit seiner Piepsstimme die erste Belästigung ankündigte: „Frau Pensions-Inhaberin Anastasia von Zalewska.“
Nur die Zalewska! Die alte Schraube kann warten!
„Sage der Dame, ich ließe einen Augenblick um Entschuldigung bitten“, entschied er, und der Junge verschwand.
Quarg schrieb weiter. Im Reden war er groß. Nahm er die Feder zur Hand, so murkste er an jedem Satz minutenlang herum und mußte soundso oft das Wörterbuch der deutschen Rechtschreibung zu Rate ziehen. Die verfl… Orthographie war ja in den letzten Jahren x-mal geändert worden.
Er vertiefte sich so in die schwere Arbeit, daß er ein Klopfen an der Tür überhörte und erst entsetzt zusammenfuhr, als eine kreischende Stimme ihm in die Ohren gellte:
„Ich werde mich über Sie beschweren, Herr Rittmeister! Das ist ja wirklich noch schöner! Als ob ich stundenlang Zeit hätte! Also Briefe schreiben Sie – das ist ja unerhört!“
Die Zalewska, lang, mager, spitznasig, stand zitternd vor Empörung dicht vor dem Tisch. Ihre schwarzen, glühenden Mausaugen schienen Quarg versengen zu wollen.
Doch er wußte schon, wie er der Zalewska kommen mußte, stand auf, verbeugte sich, deutete auf einen Stuhl und sagte:
„Wollen gnädige Frau Platz nehmen? Und tausendmal bitte ich um Entschuldigung, daß ich Sie warten ließ. Ich habe heute früh die Todesanzeige meines Onkels Albert erhalten und schrieb soeben den Beileidsbrief.“
Die Zalewska war entwaffnet. Ein Todesfall – da mußte man wohl anstandshalber wieder friedlich werden.
„Womit kann ich dienen, gnädige Frau?“
„Nur eine Kleinigkeit, Herr Rittmeister. Bei mir wohnte bis gestern der Komiker Olfer; ich habe ihm aber kurzerhand kündigen müssen, da er nicht bezahlte, und nun weiß ich nicht, wo er ist, wo er hingezogen ist, und ich muß ihn sprechen, weil er doch noch zwei Briefe von Herrn Doktor Chulusoff bei sich hat, die dieser jetzt haben will, und Chulusoff hat sich sehr aufgeregt deswegen. Also, wo wohnt er jetzt, der Komiker? Vielleicht wissen Sie es.“ Das schnurrte sie herunter wie einen Leierkastengalopp.
„Oh, Chulusoff ist also schon von Danzburg zurück? Grüßen Sie ihn doch bitte von mir. Ich bin abends neun Uhr bestimmt im Kabarett. Vielleicht richten Sie ihm das aus.“
Die Zalewska nickte und lächelte vertraulich.
„Ein kleines Jeuchen im Anschluß – ich weiß Bescheid!“, meinte sie.
„Bitte sehr, gnädige Frau, Skat ist kein Jeu!“, erwiderte Quarg würdevoll. „Hm – und der Olfer, der saß gestern abend mit Sermo in der Weinabteilung des ‚Metropol‘ bei Sekt und Austern. Jedenfalls wird er Laggow vorläufig erhalten bleiben trotz des Theaterkrachs. Er hat ja das Kabarett im Kurhaus ins Leben gerufen.“
Der Zalewska war der Mund vor Staunen über „Sekt und Austern“ aufgeklappt.
„Wie – ‚Metropol‘!! – und mir ist er noch so viel Geld schuldig, der – der …“
Quarg nahm von diesem Wutschrei nicht weiter Notiz, sondern fragte:
„Gnädige Frau, wie kommt denn der Olfer zu Chulusoffs Briefen? Sind denn die beiden so gut miteinander bekannt, daß …“
Die Edeldame war rot und verlegen geworden, blickte zu Boden, erhob sich dann schnell und meinte:
„Darüber kann ich nichts sagen, Herr Rittmeister! Danke für die Auskunft.“
Und weg war sie.
Quarg schüttelte den Kopf, putzte sein Monokel und dachte: „Hier stimmt etwas nicht!“
Da erschien auch schon wieder der Anmeldejunge und krähte:
„Frau Bäckermeister Prosanke.“ Und leiser fügte er hinzu: „Die war schon viermal hier.“
Quarg stöhnte auf.
„Also denn weiter rinn ins Verjnüjen! – Ich lasse alleruntertänigst bitten.“
*
Basil Olfer traf im Speisesaal die Stütze, bot ihr sehr von oben herab einen guten Morgen und fragte:
„Frau Zalewska hier, Fräulein Marx?“
„Bedaure. Sie ist vorhin Ihretwegen zum Herrn Kurdirektor gegangen …“ Es folgten noch einige Sätze, auf die der Komiker erwiderte:
„Ich will jetzt meine Beziehungen zu diesem ungastlichen Hause völlig lösen. Ich schulde Frau Zalewska …“
„Frau von Zalewska!“, verbesserte die Stütze spitzen Tones.
„… noch einige Märker. Stellen Sie mir bitte eine Quittung über den Betrag aus. Und hier sind auch die beiden Briefe für Doktor Chulusoff.“
Beim Anblick des Hundertmarkscheins wurde Fräulein Marx bedeutend freundlicher.
„Meinen Koffer lasse ich nachher abholen“, sagte Olfer und zum Abschied: „Guten Morgen. Und bestellen Sie Frau Anastasia von Zalewska, daß ich ihr Pensionat bestens empfehlen werde an Leute, die eine Entfettungskur durchmachen wollen. – Doch halt – geben Sie die Briefe für Chulusoff wieder her. Ich will sie ihm selbst feierlichst überreichen.“
Der Russe bewohnte ein großes Zimmer im ersten Stock mit einem Balkon vor den Fenstern, die nach dem Garten hinausgingen.
Er saß gerade beim Morgenkaffee und begrüßte Olfer mit einem wahren Wortschwall, tat außerordentlich erfreut und erklärte, er hätte ihm so gern mit Geld ausgeholfen, wenn er nur seine Verlegenheit gekannt hätte.
Basil setzte sich, nahm die ihm dargebotene Zigarre, schnitt umständlich die Spitze ab. „Mein Bankier hat die Zinsen versehentlich nach Bromberg geschickt, wo ich im Winter engagiert war. Daher meine Geldknappheit! – Bitte, hier sind die Briefe, Herr Doktor. Sie hätten die Zalewska nicht gleich zum Kurdirektor hetzen sollen. Liegt Ihnen denn soviel an den Drucksachen, die Sie unter meiner Adresse hierher schicken lassen?! Die Umschläge sind etwas dünn, und da habe ich gesehen, daß nur Zeitungen darin sind.“
Chulusoff, ein langer, hagerer Mensch, mit blassem Gesicht, schwarzem Spitzbart und großen dunklen Augen, dazu einen breiten sinnlichen Mund, um den stets ein süßlichen Lächeln spielte, warf Olfer einen lauernden Blick zu. Der Komiker strich gerade ein Streichholz an und hielt es unter die Zigarre.
„Es sind medizinische Nachrichten“, erwiderte der Russe, der aus Olfers ganzem Benehmen schloß, daß dieser sich für die Briefe nicht in irgendwie auffälliger Weise interessierte. „Sie wissen ja, ich suche hier meine Kenntnisse nach Möglichkeit zu ergänzen. Deutschland marschiert auch auf medizinischem Gebiet an der Spitze.“ Er beherrschte die deutsche Sprache tadellos, und auch seiner Aussprache fehlte das Harte, das den Russen eigen ist.
„Schwindle nur zu!“, dachte Olfer. Laut aber sagte er:
„Wie wird’s denn jetzt mit den Briefen? – Ich wohne vorläufig bei meinem Freunde Sermo. Soll es so bleiben, wie es bisher war?“
„Aber nein doch. Jetzt, wo Sie uns verlassen haben, muß ich für Ihre Liebenswürdigkeit danken. Ich habe im übrigen auch vor, die Schrift abzubestellen.“
„So – dann wäre das ja erledigt. – Wissen Sie schon, daß ich jetzt Kabarettdirektor geworden bin?“
Das Gespräch ging auf Olfers Neugründung über und zehn Minuten später war Chulusoff wieder allein. Er hatte Olfer noch „als geringen Ausdruck seines Dankes“ hundert russische Zigaretten in einem hübschen Holzkästchen geschenkt.
Basil Olfer pfiff vergnügt einen Walzer, als er das Haus verließ. Er konnte ja auch mit dem doppelten Erfolg seines Besuches zufrieden sein. Einmal hatte er festgestellt, daß Chulusoff die „Volksorgel“ verleugnete, daß also etwas Besonderes hinter diesen Sendungen steckte – und dann hatte er hundert teure Zigaretten ehrlich verdient – mehr konnte der Mensch nicht verlangen!
Gerade als Basilius auf die Straße trat, begegnete er der Edeldame. Er grüßte – übertrieben tief, holte wortlos die Quittung hervor, hielt sie der Zalewska unter die spitze Nase, bis sie den Zettel überflogen hatte und ging weiter, obwohl sie ihm nachrief: „Einen Augenblick, Herr Olfer!“
Die Villa, die Frau Kaldenhoven in der Haffnerstraße gemietet hatte, stand weit zurück von der Straße inmitten eines wohlgepflegten, parkähnlichen Gartens, der nach dem Unterdorfe zu dem Abhang hinab in Terrassen angelegt war. Eine steile Bodenwelle teilte Laggow nämlich in ein Ober- und Unterdorf, was viel dazu beitrug, den Anblick des Badeortes von der See her recht eigenartig zu gestalten, da gerade auf der Anhöhe eine Anzahl prächtiger Villen, umgeben von kräftigem Baumwuchs, einen malerischen Hintergrund bildeten.
Eva Kaldenhoven saß auf der glasüberdachten Terrasse und schaute gedankenverloren durch die künstliche Baumlücke hinaus auf das im Sonnenlicht silberschimmernde Meer. Sie konnte gerade noch die Spitze des Seesteges sehen, wo soeben der Tourendampfer, von Halen kommend, angelegt hatte.
Wie gebannt ruhten die Augen des schönen, jungen Weibes auf dem Dampfer, aus dessen dickem, gelbem Schornstein eine schwarze Rauchwolke hochquoll und sich dann eine Strecke weiter auf See auf dem Wasser zu einer trüben Dunstschicht ausbreitete.
Je länger sie hinstarrte, desto schärfer prägte sich ein Ausdruck trostloser Verzweiflung auf ihrem feinsinnigen, zarten Antlitz aus. Ihre im Schoß verschlungen ruhenden Hände öffneten sich jetzt, umkrampften die Seitenlehnen des roten Rohrsessels und stützten den Körper, der sich halb aufrichtete und dann wieder zurücksank.
„Es ist der ‚Drache‘“, sagte sie halblaut vor sich hin und in ihrer Stimme war es wie ein Grauen.
Dann griff sie nach der Birne der elektrischen Hausleitung, die tief von der Lampe über dem Tisch herabhing.
Gleich darauf kam das Stubenmädchen.
„Gnädige Frau wünschen?“
„Ich möchte Belling sprechen.“
Der Schofför, ein Mann in den dreißiger Jahren, von untersetzter Gestalt, erschien, verbeugte sich und fragte leise:
„Gnädige Frau befehlen das Auto?“ – Er hatte ein glattrasiertes, etwas gewöhnliches Gesicht. Die braunen Augen waren ausdrucksvoll und schauten die schöne Herrin jetzt mit einem Gemisch von ehrlichem Bedauern und verborgener Angst an.
Eva Kaldenhoven schüttelte den Kopf.
„Nicht das Auto – nein – wo hätte ich jetzt Gedanken für eine Autofahrt? – Kommen Sie näher, Belling.“ Sie sprach mit gedämpfter Stimme. „Noch näher! Schauen Sie jetzt dorthin!“ Ihre Hand wies nach dem Dampfer, ihre Blicke aber blieben auf dem Schofför haften.
Der war etwas blaß geworden und unwillkürlich drängte es sich über seine Lippen: „Der ‚Drache‘!“
Scheu sah er dann auf die schöne Frau. Zwei Augenpaare begegneten sich, fraßen sich förmlich ineinander fest. Aber Franz Bellings Augen hielten die Probe aus. Nur ein trauriges Zucken lief über sein Gesicht.
Eva Kaldenhoven senkte den Kopf wieder.
„Was soll nun werden?“, hauchte Sie kaum vernehmlich. „Etwas muß doch geschehen, Franz.“
„Ja – etwas – muß geschehen …“ Ganz mechanisch sprach er diese Worte nach. Seine Gedanken wanderten andere Wege. Schon gestern hatte es ihm geschienen, als ob – als ob … Er mochte den Satz nicht zu Ende denken! Und jetzt eben wieder – – dieser Blick und dieses „Schauen Sie dorthin …“ – Franz Belling seufzte schwer. Es klang fast wie ein Stöhnen.
Und seine Augen suchten der Herrin Gesicht. Er sah Tränen in ihren Wimpern schimmern, sah zuckende Lippen. Und diese Lippen flüsterten jetzt:
„Hätte ich Sie nie nach Halen geschickt! Was nun – was nun …?! Raten Sie – sprechen Sie – nur nicht dieses Schweigen …!!“ Ihre Hände wanden sich wie verzweifelt ineinander.
„Ich – weiß – nicht“, meinte er tonlos. „Abwarten, gnädige Frau – abwarten!“
Zwei Tränen rannen über ihre Wangen.
„Ich halte diesen Kampf nicht länger aus, Franz – ich – ich kann nicht mehr.“ Wie ein Schrei klang es aus ihrem gequälten Herzen.
Franz Belling schaute hinaus ins Weite – dorthin, wo die Rauchfahne des Dampfers den Horizont verhüllte, wo es auf dem Meer lag wie drohende Nebelschwaden.
„Wir müssen – müssen!“, sagte er leise. „Wir – Sie und ich – auch ich …“
Eine Glastür klirrte … Und Eva Kaldenhoven sagte laut:
„Gut, dann kaufen Sie einen neuen Pneumatik …“
Das Stubenmädchen erschien und reichte der gnädigen Frau auf silberner Platte eine Karte.
„Danke, Belling – Sie können gehen“, meinte Eva Kaldenhoven und griff nach der Karte. „Es bleibt dann also bei unserer Verabredung.“
Er verbeugte sich tief und verließ die Terrasse.
Auf der Karte stand mit frischer Tinte geschrieben:
Basilius Olfer, Komiker, zurzeit Laggow.
„Ich lasse bitten.“ Es klang etwas zögernd. Was wollte Olfer von ihr …?
Dann saß er ihr gegenüber an der anderen Seite des Gartentisches, auf dem eine Vase mit tiefdunklen Rosen stand.
„Gnädige Frau, zunächst muß ich mich entschuldigen, daß ich im Straßenanzug bin“, begann er mit ruhiger Sicherheit. „Mir ist mit meinem Koffer gestern abend ein kleines Malheur passiert. Ich konnte ihn …“
„Oh – bitte, das bedarf doch keiner Entschuldigung“, unterbrach sie ihn.
Er verbeugte sich. „Ich komme als Beauftragter des Direktors Blendermann“, fuhr er fort. „Ich sollte Ihnen, gnädige Frau, als dem getreuen Stammgast seines Sommertheaters seinen verbindlichsten Dank für Ihr so überaus reges Interesse aussprechen, das Sie unserem jetzt leider verkrachten Unternehmen entgegengebracht haben.“
Eva Kaldenhoven war plötzlich eine feine Röte in die Wangen gestiegen. Leicht verwirrt antwortete sie nun:
„Ich bedaure Herrn Blendermann und auch die Mitglieder der Bühne aufrichtig. Wäre er zu mir gekommen, so hätte sich wohl ein Weg finden lassen, um dieses Ende zu verhüten.“
„Sehr gütig, gnädige Frau. Doch nun ist es eben zu spät. – Ich hätte noch eine Bitte. Würden Sie Frau Gaffke gestatten, daß sie die Garderobe für das Kabarett übernimmt, mit dem auf meine Anregung einige Kollegen und ich hier neuen Verdienst zu finden hoffen?“
„Gewiß, gern, Herr Olfer.“ Sie wurde lebhafter. „Frau Gaffke hat mir bereits mitgeteilt, daß sie Ersatz für den Posten als Logenschließerin dank Ihrer Vermittlung gefunden hat. – Darf ich erfahren, wer außer Ihnen noch der Bunten Bühne angehört?“
Basil Olfer wollte jetzt einmal so etwas auf den Busch schlagen.
So nannte er denn die Namen der Kollegen, nur den Sermos nicht.
Ah – wirklich – ihr Gesicht drückte deutlich bittere Enttäuschung aus! Und dann sagte sie langsam:
„So sind doch also eine ganze Anzahl von Mitgliedern brotlos geworden, da sie wohl schwerlich jetzt noch ein Engagement für den Sommer erhalten dürften. Ließe es sich denn nicht einrichten, daß die Theatervorstellungen wieder aufgenommen werden?“
„Unmöglich. Blendermann ist bereits abgereist, auch verschiedene andere Kollegen und Kolleginnen. Außer den Kräften für das Kabarett wird wohl kaum noch jemand von unserem Künstlervölkchen in Laggow sein.“ Olfer merkte genau, daß die schöne Frau jetzt nachgrübelte, wie sie unverfänglich das Gespräch auf Sermo bringen konnte.
„Wie schade!“, meinte sie. „Nun, hoffentlich schlüpfen wenigstens noch einige irgendwo unter.“ Und nach kurzer Pause: „Der Tenor, Herr Sermo, wird Laggow in besonders schlechtem Andenken behalten, einmal des Mißerfolges der Sommerbühne wegen, dann auch, weil er gestern vormittag Gelegenheit gehabt hat, einen Lebensüberdrüssigen sich ansehen zu können.“
Olfer spielte jetzt den Erstaunten.
„Sie scheinen überhört zu haben, gnädige Frau, daß ich auch Sermos Namen vorhin nannte – oder sollte ich ihn zu erwähnen vergessen haben?!“
„Wie – er bleibt auch hier?“, fragte sie rasch.
„Natürlich! Sermo ist mein Duzfreund. Wo werde ich den übergehen?“
„Oh – er bleibt …“, sagte sie und strich sich mit der Rechten über die Stirn hin; Worte und Bewegung waren ganz selbstvergessen. Nach einer Weile fuhr sie fort:
„Ich hätte mir gern einmal von Herrn Sermo erzählen lassen, ganz genau, wie die näheren Umstände dieses Selbstmordes gewesen sind. Ich möchte nötigenfalls die Familie dieses Mannes unterstützen.“
„Der Kurdirektor hat Sermo bereits von diesem Ihrem Wunsche Mitteilung gemacht, gnädige Frau. Mein Freund ist sehr gern bereit, Ihnen zu helfen, mit den Angehörigen des Toten in Verbindung zu treten.“ Also auch jetzt brachte sie dieses Märchen vor, spielte die Mitleidige, während sie doch in Wirklichkeit andere Ziele verfolgte! Das Heucheln verstand sie! Und trotz der frommen Taubenaugen! Schön – gewiß – aber auch gefährlich!
„Wann könnte ich Herrn Sermo wohl sprechen?“, fragte sie zaghaft.
„Wenn Sie Zeit haben, gnädige Frau – in einer Stunde. Sermo ist nach Danzburg gefahren, um Einkäufe zu erledigen. Um zwölf Uhr trifft er wieder ein. Wir haben uns im Kurgarten verabredet.“
„Dürfte ich mich Ihnen dann anschließen, Herr Olfer? Ich habe Zeit …“
„Wird mir ein Vergnügen sein, gnädige Frau.“
Eine Viertelstunde darauf zeigte Eva Kaldenhoven ihrem Gast den Garten. So kam man auch an der Garage vorüber. Die Türen standen offen, so daß das Auto sichtbar war.
Basil Olfer hatte sich in sein Schicksal ergeben. War er nun schon einmal hier, so wollte er auch die Gelegenheit ausnutzen.
„Wohl ein Opel-Wagen?“, fragte er, auf das Auto deutend. Er verstand von Autos nichts. Opel war ihm gerade eingefallen.
„Nein – Daimler.“
Sie schritt von selbst auf die Garage zu.
„Sie fahren gern, gnädige Frau? Steuern Sie selbst?“ – Wie bekomme ich nur den Schofför zu Gesicht?, dachte er. Auf den Mann soll ich ja achten … O-Beine – schmale Füße!
„Ich besitze den Führerschein und fahre wirklich sehr gern“, erwiderte sie. „Der Wagen ist ganz neu, Herr Olfer“, erklärte sie dann und legte die ringgeschmückte Linke auf eine der großen Scheinwerferlaternen.
„Könnte ich mir den Motor ansehen?“
Da rief sie laut: „Belling – Belling!“
Ah – das hatte er gewollt.
Abermals: „Belling – Belling!“
Sie waren wieder ins Freie getreten.
Links von der Garage stand ein zierliches Stallgebäude mit einem Hühnerhof davor.
Und der Schofför bog jetzt um die Ecke des Stalles und kam eilig herbei.
Basil Olfer schaute scharf hin – schaute gleich wieder weg …
O-Beine … und die braunen Schuhe waren fast zu schmal für die gedrungene Gestalt. Olfer erinnerte sich an die Fußstapfen auf dem roten Kajütenteppich, dicht neben der Mordstelle, wie Sermo sie ihm beschrieben hatte. Sein Verdacht, daß der Schofför Belling mit dem Mord irgendwie im Zusammenhang stehe, nahm bestimmte Formen an.
Frau Kaldenhoven war gern bereit, mit Olfer in den Kurgarten zu gehen. Sie saßen in angeregtem Geplauder schon eine Weile dort, als Sermo eintraf.
Olfer schritt hastig auf ihn zu.
„Tag – Söhnchen. Ich sitze mit „ihr“ zusammen. Hab’ auf eigene Faust meinen Auftrag umgeändert, ließ mich bei ihr melden und …“ Er weihte Sermo schleunigst in das Nötigste ein.
Dann begaben sie sich durch die Tischreihen zu Eva Kaldenhovens Platz unter den breitästigen Linden.
„Gnädige Frau gestatten: mein Freund Sermo.“
Sie reichte ihm zwanglos die Hand.
„Vom Ansehen kennen wir uns ja, Herr Sermo. Nein – nehmen Sie bitte diesen Stuhl.“
Sermo blieb einsilbig. Jetzt, wo er Eva Kaldenhovens Stimme hörte, wo er diese Frau, mit der er sich auch heute soviel in Gedanken beschäftigt hatte, so dicht neben sich sah, verschwand merkwürdigerweise jenes unbestimmte Gefühl, daß er ihr bereits früher begegnet wäre. Die weiche, etwas müde Stimme war ihm fremd, ganz fremd. Auch die Gesichtszüge schienen ihm nunmehr nur noch an irgendein Gemälde zu erinnern …
Dann tauchte der Kurdirektor in der Konzertpause auf – gerade, als Eva Kaldenhoven sich an Sermo mit der Bitte wandte, ihr eingehend zu schildern, was er im roten Salon des „Dache“ gesehen habe. Sie hatte ihre Worte so gewählt, daß sie den Ausdruck Selbstmord vermied, sprach nur von einem traurigen Vorfall und den vielleicht noch traurigeren Folgen für die ganze Familie.
Quargs Absicht, an den Tisch zu kommen, war der jungen Witwe kaum klar geworden, als sie Sermo zuraunte:
„Nein, nicht jetzt! Herr von Quarg scheint es auf uns abgesehen zu haben! Vielleicht darf ich die Herren nachmittags halb fünf zu einer Tasse Tee bei mir erwarten?“
Was blieb Sermo anderes übrig als zuzusagen, obwohl es ihm genau so wie Olfer widerstrebte, Gast dieser Frau zu sein, die nicht ahnte, daß sie bereits von Häschern umlauert war.
Dagobert von Quarg, auch heute die Liebenswürdigkeit selbst gegenüber den beiden Komödianten, belegte Eva Kaldenhoven trotzdem bald mit Beschlag, spielte sich als ihren guten Bekannten auf, ohne von ihrer schnell wachsenden kühlen Zurückhaltung Notiz zu nehmen.
Sermo fand, daß der Rittmeister reichlich aufdringlich war, stellte mit leiser Befriedigung fest, wie dessen Versuche, eine gewisse Vertraulichkeit mit Eva Kaldenhoven herzustellen, eine deutliche Ablehnung von ihrer Seite erfuhren, und verabschiedete sich dann, indem er erklärte, Olfer und er hätten noch wegen der abends stattfindenden ersten Vorstellung der Bunten Bühne allerlei Vorbereitungen zu treffen.
Quarg schaute den beiden mit etwas hochmütig-spöttischem Lächeln nach.
„Die armen Deubels können froh sein, daß der Kurhauspächter auf ihre Vorschläge eingegangen ist“, meinte er. „Ja, ja – diese Künstler! Denken Sie, Gnädigste, gestern früh mußte der Komiker Olfer die Pension Zalewska etwas zwangsweise verlassen wegen größerer Zahlungsrückstände und abends finde ich ihn und Sermo im Metropol beim Sekt und einem offenbar üppigen Souper …! Ein tolles Völkchen …!“
„Vielleicht eine Lebensauffassung, die man beneiden muß“, meinte sie.
„Gnädige Frau haben in Ihrer Herzensgüte für alles und für jeden eine Entschuldigung bereit“, erklärte er mit leichter Verbeugung.
„Entschuldigung? – Sagen Sie Verständnis. Das trifft mehr zu. Gerade die Lebensanschauungen der Künstler, mögen sie einen Beruf haben, wie sie wollen, sind mir durchaus nicht fremd. Im Hause meines Mannes verkehrten hauptsächlich Leute, die ihre besonderen Ansichten von Daseinsführung hatten, auch viele darunter von dem Schlage, auf die die Bezeichnung Bohemiens paßte. Und einige waren nicht nur Künstler, sondern auch Lebenskünstler. Ich wollte, ich hätte ihnen mehr abgelauscht, mehr von dieser leichten Art, wie sie sich durch Schweres hindurch fanden.“
„Hm, ja – in diesen Kreisen weiß ich nun allerdings weniger Bescheid.“ Das klang recht hochmütig. Dann fragte er: „Ihr Herr Gemahl war Kunsthändler, gnädige Frau, nicht wahr?“
„Ja“, sagte sie hastig und sehr unzufrieden mit sich, weil das Gespräch durch ihre Schuld die Vergangenheit streifte.
„Ich muß jetzt aufbrechen, Herr Rittmeister. Meine alte Köchin verlangt Pünktlichkeit.“
„Ja, ja, so alte Familieninventarstücke – kenne das!“ Er erhob sich gleichfalls. „Sie haben diese Küchenbeherrscherin wahrscheinlich von Ihrem Herrn Gemahl in die Ehe bekommen, gnädige Frau?“
Da wurde Eva Kaldenhoven stutzig. Ein schneller, forschender Blick traf sein Gesicht. Doch darin lag nur wieder das halbe, gewöhnliche Lächeln festgefroren.
„Sie gestatten doch, daß ich Sie nach Hause begleite, Gnädigste? Ich habe eben am Bahnhof zu tun, also denselben Weg“, meinte er, ihren Stuhl beiseite stellend.
„Aber bitte, Herr Rittmeister. Ich muß jedoch noch zu Rampf, um eine Änderung an meiner Brosche zu besprechen.“
Das Juweliergeschäft lag dem Kurhause gegenüber in der Seestraße. – Quargs Mund verzog sich. Sie wollte ihn schnell loswerden …! Warte, ich habe noch anderes in Bereitschaft, dachte er, da ihm soeben Botho von Gerting eingefallen war.
Schweigend gingen sie durch die Tischreihen. Dann bogen sie links ab, dem Ausgange zu.
„Ich hatte einem Freund von dem unverhofften Glück geschrieben, das Laggow in diesem Sommer durch Ihre Person beschert worden ist, gnädige Frau“, begann er. „Ist Ihnen vielleicht der Staatsanwalt von Gerting persönlich bekannt? Er ist ja recht vielseitig, hat einen großen Umgangskreis. Da wäre es ja immerhin möglich, gnädige Frau, daß Sie ihm irgendwo begegnet sind.“
Eva Kaldenhoven verlangsamte plötzlich ihren Schritt, blieb fast stehen. Ihr war’s, als hätte sich vor ihrem Gesicht eine drohende Faust geballt … Gerting – Gerting – Staatsanwalt …! Oh – schon der Amtstitel genügte, um ihren Herzschlag stockend zu machen … Wie im Traum ging sie weiter, wie durch eine düstere Dämmerung trotz des grellen Sonnenscheins ringsum. Und dann zuckte es ihr durch das Hirn: du mußt antworten! – du mußt …! Du darfst nicht auffallen irgendwie – gerade jetzt nicht!
„Den Namen habe ich wohl schon gehört!“, sagte sie. Es war eine fremde Stimme, die das sprach. Und sie fühlte nun auch des Rittmeisters prüfenden Blick. Mit aller Gewalt nahm sie sich zusammen … Und heraushören, was dieser fade Mensch da neben ihr eigentlich im Schilde führte. Erst dieses beharrliche Erwähnen ihres Mannes – nun noch der Staatsanwalt …! Was sollte das, wo sollte das hinaus?“
Die Gedanken jagten sie vorwärts. Ah – das Juweliergeschäft …! – Quarg hatte zuletzt kaum noch mit ihr Schritt halten können. Ein hastiger Abschied – dann war der Rittmeister allein.
Nachdenklich, langsam ging er dem Warmbad zu und betrat seine Wohnung.
Vielleicht mit noch ein wenig abgezirkelteren Bewegungen als sonst – als Ausgleich für seine innere Erregung! – legte er Hut und Stock weg, putzte sein Monokel und nahm an seinem Schreibtisch Platz.
Das Resultat einer Weile schärfsten Nachdenkens zeigte sich darin, daß er dem Kurdiener Heinrich Dreyer klingelte und diesem dann einen langen Vortrag hielt, der mit den Worten endete:
„Sie wissen also Bescheid! – Hauptbedingung: Maul halten! – auch in der Besoffenheit! alter Freund, verstanden?! Sonst fliegen Sie achtkantig hinaus, und die Laggower können sich nicht mehr an ihrem grünen Kakadu erfreuen – denn mit Ihrer Stellung als Bote ist auch der schöne, grüne Rock futsch!“
Dreyer lächelte wie immer stillvergnügt und sagte, indem er die Rechte aufs Herz legte:
„Herr Rittmeister werden mit mir zufrieden sein. Es gibt auch Papageien, die unter keinen Umständen zum Sprechen zu bringen sind, so auch der Laggower grüne Kakadu.“
„Als Detektiv muß man ein weites Gewissen haben“, meinte Sermo, dem der Komiker eben den Besuch bei Eva Kaldenhoven ganz eingehend geschildert und dabei die Bemerkung gemacht hatte, daß er sich eine Zeitlang dort auf der Terrasse der Villa wie ein „regulärer Schuft“ vorgekommen wäre, der „mit dem Dolch im Gewande seines Opfers Wein aussaufe“.
Sermo lachte auf.
„Mein lieber Basilius, zu deiner Beruhigung: auch ich war der schönen Frau Kaldenhoven gegenüber schon ganz weich geworden – vorhin am Tisch im Kurgarten! Grund: die Einladung für heute nachmittag zum Tee! – Zum Glück saß da dieser edle Herr von Quarg gleich nachher mit uns zusammen. Und da fiel mir ein, was ich dir gestern abend sagte, als du noch nicht das letzte Stadium, die Schlafsucht, erreicht hattest: daß der Rittmeister ebenfalls gegen diese Frau Argwohn geschöpft hat. Und wie ich daran dachte, Basilius, da sah ich unsere Detektivspielerei plötzlich in ganz anderem Licht. Wissen wir denn, ob Frau Eva Kaldenhoven irgendwie mitschuldig ist an diesem Verbrechen?! Bisher nicht! Was wir wissen, sind Verdachtsmomente, aber keine Beweise! Wir haben eben uns selbst gegenüber den Fehler begangen, uns als Verfolger Eva Kaldenhovens zu betrachten, während wir mit dem Gedanken an die Sache hätten herangehen müssen, wir nehmen uns vor, ohne jede Parteilichkeit zu prüfen, ob diese Frau bei dem Morde die Hand mit im Spiele gehabt hat oder nicht – das heißt: wir wollen ebensogut Belastungs- als auch Entlastungsmaterial sammeln, wir sind Untersuchungsrichter und Verteidiger in einer Person! – Wenn man von diesem Gesichtspunkte aus das Für und Wider dieser Einladung prüft, so kommt man ohne jede Haarspalterei und ohne jeden Selbstbetrug zu dem Ergebnis: wir dürfen die Einladung annehmen. – Gibst du mir recht, oder soll ich, was ich im stillen vorhatte, trotz der Zusage doch noch abschreiben und unser Fernbleiben irgendwie entschuldigen?“
Er war aufgestanden und ging zwischen den Tischen auf und ab. Er hatte sich in eine gewisse Erregung hineingesprochen und es litt ihn nicht länger in dem bei jeder Bewegung knarrenden Korbsessel.
Bevor Basil Olfer noch antworten konnte, ein bedeutungsvoller Zwischenfall …
„Du – schnell, komm her!“, rief Sermo plötzlich. Er hatte durch das Fenster in den Kurgarten hinabgeschaut, war dann mit einem Male stehengeblieben.
Olfer trat neben den Freund. Und Sermo deutete mit der Hand auf Frau Eva Kaldenhoven und den Rittmeister, die an dem großen Mittelbeet vorübergingen. Es war gerade der Moment, wo die schöne Frau wie betäubt ihre Schritte verlangsamt hatte, wo eine Faust sich ihr drohend entgegenzustrecken schien, weil Quarg das Wort Staatsanwalt ausgesprochen hatte.
Die Gesichter der beiden waren von hier oben ganz deutlich zu erkennen. Das Eva Kaldenhovens drückte Bestürzung, Verwirrung und Seelenpein aus, während Quarg höhnisch triumphierend lächelte.
Dann stürmte die junge Witwe förmlich davon.
Sermo wandte sich dem Komiker zu:
„Sahst du Quargs Fratze, Basil? – Wie gefiel sie dir?“
„Söhnchen, weiß Gott, du hast recht gehabt! Untersuchungsrichter und Verteidiger! Die Szene eben da unten läßt auf irgendeine Schurkerei schließen.“
„Dann sind wir also wieder mal einig.“ Sermo setzte sich. „Nun zu den Ergebnissen meiner Fahrt nach Danzburg. Sie sind gleich null. Die Persönlichkeit des Toten ist noch genau so in undurchdringliches Dunkel gehüllt wie gestern. Festgestellt ist nur, daß der Mann im Kurhaus von Halen vier Tage gewohnt hat, und zwar unter dem Namen Müller – Kaufmann Giesbert Müller aus Frankfurt a. O., wo es jedoch laut telephonischer Auskunft keinen Giesbert Müller gibt, was vorauszusehen war. In Halen hat der Unbekannte ganz für sich gelebt, Spaziergänge gemacht, gebadet – kurz, in seinem Verhalten war nichts Auffälliges. – Auch die Hoffnung des Kriminalinspektors Wangel, daß die chiffrierten Briefe etwas Licht in das Dunkel bringen würden, hat sich bisher als falsch erwiesen. Der Sachverständige für Geheimschriften hat versagt! Noch nicht ein Wort hat er entziffern können. Dann der Blutfleck auf dem Sofa des roten Salons. Der Gerichtschemiker hatte erklärt: Menschenblut, noch recht frisch, jedenfalls nicht über zwei Tage alt! – Mithin rührt der Fleck von der Stirnwunde des Ermordeten her. – Wir kommen zu der Waffe, dem Revolver: Dutzendware, nicht ganz neu, belgisches Fabrikat. Firma: Brüsseler Munitionsfabriken. – Wangel will versuchen, mit Hilfe der Fabriknummer zu ermitteln, wo die Waffe gekauft worden ist und wer sie erworben hat. Der Erfolg bleibt mehr als zweifelhaft, was er selbst zugibt. Nur in Kriminalromanen notieren sich die Waffenhändler immer die Namen der Käufer eines Artikels – weil eben sonst der Herr Verfasser Schwierigkeiten hätte, den Mordbuben durch einen Überdetektiv entlarven zu lassen! – So, mein lieber Basil, das wäre alles. Möglich ist es ja, daß sich auf die von mir entworfene Zeitungsnotiz hin die Fahrtteilnehmer vollständig melden und daß einer von diesen Leuten, die mit auf dem Dampfer waren, als der Mord geschah, etwas aussagen kann, was wichtig ist. Wenn ich von vollzählig spreche, so ist das natürlich mit der Einschränkung zu verstehen, der Täter wird es wohl vorziehen, nicht mit der Polizei in Berührung zu kommen.“
Olfer streichelte liebevoll seine Billardkugel, schlug sich jetzt klatschend auf den Scheitel und rief:
„Söhnchen: also der Mörder wird sich nicht melden! – Bin neugierig, ob sich der Schofför Belling melden wird!“
„Daran dachte ich auch schon. Unbekannt kann ihm die Zeitungsnotiz kaum bleiben. Sie erscheint mehrmals in allen Blättern Danzburgs. Heute in den Morgenausgaben findest du sie bereits.“ Er faßte in die Brusttasche, holte eine Zeitung hervor, entfaltete sie und las: „Selbstmord eines Unbekannten auf einem Dampfer. Auf dem zwischen Halen, Laggow und Danzburg verkehrenden Tourendampfer D. hat sich gestern vormittag ein Mann erschossen, dessen Identifizierung auf Schwierigkeiten stößt. Sämtliche Passagiere, die gestern früh sieben Uhr von Halen mit dem Dampfer D. abgefahren sind, werden gebeten, sich auf dem Polizeipräsidium hier, Zimmer 24, zu melden.“ –
Sermo steckte die Zeitung wieder in die Tasche.
„In der Kürze liegt die Würze“, meinte er. „Ich habe absichtlich diese knappe Form für die Notiz gewählt. Jeder, der sie liest, wird denken, die Fahrgäste – es sind nebenbei siebzehn gewesen, denn siebzehn Fahrscheine wurden in Halen verkauft! – sollen mithelfen, die Persönlichkeit des Toten festzustellen. Was nun Belling anbetrifft, so wissen außer uns noch Frau Kaldenhoven und auch Gaffkes davon, daß er diesen Dampfer zur Rückfahrt von seinem Ausflug benutzt hat. Nur Gaffkes halten sicher die Danzburger Zeitung, werden den Schofför daher auch mit dem stets regen Interesse einfacher Leute für sensationelle Ereignisse fraglos auf die Notiz aufmerksam machen, falls sie ihm selbst entgehen sollte. Also erfahren wird er ohne Zweifel, daß die Polizei die Passagiere vernehmen will.“
„Diesen Gedanken noch weiter auszuspinnen, erscheint mir sehr lohnend“, sagte Basil Olfer eifrig. „Wenn wir feststellen, daß Gaffkes den Belling auf die Notiz hingewiesen haben und daß er trotzdem sich nicht meldet, so spricht das doch sehr, sehr gegen ihn. Und wenn es uns gelänge, zu ermitteln, ob Eva Kaldenhoven die Notiz kennt und ihren Schofför trotzdem nicht veranlaßt, Zimmer 24 im Danzburger Polizeipräsidium aufzusuchen, so … so …“
„… notieren wir das auf das Konto: Belastungsmaterial“, ergänzte Sermo den Satz. Dann fuhr er fort:
„Ich habe den Kriminalinspektor, was ich nicht vergessen möchte, zu erwähnen, gebeten, telephonisch in Berlin beim dortigen Polizeipräsidium die Übersendung sämtlicher Nummern der „Volksorgel“ der letzten drei Monate zu beantragen. So erhalte ich das Revolverblatt am schnellsten, denn in Danzburg ist es nicht zu haben. – Natürlich wollte Wangel durchaus wissen, was ich mit den Zeitungen vorhätte. Ich hüllte mich in Schweigen, sagte nur, daß die „Volksorgel“ mit dem Mord im roten Salon nichts zu tun hätte. Und das ist ja auch die Wahrheit. – Wangel glaubte mir offenbar nicht recht, meinte, ihm gefalle es gar nicht, daß ich so kleine Geheimnisse vor ihm habe, wie ich z. B. auch meine Absichten mit dem dünnen Patentschlüssel ihm vorenthielte. Schließlich beruhigte er sich aber. Er ist ein harmloses Tierchen.“
Olfer schnitt eine Grimasse. „Donner und Doria – der Schlüssel! Ich wußte doch, daß ich dich noch etwas fragen wollte, Söhnchen! Also: Was wolltest du mit dem Schlüssel, sprich!“, fragte ihn schnell der Komiker.
„Bedauere, Basilius! Das bleibt mein Geheimnis noch bis zum Abend. Nur bis heute abend – also glätte deine enttäuschten, gekränkten Züge! – Und nun – auf zum Freitisch! Ich habe einen Mordshunger!“
Während sie den Kabarettsaal verließen, meinte Olfer ohne sonderliches Interesse:
„Warst du eigentlich auf der Danzburger Bank? Du wolltest doch nachfragen, ob die Herren dort Näheres darüber wüßten, wie die Überweisung der zehn hübschen Vögelchen erfolgt ist.“
„Dazu hatte ich keine Zeit mehr. Morgen vormittag will ich’s nachholen.“
*
Die Mitglieder der Bunten Bühne waren bis auf Sermo und Olfer bereits am Freitisch versammelt.
Olfer heimste dann von allen Seiten anerkennende Worte für die Ausstattung des Saales ein. Selbst Frau Ottilie Gunnar äußerte sich lobend. Besonders die türkischen Zelte gefielen ihr. – Nur Lotte Gunnar, Sermos heimliche Anbeterin, sagte als einzige nichts, so daß Sermo, der an ihrer Seite saß, fragte:
„Und Sie? So still? Kränken Sie doch Basilius nicht. Er ist so stolz auf sein Werk.“
Sie zuckte nur die Achseln und schwieg.
„Schlechte Laune, Fräulein Lotte?“, meinte er gutmütig lächelnd. „Bei dem Prachtwetter und den Aussichten, heute abend rauschenden Beifall zu ernten?!“
„Rauschenden Beifall? Vielleicht bleibt’s hundeleer!“
„So bissig? Was haben Sie denn? Streit mit Mama? Wie?! –“
Abermals nur ein Achselzucken. Und dann nach einer Weile:
„Wo hat Olfer eigentlich Frau Kaldenhoven kennengelernt?“
„Er hat ihr einen sehr offiziellen Besuch abgestattet – als Beauftragter unseres verblichenen Direktors, hat ihr dessen Dank für das dem Theater entgegenbrachte Wohlwollen übermittelt.“
„So? … Als Beauftragter?! – Merkwürdig, daß Blendermann selbst nichts von diesem Auftrage weiß. Wir haben ihn doch zur Bahn gebracht. Und kurz vor dem Einsteigen in den Zug sagte er noch: Ich hätte eigentlich unserem Stammgast eine Dankvisite abstatten sollen. Die Dame hätte es verdient. Aber meine Zeit war zu knapp.“
Sermo wurde doch etwas verlegen. Lotte Gunnar entging das nicht. Ihr Herz krampfte sich in glühender Eifersucht zusammen. Sie hatte vorhin im Kurgarten gesehen, daß Olfer mit Eva Kaldenhoven an einem Tisch saß, daß der Komiker dann Sermo entgegeneilte und ihn der reichen Witwe vorstellte.
Der reichen Witwe …! Reich … reich …!! Natürlich lockte das Sermo! Und natürlich war’s ein abgekartetes Spiel! Olfer machte hier den Vermittler!
Sermo ahnte nicht, wie es um das Herz dieses Mädchens stand. Gewiß, er hatte sich viel mit ihm beschäftigt, aber ein rein freundschaftliches Interesse für sie gezeigt, da er sie ihres tadellosen Benehmens wegen hochschätzte.
Heute zum erstenmal fiel es ihm auf, daß sie doch zuweilen recht launenhaft sein konnte. Und urplötzlich dämmerte es dann in seinem Hirn: Eifersucht – Eifersucht! – Wirklich – er war bisher vollkommen blind gewesen! Jetzt besann er sich auf viele Kleinigkeiten, auf Vorfälle, die er nie richtig hatte bewerten können, weil er eben den Frauen so völlig kühl gegenüberstand.
Arme Lotte! Sie war eifersüchtig auf Eva Kaldenhoven! Sie fürchtete, daß die reiche Frau ihr den Weg zu seinem Herzen versperren könnte. Arme Lotte …! Der Weg war längst versperrt – aber durch eine andere, die ein häßliches Spiel mit ihm getrieben, die ihm die ersten Tränen grenzenloser Scham in die Augen getrieben hatte!
Sie tat ihm unendlich leid. Und aus diesem Gefühl heraus sagte er nun leise: „Sie scheinen zu vermuten, daß Olfer mit diesem Besuch bei Frau Kaldenhoven ganz bestimmte Zwecke verfolgte. Ich kann Ihnen nur versichern, daß er der Dame, wenn auch nicht aus sich heraus, den Dank der Bühnenmitglieder ausgesprochen, nebenbei aber noch die Bitte mit eingeflochten hat, daß Frau Gaffke die Garderobe des Kabaretts übernehmen dürfe. – Wenn Sie Zweifel hegen – bitte, fragen Sie doch Frau Gaffke, Fräulein Lotte.“
Sie erwiderte nichts, wandte sich gleich darauf an den Charakterkomiker Orlega und fragte ihn, was er abends vorzutragen gedenke.
Sermo seufzte verstohlen auf. Diese Liebe!! Immer schuf sie neue Widerwärtigkeiten, Enttäuschungen und Leid! Wirklich – wohl dem Manne, der über diesem Empfinden stand, der die Sehnsucht nach dem Weibe soweit in der Gewalt hatte, sich nicht von der sogenannten Liebe überrumpeln zu lassen …!
*
Etwa zur selben Stunde wollte sich der eifrige Danzburger Kriminalinspektor, Herr Wangel, nochmals die Photographie des Studenten ansehen, die Sermo unter dem Boden der Reisetasche entlockt hatte.
Wachtmeister Kargowski befand sich auch im Zimmer.
Während der Kriminalinspektor die beiden Messingknöpfe am Taschenboden losschraubte, meinte Kargowski:
„Wäre es nicht vielleicht ganz zweckdienlich, wenn wir das Bild vervielfältigen und mit einem gedruckten kurzen Anschreiben an alle studentischen farbentragenden Verbindungen schicken? Vielleicht hilft uns dies auf die Spur des Toten. Man kann ja nicht wissen …“
Wangel nickte eifrig. „Kargowski, manchmal haben Sie recht glückliche Einfälle. Wird gemacht! Es müßte doch mit dem Henker zugehen, wenn wir nicht rauskriegen sollten, wer der Ermordete ist.“
So – nun hatte er auch die zweite Schraube heraus, hob den Boden etwas an und …
„Kargowski – – das Bild ist weg!“, rief er und fingerte immer noch suchend in dem Versteck herum.
„Tatsächlich – weg!“ Er machte ein so verblüfftes Gesicht, daß der Wachtmeister ein Lächeln unterdrücken mußte.
„Na – na, Herr Inspektor – es wird wohl bloß tiefer nach hinten gerutscht sein“, meinte er, nahm die Tasche und suchte nun selbst – – doch vergeblich.
„Begreifen Sie das?“, sagte Wangel ganz kläglich. „Es war doch heute vor drei Stunden noch da, dieses verflixte Bild. Ich habe es doch noch dem Sermo gezeigt, der es gern nochmals sehen wollte. Dann habe ich die Reisetasche eigenhändig weggeschlossen!“
Der Wachtmeister räusperte sich.
„So – so, – hm ja, – also dem Herrn Sermo“, meinte er gedehnt.
Wangel schaute ihn scharf an.
„Kargowski – was denken Sie jetzt? Raus damit. Sie verbergen mir etwas!“
Der Wachtmeister wiegte bedächtig den Kopf hin und her.
„Ich möchte mich nicht gerade gern auslachen lassen. Aber dieses Verschwinden des Bildes, hm – ja, und all das übrige dazu – – hm, ja!“
„Sie bringen mich mit Ihren Hm – jas rein zur Verzweiflung. Reden Sie … los!!“
„’s ist man immer bloß ’n Komödiant, Herr Inspektor, und die sind alle unzuverlässig – alle! – Wenn nun zum Beispiel dieser Sermo, der doch sicher ein ganz gerissener Kunde ist, nur hier zu uns gekommen wäre, um uns irre zu führen! Komisch war’s doch schon, daß er so einfach sich den Toten ansehen ging, nicht wahr? Und der Kapitän Ewald hat doch ausgesagt, Sermo hätte ihm und dem Steuermann befohlen, an der Tür zum roten Salon stehenzubleiben. Er ist allein drin gewesen, allein! Kann er da nicht irgendwas weggenommen haben, um den Täter zu schützen, mit dem er vielleicht unter einer Decke steckt?! Vielleicht erzählt er morgen mit großem Bedauern, er hätte den Schlüssel verloren. Dann ist der Schlüssel futsch – vielleicht ein wichtiges Beweisstück! – – futsch, wie jetzt das Bild! Und die Geschichte mit den Zeitungen, die gefällt mir auch nicht!“
Wangel schaute nachdenklich vor sich hin. Das Mißtrauen war als böse Saat nur zu schnell bei ihm aufgekeimt. Er wehrte sich noch dagegen, fragte jetzt kopfschüttelnd:
„Kargowski, bedenken Sie, er war es ja selbst, der uns erst klar gemacht hat, daß ein Mord vorliegt. Ohne ihn wäre der Mann als Selbstmörder begraben worden, und wir hätten …“
Wangel verlor den Faden und schloß mit einem: „Nein, nein, da sind Sie auf dem Holzweg, mein Lieber!“
Aber der Wachtmeister gab so leicht nicht nach.
„Herr Inspektor, so ganz ist es wohl doch nicht raus, ob wir nicht auch allein auf den Verdacht gekommen wären, daß es sich um einen Mord handelt! Wer weiß, was die chiffrierten Papiere enthalten, wer weiß, ob wir nicht feststellen, wer den Revolver mal gekauft hat. – Und dies mag der Sermo eben gefürchtet haben, und daher ist er lieber gleich hier als Besserwisser erschienen und hat sich so die Gelegenheit verschafft, Beweisstücke verschwinden zu lassen. Ich traue ihm nicht! – Das Bild ist weg – das spricht Bände.“
Wangel glättete sich nervös den pomadeglänzenden Scheitel.
„Sie verstehen es, einem den Kopf heiß zu machen, Kargowski!“, stöhnte er. „Himmel, wenn Sie recht hätten, wenn dieser …“ Wieder beendete er den Satz nicht, fuhr plötzlich sehr energisch fort: „Ich fahre nach Laggow, Kargowski, gleich nach dem Kaffee! Und ich werde den Herrn dann mal gründlich auf Herz und Nieren prüfen! Den Schlüssel muß er herausgeben, und wegen des Bildes – na, das wird sich auch noch finden.“
Kargowski strahlte.
„Genau dasselbe hatte ich vorschlagen wollen“, meinte er wichtig. „Darf ich nicht mit nach Laggow, Herr Inspektor?“
„Ja, – gut, abgemacht!“
Eva Kaldenhoven war in dem Juweliergeschäft ganz kraftlos auf einen der Polsterschemel gesunken, bat um ein Glas Wasser, trank es aus, kaufte eine Kleinigkeit und verließ nach einer Viertelstunde leidlich erholt den geschmackvoll ausgestatteten Laden.
Hastig eilte sie die Seestraße hinauf. Sie war jetzt bereits zu einem bestimmten Entschluß gelangt. Vorher mußte sie aber noch Belling sprechen. –
Da gerade an der Ecke der Haffnerstraße sprach sie ein zerlumpter Junge an.
„Sie – sind Sie Frau Eva Kaldenhoven?“, fragte er.
„Allerdings – aber …“
„Wo wohnen Sie?“, forschte er weiter, ihr ungezogen ins Wort fallend.
„Hier in der Haffnerstraße.“
„Und wo da? In welcher Villa?“
„In der Bongardschen[7]. – Doch zu welchem Zweck …“
„Hier – nehmen Sie!“ Er reichte ihr ein flaches Päckchen, lief dann davon und verschwand in der Straße nach dem Bahnhof zu.
Eva Kaldenhoven ging langsam weiter. In ihrem Gesicht malten sich deutlich Angst und Bestürzung. Das Päckchen brannte wie Feuer in den Händen. Sie ahnte, was es enthielt. Gerade die Art und Weise, wie es ihr zugestellt worden war, sagte genug …
Dann faßte sie sich ein Herz, entfernte das braune Papier … Ein Blick genügte … Sie hatte sich nicht getäuscht …
Wieder stürmte sie vorwärts.
Im Vorgarten sah sie Gaffke mit der Maschine den Rasen stutzten.
„Wo ist Belling? – Er soll sofort zu mir kommen – verstanden?“
„Jawohl, gnädige Frau.“
Erschöpft sank sie auf der Terrasse in einen Korbsessel.
Das Stubenmädchen erschien. „Darf ich auftragen, gnädige Frau?“
„Nein – nein – ich esse später. Gehen Sie! Belling soll kommen!“
Und Franz Belling erschien, sah ihr verstörtes Gesicht, erschrak …
„Ist etwas geschehen, gnädige Frau?“
„ Ja … ja!“ Tränen würgten ihr in der Kehle. Sie erhob sich mühsam, ging die Treppe hinab in den Garten.
Belling ging neben ihr. – Unter einer uralten Linde war ein Gartenplatz hergerichtet mit Möbeln aus Naturwurzeln. Hier setzte sich Eva Kaldenhoven und winkte den Schofför nahe heran.
Mit fliegendem Atem erzählte sie ihm von Quargs verdächtigem Gebahren, zum Schluß von dem Jungen mit dem Päckchen …
„Belling“, stöhnte sie auf, „keine Minute länger als nötig bleibe ich hier. Wir werden abreisen, noch heute, sofort, – mit dem Auto, – irgendwohin. Anna und Amalie können nachkommen. Nur fort – fort!“
Er schüttelte traurig den Kopf, beugte sich zu ihr hinab und sprach leise auf sie ein.
Mit weiten Augen starrte sie ihn an. Ihre Gestalt sank völlig in sich zusammen.
Und er sagte dann eindringlich, beschwörend:
„Es geht also nicht, gnädige Frau! Mir müssen bleiben!“
Sie erwiderte etwas, worauf er ins Haus eilte, sehr bald zurückkam und ihr ein kleines Kästchen brachte. Es enthielt eine Morphiumspritze und ein Fläschchen mit Glasstöpsel.
Nachher, als sie der Villa wieder zuschritten, sagte Belling ernst:
„Das Kästchen behalte ich, gnädige Frau! Wenn ich heute es selbst holte, so geschah es nur, damit gnädige Frau etwas Ruhe findet. Aber nochmals – nein – nein – dieses Teufelsgift ist ja an allem schuld.“
Eva Kaldenhoven war jetzt wie ausgewechselt.
„Gut, Belling“, meinte sie mit fester Stimme, „nehmen Sie es in Verwahrung. Aber wenn ich wieder …“
„Gnädige Frau müssen die Energie auch so finden, dieses auch noch zu ertragen“, unterbrach er sie bescheiden, aber bestimmt. „Besser ein Glas Sekt zur rechten Zeit als die Spritze …“ –
*
Sermo hatte geglaubt, nach der am Vormittag im Kurgarten beobachteten Szene eine niedergedrückte Frau in der Villa der Haffnerstraße vorzufinden.
Er war daher sehr erstaunt, daß Eva Kaldenhoven Olfer und ihn frisch und angeregt empfing und ihr auch nicht das geringste mehr anzumerken war, obwohl sie doch von dem Rittmeister recht stark aus dem seelischen Gleichgewicht gebracht worden seien mußte. Jedenfalls sagte Sermo sich, daß dieses schöne Weib über eine ungewöhnliche Energie und Elastizität verfügen müsse.
Während man dann zu dreien bei Tee und allerlei Gebäck, einer Auswahl erstklassiger Liköre und ebenso erstklassiger Zigarren und Zigaretten saß und zwanglos und lebhaft von diesem und jenem plauderte, gab es Augenblicke, in denen Sermo vollständig vergaß, welch’ heimliche Absichten er hier heute nebenbei noch auszuführen sich vorgenommen hatte, und daß er nicht lediglich der liebenswürdige Plauderer, sondern auch … Untersuchungsrichter und Verteidiger sein mußte.
Dann wieder gab es auch Momente, in denen er sich halb unbewußt mit stiller Bewunderung in das Studium dieses eigenartig reizvollen, feinen Frauenantlitzes versenkte. Und da fiel ihm auf, daß jener müde, schwermütige Zug um den Mund und die ausdrucksvollen Augen selbst dann nicht schwand, wenn der Anflug eines Lächelns über ihr Gesicht huschte bei Olfers teils bissigen, teils witzigen Bemerkungen über das Thema: Laggower Baderepublik.
Ja, es kam schließlich sogar so weit, daß Sermo mit einem gewissen Nachdruck sich daran erinnern mußte, welcher Verdacht auf diesem gerade des sie umgebenden Hauches von Weltschmerz wegen so berückenden Weibe ruhte. Dann gab er sich minutenlang Mühe, irgend etwas an dieser aschblonden Eva zu entdecken, was auf einen etwas angefaulten Charakter auch äußerlich schon hindeutete. Aber – er fand nichts! Und gerade dies fruchtlose Suchen brachte ihn schließlich in eine gewisse gereizte Stimmung, halb gegen sie, die doch wohl eine glänzende Komödiantin sein mußte, halb gegen sich selbst, da er heute zum erstenmal seit langer, langer Zeit wieder das sich regen fühlte, was er in seinem Herzen für tot gehalten: die Freude an weiblicher Schönheit!
Bisher war von den Vorgängen auf dem Dampfer kein Wort gesprochen worden. Ja, Eva Kaldenhoven schien diesem Gegenstande sogar absichtlich auszuweichen, schien ganz zu vergessen, daß jener … Selbstmörder ihre Teilnahme in so hohem Grade erregt hatte, daß sie damals schnell den Rittmeister hinter Sermo hergeschickt hatte.
Und dieser selbe Sermo, der sich eben wieder an seine geheime Aufgabe erinnert hatte, benutzte jetzt eine kleine Pause in der Unterhaltung, um recht unvermittelt zu der aschblonden Circe zu sagen:
„Gnädige Frau, darf ich Ihnen jetzt das schildern, was Sie so gern von mir erfahren wollten?“
Er fühlte selbst, daß der Ton seiner Stimme etwas hart und unhöflich klang, als ob er bereits ungeduldig sei, sich dieser Pflicht zu entledigen.
Olfer sah ihn denn auch ein wenig überrascht und unwillig an, und Frau Kaldenhoven warf ihm gleichfalls einen erstaunten Blick zu, antwortete dann aber sofort mit einer abwehrenden Handbewegung:
„Nein, bitte, nicht jetzt, nicht heute, Herr Sermo. In diesem Nachmittag paßt so Trauriges nicht hinein.“
Dann erhob sie sich. „Wenn es den Herren recht ist, zeige ich Ihnen einmal den Garten“, meinte sie. „Allerdings – Ihnen, Herr Olfer, ist es ja nichts Neues mehr. Darf ich Ihnen dann vielleicht die Mappe mit den Watteau-Skizzen bringen lassen, von denen wir vorhin sprachen?“
Basilius hatte gute Ohren. – Wollte sie etwa mit Sermo allein sein?! Fast schien es so. – Nun gut – das Vergnügen sollte sie haben!
So bat er denn um die Skizzen, und gleich darauf war er auf der Terrasse allein.
Die Likörflaschen standen in so verführerischer Nähe … Er liebäugelte mit ihnen. Aber – er bezwang sich.
Die Watteau–Bildchen hatte er schnell durchgeblättert. Viel verstand er ja nicht von der Malerei, begriff nicht recht, wie Leute für diese Sächelchen so ein Sündengeld bezahlen konnten. Und das mußten diese flüchtigen Pinseleien des berühmten Franzosen gekostet haben.
Er legte die Mappe weg, schaute sich um, betrachtete jeden Gegenstand genau, freute sich über die Rosen in der Vase, ärgerte sich über die geschmacklose Glocke der elektrischen Lampe, und bemerkte dann hinter einem dicht an die Brüstung der Terrasse gerückten Korbsessel ein braunes Stück Papier, daraus hervorragend aber etwas, das ihn geradezu zusammenfahren ließ …
Scheu wie ein Dieb sah er sich um, stand auf, durchmaß ein paarmal die Terrasse in scheinbarer Langeweile, bückte sich dann und hob das halb geöffnete Päckchen auf, das durch einen Zufall von der Brüstung hinter den Sessel gefallen war, – dasselbe Päckchen, das der zerlumpte Junge Eva Kaldenhoven in die Hand gedrückt hatte.
Basil Olfers Gesicht hatte einen ganz eigentümlichen Ausdruck angenommen. Ungläubiges Staunen wandelte sich schnell in scharfes Nachdenken, und dieser Zug wich wieder dem triumphierender Verschlagenheit … Er hatte das Revolverblatt „Die Volksorgel“ erkannt.
Eva Kaldenhoven und Sermo waren inzwischen durch den Garten gegangen und standen jetzt nebeneinander in dem, nach der See hin offenen, zierlichen Pavillon.
Seit sie die Terrasse verlassen hatten und allein über die hellen Kieswege bis hierhin gewandert waren, lag es über beiden wie leichte Befangenheit.
Auch Sermo war es ja vorhin so vorgekommen, als hätte die schöne Frau den braven Basil absichtlich mit der Bildermappe beschäftigen wollen. Und der Gedanke, daß sie dieses Alleinsein mit ihm zu irgendeiner Aussprache benutzen könne, über deren Inhalt er sich so gar keine Vorstellung machen konnte, beunruhigte ihn immer mehr, zumal er merkte, daß sie selbst ein wenig verlegen war und die ausgeglichene Sicherheit der Dame von Welt nicht mehr dieselbe war wie vorhin.
Der Platz, auf dem die beiden jetzt standen, war nicht gerade günstig für Eva Kaldenhovens jedem äußeren Einfluß nur zu sehr zugängliche Seele. Dort hinter der Kulisse der dunklen Nadelbäume des Nordparkes ragte das obere Ende des Seesteges hervor, – eine weißgraue Masse von Pfählen und Balken, über der heute zu Ehren irgendeines hohen Besuches an zahlreichen Stangen Fahnen und Wimpel lustig im Winde flatterten. Weiße Jachten kamen wie Riesenschwäne von Danzburg her über die weite Bucht, ein schlankes schwarzes Torpedoboot raste mit mächtigem Wasserschwall hinter sich wie ein düsterer Meerteufel auf die ferne Insel Halen zu.
Soeben hatte Eva Kaldenhoven träumerisch gesagt:
„Laggow hat doch wirklich für ein Seebad überraschend viel Vorzüge …“
Sermo erwiderte nichts, und auch sie schwieg eine ganze Weile. Dieses Schweigen lastete wie eine Gewitterwolke auf den beiden Menschen. Eine Schwüle umgab sie, die die Nerven spannte, als horche man auf den Donner, der sich nun gleich vernehmen lassen würde.
Kein Donner. – Aber ein leiser Seufzer, der sich der aschblonden Circe über die Lippen drängte.
Sermo blickte verstohlen nach ihr hin. Sie fühlte den Blick, wurde rot. Ihr Mund preßte sich fester zusammen …
Ein Gedanke zuckte in Sermo auf. Der Seufzer – drüben der Steg – vielleicht regte sich hier neben ihm ein Gewissen, vielleicht war der Seufzer der Ausfluß einer quälenden Ideenverbindung …
Da dachte er wieder an seine Aufgabe und sagte plötzlich:
„Dort oben auf der Stegspitze standen wir, gnädige Frau, als – das Totenschiff anlegte, der „Drache“. – Ist es nicht merkwürdig, daß die Polizei noch immer nicht weiß, mehr jener Unglückliche eigentlich ist. Heute las ich in der Morgenzeitung eine Notiz, daß die damaligen Mitreisenden sich melden sollen. Mir fiel diese Notiz auf. Ich weiß nicht, ich habe das unbestimmte Gefühl, als ob die Polizei an diesen Selbstmord nicht so recht glaubt. – Nämlich, ganz im Vertrauen, gnädige Frau, ich erhielt heute früh eine Vorladung der Danzburger Polizei. Ich war also nicht lediglich Besorgungen wegen in der Stadt. Der Kriminalinspektor, der mich vernahm, schien mir ein wenig zu eifrig zu sein für einen bloßen Selbstmord.“
Eva Kaldenhoven war blaß geworden. Regungslos wie eine Bildsäule verharrte sie minutenlang.
All ihr Mut war wieder dahin. Ihre mühsam zusammengeraffte und künstlich aufgepeitschte Willenskraft zerflatterte wie ein dünnes Nebelgebilde. Ihre Lippen zuckten … Das aber war auch die einzig wahrnehmbare Bewegung an ihr.
„Gnädige Frau! Ich hätte hiervon vielleicht nicht anfangen sollen“, sagte Sermo leise. Urplötzlich war ein heißes Gefühl des Mitleids in ihm aufgestiegen. Seine Worte hatten daher auch warm und herzlich geklungen.
Kaum ausgesprochen, reute ihn diese Weichheit auch schon wieder. Er merkte, daß er nicht mehr unparteiisch den Ereignissen gegenüberstand, die er aufzuklären sich vorgenommen hatte. Das Bild rührender Hilflosigkeit und Verzagtheit da neben ihm, der ganze Reiz dieses schönen Weibes hatte ihn seine Pflicht einen Augenblick vergessen lassen. Nur dann konnte er ja seine Detektivspielerei, wie Olfer sich ausgedrückt hatte, vor sich rechtfertigen, wenn er ganz unbeeinflußt blieb.
Seine Worte hatten Eva Kaldenhoven wachgerüttelt. Langsam wandte sie den Kopf nach ihm hin, schaute aber trotzdem an ihm vorüber.
„Die Polizei vermutet also einen – Mord?“, fragte sie, noch immer halb geistesabwesend.
„Ich kann mich täuschen. Die Herren lassen sich nicht in die Karten sehen!“, erwiderte er kurz.
Dann fügte er hinzu: „Mir fällt eben ein, gnädige Frau, daß ich schleunigst noch den Kurhauspächter anklingeln muß. – Gestatten Sie, daß ich das Telephon benutze?“
„Bitte. Gehen Sie nur voraus … Ich komme sofort nach.“
Als seine Schritte verklungen waren, sank sie schweratmend auf die Bank des Tempelchens, lehnte sich gegen die Wand und starrte vor sich hin. Ein trockenes Schluchzen entrang sich ihrer Kehle. Zu allem anderen war jetzt noch das Empfinden in ihr rege geworden, daß Egon Sermo irgendeinen Verdacht geschöpft hätte – gegen sie – gerade er, er … – Er war ja so merkwürdig unausgeglichen in seinem Verhalten. Selbst in dem Ton seiner Stimme kam das deutlich zum Ausdruck.
Und sie selbst? Was hatte sie nicht alles von diesem Nachmittag erhofft, als erst das Morphium und dann ein fester Schlaf ihr die Selbstbeherrschung wiedergegeben hatten! Und nun – dies – dies – die Überzeugung, daß auch dieser ihr Widersacher war, daß sie ihn ebenso zu fürchten hatte wie den Rittmeister, eigentlich wie die ganze Welt, wie das Leben, das um sie herum pulste und das aus dem Schoß der Vergangenheit immer neue Schrecken gebar.
Der Kies des Weges knirschte leise. Sie fuhr zusammen.
Es war Franz Belling – leichenblaß – und doch mit einem Zug unbeugsamer Willenskraft um den Mund.
„Belling – was ist …“
„Zwei Kriminalbeamte, gnädige Frau. – Sie wollen Herrn Sermo sprechen – dringend sprechen! Vielleicht ist das aber nur ein Vorwand – vielleicht gilt es mir!“
Sie hatte sich erhoben und trat dicht vor ihn hin.
„Franz“, hauchte sie, „Franz, sagen Sie mir die Wahrheit, ich beschwöre Sie! Wir beide dürfen keine Geheimnisse voreinander haben! Waren Sie es, der ihn – erschoß?“
Belling schüttelte den Kopf und sagte traurig:
„Schon gestern schien es mir so, als ob gnädige Frau mich im Verdacht hätten, und heute glaube ich abermals, daß …“
Eva Kaldenhoven unterbrach ihn, legte ihm die Hand auf die Schulter, schaute ihn fest an und sagte: „Schwören Sie es mir, Franz, bei seinem Andenken!“
Der Schofför schwor, daß er nicht der Mörder sei.
Gleich darauf eilte Frau Kaldenhoven der Villa zu. Und sie dachte: „Ich werde ihn schützen mit allen Mitteln, die mir zu Gebote stehen!“
Auf der Terrasse befand sich nur Basil Olfer.
„Soeben hat mir der Schofför gemeldet, daß zwei Herren von der Danzburger Polizei Herrn Sermo zu sprechen wünschen. Wo sind die Beamten, Herr Olfer?“
Der Komiker wurde einer Antwort durch Sermo überhoben, der in der offenen Glastür erschien.
„Gnädige Frau, würden Sie gestatten … Die Herren tun sehr dringend. Darf ich sie in das Musikzimmer führen?“
„Bitte – natürlich! – Was mögen sie nur wollen? – Sehr unangenehm für Sie, daß Sie nun mit in diese unangenehme Geschichte hineinverwickelt werden.“
Sermo machte eine gleichgültige Handbewegung.
„Wer ein reines Gewissen hat, braucht sich nicht zu fürchten“, meinte er.
Zwei Augenpaare begegneten sich …
Dann machte Sermo kehrt und verschwand wieder in der Tür.
„Können wir hier auch nicht belauscht werden?“, fragte Wangel und schaute sich mißtrauisch um.
„Die Türen sind fest zu“, meinte Sermo. „Wenn wir dicht zusammenrücken und flüstern, sind wir vor Horchern sicher.“
So nahmen die drei jeder einen Stuhl und setzten sich dicht nebeneinander an den Flügel in die Mitte des großen Zimmers.
„Also, was gibt’s, Herr Inspektor?“, begann Sermo leise. „Und – woher wußten Sie, daß ich gerade hier zu finden war?“
„Wir suchten Sie im Kurhaus – im Kabarettsaal. Dort probten gerade ein Herr und eine Dame. Letztere, ein Fräulein Lenz, konnte uns angeben, daß Sie und ein Herr Olfer, ein Komiker – den Namen haben Sie mir ja schon erwähnt – hier bei Frau Kal…“
„Kaldenhoven …“, half Sermo aus.
„… Kaldenhoven eingeladen seien.“
Aha – da hatte Basil also der Lenz gegenüber renommiert …!
„Meine Aufgabe ist keine ganz angenehme“, fuhr Wangel ein wenig unsicher fort. „Hm – ja – es ist nämlich aus der Reisetasche jene Photographie verschwunden, Herr Sermo.“
„Was tausend! Verschwunden?! Wie ist denn das gekommen?“
„Hm – sollten Sie nicht darüber Aufklärung geben können …?“
„Ich – ich, Herr Kriminalinspektor? – Hören Sie, mir scheint beinahe, Sie nehmen an, ich hätte das Bild stibitzt?“
„Bitte die Sache nicht scherzhaft aufzufassen, Herr Sermo!! – Sie allein haben sich an der Tasche zu schaffen gemacht. Und …“
„Pardon – Sie doch auch, Herr Kriminalinspektor! – Wollen Sie mir vielleicht erklären, zu welchem Zweck ich plötzlich derartige kleptomane Anwandlungen gehabt haben soll? Ich … Ihr Verbündeter? Was soll ich mit dem Bild? Ich sammle doch nicht Photographien von Studenten. Jedenfalls bestimmt mich aber dieses mir entgegengebrachte Mißtrauen dazu, unser Bundesverhältnis sofort zu kündigen. Hier bitte haben Sie den Schlüssel zurück. Versuchen Sie, damit etwas anzufangen. Für mich ist das Ding jetzt wertlos.“
Wangel rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Dann aber gab er sich einen innerlichen Ruck, steckte sich den Schlüssel in die Tasche und sagte:
„Gut – den hätte ich Ihnen ohnedies abgefordert. Und als Beamter verlange ich jetzt, daß Sie mir Aufschluß darüber geben, weshalb ich für Sie jene Berliner Zeitung bestellen mußte!“
„Ach – so stehen wir miteinander! Wahrscheinlich Ihr Dank dafür, daß ich Ihnen bewiesen habe, um was für eine Art Selbstmord es sich hier handelt! – Nun – was die Zeitungen anbetrifft, so erkläre ich Ihnen auf mein Ehrenwort, daß diese meine Bitte, soweit ich die Sache übersehen kann, auf keinen Fall mit der ‚Drachen‘-Geschichte irgendwie zusammenhängt. Ich will in den Zeitungen etwas nachlesen, und zwar recht bald. Und durch Ihre Vermittlung hoffte ich sie am schnellsten zu bekommen.“
Wangel schaute hilfesuchend auf Joseph Kargowski. Der aber studierte angestrengt das Muster des Teppichs.
„Hm – und das Bild, Herr Sermo … Sie müssen doch selbst sagen, daß …“
Sermo war aufgestanden, schob seinen Stuhl zurück.
„Ich stelle Ihnen frei, mich zu durchsuchen – sofort, und auch in meinem Zimmer alles zu durchwühlen, werde dann aber selbstredend nicht verfehlen, morgen mich bei dem Herrn Polizeipräsidenten anmelden zu lassen, um ihm mitzuteilen, wie von Ihrer Seite mir für meine wichtigen Feststellungen gedankt worden ist. – Hier – bitte durchsuchen Sie mich. Ich verlange es.“
Wangel glättete sich verzweifelt den Scheitel.
„Lieber Herr Sermo – ich bitte Sie, nur nicht gleich so hitzig …“
„Ich bin nicht mehr Ihr lieber Herr Sermo! Sie vergessen, daß Sie einen früheren Staatsbeamten vor sich haben, nicht nur einen – Komödianten!“
Wangel erhob sich gleichfalls.
„Herr Sermo – offen gestanden – ich weiß jetzt selbst nicht mehr, wie ich auf den Gedanken gekommen bin …“
„Einen Augenblick, Herr Inspektor“, unterbrach Sermo ihn. „Haben Sie mir noch etwas zu sagen? – Wenn nicht – handeln Sie nach Gutdünken, meinetwegen verhaften Sie mich, wenn Sie vermuten, ich stecke mit dem Mörder unter einer Decke – denn darauf läuft doch Ihr Verdacht gegen mich letzten Endes hinaus.“
Wangel erhob abwehrend beide Arme. „Nein, nein – ich sehe ja ein, daß ich …“
„Dann wäre diese Unterhaltung also wohl beendet“, schnitt Sermo das Wort ab. „Wünschen Sie noch etwas?“ Er war ganz gekränkte Unschuld.
Wangel verlegte sich jetzt aufs Bitten. Aber Sermo ließ ihn lange zappeln. Dann wurde der Frieden wieder notdürftig zurechtgeleimt. Der Inspektor wollte Sermo nun auch den Schlüssel wieder zurückgeben. Doch das Anerbieten wurde bestimmt abgelehnt.
„Aber Sie kommen doch morgen vormittag, wie versprochen, zu mir?“
„Ja“, sagte Sermo kurz. Die Komödie ekelte ihn bereits an. Sie war notwendig gewesen. Aber ein Vergnügen war es nicht, hier den Gekränkten vor diesem bierehrlichen Wangel zu spielen. –
Zwei begossene Pudel gingen die Haffnerstraße entlang.
„Kargowski, wir haben ihm bitter Unrecht getan“, meinte der Inspektor.
„Er hat uns vielleicht eingewickelt“, sagte der Wachtmeister ingrimmig.
„Eingewickelt?! Mensch, Sie haben sich in eine Idee verbissen – – Unsinn!“
„Warten wir ab, Herr Inspektor.“ – – –
*
Als Sermo mit den beiden Herren im Musikzimmer verschwand, hatte Eva Kaldenhoven sich zu Olfer gesetzt und mit ihm über die Watteau-Skizzen gesprochen.
Dann war sehr bald das Stubenmädchen erschienen und hatte Frau Kaldenhoven für einen Augenblick hinausgebeten.
Anna, ein frisches, munteres Geschöpf, war ganz aufgeregt.
„Ich stand im Speisezimmer, gnädige Frau, als Herr Sermo sehr eilig den Salon nebenan betrat“, berichtete sie mit fliegendem Atem. „Er sah mich nicht, obwohl er sich mißtrauisch umschaute. Dann nahm er etwas aus seiner Brieftasche heraus und warf es in die eine Vase, die auf dem Kaminsims steht. Ich konnte es durch die Glastür deutlich beobachten. Und dann ging er schnell auf die Terrasse und hat wohl der gnädigen Frau gesagt, daß beide Herren ihn sprechen wollten.“
„In die Vase, Anna? – Haben Sie …?“
„Ja, ja, gnädige Frau. Es ist nur eine Photographie von ’nem Studenten …“
Eva Kaldenhoven zuckte leicht zusammen. Dann betrat sie hastig den Salon, gefolgt von dem Mädchen, faßte in die Vase und nahm das Bild heraus, betrachtete es, drehte es um und tat es in sein Versteck zurück.
„Sprechen Sie zu niemandem davon“, wandte sie sich an das Mädchen. „Ich kann mich ja auf Ihre Verschwiegenheit verlassen, Anna.“
„Das wissen gnädige Frau ja.“
Eva Kaldenhoven kehrte langsam auf die Terrasse zurück.
Olfer fand, daß die schöne Frau sehr zerstreut war.
Dann erschien auch Sermo bald.
„Entschuldigen Sie nur, gnädige Frau, daß meinetwegen die hohe Polizei hier bei Ihnen eingedrungen ist“, meinte er gelassen. „Die Herren wollten nur wissen, ob ich den Toten mal in Laggow gesehen habe.“
Mit voller Absicht sprach er diesen Satz aus.
Sie schaute ihn prüfend an.
„Und – haben Sie ihn hier gesehen, Herr Sermo?“, fragte sie zögernd.
„Ja. Mir ist es vorhin erst eingefallen. – Sogar mehrmals bin ich ihm begegnet.“
Eva Kaldenhovens Augen ruhten auf Sermos Gesicht.
„Mehrmals? – Wie interessant!“, sagte sie sehr unsicher. Und fügte hinzu: „Wo denn, Herr Sermo?“
„So genau weiß ich das nicht mehr. Ich glaube aber, einmal spät abends hier in der Haffnerstraße.“
Sie verfärbte sich, wenn auch nur wenig, wandte sich halb zur Seite und meinte: „Gerade hier? – Vielleicht ermittelt die Polizei in dem Unbekannten noch gar einen hiesigen Kurgast.“
„Ja – vielleicht.“
Olfer mischte sich jetzt ein.
„Gnädige Frau, wir müssen aufbrechen. Es ist gleich halb sieben. Die Pflicht ruft. Um halb neun beginnt die Bunte Bühne ihre Tätigkeit. – Verbindlichsten Dank für die liebenswürdige Aufnahme…“ –
Olfer und Sermo gingen denselben Weg wie die beiden Beamten.
„Na, Söhnchen, was wollte denn die Greifer-Kommission?“, begann der Komiker.
„Sie haben mir den hübschen kleinen Schlüssel abverlangt.“
„So? Den Schlüssel? – Mir ist so, als wolltest du mir gerade dieses in Witzblättern als Hausschlüssel ewig herumspukendes Instruments wegen heute abend einige Eröffnungen machen.“
„Allerdings. Der Oberst von Bongard, der frühere Bewohner der Villa Kaldenhoven, ist als alter Soldat sehr ordnungsliebend.“
„Was soll das?“
„Ich habe dir den Schlüssel gezeigt. Du hättest ihn dir genauer ansehen sollen. In den Schlüsselgriff waren außer der Nummer der dazu gehörigen Schloßsicherung und dem Namen der Fabrik noch drei Buchstaben leicht eingestanzt: F. v. B. Der Schlüssel gehört zu Frau Evas Villa!“
Olfer blieb stehen, schob sich den Hut ins Genick und tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn.
„Söhnchen, du bist ein Mordskerl!“, stieß er voller Eifer hervor. „Und die Buchstaben haben dich veranlaßt – nachzusehen, ob die Haustür der Villa …“
„Strenge dich nicht weiter an, Basilius“, unterbrach Sermo ihn. „Du bist auf der richtigen Fährte. – Im Vorflur hängt das Telephon. Daher telephonierte ich – scheinbar! Das Schloß der Haustür hat eine Schloßsicherung, wie ich feststellte, und der Schlüssel paßte. Daher konnte der Inspektor ihn auch getrost mitnehmen.“
„Söhnchen, Söhnchen – Du bist eine gefährliche Kreatur! Und diese Frau Eva – weiß Gott, ich gäbe was drum, wenn wir nur die Verteidiger zu spielen brauchten! Sie hat mir heute rein das alte Herz betört! Ich kann nicht glauben, daß sie schlecht ist!“
Sermo schwieg. Erst nach einer Weile sagte er:
„Basilius, der Fall wird immer verwickelter. Daß die Kaldenhoven den Toten gekannt hat und auch genau weiß, wer er ist, unterliegt für mich keinem Zweifel mehr. Ich behaupte sogar, daß er den Schüssel von ihr erhalten und daß er sie heimlich besucht hat. Sie wurde um eine Schattierung bleicher, als ich keck behauptete, ich wäre dem Mann hier in der Haffnerstraße begegnet. Und – woher sollte der Tote den Originalschlüssel mit den eingestanzten Buchstaben haben, wenn nicht von ihr? Nun – hierfür werden sich schon noch weitere Beweise erbringen lassen.“
Sie bogen in die Seestraße ein. Und nun begann Olfer so recht triumphierend:
„Denk nur nicht, daß du allein heute einen Erfolg aus Anlaß dieser Kaffeevisite eingeheimst hast! Ich wette sogar: die wichtigere Entdeckung von uns beiden habe ich gemacht.“
„Na – na!“
„Nichts na – na, höre zu, staune – fall aber nicht um, Söhnchen! – Zufällig fand ich auf der Terrasse in ein Stück braunes Papier nur noch halb eingeschlagen … – rate, was?“
„Mein Gott, Basil – doch nicht etwa … „Volksorgeln‘?“, stieß er hervor.
„Ja – zwei Exemplare waren’s – zwei, Söhnchen!! Und zwar die Nummern 27 und 30!“
„Das sind ja dieselben – genau dieselben, die du mir zeigtest, und die du als letzte für den Chulusoff in Empfang genommen hast!“
„… und die ich ihm heute vormittag übergab“, fügte Olfer mit Betonung hinzu.
Sermo ließ den Arm Basils wieder los.
„Wenn wir nur erst die Zeitungen hätten“, meinte er. „Die bringen uns sicher weiter. Das Dunkel wird sich lichten.“
„Oder noch größer werden. Bisher sind unsere sämtlichen Ermittlungen, finde ich, nur geeignet, den Kuddelmuddel zu erhöhen.“ – –
*
Kaum hatten Sermo und Olfer die Villa verlassen, als Eva Kaldenhoven in den Salon eilte.
Das Bild war noch da – seltsamer Weise! – Sermo konnte es nicht vergessen haben …! Er hatte es absichtlich zurückgelassen – ohne Frage, wollte es vielleicht später gelegentlich an sich nehmen, indem er damit rechnete, daß man es in der Vase nicht finden könnte!
Die junge Witwe hatte sich in einen Sessel dicht neben den Kamin gesetzt und sann und sann. – Wie kam gerade dieses Bild in Sermos Besitz – gerade dieses?! – Dann das blitzartige Aufleuchten einer Erkenntnis, einer Erklärung für diese Frage.
„Sollte er wirklich mein Feind sein?“, stöhnte sie auf. „Sollte er etwa dies schändliche Spiel mit mir treiben, er derjenige sein, der mich durch dieses Schundblatt, die „Volksorgel“, dauernd in Angst hält …? Wenn es wäre – nie hätte das Schicksal einen Menschen mit so ironischer Fratze angegrinst, nie sich einen so furchtbaren Scherz erlaubt.“
Ein leises „gnädige Frau“ schreckte sie aus ihrem traurigen Grübeln auf.
Franz Belling stand vor ihr.
Eva Kaldenhoven streckte wie abwehrend die Hände aus.
„Bringen Sie schon wieder eine Unglücksbotschaft?“, fragte sie angstvoll.
Ein bitteres Lächeln zuckte um seinen Mund.
Da sah sie ein, daß sie dem treuen Menschen soeben weh getan hatte, reichte ihm die Hand und sagte:
„Verzeihen Sie mir. Aber meine Nerven sind zum Reißen gespannt.“
Er beugte sich schnell über die zarten Finger und küßte sie ehrerbietig.
„Gnädige Frau“, begann er dann leise, „hier in Laggow gibt es einen Boten der Badeverwaltung, den man allgemein den grünen Kakadu nennt. Der Mann ist nebenbei noch Diener bei dem Herrn Kurdirektor von Quarg und heißt Dreyer. Er ist es, der mir den Beweis geliefert hat, daß gnädige Frau mit der Vermutung recht haben, der Rittmeister wäre auch so etwas zu fürchten. Dreyer ist nämlich heute über Mittag fast eine Stunde bei Gaffkes gewesen und hat die Frau nach allem Möglichen auszuhorchen versucht. Leider hat’s die Gaffke zu spät gemerkt, sonst hätte sie den Alten wohl früher rausgegrault.“
Eva Kaldenhoven saß ganz zusammengesunken da. Eine Bergeslast schien auf ihren Schultern zu lasten. Schien sie erdrücken zu wollen. Die Photographie hielt sie noch in der Linken, preßte sie jetzt an ihr Herz und sagte:
„Nichts als neue Schrecken …! Mein Gott, wann wird das enden …?“ Ihre Stimme bebte, ihre Augen füllten sich mit Tränen. – Aber mit aller Willenskraft raffte sie sich wieder auf, reichte Belling das Bild und fragte: „Wissen Sie, wer das ist?“
Er schüttelte den Kopf.
„Sehen Sie, Franz – nun sollen Sie auch das Letzte erfahren“, begann sie. „Es ist ein großes Geheimnis. Vielleicht werden Sie mich noch nicht ganz begreifen. Frauenherzen sind wohl oft nicht recht zu verstehen. Nehmen Sie das, was ich Ihnen jetzt sage, als den größten Beweis meines Vertrauens zu Ihnen hin …“
Belling stand und lauschte in atemloser Spannung der langen Erzählung …
Und als Eva Kaldenhoven nun zum Schluß die Frage hinzufügte: „Meinen Sie, daß nach alledem Sermo uns gleichfalls nachstellt?“, da nickte er nur.
Und sie stöhnte auf: „Also wirklich …! Grausamer hätte das Schicksal seine Karten kaum mischen können!“ –
Dann ließ sie sich von Belling die Morgenzeitung bringen, suchte die Notiz, von der Sermo gesprochen hatte. Als sie sie gefunden, wies sie mit der Fingerspitze darauf: „Lesen Sie!“
„Ich kenne diesen Aufruf der Polizei bereits, gnädige Frau. Gaffke zeigte ihn mir. Und er meinte, ich würde doch natürlich auch aussagen, was ich wüßte, mich doch jedenfalls melden.“
„Das müssen Sie auch, Franz.“
„Ja, ja – gnädige Frau. Aber – ich habe Angst … Wenn die Polizei mich eidlich vernimmt, was dann?“
„Das glaube ich nicht.“
„Wir wollen’s hoffen. – Einen Meineid würde ich nicht schwören. Ich würde eben schweigen.“
„Franz – ob Sie sich besser nicht melden?“ Und Eva Kaldenhoven rang verzweifelt die Hände.
„Gaffkes würde das auffallen. Und – Frau Gaffke hat in ihrer Harmlosigkeit dem Dreyer, wohl um sich ein wenig wichtig zu machen, erzählt, daß ich damals auch auf dem Dampfer war. Von Dreyer wird’s Herr von Quarg erfahren, und – so muß es herauskommen, wenn ich mich nicht melden würde.“
„Wann wollen Sie nach Danzburg, Franz?“
„Morgen vormittag …“
„Oh – ich werde beten, Franz, daß alles gut abläuft. Ich werde hier in wahnsinniger Aufregung zurückbleiben … Am liebsten käme ich mit, wartete vor dem Polizeigebäude auf Sie. Dann brauchte ich nicht all die Stunden in Ungewißheit zu schweben.“
„Ja, gnädige Frau würden sehr leiden … Vielleicht wär’s am besten, wenn wir zusammen mit dem Auto hinfahren würden.“
Drei Viertel neun.
Die Plakate Reminghoffs und dessen sonstiger großzügiger Reklame-Tamtam für die Bunte Bühne hatte gewirkt.
Kabarett – das war für Laggow etwas Neues! Es gab ja genug Kleinstädter unter den Badegästen, die von einem Kabarett dies und jenes gehört hatten, sich davon aber keine rechte Vorstellung machen konnten.
Das Eintrittsgeld von 1,50 Mark pro Person war ja auch gar nicht zu hoch, selbst nicht für Provinzler. Nur der Weinzwang – hm, ja – das war vielen unangenehm. Aber schließlich – wozu gab es Mosel?
Der lange, schmale Saal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Alle Beleuchtungskörper brannten unter lila-seidenen Hauben. Das gab ein Licht, das mit seinen matten Reflexen den Augen wohltat und behagliche Stimmung schuf.
Rechts vom Podium saßen die Künstler an einem besonderen Tisch, auf dem ein Gestell aus poliertem Holz stand. Daran hing ein rostiges Hufeisen an zwei gelben Zigarrenbändern: das Gong, eine Erfindung von Olfer.
Drei Viertel neun.
Noch immer kamen Schaulustige. Reminghoff ließ die Tische enger rücken, schuf mehr Plätze …
In den Zelten knallten Sektpfropfen. Und Herr Rechnungsrat Meier aus Schlawe erlebte die bittere Enttäuschung, daß die Weinkarte heute nur Getränke von 3 Mark aufwärts anpries. Mit dem Mosel zu 1,20 Mark war es nichts.
Olfer saß neben Hilda Lenz, die zu einem Ballkleid einen modernen Hut und an den Fingern Vermögen von hundert Mark an falschen Brillanten trug.
Reminghoff hatte den Künstlern eine Riesen-Ananas-Bowle gestiftet. Aber Olfer nippte nur an seinem Glas. Er hatte wahrhaftig etwas Kulissenfieber, denn er sollte ja die Eröffnungsansprache halten.
Jetzt erhob er sich, ergriff den eisernen Feuerhaken und schlug an das Gong …
Er machte im Frack eine sehr gute Figur. Mit dem eingeklemmten Monokel sah er wie ein echter Lebemann aus.
Hilda Lenz pochte das Herz, als er nun auf dem Podium stand, sich verbeugte … Hoffentlich blamierte er sich nicht …!
Ihre Angst war überflüssig … Basil sprach in improvisierten Versen – das Versmaß war ihm gleichgültig. Aber alles reimte sich tadellos. Sein Gedicht hieß: „Der Pleitegeier. Die Geschichte einer Gründung.“ Folgender Vers kam darin vor:
Der Pleitegeier – jeder Kaufmann kennt ihn,
Wohl auch Konkurs im Strafgesetz man nennt ihn,
Der eine liebt ihn sehr zuweilen,
Ein andrer wieder möcht’ ihn gern verkeilen;
So ’n Pleitegeier schwebte über unserm schönen Orte,
Sucht’ sich ein Opfer! – Habt ihr Worte?
Wo ließ das Biest sich nieder? – Auf des Kurhaus Spitze!
Tatsache, wirklich – ich mach keine Witze:
Der Vogel saß zu Papa Reminghoffens Häupten,
Daß schon verschiedne Schlaue gläubten,
Das Vieh hätt’s auf das Kurhaus abgeseh’n!
Na – so ’ne Dummheit ist schwer zu versteh’n!
In Wahrheit ließ der Geier dann was fallen
Und im Theater hörte man was knallen,
Der Pleitedunst zog durch den gelben Saal mit blauen Vögeln!!
Die Kasse ließ sich plötzlich nicht mehr regeln,
Direktor Blendermann zuckt seine schmalen Achseln:
„Kinder – vorbei und aus! Ich muß jetzt weiterkraxeln,
Hab keinen Heller mehr in meinem Säckel!“
So sprach er, lüftet seinen alten Deckel
Und ließ uns, seine Kinder, hier allein!
Das Biest, der Pleitegeier, war gemein!
Der Erfolg war glänzend! Man klatschte, trampelte, und ein stark angezechter Herr kam mit ausgebreiteten Armen zum allgemeinen Gaudium auf Olfer zu und rief:
„Pleitegeier – mit dir muß ich Brüderschaft trinken!“
Worauf Olfer schlagfertig zurückbrüllte:
„Du, Kam’rad – ist ja gar nicht mehr nötig! Wir duzen uns ja schon!“ Und er hatte die Lacher auf seiner Seite.
Die Stimmung war da …
Herr Meier aus Schlawe bestellte Sekt. Man kann ja auch mal leichtsinnig sein …!
Dann wieder das Hufeisen-Gong …
Ein Ah! ging durch den Saal. Olfer führte Hilda Lenz auf das Podium, stellte sie sehr feierlich den hochgeehrten Herrschaften als die einzige existierende echte Tochter Carusos vor – „bis auf die Stimme und andere Kleinigkeiten dem Papa völlig ähnlich.“
Hilda sang ein Schelmenlied – mit Grazie und Temperament – mußte ein zweites singen, ein drittes, bis Olfer schützend vor sie hintrat und rief: „Eine weitere Zugabe nur gegen das Versprechen, morgen wiederzukommen!“
„Ehrensache!“
Reminghoff hatte gut schmunzeln, das Geschäft ging glänzend! – –
In einer der Efeunischen saß Dagobert von Quarg, der Bürgermeister von Laggow Dr. jur. Ottmer, zwei ältere Herren der Badedirektion und Boris Chulusoff.
Der Rittmeister war in „Fähnrichs-Stimmung“, wie er es nannte. Er trank für drei, klatschte für drei, und sein schmetterndes Lachen half manchem etwas steifleinenen Bürokraten unter den Anwesenden über das letzte Bedenken hinweg, ob man denn auch wirklich hier ganz aus sich herausgehen dürfe. Nun – wenn der stets so vornehme Herr Kurdirektor wie ein losgelassenes Füllen sich benahm – dann …!
„Sagen Sie, bester Quarg, haben Sie heute etwa das große Los gewonnen?“, fragte der Bürgermeister schließlich ganz erstaunt.
Und Chulusoff ergänzte: „Ich bin auch überrascht! Der Rittmeister ist wie ausgewechselt! Alle Würde ist futsch!“
Quarg hob seine Sektschale.
„Ich trinke auf das Wohl des grünen Kakadus! Der hat mir heute nämlich ein Ei gelegt – ein Ei!! Das muß man mit Verstand genießen – dann verwandelt sich’s in pures Gold!“
Ottmer prustete los. „Der grüne Kakadu ein Ei –!! Na – guten Appetit zum Hahnenei, Rittmeisterchen! Sie lesen jetzt wohl viel Kindermärchen? Da wird auch alles zu Gold!“
„Lesen – nein?! Vorläufig blättere ich nur in einem Märchen, genau lesen will ich’s später! Mir fehlt noch die richtige Brille!“
„Wahrhaftig: Quarg versucht sich in dunklen Weisheitssprüchen! – Aber Silentium! Fräulein Gunnar, das Mädchen mit der Tugendrose, betritt das Podium!“
„Geliebte Zuhörerschaft, es sei mir gestattet, Ihnen hier die vom Patentamt beglaubigte Enkelin der Adelina Patti, gleichzeitig die Halbschwester der großen mit jedem Jahre jünger werdenden Sarah Bernhardt vorzustellen: Fräulein Lotte Gunnar, die sofort einige Proben ihrer Kunst Ihnen vorsingen wird. Sie sehen, meine Damen und Herren – ich habe keine Opfer gescheut, Ihnen wirklich nur erstklassige Kräfte vorzuführen!“
Also sprach Basil Olfer, verbeugte sich und wandte sich an den Kapellmeister am Flügel: „Kitzeln Sie die Drahtkommode, diese Tochter des Herrn Bechstein – – aber bitte nur Obergriffe!“
Lotte Gunnar hatte eine nur kleine, aber sehr weiche und schmiegsame Stimme, die gerade hier völlig ausreichte. Sie sang drei ernste Lieder …
Es war mäuschenstill geworden. Und als der letzte Ton des dritten Liedes verklang, brach ein Beifallssturm los, der vielleicht noch größer war, als die bisherigen.
„Zugabe – Zugabe …!“ rief man von allen Seiten.
Sie nickte gewährend, winkte dem Kapellmeister ab und … begann ein Gedicht vorzutragen, eines jener so schlicht erscheinenden und doch so raffiniert auf Stimmungsmache berechneten Sächelchen:
Zwei kleine, schmutzige Hände … – die Klage einer Mutter um den durch den Tod ihr entrissenen Wildfang, ihr einziges Söhnchen, das Bübchen mit den kleinen, stets schmutzigen Händen.
Lotte Gunnar verstand es, die Herzen weich zu machen. Frau Meier aus Schlawe war’s nicht allein, die weinte … In dem einen Zelt bekam einer der Herren, von plötzlichen Gewissensbissen gepackt, das heulende Elend …
„Donnerwetter“, sagte Basilius leise zu Sermo, „wer hätte das der Lotte zugetraut …!“
Eigentlich sollte um 12 Uhr Schluß sein. Eigentlich! Aber – die leer gewordenen Plätze wurden sofort wieder eingenommen. Im Kurgarten und in den anderen Lokalen hatte es sich schnell herumgesprochen, daß im Kabarett „mächtig was los sei“, wie z. B. ein Marineleutnant einer im Metropol zechenden Tafelrunde von Kameraden mitteilte, die sofort zahlten und ausgerechnet mit dem Glockenschlag 12 etwas lärmend erschienen. Jedenfalls war nicht daran zu denken, jetzt schon die Vorträge zu beenden. Reminghoff hatte daher Basil Olfer beiseite genommen, und ihn gebeten, heute zur Eröffnungsfeier eine Stunde zuzugeben. Basil nutzte die Sachlage gründlich aus. Reminghoff ging auf alle Bedingungen ein, und Olfer tänzelte strahlend an den Künstlertisch zurück.
„Kinder, steckt die Köpfe zusammen!“, sagte er Platz nehmend, „wir kriegen jetzt jeder 15 Mark pro Tag bei warmem Mittags- und Abendfreitisch! Mutter Gunnar ist in den Freitisch mit eingeschlossen. – Famos, was?! – Der Reminghoff weiß halt, was er an uns hat!“ – –
Halb zwei …
Durch den Kabarettsaal zog der Rauch in dicken Schwaden. Die Ventilatoren schafften die Arbeit nicht mehr. Ein Mischgeruch von Parfüm, süßlichen Zigaretten, welken Blumen und vergossenen Weinresten dunstete über dem, in der Mitte zusammengestellten Tisch, an dem soeben der „Verein der Bettschoner“ von Basil Olfer durch eine lange Rede gegründet worden war.
Niemand hörte mehr recht hin, jeder malte dann nur seinen Namen unter den Zettel, auf dem stand: Beitrag eine Flasche Knallkümmel.
Neben Olfer saß rechts sein jüngster Freund, der inzwischen schon einen zweiten allerliebsten Affen gekauft hatte. Er nannte Olfer nach wie vor nur Pleitegeier, und die Duzbrüderschaft war vorhin in aller Form besiegelt worden. Zur Linken hatte der Komiker den Dr. Chulusoff, um den er sich jedoch nicht weiter zu kümmern brauchte. Chulusoff schlief zumeist in seinem Korbsessel. Wenn er mal erwachte, drückte Sermo, der links neben dem Russen seinen Platz hatte, ihm schleunigst ein volles Sektglas in die Hand, und brüllte ihm ein „Prost“ in die Ohren, worauf Boris Chulusoff stets prompt in halber Bewußtlosigkeit durch Austrinken reagierte.
Auch der Rittmeister befand sich bereits in einem Zustand, der ihn unfähig machte, noch klar zu denken. Er lächelte blöde vor sich hin und krähte nur zuweilen:
„Ober!! Mein Bett …! Ich muß … das Ei – des grünen Kakadu vertilgen …!“
Als er diesen Blödsinn wieder vorbrachte, stieß ihm ein braungebrannter Kapitänleutnant in die Rippen …
„He, Quarg, Quargkäse – Sie – was wollen Sie bloß mit dem verdammten Kakadu. Fressen Sie’s doch hier auf! Der Ober bringt Ihnen das Bett doch nicht …!“
Am Flügel saß der Kapellmeister und phantasierte ganz piano …
Es war ein wunderliches Bild: dieser letzte bunt zusammengewürfelte Tisch mit den mehr oder weniger stark bezechten Herren. Um die Lampen mit den lila Schirmen schwamm der dicke Rauch. Das machte die Beleuchtung noch eigenartiger. Und Reminghoff, der eben eintrat, blieb kopfschüttelnd stehen und dachte – denn er war nicht nur Geschäftsmann, sondern auch ein wenig Philosoph – wer die Szene lebenswahr malen könnte! Man müßte jedem einzelnen dann eine Photographie davon schenken! Ich glaube, sie würden sich nie wieder so besaufen …! Und dann fragte er den Ober, wie der Kassenabschluß werden würde.
„Kolossal!“, meinte der. „Soviel Sekt ist hier in der ganzen Saison noch nicht ausgegeben worden.“
Und Reminghoff nickte und dachte, der Gedanke mit den Abschreckungsphotographien wäre doch ein Unsinn …! – –
Zwei Uhr.
Basil Olfer und Chulusoff schwankten Arm in Arm die Seestraße hoch.
Der Russe war viel zu voll, um zu merken, daß der Komiker nur den Trunkenen spielte.
Dann wurden die Gäste des Entfettungssanatoriums der Frau von Zalewska durch recht ungebührlichen Lärm geweckt.
Olfer hatte seine Kräfte überschätzt. Es gelang ihm nicht, den langen Boris die Treppe hinaufzuschleifen.
Und Anastasia tauchte im Flur wie ein Gespenst auf, gehüllt in einen hellen Schlafrock. Und von oben tappte ein Herr die Stufen abwärts, der sich schnell einen Mantel übergezogen hatte.
Basil Olfer lehnte am Treppenpfosten und blickte stier auf den zu seinen Füßen liegenden Chulusoff.
„Oh unschuldvolles Lamm, der Schlaf bringt Dir der Seele Frieden wieder, und …“, weiter kam er in seiner Deklamation nicht.
„Machen Sie, daß Sie hinauskommen, Sie – Sie!!“, keifte die Zalewska. „Hin – aus – so – fort!“
Basil breitete die Arme aus.
„Ich – ich liebe Dich, Edeldame! An – mein Herz, Teure …!“
„Wenn Sie nicht augenblicklich verschwinden, hole ich den Nachtwächter!“, rief die Zalewska ganz heiser. Und zu dem Herrn im Mantel gewendet:
„Ach, Herr Funk, bitte, sehen Sie doch zu, ob nicht ein Nachtwächter in der Nähe ist …!“
Olfer kicherte wie ein Verrückter in sich hinein.
„Nachtwächter – – großartig – groß – artig! Her mit dem Nachtgewächs!! Ich will doch mal feststellen, ob man’s wagt, mich, den Gast meines lieben, teuren Boris, hier – hier rauszuschmeißen! – – Boris, mein Junge – wach auf – wach auf!! Die Stunde der Not ist da …!“ Und er gab dem lieben Freunde einen Tritt gegen das Schienbein, daß Chulusoff wie elektrisiert hochfuhr.
„Boris, mein Freund, man will mich von dir trennen, und ich bin doch dein Gast …!“, schluchzte Olfer jämmerlich.
Chulusoff hatte der Schmerz für einen Moment etwas nüchtern gemacht.
„Du – du bleibst …! Du – – bleibst …!“ Und er begann auf allen Vieren die Stufen zu erklimmen. Der freundliche Herr Funk leistete Hilfe, so daß man Boris Chulusoff leidlich gut, wenn auch in seinen Kleidern in seinem Bett verstaute.
Die Zalewska lauschte noch eine Weile. Oben war jetzt Ruhe eingetreten. Da zog auch sie sich wieder in ihr Zimmer zurück.
Draußen graute der Morgen. Die Spatzen im Weinspalier der Pension Zalewska begrüßten den neuen Tag durch lautes Schiepen. Der Morgenwind strich durch die offenen Balkontüren in das Zimmer Boris Chulusoffs hinein.
Dessen Besitzer schnarchte. Das Brett, das er gerade in Arbeit hatte, mußte sehr astreich sein. Die Säge klang hell, verstummte ganz; dann wieder das Rasseln, Quietschen, Pusten …
Basil Olfer hob vorsichtig den Kopf, richtete sich auf dem Diwan dann ganz auf, schlich zur Tür, die in den Flur mündete, riegelte ab, hängte sein Taschentuch vor das Schlüsselloch, und lauschte dann eine Weile der Sägelaute seines neuen Freundes Boris …
„Junge, Junge – dich haben wir gut eingeseift!“, lächelte er hochbefriedigt.
Dann versuchte er sich als Taschendieb; Chulusoff den Schlüsselring abzunehmen, den er in der Schlüsseltasche der Beinkleider stecken hatte, war nicht ganz leicht, gelang aber doch, wenn auch erst nach Anwendung sanfter Gewalt.
Der Koffer des Russen hatte zwei komplizierte Patentschlösser. In dem oberen Einsatz fand Olfer in einem blauen Deckel zu seinem Erstaunen das Manuskript einer Erzählung oder Novelle, das, vielfach verbessert und zusammengestrichen, fraglos den Russen zum Verfasser hatte. Daß Chulusoff sich auch literarisch in dieser Weise beschäftigte, war Olfer ganz neu. Er überflog denn auch den ersten Teil der Arbeit. Der Stil war eigenartig, der Stoff recht spannend. Aber Basil hatte nicht die Zeit, die ganze Erzählung zu lesen, deren Titel recht vielsagend war.
Ganz unten im Koffer lag eine Stahlkassette. Der dazu gehörige Schlüssel fehlte jedoch am Schlüsselring. Olfer vermutete, daß Chulusoff ihn vielleicht an einer Schnur um den Hals trug. Ganz traf dies nicht zu, wie er dann feststellte. Der Russe hatte einen flachen, ledernen Geldbeutel auf der Brust. Darin befanden sich eine Tausendmarkbanknote, der Kassettenschlüssel und ein Leinenbeutel. –
Erst gegen sechs Uhr, als die Sonne bereits die Wipfel der alten Bäume des Gartens traf, suchte Basil Olfer sein Lager auf dem Diwan wieder auf und schlief auch bald ein. Er hatte ja doch trotz aller vorsichtigen Zurückhaltung eine ganze Menge getrunken, und jetzt kam mit einem Mal die Müdigkeit mit aller Gewalt über ihm, nachdem er seine Absichten glücklich durchgeführt hatte.
Erst gegen zehn Uhr weckte ihn Chulusoff, der sofort mit einer gewissen Ängstlichkeit fragte, ob er in der Bezechtheit nicht vielleicht allerlei Unsinn geschwatzt habe.
Olfer lachte. „Unsinn geschwatzt?! Haben Sie ’ne Ahnung, Doktor! Sie konnten ja kaum mehr lallen! War ’ne böse Arbeit, Sie hier nach oben zu bringen! Zum Glück fand sich ein liebreicher Helfer in Gestalt des Herrn, der Ihnen gegenüber wohnt. Wie heißt er doch schnell?! Mung – Runk …“
„Ach so – Funk, Herr Funk!“, meinte Chulusoff, leicht verwirrt. „So, so, der also. Ich kenne ihn kaum. Da muß ich mich wohl nachher bei ihm bedanken. Und der Zalewska gegenüber dürften ein paar Worte der Entschuldigung der nächtlichen Ruhestörung wegen auch ganz angebracht sein!“
Dann nahmen sie gemeinsam auf dem Balkon das erste Frühstück ein. Chulusoff aß wenig. Olfer war auch schlecht bei Appetit, klagte über fürchterliche Kopfschmerzen, und ließ sich dann von dem Hausdiener Pyramidontabletten holen.
Um halb zwölf ging er zu Sermo, wo Frau Zechke ihm kurz bedeutete, ihr Mieter sei bereits mit dem Neun-Uhr-Zug nach Danzburg gefahren.
Kriminalinspektor Wangel lebte mit seiner Gattin seit dem „Selbstmord“ des Unbekannten in stetem Unfrieden. Sie fand es lächerlich, daß er aus der Sache so viel Wesens machte, unpünktlich zu Tisch erschien und kaum noch zu Hause war.
Wangel hatte ihr nichts davon erzählt, daß es sich hier in Wahrheit um einen Mord handelte. Er traute der Verschwiegenheit seiner besseren Hälfte nicht ganz.
Auch heute war er bereits um halb acht Uhr morgens im Büro. Gleich nach ihm erschien Kargowski.
Auf die Zeitungsnotiz hatten sich bis jetzt zehn Leute gemeldet. Sie waren zu acht Uhr bestellt worden, und der Wachtmeister sollte sie dann nach dem Leichenschauhaus führen, damit sie sich den Toten ansehen konnten, den man wieder mit Bart und Perücke ausgestattet, auch leicht geschminkt hatte, um ein Wiedererkennen zu erleichtern.
Die Leute, zwei Fischerfrauen aus Halen und acht männliche Zeugen, darunter auch ein Danzburger Arzt, fanden sich pünktlich ein und wurden dann von Kargowski nach dem Leichenschauhaus mitgenommen.
Wangel blieb im Büro, da ja Egon Sermo sein Erscheinen für halb neun Uhr in Aussicht gestellt hatte.
Nach dem gestrigen Besuch in Laggow und in der Villa der Frau Kaldenhoven, bei dem sich Sermo, wie Kargowski sagte, so sehr aufs hohe Pferd gesetzt hatte, war der Kriminalinspektor recht bald wieder von allerlei Zweifeln gequält worden, was die Harmlosigkeit und Aufrichtigkeit des „Komödianten“ anbetraf. Steter Tropfen höhlt den Stein, und des Wachtmeisters bissige Andeutungen verfehlten ihre Wirkung nicht. Wangel sagte sich, daß Sermo allein die Photographie entwendet haben könne. Und diese Tatsache gab ja schon genügend zu denken.
Der Inspektor begrüßte Sermo nachher denn auch mit einer Zurückhaltung, die diesem nicht entging.
„Bitte, nehmen Sie Platz, Herr Sermo. – Wären Sie nicht gekommen, ich hätte Sie telegraphisch vorgeladen. Ich muß nochmals mit Ihnen über das verlorene Bild sprechen.“
„So?“ Sermo lehnte sich zurück, schlug ein Bein über das andere und sah den Inspektor recht erstaunt an.
Wangel ärgerte diese überlegene Ruhe.
„Gestern auf neutralem Boden, bei Frau Kaldenhoven, wollte ich dieser Frage nicht nochmals nahetreten“, meinte er, um den unrühmlichen Rückzug zu bemänteln. „Hier in meinem Amtszimmer brauche ich keine Rücksichten zu nehmen“, fuhr er streng fort. „Nur Sie können das Bild zu irgendeinem Zweck an sich genommen haben. Eine andere Erklärung gibt es nicht.“
Er erwartete irgendeine Erwiderung. Aber die blieb aus. Sermo schaute sehr uninteressiert durch das Fenster auf den großen Schmuckplatz, der vor dem Polizeipräsidium lag.
Dem Inspektor schoß das Blut ins Gesicht. Dieses Benehmen grenzte wahrhaftig an Nichtachtung staatlicher Behörden.
„Herr Sermo – ich verlange eine Antwort!“, sagte er sehr scharfen Tones.
Sermo mochte heute nicht wieder in ähnlicher Weise den unbequemen Frager abschütteln. Er war heute nicht in der Stimmung, Ausflüchte zu machen, den Gekränkten zu spielen und mit frecher Stirn zu lügen.
In ihm war seit gestern nachmittag etwas seelisch in Unordnung geraten. Erst allmählich war ihm das zum Bewußtsein gekommen. Ein Widerwillen gegen diese Detektivspielerei hatte sich plötzlich eingestellt, über dessen Entstehungsursachen er sich nicht klar zu werden vermochte. Erst hatte er wohl den geheimsten Bornen dieses Unlustgefühls noch eifrig nachgespürt, war nach der Heimkehr von dem Eröffnungsabend der Bunten Bühne noch lange wach geblieben und hatte bei diesem Zerlegen und Zergliedern seiner Empfindungen alles, was die letzten Tage ihm gebracht, abermals an seinem scharf kritisierenden geistigen Auge vorüberziehen lassen. Und da hatte er wohl gemerkt, daß, sobald seine Gedanken jetzt auf Eva Kaldenhovens Person stießen, sein Herz sich wie ein überempfindliches Organ schmerzhaft zusammenzuziehen schien. Und dies war eben die Grenze, wo er seinem Denken Halt gebot: Eva Kaldenhoven!
Nein, er wollte diesen Fall nicht dadurch für sich und diese Frau noch schwieriger gestalten, daß er in der jungen Witwe Interesse hier weiter mit Ausflüchten und Unwahrheiten operierte. So lange er seiner selbst sicher gewesen, ganz unparteiisch über den Dingen zu schweben, hatte ihm dieser kleine Kampf gegen Wangels Mißtrauen noch eine Art Befriedigung gewährt. Jetzt war er schwankend geworden, ahnte mehr, als daß er’s mit Bestimmtheit empfand, daß der Untersuchungsrichter bereits halb und halb ausgeschaltet war, und nur noch der Verteidiger übriggeblieben, der das schöne Weib lediglich zu schützen suchte. Und diese innerliche Zerfahrenheit machte ihn müde und gleichgültig, ließ ihn an die nachteiligen Folgen denken, die daraus für jene Frau entstehen mußten, daß er alle Fäden, die aus dem wirren Gespinst dieses Verbrechens bisher loszulösen gewesen waren, allein in der Hand zu behalten getrachtet hatte. – Und deshalb sagte er auch jetzt zu dem Kriminalinspektor in beinahe herzlich überredendem Ton, indem er ihn frei und offen anblickte:
„Wenn Sie mir doch nur glauben wollten, daß ich lediglich bemüht bin, Licht in dieses Dunkel zu bringen! Gewiß – ich mag meine eigenen Wege gehen, aber Sie können fest davon überzeugt sein, daß ich, sobald ich ein gewisses Resultat erzielt habe, das heißt, sichere Beweise gegen eine bestimmte Person oder auch gegen mehrere beschafft habe, nicht einen Augenblick zögern werde, Ihnen hiervon Mitteilung zu machen.“
Wangel gebrauchte eine Weile, ehe er den vollen Sinn dieser immerhin etwas gewundenen Sätze ganz herausgeschält hatte. Seine Augen waren wieder groß geworden, und seine Linke plättete nach alter Gewohnheit nervös den fest angeklebten Scheitel.
„Herr Sermo“, sagte er mit einem niederschmetternden Blick, „wie soll ich dies wohl damit in Einklang bringen, was Sie mir gestern in der Villa der Frau Kaldenhoven erklärt haben?! Liegt nicht in diesen Ihren Worten schon halb und halb das Zugeständnis, daß Sie tatsächlich …“
Dieses Thema sollte jedoch jetzt nicht weiter zwischen den beiden Herren erörtert werden.
Es klopfte sehr kräftig. Ein Schutzmann trat ein, überreiche Wangel ein längliches Paket und meldete:
„Soeben aus Berlin eingetroffen. – Außerdem ist ein Schofför namens Franz Belling aus Laggow draußen, der damals gleichfalls auf dem Dampfer war, als … als …“
„Weiß schon!“, meinte Wangel kurz. Dann schaute er nachdenklich vor sich hin. „Ein Schofför – aus Laggow?“, fragte er nun den Beamten.
„Jawohl, Herr Kriminalinspektor, – aus Laggow. Er will bei einer Frau – hm ja – richtig – Frau Kaldenhoven in Dienst stehen.“
„Ah!“, machte Wangel und blickte Sermo mißtrauisch an. In dem Gehirn des Inspektors hatte sich soeben blitzschnell Gedanke an Gedanke gereiht: dieser Schofför aus Laggow, bedienstet bei Frau Kaldenhoven, und Sermo gestern in jenem Hause – Sermo, der sich damals auf den Dampfer gedrängt hatte, der, mit Unverfrorenheit und scharfem Verstande ausgerüstet, hier sich als begabter Amateurdetektiv aufgespielt hatte …! Das hatte etwas zu bedeuten!
Er blickte Sermo an … Dessen Augen waren jedoch wieder hinaus auf den Schmuckplatz gerichtet, wo dicht an der Allee drüben im Schatten der alten Linden ein Auto hielt, vor dem eine Dame langsam auf- und abging. Es war Frau Kaldenhoven.
Wangel lächelte etwas rachsüchtig. – Warte, jetzt werde ich Euch fassen! dachte er. Jetzt habe ich die Trümpfe in der Hand, ich, der Beamte, von dem ein Federzug genügt, um euch die Freiheit so lange zu nehmen, bis ihr die Wahrheit sagt!
„Der Mann soll kommen!“, befahl er mit erhobener Stimme. – Und zu Sermo gewandt, nachdem sich die Tür hinter dem Schutzmann geschlossen hatte:
„Herr Sermo, mir ist es außerordentlich interessant, die Bekanntschaft dieses Schofförs der Frau Kaldenhoven zu machen! – Übrigens scheint dieses Eilpaket die von Ihnen gewünschten Nummern der „Volksorgel“ zu enthalten, die ich zunächst jedoch allein durchsehen werde.“
Egon Sermo fühlte sich heute zum ersten Male dem Inspektor gegenüber unsicher. Eine dunkle Vorahnung sagte ihm, daß jetzt auch Wangel einige Fäden des dunklen Gespinstes in die Finger geraten wären, daß der Beamte bei dem Namen Kaldenhoven zu allerlei Schlüssen gelangt sein müsse und nun versuchen würde, aus dem Schofför, den er unter anderen Umständen kaum viel mit Fragen belästigt haben würde, allerlei herauszupressen. – Ja – es war also doch ein recht unglückseliger Zufall gewesen, daß Wangel gestern zu Frau Eva Kaldenhoven gekommen war.
Sermo dachte, daß es so, wie die Dinge jetzt lagen, am richtigsten wäre, gar nichts zu erwidern, um sich nicht womöglich festzureden, verbeugte sich daher lediglich und wollte das weitere abwarten. Daß Eva Kaldenhoven draußen auf dem Platz das Auto bewachte, trug auch nicht dazu bei, ihm seine Sicherheit wiederzugeben. Sie hatte Belling nach Danzburg begleitet! Also wußte sie, was der Schofför vorhatte, und die Erklärung war wohl die einfachste! – wollte recht schnell erfahren, wie Belling vor der Polizei bestehen würde.
Inzwischen hatte sich Wangel überlegt, ob er den Schofför in Sermos Gegenwart vernehmen sollte oder nicht. Er stand jetzt schnell auf und sagte ziemlich barsch: „Warten Sie hier!“, und ging hinaus, kehrte aber bald wieder in Begleitung eines Kriminalbeamten in Zivilanzug zurück, den er angewiesen hatte, das Protokoll zu führen, dabei aber Sermos Gesicht scharf im Auge zu behalten.
Der Beamte setzte sich an den Nebentisch und Wangel drückte auf die Klingel.
Die Tür öffnete sich. Zögernd trat Franz Belling ein, die Mütze in der Hand, ziemlich bleich und mit unruhig umhergleitenden Augen.
Als er Sermo gewahr wurde, stutzte er, dachte sofort an das, was gestern im Salon der Villa zwischen seiner Herrin und ihm verhandelt worden war, dachte an das Bild und an Frau Eva Kaldenhovens Worte: „Grausamer hätte das Schicksal seine Karten kaum mischen können …!“ – Deutlich malte sich die aufsteigende Angst in seinen Zügen. Und Wangel sah all das mit einem Gefühl der tiefen Befriedigung – nicht als ob er ein schadenfroher Charakter gewesen wäre, nein, nur weil ein maßloser Ehrgeiz jetzt wieder in ihm lebendig geworden war, allen Zweiflern zu beweisen, daß er nicht nur am Stammtisch seinen Mann stand.
Er wies auf einen Stuhl.
„Setzen Sie sich hier dicht vor den Tisch!“, befahl er nicht eben unfreundlich, aber doch mit jener feinen Tonfärbung, die nicht gerade Wohlwollen verrät.
Belling hatte das durch die Fenster einfallende blendende Licht des hellen Sommertages unbarmherzig, jede Veränderung der Miene enthüllend, auf seinem breiten, verschüchterten Gesicht. Sein Herz jagte … Was half es, daß er sich so fest vorgenommen hatte, seine Ruhe zu bewahren …?! Der Anblick Sermos, den seine Herrin als ihren geheimen Widersacher fürchtete, hatte genügt, ihn aus dem seelischen Gleichgewicht zu bringen. Er fürchtete ein vollständiges Komplott, dem er nicht mehr entrinnen könnte.
Wie ein richtiges Häufchen Unglück hockte er auf seinem Stuhl, preßte die Mütze zwischen den Händen und schaute zu Boden.
Wangels Siegergefühl stieg. Mit diesem Menschen würde er leichtes Spiel haben.
„Sie heißen also Franz Belling und sind Schofför bei Frau Kaldenhoven, nicht wahr?! – Wie lange stehen Sie dort schon im Dienst?“
„Seit – seit – meiner – eigentlich schon seit meiner Kindheit sozusagen“, antwortete Belling und schaute den Inspektor dabei ohne Scheu an. Es war ja die Wahrheit.
„So, seit Ihrer Kindheit?!“
„Ich habe meine Eltern sehr früh verloren, durch einen Unglücksfall. Sie waren beim alten Herrn Kaldenhoven als Hausbesorger in Stellung. Nachts wurde ein Gasrohr undicht und sie erstickten in ihrer Schlafstube. Da hat Herr Kaldenhoven für mich gesorgt. Ich war auf einem Technikum, wurde dann bei ihm Schofför.“
„Seit wann sind Sie denn mit der gnädigen Frau in Laggow?“
„Seit etwa fünf Wochen.“
„Frau Kaldenhoven war wohl erholungsbedürftig?“
Belling senkte den Blick: „Wahrscheinlich.“
„Wahrscheinlich? Ich denke doch, unter den Bediensteten eines Hauses wird der Anlaß einer Sommerreise stets besprochen werden. Und gerade Sie, den doch recht enge Bande mit dem Hause Kaldenhoven verknüpfen, sollten nicht wissen, ob die gnädige Frau aus Gesundheitsrücksichten Laggow aufgesucht hat?!“
„Alle reichen Berliner gehen im Sommer ins Bad!“, meinte Belling mit leichtem Achselzucken.
„Nun gut. Lassen wir das vorläufig. – Sie waren letztens in Halen? Zu welchem Zweck?“
„Die gnädige Frau hatte mir drei Tage Urlaub zu einem Ausflug dorthin gegeben.“
„Ausflug? – Also lediglich zu Ihrem Vergnügen?“
Bellings Kopf sank etwas tiefer auf die Brust. Dann nickte er …
„Ich wünsche eine klare Antwort“, sagte Wangel schneidend. „Lediglich zu Ihrem Vergnügen?“
„J … a, ja!“
„Sie lügen!“, fuhr Wangel auf. „Sie lügen! Man sieht es Ihnen ja deutlich an. Ich werde mal Frau Kaldenhoven vorladen und eidlich vernehmen! Vielleicht weiß die Dame etwas davon, was Sie in Halen vorhatten! Und auch Sie werden Ihre Aussage vielleicht beeiden müssen! – Doch – gehen wir jetzt erst mal zu einem anderen Punkt über. – Weshalb sind Sie zu mir gekommen?“
„Auf die Zeitungsnotiz hin.“
„Haben Sie diese selbst gelesen, oder hat man Sie darauf aufmerksam gemacht?“, fragte Wangel langsam, nachdem er mit Genugtuung festgestellt hatte, daß der Schofför sich verfärbte, als die Drohung mit einer Vernehmung der Frau Kaldenhoven erfolgte, und hierdurch seinem Verdacht, diese Berliner Witwe stecke mit Belling unter einer Decke, nur noch neue Nahrung gegeben worden war.
„Die Gaffkes, die Hausbesorgersleute, haben mir die Notiz gezeigt“, erwiderte der Schofför leise.
„Weshalb?“
„Sie wußten, daß ich an jenem Vormittag von Halen mit dem „Drachen“ zurückgekommen war.“
„Und haben Ihnen wohl nahegelegt, sich zu melden?“, forschte Wangel gespannt.
„Ja!“
„Mithin sind Sie … doch nein, erst eine andere Frage. Weiß Frau Kaldenhoven, daß Sie jetzt hier sind?“
„Ja.“ Das klang wieder sehr zögernd.
„Haben Sie mit Ihrer gnädigen Frau eingehender über diesen Selbstmord gesprochen?“
Belling traten mit einemmal dicke Schweißperlen auf die Stirn. Wohl halb unbewußt wischte er sie mit der Rechten weg. Seine Lippen waren fest aufeinandergepreßt.
„Wollen Sie nicht antworten?“, sagte Wangel befehlend.
Da hob Belling den Kopf. Sein Gesicht war geisterbleich. Und in dieser Blässe glühten die Augen dem Kriminalinspektor in Verzweiflung und Haß entgegen.
„Ich werde nichts mehr sagen – nichts!“, stieß er hervor. „Was wollen Sie eigentlich von mir? Warum behandeln Sie mich wie einen Verbrecher? Ich habe ein gutes Gewissen – so wahr mir Gott helfe!“ Wie ein Schrei aus gequältem Herzen waren diese letzten Worte.
„Habe ich schon mal das Gegenteil behauptet?“, meinte Wangel ironisch. „Sie sind hier erschienen, um uns vielleicht zu helfen, die Persönlichkeit eines unbekannten Selbstmörders festzustellen. Ich begreife nicht, was das mit Ihrem guten oder – schlechten Gewissen zu tun hat?! Oder – sollte Ihnen vielleicht bekannt sein, daß dieser Selbstmord gar kein Selbstmord ist?!“
Belling schaute schon wieder zu Boden und erwiderte nichts. Nur ein Zittern ging durch seinen Körper als Folgeerscheinung einer furchtbaren Nervenanspannung.
Wangel drehte sich nach Sermo hin.
„Haben Sie mit dem Mann über die Sache gesprochen?“
„Nein! Ich habe mit Herrn Belling überhaupt noch nie ein Wort gewechselt. Das kann ich jederzeit beschwören.“
Egon Sermo war alles andere als behaglich zumute. Dieser Wangel verstand seinen Vorteil ausnutzen! Weiß Gott, was bei dieser Vernehmung noch herauskam …?!
„Merkwürdig! Noch kein Wort gewechselt! Und dabei verkehren Sie bei Frau Kaldenhoven!“ Der Inspektor lächelte ein wenig spöttisch. Er merkte, daß er jetzt auch Sermo in der Zange hatte.
„Verkehren? – Nein! Da befinden Sie sich in einem Irrtum, Herr Inspektor! Ich war gestern nachmittag zum erstenmal bei Frau Kaldenhoven. Das wird Ihnen das Personal und die Dame selbst bestätigen, die ich im übrigen erst gestern vormittag kennenlernte.“
„Kann jeder behaupten!“ meinte Wangel achselzuckend.
„Kaum, Herr Kriminalinspektor!“, sagte Sermo erbittert. „Nicht jeder – nur der, der es weiß! Sie haben kein Recht, meine Worte zu bezweifeln. Mein Freund, der Komiker Basilius Olfer, hat mich Frau Kaldenhoven vorgestellt.“
„Notieren Sie den Namen, Henke!“, befahl Wangel dem Protokollführer. Und zu Sermo gewandt: „Ob ich ein Recht habe, Ihnen zu glauben, Ihnen, einem Herrn, der mich des Bildes wegen sicher angelogen hat – ja, angelogen! – das überlassen Sie gefälligst mir!“
Bei dem Worte Bild hatte der Schofför schnell den Kopf gehoben und Sermo einen seltsamen Blick zugeworfen.
„Aha!“, meinte Wangel schnell. „Aha, Belling, Sie haben sich da eben verraten. Sie wissen etwas von der Photographie! Heraus mit der Sprache, Mann! Seien Sie kein Narr, legen Sie sich nicht selbst durch Ihr Schweigen hinein!“
Um Bellings Mund zuckte ein schmerzliches Lächeln. Seine Augen waren noch immer auf Sermo gerichtet. Dann sagte er:
„Manchmal übt man Verrat an denen, die ein Bild als Erinnerung aufbewahren … an das Einst, an Gutes, das sie einmal von jemandem empfangen haben.“
Sermo hatte sich weit vorgebeugt. Eine Frage schwebte ihm auf den Lippen.
Da trat Wachtmeister Kargowski ein, hinter ihm ein jüngerer, gut angezogener Herr …
„Herr Inspektor, entschuldigen Sie, bitte … Aber wir sind …“ Kargowski hatte Sermo erblickt. Sein Gesicht wurde finster und feindselig. Und er fuhr fort:
„Ich möchte das Ihnen doch lieber allein sagen, Herr Inspektor.“
Wangel stand auf und ging mit dem Wachtmeister in die entfernteste Ecke.
„Der Herr dort, der Dr. Behrendt, besinnt sich ganz genau auf den Toten“, flüsterte Kargowski. „Er hat ihn mit einem anderen Manne damals auf dem Dampfer vor der Tür des roten Salons gesehen, wo die beiden scheu und hastig miteinander sprachen; der Doktor sagt, so recht, als hätten sie etwas Geheimes zu bereden gehabt. – Die beiden haben ihn nicht bemerkt, da er sich gerade in dem nahen Waschraum befand und durch den Spalt der nur angelegten Tür hindurchschaute.“
„Und dieser andere Mann? Kann der Doktor ihn beschreiben?“ Wangel blickte unwillkürlich zu dem jungen Arzt hin. Der hatte Belling scharf fixiert, trat nun auf die in der Ecke stehenden Beamten zu und sagte ganz leise und sichtlich erregt: „Verzeihung, daß ich mich hier vordränge. Aber – der Mann, mit dem der Tote damals auf dem Dampfer so scheu ein paar Worte wechselte, sitzt dort … Es ist der im Schofföranzug!“
„Wirklich?“, fragte der Inspektor gespannt.
„Ein Zweifel ist ausgeschlossen“, erwiderte der Arzt. „Die beiden Leute fielen mir auf, weil sie einen so merkwürdig ängstlichen Eindruck machten. Ich habe ein sehr gutes Personengedächtnis.“
Wangel strahlte. „Danke, Herr Doktor!“, sagte er laut und schritt wieder auf seinen Platz zu. „Wollen Sie, Herr Dr. Behrendt, sich diesen Mann hier mal genau ansehen. Belling stehen Sie auf!“
Der Arzt wiederholte ohne Zögern seine Behauptung.
Bellings Gesichtsfarbe spielte ins Grünliche. Er stützte sich mit der Rechten auf die Stuhllehne und schwankte mit dem Oberkörper hin und her.
„Nun, Belling, was sagen Sie jetzt?“, meinte Wangel in sanft überredendem Ton. „Sie merken doch, Ihre Sache steht oberfaul. Mit der Wahrheit kommt man immer am weitesten. Also …“
Belling konnte jetzt durch die Fenster den Schmuckplatz überblicken. Dort stand das Auto. Eva Kaldenhoven schritt davor noch immer auf und ab …
Ein blitzschneller Gedanke – ein ebenso blitzschneller Entschluß …
Eva Kaldenhoven schaute auf ihre Armbanduhr. Eine halbe Stunde war Belling nun schon in dem großen Gebäude … Was mochte sich hinter diesen blinkenden Fenstern jetzt wohl abspielen?
Ein qualvoller Seufzer drückender Ungewißheit entrang sich ihren Lippen …
Ah – was war das?! Ein Mann stürmte aus dem Portal – ein Mann – Belling – Belling! Und hinter ihm her kam die wilde Jagd – Schutzleute, Zivilpersonen …
Eva Kaldenhoven gerann förmlich das Blut in den Adern. – Belling flieht! Belling flieht! Es war, als brülle ihr jemand die Worte in die Ohren.
Dann die Erleuchtung: Er flieht auf das Auto zu – von dem Auto erhofft er alles!
Sie lief schon nach dem Kraftwagen hin, schwang sich auf den Führersitz, ergriff das Lenkrad, drückte auf den Starter …
Das Auto machte einen Satz nach vorwärts. Eva Kaldenhoven biß die Zähne zusammen. „Ihr sollt uns nicht fangen!“ – Eine scharfe Biegung, die Hinterräder schleuderten – aber nun lag die gerade Straße vor den Flüchtlingen …
Kargowski war einer der vordersten gewesen – oh – ein Privatauto! – Er trat ihm in den Weg.
„Hier – Kriminalpolizei! – Jenem blauen Privatwagen nach – sofort! Ich befehle es im Namen der Behörde! – Es sind Verbrecher, die dort zu entkommen suchen!“
Das Auto gehörte dem Bankier Kuttner von der Danzburger Bank. Er und sein Prokurist saßen darin.
„Gut – los!“, rief Kuttner. Und Kargowski und sein inzwischen gleichfalls herangekommener Kollege Henke, der Protokollführer, sprangen in den Wagen, der nun sofort davonraste.
Oben im Zimmer 24 rannte Wangel verzweifelt auf und ab. Er hatte die Fenster aufgerissen und die Jagd verfolgt, hatte auch beobachtet, wie Kargowski das Auto anhielt.
„Sie haben mindestens drei Minuten Vorsprung!“, rief er Dr. Behrendt zu, der neben Sermo zum zweiten Fenster hinausschaute. „Drei Minuten! Bei einem Auto so gut wie eine Stunde!“
Nun durchmaß er den Raum hinter seinem Schreibtisch mit Riesenschritten und warf hin und wieder einen wütenden Blick auf Sermo, der sich gegen einen Aktenständer gelehnt hatte und sinnend vor sich hinschaute. Sermo kamen die seltsamen Worte Bellings nicht aus dem Sinn: „Manchmal übt man Verrat an denen, die ein Bild als Erinnerung aufbewahren!“ Und er dachte daran, daß Eva Kaldenhoven ihm damals auf dem Wege so merkwürdig bekannt vorgekommen war. Und jetzt fiel ihm plötzlich ein, was diese Ähnlichkeit ausgemacht hatte: die Augen, der hilfesuchende, verschüchterte Ausdruck ihrer Augen. Diese Augen hatte er bereits einmal gesehen. Ja, das war es. Aber nur wo – wo nur – und wann?
Wangel war plötzlich vor Sermo stehengeblieben.
„Herr“, sagte er schneidend, drohend, beinahe rachsüchtig, „wenn das Pärchen uns entschlüpfen sollte, werde ich mich an Sie halten. Verstehen Sie mich, an Sie, der dem Mörder Vorschub geleistet hat!“
Sermo war erst leicht zusammengezuckt. Die barsche Anrede kam so plötzlich. Dann erwiderte er sehr kühl:
„Mörder? Halten Sie Belling für den Täter? Ich nicht – jetzt nicht mehr! – Bitte, besinnen Sie sich, was ich Ihnen von den Spuren auf dem roten Teppich sagte. Der, der den Unbekannten erschoß, hatte einen zierlichen Fuß wie Belling! Aber der Mörder ging auffallend stark einwärts, was Belling nicht tut! Als Sie dem Schofför vorhin aufzustehen befahlen, beobachtete ich, wie er die Füße setzte – sehr nach außen, für einen Menschen mit O-Beinen eigentlich etwas ungewöhnlich. Und als er dann wie ein Blitz zum Zimmer hinausschoß, stellte ich dasselbe fest. Er setzt die Füße stark nach auswärts. Mir genügt dieser Beweis!“
„Beweis! Netter Beweis! Lächerlich! Warum floh denn der Bursche, he?“
„Ich glaube, weil er merkte, daß Sie ihn verhaften wollten.“
„Na also! Ihre Unschuldstheorie hinkt stark, Herr!“
„So? Es gibt Schuldlose, die sich aus bestimmten Gründen trotz ihres guten Gewissens nicht gern einsperren lassen, Herr Inspektor. Und Belling wird wohl sehr schwerwiegende Gründe gehabt haben.“
„Ach nee? Was Sie sagen? Und diese Gründe wären?“
„Ja, wenn ich das wüßte! Vielleicht – es ist eine bloße Vermutung von mir – gibt das Paket dort darüber Auskunft.“
Wangel lachte ironisch.
„Bitte, meinetwegen studieren Sie die ‚Volksorgel‘!“
Ein Schutzmann trat ein und wollte Wangel über die Verfolgung der Flüchtlinge durch das Kuttnersche Auto Meldung erstatten.
„Schon gut. Habe selbst alles mit angesehen“, unterbrach ihn der Inspektor. „Stellen Sie sich dort an die Tür, vielleicht versucht hier noch jemand auszukneifen.“
Sermo, der inzwischen die Zeitungen schnell geordnet und bereits mit der Durchsicht begonnen hatte, schaute auf.
„Wenn Sie mich mit dem ‚jemand‘ meinen sollten, Herr Inspektor, so befinden Sie sich wirklich sehr im Irrtum“, sagte er gelassen. „Ich fürchte, Sie werden mich noch heute um Verzeihung bitten, weil Sie …“
Das war selbst Wangel zuviel.
„Ich, ich Sie um … – da hört sich doch verschiedenes auf!“, schrie er. „Eine solche Frechheit ist mir noch gar nicht dagewesen. Herr, ich lasse Sie …“
Sermo hatte sich mit einem Ruck erhoben, hielt eine der Zeitungen hoch und sagte:
„Geben Sie mir noch eine Viertelstunde Zeit, dann glaube ich Ihnen erklären zu können, weshalb Belling geflüchtet ist.“
Dr. Behrendt, der bisher den stummen, nichtsahnenden Zuschauer gespielt hatte, wandte sich jetzt an den Inspektor mit der Bitte, ihn jetzt zu entlassen, da er notwendig Patienten zu besuchen habe. Ihm war diese erregte Szene peinlich und er hoffte, daß Wangel sich durch diese Ablenkung schneller beruhigen würde.
„Bitte – bitte – gehen Sie, Herr Doktor“, meinte Wangel kurz. „Aber Sie müssen zu jedermann über die Vorfälle hier schweigen – zu jedermann! Ich warne Sie! Es könnte sehr unangenehme Folgen für Sie haben – na, Sie verstehen mich schon!“
Als der Arzt das Zimmer verlassen hatte, reichte Sermo dem Inspektor das Zeitungsblatt hin, das er soeben durchgesehen hatte, tippte mit dem Zeigefinger auf eine Überschrift, die unter dem Strich auf der Vorderseite über der ersten Spalte stand und sagte:
„Bitte – vielleicht lesen Sie diese Kriminalerzählung in Briefen mit, Herr Inspektor. Es dürfte Ihnen schon bei dieser ersten Nummer so einiges auffallen.“
Wangel öffnete schon die Lippen zu einer bissigen Bemerkung. Aber Sermos tiefernstes Gesicht machte ihn doch stutzig.
„‚Volksorgel‘ – schöner Name! – Vom 2. Mai des Jahres! Erscheint dreimal in der Woche: Montag, Mittwoch und Freitag. – Gänzlich unabhängiges Blatt! – Wahlspruch: die Larve herunter!“
Dann unter dem Strich:
Eva im Paradiese
Kriminalerzählung in Briefen
Von …??
„Eva im Paradiese …?!“ – Wangel wurde aufmerksam. „Eva – hm, Frau Kaldenhoven hieß ja so mit dem Vornamen!“ Gespannt las er weiter:
1. Brief: Sie an die Freundin.
Meine Mutter hat mir Deinen Brief nachgeschickt. Ich danke Dir für dieses Lebenszeichen. – Ich bin jetzt also in Berlin. Du weißt, wie ich mich schon immer nach Berlin gesehnt habe. In meiner Phantasie malte ich es mir stets nur als Märchenstadt, als etwas, was einem den Atem benimmt, als etwas Unwirkliches, Riesiges, als einen Irrgarten, erfüllt von Getöse, von wunderlichen Menschen …
Ich bin nicht enttäuscht worden. Berlin ist ein Märchen. Vielleicht nur für mich. Vielleicht würdest Du, die stets nüchterner in allem empfand, sagen, es ist ein häßliches Märchen, in dem der Reichtum und das Laster sich breit machen und Armut und Unglück in den Winkel drängen, damit keiner sie sieht.
Meine Tante wohnt im Gartenhaus einer Mietskaserne im Westen. – Berlin W! Du kennst es aus unzähligen Romanen, dieses W, das so leicht an Weh erinnert. Aber Berlin W ist nichts als Gold, verfeinerter Geschmack, Luxus, ein wenig (oder viel?) moralische Fäulnis und Genußsucht. Das Gold fließt aus allen anderen Stadtvierteln nach Berlin W, von dort her, wo die Fabriken, die Riesengeschäfte, die Kontore sind. – Wenn ich drei Minuten gehe, bin ich auf der Tauentzienstraße. Zum ersten Male dort, schämte ich mich meines Provinzfähnchens. Du weißt, wie gern ich mich gut und geschmackvoll kleiden möchte. Nie konnte ich’s. Und wie bitter fraß das an meinem Herzen! Daheim lautete die Losung: Sparen, sparen! – Ja, ich schämte mich; ich schlich bald auf die andere, stille Seite hinüber.
Nach dem vierten Besuch der großen Bummlerpromenade wußte ich, daß selbst das Fähnchen mir nicht schadete. Ich lachte alle aus, die da kamen und meine Bekanntschaft suchten. – – Wenn ich den Herren so sehr gefalle, selbst in Berlin, müssen sich meine Sehnsuchtsträume von Luxus, Eleganz verwirklichen lassen, sagte ich mir …
Ich bin etwas raffiniert. Besinnst Du Dich doch, daß unser Oberlehrer in der zweiten Klasse im Deutschen mal zu mir sagte: Sie haben das Talent zur Weltdame? Ihr anderen faßtet das als Schmeichelei auf. Ich wußte, daß dieser blonde Schulmeister mich durchschaut hatte. – Etwas raffiniert … Ich bewarb mich um eine Stellung. Nicht um eine beliebige … Ich wählte. Ich schickte stets mein Bild mit, ließ mir Zeit. Schließlich fand ich etwas, das mir lohnend erschien. Heute gerade, heute morgen kam der Brief, ich sollte mich persönlich vorstellen. Ich hatte mich inzwischen sehr genau über diese „Gelegenheit“ erkundigt. Ein sehr, sehr reicher Junggeselle mit vielen Wunderlichkeiten. Ohne Anhang. Besitzer wertvoller Sammlungen, eines prachtvollen Hauses, zweier Autos und – alt, fast ein Greis – fast, aber ein künstlich verjüngter.
Ich bin heute mittag bei ihm gewesen …
Vielleicht wird Warmherde (so heißt er) mich gern herausziehen aus dem Sumpf der Fähnlein, des Sparens, der halb erstickten Lebenslust …
Für heute Schluß! Übermorgen trete ich die Stellung an. Du hörst noch von mir. – Ich habe mir diesen Brief nochmals durchgelesen. Ich werde ihn nicht abschicken. Ich zeige darin zu deutlich – wie ich wirklich bin. Aber ich werde das, was ich von der Märchenstadt erlebe, weiter in derselben Weise zu Papier bringen. Briefe, die niemanden erreichen sollen …
(Fortsetzung folgt in der Montagnummer.)
Inspektor Wangel legte die Zeitung auf den Tisch und schaute Sermo nachdenklich an.
„Was wissen Sie über Frau Kaldenhovens Vergangenheit?“, fragte er dann.
Sermo, der schon bei der dritten Nummer war, blickte auf.
„Nicht viel, Herr Inspektor. Ihr Mann war ein millionenreicher Kunsthändler, vielleicht dreimal so alt wie sie und starb etwa vor zwei Jahren.“
„Und als junges Mädchen war sie bei ihm in Stellung – als was?“
„Ich hörte, als Privatsekretärin. Ob es stimmt, kann ich nicht sagen.“
„So – so! – Geben Sie mir bitte die erste Fortsetzung, Herr Sermo. – Danke!“ Und zu dem Posten an der Tür: „Sie können gehen! – Los – verschwinden Sie!“
Der Schutzmann machte eilig die Tür von außen zu.
Egon Sermo lächelte Wangel an und meinte mit einer ironischen Verbeugung:
„Ich danke für den Beweis Ihres wiedererwachten Vertrauens, Herr Inspektor!“
„Seien Sie nicht allzu zuversichtlich!“, knurrte Wangel.
„Oh, ich bin sogar sehr zuversichtlich! Sie werden das verständlich finden, wenn Sie diese Schurkerei erst besser in den nächsten Fortsetzungen der – Kriminalerzählung durchschaut haben.“
Es wurde wieder still im Zimmer 24. Nur die Zeitungen raschelten und hin und wieder knarrte ein Stuhl, wenn einer der beiden Herren sich bewegte.
Nach der fünften Fortsetzung meinte Wangel:
„Eigentlich könnten wir uns eine Zigarre anstecken …“
„Gewiß! – Sozusagen als Friedenspfeife!“, lächelte Sermo.
Der Inspektor schlug sich knallend mit der flachen Hand aufs Knie.
„Ich ahne ja schon so manches, hol’s der Henker – aber begreifen tue ich die Sache noch lange nicht. – Weshalb ist denn bloß der Belling ausgekniffen? Und – wer ist der Tote, wer der Mörder?“
Sermo zuckte die Achseln.
„Ich muß erst diese so tropfenweise veröffentlichte Erzählung ganz gelesen haben“, meinte er. „Vielleicht kann man dann auf dem Wege logischer Schlußfolgerungen … Ach so – pardon – dafür sind Sie ja nicht zu haben, Herr Inspektor. Die Gangart Bellings – Füße nach außen! – genügte Ihnen ja nicht als logischer Beweis!“
„Werden Sie nicht wieder – frech! – Hier haben Sie ein Streichholz. – Schmeißen Sie doch den Glimmstengel weg, der zieht ja nicht …“
„Zieht schon! Man muß nur Zigarren auch zu behandeln wissen, Herr Inspektor. Bei manchen kriegt man keinen Rauch heraus, weil man die Sache falsch anfängt – wie bei Menschen, aus denen man was herausholen will und die man sofort kopfscheu macht.“
„Unverschämtheit!“, brummte Wangel. Aber er dachte auch an Franz Belling.
Nachdem Basilius von der unliebenswürdigen Frau Zechke erfahren hatte, daß Sermo in Danzburg wäre, ließ er sich in der Seestraße rasieren und schlenderte dann gemächlich der Haffnerstraße zu.
Basilius fühlte sich wieder ganz als Amateurdetektiv. Die Erfolge dieses Morgens, dieser Gastrolle bei dem bezechten Chulusoff, waren so bedeutungsvoll, daß der Komiker nicht einen Moment zögern wollte, sie nun selbst noch anderswo weiter auszubauen.
Und dieses Anderswo war eben die Villa Kaldenhoven.
Er war ja jetzt Direktor der Bunten Bühne und die Gaffke Garderobenfrau. Da konnte man sich schon irgendein Gewerbe machen, um in die Villa hineinzugelangen. Vielleicht begegnete man dann dem Schofför und konnte sich mit ihm in ein leutseliges Gespräch einlassen. Dieser Belling würde sich ja, wenn man seinem Gedächtnis etwas nachhalf, womöglich recht gut auf einen Herrn besinnen, der so und so aussah und damals mit auf dem Dampfer gewesen sein konnte … konnte …! Und wenn man Belling zu nehmen wußte, würde er vielleicht noch manches zugeben und mithelfen, die Sache noch mehr zu klären.
Jedenfalls kam sich Basil in seiner Rolle als Detektiv weit, weit wichtiger vor als in seiner Stellung als Kabarettleiter, obwohl ihn doch jetzt verschiedene Herren grüßten, die er erst gestern durch die Bunte Bühne und den lange nach Mitternacht gegründeten Verein der Bettschoner kennengelernt hatte.
Jetzt hatte Basilius die Gittertür der Villa erreicht, legte die Hand auf den Drücker. – Verschlossen! – Also läuten.
Gaffke kam und öffnete.
„Morgen, Herr Olfer! – Die gnädige Frau ist leider nicht zu Hause. Sie ist mit Belling im Auto nach Danzburg gefahren, wo sie Einkäufe machen und Belling auf die Polizei will – wegen des Selbstmordes, Herr Olfer, und wegen der Zeitungsnotiz.“
„So, so. – Na, ich wollte ja auch nur Ihre Frau sprechen, mal fragen, wie denn gestern ihre Einnahme gewesen ist.“
„Oh, Herr Olfer – großartig – großartig! Acht Mark sechzig Pfennig! – Aber ich bitte, treten Sie doch näher. Dürfte ich Ihnen – aber bitte, nichts für ungut! – einen Pflaumenschnaps vielleicht anbieten?“
Basil schritt neben Gaffke der Villa zu.
„Nee, mein Lieber, das Schnapsen will ich mir langsam abgewöhnen.“ Er dachte an Hilda Lenz – an die Geschichte mit … der Entmündigung wegen Trunksucht und – noch an etwas, was auch Hilda Lenz betraf …
„Nanu – so plötzlich, Herr Olfer?! Was tut ein Schnäpschen?“
„Sie sind eine Schlange im Paradiese meiner guten Vorsätze, Gaffke! Ich werde Ihnen den Kopf zertreten!“
Der Portier lachte.
Sie stiegen die Treppe zu der Kellerwohnung hinab und Gaffke hatte gerade vor dem Gast die Stubentür aufgemacht, als man das Näherkommen eines Autos hörte.
Gaffke schaute durch das Fenster. „Ah – die gnädige Frau! – Entschuldigen Sie, Herr Olfer, ich muß das Tor öffnen! Da – der Belling tutet schon!“
Olfer überlegte. Der Zufall war ihm günstig. – Er folgte Gaffke und traf vor dem Hause mit Eva Kaldenhoven zusammen.
Mein Gott – wie sah die arme Frau aus! Kaum wiederzuerkennen war sie. Sie schien um Jahre gealtert.
„Guten Morgen, gnädige Frau! – Die Fahrt scheint Ihnen nicht gut bekommen zu sein“, sagte er ganz besorgt.
Sie neigte nur etwas den Kopf, schaute Olfer dann durchdringend an, während ein verächtliches Lächeln ihren Mund umspielte …
„Was spionieren Sie denn heute hier aus?“, sagte sie leise. „Wohl im Auftrage von Herrn Sermo – wie?! – Bitte – sprechen Sie nur ganz offen! Ich weiß Bescheid und ich wehre mich nicht länger!“
Olfer war nur für einen Moment verlegen geworden. Dann erwiderte er fest:
„Wenn ich spionieren sollte, so sollte es nur zu Ihrem und Bellings Bestem sein, gnädige Frau. – Lachen Sie nicht so bitter, so geringschätzig auf! Ich rede die Wahrheit.“
Es war ein Etwas in seiner Stimme, seinen ehrlichen Augen und seiner ganzen, sicheren Haltung, das mit einem Male eine schwache Hoffnung in ihr aufsteigen ließ.
„Sie und Sermo arbeiten wirklich nicht gegen mich?“, fragte sie schnell.
„Nein! Bis gestern weder für noch gegen Sie, sondern ohne Parteinahme für die Ermittelung der Wahrheit! Bis gestern, gnädige Frau … Dann habe ich in der verflossenen Nacht etwas entdeckt, das ungeheuer wichtig zu sein scheint! Nun arbeite ich für Sie, bin also parteiisch geworden …“
Eva Kaldenhovens bleiche Wangen röteten sich.
„Kommen Sie ins Haus, Herr Olfer! Gaffke betrachtet uns schon ganz mißtrauisch.“
„Bitte, auch Belling mit zuziehen …“
„Gewiß. Ich lasse ihn dann durch Anna rufen. Das fällt nicht so auf.“
Sie nahmen auf der Terrasse Platz.
„Gnädige Frau“, begann Olfer, „es muß Ihnen etwas recht Unangenehmes widerfahren sein. Sie waren vorhin so verstört, als ob …“
Sie beugte sich näher zu ihm, fiel ihm ins Wort.
„Belling drohte Verhaftung. Er entfloh und wir sind auf Umwegen hier nach Laggow gekommen.“
„Oh! Verhaftung! – Gut, daß er flüchtete. – Lassen Sie ihn, bitte, rufen, schnell. Mir ist eben ein guter Gedanke gekommen.“
Belling erschien, verneigte sich und blieb abwartend stehen.
„Näher, lieber Freund – näher!“, ermunterte ihn Olfer. „Sagen Sie mal, besinnen Sie sich, ob auf dem Dampfer damals morgens ein kleiner Herr mit dünnem, blondem Vollbart, kurz geschnitten, und goldener Brille mitfuhr? Der Mann ist ein wenig verwachsen, kaum merklich, und sieht wie ein Gelehrter aus. Er hat auch etwas lange Arme und einen sogenannten Watschelgang – im Volke nennt man das „über die große Zehe gehen“. – Na – erinnern Sie sich an diesen Menschen? War er auch auf dem Dampfer? Vielleicht ist er Ihnen aufgefallen. Viel Fahrgäste hatte ja der „Drache“ nicht an diesem Morgen.“
Belling nickte eifrig.
„Ganz genau besinne ich mich auf ihn. Er stieg ja auch hier in Laggow aus. Er hatte sich aus Halen ein paar Riesensträuße Heidekraut mitgebracht, die er an einer Schnur über der Schulter trug.“
„Glänzend! Also er war auch auf dem „Drachen“! Dann – dann ist er auch – der Mörder des Unbekannten. – Darf ich jetzt mal telephonieren, gnädige Frau? – Bitte – fragen Sie jetzt nichts! Wir wollen uns die Überraschungen gegenseitig aufsparen. Ich bin sofort wieder da.“
Olfer ließ sich mit dem Polizeiamt Danzburg verbinden – Zimmer 24.
Wangel meldete sich.
„Ist mein Freund Sermo noch dort?“, fragte Basil ungeduldig.
„Ja. – Aber wer sind Sie denn?“
„Olfer, ein Freund Sermos! – Sermo soll also dort auf mich warten. Ich bin in zwanzig Minuten mit einem dicken Bündel Neuigkeiten dort. – Schluß!“
Basil eilte wieder auf die Terrasse.
„Vorwärts, Belling – machen Sie das Auto fertig. Es geht nach Danzburg zurück …“
Der Schofför warf einen angstvollen Blick auf Eva Kaldenhoven.
„Zögern Sie nicht, Franz!“, sagte sie fest. „Sie wissen, daß ich jetzt alles auf mich nehme – komme, was kommen mag! Sie sollen nicht meinetwegen leiden! Es war feige von mir, daß ich …“
Olfer unterbrach sie.
„Gnädige Frau, wir wollen Sermo nicht warten lassen. Ich bin gewiß gespannt, auch das noch zu erfahren, was ich noch nicht völlig überschaue. Aber ich kann mich beherrschen. – Also – brechen wir auf!“
Als das Auto in die Seestraße einbog, kam ihm ein anderes in schnellster Gangart entgegen. Darin saßen unter anderen die beiden Kriminalbeamten Kargowski und Henke.
Der Wachtmeister hatte gute Augen.
„Da – da – halt – halt! Sie sind’s“, brüllte er. „Umkehren – umkehren …“
So rasten denn in einem Abstand von kaum 500 Metern die beiden Autos die nach Danzburg führende Chaussee entlang.
Die Hetze endete zu Kargowskis Erstaunen vor dem Portal des Polizeipräsidiums. Aber – aber das blaue Auto war leer.
„Wo sind die Leute hin?“, fragte der Wachtmeister den Pförtner.
„Nach oben zu Inspektor Wangel. Und der Ausreißer, der Schofför, war auch dabei.“
Kargowski glaubte, die Welt ginge unter. Er konnte nur den Kopf schütteln. –
Inzwischen hatten Sermo und Wangel die Kriminalerzählung des unbekannten Verfassers bis zu Ende gelesen. Es war das reine Wettlesen zum Schlusse gewesen. Die Fortsetzungen waren zum Schluß immer kürzer gewesen.
„Ein Gift, das tropfenweise verabfolgt worden ist“, hatte Sermo gesagt, als der Inspektor die letzte Nummer weglegte.
Wangel nickte. „Es ist so. – Nun aber erklären Sie mir endlich, wie Sie auf dieses Schundblatt eigentlich aufmerksam geworden sind.“
„Durch einen Zufall oder besser durch eine Unvorsichtigkeit eines der Leute, die hier entweder bereits eine ganz gemeine Erpressung durchgeführt oder erst vorbereitet haben.“ Und er berichtete, daß der Russe sich die Zeitungen unter Olfers Adresse hatte schicken lassen, um sodann fortzufahren:
„Erst gestern nachmittag stellte mein Freund fest, daß diese letzten zwei Nummern der „Volksorgel“ sich auf der Terrasse der jetzt von Frau Kaldenhoven bewohnten Villa befanden, d. h. der Dame irgendwie von Chulusoff zugestellt worden waren, natürlich so, daß sie nicht ahnte, wer der Absender war. Von dem Inhalt wußten wir, Olfer und ich, noch nichts. Ich vermutete nur, um was es sich dabei handelte. Heute bestätigte sich diese Vermutung. Gestern aber veranlaßte mich diese Vermutung dazu, meinen Freund zu bitten, sich in vorgerückter Stunde an Boris Chulusoff heranzudrängen und dem Mann recht viel Alkohol einzufüllen, wobei ich redlich half. Olfer ist dann mit dem Russen zusammen nach dessen Wohnung gegangen. Was er dort erreicht hat, weiß ich nicht.“
„Wie läßt sich nun aber eine Verbindung zwischen diesem Chulusoff und dem Morde auf dem Dampfer herstellen? Sie meinen doch auch, daß eine solche existiert?“
„Ja, das meine ich. Aber ich kann diese Verbindung vorläufig nur auf Grund von Kombinationen aufbauen. Und davon halten Sie ja nicht viel!“
„Sie – Sie sind ein gräßlich frecher Mensch, wahrhaftig! – Los, heraus mit Ihren Kombinationen!“
In diesem Augenblick schrillte das Telephon.
Olfer meldete sich mit seinem Bündel Neuigkeiten.
Sermo lachte vergnügt.
„Der Basilius ist ein Mordskerl! Betrunkene kann er tadellos mimen! Als Gefängniswärter Frosch in der „Fledermaus“ ist er unübertrefflich. Und bei Chulusoff scheint er ja auch einen Bombenerfolg gehabt zu haben.“
Wangel qualmte ein paar lange Züge aus seiner Zigarre.
„Hm – eigentlich ist es doch wenig ruhmvoll für die Polizei, daß Sie und Olfer in dieser Mordsache sozusagen den Rahm abgeschöpft haben“, meinte er etwas unzufrieden. „Ich bin wahrhaftig nicht neidisch, aber …“
„Gestatten Sie, Herr Inspektor – von Rahm abschöpfen kann keine Rede sein. Vergessen Sie nicht, daß Sie der Wahrheit fraglos auch allein auf die Spur gekommen wären, wenn auch vielleicht etwas später als mit unserer Hilfe. Nein – der Ruhm gehört Ihnen ohne Einschränkung, die Sache aufgedeckt zu haben. Bedenken Sie doch: Sie haben mich gezwungen, Ihnen mitzuteilen, was ich wußte! Sie waren die treibende Kraft, ohne Frage! Und ich möchte auch gar nicht, daß mein Name viel hierbei genannt wird. Ich will ganz im Hintergrunde bleiben!“
Wangels Gesicht strahlte. Ihm ging diese Verdrehung der Tatsachen wie ein angenehmer Trank ein. – Also – der Ruhm gehörte ihm – –! Glänzend! – Natürlich sollte auch Kargowski daran teilnehmen.
Er streckte Sermo herzlich die Hand hin:
„Sie sind ein vornehmer Charakter, Sermo! Auf gute Freundschaft!“
Egon Sermo dachte: Ein billiger Ruhm wird’s für ihn werden. Aber er ist ein guter Mensch im Grunde seines Herzens – mag er sich daran erfreuen!
Wangel kam nun wieder auf die Verbindung zwischen Chulusoff und dem Morde zu sprechen. Aber Sermo meinte, diese theoretischen Erörterungen hätten jetzt wenig Zweck, nachdem Olfer sich angemeldet hätte. Erst müsse man mal sehen, was Basilius in seinem „Bündel“ mitbringe!
Doch Wangel ließ nicht locker.
„Ich möchte zu gern wissen, wer der Tote ist“, sagte er grübelnd. „Ein Mensch, der eine Verkleidung trägt, und der chiffrierte Schriftstücke bei sich hat … hm, ja …“
„Der könnte vielleicht ein Kollege von Olfer und mir sein – aber ein echter Kollege – ein Berufsdetektiv!“, führte Sermo des Inspektors Satz zu Ende.
„Ah – also auch Sie denken daran!“, rief Wangel. „Ich mochte diese Vermutung zuerst nicht aussprechen.“
„Ich bin sogar fest überzeugt, daß der Mann Detektiv gewesen ist, und zwar im Solde Frau Kaldenhovens“, meinte Sermo.
„Wie wollen Sie das beweisen?“
„Sehr einfach. Der Tote hatte einen Schlüssel bei sich, der zu der Haustür von Frau Evas Villa paßt.“
„Ah – wirklich!“ warf Wangel ein.
„Wirklich! – und er hatte außerdem in seiner Reisetasche eine Photographie, sorgsam versteckt – das Bild eines Studenten in Couleur!“
„Richtig – das Bild! – Donner noch mal – der Belling machte doch vorhin so eine komische Bemerkung, die sich auf ein Bild – eine Photographie – bezog …?“
„Ja – und diese Bemerkung öffnete mir die Augen!“
„Wie das?“, fragte der Inspektor kopfschüttelnd.
„Hm – ich weiß nämlich, wen das Bild vorstellt, Verehrtester! Deshalb stahl ich’s auch. Mit dem Recht am – eigenen Bilde!“
„… am eigenen – Bilde? Was …? Ah – nun begreife ich! Die Photographie …“
„… ist meine eigene, allerdings! Ich bin seitdem erheblich magerer geworden, auch jetzt bartlos.“
„Alle guten Geister, das nenne ich eine Überraschung! Ja – aber was wollte denn der Tote mit Ihrem Bild, wozu schleppte er es mit sich herum?“
„Bitte, denken Sie doch mal an Bellings Worte!“
„Hm – der Schofför sagte, wenn ich mich recht besinne, etwa folgendes: Bisweilen verrät man jemanden, der ein Bild als Erinnerung bei sich trägt …“
„Nein – nicht ‚bei sich trägt‘ – ‚aufbewahrt‘ – den Ausdruck gebrauchte er. – Und das ist ein gewaltiger Unterschied. – Bei sich trägt – dann könnte man an den Toten denken. – Aufbewahren ist weitgehender. Und berücksichtigt man die Tatsache, daß Belling mich als seinen und seiner Herrin geheimer Feind betrachtete, nimmt man dann noch die Worte „Bisweilen verrät man“ hinzu, so kann Belling als den, der die Photographie aufbewahrte, nur Frau Kaldenhoven oder sich selbst gemeint haben.“
„Aber – der Tote hatte doch das Bild …?“
„Gewiß – er hatte es fraglos entweder von der genannten Dame oder von dem Schofför zu einem bestimmten Zweck ausgehändigt erhalten. Er ist – wie wir annehmen – Detektiv gewesen. Vielleicht hat er nach mir suchen sollen. Ich führe ja jetzt einen anderen Namen, seit ich Komödiant bin, wie Sie bereits wissen. Aus dem Grunde mag die Person, die ein Interesse an mir nahm, mich ohne fremde Hilfe nicht haben finden können.“
„Hören Sie, Sermo – Sie haben wirklich einen bewundernswerten Verstand – alle Achtung! Sie sind zum Operettentenor wirklich zu schade. Was könnten Sie als Kriminalbeamter leisten!“
„Ne – danke, Verehrtester – schon das Wort Beamter jagt mir einen Schauer über den Rücken!“
Draußen tutete ein Auto.
Wangel lauschte.
„Haben Sie gehört, Sermo? Ob etwa …?“ Er riß das Fenster auf, schaute hinaus.
„Sermo – Mensch – das blauer Auto der Kaldenhoven!“, rief er. „Kargowski hat sie erwischt! Jetzt wird’s interessant!“
Es klopfte. Basil Olfer trat ein. Hinter ihm wurden Eva Kaldenhoven und Belling sichtbar.
Basil ging auf Wangel zu, stellte sich vor, nickte Sermo augenzwinkernd zu und sagte:
„Ich habe mir erlaubt, Besuch mitzubringen, Herr Inspektor. Belling kennen Sie ja bereits, die Dame ist Frau Kaldenhoven.“
Wangel war die Liebenswürdigkeit selbst, er rückte der schönen Frau einen Stuhl zurecht, hieß auch den Schofför Platz nehmen und fragte nun etwas unsicher:
„Hm – dann hat das andere Auto Sie wohl nicht eingeholt, Belling, wie?“
Olfer übernahm die Antwort. „Beinahe, Herr Inspektor! Es war ein ganz nettes Wettrennen auf der Chaussee, recht amüsant. Die Herren Verfolger werden gleich hier sein … – Bitte – da sind sie!“
Kargowski kam förmlich ins Zimmer gestürzt, sah sich wild um.
Die friedlich dasitzende Versammlung verwirrte ihn.
„Herr Inspektor …“, stotterte er atemlos. „Wir …“
„Danke schön, lieber Kargowski – Sie können gehen“, meinte Wangel.
Und Olfer fügte schnell hinzu: „Aber nicht zu weit weg! Wir werden wohl nachher wieder nach Laggow fahren, um den richtigen Mörder zu verhaften.“
Der Wachtmeister merkte, daß hier wichtige Enthüllungen bevorstanden, schaute seinen Vorgesetzten bittend an und meinte: „Könnte ich nicht gleich hierbleiben?“
„Gut – meinetwegen!“
Kargowski setzte sich bescheiden in eine Ecke.
Basil Olfer räusperte sich.
„Kann ich loslegen, Herr Inspektor?“ – Wangel nickte eifrig.
„Also … der Alkohol, meine Herrschaften, – ich kann nicht genug davor warnen. Man vertilge ihn, wo man ihn findet, aber nicht auf dem Wege durch die eigene Kehle, nein – meinetwegen durch Zusatz von Petroleum, was selbst ein Schwein nicht säuft! – Pardon, gnädige Frau! Von wegen des Kraftausdrucks. Wenn ich aber guter Laune bin, werde ich zuweilen unfein – leider!“
Ringsum trotz des Ernstes der Situation lächelnde Gesichter.
„Zu dieser meiner neuesten Ansicht über den Alkohol“, fuhr Olfer fort, „dürfte sich auch sehr bald Herr Boris Chulusoff bekehren, der gestern so erheblich Öl auf die Lampe gefüllt hat, daß es überlief – wobei ich nicht an Seekrankheitserscheinungen denke – Pardon, gnädige Frau, das war schon wieder nicht für Damenohren! – Chulusoff glücklich in sein Zimmer zu bringen, war ein Schauspiel eines nordischen Dichters: Über unsere Kraft! Während mich die Zalewska, die Inhaberin der Nahrungsmittelentziehungsanstalt, genannt Fremdenheim, mit ausgewählten Worten beschimpfte, während Chulusoff als lebender Leichnam malerisch zu meinen Füßen auf der Erde im Flur lag, tauchte ein hilfsbereiter Geist in Gestalt eines Herrn Albert Funk, eines Mitessers der Zalewska, auf. Der Mann verfügte trotz des mißgestalteten Körpers über ansehnliche Kräfte und nötigte mir geradezu Bewunderung ab, wie er den armen Freund Boris die Treppe hinaufschleifte. Während dieser Hilfsaktion stellte ich fest, daß Herr Albert Funk allerliebste O-Beine hatte und stark über die große Zehe ging, dazu Pedalen von fast damenhafter Form besaß. Diese Beobachtung seiner unteren Extremitäten erinnerte mich mit einem Male an die genialen Fährtenlesekunststücke meines lieben Freundes Egon Sermo, an einen roten Teppich und an einen Drachen. Die Erinnerung wurde so lebhaft, daß mir plötzlich ein Bild vor die Seele trat: ich sah Herrn Funk, nicht den benebelten Chulusoff, sondern – einen wirklich Toten von einer roten Bank nach der Mitte einer Kajüte schleppen! – Das Bild verschwand wieder. – Wir waren nun oben in Chulusoffs Zimmer. Ich taumelte auf den Diwan, nachdem wir Freund Boris in das Bett bugsiert hatten, und tat, als ob ich sofort einschlief. Herr Funk benahm sich nun recht merkwürdig. Er trat vor mein Lager und schien mißtrauisch zu lauschen, ob ich auch wirklich schliefe. Ich habe noch nie so schön geschnarcht, glaube ich. Da beruhigte er sich. Vorher hatte er so beiläufig erwähnt, er kenne Chulusoff kaum. Daß dies glatt gelogen war, zeigte sich jetzt. Er ging zu Chulusoff und suchte ihn munter zu bekommen! Hat sich was! Es gelang ihm aber nicht. Nur bis zu grunzenden Tönen schwang sich Boris auf. Da hörte ich Herrn Funk ingrimmig vor sich hin murmeln: Er wird noch alles verderben, das … Schwein!! Dann verschwand er. Nach einer Viertelstunde steckte er den Kopf vorsichtig durch die leise geöffnete Tür und lauschte, ob ich auch wirklich schnarchte. Er konnte zufrieden sein. – Erst als der Morgen graute, habe ich dann Chulusoffs Sachen revidiert. Ich entdeckte an mir ein fabelhaftes Talent zum Taschendieb und Einbrecher. Sollte es mal mit der Komikerei nichts mehr sein, nehme ich einen Berufswechsel vor. Jedenfalls fand ich bei Chulusoff recht interessante Dinge. Er ist vielseitig – nicht nur Arzt, auch Schriftsteller. Das Manuskript einer Erzählung mit dem Titel „Eva im Paradiese“ …“
„Dacht ich’s doch!“, entschlüpfte es Sermo.
Und Wangel rief: „Also der ist der Verfasser!!“
„Wer, wie was?“, fragte Olfer.
„‚Volksorgel‘, Basilius – darin ist die Geschichte abgedruckt …“, erklärte Sermo.
„Aha! – Aber das für später. Ich will erst zu Ende erzählen“, fuhr Olfer fort. „In einer eisernen Kassette lagen Papiere, die auf den Namen Artur Fackler lauteten …“
Abermals eine Unterbrechung. Belling war aufgesprungen.
„Fackler – Fackler – – das ist ja …“
Doch nun mischte sich auch Eva Kaldenhoven ein.
„Ich werde den Herren nachher alles erzählen, Franz“, sagte sie, ihm zunickend.
Belling setzte sich wieder. – Und Olfer fügte hinzu:
„Artur Fackler also, dann ein zweites Päckchen Papiere, für einen gewissen Bernhard Cholski, Heilgehilfen und Masseur. Und diese Urkunden deuteten darauf hin, daß … Chulusoff und Cholski ein und dieselbe Person seien.“
„Und natürlich ist Artur Fackler und Albert Funk auch derselbe Mann“, ergänzte Sermo.
„Sehr wahrscheinlich!“, pflichtete Olfer dem Freunde bei. „Sogar so gut wie bestimmt. – Außerdem aber hatte Chulusoff noch im einem Geldbeutel ein kleines Leinensäckchen aufbewahrt, und in diesem Säckchen lag ein Stein … ein wasserklarer Stein von Wallnußgröße, ein prachtvoller Diamant …!!“
Wieder schnellte Belling von seinem Stuhle hoch, setzte sich aber sofort wieder, nachdem er mit Eva Kaldenhoven einen beredten Blick ausgetauscht hatte.
„Nachdem ich dann Chulusoff vormittags gegen halb zwölf Uhr“, begann Olfer wieder, „für die genossene Gastfreundschaft meinen innigsten[9] Dank ausgesprochen hatte, fand ich mich bald darauf in der Villa Bongard ein, wo ich Belling den hilfreichen Herrn Funk genau beschrieb und so feststellte, daß dieser damals tatsächlich auf dem Dampfer gewesen war, als der rote Salon der Schauplatz eines Mordes wurde. – So, meine Herrschaften, nun bin ich fertig. Jetzt mag ein anderer meine Enthüllungen fortsetzen.“
„Und das bin ich“, sagte Eva Kaldenhoven schnell. „Die Herren müssen mir nur gestatten, daß ich mich kurz fasse, sonst kann ich stundenlang erzählen. – Die unglücklichen Verhältnisse in meinem Elternhause trieben mich mit zwanzig Jahren in die Fremde. Ich hatte eine Handelsschule besucht, war ziemlich perfekt im Englischen und Französischen und schrieb flott Schreibmaschine. Nach einigem Suchen fand ich bei meinem späteren Gatten ein Unterkommen als Privatsekretärin. Kaldenhoven verliebte sich bald in mich und machte mir einen Antrag. Ich wies ihn zurück. Doch er ließ nicht nach, mich mit Bitten zu bestürmen. Hinzu kam noch, daß ich, um die Ehre unseres Namens zu retten, eine größere Geldsumme unbedingt auftreiben mußte. Ich gab schließlich nach und wurde dem Namen nach Frau Kaldenhoven. Wie bitter ich diesen Schritt zu bereuen hatte, weiß Belling am besten. Er war der Vertraute seines Herrn und stand doch bald ganz auf meiner Seite.“
Sie warf dem Schofför einen dankbaren Blick zu, während sie weiter erzählte:
„Mein Gatte quälte mich ständig mit völlig grundloser Eifersucht. Er war kein schlechter Charakter, im Gegenteil, nur besaß er eine Menge Eigentümlichkeiten, die … mich abstießen. So wollte er – wenigstens äußerlich – um jeden Preis den Eindruck eines noch jugendlichen Mannes machen, schminkte sich, trug eine Perücke, färbte sich den Bart – kurz, er war nie er selbst, sondern ein künstlich herausgeputzter … Doch nein – genug hiervon. – Dann begann er zu kränkeln. Um für Stunden eine gewisse geistige und körperliche Frische zu erzielen, hatte er seit langem Morphium gebraucht. Das rächte sich nun. Er verfiel allmählich. Ich habe ihn gepflegt, gewartet, so gut ich konnte. Durch die ständigen Nachtwachen wurden auch schließlich meine Nerven so überanstrengt, daß ich in einer unseligen Minute gleichfalls zur Morphiumspritze griff. Ich war in dieser Hinsicht wohl erblich belastet. Meine Mutter ist vor acht Monaten in einem Sanatorium gestorben – als Morphinistin. – Der treue Belling merkte bald, wodurch ich mich immer wieder aufpeitschte. Er warnte mich, bat, flehte, ich solle von dieser Leidenschaft lassen. Ich konnte nicht mehr. – Mit meinem Gatten ging es langsam zu Ende. Ich mietete einen Krankenwärter, da ich allein den siechen Mann nicht mehr bedienen konnte, und er auch einen gewandten, erfahrenen Pfleger verlangte. Dieser Mensch hieß Fackler – Artur Fackler. Er war ein aalglatter, kriecherischer Bursche. Auch Belling mochte ihn nicht leiden.
Acht Tage vor dem Tode Kaldenhovens stellten sich furchtbare Schmerzen ein. Der Kranke schrie unaufhörlich, so daß unser Hausarzt, Professor Grauert, ihm geringe Dosen Morphium verschrieb, nachdem er meinem Manne dieses Gift ein halbes Jahr entzogen hatte. – Dann die letzte Nacht … Ich muß noch einschalten, daß sich bei mir infolge des steten Morphiumgenusses eine krankhafte Erscheinung ausgebildet hatte, die man wohl am treffendsten mit bewußtes Schlafwandeln bezeichnet. Ich selbst ahnte nichts davon. Aber Belling, dem ich in den letzten Wochen in unserer Etage ein Zimmer angewiesen hatte, um den treuen, mir ergebenen Menschen stets bei der Hand zu haben, hat mich nachts zweimal im Flur angetroffen, wie ich mich gerade vor dem Stehspiegel zum Ausgehen fertig machte. Auf seine Fragen gab ich etwas wirre Antworten, bis er mich, an einen hypnotischen Zustand glaubend, derb rüttelte und scharf anrief. Da erst erwachte ich. Ich wußte nicht, wie ich in den Flur gekommen war, daß ich mich völlig angekleidet hatte. – Belling wollte, daß ich mit Professor Grauert über diese krankhafte Erscheinung spräche. Ich sagte es ihm auch zu, schob es aber immer wieder hinaus. – So kam die Sterbenacht heran. Am Abend gegen zehn Uhr war der Professor nochmals dagewesen, hatte den Kranken sehr schwach gefunden und mir streng eingeschärft – auf keinen Fall über die bestimmte Dosis Morphium selbst bei größten Schmerzen hinauszugehen. Fackler war damals gerade für ein paar Stunden beurlaubt. Bald, nachdem der Professor gegangen war, stellten sich bei dem Kranken sehr starke Schmerzen ein. Mein Mann verlangte von mir in Gegenwart Bellings, ich sollte ihm sofort Morphium geben. Er selbst war, worauf ich besonders hinweisen will, nicht mehr imstande, die Arme soweit zu heben, um eine Hand bis zum Munde zu bringen. – Da die Zeit noch nicht um war, weigerte ich mich standhaft, worauf mein Mann mich schwer beschimpfte, so daß ich schließlich aus dem Zimmer flüchtete. Belling blieb bei ihm. Ich selbst ging zur Ruhe, konnte aber nicht einschlafen und machte mir daher eine Morphiumeinspritzung. Mein Mann erhielt das Medikament in Pulverform. –
Gegen drei Uhr morgens klopfte Belling. Ich wurde schnell munter, zog einen Morgenrock über und trat ins Nebenzimmer, wo Belling auf mich wartete und mir schonend mitteilte, daß mein Mann verschieden wäre. – Morgens um acht kam Professor Grauert, um den Totenschein auszustellen. Bei der Besichtigung der Leiche stutzte er. Eine Veränderung der Pupillen verriet ihm, daß mein Mann eine überstarke Dosis Morphium genommen oder erhalten haben müßte. Er ließ sich die Schachtel mit den Pulvern geben, die auf dem Nachttisch gestanden hatte. Es hätten sich noch sechs darin befinden müssen – es waren nur noch drei! – Wir konnten uns nicht erklären, wie es möglich war, daß mein Gatte die Pulver ohne fremde Hilfe genommen haben könnte. Belling erklärte, er wäre gegen ein Uhr morgens von Fackler bei der Krankenwache abgelöst worden und Fackler hätte dann noch in seiner Gegenwart meinem Gatten der Vorschrift gemäß ein Pulver eingegeben. Fackler wieder sagte dem Professor gegenüber aus, er wäre dann im Nebenraum bei offenen Türen bald auf dem dort für ihn bereitstehenden Ruhebett eingeschlafen, da der Kranke zu schlummern schien. –
Kurz nach der Beerdigung wurde ich dann zu meinem Entsetzen von einem Untersuchungsrichter vernommen – sicherlich auf Grund einer Denunziation von entfernten Verwandten meines Mannes, die durch dessen Heirat ihrer Erbansprüche verlustig gegangen waren. Schließlich wurde das Verfahren mangels Beweisen aber eingestellt. Immerhin hatte ich vor Gericht zugeben müssen, daß mein Gatte mir in der Sterbenacht, als ich ihm die Dosis Morphium verweigerte, mit Enterbung gedroht hatte. – Dann, als ich endlich wieder aufatmen zu können glaubte, kam eines Tages Fackler zu mir und sagte mir in Bellings Gegenwart etwa folgendes: Er wäre auf dem Ruhebett eingeschlafen, aber bald wieder erwacht, da er im Krankenzimmer ein Geräusch gehört hätte. Leise nach der offenen Tür schleichend, hätte er mich gesehen, wie ich mit der Morphiumpulverschachtel am Bett meines Mannes stand. Dann sei plötzlich Belling eingetreten, habe mir die Schachtel aus der Hand genommen und habe mich hinausgeführt. – ‚Wenn ich diese Tatsachen‘, hatte Fackler damals gesagt, ‚vor Gericht bringe, gnädige Frau, so sind Sie verloren. Und Belling wird meine Angaben nur bestätigen können.‘ – Belling ergriff sofort meine Partei, erzählte von meinen Anfällen des Schlafwandelns und behauptete, ich hätte damals eben wieder einen solchen Anfall gehabt. Jedenfalls wäre ich, selbst wenn ich meinem Gatten drei Pulver auf einmal gegeben hätte, hierfür nicht verantwortlich zu machen. – Fackler spielte nun keineswegs den Erpresser, meinte nur, er wolle so gern nach Amerika auswandern, da ihm hier in Deutschland sein Gewissen doch keine Ruhe mehr lassen würde; er hätte doch eigentlich die Pflicht, seine Beobachtungen zur Kenntnis der Staatsanwaltschaft zu bringen. – Kurz – ich gab ihm 20 000 Mark, und acht Tage später erhielt ich eine Karte, daß er mit dem Dampfer „Hessen“ nach Newyork abreisen würde. Wieder acht Tage darauf stand in den Zeitungen, daß die „Hessen“ mit Mann und Maus infolge Zusammenstoßes mit einem Dampfer untergegangen sei. –
Ich hörte dann nichts mehr von Fackler, glaubte ihn tot – mit unter den Opfern der furchtbaren Katastrophe. – Langsam gewöhnte ich mich nun auch an den Gedanken, daß ich vielleicht unbewußt mit zu der Beschleunigung des Endes meines Mannes beigetragen hätte. Ob dem so war, darüber konnte mir Belling auch keine Gewißheit geben. Er hatte mich eben auch nur mit dem Schächtelchen in der Hand neben dem Bett stehen sehen, sofort gemerkt, daß ich schlafwandelte, und mich in mein Schlafzimmer geleitet und dort aufgeweckt. Es bestand immerhin die geringe Möglichkeit, daß mein Mann mit äußerster Willensanstrengung, vielleicht gepeinigt und angespornt von sehr heftigen Schmerzen, die Pulver selbst genommen hatte. Professor Grauert hielt dies allerdings für so gut wie ausgeschlossen. – –
Über ein Jahr ging nun hin. Ich war viel auf Reisen und selten in Berlin. Da, als ich im Mai dieses Jahres wieder einmal nach der Reichshauptstadt zurückgekehrt war, wurde mir eine Nummer der „Volksorgel“ anonym zugesandt. Darin fand ich den Anfang einer Erzählung, die unter dem Titel „Eva im Paradiese“ in entstellter Form – entstellt, was meinen Charakter anbetrifft – offenbar meine Ehe schildern wollte. Der Name Kaldenhoven, der an Kaltofen anklingt, war in Warmherde umgewandelt, manches in dem Anfang stimmte auch mit den Tatsachen überein – jedenfalls ahnte ich sofort, daß hier eine neue Gefahr im Anzuge sei. Hals über Kopf flüchtete ich wieder aus Berlin, hielt mein Reiseziel auch streng geheim. So kam ich nach Laggow. Aber Ruhe fand ich auch dort nicht. Die Fortsetzungen der Erzählung erreichten mich pünktlich, kamen bald aus dieser, bald aus jener Stadt, einige dann auch aus Halen. Belling war ganz meiner Meinung, daß die Erzählung, in der besonders die Krankheitszeit meines Mannes und die Sterbenacht ganz ausführlich wiedergegeben sind, nur den Zweck hätten, mich einzuschüchtern und eine neue Erpressung vorzubereiten.
Da wir Fackler nicht mehr unter den Lebenden wähnten, nahmen wir an, daß er jemand das Geheimnis anvertraut haben müßte. Diesen Jemand herauszufinden, scheute ich keine Kosten. Ich wollte meinen Feind kennenlernen. Ich hatte schon einmal in einer anderen Sache die Hilfe eines gewandten, verschwiegenen Privatdetektivs namens Roller in Anspruch genommen, und Roller sollte nun auch versuchen, meinen neuen Gegner zu ermitteln. Genau heute vor zehn Tagen traf er in Laggow ein, besuchte mich spät abends in der Villa, wo wir die nötigen Verabredungen trafen, an denen auch Belling teilnahm. Damit Roller ohne weiteres auch nachts aus und ein gehen könnte, gab ich ihm den Schlüssel, und, damit er nötigenfalls auch einmal in der Villa übernachten könnte, mußte Belling in der ersten Etage ein Zimmer beziehen, wo Roller dann jederzeit den Diwan zur Verfügung hatte.“
Frau Kaldenhoven schwieg erschöpft und bat um ein Glas Wasser.
„Gnädige Frau, eigentlich wäre es doch ganz angebracht, daß ich jetzt das weitere erzählte“, meinte Belling bescheiden.
Die junge Witwe nickte ihm dankbar zu.
„Ja, Franz, – ich bin auch wirklich bereits am Ende meiner Kräfte.“
„Da vor der Ankunft Rollers in Laggow die letzten Nummern dieses elenden Schundblattes drüben auf der Insel Halen zur Post gegeben waren“, begann der Schofför, indem er bedächtig erst die Vorgänge in seinem Gehirn ordnete, „entschloß sich der Detektiv, nach Halen hinüberzufahren. Roller war ein Künstler – ein richtiger Verwandlungskünstler. Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß ein Mensch durch Bärte, Perücken, Schminke und andere Hilfsmittel sich so völlig verändern könnte. – Als er mit dem Morgendampfer kaum abgereist war, kam mit der ersten Post abermals einer jener länglichen Briefe an – diesmal aus Danzburg! – Frau Kaldenhoven besprach mit mir jene neueste Sendung, meinte, unter diesen Umständen wäre doch Rollers Gegenwart in Halen ganz überflüssig, eben weil doch dieser Brief wieder in Danzburg aufgegeben worden sei. –
Die gnädige Frau wollte nun nicht, daß unser Detektiv auf der Insel mit Nachforschungen zwecklos die Zeit vertrödelte und schickte mich am nächsten Tage nach Halen, damit ich Roller davon benachrichtigte, daß der Absender der ‚Volksorgel‘ nicht mehr auf der Insel, sondern in Danzburg zu suchen sei. Roller hatte nun der gnädigen Frau und mir eingeschärft, mit ihm nur unter besonderen Vorsichtsmaßregeln in Verbindung zu treten, da auf keinen Fall ruchbar werden dürfe, daß er beruflich für uns tätig wäre. – Als ich in Halen ankam, überlegte ich, wie ich am unauffälligsten mich Roller nähern könnte. Ich mietete mich im Dorfe ein und speiste dann im Kurhaus, wo Roller hatte absteigen wollen. Nun – ich merkte bald, daß es nicht leicht war, unseren Detektiv unter den Gästen herauszufinden. Er hatte uns über seine Absichten nichts verraten. Ich wußte also weder, welchen falschen Namen er benutzen würde, noch, ob er vielleicht wieder eine neue Maske gewählt hätte. Jedenfalls vergingen anderthalb Tage, ohne daß ich auch nur einen Anhalt dafür gefunden hätte, welche Person unter den zweihundert Gästen der Gesuchte sein könnte. Ich sagte mir schließlich folgendes: Wenn Roller überhaupt in Halen ist, wird er sich schon gelegentlich an dich heranschlängeln. Wer weiß, ob er im Kurhaus wirklich wohnt. Vielleicht auch irgendwo im Dorfe bei Fischersleuten wie du selbst. – Ich trieb mich nun überall umher, wo nur Kurgäste zu finden waren, hoffte immer von irgend jemand einen Wink zu erhalten – eben von dem Detektiv. Nichts geschah.
Ich hatte mit Frau Kaldenhoven verabredet, daß meine Fahrt nach Halen als Vergnügungstour gelten sollte und daß ich am vierten Tage vormittags heimkehren würde. An diesem vierten Morgen betrat ich denn auch – recht enttäuscht – den im Hafen bereitliegenden Dampfer „Drache“. Nachdem wir dann etwa eine Stunde unterwegs waren, bummelte ich auf dem Schiff überall umher, stieg auch in den Maschinenraum hinab, unterhielt mich mit dem Maschinisten, dem ich mich als Kollege vorstellte – ich habe ja ein Technikum besucht! – und kehrte wieder an Deck zurück, besser, wollte wieder an Deck, als mich in dem Treppenvorraum zu den Kajüten ein Herr ansprach, den ich schon in Halen im Kurhause gesehen zu haben glaubte. Er flüsterte mir sehr leise und hastig zu: „Unser Mann ist an Bord! Seien Sie vorsichtig, beachten Sie mich auf keinen Fall!“ – Der Herr hatte nun mit Roller so wenig Ähnlichkeit, daß ich etwas mißtrauisch wurde und irgendeine Falle vermutete. Ich fragte daher ebenso leise: „Wer sind Sie eigentlich? Und was wollen Sie? Ich verstehe Ihre Andeutungen nicht, Herr!“ – „Sehr gut – sehr gut – auf Wiedersehen!“ Damit schritt er schnell die Treppe empor. Auch ich setzte mich wieder auf das Verdeck und überlegte, ob es wirklich Roller gewesen sein könnte. Aber ich wurde nicht recht einig mit mir – woraus man schon sehen kann, wie vorzüglich der Detektiv seine Stimme zu verwandeln verstand. Ich habe den fragwürdigen Herrn dann auf dem Dampfer nicht mehr zu Gesicht bekommen.
Als wir am Steg in Laggow anlegten, gewahrte ich oben die gnädige Frau, die aber den Kopf zur Seite drehte, als ich die Billettsperre passierte. Ich merkte, ich sollte sie hier nicht ansprechen. In der Villa angelangt, setzte ich das Auto instand, unterhielt mich auch mit dem Portier Gaffke und war völlig ahnungslos, was inzwischen auf dem Dampfer geschehen war. Dann kam Frau Kaldenhoven zu mir in die Garage gestürmt – sehr aufgeregt! – Sie fragte mich, wo ich den Revolver hätte, den ich für alle Fälle mit nach Halen genommen hatte und den ich bei Autofahrten auch stets bei mir zu tragen pflegte. – Die Frage überraschte mich natürlich sehr – besonders eben deswegen, weil die Waffe mir tatsächlich in Halen aus meiner Stube gestohlen worden war. Ich hatte aber von der Sache absichtlich kein Aufhebens gemacht und den Verlust in Halen gar nicht angezeigt. – Als ich dies nun wahrheitsgemäß der gnädigen Frau erzählte, sah sie mich so seltsam an, daß ich mir meinerseits nun die Frage erlaubte, wie sie denn gerade auf den Revolver gekommen wäre. – Nun berichtete sie mir, was sie durch den Herrn Kurdirektor von Sermo gehört, über den Selbstmord erfahren hatte. Das Äußere des fragwürdigen Herrn und des Toten, neben dem ein Revolver gefunden worden war, stimmte so genau überein, besonders auch der schwarz-grau karierte Anzug, daß ich keinen Augenblick darüber im Zweifel sein konnte, wer der Selbstmörder war: eben der Mann, der mir im Vorraum zu den Kajüten so allerlei zugeflüstert hatte. – Als ich nun, nicht wenig erschrocken über das plötzliche Ende dieses Herrn, Frau Kaldenhoven die Szene im Vorraum schilderte, warf sie mir wieder so merkwürdige Blicke zu und ließ mich dann allein. Nachher erhielt ich noch deutlichere Beweise, daß die gnädige Frau den Verdacht hegte, ich hätte den Mann – erschossen, weil ich in ihm den Absender der ‚Volksorgel‘ vermutet hätte. Ich litt schwer unter diesem Verdacht, bis es schließlich zu einer Aussprache kam, bei der Frau Kaldenhoven mich bei dem Andenken an ihren verstorbenen Mann, meinen Wohltäter, schwören ließ, daß ich schuldlos wäre.
Wie dann ein Verdacht gegen mich trotzdem auftauchte, wie eine Reihe besonderer Zufälle auf mich als den Täter hinwies, das wissen Sie, meine Herren, besser als ich. Die gnädige Frau merkte ja sehr bald, daß Herr Olfer und Herr Sermo den Selbstmord in aller Heimlichkeit aufzuklären suchten. Herr Sermo hat dann in dem chinesischen Tempel Frau Kaldenhoven gegenüber wohl als versteckte Drohung angedeutet, wie die Polizei über den Selbstmord dächte. Jedenfalls wußten wir, woran wir waren: der Tote konnte nur Roller sein, von dem wir ja inzwischen nichts gehört hatten, ich war stark verdächtig, ihn getötet zu haben. – Aber nicht nur das Ausbleiben jeder Nachricht von dem Detektiv sagte uns, daß er der Ermordete sein müßte! Nein – einen augenfälligen Beweis erhielten wir noch dadurch, daß Herr Sermo gestern nachmittag, als die Herren von der Polizei bei uns in der Villa eingetroffen waren, eine Photographie in einer Vase im Salon versteckte, – ein Bild, das die gnädige Frau einmal Roller zu einem bestimmten Zweck anvertraut hatte. Frau Kaldenhoven zog hieraus den sehr zutreffenden Schluß, daß Herr Sermo mir als dem mutmaßlichen Mörder des bisher noch nicht identifizierten Toten tatsächlich nachspüre, bei dem die Polizei eben das Bild gefunden hatte. Mit dieser Photographie hatte es außerdem noch eine ganz besondere Bewandtnis …“
Hier wurde Belling unterbrochen.
Eva Kaldenhoven hatte sich plötzlich, über und über errötend, von ihrem Stuhl erhoben und dem Schofför in merklicher Verwirrung zugerufen:
„Halt, Franz, – nichts weiter über das Bild. Was darüber gesagt werden mußte, ist gesagt worden. Alles andere ist eine reine Privatangelegenheit, die niemand etwas angeht.“ Und zu Wangel sich wendend: „Herr Kriminalinspektor, Sie können überzeugt sein, daß ich die Wahrheit spreche. Ich will nicht, daß hier private Dinge erwähnt werden, die …“
„Aber bitte, gnädige Frau“, beeilte sich Wangel zu erklären, „der Fall ist ja so genügend klargestellt, daß ich gern auf alles Nebensächliche verzichte.“
„Ich danke Ihnen, Herr Inspektor“, sagte Frau Kaldenhoven, erleichtert aufatmend, und setzte sich wieder. „Das, was zum Verständnis meiner Handlungsweise noch hinzugefügt werden muß“, fuhr sie fort, „möchte ich selbst berichten. – Meine Angst vor einer Verhaftung des treuen Belling, meine Beihilfe bei seiner Flucht vorhin hatte einen schwerwiegenden Grund. Sie, meine Herren, kennen ja jetzt das, was die Kriminalerzählung wiedergab: einen Abschnitt – den traurigsten! – aus meinem Leben. Die Schilderung, besonders der Sterbenacht, ist so raffiniert durchgeführt, daß ich daraus ersehen mußte, welches Verhängnis über mir schwebte.
Diese Gefahr, daß die Behörden Kenntnis von dem Inhalt jener Nummern der ‚Volksorgel‘ erhalten könnten, war in demselben Augenblick nicht mehr zu umgehen, wo Belling verhaftet wurde; denn dann mußte ich ja, um ihn zu retten, die ganze Wahrheit enthüllen, mußte erklären, daß der Tote ein Detektiv wäre, der in meinem Auftrag dem Absender der ‚Volksorgel‘ nachspüren sollte. Und diese Wahrheit hätte dann eben für mich Folgen gezeitigt, die ich schon erwähnte: eine Wiederaufnahme der damals eingestellten Voruntersuchung auf Grund der Andeutungen der Kriminalerzählung über die Vorgänge jener Nacht.
Als wir aber dann im Auto dahinrasten, als der treue Franz mir traurigen Herzens klarmachte, daß die Polizei ja doch bald herausfinden würde, wer der Tote wäre, da Rollers Verschwinden in Berlin auffallen müßte, als er mir nachwies, daß uns diese Flucht nichts nützten würde, und er hinzufügte, daß er überhaupt nur deshalb entwichen wäre, um mit mir dies alles durchsprechen zu können, da sah ich ein, daß es für mich kein ferneres angstvolles Ausweichen mehr gab, daß ich auf mich nehmen mußte, was das Schicksal mir bestimmt hatte! – So fuhren wir denn nach Laggow, nach der Villa, von wo aus ich die Polizei in Danzburg benachrichtigen wollte, daß ich bereit wäre, Aufschluß über die Person des Ermordeten zu geben. Diese Mühe hat mir dann Herr Olfer abgenommen, wie Sie wissen. Und ich bin von Herzen froh, daß alles so gekommen ist; denn jetzt brauche ich nicht mehr zu fürchten, daß der Verdacht, meines Gatten Ende beschleunigt zu haben, bestehen bleibt.“
Sie war in der Erregung wieder aufgestanden, stützte sich mit der Linken leicht auf den Tisch und streckte die Rechte in anmutiger Geste zum Himmel.
„Es gibt doch eine Gerechtigkeit unter der Sonne, meine Herren“, fuhr sie fast feierlichen Tones fort, „eine Macht, die die Schuldlosen gegen die Tücke gemeiner Seelen schützt! Jener Diamant, den Herr Olfer bei Chulusoff gesehen hat, ein Stein von ungeheurem Wert und seiner untadeligen Reinheit und seines besonderen Schliffes wegen unverkäuflich, es sei denn, daß man ihn zerschneidet und umschleift, ist Eigentum meines Mannes gewesen! Sein Verschwinden aus dem Geheimfach des Schreibtisches entdeckte ich erst drei Wochen nach dessen Ableben. Daß ich keine Anzeige erstattete, sondern den Verlust schweigend hinnahm, hatte lediglich den Grund, daß ich mit der Polizei nichts zu tun haben wollte. Jetzt wissen wir, wer der Dieb gewesen ist: jener Fackler, der sich in Laggow jetzt Funk nennt, und der zweifellos Deutschland niemals verlassen, sondern nur seine Zeit abgewartet hat, bis er den neuen Erpressungsplan gegen mich ausführen konnte, eben, nachdem ich mich an den Gedanken gewöhnt hatte, ihn für alle Zeiten los zu sein, denn dann mußte mich jene Erzählung in der ‚Volksorgel‘ um so mehr in Schrecken setzen und um so gefügiger machen, meinem Gegner durch eine hohe Summe den Mund zu schließen! – Derjenige aber, der den Diamanten stahl, wird wohl auch damals mit eigener Hand meinem Manne die drei Pulver verabreicht haben, nachdem er mich am Bett des Kranken mit dem Schächtelchen stehen gesehen und ebenso beobachtet hatte, wie Belling mich hinausführte, der ja, als Zeuge vernommen, hätte bestätigen müssen, was Fackler gegebenenfalls behauptet hätte. Fackler hat meinen Mann absichtlich ermordet, meine Herren, eben, um dann mit seinen Erpressungen beginnen zu können!“
Unwillkürlich schaute Eva fragend zu Sermo hinüber, dem sie eine ganz besonders scharfe Urteilskraft zutraute. Und Sermo sagte denn auch sofort:
„Gnädige Frau, Sie haben fraglos recht! Fackler ist der Mörder Ihres Gatten, und er ist es auch, der den Detektiv Roller erschoß, weil dieser, wie Roller ja Belling auf dem Dampfer zuraunte, ihm auf der Spur war. Wir haben jetzt also auch das Motiv des zweiten Mordes aufgedeckt: Roller wurde beseitigt, weil Fackler durch ihn eine Durchkreuzung seiner Erpressungsmanöver befürchtete. Und Fackler war also auch der, der von Halen aus zwei der Fortsetzungen an Frau Kaldenhoven sandte. – Was uns noch an Einzelheiten zu diesen beiden Dramen fehlt, wird uns Chulusoff verraten. – Ich gestattet mir, Ihnen folgendes vorzuschlagen, Herr Inspektor …“
Wangel begleitete die Ausführungen Sermos mit eifrigem Kopfnicken.
„Einverstanden – einverstanden!“, rief er dann, lebhaft aufspringend. „Kargowski, besorgen Sie schnell ein Auto – Sie und Hanke kommen mit!“
Sermo war dicht an Eva Kaldenhoven herangetreten.
„Gnädige Frau – eine Bitte“, sagte er leise.
„Oh – die ist Ihnen im voraus gewährt. Ihnen verdanke ich es ja, daß ich endlich diese Last, diese Angst losgeworden bin.“
„Ich möchte allein mit Ihnen in Ihrem Auto nach Laggow fahren“, erklärte er ebenso leise. „Belling mag den Wagen steuern. Aber wir drei sind genügend für diese Rückkehr nach der Villa in der Haffnerstraße, wo in einer Vase noch mein Bild liegen dürfte.“
Ihr war das Blut in heißer Welle in die Wangen gestiegen. In höchster Verlegenheit senkte sie den Kopf. Sie ahnte ja, was er fragen würde, wenn sie allein waren … Aber – konnte sie ihm, den sie als ihren Retter ansah, jetzt diese Bitte abschlagen, würde er dann nicht doch bald anderswo eine Gelegenheit zu finden wissen, dieselben Fragen an sie zu richten …?!
Sie hob den Kopf, wandte sich an Wangel.
„Ich fahre mit Herrn Sermo voraus. Herrn Olfer nehmen Sie dann wohl mit, Herr Inspektor.“
„Gewiß – gewiß, gnädige Frau!“
Basilius lächelte pfiffig und dachte: „Hm – ob sich nicht etwas anspinnt?“
„Hören Sie, lieber Belling – kein Eilzugstempo!“, sagte Sermo unten vor dem Polizeipräsidium zu dem vor innerer Freude strahlenden Schofför. „Wir haben Zeit! Also – immer gemächlich!“
Mit bang pochendem Herzen saß Eva Kaldenhoven neben Sermo.
Jetzt wandte er sich zu ihr. Und sie konnte nicht fliehen … Hier mußte sie ihm Rede und Antwort stehen …
„Gnädige Frau“, begann er herzlich, „manches habe ich in diesen Tagen aufgedeckt, das zuerst wie ein schweres Rätsel aussah; nur eines nicht. Wozu haben Sie dem armen Roller mein Bild übergeben, und wie sind Sie in den Besitz dieser Photographie gelangt?“
Sie zögerte einen Augenblick. Dann erwiderte sie tapfer:
„Ich darf Ihnen nichts vorenthalten – Ihnen nicht! – Sechs Jahre sind es her. Da reiste ein junges, eben erst den Backfischschuhen entwachsenes Mädchen zum erstenmal zum Besuch ihrer Tante nach Berlin. Daheim ging es sehr – sehr knapp zu. Und das junge Mädchen mußte – auch zum erstenmal in ihrem Leben – für die lange Strecke die vierte Wagenklasse benutzen. Sie traf es schlecht an. Bald stiegen in ihr Abteil ein paar rüde Burschen, die sie bald durch Redensarten zu belästigen begannen. Schließlich wurden diese Rohlinge so zudringlich, daß das junge Mädchen sich auf einer Zwischenstation beim Schaffner beschwerte. Aber dieser Mann war ein Trunkenbold, den jene Burschen auf einer anderen Station bereits freigehalten hatten. Er lachte das arme, verschüchterte Ding aus, machte noch allerlei häßliche Bemerkungen, lehnte es auch kurz ab, dem jungen Mädchen den schweren Koffer in ein anderes Abteil zu tragen.“
Egon Sermo hatte plötzlich Frau Evas Hand ergriffen, sagte schnell:
„Ich weiß … – ich weiß … daher also diese Erinnerung an ein hilfeflehendes, verängstigtes Augenpaar!“
„Lassen Sie mich meine Geschichte beenden, Herr Sermo. Alles wissen Sie nicht“, fuhr die junge Witwe mutig fort, indem sie seine Hand dankbar drückte und in der ihrigen behielt. „Da kam mir ein Herr zu Hilfe, der in dem nächsten Abteil zweiter Klasse gesessen hatte. Er sprang mit dem Schaffner in einer Weise um, daß dieser mit einem Male sehr bescheiden und höflich wurde. Der Herr nahm mich dann mit in sein Abteil, trotz meines verlegenen Sträubens … Hatte ich doch nur drei Mark an Geld bei mir. Wie sollte ich davon die Fahrkarte bezahlen?“
„Wozu die Einzelheiten, gnädige Frau?“, wehrte sich Sermo gegen eine allzu grelle Beleuchtung eines selbstverständlichen Ritterdienstes.
„Vielleicht, weil ich gern daran zurückdenke. – Die Zuschlagkarte bezahlte der Herr, dessen taktvolles Benehmen mir schnell über die Peinlichkeiten hinweghalf. Er nannte mir seinen Namen und seine Adresse. Ich schrieb sie mir auf, um ihm das Geld zurückerstatten zu können. Er fuhr auch nach Berlin; erzählte mir, daß er einst in Berlin studiert habe, jetzt Gerichtsreferendar sei, aber beabsichtige, gegen den Willen der Seinen zur Bühne zu gehen. – Ja, Sie waren sehr offen, Herr Sermo, waren mir ein lieber Reisegefährte. Die Stunden vergingen wie im Fluge. – In Berlin trennten wir uns.
Sie hatten mir ein Hotel genannt, in dem Sie absteigen wollten. Meine Tante schickte das Geld dorthin und ich einen Dankbrief. Beides kam als unbestellbar zurück. Da merkte ich schon, daß Sie doch nicht offen gewesen waren.[10] Da faßte ich den Entschluß, nach Ihnen forschen zu lassen. Ich bestellte Roller zu mir. Viel war es nicht, was ich ihm über den Herrn angeben konnte, den er suchen sollte. Der Vorname wenigstens war richtig, das wußte ich. Sie hatten damals ein silbernes Zigarettenetui bei sich gehabt, das auf dem Deckel eine Widmung: „Karl seinem lieben Egon zur Erinnerung“ und ein studentisches Wappen trug, von dessen Farben ich noch behalten hatte, daß Rot und Gold darin vorkamen. Außerdem hatten Sie mir erzählt, daß Sie einer Berliner Verbindung angehört hätten. – Mit diesem bescheidenen Rüstzeug machte sich Roller an die Arbeit. Erst nach einem halben Jahr, in diesem Frühjahr, kam er zu mir, legte mir die Photographie eines Studenten in Band und Mütze vor. Er hatte alles festgestellt über Sie, was ich nur wissen wollte – daß Ihr richtiger Name Egon Reichel wäre, daß Sie jetzt für den Sommer unter Ihrem Künstlernamen hier nach Laggow engagiert wären. Das Bild behielt ich als Andenken. Daß Roller noch ein zweites besaß, wußte ich nicht. Jedenfalls habe ich ihm das andere, das in seiner Reisetasche lag, nicht übergeben. Er wird es, nehme ich an, für seine weiteren Nachforschungen benutzt haben, nachdem er erst mal die Verbindung in Berlin ermittelt hatte. – Um mich nun persönlich davon zu überzeugen, wie es meinem Ritter als Operettentenor erging, entschied ich mich, als ich um dieselbe Zeit mich jenen unheimlichen ‚Volksorgel‘-Briefen entziehen wollte, für Laggow. – So, nun hätte ich auch diese kleine Beichte hinter mir.“[11]
Das Auto ratterte mit halber Geschwindigkeit weiter … weiter … Und Sermo dachte an den Stammgast der Sommerbühne, dachte an manches andere … fragte sich staunend: Sollte es wirklich so sein – sollte sie dich lieben – vielleicht immer heimlich geliebt haben all die Jahre hindurch – dich einen für sie Namenlosen, war ich das Ideal zarter Mädchenträume? – Aus ihrem ganzen Verhalten, besonders aber ihrer Scheu, ihm die soeben erfolgte Beichte abzulegen, aus ihrem mädchenhaften Erröten vorhin im Zimmer Wangels konnte er nur zu einer Antwort gelangen, die ihn urplötzlich mit einem köstlichen Glücksgefühl erfüllte! Jetzt erinnerte er sich auch an die verflossene Nacht, an die Stunden, in denen er mit offenen Augen, ohne Schlaf zu finden, dagelegen und gegen die Erkenntnis angekämpft hatte, daß die aschblonde Eva ihm nicht mehr gleichgültig wäre, daß er an dem Kriminalfall nunmehr ein persönliches Interesse nähme, nicht mehr unparteiisch der Wahrheit nachstrebte …
Ganz still saß er so neben ihr, überließ sich dem wohltuenden Gefühl seiner Gedanken.
Wiederholt hatte Eva Kaldenhoven ihn scheu und fragend von der Seite angesehen. Erst fürchtete sie, er könne vielleicht ihr Benehmen, diese rege Anteilnahme an seiner Person, nicht billigen, wohl gar für aufdringlich halten. Wußte sie doch, daß er den Frauen aus dem Wege ging, daß er in Laggow als Weiberfeind galt. – Dann aber bemerkte sie auf seinem Gesicht etwas wie den Widerschein eines tiefinnerlichen Empfindens froher Genugtuung. Und endlich wandte er sich ihr nun zu, legte seine Hand zart auf ihre im Schoß verschlungenen Finger, beugte sich vor, schaute sie strahlend an und sagte:
„Wie danke ich Ihnen, Frau Eva! Sie haben mir ja den Glauben an das Gute im Weibe wiedergegeben.“
Und mit rückhaltloser Offenheit beichtete er nun, erzählte von jenem Weib, das ihm nachher die Tränen der tiefsten Scham in die Augen getrieben hatte …
„Es war alles tot in mir, Frau Eva, gestorben, und die kläglichen Überreste jener Leidenschaft waren nichts als Zweifelsucht, Verachtung und Gleichgültigkeit. Nun ist das alles mit einem Mal geschwunden … Zauberin Circe – aber eine gütige, gute, spendende sind Sie mir geworden!“
Weiter sagte er nichts – noch nichts. Aber Hand in Hand fuhren sie nun vor der Villa vor …
*
Frau Anastasia von Zalewska hatte die gemeinsame Tafel aufgehoben. – Stuhlrücken, Verbeugungen, dann zerstreuten die Gäste sich.
Boris Chulusoff ging in sein Zimmer hinauf, um die gewohnte halbe Stunde Mittagsruhe zu halten.
Ahnungslos öffnete er die Tür, prallte zurück.
Drei Herren saßen da um den großen Mitteltisch – Olfer, Sermo und einer, den Chulusoff nicht kannte.
Der Komiker übernahm die Vorstellung: „Herr Kriminalinspektor Wangel – der Masseur und Heilgehilfe Bernhard Cholski …“
Der angebliche Russe erbleichte, wich zurück. Aber Sermo hatte bereits die Tür abgeschlossen und den Schlüssel zu sich gesteckt.
„Setzen Sie sich dorthin!“, befahl Wangel kurz und wies auf den Diwan. „Sie haben wohl schon gemerkt, daß das gemeine Spiel aus ist. – Setzen Sie sich!“
Cholski sank auf den Diwan. Dicke Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.
„Geben Sie den gestohlenen Diamanten heraus – vorwärts! – Wir haben nicht Lust, uns mit Ihnen lange aufzuhalten! Was zögern Sie?“, fuhr Wangel ihn an. „Holen Sie nur Ihren Brustbeutel hervor! Ich kann Ihnen in Ihrem eigensten Interesse nur raten, uns möglichst entgegenzukommen, alles einzugestehen. Die Anklage wegen Beihilfe an zwei Morden ist nichts Leichtes, Cholski!“
Dessen Gesichtsfarbe spielte jetzt ins Grünliche.
Mit zitternden Händen lieferte er den Stein aus. Und mit flackerndem Kiefer sagte er dann, halb an Tränen würgend: „Ich habe nichts von den Morden vorher gewußt … Fackler hat – ganz allein – gehandelt …“
Nun kam folgendes heraus: Cholski war ein verbummelter, ehemaliger Student der Medizin. Mit Hilfe Facklers hatte er sich schließlich in Berlin niedergelassen, und Fackler hatte ihm dann die nötigen Papiere besorgt, damit er als russischer Arzt in Laggow und Danzburg auftreten könne. Auf dessen Veranlassung und nach dessen Angaben hatte er die Kriminalerzählung verfaßt, für deren Veröffentlichung in gewissen Zeitabständen und Fortsetzungen der „Volksorgel“ einhundert Mark anonym bezahlt worden waren. – Im übrigen stimmte alles, was Eva Kaldenhoven über den Tod ihres Mannes vermutet hatte, ebenso wie Fackler den Detektiv ermordet hatte, weil dieser ihm auf der Spur war, was der verschlagene Krankenpfleger trotz aller Vorsicht Rollers sehr bald in Halen herausgemerkt hatte. Facklers Absicht war gewesen, nunmehr, nachdem Eva Kaldenhoven durch den Knaben auch die beiden letzten Nummern der Erzählung erhalten hatte, von ihr eine halbe Million Schweigegeld zu erlangen.
Kaum hatte er die letzten Worte ausgesprochen, als der Knall eines Schusses das Haus durchdröhnte.
Fackler, den Kargowski hatte verhaften wollen, hatte sich drüben in seinem Zimmer eine Kugel in die Schläfe gejagt.
Er lebte noch einen Tag, kam für kurze Zeit zum Bewußtsein, gestand angesichts des Todes alles ein, auch, daß er es gewesen, der Belling den Revolver gestohlen hatte. – Er war aus anderm Holz geschnitzt als Cholski, nahm alle Schuld allein auf sich und stellte seinen Kumpan großmütig als den lediglich von ihm Verführten hin, so daß Cholski nachher mit einer verhältnismäßig geringen Strafe davonkam.
Nachdem die Beamten ihre Tätigkeit in dem Fremdenheim der Zalewska erledigt hatten, schlenderten Olfer und Sermo hinab an den Strand. Sie waren beide müde und abgespannt, sprachen nicht viel, obwohl die Erregung nach den eben durchlebten Szenen ihnen noch im Blute wühlte.
„Wo kriege ich nun einen neuen Tenor für die Bunte Bühne her?“, sagte da Basilius seufzend.
„Einen neuen Tenor? Bist du mit mir nicht zufrieden?“
„Teils – teils, Söhnchen! – Ja, ja – diese Frau Eva!!“
Sermo erwiderte nicht gleich etwas. Dann …
„Was soll die Bemerkung, Basil?“
„Dir beweisen, daß ich Menschenkenner genug bin, um mir zu sagen, daß Verlobungsschwüle in der Luft liegt. Und der zukünftige Gatte einer fünffachen Millionärin wird wohl kaum noch weiter Kabarettsänger spielen.“
Sermo schob seinen Arm in den des Freundes.
„Basil, wahrhaftig, ich glaube, sie liebt mich“, sagte er leise. „Und – ich bin glücklich darüber! Eva hat mir wieder das Gute im Weibe gezeigt. Ich bin wie ausgewechselt …“
„Na – wer hat also recht? – Ich! – Ach, Söhnchen, es ist jammerschade, daß wir auf diese Art auseinanderkommen werden. Mein altes Herz hing an dir, weiß Gott! Und nun werde ich wieder einsam sein.“
Sermo preßte Olfers Arm.
„Lieber Kerl – warum? Du hältst dich für einen großen Menschenkenner und bist doch keiner – wahrhaftig nicht! Denk mal an die Hilda!“
„Tu’ ich ja, Söhnchen! Die Geschichte damals – wegen Trunksucht entmündigen – ist mir doch verflucht nahe gegangen. Ich bin plötzlich Antialkoholiker geworden. Ja, ja – die Hilda meint es gut mit mir – auf ihre Weise! Aber …“
„Was aber? Schau doch mal in dein eigenes Herzkämmerchen hinein! Du bist ja geradezu ein Othello, wenn sie mit – Grünzeug sich abgibt!“
„Ich bin vierzig Jahre, ein mäßiger Komiker – das bin ich!“
„Also gerade der geeignetste Mann für die Hilda! Du – soll ich für dich den Freiwerber spielen?“
„Nee, Söhnchen, laß nur! Danke schön! Wenn ich mich an die Ehekette lege, streife ich mir das Halsband auch selbst über!“
Sie bogen in das Kurhaus ein. Für heute nachmittag war ein großes Doppelkonzert angesagt. Aus Danzburg waren bereits eine Unmenge Menschen gekommen, und alle Tische unter den Linden auf den Terrassen waren besetzt.
„Flüchten wir zu unserem Schlafplatz unter dem Steg“, meinte Olfer. „Dieses geputzte Volk widert mich heute an.“
Sie verließen den Kurgarten durch den Ausgang nach dem Nordpark zu.
Hilda Lenz mit den beiden jungen Männern kam gerade von einem Strandkorb her durch den Sand gewatet.
„Da ist ja die Klippschulvorsteherin“, knurrte Olfer. „Sieh nicht hin, Sermo! – Halb rechts – marsch!“
Sie verschwanden unter dem Steg, blieben aber nicht lange allein.
Hilda erschien, schaute auf die lang ausgestreckten, hemdärmeligen Gestalten mit ironischem Lächeln hinab und fauchte dann Basilius an:
„Warum wurde ich soeben geschnitten, gestrenger Herr Direktor! – Sermo hätte sicher gegrüßt, Sie aber haben Gegenbefehl gegeben!“
Olfer richtete sich zur sitzenden Stellung auf.
„Mein Fräulein, wie Sie sehen, ist dies hier zur Zeit das Schlafgemach zweier Junggesellen! Also bitte!“ Dabei machte er eine Handbewegung nach dem Kurgarten hin.
Sermo hatte die Arme unter dem Kopf verschränkt, lächelte Hilda vergnügt an und meinte:
„Kinder, ihr beide macht mir ungeheuren Spaß! Dieses ewige feindselige Geplänkel ist ja nichts weiter als versteckte Zuneigung! – Kinder – seid vernünftig – gebt euch ’nen Kuß und verlobt euch! Ich mache jetzt die Augen zu und zähle bis hundert – halblaut – dann müßt ihr einig sein!“
„… neunundneunzig, hundert …!“
„Halt!“, rief Olfer. „Du Gauner hast gemogelt!“
Hilda Lenz saß jetzt neben ihm im Sand und Olfer hatte den Arm um ihre Schulter gelegt …
Beide strahlten …
„Bitte, Sermo – nochmals bis hundert!“, bat Hilda mit spitzbübischem Lächeln.
„Gut – jetzt zähle ich aber leise. Im übrigen, Kinder, meinen herzlichen Glückwunsch!“
Er nahm jetzt seinen Stock und Hut und drückte sich.
Da es mit einem Nachmittagsschläfchen entschieden doch nichts mehr werden sollte, beschloß er, im Kurgarten eine Tasse Kaffee zu trinken. So lief er Herrn von Quarg in die Arme. Der sah noch recht verkatert aus.
„Wissen Sie, mein Lieber – derartige Extratouren sind nichts mehr für mich“, meinte er.
„Sie hätten das goldene Ei des grünen Kakadus als Katermittel verspeisen sollen“, lächelte Sermo anzüglich.
„Wie – Sie fangen nun auch damit an?“, rief Quarg halb wütend. „Der Bürgermeister uzte mich schon damit, dann der Chulusoff und – nun Sie!“
„Na – der russische Doktor hat seine Strafe schon weg!“, sagte Sermo ernst.
„Was heißt das?“ Quarg wurde aufmerksam.
„Er ist heute verhaftet worden, weil er im Verein mit einem anderen, noch schlimmeren Verbrecher sich als ganz gemeiner Erpresser versucht hat. Sein Komplize erschoß sich – zwei Morde sind etwas viel!“
Quarg war stehengeblieben. Ihm dämmerte die Wahrheit auf.
„Ist Frau Kaldenhoven mit in der Sache verwickelt?“, fragte er unsicher.
„Allerdings. – Haben Sie der Dame nicht auch so etwas mißtraut?“
Der Rittmeister wurde verlegen. „Hm – ja – in Berlin gingen mal so Gerüchte um, daß …“
„Nun, diese Gerüchte sind jetzt für alle Zeiten zum Schweigen gebracht, Herr von Quarg! – Auf Wiedersehen!“
Auf der Treppe kam Mutter Gunnar ganz aufgeregt in ihrem besten Staat Sermo entgegen.
„Haben Sie nicht Lotte gesehen, Herr Sermo? – Sie war mit dem Kubaner vorausgegangen, wollte einen Tisch belegen …“
Der Kubaner war ein angeblich fabelhaft reicher Ingenieur, der auf den Danzburger Schiffswerften vorübergehend Studien über Turbinenbau betrieb und zu Lotte Gunnars feurigsten Verehrern zählte.
„Ah – da ist ja die Lotte!“, rief Mutter Gunnar plötzlich.
„Wollen Sie nicht bei uns mit Platz nehmen?“, fragte die reizende Soubrette mit einem bittenden Blick Sermo.
„Bedaure wirklich. Ich habe eine Verabredung.“
„Ah – wohl mit Frau Kaldenhoven, die dort oben allein auf der Weinterrasse sitzt und sich in einer neuen Toilette bewundern läßt“, sagte Lotte spitzt, während in ihre Augen ein Ausdruck feindseliger Gehässigkeit trat.
„Allerdings – mit Frau Kaldenhoven!“, erwiderte er kurz. „Auf Wiedersehen, meine Damen!“
Gleich darauf sagte Mutter Gunnar zu ihrer Tochter: „Kind, schlag dir doch bloß den Sermo aus dem Kopf! Du siehst ja, wo der schon zappelt! Den Kubaner kannst du jeden Tag haben! Und – welche Partie – welche Partie, Kind!“
„Du hast recht, Mama! Auch auf Kuba wird sich’s leben lassen!“ So begrub Lotte Gunnar ihre stillen Hoffnungen.
*
Egon Sermo begrüßte Eva. Sie reichte ihm die Hand, schaute ihn mit leuchtenden Augen an, wollte etwas sagen …
Da – schmetterten Fanfarentöne. Die Kapelle begann den Brautmarsch aus Lohengrin.
„Ob das uns gilt, Frau Eva?“, fragte Sermo leise.
Sie errötete, erwiderte ebenso leise:
„Hoffentlich, mein edler Ritter…!“
Ende!
Anmerkungen: