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Robbenfang

 

 

Harald Harst: Aus meinem Leben

 

Band: 187

 

Robbenfang

 

Erzählt von

Max Schraut (Walther Kabel)

 

1. Kapitel.

Am Bollwerk des Hugli-Flusses, schräg gegenüber dem Zollamt von Kalkutta, der Millionen-Hauptstadt des Zweihundertmillionen-Reiches Indien liegt an einem Privatbootsstege ein kleines graublau gestrichenes Fahrzeug vertäut – ein U-Boot von so geringen Abmessungen, wie es bisher nirgends gesehen wurde …

Morgens war dieses Tauchboot vom Meerbusen von Bengalen her den Fluß aufwärts gekommen, hatte dann kaum an dem Balkenstege, der dem Vertreter der deutschen Stiemer-Werke gehörte, festgemacht, als sich auch schon am Ufer hunderte und aberhunderte von Neugierigen versammelten, die sich aus allen Schichten der Bevölkerung zusammensetzten. Da waren Inder, Malaien, Chinesen, Singhalesen, Siamesen, Neger, Japaner, Europäer aller Nationen, – kurz, ein Rassengewimmel, wie es eben nur Kalkutta aufweist.

Schnell hatte man die schwarzen Buchstaben am Bug des U-Bootes, das die deutsche Handelsflagge am Heck trug, entziffert … Der Name „Robbe“ ging von Mund zu Mund.

Fünf Minuten nach Ankunft der „Robbe“ hielt ein Auto am Bollwerk. Ihm entstieg ein blonder Herr, der einem älteren, vornehm ausschauenden Manne höflich aus dem Kraftwagen half.

Die beiden Herren bahnten sich mühsam einen Weg durchs die Menge, betraten nach kurzem Gespräch mit dem den Steg absperrenden Polizeibeamten die dicken Planken der kleinen Anlegebrücke und – – in demselben Augenblick hob sich auch der Deckel der Turmluke und ein Mann mit rundem, gebräuntem Gesicht, Hornbrille und Sportmütze wurde sichtbar …

Meine Wenigkeit: Max Schraut!

Ich hatte durch das Turmfenster das Nahen unseres alten Bekannten Ingenieur Wendler und des schwedischen Generalkonsuls Baron Axenlund beobachtet, empfing die Herren jetzt in gebührender Form und führte sie in die große Kabine hinab, wo Harald Harst dann dem Baron unseren jungen liebreizenden Schützling Sigrin Amalgi zu weiterer liebevoller Betreuung übergab.

Wer Sigrin Amalgi ist, wie wir sie von der Nikobareninsel Tillangchong befreiten, – all das kennen meine Leser und Freunde aus dem vorigen Band.

Eine Viertelstunde drauf waren wir drei wieder allein an Bord unserer „Robbe“: Harald, ich und der brave alte Inder Rami, der vorläufig noch bei uns bleiben wollte, da wir nach ein paar Tagen der Erholung mit der „Robbe“ die Heimreise nach Deutschland anzutreten gedacht und dann auch Rami in Bombay, wo er zu Hause war, an Land setzen konnten.

Harst gab Rami nun die nötigen Verhaltungsmaßregeln, damit während unserer Abwesenheit von Bord nichts geschähe, was unsere ferneren Pläne irgendwie stören könnte.

Auf Rami war in allem voller Verlaß. Wir kleideten uns daher „sonntäglich“ an, um im Deutschen Klub, dessen Einladung Wendler uns überbracht hatte, die für uns bestimmten Gastzimmer zu beziehen.

Dann fanden sich auch schon an Bord zwei farbige Klubdiener ein, die den einen unserer Koffer in das Klubhaus schaffen sollten und für uns auch ein Auto besorgt hatten.

Bevor wir die „Robbe“ verließen, betraten wir nochmals die kleinere Kabine, in der bisher bei verschlossener Tür jene große Kiste gestanden hatte, in der die Leiche Doktor Georg Amalgis lag, jene Leiche, die uns so sehr viel zu raten aufgegeben hatte.

Ich sage: bisher gestanden hatte …!

Denn – – die Kiste war spurlos verschwunden!

Auch Rami machte ob dieses unerklärlichen Abhandenkommens des primitiven Sarges ein äußerst bestürztes Gesicht.

Die Kabinentür hatte ein Patentschloß. Harst hatte den Schlüssel dazu in der Tasche gehabt. Gestern abend war die Kiste noch vorhanden gewesen, als wir uns der Hugli-Mündung näherten, und als Sigrin, unser Schützling, den Wunsch geäußert hatte, mit dem Toten eine Weile allein zu sein.

Jetzt – leer die Stelle auf dem Teppich …!

Amalgi verschwunden – genau so geheimnisvoll, wie er in Bombay an Bord gelangt war.

Harald zuckt die Achseln …

„Wir müssen uns eben mit der Tatsache abfinden …“

Dann fahren wir beide nach dem Klubhaus.

Die Menge der Neugierigen, die jetzt bereits gehört hat, daß die Insassen der „Robbe“ die deutschen Detektive Harst und Schraut sind, macht uns freiwillig Platz.

Trotz des Regens haben sich auch bereits etwa zwanzig Reporter und Photographen eingefunden …

Harst wehrt die zudringlichen Herren ab und bestellt sie für ein Uhr ins Klubhaus. Das Auto jagt mit uns von dannen …

Wir sehen den Maidan wieder, Kalkuttas Riesenpark, flitzen über tadellos gepflegte Wege dahin und grüßen nach Landessitte das Standbild des Marschalls Wellington, atmen die schwere feuchte Luft ein, der ein Europäer nur dann gewachsen ist, wenn er in kurzen Zwischenräumen in den Vorbergen des Himalaja gesündere Luft die Fieberkeime im kreisenden Blute abtöten läßt.

In einer Seitenstraße unweit der Bank von Bengalen steht das Haus des deutschen Klubs, im Kriege verödet gewesen, jetzt wieder in voller Blüte …

Zwei Herren des Vorstandes empfangen uns. Dann sind wir uns in unseren beiden freundlichen Zimmern mit Aussicht auf den Garten allein überlassen, haben nun Ruhe bis sechs Uhr nachmittags, wo im Festsaal das feierliche Begrüßungsessen stattfinden soll.

Bevor wir ein Erfrischungsbad nehmen, läutet Harald noch den schwedischen Generalkonsul an und bittet Sigrin an den Apparat, teilt ihr schonend das Verschwinden der Leiche ihres Vaters mit und erhält von dem jungen Mädchen die ruhige Antwort, daß sie darauf vorbereitet gewesen sei und daß wir dem Verbleib der Sargkiste nicht weiter nachforschen möchten.

Harst sagt zu mir, nachdem er den Telephonhörer weggelegt hat:

„Sigrin weiß mehr wie wir, mein Alter … Ich wette, daß Amalgi sehr bald wieder im Kloster Damalang droben in Nepal sich befinden wird …“

Und damit ist auch dieser Zwischenfall abgetan. Wir baden, schlüpfen in unsere bequemen Schlafanzüge und werfen uns im Wohnsalon auf die bequemen Ruhebetten …

Der Regen klatscht gegen die Fensterscheiben … Die Ventilatoren summen … Von der Straße her dringt gedämpft das Tuten von Autos in unsere Erdgeschoßräume, und vom Garten her schrillt zuweilen das schnatternde Keifen zankender zahmer Affen auf …

Ich schlummere ein …

Träume …

Erwache wieder …

Reibe mir die Augen …

Stimmen an der Tür des Salons …

Ein mir fremder Herr, den Harald eingelassen hat, stellt sich mir vor:

„Doktor Munzinger, Privatgelehrter …“

Harst erklärt:

„Der Herr Doktor möchte uns ein Anliegen vortragen, lieber Alter … Bitte, nehmen Sie Platz, Landsmann …“

Munzinger ist ein älterer Herr mit grauem Vollbart, Künstlermähne, Knollennase und goldener Brille, kurzsichtig blinzelnden Augen und ganz der Typ des deutschen Gelehrten, der auf Äußerlichkeiten sehr wenig gibt. Sein weißer Leinenanzug stammt von „der Stange“, der Gummikragen ist praktisch, aber bläulich, und der Schlips ein Untier von Geschmacklosigkeit.

Munzinger knetet verlegen seine knochigen Hände, entschuldigt sich nochmals stotternd wegen der Störung, und lehnt Harsts Mirakulum dankend ab …

„Schießen Sie los, Herr Doktor …“

Munzinger faßt in die Tasche und holt ein Blechkästchen hervor …

Öffnet es …

Auf weißer Watte blitzt da die größte Seltenheit auf dem Diamantenmarkt: ein schwarzer Stein von Taubeneigröße und wundervollem Schliff …

Ein Stein von so berückendem Feuer, daß wir als Kenner uns halb erheben und uns bewundernd über das Kästchen beugen …

Bewundernd und vollkommen arglos!

Wie sollten wir auch diesem Manne, an dem alles die personifizierte Harmlosigkeit ist, etwas Schlechtes zutrauen?!

Und doch sind wir einem geriebenen, nein dem geriebensten aller internationalen Verbrecher ganz nach Wunsch ins Garn gegangen …

Den Stein bewundern wir …

Unter dem Steine aber wohnte die Hölle, war der Quell gefährlichsten Gases klug verborgen …

Ich fühle plötzlich, daß ein Schwindel mich packt …

Mein Körper wird zum Kreisel …

Ich sause in einen schwarzen Abgrund: Ohnmacht! –

So hat Herr Doktor Munzinger uns, nachdem wir ihn kaum fünf Minuten kannten, so gründlich ausgeschaltet, daß wir von den Herren des Klubs erst gegen sieben Uhr abends nach einer Stunde allermöglichen Wiederbelebungsversuche ins Bewußtsein zurückgerufen wurden.

Schwarzer Kaffee und Kognak, Sauerstoffapparate und Massage belebten uns derart, daß wir um acht uns mit brummendem Schädel zu dem Festdiner ankleiden können.

Der Vorstand des Klubs weiß über Munzinger sehr wenig. Dieser angebliche Doktor ist heute um zehn vormittags in den Klub gekommen, hat ein (gefälschtes, wie sich herausstellte) Empfehlungsschreiben des deutschen Generalkonsuls in Singapoor vorgelegt und daraufhin ein Zimmer erhalten. Um zwölf Uhr mittags verließ er dann das Klubhaus, kehrte nicht zurück. Seine beiden Koffer enthielten Steine und Lumpen. –

Wir beide sitzen nun im strahlend hellen Saale neben dem Klubpräsidenten …

Vierzig Herren an geschmackvoll gedeckter Tafel …

Allgemeines Gesprächsthema: dieses Attentat auf uns!

Niemand begreift den Zweck dieser niederträchtigen Betäubung. Munzinger hat uns nichts gestohlen – nichts … Hat uns auf die Ruhebetten gelegt und ist verschwunden

Unbegreiflich also!

Unser Freund, Ingenieur Wendler, sitzt uns gegenüber.

„Lieber Harst, Sie müßten den Kerl doch unbedingt aufzustöbern suchen,“ meint Wendler. „Wer weiß, wer der Bursche in Wirklichkeit war und …“

Wendler hat eine Stimme wie ein Megaphonmann beim Boxkampf …

Es wird still im Saale …

Harst unterbricht Wendler …

„Aufstöbern?! – Dann müßten wir gerade den Bengalischen Meerbusen oder den Hugli mit Stahlnetzen abfischen …“

Alles schaut nach Harald hin …

„Meine Herren,“ fährt er fort, „Sie werden sich vielleicht wundern, daß ich jetzt erst mit einer Tatsache herausrücke, die dieses Munzingers Tun vollkommen erklärt … Meine Herren, die „Robbe“ ist gestohlen, entführt …“

Das schlägt ein wie eine Bombe …

Einer der Tafelrunde ruft: „Um fünf lag das U-Boot noch am Stege!“

„Jetzt nicht mehr,“ erklärt Harst ohne jede Spur von Erregung. „Munzinger wußte eben genau, daß wir vor sieben Uhr ihm nicht gefährlich werden können … Er hatte Zeit.“

Wendler fragt:

„Harst, woher in aller Welt können Sie denn mit solcher Bestimmtheit behaupten, daß der Mensch es auf die „Robbe“ abgesehen hatte und daß das U-Boot wirklich nicht mehr an meinem Stege vertäut ist?“

Noch immer Totenstille im Saale …

Harald erwidert:

„Ich weiß es, weil Munzinger nur auf die „Robbe“ ein begehrliches Auge geworfen haben konnte … Ohne bestimmte Absicht hat er Schraut und mich nicht außer Gefecht gesetzt, ohne Absicht nicht am Schreibtisch unseres Wohnsalons dann einen Brief in meiner Handschrift für den Inder Rami gefälscht, einen Brief, der ihm Zutritt zur „Robbe“ verschaffte … Die Schreibunterlage war neu … Er hat den Brief darauf getrocknet, hat das Löschblatt absichtlich zurückgelassen … Ein Blick auf dieses Blatt enthüllte mir die Wahrheit … Da war’s jedoch schon zu spät … – Wozu sollte ich dieses festliche Beisammensein noch länger verzögern, indem ich Ihnen, meine Herren, meine Entdeckung mitteilte?!“

Wendler springt auf …

„Ich muß Gewißheit haben, Harst … Ich rufe die Zollamtwache an …“

„Wie Sie wollen … Ich würde lieber diesen köstlichen Hummern mich widmen, lieber Wendler …“

Aber der Ingenieur ist schon draußen …

Kehrt zurück …

„Die „Robbe“ ist weg!“ meldet er dumpf …

Harald ergreift sein Rheinweinglas …

„Trinken wir … auf den späteren Robbenfang, meine Herren …! Munzinger wird zu finden sein …!“

Die Stimmung hebt sich wieder …

Um Mitternacht schwanke ich in unsere Zimmer … Ich habe genug … Deutscher Sekt hat mir den Rest gegeben …

Harald sitzt noch stocknüchtern im Saale …

Ich schalte im Salon das Licht ein …

Halte mich an der Tür fest …

So rasch bin ich noch nie in meinem Leben wieder nüchtern geworden …

 

2. Kapitel.

Meine lieben Leser und Freunde, die mich so häufig mit freundlichen Zeilen beehren, werden nun fraglos blitzschnell überlegen, was wohl die Ursache dieser meiner schnellen Entalkoholisierung (pardon!) gewesen sein kann …

Phantasiebegabte werden vielleicht denken, daß unser braver Inder Rami tot auf dem Teppich lag, oder daß Sigrin gefesselt in einem Sessel saß, oder daß eine Brillenschlange oder gar ein Tiger mich sprungbereit erwarteten …

Alles stimmt nicht …

Nein – alles nicht …

In dem einen Klubsessel saß allerdings jemand … Und das eine Fenster nach dem Garten zu stand weit offen.

In dem Sessel … saß mit dem Gesicht nach der Flurtür hin, an deren Kante ich mich festklammerte, … saß … saß … Doktor Munzinger!!

Ich stierte Munzinger wie einen Geist an …

Fuhr mir über die Stirn …

Da erhob der „Geist“ sich …

Verbeugte sich …

Stotterte:

„Ent … entschuldigen Sie, Herr … Schr … Schraut … Ich bin durch d … d … das Fenster eingestiegen, weil man mich s … s … sonst ver … ver … verhaftet hätte.“

Ich ließ die Tür los …

Kam näher …

Ich war völlig klar im Kopf …

„Herr, sind Sie derselbe Munzinger, der Harst und mich …“

„Nein … nein, … G … G … Gott bewahre, ich bin der echte Munzinger … Doktor Jeremias Munzinger aus München, zur Zeit auf einer Studienreise begriffen …“

Ich kam noch näher … sagte:

„Herr Doktor, dann hat der andere Schuft sich tadellos maskiert gehabt, denn er glich Ihnen auf ein Haar …“

Munzinger machte ein unglaublich wehleidiges Gesicht, erwiderte:

„Kein W … W … Wunder, daß er mir so ähnlich sah, Herr Landsmann Schraut. Er ist ja mein mißratener Zwillingsbruder Tobias … Er … st … stottert nur weniger als ich …“

„Das merke ich, Herr Doktor … Nehmen Sie wieder Platz … Lassen Sie uns in Ruhe die Dinge durchsprechen.“

Der echte Munzinger seufzte kläglich …

„Herr Schraut, da gibt es nicht viel durchzusprechen … Ich bin heute abend acht Uhr mit dem Schnellzuge von Allahabad hier in Kalkutta eingetroffen. Kaum hatte ich den Zug verlassen, als ich schon auf dem Bahnsteig das Gebrüll der Extrablattverkäufer vernahm und … meinen ehrlichen Namen! Ich war einfach sprachlos! Ich glaubte mich verhört zu haben … Doch es war so: die braunen Burschen riefen beständig:

Attentat auf Harst und Schraut durch Doktor Munzinger!!

Sie werden sich unschwer vorstellen können, Herr Schraut, wie mir dabei zumute war! Ich kaufte ein Extrablatt, las es, war entsetzt … Ich fand darin mich selbst genau beschrieben, – sogar den Anzug!! Natürlich ahnte ich sofort, wem ich diese Überraschung zu verdanken hatte: meinem sauberen Herrn Zwillingsbruder, den ich seit fünf Jahren Gott sei Dank nicht mehr zu Gesicht bekommen habe … – Scheu drückte ich mich durch die Menge zum Bahnhof hinaus. Ließ mein Gepäck dort, irrte durch dunkle Gassen, wagte mich nicht einmal in eine Speisewirtschaft. Man hätte mich ja für den Attentäter halten und verhaften können! Schließlich kam mir der Gedanke, Sie beide aufzusuchen. Ich weiß hier in Kalkutta gut Bescheid. Und in dem Extrablatt steht ja genau beschrieben, welche Zimmer Sie beide hier im Klub innehaben. So bin ich denn über die Gartenmauer geklettert und fand zum Glück dies Fenster da offen, stieg in das Zimmer hier hinein und … fühlte mich geborgen. – Herr Schraut, bitte, hier sind meine Ausweispapiere … Ich …“

„Schon gut, Herr Doktor, schon gut … Regen Sie sich nicht weiter auf … Die Sache ist nun ja geklärt. Ich werde Harst heraufholen. Das Fest muß ohnedies sehr bald zu Ende sein …“

Aber Munzinger widersprach … „Ich bitte Sie inständigst, lassen Sie mich hier nicht allein …! Tobias hat mir Rache geschworen … Er ist der größte Lump, der je auf Erden wandelte. Vielleicht steckt er draußen im Garten und hat uns beobachtet … Vielleicht unternimmt er irgend etwas gegen mich, wenn Sie …“

Er schnellte aus dem Sessel hoch …

Auch ich hatte ein leises Zischen und einen dumpfen Schlag gehört …

Munzinger verkroch sich hinter dem Sessel, kreischte …:

„Ein Schuß …! Ein Schuß …!! Sch … Sch … Schließen Sie um Gotteswillen das Fenster und ziehen Sie die Vorhänge zu, Herr Schraut …! Das war ein Schuß aus einer Luftpistole …“

Er mochte recht haben …

Ich eilte ans Fenster, und in demselben Augenblick fegte etwas haarscharf über meine kahle Schädelplatte hinweg …

Ein zweiter Schuß …

Ich schlug das Fenster zu und riß an der Schnur der dicken Seidenvorhänge … Sie glitten zusammen, und nun waren wir in Sicherheit.

Harald war nach drei Minuten bei uns. Auch er stutzte, als er Jeremias Munzinger erblickte. Ich klärte die Situation sehr rasch. Harald drückte dem stotternden Jeremias kräftig die Hand …

„Setzen wir uns, Herr Doktor … – So, hier ist Kognak … Trinken Sie nur … Rauchen Sie auch eine meiner Zigaretten zur Beruhigung …“

Jeremias rauchte, trank … Er erzählte dann von seinem Bruder, betonte, daß dieser schon mit zwanzig Jahren seine beklagenswerte Karriere als Gauner begonnen habe … „Unsere Eltern sind aus Gram gestorben … Ich will ehrlich sein: ich hasse Tobias! Er hat mir die besten Jahre meines Lebens vergiftet, er hat, als er nichts mehr von mir erpressen konnte, dreimal Attentate gegen mich versucht … Ich kann nun nur annehmen, daß er mit mir zu gleicher Zeit in Allahabad gewesen ist, denn er muß mich ja gesehen haben, – wie könnte er sich sonst genau so gekleidet haben wie ich!“

Harald lehnte nachdenklich in der Sofaecke und blies tadellose Rauchringe. Die Augen hatte er halb geschlossen. Es schien, als ob er auf Jeremias’ letzte Sätze gar nicht geachtet hatte. Ein besonderer Gedanke schien ihn zu beschäftigen …

Und wirklich – ganz unvermittelt fragte er jetzt:

„Waren Sie in Allahabad im Landesmuseum, Herr Doktor?“

„Gewiß, Herr Harst …“

„Wir, Schraut und ich, waren vor drei Jahren zum letzten Male dort. Damals war das Prunkstück des Museums ein … schwarzer Diamant von Taubeneigröße, den der Maharadscha von Haidarabad der Anstalt einst stiftete.“

„Ganz recht,“ nickte Munzinger eifrig. „Auch ich habe den wundervollen Edelstein angestaunt … Ich bin ja Mineraloge, Herr Harst … Mein Buch über …“

Harald unterbrach ihn …

„Der schwarze Diamant dürfte sich jetzt kaum mehr in Allahabad befinden, Herr Doktor …“

„Nanu?! – Pardon – ich meine: hat man den Stein denn in den letzten Tagen anderswohin geschafft?“

„Ja und nein, Landsmann … Anderswohin – das stimmt. Aber nicht „geschafft“, sondern mitgenommen. Das heißt: er ist gestohlen worden.“

„Gerechter Gott!“ und Munzinger sank kraftlos wie ein leerer Sack in sich zusammen. „Gerechter Gott – mein B … B … Bruder!!“ stöhnte er … „Im Extrablatt steht ja zu lesen, daß Ihnen der … der Schurke einen schwarzen Stein zeigte!!“

Harst erhob sich …

„Wir wollen Gewißheit haben, Landsmann … Daß der Stein gestohlen, ist ja bisher nur eine Vermutung von mir … Ich werde die hiesige Polizeidirektion anläuten. Die Polizei pflegt derartige Diebstähle zunächst geheim zu halten und nur die Behörden durch Runddepesche zu verständigen. Sonst müßte bereits in den Zeitungen davon etwas gestanden haben. Der Diamant ist ja zweifellos spätestens vorgestern geraubt worden. Anderthalb Tage braucht man zur Reise von Allahabad[1] nach hier, und Ihr Bruder, Doktor, muß schon heute früh hier eingetroffen sein. – Ich werde telephonieren …“

Er tat’s …

Einem Harst verheimlicht die Polizei nichts …

Ja: der berühmte schwarze Diamant war vorgestern aus dem Glasschrein verschwunden. Den Wächter des betreffenden Saales hatte man betäubt in einem Schranke aufgefunden. Der Mann hatte den Dieb genau so beschrieben wie die Munzingers ausschauten – genau so!

Tobias Munzinger war also der Dieb und hatte sich mit seiner Beute, die mindestens drei Millionen wert war, ebenso schlau in Sicherheit gebracht: auf unsere „Robbe“! – Ein U-Boot zu verfolgen, ist so gut wie unmöglich!

 

3. Kapitel.

Harsts Anruf bei der Polizei hatte zur Folge, daß sich Detektivinspektor Garwin eine Viertelstunde später bei uns einfand.

Garwin kannten wir noch nicht. Er war ein jüngerer Beamter, ein Eurasier von sehr heller Hautfarbe, gewandt, liebenswürdig, von abgeklärter Ruhe.

Er gab ohne weiteres zu, daß die Polizei sich um das Attentat gegen uns bisher scheinbar nur deshalb nicht gekümmert habe, weil alle verfügbaren Kräfte sofort nach Bekanntwerden des Attentats in aller Stille auf die Fährte Munzingers gehetzt worden seien …

„Mr. Harst, wir haben auch den Garten des Klubhauses heimlich nach Spuren abgesucht,“ erklärte er weiter. „Wir fanden auch Spuren … Aber dieser Tobias Munzinger ist schlau … Er hat draußen Sandalen über seine Stiefel gestreift gehabt … Die Spuren besagten daher so gut wie nichts.“

Harald und Garwin suchten dann nach den Kugeleinschlägen in den Wänden, fanden auch die beiden breitgedrückten Bleigeschosse und sprangen darauf in den Garten hinab, kehrten nach zehn Minuten zurück und teilten Jeremias und mir achselzuckend mit, daß lediglich wieder plumpe Sandalenspuren zu finden gewesen.

Doktor Munzinger fragte kleinlaut:

„Haben Sie denn wenigstens eine geringe Hoffnung, Herr Harst, diesen Elenden zu fangen und ihn endlich hinter Zuchthausmauern unschädlich zu machen?“

„Fangen, Doktor, – – wie?! Wie?!“ erwiderte Harald ehrlich. „Tobias ist Herr der „Robbe“ … Die „Robbe“ ist nicht zu finden. Es hätte gar keinen Zweck, irgendwelche Maßregeln in dieser Richtung zu treffen …“

Auch Garwin nickte …

„Nein, nicht den geringsten Zweck … Als wir erfuhren, daß der Gauner das U-Boot entführt hatte – die Zollwache verständigte uns hiervon –, zogen wir unsere Beamten und Vigilanten von den Straßen wieder zurück. Übrigens hat sich bei uns, Mr. Harst, ein Inder gemeldet, der beobachtet hat, wie Tobias Munzinger gegen sieben Uhr abends die „Robbe“ betrat, wie Rami ihm die Turmluke öffnete und beide dann ins Innere des Bootes hinabstiegen. Wenige Minuten drauf erschien Tobias wieder an Deck und winkte drei malaiischen Matrosen, seinen Helfershelfern … Dann lösten die Malaien die Taue, und die „Robbe“ verschwand im Regennebel des Hugli …“

„… Und legte irgendwo an einsamer Uferstelle wieder an,“ fügte Harst hinzu, „setzte Tobias wieder an Land, der dann hier mit seiner Luftpistole Schießübungen veranstaltete!“

„Ah – Sie machen noch Witze!!“ meinte der Doktor halb gekränkt. „Herr Harst, wenn Sie wüßten, wie mir zumute ist, dann würden …“

„Man muß auch das Schlimmste mit Humor hinnehmen, Landsmann …! – Und jetzt, wo die Uhr auf zwei geht, sollen auch wir gehen – nämlich zu Bett! Man wird für Sie hier im Salon ein Lager herrichten, Doktor … Schlafen Sie erst einmal gründlich aus. Dann wird sich Vieles ändern …“

Dieser letzte Satz erschien mir etwas merkwürdig …

Munzinger meinte dankbar: „Ja, so in Ihrer Nähe werde ich Schlaf finden, mein verehrter Herr Harst … Ich fühle mich auch wie zerschlagen …“

Inspektor Garwin verabschiedete sich.

Eine halbe Stunde später lagen wir in unseren Betten … Die Tür zum Salon war halb offen geblieben … Ich hörte Jeremias schnarchen, beneidete ihn … Ich war noch viel zu munter nach all diesen Ereignissen, um so schnell Gott Morpheus in die Arme zu sinken … –

In unserem Schlafgemach war’s stockdunkel. Draußen plätscherte der Regen, rauschten die Bäume … Hin und wieder schlugen Zweige der Weinranken, die an der Rückwand des Gebäudes in üppigster Fülle wucherten, klatschend gegen die Schreiben …

Ich gab mir die redlichste Mühe einzuschlafen …

Keine Möglichkeit …

Ich wälzte mich hin und her … Die Luft im Zimmer war feuchtheiß, wie in einem Treibhaus … Dann wieder merkte ich, daß das Tropenfieber, das mich schon auf der Fahrt nach der Nikobareninsel Tillangchong mit einigen Anfällen beehrt hatte, sich abermals mit leichtem Schüttelfrost meldete.

Und plötzlich – eine Hand auf meinem Gesicht … Ein Druck auf die Stirn … Drei Fingerspitzen … Eine Stimme an meinem Ohr:

„Aufstehen – – ganz leise!“

Diese vorsichtig raunende Stimme gehörte Harald …

Aufstehen?! Wozu?! – – Noch besser!!

„Was gibt’s?!“ fragte ich unwirsch und ebenso leise …

„Anziehen … sofort …!! Nach einer Stunde wird es hell …“

„Nun ja, – und zu welchem Zweck anziehen?!“

„Später … Beeile dich.“

Ich streckte die Hände aus, befühlte Haralds Kleidung …

Wahrhaftig: er hatte nicht mehr den seidenen Schlafanzug an … Er trug seine Sportjoppe, hatte sogar die Mütze auf …!

Und dabei hatte ich ihn doch fortwährend pusten und tief und regelmäßig atmen, zuweilen auch schnarchen gehört!

Komödie also! – Wem galt sie?! Munzinger?!

Ich gehorchte …

Und mein alter Harald mimte nun weiter den Schlafenden – oder besser: die Schlafenden!

Mit größter Virtuosität ahmte er das raffelnde Gurgeln eines traumbefangenen Fettwanstes (ich!!) und das lange röchelnde Atemholen einer zweiten Person (er!!) in richtigen Zwischenräumen nach, so daß die geringen Geräusche, die das Überstreifen meiner Kleider verursachten, völlig übertönt wurden.

Ich schlüpfte in die Sporthosen und … dachte an die gewiß wichtige Frage, weshalb wir uns diese Nacht nun vollständig um die Ohren schlagen wollten …

Harst zieht mich sacht zum Fenster …

Öffnet den einen Flügel lautlos …

Draußen … gießt es …

Ich taste nach unseren Gummimänteln …

„Hinaus mit dir,“ flüsterte Harald. „Du beobachtest die Salonfenster … Ich bleibe hier auf dem Fensterkopf sitzen, damit die Atemgeräusche in unserem Schlafzimmer nicht verstummen. Du imitierst irgendeine Vogelstimme als Signal, sobald Munzinger türmt …“

Also doch Munzinger!!

Ich bin platt – – starr!

Trotzdem springe ich unten auf den Rasen, wende mich nach links, stelle mich unter einen Pfirsichbaum, klappe den Mantelkragen hoch und sehe drei Meter vor mir das matte ungewisse Blinken der beiden verschlossenen Salonfenster.

Der Baum bietet wenig Schutz … Die Nässe rinnt an mir herab … Ich stehe mit den Füßen in einer Lache …

Minuten verstreichen …

Ich glotze die beiden Fenster an, als wären’s Pforten der Hölle, und als ob Satanas in höchst eigener Person daraus erscheinen müßte …

Satanas – das harmlose Kaninchen Jeremias!! Lächerlich!! Der Mensch t … t … tut doch keiner Fl … F … Fliege was! –

Hallo – – was bedeutet das?!

Der eine Fensterflügel der Hölle blinkt nicht mehr, ist geöffnet worden …

Und jetzt … ein Bein …

Noch eins …

Also doch!! Der Teufel begreife das!!

Den beiden Beinen folgt der schäbige Rest …

Jetzt ist es Zeit, das Signal zu geben …

Zum Glück sind die Affen in den nahen Palmen ziemlich unruhig, so daß ich den nicht ganz gelungenen Schrei des auf Fledermäuse jagenden Turmfalken (eine weit kleinere Art als in Europa) getrost imitieren kann: Hui – witt … Hui – witt!

Freund Munzinger ahnt nichts Arges, hopst in den Garten hinab …

Hopst wie ein Akrobat – elegant, geschmeidig, gelenkig … Und bisher benahm der Kerl sich wie ein steifbeiniger General mit Ichias, Zipperlein und nächtlichen Wadenkrämpfen …

Kaum hat dieser Schlangenmensch den Boden berührt, als er auch schon den Hauptweg hinabhuscht …

O Jeremias, du Schurke, wie hast du vor uns Theater gespielt, wie kannst du huschen, schleichen, laufen …!!

Harst erscheint neben mir …

Und wir hinter Jeremias drein …

Der dreht sich nicht ein einziges Mal um …

Da ist schon die Hinterpforte der Gartenmauer …

Bei Gott: der Kerl gebraucht einen Nachschlüssel, ist schon auf der Straße … lehnt die Tür nur an …

Und hier auf der gut beleuchteten Straße zieht er aus der Hosentasche einen jener hauchdünnen Regenumhänge hervor, die sich zu einem winzigen Päckchen zusammenfalten lassen, wirft ihn um die Schultern, schreitet ganz gemächlich aus … durchquert den Maidan, wendet sich zum Flusse hinab …

So kommen wir denn schließlich an den Fluß, in die Anlagen am Zollamt …

Dort ist der Bootssteg Wendlers, wo wir gestern morgen landeten … Da liegt Wendlers Motorjacht und Ruderboot.

Was will Jeremias gerade hier?!

Er blickt sich jetzt nach allen Seiten um …

Wir stehen hinter einem der dicken Masten, an denen die Bogenlampen hängen …

Doktor Munzinger betritt die Brücke … Keine Seele ist in der Nähe …

Ich sehe, wie Jeremias am äußersten Ende des Steges eine Schnur aus der Tasche zieht, an der etwas festgebunden ist … Es kann ein Stein sein …

Er scheint mit diesem Instrument angeln zu wollen, denn er läßt den Stein an der Schnur ins Wasser hinab, ruckte an, senkt ihn, ruckt wieder an …

Was soll das?! –

Wir beide sind derweil näher geschlichen, hocken hinten einem der Zementpfähle zum Vertäuen der Schiffe.

„Was soll das?! Was tut der Kerl?“ frage ich Harald.

„Der Kerl ist – was du ja wohl längst gemerkt haben wirst – derselbe, der uns den Stein zeigte und uns betäubte … Es gibt keine Brüder Munzinger … Freilich gibt es einen Mineralogen Doktor Jeremias Munzinger, der zurzeit noch in Allahabad weilt …“

Ich war platt, platter, am plattesten …

Harst flüsterte weiter: „der Bursche dort auf dem Stege ist lediglich ein ganz geriebener Hochstapler und Dieb, ein Verbrecher freilich von einem Ausmaß, das nicht alltäglich ist … Jetzt ruft er das U-Boot herbei, mein Alter … Die „Robbe“ liegt eben auf dem Flußgrunde genau unterhalb der Stelle, wo der Kerl … angelt. Den Stein an der Schnur läßt er auf das Deck poltern, und … ah – – da taucht der Turm schon auf …!“

„Harald – eine Frage, eine einzige …,“ raunte ich dem Freunde zu … „Woher weißt du, daß es einen echten Doktor Munzinger gibt?“

„Durch eine Notiz in der Allahabad-Temps, die ich im Lesesaal des Klubs nach dem Diner flüchtig durchblätterte … Da war zu lesen, daß Doktor Jeremias Munzinger unweit Allahabad in den Marla-Hügeln das Vorkommen von Kohle festgestellt habe …“

Vielleicht wollte mein alter Harst noch mehr hinzufügen.

Vielleicht waren wir beide durch das aufmerksame Beobachten der Vorgänge auf der Brücke nur zu sehr in Anspruch genommen …

Vielleicht … war dieser freche Gauner wirklich schlauer als wir, – nein, nicht „vielleicht“ …!

Denn – jetzt klappte die Falle über uns programmmäßig zusammen – nach dem Programm des harmlosen Kaninchens …

Zwei Hiebe – zwei Bewußtlose …

Ich klatsche nach vorn in den groben Kies des Bollwerks …

Letzter Gedanke: Ihr seid die Reinge … fallenen, nicht Jeremias!

 

4. Kapitel.

„Robben“fang …!

Umgekehrt wird ein Schuh daraus: in der „Robbe“ gefangen, in Amalgis kleiner Kabine …

Wir sitzen, als wir wieder zu uns kommen, gefesselt auf zwei Rohrsesseln …

Über uns leuchtet eine große Glühbirne unter gelber Glocke …

„Die „Robbe“ ist in voller Fahrt … Die Schrauben arbeiten … Wasser rauscht an den Bordwänden entlang … –

Wir sitzen uns gegenüber, gerade unter der Lampe, mit ein Schritt Entfernung …

Harst schaut mich müde an, wendet den Kopf … Links an der Wand tickt eine runde Uhr …

Acht ist’s … Wahrscheinlich acht Uhr vormittags. Wir sind also etwa sechs Stunden bewußtlos gewesen … –

Die Kabinentür öffnet sich …

Jeremias …!!

Stellt sich neben uns … Ist noch immer äußerlich Jeremias …

„Guten Morgen, meine Herren …!“

Durchaus höflich …

„Guten Morgen,“ nickt Harald. „Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Munzinger. Sie haben Talent.“

„Danke, Herr Harst … Das habe ich bereits oft bewiesen.“ Und er setzt sich in den Schreibtischstuhl. „Bitte – nennen Sie mich aber nicht mehr Munzinger … Ich heiße Albert Pingalli. Das ist mein richtiger Name …“

Harst blickt ihn schärfer an …

„Wirklich – Sie sind Pingalli, der vor sechs Monaten dem Milliardär Gollong den unechten Tizian andrehte?!“

„Ich bin’s … Aber diese Tizian-Geschichte war nur ein einziges Affärchen, Herr Harst … Auf mein Konto kommen unter anderem die Beraubung des Geldtransportautos der Morgan-Bank in Neuyork, ferner die Plünderung des Orientexpreß vor drei Monaten, ferner die Entführung der Tochter des italienischen Fürsten Combetta und anderes … Nur bei der Tizian-Geschichte wurde ich als der Macher ermittelt, aber natürlich nicht ergriffen. Mich fängt keiner. Auch Sie nicht. – Sie sind also über mich informiert, Herr Harst?“

„Ich weiß nur, daß Sie etwa dreißig Jahre alt sind, daß Sie in München Filmschauspieler waren, aber 1925 im Frühjahr wegen Mordes verhaftet werden sollten und seit dem verschwunden sind. Man legte Ihnen die Beseitigung des Wucherers Bernstein zur Last …“

„Ihr Gedächtnis versagt nicht, Herr Harst. Bernstein habe ich nie ermordet. Der wahre Mörder dürfte ein gewisser Friedrich Robbe sein … – Jedenfalls hatte ich als leidlich begabter Schauspieler in einer Serie von Filmen des Semolka-Konzerns einen Hochstapler gemimt und durch diese künstlerische Tätigkeit so viel Gefallen an Schwindel, Raub und Diebstahl gefunden, daß ich nach meiner Flucht aus München in Neuyork tatsächlich Verbrecher wurde … ein Verbrecher, mit dem Sie bisher noch nie die Klingen gekreuzt hatten, Herr Harst. Ich hatte mir auch alle Mühe gegeben, Ihnen aus dem Wege zu gehen, weil ich Sie … überschätzt hatte …“ – Sein Ton blieb durchaus höflich. Keine Spur von Ironie war in seinen Worten … „Ja, überschätzt, Herr Harst … Dann stahl ich den berühmten schwarzen Diamant aus dem Allahabad-Museum, entkam mit der Beute bis hierher, hörte gestern früh, daß Sie soeben in Kalkutta eingetroffen und rechnete mit Ihrem Eingreifen … Ich betrachtete Sie als Gegner. Ihre „Robbe“ war mir wertvoll. Außerdem aber wollte ich Ihnen den Beweis liefern, daß …“

„Ich finde, Sie machen sehr viel überflüssige Worte, Herr Pingalli,“ unterbrach Harald ihn mit einem merklich geringschätzigen Lächeln. „Schwätzer sind nie Genies … – Gut, Sie haben vorläufig gesiegt, Sie haben das U-Boot, Sie haben Schraut und mich und können nun Ihrer Ansicht nach getrost mit dem kostbaren Stein das Weite suchten … Sie sind sicher vor uns …“

„Allerdings …!“ – Dieses Wort klang eigentümlich gedehnt – ganz so, als ob Pingalli plötzlich von einer ungewissen Unruhe gepackt würde.

Harald lachte ihm jetzt geradezu ins Gesicht …

„Mann, Sie … überschätzen sich! Sie haben im Salon neben uns Ihre Lagerstatt gehabt … Sie haben wundervoll geschnarcht … Und ich habe mich zu Ihnen hineingeschlichen und Ihre Kleider befühlt …“

Pingalli fuhr hoch …

Seine Rechte glitt nach dem linken Jackenzipfel …

Er befühlte ihn … Der gespannte Ausdruck seines Gesichts verschwand …

Aber – wieder lachte Harst ihm ins Gesicht …

„Ein Stein steckt noch zwischen Stoff und Futter, Herr Pingalli … Nur – – – es ist nicht mehr der schwarze Diamant, sondern … ein Stück Ziegelstein …“

Pingalli hob den Jackenzipfel …

Sah den Schnitt im Futter …

Holte den … Ziegelstein hervor …

Starrte ihn an …

Wurde blaß …

Lächelte trotzdem …

„Tatsächlich,“ sagte er mit einer Verbeugung, „Sie haben mich geleimt, Herr Harst …! – Aber – weshalb in aller Welt ließen Sie sich dann am Bollwerk niederschlagen, wenn …“

„… weil ich hier auf die „Robbe“ wollte …“

„Sie … wollten hier auf die „Robbe“?“

„Ja … Erkennen Sie denn noch immer nicht, daß nunmehr die Rollen vertauscht sind …?! Ich habe den Stein – – nicht bei mir, sondern im Garten des Klubhauses versteckt … Ich habe aber auch die Robbe … Denn … – nun bitte, sprechen Sie weiter, wenn Sie ein Hochstapler mit Talent sind …“

Pingalli stand da und blickte Harald forschend an …

Sein Gesicht rötete sich langsam …

Denn: „Ich … ich gebe zu, daß ich den Stein eingebüßt habe, Herr Harst. Unverständlich bleibt mir nur, weshalb Sie so bestimmt behaupten, auch das U-Boot wiedererobert zu haben. Der einfachste Augenschein spricht dagegen. Sie und Ihr Freund sind gefesselt, sind wehrlos, und …“

Harald fiel Pingalli ins Wort …

„Bevor wir dieses Thema weiter erörtern, möchte ich Sie fragen, ob Ihnen viel daran liegt, wieder ein ehrliches und nützliches Mitglied der menschlichen Gesellschaft zu werden. Ich besinne mich jetzt, daß all Ihre Bekannten aufs wärmste für Sie eintraten, als der Verdacht, den Wucherer Bernstein ermordet zu haben, sich auf Sie gelenkt hatte und Sie unter Zurücklassung eines Briefes an die Polizei, in dem Sie Ihre Schuldlosigkeit beteuerten, flüchtig geworden waren. Man rühmte Ihren vornehmen Charakter, Ihre Mildtätigkeit gegenüber Notleidenden und Ihre Anhänglichkeit und stete Fürsorge für Ihre durch die Inflation völlig verarmten Eltern …“

Pingalli hatte sich plötzlich umgewandt und kramte nervös in den Zeitungen, die auf dem kleinen Schreibtisch der Kabine lagen. Offenbar wollte er uns den veränderten Ausdruck seines Gesichts verbergen. – Dann sagte er hart:

„All das war einmal, Herr Harst … Meine Eltern sind tot … Gram, Verzweiflung hat sie ins Grab gebracht. Umkehr für mich ist unmöglich. Mein Schuldkonto ist zu groß.“

„Was haben Sie mit den erbeuteten Geldern getan?“

Pause …

„Unter anderem Namen bei einer Londoner Bank deponiert,“ erklärte Pingalli widerwillig.

„Haben Sie viel von dem Gelde für sich ausgegeben?“

„Nein … An der Gesamtsumme fehlen vielleicht dreißigtausend Mark …“

„Und wie steht’s mit dem Wunsche wieder ehrlich zu werden, Pingalli?“ – Harald fand auch jetzt wieder den rechten Ton. Ein Vater hätte zu einem mißratenen und doch geliebten Sohne nicht gütiger sprechen können. „Bedenken Sie, Pingalli,“ fuhr er noch milder fort, „daß bisher für die Öffentlichkeit nur die Tizian-Geschichte in Betracht kommt. Ihre übrigen … Entgleisungen sind für Sie nicht gefährlich. Wenn Sie dem geschädigten Milliardär die Summe zurückerstatten und ihn bitten, die Sache nicht weiter zu verfolgen, so ist dieser eine Makel aus der Welt geschafft. Und wenn Sie in gleicher Weise auch die anderen von Ihnen Geschädigten anonym …“

Ein merkwürdiger Laut kam da aus Pingallis Kehle. Er zitterte … Seine Schultern zuckten. Er bemühte sich umsonst, den Aufruhr in seinem Inneren zu meistern. Er … weinte …

Und Harst – energischer: „Ich habe Sie von vornherein richtig eingeschätzt, Pingalli … Ungeheure Verbitterung hat Sie auf die Bahn des Verbrechens getrieben. Ein gehetztes Wild jagt auch in der Verzweiflung über blühende Saaten und richtet Schaden an. – Pingalli, ich verspreche Ihnen, den Mörder Bernsteins zu überführen, und dafür zu sorgen, daß die Gesellschaft, daß München den beliebten Filmhelden wieder mit offenen Armen aufnimmt …“

Albert Pingalli drehte sich langsam um …

In seinen Wimpern blinkten noch Tränen. Mit heiserer, von Rührung und Ergriffenheit kaum verständlicher Stimme erklärte er:

„Herr Harst, ich … ich finde keine Worte, Ihnen so zu danken, wie ich …“

„Sie sind also einverstanden?“

„Sie fragen noch, Herr Harst?! Ja – ja, mit allem bin ich einverstanden! Ich sehne mich danach, wieder …“

„… Sie werden ein anständiger Mensch sein wie einst … – Und jetzt werden Sie auch wissen, weshalb ich behauptete, die „Robbe“ zurückerobert zu haben. Ich wußte, daß Sie auf meine gutgemeinten Vorschläge eingehen würden … – Nehmen Sie uns nun die Fesseln ab …“

Er tat’s …

Er drückte uns dann wortlos die Hände …

 

5. Kapitel.

Und Harald bückte sich, holte aus dem linken Strumpfe den schwarzen kostbaren Edelstein hervor …

„Hier ist er,“ lächelte er fein. „In Bombay werde ich ihn der Polizei übergeben, denn in Bombay müssen wir den Inder Rami an Land setzen. – Wo befindet sich Rami?“

„Gefesselt in einer Kammer … Soll ich ihn herauslassen, Herr Harst?“

„Nichts übereilen, Pingalli … Wir haben noch mancherlei zu besprechen … Setzen wir uns … – Wieviel Malaien haben Sie an Bord?“

„Drei Mann, die ich hier in einer Hafenspelunke für meine Pläne kaufte …“

„Die Leute kennen Ihren wahren Namen nicht?“

„Nein. Für sie bin ich Jeremias Munzinger.“

„Sehr gut … – Auch Rami soll dann in keiner Weise eingeweiht werden. Ihren künstlich gebleichten Vollbart und die ebenso gebleichte Gelehrtenmähne behalten Sie vorläufig bei. Man wird in Ihnen in dieser Aufmachung niemals einen Mann von dreißig Jahren vermuten. – Wo sind wir jetzt? Bereits im Meerbusen von Bengalen?“

„Ja, Herr Harst. Die „Robbe“ fährt an der Ostküste Vorderindiens entlang nach Süden. Ich wollte nach Ceylon, um dort den Edelstein zu verkaufen. In Kolombo gibt es übergenug chinesische Hehler“

„Dann werden wir noch heute abend die drei Malaien in der Nähe einer Hafenstadt ausbooten und sie ablohnen. Die Leute werde ich bezahlen. Gleichzeitig werde ich Schrauts und mein Gepäck telegraphisch von Kalkutta nach Bombay beordern. – Vor den Malaien und Rami reden wir Sie mit Munzinger an. Den Farbigen erklären Sie, daß Sie sich mit uns in Güte geeinigt hätten … – So, jetzt bringen Sie uns Rami her …“

Der alte brave Inder wußte sich vor Freude kaum zu lassen, als er uns wiedersah … Harst schickte ihn dann in den Turm, damit er das Amt des Steuermannes übernähme. Wir beide frühstückten darauf, legten uns nachher in der großen Kabine zu längerem Schlafe nieder, um auch die letzten Nachwehen der schweren Betäubung zu beseitigen. Um sieben Uhr abends weckte Albert Pingalli uns. Um neun lag die „Robbe“ in einer kleinen Flußmündung unweit des Hafenortes Komarak vor Anker. Harst besorgte die Depesche nach Kalkutta unseres Gepäcks wegen, war um zehn wieder an Bord, zahlte jedem der drei Malaien tausend Rupien aus (wir konnten uns dies leisten, denn Amalgis Vermächtnis hatte uns mit einem Schlage wieder zu Millionären gemacht) und schickte sie an Land. Die „Robbe“ stach wieder in See.

Und dann kam der große Augenblick, wo Pingalli uns beiden in der Kabine beim behaglichen Abendessen mit allen Einzelheiten, die seines Erachtens von einem gewissen Friedrich Robbe begangene Mordtat an dem Wucherer Siegfried Bernstein schilderte.

In flüchtigen Umrissen war uns dieser Kriminalfall bereits bekannt. – Ich gebe ihn hier mit meinen eigenen Worten wieder. –

Zu den Hauptdarstellern der Münchener Filmfabrik Semolka gehörte auch ein gewisser Friedrich Robbe, ein äußerst befähigter, aber ebenso leichtsinniger Mensch, der nicht nur dem Trunke, sondern auch dem Kokaingenuß und dem Spiele ergeben war, so daß seine aus Frau und zwei Kindern bestehende Familie dauernd in größter Not sich befand. Zwischen Albert Pingalli und seinem Kollegen Robbe bestand ein Freundschaftsverhältnis, das hauptsächlich dadurch gestützt wurde, daß Pingalli die junge, vergrämte Frau Alice Robbe aufrichtig bemitleidete und ihr nach besten Kräften Helfer und Tröster war. – Pingalli gab uns gegenüber unumwunden zu, daß er Frau Alice, die aus guter Familie stammte, heimlich schon vor ihrer Heirat geliebt hatte. Robbes Kinder waren zu jener Zeit, wo die nachfolgend aufgeführten Vorkommnisse sich abspielten, ein und zwei Jahre alt.

Im März 1925 erschien Friedrich Robbe eines Morgens in Pingallis Münchener Wohnung, und flehte ihn an, ihm mit zehntausend Mark auszuhelfen, da er in seiner Eigenschaft als Kassierer des Filmschauspieler-Verbandes diese Summe unterschlagen, am Baccarat-Tisch verloren habe, und da jetzt jeden Tag eine Nachprüfung des Kassenstandes zu erwarten sei.

Pingalli machte dem Kollegen sehr ernste Vorstellungen, versprach ihm aber dennoch, das Geld zu beschaffen, da er als solider Künstler überall Kredit hatte.

Doch er täuschte sich. Zehntausend Mark konnte niemand hergeben, und selbst kleinere Beträge waren nicht zu erhalten, da schon damals die allgemeine Geldknappheit sich fühlbar machte.

So sah Pingalli sich denn gezwungen, den Kollegen Robbe zunächst zu vertrösten, begab sich aber noch am Abend desselben Tages zu dem gewerbsmäßigen Geldverleiher Siegfried Bernstein, der in der Sendlinger Vorstadt in einem alten Häuschen ganz allein wohnte.

Bernstein war in Künstlerkreisen ebenso bekannt wie berüchtigt, war der Bankier der leichtlebigen Herrschaften vom Film und Theater, und galt als schwerreich. Zu seinem Schutze hielt er sich zwei deutsche, sehr scharfe Schäferhunde, wußte auch mit Waffen umzugehen und hatte bereits einmal einen Einbrecher niedergeschossen.

Als Pingalli abends neun Uhr an der Gartenpforte Bernsteins läutete, erschien niemand, der ihn einließ, obwohl hinter den eisernen Läden der Vorderfenster Licht schimmerte. Nach mehrmaligem vergeblichen Läuten drückte Pingalli auf den Türgriff der Gitterpforte. Sie war unverschlossen. Er trat ein, schritt auf das Haus zu, läutete auch hier. Dasselbe Spiel: niemand kam, und die Haustür war nur eingeklinkt.

Im Flur fand Pingalli die beiden Hunde tot vor, offenbar vergiftet. Linker Hand aber in Bernsteins Bureau lag der Wucherer mitten im Zimmer, mit eingeschlagenem Schädel. Der Geldschrank stand offen. Davor waren über den Teppich allerlei Papiere verstreut.

Pingalli eilte zur nächsten Polizeiwache, meldete das Geschaute und begleitete auch die Mordkommission nachher zum Tatort, ohne anzugeben, daß er nicht für sich selbst, sondern für Robbe den Wucherer habe in Anspruch nehmen wollen.

Es wurde festgestellt, daß Bernstein ermordet und beraubt war, und daß die Untat erst ganz kurze Zeit vor dem Erscheinen Pingallis begangen sein konnte. Als Täter konnte nur jemand in Betracht kommen, der den Geldverleiher sehr genau kannte.

Noch während der Ermittlungen der Mordkommission an Ort und Stelle bemerkte einer der Kriminalbeamten auf Pingallis Ulster an der linken Seite mehrere noch frische Blutspritzer. Pingalli wußte nicht, wie diese verdächtigen Flecken seinen Ulster beschmutzt haben könnten, wurde erregt, verwickelte sich in Widersprüche, und erkannte sehr bald, daß man ihn fraglos verhaften würde. In seiner Kopflosigkeit entfloh er in einem günstigen Augenblick und … begab sich zu Robbe, den er daheim antraf und dem er sofort den Mord unverblümt vorwarf, da Robbe einen vollständig verstörten Eindruck machte. Robbe spielte den Gekränkten, warf den bisherigen Freund unter groben Beleidigungen hinaus und … leugnete, daß er ihn am Morgen um die zehntausend Mark gebeten habe.

Pingalli, der das schändliche Spiel durchschaute, jedoch einsehen mußte, daß seine Sache sehr schlecht stände, verließ noch in derselben Nacht München zu Fuß, veränderte sein Äußeres und mietete sich zunächst als angeblicher Maler in Tutzing am Starnberger See ein, um hier die Weiterentwicklung der Dinge abzuwarten.

Sehr bald las er in den Zeitungen, daß ein Steckbrief hinter ihm erlassen und daß auf seine Ergreifung eine Belohnung von tausend Mark ausgesetzt sei.

Weiter erfuhr er aber auch, daß Friedrich Robbe gleichfalls entflohen war und in einem Briefe an den Vorstand des Filmschauspieler-Verbandes seine Unterschlagung eingestanden hatte. – Robbes Familie blieb in größtem Elend zurück, und lediglich aus Rücksicht auf Frau Alice und die beiden Kinder nahm Pingalli davon Abstand, die gegen Robbe vorliegenden Verdachtsgründe der Polizei mitzuteilen. Freilich war es ja noch immer ungewiß – und das betonte er auch uns gegenüber –, ob Robbe tatsächlich der Mörder oder nur sonstwie in dieses Verbrechen mit hineinverstrickt war, vielleicht durch Umstände, die ein Fernstehender nicht einmal ahnen konnte.

„Anderseits, meine Herren, spricht wieder sehr vieles dafür, daß mein Kollege mit dem erbeuteten Gelde – und es wird sich um große Summen gehandelt haben – das Weite gesucht hat und nun irgendwo in der Fremde … elend verkommen ist … Denn lange wird er sich das Raubes kaum erfreut haben. Ein so unverbesserlicher Spieler wie er dürfte sicherlich irgendeiner Spielhölle das blutbefleckte Geld in den unersättlichen Rachen geworfen haben, und dann … im Straßengraben verreckt sein – – vielleicht im tiefsten Rausch.“

Unsere „Robbe“ glitt immer weiter gen Süden durch die lange träge Dünung des Bengalischen Meerbusens …

Des anderen Robbe wegen fragte Harald nun nach einer längeren Pause nachdenklichen Schweigens:

„Besitzen Sie jenen braunen Ulster noch, Pingalli?“

„Ja … oder nein … Damals auf meiner Flucht verbarg ich ihn in einem Haufen Felsen nördlich von Tutzing. Vielleicht ist er dort noch zu finden … – Erscheint Ihnen das Kleidungsstück von Bedeutung, Herr Harst?“

„Gewiß … Haben Sie sich noch nie so recht eindringlich überlegt, wie die Blutflecken auf den Ulster gelangt sein können? Haben Sie denn die Leiche Bernsteins berührt oder etwa mit dem Ulster einen blutbespritzten Gegenstand im Zimmer gestreift?“

„Ausgeschlossen … Ich blieb ja in der Flurtür des Bureaus stehen … Ich hätte mich gehütet, das Zimmer zu betreten. – Nein, mir ist es vollkommen unbegreiflich, wie das Blut den rauhen Stoff beschmutzt haben kann …“

„Dann – dann …“ – – Pause … Harald starrte geistesabwesend vor sich hin … „Dann wird es wohl so sein, wie ich denke …“

„Wie, Herr Harst?“

„Später, Pingalli … Ich will mir die Dinge noch mehr durch den Kopf gehen lassen … Jedenfalls: wenn Robbe der Mörder ist, dann ist er ein Schurke, der keine Milde verdient, dann hat er mit klarem Bewußtsein … – aber lassen wir das Thema jetzt … – Schraut, die Zigarren bitte … – Für mich eine Zigarette …“

Nach sechs Tagen waren wir in Bombay. Rami nahm Abschied von uns. Harald zahlte ihm eine Summe aus, die dem alten braven Burschen für den Rest seines Lebens zum Rentner machte.

Dann setzten wir drei mit dem schnellen, kleinen U-Boot die Heimfahrt fort. Am 28. November durchquerten wir den Ärmelkanal, am 30. in aller Frühe kam Helgoland in Sicht …

 

 

Fürst Spinatri

 

1. Kapitel.

Am 30. November 1926 landeten auf Helgoland drei Herren in einem winzigen Zinkboot, in dem außerdem noch zwei Kabinenkoffer verstaut waren. Der Morgen war sehr neblig, wenn auch windstill, und die am Hafen versammelten Fischer und Beamten konnten sich gar nicht genug wundern, woher diese Nußschale von Boot wohl gekommen sein mochte.

Ein Zollbeamter fragte die Herren nach Woher, Wohin und zollpflichtiger Ware, erhielt jedoch nur die Antwort, daß die beiden jüngeren Herren die Berliner Detektive Harst und Schraut seien, und der graubärtige Mann ihr Diener Tobias Munzinger, weiter, daß die Koffer nichts zollpflichtiges bargen.

Die Kunde, daß unter den drei Insassen der Zinknußschale sich Harald Harst befunden habe, verbreitete sich am Hafen mit jener verblüffenden Schnelligkeit, die auf die Neugier, Langeweile und Sensationslust der im Winter zumeist so einsamen Insel zurückzuführen ist.

So kam es, daß ein bereits zur Abfahrt bereiter Regierungsdampfer, dessen Ziel Hamburg sein sollte, noch nicht in See ging, sondern ein jüngerer Herr, der in Haltung und Gesichtsschnitt etwas Militärisches an sich hatte, diesen Dampfer verließ, und eilends sich durch die neugierige Menge drängte …

„Hallo, Harst …!!“ rief er dem Detektiv entgegen, und streckte ihm freudig beide Hände zur Begrüßung hin. „Das nenne ich mal eine Überraschung! Und da ist ja auch mein alter Schraut …! Kinder, wie kommt ihr denn hier nach Helgoland?!“

Der, der uns in dieser herzlichen Weise auf heimischer Erde bewillkommnete, war Kriminalkommissar Fritz Bechert vom Berliner Polizeipräsidium. …

Nichts konnte uns angenehmer sein als dies Zusammentreffen. War uns jetzt doch die Möglichkeit gegeben, Helgoland sofort wieder zu verlassen.

Der Regierungsdampfer trat denn auch nach wenigen Minuten die Rückfahrt nach Hamburg an. – Wir hatten das kleine Zinkboot der „Robbe“ vorher noch einem Fischer zur Aufbewahrung übergeben, und es war nicht weiter wunderbar, daß Freund Bechert jetzt, wo wir in dem behaglich warmen Salon des Dampfers saßen, verschiedene Fragen an uns richtete, deren Beantwortung Harald teilweise höflich ablehnte, teilweise „etwas ungenau“ erledigte.

Bechert hatte auf Helgoland nach einem berüchtigten Berliner Hoteldieb gesucht – ohne Erfolg. Er wollte zunächst von uns wissen, ob wir etwa in dem Zinkkahn von Indien bis Helgoland gepaddelt seien, wie er sich scherzend ausdrückte.

Harald erwiderte, Bechert würde wohl durch die Zeitungen erfahren haben, was sich in Kalkutta ereignet hatte.

„Allerdings,“ nickte der Kommissar. „Ich weiß, daß Sie jener Amalgi kleines U-Boot zur Rückreise benutzten. Was ist also aus der „Robbe“ geworden?“

„Sie existiert nicht mehr, lieber Bechert … Deutsche U-Boote dürfen nicht gebaut werden: Diktat von Versailles!! – Wir haben die „Robbe“ versenkt, um nicht Unannehmlichkeiten zu haben.“

„Hm – sehr schade, anderseits sehr vernünftig. – Wo haben Sie denn Ihren Diener aufgegabelt, diesen Tobias Munzinger, der einen recht guten Eindruck macht?“

„In Bombay … Der arme Teufel war stellungslos …“

Bechert sog nachdenklich an seiner Zigarre …

„Munzinger … Munzinger?“ meinte er grübelnd … Der Name kommt mir so bekannt vor, so …“

„Jener Verbrecher, der uns in Kalkutta betäubte, nannte sich Doktor Jeremias Munzinger … Ein Zufall, daß unser Diener auch Munzinger heißt …“

Bechert warf Harst einen nadelscharfen Blick zu und lächelte diskret …

Er schien an diesen „Zufall“ nicht recht zu glauben, war aber zu höflich, seine Zweifel laut zu äußern. –

Der Steward des Dampfers brachte das Frühstück …

Das Gespräch wandte sich anderen Dingen zu. Bechert erzählte, was sich so während unserer Abwesenheit in Berlin ereignet habe – Kriminelles natürlich … Wenn drei Leute vom Fach zusammensitzen, noch dazu drei so begeisterte, rührige Bekämpfer des Verbrechens, dann ist Fachsimpelei unausbleiblich.

Als Harald jetzt zum Magenbeschluß ein gehöriges Stück Emmentaler zu vertilgen begann, fragte er Freund Bechert:

„Sie haben doch ein verblüffend gutes Gedächtnis auch für weiter zurückliegende Kriminalfälle … Eine Frau Alice Robbe hat da letztens an mich ihres Mannes wegen geschrieben, ohne jedoch ihre Adresse anzugeben. Der Brief war in München abgestempelt worden. Robbe ist geflüchtet, weil er …“

„… zehntausend Mark unterschlagen hat … Der Steckbrief gegen Friedrich Robbe ist unlängst erneuert worden. Daher bin ich im Bilde. Die Frau wohnt jetzt übrigens in Berlin, und wir haben sie auf Ersuchen der Münchener Polizei monatelang überwacht, weil wir erwarteten, Robbe würde sich einmal bei den Seinen einfinden, was jedoch bisher nicht geschehen ist. Nur Geldsendungen erhielt die Frau aus dem Auslande, immer anscheinend von einem anderen Spender. Unsere Schreibsachverständigen haben jedoch festgestellt, daß es sich stets um denselben Absender handelte, der nicht Robbe gewesen sein kann – der Schrift nach …“

Ich dachte sofort an Pingalli …

Und auch Harald vermutete dasselbe, denn er blickte mich in besonderer Art an und dann Bechert:

„Die Frau leidet also keine Not?“

„Doch, lieber Harst, denn sie hat das Geld stets zurückgewiesen … Sie will von ihrem Manne nichts mehr wissen. Sie schlägt sich als Heimarbeiterin kümmerlich durch, wohnt in einer Mietskaserne in der Gartenstraße, Berlin N, und soll von ihrer wohlhabenden Verwandtschaft gänzlich gemieden werden.“

Für uns beide waren Becherts Angaben insofern von großem Wert, als Pingalli uns vollständig verschwiegen hatte, daß er Frau Alice Robbe regelmäßig Geld habe zukommen lassen. Er hatte uns sogar erklärt, daß er ihren jetzigen Aufenthaltsort nicht kenne.

Harst rauchte sich jetzt eine seiner Mirakulum an, lehnte sich im Schiffssessel behaglich zurück und sagte sinnend.

„In München muß damals, als dieser Robbe flüchtig wurde, noch etwas anderes passiert sein … Mein Gedächtnis läßt mich leider in diesem Punkte im Stich …“

„Vielleicht denken Sie an die Ermordung des Wucherers Bernstein durch den Filmschauspieler Pingalli. Dieser und Robbe waren Freunde. Auch der Steckbrief gegen Pingalli läuft natürlich noch. Vielleicht haben Robbe und Pingalli den Wucherer sogar auf gemeinsamem Konto … Die Münchener Kriminalpolizei war damals etwas unvorsichtig. Pingalli war durch Blutspritzer auf seinem Ulster so gut wie überführt, und der Polizeirat hätte ihn auch wohl sofort verhaftet, wenn nicht Pingallis Ruf in München so tadellos gewesen wäre. Man wird, fürchte ich, weder Robbe noch Pingalli jemals wiedersehen, obwohl letzterer einem Milliardär einen unechten Tizian …“

„Schon gut, lieber Bechert … Mich interessiert nur Frau Alice Robbe. Sie flehte mich in dem Briefe so eindringlich an, ihren Mann zu suchen …“

„Zu welchem Zweck?!“

„Sagte sie nicht …“

„Merkwürdig! Sie will von dem Defraudanten doch gar nichts mehr wissen!“

Harald zuckte die Achseln …

„Werden Sie Frau Robbe mal beehren?“ fragte Bechert gleichgültig.

„Vielleicht …“

Und als Harst dieses Vielleicht aussprach, fiel mir etwas auf.

Ich hatte meinen Platz an dem runden Tische so, daß ich die Tür, die vom Salon des Dampfers in einen kleineren Raum führte, gerade vor mir hatte.

Bisher war es mir entgangen, daß diese Tür drei Finger breit aufstand …

Jetzt wurde sie lautlos geschlossen.

Ich überlegte blitzschnell: der Dampfer rollte ziemlich schwer in der hohen Dünung, die vor der Elbmündung stand. Wäre die Tür nicht vom Nebenraum aus festgehalten worden, so hätte sie sich beim Schlingern des Dampfers unbedingt bewegen müssen. Sie hatte sich nicht bewegt, war jetzt sogar ohne jedes Geräusch ins Schloß gedrückt worden. Mithin waren wir drei belauscht worden. Von wem? – Sicherlich von Pingalli, der es vielleicht mit der Angst bekommen hatte, als er am Helgoländer Hafen hörte, daß unser so plötzlich dort aufgetauchter Bekannter ein Berliner Kriminalkommissar war. Fraglos hatte Pingalli sich irgendwie bedroht gefühlt. Ihm war es unter diesen Umständen kaum zu verargen, daß er den Horcher gespielt hatte. –

Eine Stunde später waren wir in Hamburg …

Und dann kam die für uns recht peinliche Überraschung. Kaum hatte der Dampfer angelegt, als unser Diener von Bord … verduftete. Blitzschnell verschwand er … drängte sich in einen Menschenhaufen hinein, der sich um einen soeben verunglückten Stauer versammelt hatte, und ward nicht mehr gesehen.

Bechert lachte ironisch …

„Lieber Harst, wer weiß, was für ein sauberes Pflänzchen Sie in der Person dieses Munzinger nach hier importiert haben! Der Kerl wird vor mir ausgekniffen sein. Er hatte wahrscheinlich ein sehr schlechtes Gewissen …“

Bechert blickte dabei meinen alten Harald wieder merkwürdig forschend an …

Der erwiderte scheinbar ärgerlich: „Sollte mich meine Menschenkenntnis bei diesem Munzinger wirkliche im Stiche gelassen haben?! – Nun, ich werde ihm keine Träne nachweinen.“

Und damit war die Sache erledigt. –

Nachmittags fünf Uhr schloß Harald in der Blücherstraße 10 in Berlin-Schmargendorf sein altes Mütterlein liebevoll in die Arme. Wir waren daheim …

Und nun konnte der … zweite Robbenfang beginnen!

 

2. Kapitel.

Abends gegen zehn Uhr …

In Haralds Arbeitszimmer. – Wir hatten soeben Frau Auguste Harst Gute Nacht gesagt, Harald hatte die Abendzeitungen vorgenommen, rauchte und … gähnte. Ich saß, den Kopfhörer übergestülpt, vor unserem Vierröhrenempfänger und ging nicht auf Robbenfang, sondern vorerst auf Wellenfang, hatte die Tabelle mit den neuen Wellenlängen neben dem Apparat liegen und ärgerte mich, daß man die Station Münster, die bisher so tadellos zu hören gewesen, bis auf Welle 241,9 degradiert hatte.

Wie ich so nach Münster suche und an den Kondensatoren vorsichtig herumdrehe, meldet sich plötzlich Danzig …

Welle 272,7 …, Tagesnachrichten …

Empfang sehr gut … Also lausche ich, was der Freistaat Danzig zu berichten hat …

… Anleihe von 25 Millionen …

Mir gleichgültig.

Spielbank Zoppot: Der italienische Fürst Spinatri hat die Bank abermals um 100 000 Gulden erleichtert … Seinem Glückssträhne hält an. – – Reklame!!, denke ich …

Dann: „Der berühmte Berliner Privatdetektiv Harald Harst …“

Und nun folgt die Meldung von unserer Landung in Helgoland, von der Flucht unseres Dieners … –

Ja, wir sind wirklich berühmte Leute!! Meine Vaterstadt Danzig vergißt auch mich nicht. Auch Max Schraut wird erwähnt. –

Dann: „Obstruktion der Linksparteien im Senat …“

Ich reiße rasch den Hörer vom Schädel …

Um Himmelswillen – nur nicht Politik!!

Und rufe Harst lachend zu: „Du, Danzig verkündet sogar unseres Dieners Flucht und unsere Heimkehr.“

Er blickt gar nicht von der Zeitung auf … Murmelt nur: „Fabelhaft!!“

Ich merke, er hat in der Zeitung etwas Besonderes entdeckt …

„Was ist denn so fabelhaft?“ gestatte ich mir zu fragen.

„Das Spielglück des Fürsten Emanuelo Spinatri, mein Alter …“

Ich lache … „Stimmt! Der Danziger Sender hat soeben wieder gemeldet, daß der Fürst die Zoppoter Bank um neue 100 000 Gulden geschröpft hat …“

„Ja, für manchen Menschen wird die Politik eine frischmelkende Kuh …“

„Für viele, Harald … für viele! Politik ist Geschäft wie jedes andere … Nur daß der Kaufmann leidlich ehrlich ist und der Politiker allemal ein Schwindler, denn macht er die Gegenpartei nicht schlecht, so …“

„Hör’ auf …! – Ganz interessant, was hier in diesem Artikel noch über den letzten Fürsten Spinatri steht … Gegner Mussolinis … Verdacht der Beteiligung an einem Attentat … Flucht über die Alpen … Vermögen konfisziert … In München nachts Überfall auf ihn – natürlich Faschisten … Flieht nach Danzig … Spielt dort in Zoppot nun seit acht Monaten mit wechselndem Glück, immerhin so viel gewonnen, daß ihm aller Luxus möglich … Liebenswürdiger Grandseigneur, bekannteste Zoppoter Spielerfigur … Jetzt in einer Woche eine halbe Million Gulden gewonnen und noch immer Fortunas Günstling … Da das … Vermögen dieses Fürsten lediglich noch aus einem baufälligen Steinkasten von Palast bestand, geht es ihm jetzt pekuniär besser denn je! – Heil Mussolini!!“

Ich hatte für diesen Italiener wenig Interesse, nahm wieder die Hörer über und ging von neuem auf Wellenfang …

Aha … München … Welle 535,7 …!!

Sehr deutlich … Wetterbericht … Dann Tagesneuigkeiten … „Die Königin Maria von Rumänien hat in Amerika für einen Tag Filmmitwirkung 25 000 Dollar erhalten. – Wir gönnen dieser größten Deutschenhetzerin diese Summe von Herzen, denn eine Königin, die sich zu derartigen Geschäften hingibt, hat sich selbst das Urteil gesprochen.“

Hm – der Ansager hatte recht!

Weiter: „Heute vormittag wurde im Isartal bei Hessellohe die Leiche eines Mannes unter Steingeröll gefunden … Da die Verwesung bereits sehr weit vorgeschritten ist und es sich eigentlich nur noch um ein mit Stoffresten bekleidetes Skelett handelt, dürfte die Feststellung der Persönlichkeit des Toten kaum mehr gelingen, obwohl die Polizei sich insofern für diesen Fund außerordentlich interessiert, als hier offenbar Mord vorliegt. Der Tote hat zwei Kopfschüsse erhalten, beide von hinten. Wer über dieses Verbrechen vielleicht irgend etwas anzugeben vermag, melde sich bei …“

Dann machte sich starker Fadingeffekt bemerkbar, und München war abgetan …

Als ich nun seitwärts nach Harald hinblickte, begegnete ich seinen grauen klaren Augen, die starr auf meinen Hörer gerichtet waren …

„Ich habe jedes Wort verstanden,“ sagte er halblaut. „Der Empfang war sehr gut …“

„War! Dann Fadingeffekt und …“

In demselben Moment meldete sich München wieder …

„Meine Damen und Herren, eine kleine Störung am Sender hat Ihnen den Schluß meiner Meldung über den Leichenfund bei Hessellohe entzogen … Ich wiederhole daher: Wer über dieses Verbrechen irgend etwas anzugeben vermag, melde sich bei Kommissar Scharfhauer, Zimmer 45. – Soeben erhalten wir noch die ergänzende Nachricht, daß der Ermordete zweifellos bereits über ein Jahr unter dem Geröll gelegen hat, und daß es sich wahrscheinlich um den wegen Unterschlagung noch heute steckbrieflich verfolgten Filmschauspieler Friedrich Robbe handeln dürfte, da man in den Überresten der Kleidung des Toten eine alte römische durchlochte Münze gefunden hat, die Friedrich Robbe als Amulett trug, wie hier längst bekannt …“

Jetzt starrte ich Harald an …

„Hast du verstanden?“ fragte ich atemlos …

„Jedes Wort. – Ein merkwürdiger Zufall, daß wir durch den Münchener Sender jetzt davor bewahrt werden, uns zwecklos weiter um diesen Robbe zu bemühen. Anderseits hat wieder unser Freund Pingalli, den ich noch immer erwarte, insofern Pech, als nunmehr seine Schuldlosigkeit in Sachen Bernstein kaum mehr zu beweisen sein dürfte …“

München meldete jetzt einen Unfall in den Bergen, und ich nahm daher den Hörer ab …

Die Flurglocke hatte angeschlagen …

Ich eilte hinaus, öffnete …

Vor mir ein schlanker Herr im Sportpelz – schwarzer Spitzbart, Monokel, – sehr vornehm …

„Fürst Spinatri,“ stellte er sich vor …

Ich fiel aus allen Wolken …

 

3. Kapitel.

Emanuelo Spinatri saß uns gegenüber im Klubsessel … Hatte das Glas Rotwein und die Importe mit Dank angenommen …

„Ich bin etwas erschöpft,“ meinte er in leidlich fließendem Deutsch. „Ich habe mir von Danzig bis hierher einen Rumplereindecker geleistet. Drei Stunden Flugzeit, mit Wind im Rücken freilich. Ich wollte Sie eben recht schnell persönlich sprechen, Herr Harst … Daß Sie bereits wieder in Deutschland, wurde durch den Danziger Sender schon um zwei Uhr mittags verbreitet …“

Spinatri machte in der Tat einen recht erschöpften Eindruck … Und doch: er blieb Weltmann, Grandseigneur, – äußerlich eine recht bestechende Persönlichkeit …

Zwanglos saß er da, die Beine leicht übereinandergeschlagen …

„Ich bin bestohlen worden, Herr Harst …,“ fuhr er in demselben kühl-abgeklärten Tone fort. „Ich hatte heute im Zoppoter Kasino in kurzer Zeit abermals 100 000 Gulden gewonnen, und kehrte gegen halb sieben in meine kleine Villa zurück. Meine Brieftasche hatte ich in der Innentasche dieses Sportpelzes stecken. Auf der Diele meiner Villa nahm mir mein Diener, im übrigen ein äußerst zuverlässiger Mensch, den Pelz ab. Ich war in Gedanken, vergaß die Brieftasche herauszunehmen und dachte erst nach etwa fünf Minuten an mein Portefeuille, in dem sich außer der gewonnenen Summe noch weitere 5000 Gulden befanden, leider aber auch gewisse Papiere, deren Wert … hm, ja … deren Wert mehr auf politischem Gebiet liegt. – Meine Brieftasche war inzwischen gestohlen worden … Mein Diener machte mich darauf aufmerksam, daß die Haustür nur angelehnt war. Zweifellos hat sich jemand mit Hilfe eines Dietrichs Zutritt in die Villa verschafft, und …“

Harald unterbrach ihn. „Die wichtigen Papiere, Durchlaucht, beziehen sich wohl auf Ihre Tätigkeit als … Antifaschist?“

„Ja …“

„Und Sie vermuten, daß ein Faschist Sie bestohlen hat?“

„Gewiß …“

„Mithin wäre der Diebstahl ein politischer, Durchlaucht. Mit solchen Dingen befasse ich mich grundsätzlich nicht …“

„Gestatten Sie, Herr Harst: ich vermute ja nur, daß es dem Diebe mehr um die Papiere als um das Geld zu tun war. Die Faschisten haben mich seit anderthalb Jahren in keiner Weise mehr belästigt. Meine Annahme kann daher auch irrig sein. Außerdem, Herr Harst, – dieser Diebstahl hat noch eine besonders mysteriöse Seite …“

Er rauchte drei Züge, schaute auf die Spitzen seiner Lackhalbschuhe, lächelte fein.

„Eine mysteriöse Seite, die Ihnen gefallen dürfte, Herr Harst … Sie sind doch Feinschmecker, was Kriminalprobleme betrifft … Also hören Sie … Der Dieb war ein Mann mit einem Stelzfuß, ein Krüppel. Wir hatten heute in Zoppot Regenwetter. Auf dem Linoleumteppich meiner Diele haben sich die feuchten Spuren des Diebes scharf abgezeichnet, da er sich keine Zeit ließ, den Stiefel und das Stelzbein auf der Türmatte zu säubern …“

Auf Harald machten diese Einzelheiten offenbar sehr wenig Eindruck …

„Ist das alles, Durchlaucht?“ fragte er …

„Nein, Herr Harst, die Hauptsache kommt noch … Als ich hier auf dem Flughafen Tempelhofer Feld gelandet war und draußen ein Auto suchte, bettelte mich ein stelzbeiniger zerlumpter alter Kerl an … Ich warf ihm Geld in die Mütze. Nachher im Auto, das mich hier zu Ihnen brachte, faßte ich in die Tasche meines Pelzes und fand diesen schmierigen Zettel, den mir nur der Bettler zugesteckt haben kann … Bitte …“

Er reicht Harald den Wisch …

Der überfliegt ihn … Liest dann laut vor:

Wenn Sie Ihre Brieftasche mit vollständigem Inhalt wiederhaben wollen, kommen Sie in dieser Nacht punkt ein Uhr an die Nordwestecke des Wilmersdorfer Friedhofs in der Berliner Straße (Fehrbelliner Platz).

Jetzt hat sich Haralds Gesicht auffallend verändert …

Er schaut nach der Standuhr in der Ecke hin … Es ist halb zwölf.

Dann fragt er Spinatri:

„Sind Sie sicher, daß Ihnen niemand hierher gefolgt ist?“

„Ich war sehr vorsichtig, wechselte dreimal das Auto.“

„Gut …! – Dieser mit Bleistift bekritzelte Zettel gibt den Ausschlag … Ich will Ihnen helfen, Durchlaucht. Ich glaube nicht an einen politischen Diebstahl, sondern an ein raffiniertes Erpressermanöver. Der Einbeinige hier vor dem Flughafen muß von einem Komplizen in Zoppot telephonisch von Ihrer Luftreise verständigt worden sein?“

„Allerdings, – ganz meine Ansicht,“ nickte Spinatri. „Ich soll also um ein Uhr an Ort und Stelle sein?“

„Ja …“

„Und Sie beide, meine Herren?“

„Werden schon vorher uns einfinden …“

„Ah – vorzüglich!“ Der Fürst lächelte zufrieden …

„Dann muß ich Sie jetzt bitten, Durchlauft, sich zu verabschieden, da Schraut und ich noch einiges vorzubereiten haben. Schraut wird Sie durch den Garten auf den Feldweg führen und Ihnen über die Richtung Bescheid sagen. – Ihr Auto mit Ihrem Handkoffer haben Sie wohl an einer Straßenecke in der Nähe warten lassen …“

„Auch das stimmt, Herr Harst. – Ich werde im Hotel Wilmersdorf in der Berliner Straße absteigen, wenigstens dort zunächst meinen Koffer abgeben. – Auf Wiedersehen, Herr Harst …“ Er war schon an der Tür, als er sich nochmals umwandte: „Sie beide erscheinen natürlich in Maske, meine Herren?“

„Ja – – als Obdachlose … als Stromer …“ –

Nachdem ich Spinatri auf den Feldweg gebracht hatte und er mir noch kräftig die Hand gedrückt hatte, kehrte ich schleunigst in Haralds Arbeitszimmer zurück. Harst war schon nebenan in unserer Garderobe, hatte alle Lampen eingeschaltet und klebte sich gerade einen struppigen fuchsigen Vollbart an …

„Beeile dich, mein Alter,“ meinte er gutgelaunt. „Diese Geschichte wird interessant …“

Ich selbst war anderer Ansicht, denn mir erschien es sehr fraglich, ob wir die Erpresser wirklich würden abfassen können.

Ich machte denn auch aus meinen Zweifeln weiter kein Hehl … „Die Kerle – es sind ja sicher mehrere – dürften die Nordwestecke des Friedhofs bereits beobachten und Posten aufgestellt haben …“

„Desto schlauer müssen wir eben sein …“ – und er lachte mich in so eigentümlicher Weise an, daß ich stutzig wurde …

„Beeile dich!“ schnitt Harst mir dann jedoch jede weitere Möglichkeit, noch mehr Fragen an ihn zu richten, sehr energisch ab … –

Es war fünf Minuten vor zwölf, als zwei Stromer durch die kalte, regnerische Nacht dem Fehrbelliner Platz zuwanderten.

Zwei Stromer, die es von Blücherstraße 10 bis nach dem Rendezvousplatz nicht weit hatten …

Vor uns tauchte die Kuppel des Krematoriums auf …

Dann noch fünfzig Schritt, und wir waren an Ort und Stelle.

Die Gegend dort ist völlig einsam. Die Villen auf dem Fehrbelliner Platz stehen weit zerstreut, und nachts wagt sich wohl kaum ein Mensch hier bis an die Friedhofsecke.

Eine einsame Laterne beleuchtete die Szenerie mit trübem Licht. Gerade gegenüber der Friedhofsecke an der anderen Straßenseite stand einer der großen fahrbaren Wagen einer Gesellschaft für Straßenbau. Das Pflaster war aufgerissen, und neben dem Wagen waren Kopfsteine aufgeschichtet. An beiden Seiten des Wagens brannten rote Lämpchen als Warnung: Achtung – langsam fahren!

Wir schritten zusammengeduckt, scheinbar müde und frierend dahin … Hände in den Taschen der zerfetzten, schlotternden Hosen … Köpfe gesenkt …

Harst blieb neben dem Wagen stehen, schaute sich mißtrauisch um, meinte dann heiser auflachend:

„Du, Fritze, wat meenst de … Ob wir den Wagen als nächtliche Bleibe benutzen? Wollen sehn, ob wir’n uffbrechen können … Erst aber – – jeder ’n Schluck flissigen Jeist, Fritze …“

Er holte die mit Kognak gefüllte Bierflasche hervor, und trank.

Wer uns beobachtete, mußte schon sehr helle sein, um herauszufinden, daß wir nicht ganz echt waren …

Auch ich trank. Dann mußte ich Schmiere stehen, während Harald an dem Türschloß des Gerätewagens herumfingerte.

Ein leiser Pfiff … Die Tür war offen … Wir schlüpfen hinein …

Tür zu … Ein Streichholz flackert … Da liegen die Geräte der Arbeiter, da liegen auch Säcke und ein großes Stück geteerte Leinwand …

Harsts Zündholz erlischt …

Ist kaum erloschen, als … jemand mich anspringt …

Eiserne Finger umkrallen meinen Hals …

Für Sekunden blitzt der grelle Lichtkegel einer Taschenlampe auf …

Ein Gummiknüttel saust mir über den Schädel … Ich knicke in die Knie … Höre noch Harald keuchend sich verteidigen … Werde bewußtlos …

Letzter Gedanke: Fürst Spinatri war ein Schwindler! Das ganze ein schlau ausgeklügelter Hinterhalt! …

Dann – nichts mehr …

Max Schraut ist erledigt … –

Und ich erwache wieder … Mein Kopf schmerzt … Meine Gehirnteile scheinen wie Fliegen durcheinander zu wirbeln … Unmöglich zunächst, einen klaren Gedanken zu fassen, mir über meine Lage irgendwie Gewißheit zu verschaffen. Erst ganz allmählich legt sich das Sausen in den Ohren, das beängstigende Funkensprühen vor den Augen. – Meine Energie kehrt zurück … Wo bin ich?! Was ist mit mir geschehen?!

Und sozusagen Schritt für Schritt gelange ich zu voller Klarheit. Mein Geruchssinn sagt mir, daß das Harte, Schwere, das mir auf dem Gesicht liegt, geteerte Leinwand sein muß.

Geteerte Leinwand!

Da zerreißt jäh der Vorhang, der mein Gedächtnis bisher wie eine Bühne für mein eigenes Auge verhüllt hat … – Geteerte Leinwand – – das Innere des Gerätewagens – – wir als Stromer verkleidet – – Fürst Spinatri – – der angebliche Diebstahl in Zoppot …

Ich überschaue die Kette von Ereignissen, und auch meine anderen Sinne werden vollends wach … Ich fühle den Knebel im Munde, den Bindfaden im Genick, der diesen Knebel festhält, ich fühle die Fesseln um Hand- und Fußgelenke, spüre die Kälte, die mir Eisesschauer über den Leib jagt … Mein Knochengerüst scheint aus Eisstücken zu bestehen, so tief ist mir die eisige Luft dieser Winternacht bereits in den Körper gedrungen.

Und ich weiß, daß ich noch in dem fahrbaren Gerätewagen auf den leeren Zementsäcken liege – ein Opfer der Heimtücke des Fürsten Spinatri!

Es muß so sein! – Wer mag wohl dieser Mann in Wahrheit gewesen sein, der unter dem Namen des Fürsten uns besuchte, uns belog … uns hierher lockte?!

Mein Hirn arbeitet plötzlich fieberhaft. In meiner Erinnerung taucht mit aller Deutlichkeit die halbe Stunde vor unserem Vierröhrenempfänger auf. Das, was mir die Ätherwellen aus der Ferne von Danzig und München her zutrugen, all das wird zu logischen Schlüssen …

Ein Toter ist in München aufgefunden worden – bei München, im Isartale: Friedrich Robbe – erschossen, sicherlich auch beraubt! Vielleicht beraubt, als er aus München flüchtete – mit der großen Beute seines Verbrechens! Ein Unbekannter schoß ihn nieder, plünderte ihn aus … Vielleicht der wirkliche Fürst Spinatri, der mittellos vor Mussolinis Schergen aus Italien nach München geflüchtet war.

Vielleicht also war jener Mann, der uns als Detektive in Anspruch nahm, doch der echte Fürst: der Mörder eines Mörders! – Wovon sollte Spinatri sonst seine Spielerlaufbahn in Zoppot begonnen haben? Woher hatte er die Mittel, am Roulettetisch den Kampf gegen die Zoppoter Spielbank zu eröffnen?!

Ja – die Zusammenhänge erscheinen mir immer übersichtlicher … Spinatri hört mittags in Zoppot durch Rundfunk, daß wir wieder daheim … Angst packt ihn, wir könnten irgendwie auf ihn, den vom Glück so überaus begünstigten Fremden, aufmerksam werden … Er fürchtet Harsts Genie … Er fürchtet den größten Meister kriminalistischer Erfolge: den Zufall!! Und da will er den Dingen zuvorkommen, will den Angriff nicht abwarten, sondern selbst angreifen! Er wäre ja nicht der erste, der lediglich aus Angst vor einer Einmischung Harsts uns beide zu beseitigen gesucht hätte, ohne daß bereits Gefahranzeichen irgendwelcher Art für ihn bestanden hätten!

So flitzen Gedanken, Kombinationen durch mein infolge des Hiebes überreiztes Hirn …

Andere Gedanken folgen …

Harald – – wo ist Harald?!

Und ich rühre mich, wälze mich hin und her … stoße mit dem Gesicht auf etwas Kaltes, Weiches …

Ein anderes Gesicht?!

Dann – – ist es das eines Toten, unfehlbar!

Und eine Woge von Entsetzen flutet durch meine aufgescheuchte Seele …

Eine Leiche liegt neben mir!!

Harst etwa?! Hat man ihn ermordet?! –

Dieses Gesicht, das ich nicht sehen kann, weil um mich her schwärzeste Finsternis lagert, – dieses Gesicht strahlt einen Strom von Kälte aus …

Einbildung meiner überreizten Nerven natürlich …

Und dennoch spüre ich diesen Kältestrom andauernd. Er dringt da hervor aus der Finsternis wie aus einer unsichtbaren Quelle, umspielt mein Gesicht und dringt zugleich mit meinen hastigen Atemzügen tief in mein Inneres ein.

Aus dem Entsetzen wird Angst … Angst um den Freund!

Wenn man ihn wirklich ermordet hätte …!! Wenn man mich als den Ungefährlicheren am Leben gelassen hätte! Aber – ein Leben ohne Harst – ist das noch ein Leben?!

Verzweiflung packt mich …

Ich will Gewißheit haben, denn soeben ist ein anderer Gedanke in mir aufgezuckt: Kann der Tote nicht vielleicht der Fürst Spinatri sein?! Und – war’s mir nicht vorhin so, wie ich des Toten Wange berührte, als röche ich den feinen Duft von Bartpomade?!

Gewiß, auch Harald trug jetzt in seiner Stromermaske einen Bart. Aber zu einem Stromer hätte keine zarte Pomade gepaßt. Nein – wir rochen sogar echt! Auch das gehört mit zur Verkleidungskunst!

Nach einigem Zaudern schiebe ich meinen auf den muffig riechenden Zementsäcken liegenden Kopf wieder vor.

Da – – der Parfümgeruch …

Und jetzt ganz deutlich, ganz zweifelsfrei: es ist der Italiener! Er war parfümiert … Sein Sportpelz roch nach „Turf“ … Und „Turf“ haben weder Harald noch ich je benutzt!

Wie eine Bergeslast gleitet es mir von der Brust …

Und im selben Moment ein Seufzer hinter mir: das tiefe Atemholen eines aus den finsteren Abgründen der Bewußtlosigkeit wieder in die lichten Höhen bewußten Denkens Zurückkehrenden …

Harst … ist erwacht …

Harald lebt … liegt hinter mir … regt sich …

Ich will mich melden … Will mich bewegen …

Geräusche dringen an mein Ohr … Der Wagen schwankt leicht … Man reißt die geteerte Leinwand weg …Trübe Dämmerung eines unfreundlichen Morgens fällt durchs die offene Wagentür … Die Umrisse einer menschlichen Gestalt hoben sich gegen dieses hellere Viereck ab … Eine Stimme flüstert …:

„Jetzt sind sie verschwunden … Jetzt erst kann ich Sie befreien …“

Diese Stimme kenne ich … Es ist Albert Pingalli, der steckbrieflich verfolgte Mörder des Wucherers Bernstein – es ist unser in Hamburg geflüchteter Diener „Tobias Munzinger“ …!

 

4. Kapitel.

Am 2. Dezember mittags entsteigen dem Vorortzuge Danzig-Zoppot drei Herren, die jeder einen eleganten Handkoffer tragen und deren ganzes Äußere ebenfalls die reichen Ausländer verrät, die einmal im Zoppoter Kasino ihr Glück versuchen wollen.

Vor dem kleinen Bahnhof, der so wenig zum Bilde eines internationalen Bades paßt, übergeben sie ihre Koffer einem der Hausdiener des Kurhauses und schlendern dann gemächlich die Seestraße hinab.

Der leicht bewölkte Himmel und die zuweilen durch die Wolkenschichten hindurchlugende Sonne verleihen dieser Hauptverkehrsstraße selbst zu dieser unfreundlichen Jahreszeit etwas, das an warme Sommertage, an leicht gekleidete Frauen, an fröhliche Kinder und an all die Freuden und Schönheiten des Badelebens gemahnt. Da sind Schaufenster, in denen geschmackvolle Badeanzüge, Badekappen, Bastschuhe und anderes den Sommer zu erwarten scheint …

Die drei Herren schreiten stumm nebeneinander her … Der Verkehr ist lebhaft … Auf dem breiten Promenadenwege zeigen sich die Rassenmerkmale vieler Völker des Erdenrundes: blonde Schweden, hagere Dänen, breitschultrige Finnländer, nervöse Polen, schwerblütige Litauer, hochmütig-kühl blickende Engländer … Zwischenein die Zwerggestalten von Japanern und Chinesen, stets etwas Scheues im Wesen … Dann wieder ein paar geckenhaft herausgeputzte Neger, Vertreter irgendeiner der schwarzen Scheinkultur-Republiken …

Die drei Herren sehen alles … Zwei von ihnen haben sich längst daran gewöhnt, die Umwelt rasch mit kritischen Augen in all ihren Einzelheiten zu erfassen. Der dritte ist durch die Not dazu getrieben worden, ebenfalls jeden Moment gleichsam auf der Lauer zu liegen. Dieser dritte ist Albert Pingalli, die beiden anderen Harald und ich.

Im Kurhause sind die für uns von Hamburg aus telegraphisch bestellten Zimmer bereit: ein gemeinsamer Salon, zwei Schlafräume mit Bad, Aussicht auf den Seesteg und die Danziger Bucht. – Unsere Masken entsprechen durchaus dem, was wir vorstellen wollen: reiche Deutschbrasilianer, Plantagenbesitzer, die im leichtlebigen Zoppot ihr Geld im Spielkasino loswerden möchten. –

Wir lassen uns das Mittagsmahl um halb drei in unserem Salon servieren, nachdem wir gebadet, geduscht, uns rasiert und … die Bärte wieder vorgeklebt haben.

Der Etagenkellner bringt auch die neuesten Zeitungen … Kaum haben wir die Suppe ausgelöffelt, als jeder von uns nach einer Berliner Zeitung greift, als jeder denselben Artikel sucht – den über die Ermordung des Fürsten Emanuelo Spinatri.

Ich lese, während der Ober das Zwischengericht serviert …

Ein politischer Mord?!

Gestern früh fanden Arbeiter, die mit Ausbesserungsarbeiten in der Berliner Straße in Wilmersdorf beschäftigt sind, in ihrem Gerätewagen die Leiche eines elegant gekleideten Herrn, die drei Stiche in der Herzgegend aufwies. Die Mordkommission stellte fest, daß der Tote vollkommen ausgeplündert war, konnte aber doch in kurzem ermitteln, daß der Ermordete der italienische Fürst Emanuelo Spinatri sei, der noch vor anderthalb Jahren als einer der Hauptgegner Mussolinis galt, dann aber, wie wir unlängst berichteten, in den leichtlebigen Gefilden des Spielerparadieses Zoppot zum gewerbsmäßigen Hasardeur herabgesunken war. – Ob man es hier mit einem politischen Mord zu tun hat, läßt sich vorläufig nicht entscheiden. – Der bejahrte Diener des Toten, der mit seinem Herrn zusammen in Zoppot eine kleine Villa unweit des bekannten Restaurants Talmühle am Waldrande bewohnte, ist gestern sofort auf Ersuchen unserer Kriminalpolizei vernommen worden, und hat angegeben, der Fürst sei am 30. November abends gegen sieben Uhr bestohlen worden und hat sich im Flugzeug sogleich nach Berlin begeben, um dort die Hilfe des Privatdetektivs Harst in Anspruch zu nehmen, da die ihm gestohlene Brieftasche politische Papiere mit enthalten hätte, auf deren Rückgewinnung es dem Fürsten besonders angekommen sei. – Eine Anfrage bei dem Detektiv Harst ergab, daß dieser sowie sein Freund und ständiger Begleiter Schraut nach Aussage von Harsts Mutter und Köchin an demselben Abend ihr Heim mit unbekanntem Ziel verlassen hätten, an dem Spinatri in Berlin mit einem Flugzeug eingetroffen war. Die beiden Detektive sind bisher nicht aufzufinden gewesen, und man muß mit der Möglichkeit rechnen, daß auch sie beseitigt worden sind, da unsere rührige Kriminalpolizei drei Chauffeure ermittelt hat, von denen der eine den Fürsten bis in die Nähe der Blücherstraße in Schmargendorf gebracht hat. Man kann also annehmen, daß Spinatri tatsächlich bei Harst gewesen ist, und daß das spurlose Verschwinden der beiden Detektive mit dem Tode des Italieners in engstem Zusammenhang steht. Hat die Kriminalpolizei doch in jenem Gerätewagen verschiedene Anzeichen dafür gefunden, daß dort ein kurzer Kampf zweier Männer mit zwei Angreifern sich abgespielt haben muß. Auf Einzelheiten über diesen Punkt dürfen wir im Interesse der weiteren Untersuchung des geheimnisvollen Verbrechens vorläufig nicht eingehen. Jedenfalls ist Spinatri nicht im Wagen, sondern an der nahen Kirchhofsecke niedergestochen worden. Fraglos wird es unserer Kriminalpolizei, die anerkanntermaßen die beste aller Weltstädte ist, in kurzem gelingen, auch dieses dunkle Rätsel restlos zu lösen.“

So die Zeitung …

Nun, Harst und Schraut und ein zu unrecht steckbrieflich verfolgter Mörder hätten diesen knappen Bericht in vielem gründlich ergänzen können.

Für den Leser will ich dies der besseren Übersicht halber jetzt schon tun … Ein Zufall hatte Pingalli, der ja aus Angst vor Freund Bechert in Hamburg das Weite gesucht hatte, gerade zu derselben Zeit an die Rückseite unseres Gemüsegartens geführt (er hatte sich von dort heimlich zu uns schleichen wollen), als wir in der Stromermaske uns über den Zaun schwangen und eilends davonschritten. Da Pingalli nicht recht wußte, wen er vor sich habe, war er uns unbemerkt gefolgt, hatte nachher die Friedhofsmauer überstiegen und von einem Baume aus weiter beobachtet. Er sah, daß wir in den Gerätewagen eindrangen, sah sehr bald zwei andere Männer den Wagen verlassen und genau wie er vorhin über die Kirchhofsmauer klettern. Nach einer Stunde erschien dann der Fürst an derselben Stelle der Straße und ging ein paarmal wartend auf und ab. Als der Italiener darauf an der Mauerecke unter Wind sich eine Zigarette anzündete, sprang der eine der beiden Männer, die uns Pingalli als gut gekleidet und dunkelbärtig beschrieb, von der Mauerkrone herab und stieß den Fürsten nieder, indem er ihm gleichzeitig mit der Linken die Kehle zudrückte. Sein Komplize half ihm darauf, den Toten in den Gerätewagen tragen. – Pingalli, der keinerlei Waffe bei sich hatte, war vor Entsetzen wie gelähmt, wagte sich auch nicht von der alten Linde, in deren unteren Ästen er hockte, herab, da die beiden Mörder sofort wieder auf der Straße erschienen und sich in den Schatten der Mauer stellten, wo sie erregt, aber leise miteinander stritten. Einige Worte fing Pingalli dennoch auf und merkte, daß der eine durchaus auch die beiden Gefangenen kalt machen wollte, während der andere dies zu verhindern trachtete. Derjenige, der noch zwei weitere Menschen hinzuschlachten beabsichtigte, wich nicht vom Platze. Der andere blieb gleichfalls, damit sein Genosse nicht zum dreifachen Mörder würde. Erst als der Morgen zu grauen begann und die ersten Fußgänger sich auf der bisher völlig einsamen Straße zeigten, entfernten sich die beiden, so daß der vor Kälte halb erstarrte Pingalli nunmehr vom Baume herabklettern und uns befreien konnte. – Harald hatte sodann erklärt, wir drei müßten vorläufig verschwinden. Da die beiden Mörder uns nicht ausgeplündert hatten, verfügte Harst über genügend Geld, um uns die Reise nach Hamburg zu ermöglichen, wo wir uns in die brasilianischen Pflanzer verwandelten und wo Harst zu unserem Erstaunen in Zoppot telegraphisch die Kurhauszimmer bestellte, nachdem er sich von einem Bekannten, auf dessen Verschwiegenheit er rechnen konnte, eine größere Geldsumme geliehen hatte. Unser Aufenthalt in Hamburg dauerte nur drei Stunden. Dann fuhren wir über Stettin, wohlversorgt mit falschen Papieren, gen Osten – nach Zoppot. –

Im Zuge hatte ich Harald (um auch dies hier gleich anzuführen) meine Theorie über Spinatri, den Mörder Robbes, wortreich und in meines Erachtens glänzender Beweisführung entwickelt.

Und er – – hatte kein Wort dazu gesagt, hatte nur leicht die Achseln gezuckt und … war in seiner Polsterecke eingeschlafen. Worauf Pingalli und ich diese meine Theorie leise weiter erörtern und zu der Überzeugung kamen, daß sie … gänzlich verfehlt angesichts der Tatsache, war, daß der Fürst Harald und mich in keiner Weise belogen habe und dann selbst das Opfer zweier Leute geworden, die fließend deutsch gesprochen hatten, wie Pingalli versichern konnte. Von einem politischen Morde konnte also, was den Tod des Fürsten betraf, keine Rede sein, erst recht nicht davon, daß Spinatri uns in einen Hinterhalt hatte locken wollen.

Pingalli und ich langten also in Zoppot an, ohne recht zu wissen, auf wen es Harald hier abgesehen hatte. Denn daß des Fürsten Diener Thomas Luckward, ein Mann Ende der Fünfziger, mit völlig einwandfreier Vergangenheit, wie die Zoppoter Kriminalpolizei längst einwandfrei festgestellt hatte, zu der Ermordung des Italieners in keinerlei Beziehungen stehen konnte, und mithin auch nichts mit dem Diebstahl zu tun hatte, war genau so klar wie die andere für Pingalli bedauerliche Tatsache, daß dessen Angelegenheit, seine Rehabilitierung, jetzt durch die Ermordung Spinatris vollkommen in den Hintergrund gedrängt war. –

Wir drei waren jetzt beim Nachtisch angelangt.

Harst, schweigsam und versonnen wie bisher, sagte ganz unvermittelt:

„Es brannte also in dem Zimmer, besser in dem Bureau Bernsteins Licht, lieber Pingalli?“

Pingalli hob erstaunt den Kopf. „Ja, gewiß … Wie im Flur …“

Merkwürdigerweise schienen Haralds Gedanken also in München geweilt zu haben … Er fragte weiter: „Das Bureau lag rechter Hand vom Flur? Wohl gleich die erste Tür? Standen Schränke im Flur …?“

Pingalli dachte nach, meinte dann: „Ja – auch dies alles stimmt … – Wie kommt es, Herr Harst, daß Sie jetzt von dem Fall Spinatri wieder zur Erörterung meiner Sache übergehen?“

„Ich denke an die Sie so schwer belastenden Blutflecke, Blutspritzer an der linken Seite Ihres Ulsters … – War Friedrich Robbe vielleicht auch Morphinist? – Daß er Kokain schnupfte, erwähnten Sie ja.“

Pingalli nickte. „Allerdings, wenn er gerade kein Kokain zur Verfügung hatte, spritzte er Morphium. Seine Nerven waren vollkommen erschlafft. Er brauchte dauernd ein Stimulans, ein Anregemittel schärfster Art sogar …“

Haralds schmales, geistvolles Gesicht überlief ein schwaches, zufriedenes Lächeln … Dann griff er in die Tasche und entnahm einem schwarzen Pappschächtelchen eine … Morphiumspritze, strich mit dem Zeigefinger wie streichelnd darüber hin und fuhr in seinem Verhör fort:

„Pingalli, die beiden Mörder des Fürsten stritten im Schatten der Mauer miteinander … Kam Ihnen eine der Stimmen nicht bekannt vor?“

Unser Schützling Pingalli stutzte jetzt …

Seine Hände krampften in jäh aufsteigender Erregung die Zeitung zusammen …

„… Bekannt vor?“ wiederholte er stockend … „Nein … nein, – die beiden dämpften ja ihre Stimmen … Es war ein heiseres Flüstern …“ – Er schloß halb die Augen, schien scharf nachzudenken und sich alle Einzelheiten der damaligen nächtlichen Szene ins Gedächtnis zurückzurufen … Mit einem tiefen Atemzuge fügte er schließlich hinzu: „Und doch, – jetzt, wo Sie so vorsichtig auf Robbe hinweisen, verehrter Harst, jetzt möchte ich fast behaupten, der eine der Männer könnte Robbe gewesen sein, der größere, der so sehr für Ihre und Schrauts Beseitigung war … – Ja, je nachdrücklicher ich nun die Stimmen und die Gestalten mir wieder in der Erinnerung lebendig mache, desto … …“

Harst unterbrach ihn … „Diese Morphiumspritze in diesem mit Leder beklebtem, sehr abgenutzten Schächtelchen hat der Mann verloren, der mir in dem Gerätewagen so unversehens an den Hals sprang und auch sofort zuschlug … Trotz der halben Betäubung rang ich mit dem Menschen, riß ihm wohl die Weste halb vom Leibe, bis er Gelegenheit hatte, einen zweiten Hieb anzubringen … Nur ihm kann dies Schächtelchen entfallen sein. Als Sie uns befreit hatten, fand ich es unter den Säcken und steckte es heimlich zu mir. – Bitte – hier auf die Innenseite des Deckels ist wie üblich ein kleines Firmenschild aufgeklebt …

Albinger u. Comp.

Fabrik für mediz. Instrumente
München,
Am Sendlinger Tor.

München, mein lieber Pingalli!! Und Robbe spritzte Morphium, und der eine der beiden kann Robbe gewesen sein, wie Sie jetzt zugeben …“

Pingalli war hochgeschnellt …

„Vermuten Sie, daß … daß … Robbe hier nach Zoppot geflüchtet ist, Harst?“

„Geflüchtet?! – Nein … Die Bezeichnung paßt nicht … Ich weiß nur, daß zehn Minuten, bevor Spinatri vom Danziger Flugplatz mit einem Rumpler gen Berlin aufbrach, ein anderer Herr gleichfalls sich das kostspielige Vergnügen leistete, einen Doppeldecker in Danzig zu nehmen und nach Berlin zu fliegen … ein Regierungsrat a. D. Hermann Gregori …“

„Woher wissen Sie das?“

„Ich habe von Hamburg aus den Flugplatz Tempelhof telephonisch angefragt … Gregori traf, da der Doppeldecker weit schneller war, eine halbe Stunde vor Spinatri ein … Und dann … habe ich die Münchener Polizeidirektion noch angerufen, ob in München vielleicht im Frühjahr 1925 ein Regierungsrat Gregori verschwunden sei. Antwort: „Ja – ein Junggeselle, der im Isartal ein Häuschen bewohnte, ein menschenscheuer Sonderling.“ – Das genügte mir im Verein mit dem, was der Rundfunk über den Leichenfund unweit Hessellohe verbreitet hat …“

Pingalli und ich vermochten jetzt in gleicher Weise keinem Silbe hervorzubringen … Pingalli fuhr sich mit der Hand mehrmals über die Stirn hin, als müßte er erst Ordnung in seine Gedanken bringen. Ich war schneller im Bilde, meinte nach kurzer, fast weihevoller Pause:

„Robbe hat den Regierungsrat ermordet, hat ihm seinem Amulettmünze umgehängt … Robbe wollte für die Welt tot sein, rechnete damit, daß die Leiche erst in vorgeschrittenem Stadium der Verwesung, also unkenntlich, aufgefunden werden würde, und lebt nun hier in Zoppot als Gregori mit des Ermordeten Papieren, spielt hier, kannte den Fürsten, und …“

„Stopp, mein Alter! Deine Phantasie beginnt zu galoppieren …! Stopp!! – Gregori kann Robbe sein – – kann … – Alles weitere werden wir nun feststellen … – Gehen wir spazieren …“

Pingalli und ich waren im Gegensatz zu Harald derart aufgeregt, daß wir am liebsten über Harald noch mit einer Unmenge Fragen hergefallen wären. Wir kannten ihn jedoch. Wenn er nicht reden will, bringt ihn nichts zum Sprechen. Und seine abgeklärte Gelassenheit übertrug sich denn auch allmählich auf uns beide, als wir die Seestraße emporschritten und links in die Südstraße einbogen. Harald wollte zum Einwohnermeldeamt. – Wir brauchten nur fünf Minuten zu warten. Dann war er wieder bei uns, sagte halblaut: „Hermann Gregori, Regierungsrat a. D., wohnt seit sechs Monaten hier in der Schefflerstraße im Pensionat Ginz – unweit der kleinen Villa des Fürsten …“

„Dann – ist es Robbe!“ platzte Pingalli schrill heraus. „Herr im Himmel, – – endlich wird meine Unschuld an den Tag kommen!“

„Ruhe … Ruhe …!! – Trennen wir uns jetzt … Wir gehen mit dreißig Schritt Abstand – erst zur Schefflerstraße … Drei einzelne Herren fallen weniger auf …“

 

5. Kapitel.

Es war inzwischen dunkel geworden. Vom Meere her fegte ein eisiger Nordost durch die entlaubten Kronen der alten Parkbäume, die der gartenreichen Schefflerstraße im Sommer Schatten spenden.

Der praktische, unschöne Bau des Pensionats Ginz lag am Ende der Schefflerstraße – dort, wo der bekannte Jähnkesche Park beginnt.

Wir drei in gleichen Abständen schlenderten an dem Pensionat vorüber. Gerade, als ich an der Gitterpforte vorbeikam, verließ ein blondbärtiger, schlanker Herr mit Hornbrille das Haus und bog links ab, wo man am Eisenbahndamm entlang ebenfalls zum Restaurant Talmühle und weiterhin zu den dort in der Nähe neu entstandenen Villen gelangen kann. – Dieser Herr wäre mir wohl kaum aufgefallen, wenn mich nicht sein blasses, faltiges Gesicht, seine schlaffe Haltung und sein unsicherer Gang aufmerksam gemacht hätten – alles Merkmale der Morphiumsucht im letzten Stadium.

Ein Gedanke fuhr mir jäh durchs Hirn: „etwa Robbe – Gregori?!“

Trotzdem schritt ich weiter. Ich war ja der letzte von uns dreien und Harst ganz vorn … Außerdem würde Gregori uns auch so nicht entgehen.

Harst bog rechts ab. Hier führt der Weg steil zum Unterdorf hinab, dann am Fuße des langen Höhenrückens weiter bis Stolzenfels … – Ich beschleunige meine Stritte, holte Pingalli ein, teilte ihm mit, daß ich Robbe gesehen zu haben glaubte … – Pingalli meinte ernst: „Er muß sich sehr verändert haben … Er war früher trotz seines wüsten Lebens recht korpulent … Ich glaube kaum, daß ich ihn auf den ersten Blick wiedererkennen würde … Damals in Berlin am Kirchhofe war er ja fraglos maskiert …“

Harald hatte sich umgedreht und war stehengeblieben. Wir näherten uns ihm …

„Was gibt’s?“ fragte er etwas gereizt. „Ihr solltet doch …“

„Schraut meint, Robbe hat soeben das Pensionat Ginz verlassen …,“ erklärte Pingalli überstürzt …

Harst ließ sich den Herrn von mir beschreiben … nickte … „Vielleicht können wir die Gesellschaft jetzt sofort überraschen … – Du weißt bestimmt, mein Alter, daß der Weg am Bahndamm zu den Villen führt?“

„Ich bin geborener Danziger, Harald, und Zoppot kenne ich ebenfalls wie meine Westentasche …“

„Gut – dann zur Villa Spinatri … Geh du jetzt voran.“

Ich wußte Bescheid. Eine breite Treppe mit Holzstufen lief im Zickzack den ziemlich steilen Abhang hinan … Ringsum Bäume, Büsche … Alles kahl … Je höher wir kamen, desto stärker machte sich wieder der Wind bemerkbar … Kiefern, Erlen, Buchen bogen sich unter den Sturmstößen, ächzten und stöhnten … Trockene Zweige prasselten herab …

Dann der Promenadenweg dicht am Rande des Abhangs … Zäune aus Eisen, Holz, Drahtgeflecht … Villen dahinter, halb versteckt in schmalen, tiefen Gärten … Erleuchtete Fenster schimmern durch das frühe Dezemberdunkel. Von rechts her braust die Brandung nicht allzu fern …

Die nervöse Unrast in mir, Jagdfieber, nimmt zu …

Harst hat soeben gesagt: „… können sofort die Gesellschaft überraschen …“ – Gesellschaft?! Glaubt er, daß noch mehr als nur zwei Leute an dem Spinatri-Mord beteiligt sind?!

Wer noch außer Robbe und dessen Helfer in Berlin – wer?! – Und meine Gedanken umspielen abermals die Person des fast sechzigjährigen, angeblich so braven Dieners Thomas Luckward …

Dann sehe ich links eine kleine Blockhausvilla, einen sogenannten Knüttelzaun davor, etwas ärmlich …

Hier auf dem Promenadenwege brennt nur alle fünfzig Meter eine einsame Laterne, kämpft mit ihren rötlichen Lichtstrahlen aussichtslos gegen die Finsternis, da die Scheiben der Laternen verstaubt, verschmutzt sind. Im Winter verirrt sich nach Dunkelwerden niemand hierher, und die Anwohner kennen den Weg.

Ich beuge mich zu der Pforte des Knüttelzaunes hinab … Will das Türschild am Briefkasten lesen. – Es ist jedoch zu dunkel hier. Daher nehme ich die Taschenlampe, bedecke die Linse mit den Fingern und lasse nur einen winzigen Strahl auf das Messingschild fallen …

„Spinatri“.

Es ist des Ermordeten Heim.

Harst und Pingalli kommen näher … „Am Ziel,“ flüstere ich und deute auf das Messingschild. „Nur Spinatri steht darauf …“

„Nicht mehr lange, – dann hätte Luckward darauf gestanden,“ erklärt Harald in merkwürdig unerbittlichem, hartem Tone. „Der Beamte im Meldeamt wußte mir vorhin zu berichten, daß der Fürst seinem treuen Diener mangels anderer Erben all sein Hab und Gut vermacht hat …“ – Und zu mir, ohne jeden Übergang: „Ob Robbe schon hier sein kann? Ist der andere Weg kürzer?“

„Bedeutend. Man gelangt dort an die Rückseite der Villengärten …“

Harst schaut durch die kahlen Büsche nach dem Blockhaus hin … Dunkel liegt die kleine, im Schweizerstil gebaute Villa da …

Dunkel?! – Doch nicht! Jetzt flammt in dem Zimmer hinter der großen Glasveranda Licht auf … Und auf den geschlossenen Vorhängen gleiten Schatten hin und her … Verschwinden wieder, – als ob mehrere in jenem Zimmer befindliche Personen sich an einem Tische niedergelassen hätten.

Harald klettert mit einem Male, ohne vorher uns irgendwie Verhaltungsmaßregeln zu geben, über den Zaun. Pingalli, der doch als Filmschauspieler so oft Hochstapler, Einbrecher und ähnliches gemimt hat, beweist hier, daß Theorie und Praxis meilenweit auseinanderliegen. Er zittert vor Aufregung, und seine Zähne sind klappernde Kastagnetten geworden. Ich muß ihn über den Zaun helfen. Jetzt, wo doch offenbar die Entscheidung naht, versagt er gänzlich. Inzwischen hat Harald sich bereits bis an die kleine Villa herangepirscht, und als wir uns dem Hause nähern, ist er bereits an dem einen Pfeiler, der die Veranda stützt, bis zur Hälfte emporgeklommen.

Freund Pingalli raunt mir stotternd zu: „Dort komme ich niemals nach oben, Schraut! Sie …“

„Unsinn – zusammenreißen!! In drei Teufels Namen, Mann, hier geht’s doch um Ihre Ehre!!“

Das hilft … Und mit meiner und Haralds Unterstützung hissen wir ihn denn auch geräuschlos nach oben. Ich folge. – Die Veranda ist nur an den Seiten verglast, vorn offen. Die Glastür und das Fenster, vor der die Veranda sich hinzieht, haben Vorhänge von gelbem Satin. Es ist unmöglich, einen Blick in das Zimmer zu werfen, auch ebenso unmöglich, irgendwie ohne Lärm einzudringen. – Wir drei stehen vor der Glastür, lauschen, hören sprechen …

Harst flüstert schnell: „Wartet hier! Und wenn ich drinnen pfeife, schlagt ihr die Fenster ein …“

Er verschwindet … – Pingalli lehnt sich gegen die Mauer … Der Lichtschein trifft sein Gesicht … Es sieht ganz verfallen aus …

Wir warten … – Daß Harald unbemerkt sich Zutritt zu der Villa verschaffen wird, bezweifle ich keinen Moment.

Es sind dann auch kaum fünf Minuten verstrichen, als die Stimmen im Zimmer urplötzlich verstummen …

Ich spitze die Ohren … Da – Haralds Organ:

„Guten Abend, meine Herren … Die Luft ist hier sehr schlecht … Ich will die Verandatür öffnen …“ – Ein Schatten gleitet über die Vorhänge … Die Doppeltür geht auf … Und Harst, die Clementpistole in der Rechten, ruft den drei am Sofatisch Sitzenden zu: „Behalten Sie gefälligst Platz … Wer eine verdächtige Bewegung macht, erhält eine Kugel! Mein Name ist … Harald Harst!!“

Pingalli und ich treten ein. Ich drücke die Doppeltür zu, wende mich um, überfliege mit prüfendem Blick die drei Leute dort … Sie sitzen da, als ob der Tag des Jüngsten Gerichts angebrochen sei … in sich zusammengesunken, geradezu blöde uns anstierend … Der Jämmerlichste der drei ist Friedrich Robbe, der falsche Herr Regierungsrat … Er ist einer Ohnmacht nahe …

„Wir wollen die Sache kurz erledigen,“ beginnt Harald in recht scharfem Ton. „Sie, Thomas Luckward, sind der Stiefvater der Brüder Friedrich und Ernst Robbe und als solcher wohl nur von Ihren moralisch so tief gesunkenen Stiefsöhnen verführt worden, denn die von mir aus München erhaltene Auskunft über Ihr Vorleben war tadellos …“

Pingalli kann sich nicht mehr auf den Füßen halten, sinkt in den nächsten Stuhl, stößt anklagend hervor – kaum fähig zum Sprechen: „Robbe, du … du hast … mein … Leben mir verpfuscht – – du hast …“

Harst fällt ihm ins Wort … „Er wird seiner Strafe nicht entgehen, Pingalli … Er war’s, der Ihnen im Flur der Wohnung Bernsteins mit der Morphiumspritze hinter dem nächsten Schranke hervor das Blut des soeben von ihm Ermordeten in teuflischer Schlauheit auf den Ulster spritzte. Er sah Sie kommen. Er befand sich noch am Tatort, fand noch Zeit, die Spritze mit Blut zu füllen …“ – Harald holt das Kästchen hervor, streckt es Friedrich Robbe entgegen … „Da – es ist noch dieselbe Spritze! Sie verloren sie in dem Gerätewagen, Herr Regierungsrat Gregori!! Im Seidenfutter des Kästchens sind noch braune Flecken, Bernsteins Blut! Und – – Gregori haben Sie ebenfalls auf dem Gewissen, ebenso den Fürsten Spinatri, den Sie im Einverständnis mit Ihrem Stiefvater erdolchten, wobei Ihr Bruder Ihnen half …“

Friedrich Robbe ist halbe Leiche … Auf seiner Stirn, auf seinen welken Wangen stehen dicke Schweißtropfen …

Unbarmherzig fährt Harald fort: „Sie aber, Thomas Luckward, stahlen die Brieftasche des Fürsten … Sie haben den Stelzfuß gespielt, Sie haben Spinatri geraten, sich an mich zu wenden, denn der Fürst sollte in Berlin ermordet werden, damit keinerlei Verdacht auf Sie fiele, etwa der Erbschaft wegen, bei diesem Verbrechen mitgewirkt zu haben. Sie haben Ihren Stiefsohn Friedrich Robbe telephonisch davon verständigt, daß Spinatri Ihren Rat befolgen würde … Und Friedrich Robbe war vor dem Fürsten in Berlin, maskierte sich bei seinem Bruder Ernst als einbeiniger Bettler, steckte ihm den Zettel zu, der den Fürsten und uns beide, Schraut und mich, Ihnen in die Hände spielen sollte! In der Tat ein höllisches Spiel!! Nur ein Fehler bei alledem: Sie hätten dieses Kästchen daheim lassen sollen!! – Wollen Sie gestehen?“

Die drei Sünder rührten sich nicht …

Bis Ernst Robbe dann wimmernd schluchzte:

„Herr Harst, Friedrich war unser böser Geist – – nur er!! Wir … wir sind eben schwach gewesen … Der Fürst besaß über eine halbe Million, und ebenso viel hoffte Friedrich für die politischen Dokumente von den Faschisten zu erhalten …“ –

Harst läutete dann das Zoppoter Polizeiamt an. Beamte führten die drei Verbrecher ab. Friedrich Robbes durch Morphium und Kokain untergrabene Gesundheit bewahrte ihn vor dem Schafott[2]. Er starb drei Tage später an Herzschwäche.

Daß Albert Pingalli später Alice Robbe geheiratet hat und heute wieder einer der beliebtesten Münchener Filmkünstler ist, dürfte den Leser gleichfalls interessieren, ebenso daß Luckward und Ernst Robbe mit längeren Gefängnisstrafen davonkamen und des Fürsten Erbe an ganz entfernte arme Verwandte in Genua fiel.

Noch eins zum Schluß: Aus Rücksicht auf Pingalli habe ich hier die Namen der Beteiligten ein wenig verändert. Wer aber in Münchener Künstlerkreisen verkehrt, weiß genau, wie der Name Pingalli umzustellen ist, damit der wirkliche herauskommt. – Im übrigen brauche ich nichts mehr hinzuzufügen. Harsts glänzende Kombinationen, von dem Kästchen der Morphiumspritze ausgehend und allmählich die Schuldigen wie in ein festes Netz einspinnend, wurden wirksam unterstützt durch unseren Vierröhrenempfänger. Das, was ich beim Wellenfang damals abends abhörte, wurde wichtige Hilfsarbeit beim … Robbenfang …! –

Hiermit verabschiede ich mich für heute von dem freundlichen Leser …

Auf … Wiederhören im nächsten Band!

 

Nächster Band:

Das Urwaldrätsel.

 

Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 36. Elisabeth-Ufer 44

 

 

Anmerkungen:

  1. In der Vorlage steht: „Kalkutta“.
  2. In der Vorlage steht: „Schaffot“ – Die richtige Schreibweise ist Schafott, auch schon in der damaligen Zeit.