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Doktor Amalgis Vermächtnis

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 186

 

Doktor Amalgis Vermächtnis

 

Erzählt von

Max Schraut

(Walther Kabel)

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 36, Elisabethufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1926 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.[1]

Das Palast-Hotel in der nepalesischen Grenzstadt Nepalgang[2] war damals im Herbst 1926, als Harald Harst und ich von unserer abenteuerlichen Reise nach dem geheimnisvollen Kloster Damalang zurückgekehrt waren, mit Flüchtlingen aus Nordindien überfüllt. Cholera und Pest wüteten in Indien, und jeder, der es nur irgend ermöglichen konnte, hatte hier in den Bergen mit ihrer reineren, kühleren Luft vor den grauenvollen Würgeengeln Schutz gesucht.

Wir hatten vorher mit unseren beiden Begleitern Gordon-Berlett und Hubert Enoch (zwei Personen, auf die der Leser sich fraglos noch besinnt) in einem anderen Hotel eine recht primitive Unterkunft gefunden. Jetzt, nach unserer Rückkehr aus den Bergen, verschaffte der Direktor des Palast-Hotels uns beiden ein winziges Zimmer hoch oben in der Mansarde. Gordon-Berlett und Enoch waren sofort nach Kalkutta weitergereist, da des ersteren Mission hier in Indien erledigt war und da der alte Enoch nicht allein nach Europa heimkehren mochte.

Es war am Abend nach unserem Einzug in das Mansardenstübchen, dessen Fenster nach Norden hinausgingen und uns so einen wunderbaren Ausblick auf die fernen Schneehäupter des Himalaya gewährten …

Am Abend …

Über dem Tische brannte eine elektrische Lampe mit hellviolettem Seidenschirm …

Wir saßen nebeneinander auf dem schmalen Ledersofa … Harst rauchte, in Gedanken versunken, bereits die vierte Mirakulum.

Vom Hotelgarten schallte verschwommen der Lärm von Jazzmusik zu uns empor …

Ich wurde ungeduldig. Ich wunderte mich, daß Harald noch immer nicht daran dachte, jenen versiegelten Brief zu öffnen, den ihm die Engländerin Honoria Goord am Fuße der Felsterrasse überreicht hatte, auf der das Kloster Damalang, unzugänglich für jeden Fremden, in stolzer Einsamkeit seine Geheimnisse hütete.

… Den versiegelten Brief, Doktor Georg Amalgis Vermächtnis …

Das Vermächtnis eines Mannes, den wir dort oben in Eis und Schnee tot vorgefunden hatten, die Arme gen Himmel gereckt, aufrecht stehend, – ein Toter, und doch kein Toter …

Der Leser weiß das alles aus dem vorigen Band. –

Ja – ich wunderte mich …

War mein alter Harst denn so gar nicht neugierig auf den Inhalt dieses Briefes?!

Ich war’s …

Und sagte nun aufmunternd:

„Soll ich den Brief Amalgis aus dem Koffer nehmen? – Ich denke, es wird Zeit, daß wir …“

„… ja, daß wir dem Diebe nachspüren,“ unterbrach Harst mich in lebhaftem Tone. „Mein lieber Alter,“ fügte er achselzuckend hinzu, „wir haben uns zu sehr darauf verlassen, daß man unsere Koffer nicht anrühren würde … Wir glaubten, daß niemand hier etwas von der Existenz dieses Briefes ahnte. Ein Irrtum!! Als wir vorhin von dem kurzen Spaziergange heimkehrten, genügte mir ein Blick … Der obere Koffer stand anders, und die Schlösser waren nur zugedrückt, nachdem man sie gewaltsam erbrochen hatte. Bitte, überzeuge dich …“

Ich sprang auf … War schon in der Ecke vor den Koffern …

Wahrhaftig: erbrochen!! Ich hatte den Kofferdeckel ohne weiteres hochklappen können …

Und – obenauf hatte der Brief gelegen …

Hatte …!

Er war gestohlen worden …!

Ich drehte mich um …

„Harald, und das – das hast du mir bisher verschwiegen!!“

„Ich hatte Wichtigeres zu tun … Ich spürte dem Diebe nach …“

„In Gedanken …“

„Natürlich. Und ich glaube auch eine Fährte gefunden zu haben …“

Er erhob sich. „Gehen wir ins Bureau hinab … Ich möchte den Portier etwas fragen.“

Der indische Hotelportier erklärte uns, daß allerdings vor etwa zwei Stunden ein älterer, europäisch gekleideter Eingeborener uns zu sprechen gewünscht habe …

„Er wollte im Lesezimmer warten, Herr Harst … Nach einer halben Stunde verließ er das Hotel jedoch wieder und sagte mir, daß er die Herren wohl in den Anlagen treffen würde. Da er nicht mehr zurückkehrte, glaubte ich, die Herren seien ihm tatsächlich begegnet.“

Harald nickte nur …

„Es ist gut …“

Und wir bestiegen wieder den Fahrstuhl. Der Portier schaute uns sichtlich erstaunt nach.

Oben in unserem kleinen Zimmer setzte sich Harst in die Sofaecke, nahm eine neue Mirakulum, meinte:

„Der Portier betonte auf meine Frage hin, daß der ältere braunhäutige Herr einen bis zu den Augenbrauen hinabreichenden Turban getragen habe. Dieser Turban dürfte das auf der Stirn tätowierte Bild des Gottes Samur verdeckt haben. Es war ein Samur-Yogi aus dem Kloster Damalang, ein Abgesandter der dort hausenden Mönche … Er sollte den Brief stehlen, da die Bruderschaft der Samur-Yogi wohl befürchtet hat, das Schreiben könnte uns einiges von den Geheimnissen dieser mehr als geheimnisvollen Kaste enthüllen. – Wir werden sofort wieder aufbrechen, mein Alter. Besorge dieselben Reittiere von dem alten Nepalesen, dazu Proviant und drei recht lange Taue und ein paar starke Eisenhaken. Beeile dich und schau mich nicht so verständnislos an … Oder willst du den Brief Amalgis preisgeben?!“

„Nein – – niemals!“

Ich griff nach meiner Sportmütze und begab mich zu jenem Pferdeverleiher, dessen Bergponys uns so gute Dienste geleistet hatten. Der brave, nach „Ziegenbock-Odeur“ duftende Nepalese (die meisten Nepalesen verbreiten einen derartigen Geruch, wohl infolge ihrer Vorliebe für Pelzhosen aus Ziegenfell) war maßlos erstaunt, weil wir, kaum von der Bergtour zurückgekehrt, nun schon wieder in die Stein- und Eiswildnis uns hineinwagen wollten. Er versprach, die beiden Ponys persönlich um elf Uhr abends nach jenem Tale in der Nähe der Stadt zu bringen, von wo wir auch vor vier Tagen aufgebrochen waren.

So konnte denn auch diesmal unsere neue Expedition nach dem Kloster Damalang in aller Stille und Unauffälligkeit beginnen. Im Hotel sagten wir nur dem Direktor Bescheid, dem Harald noch nahelegte, die Polizei zu benachrichtigen, falls wir nicht in einer Woche wieder in Nepalgang eingetroffen sein sollten. –

Meine leise Hoffnung, daß wir das festungartige Kloster nochmals wiedersehen wurden, wurde nun also verwirklicht. Den Ritt von anderthalb Tagen durch die öden Berge brauch ich hier nicht näher zu schildern, da ich dies bereits im vorigen Band getan habe und da wir genau denselben Weg einschlugen, wobei Harald sich wie stets als unübertrefflicher Pfadfinder zeigte, mir außerdem an verschiedenen Stellen bewies, daß kurz vor uns ein anderer Reiter dem Kloster zugestrebt war, natürlich der Dieb, den wir leider jedoch nicht mehr einholen konnten.

Wir gaben unterwegs auf jede Kleinigkeit acht, die nur irgend verhüten konnte, daß unsere Ankunft in der Nähe von Damalang vorzeitig den Mönchen verraten würde. Wo wir auf fruchtbare Täler stießen, in denen sich einzelne Nepalesen angesiedelt hatten, umgingen wir die Baulichkeiten in großem Bogen. Wir richteten es auch so ein, daß wir erst nach Einbruch der Dunkelheit die Hochebene erreichten, die nach Westen zu von jenem ungeheuren Felsenwall begrenzt wurde, auf dessen erster Abstufung in etwa sechzig Meter Höhe das tempelartig gebaute Kloster lag, das bei der Schroffheit der Felswände für jeden gewöhnlichen Sterblichen nur im Einverständnis mit den Klosterinsassen betreten werden konnte, da die Mönche über einen primitiven Aufzug verfügten, – eine Winde mit einem Förderkorbe an einem dicken Tau, das selbst Tiere zu tragen vermochte.

Und dennoch sollte jetzt diese Felsenfeste von zwei Männern mit den einfachsten Hilfsmitteln „erobert“ werden – – von Harald und mir, – in dieser windstillen, kalten, klaren Oktobernacht … –

Wir hatten unsere Ponys, nachdem wir ihnen reichlich Futter vorgeworfen hatten, in einer kleinen, geschützten Schlucht zurückgelassen, schlichen nun zunächst jenem Eishügel zu, auf dessen Spitze wir vor etwa drei Tagen vor der Leiche Doktor Amalgis den denkwürdigen Abschied von dessen Begleiterin Honoria Goord genommen hatten.

Die Leiche war nicht mehr vorhanden …

Offenbar hatten die Mönche sie in das Kloster emporgeschafft.

Harald winkt mir. Wir eilen weiter nach Norden zu das Plateau entlang, entfernen uns aus der Nähe des Felsennestes der Samur-Yogi, die hier in Nepal (so war’s uns als Gerücht in Nepalgang mitgeteilt worden) seit Jahrhunderten in aller Heimlichkeit und Stille ihren Nachwuchs in die rätselvolle Wissenschaft altdrawidischen Zauberdienstes einweihen …

Entfernen uns, bis der Felswall, bisher unersteigbar, in eine sanft geneigte Geröllhalde übergeht …

Erklettern die Halde, wenden uns nach Süden … Sind eine Viertelstunde später genau über dem Kloster, liegen bäuchlings am Rande des Steilabhangs und schauen hinab auf das vom grünlichen Mondlicht beschienene Kloster mit seinen Nebengebäuden.

Jetzt erst können wir von dieser stolzen Höhe herab den ganzen Umfang dieser sturmfesten, seltsamen Niederlassung überblicken …

Wir sehen, daß in einer Einbuchtung der Gesteinwand noch zwei Stallgebäude stehen … Daß ferner hinter der aus Geröll aufgeschichteten Mauer am Rande der Terrasse ein umfangreicher Garten sich verbirgt …

Wir sind erstaunt über dieses wunderbare Bild frischen Grüns hier inmitten einer Bergwelt, in der selbst im Hochsommer die Temperatur kaum auf zehn Grad Wärme steigt.

Aber Harald hat offenbar wenig Sinn für Naturschönheiten – in dieser Stunde …

Er rollt die Taue auseinander, die wir uns um die Hüften geschlungen hatten, – er knotet sie behutsam zusammen, während ich nun mit dem Fernglas die Terrasse weiter beobachte.

Ich bemerke keine lebende Seele, keinen Lichtschein – nichts …

Mitternacht ist da …

Im Kloster Damalang schläft alles …

Harst treibt einen der Eisenhaken in eine der Ritzen des Gesteins, benutzt einen Felssplitter als Hammer, bindet das eine Ende des endlosen Taus an den Haken und läßt das andere Ende erst einmal probeweise in die Tiefe hinab …

Seine Berechnung stimmt. Die drei Taue genügen … Wir werden genau auf dem flachen Dache des Anbaus des Klosters landen …

Harald prüft nochmals den Haken …

Beginnt hinabzuklettern …

Hat mich vorher noch gewarnt, daß ich nachher ja kein Steinchen beim Abstieg herabstoße …

Ich beobachte …

Harst ist unten … Liegt lang auf dem Dache …

Winkt …

Ich folge … Ich bin kein Akrobat wie Harald … Schwitze Angst … Weiß genau, daß jedes Steinchen, das durch meine Schuld in die Tiefe saust, uns verraten kann … Habe etwa die Hälfe des steilen Weges hinter mir, als ich plötzlich oben einen starken Ruck an dem Tau spüre …

Spüre auch, daß das Tau sich dehnt … Ahne Furchtbares …

Packe in meiner Todesangst eine Felszacke – – noch im letzten Moment …

Das Tau saust auf das Dach herab …

Ich hänge an dem Gestein … Hänge frei in der Luft, suche umsonst mit den Füßen nach einem Halt …

Der harte Fels … unbarmherzig … drückt die Innenflächen meiner Hände zu Brei …

Ich fühle den eiskalten Schweiß mir den Rücken hinabrinnen …

Gebe jede Hoffnung auf Rettung auf …

Meine Armmuskeln werden im Krampf grausam zusammengezerrt …

Ich … öffne die Hände …

Falle …

Stürze …

Nein – – ich falle nicht …

Im letzten Augenblick packt mich jemand beim Gurt meiner Sportjacke … Reißt mich halb empor … Hinein in eine Öffnung der Steinwand, die bisher nicht dagewesen …

 

2. Kapitel.

… Ich stolpere, torkele nach hinten …

Zwei Arme halten mich …

Eine Stimme ruft halblaut:

„Herr Schraut, – wie kommen Sie denn hierher?!“

Eine helle und doch kräftige Stimme …

Die – Miß Honoria Goords …!

Ich erhole mich … Werde wieder ich selbst …

Um uns her ist es finster … Eine enge Höhle … Ich taste nach Honorias Hand …

„Miß Goord, Sie haben mir das Leben gerettet …“

„Und Sie und Ihr Freund Harst hatten mich vor fünf Wochen aus dem Kerker befreit … Also – – keinen Dank! Nur – – sagen Sie mir um alles in der Welt, weshalb Sie hierher zurückgekehrt sind?! Hat die Neugierde Sie beide veranlaßt, dieses tolle Wagnis …“

Ich falle ihr rasch ins Wort …

„Einer der Mönche hat uns im Hotel in Nepalgang Amalgis Brief gestohlen …“

„Ah …!!“

Und diese langgereckte Silbe höchsten Erstaunens hat doch einen Unterton, der mir beweist, daß meine Mitteilung die Miß zwar überrascht hat, ihr aber doch nicht ganz unerwartet kam …

Da fügt sie auch schon hinzu, während ich meine Taschenlampe hervorhole …

„Herr Schraut, keiner der Mönche war in Nepalgang … das weiß ich genau … Nur einer der Novizen, der Zöglinge, zu denen ja auch ich gehöre, hatte sich verkleidet nach Nepalgang begeben … Es ist ein Spanier, Herr Schraut … Er war bis vor kurzem Schreiber bei einem Kaufmann in Dehli, gewann dort die Freundschaft eines Samur-Yogi und wurde in die Kaste aufgenommen, weilt erst seit einem Monat hier im Kloster und … hat mir gründlich mißfallen … Ist noch ein junger Mensch, Mitte zwanzig, hat aber ein Paar böse Augen im olivengelben Gesicht …“ Ich horche auf …

Schalte die Lampe ein …

Der Lichtkegel enthüllt mir Einzelheiten der Höhle: ein schlichtes Rahmenbett, mit Fellen belegt, einem plumpen Tisch mit Wasserkrug und Öllampe, einen Holzschemel, eine Art Schrank …

Und dann beleuchte ich das Loch, das nach draußen führt – durch das mich die Miß hier hineinbefördert hat …

Sehe, daß ein großer flacher Stein an der Höhlenwand lehnt, daß der Stein zwei eiserne einfache Türangeln besitzt, daß er sich also vor das Loch drücken läßt.

Da sagt Honoria schon:

„Ich wohne hier …“

„Wie – – Sie wohnen hier?!“

„Ja, Herr Schraut … Es ist eine der Novizenzellen …“

„Hm – etwas sehr primitiv für eine Dame …,“ – und das kam mir von Herzen …

Ich beleuchtete Honorias Gestalt, das hagere, früh gealterte Gesicht und die klaren, großen grauen Augen, die so auffallend denen Haralds glichen …

Honoria Goord trug jetzt eine Art braune Kutte, dazu einen hellblauen Turban, der die Mitte der Stirn freiließ, so daß man die Tätowierung, den Gott Samur, deutlich erkennen konnte …

Ich fragte:

„Hat dieser Salon nur den einen Zugang?“ Und ich zeigte auf das Loch mit der Steintür.

„Nein, – dort läuft ein schmaler Gang in die Tiefe …“

„Bis zum Kloster?“

„Ja …“

„Dann gestatten Sie, Miß Honoria, daß ich mich schleunigst verabschiede … Ich muß hinab … Harald liegt unten auf dem Dach des Klosteranbaus … Unser Tau ist herabgefallen … Das ist fraglos nicht ohne Lärm abgegangen, und wenn …“

„Ich begleite Sie … Geben Sie mir die Taschenlampe … Ich eile voraus …“

Gott sei Dank: Honoria war noch dieselbe wie einst, – – energisch, forsch, schneidig!

Ich hinter ihr her …

Den Felsengang abwärts …

Zog meine Clement für alle Fälle …

Entsicherte sie …

Und – plötzlich macht Honoria halt …

Wendet sich um …

„Eingesperrt!!“

„Was heißt das?!“

„Dies hier ist eine Steintür … Sonst stets offen … Jetzt von der anderen Seite verriegelt … Der … Spanier!!“

Ein Blitz der Erkenntnis zuckt durch mein Hirn: der Spanier hat auch das Tau oben am Abhang gelöst!! Der Spanier – – der Briefdieb!! Er muß uns beobachtet haben, er wird nun wohl auch schon Harald irgendwie beseitigt haben, damit sein Vergehen nicht an den Tag kommt, denn ganz offenbar hat er den Diebstahl ohne Wissen und Willen der Mönche ausgeführt …

Und jetzt: Honoria und ich eingesperrt!!

Vielleicht entflieht der Schuft inzwischen …

Vielleicht gibt es hier im Kloster Kleinodien, auf die der Bursche es von vornherein abgesehen gehabt haben mag …

Und mein Blick begegnet dem Honarias …

„Kostbarkeiten – – Juwelen?“ frage ich nur …

Sie versteht mich sofort, nickt …

„Edelsteine – für Millionen …!“

„Dann – – wieder hinauf in Ihren Salon, Miß …! Wir schneiden die Felle in Streifen … Vielleicht reichen sie. Vielleicht gelangen wir bis auf das Dach hinab …“

O – das ist etwas für Honoria Goord!! Sie vergißt vollkommen, daß sie sich hier in der Steinzelle in stillster Zurückgezogenheit für die großen Geheimnisse der Samur-Kaste hat vorbereiten sollen …

Sie packt mit zu … Meines Taschenmessers große scharfe Schneide zertrennt die Felle …

Honoria knotet die Stücke aneinander …

Und als der Lasso fertig, schiebt sie mich beiseite …

„Ich wiege nur neunzig Pfund, Herr Schraut …“

„Sie Glückliche!! Ich genau das doppelte …!“

„Und deshalb werde ich zuerst hinabklettern … Mich trägt der Lasso schon … – Da, halten Sie ihn …“

Und ehe ich noch widersprechen kann, ist sie schon draußen, schwebt an dem Fellriemen … gleitet tiefer … entschwindet.

Mir kommt plötzlich der Gedanke, daß Honoria mich gleichsam überlistet hat, denn immer klarer wird es mir, wie wenig haltbar dieses Fellseil ist, und daß ich mich ihm niemals mit meinen fast zwei Zentnern Gewicht anvertrauen kann – niemals!

Mithin bin ich nach wie vor hier oben in Honorias Zelle ein Gefangener … Mithin kann nur Honoria etwas für Harald tun, und …

… und ich fahre herum, wie von einer Viper gestochen.

Ich habe mit dem Gesicht nach dem Felsloche dagestanden.

Und … habe plötzlich auf meiner Schulter eine Hand gespürt …

Die eingeschaltete Taschenlampe liegt auf dem Holztisch …

Harst ist’s …!!

Und ich, das Fellseil weiter krampfhaft umklammernd:

„Du hier?!“

„Wie du siehst, mein Alter?!“

„Und … der Spanier?! Und die Mönche?! Sind sie nicht erwacht?!“

„Der Spanier,“ erwiderte er gleichmütig, „steht unten an einer der Steinsäulen der Tempelhalle …“

„Aber … aber … er wird entfliehen … Er ist der Dieb des Briefes, und … …“

„Er wird nicht entfliehen … Er steht gebunden und geknebelt an der Säule. Den Brief habe ich bereits. Ich wußte schon auf dem Wege hier zum Kloster, daß der Dieb ein Europäer sein müßte, denn die Fußspuren des Mannes, die wir an zwei Stellen fanden, zeigten, daß der angebliche Farbige stark auswärts ging, und das tut kein Inder oder Nepalese … Sie setzen die Füße einwärts wie die meisten farbigen Rassen … – Als das Tau herabfiel, konnte ich es noch gerade auffangen und verhütete so jeden Lärm. Ich sah auch bei dem klaren Mondlicht, daß ein Mann droben den Kopf über den Rand des Abhangs hinausschob und richtete mich danach, kletterte rasch vom Dache herab, verbarg mich und bekam den Burschen zu packen, als er den geheimen Schacht verließ, der offenbar von der Höhe der Steilwand bis zur Terrasse führt … – Doch – all das ist ja gegenüber der Tatsache, daß wir den Brief zurückgewonnen haben, sehr gleichgültig …“

Es ruckte scharf an dem Lederseil …

Honorias Signal, daß sie glücklich unten auf dem Dache angelangt sei.

„Honoria ist hinabgeklettert,“ erklärte ich. „Sie hat mich gerettet, und dies hier ist ihre …“

„… Zelle … Das sehe ich … Dort hängt ja ihr Sportanzug … – Ziehe das Seil empor und folge mir …“

Wir eilten abwärts. Jetzt stand die Steintür, die vorhin Honoria und mir Halt geboten, weit offen …

Eine steile Treppe sah ich …

Eine zweite mündete von oben in spitzem Winkel in diese breitere Treppe. Dann eine Grotte – und vor uns wieder eine offene Steintür …

Wir betraten die Terrasse. Links das Kloster … Die Vorhalle … Die Steinsäulen … An der einen eine Gestalt: der Spanier! Vor dem Spanier Honoria …

Sie bemerkt uns …

Wir sind bei ihr … Sie drückt Harald die Hand … Deutet auf einen kleinen Ledersack zu Füßen des Spaniers, der mir jetzt sein Antlitz ohne Bart zeigt: das Gesicht eines Menschen, in dessen Seele Todesangst und Wut miteinander streiten …

„Herr Harst,“ ruft Honoria halblaut, „der Schurke wollte mit den Edelsteinen des Klosters entfliehen … Er muß sie aus den Statuen des Gottes Samur herausgebrochen haben.“

„Ich überraschte ihn mit dem Raube,“ nickt Harald. „Vielleicht hatte er die Wache hier auf der Terrasse … Wie heißt er?“

„Alphonso Maduro hieß er … Jetzt hat er keinen Namen, erhält erst einen, wenn er seine Noviziatzeit beendet hat – wie ich …“

„Maduro – Alphonso Maduro,“ wendet Harald sich an den Spanier, „wir werden Sie nun den Mönchen übergeben und …“

Wir ahnten nicht, daß wir längst belauscht worden waren.

Aus dem Halbdunkel des breiten, tiefen Klostereingangs lösen sich die hageren, hohen Gestalten von vier Indern …

Ohne Kutten … In Schaffellkleidung … Alte Leute, weißhaarige Greise mit fanatischen Augen, mit Gesichtern, die bereits vom Glanze einer anderen Welt übergossen zu sein scheinen …

„Die vier Äbte …,“ flüstert Honoria scheu …

Die Inder stehen vor uns. Der eine, wohl der älteste, spricht mit kühler, klarer Stimme in gutem Englisch:

„Wir danken Ihnen, meine Herren … Dieser Mensch wäre zwar mit seiner Beute niemals über die nähere Umgebung des Klosters hinausgekommen, da wir ihm niemals voll vertrauten. Trotzdem sind wir Ihnen Dank schuldig.“

Und zu Honoria: „Du, meine Tochter, begibst dich wieder in deine Felsenkammer nach oben, es sei denn, daß dieses Wiedersehen mit deinen Freunden deinen Entschluß, den Rest deines irdischen Lebens hier im Kloster zu verbringen, irgendwie anders beeinflußt hat.“

„Nein!“ entgegnet Miß Goord kurz, reicht uns stumm die Hand und verschwindet im Grotteneingang.

 

3. Kapitel.

Dieser stille Abschied von Honoria sollte nun wirklich ein Abschied für immer sein. Wir haben Honoria Goord niemals wiedergesehen.

Wir haben jedoch damals in jener Nacht und am folgenden Vormittag als einzige Europäer das Kloster in all seinen Teilen besichtigen dürfen, haben damals freilich auch versprechen müssen, über gewisse Dinge zu schweigen.

Daher kann ich hier dem Leser auch nur in Kürze das mitteilen, was mir weiterzuverbreiten gestattet wurde.

Jedenfalls: Kloster Damalang an den Abhängen des Kudri-Berges ist vielleicht außer Lhassa in Tibet die einzige Stätte, an der all jene Geheimnisse gehütet werden, die, wenn sie bekannt würden, dem modernen Spiritismus und Okkultismus vor der Öffentlichkeit ein ganz anderes Ansehen verleihen würden. Die Spötter und Zweifler würden schweigen, und all die, die sich von der Religion und dem Glauben an eine Fortexistenz nach dem Tode hohnlachend abgekehrt haben, würden reumütig in die Kirchen flüchten und Vorsorge treffen, daß ihr zweites Dasein nicht in Nacht, Dunkel und Verzweiflung dahinflösse …

Doch – das sind Fragen, sind Wahrheiten, die nicht hierher in den Rahmen meiner anspruchslosen Schilderungen unserer Erlebnisse hineingehören … –

Drei andere Mönche erschienen – in braunen Kutten – und führten Maduro in die große Tempelhalle, die bereits durch zahllose altertümliche Öllampen aus Kupfer erleuchtet war.

Auf Holzbänken saßen hier etwa vierzig Samur-Yogi in allen Altersstufen. Für die vier Klosteräbte standen vier überaus kostbare Thronsessel aus Elfenbein bereit …

Für uns zwei bescheidenere Sessel – ebenfalls auf der Estrade, dicht vor den drei Statuen des Gottes Samur, die ihn darstellten als Mensch, als Heiligen und als Gott. –

Gericht über Maduro …

Und – dies darf ich erzählen …

Eine kurze, ernste Gerichtssitzung, während deren Verlauf ich Gelegenheit hatte, mich in der prachtvoll ausgeschmückten Halle aus weißem Marmor genügend umzusehen.

In den Wänden überall halbkreisförmige Nischen, mit Gold ausgelegt. In jeder Nische ein … toter Samur-Yogi auf Marmorpostament, frei stehend, unheimlich lebendig wirkend – – mit matt schillernden Opalaugen, genau wie die Toten auf der Insel im Sambhar-Salzsee …

Die Toten?! – Der Leser weiß bereits aus dem vorigen Band, daß diese … Toten warmes Fleisch hatten – – alle!

Und – – in einer der Nischen auch Doktor Georg Amalgi …

Mit Opalaugen … mit zum Himmel emporgereckten Armen …

Ich starrte wie hypnotisiert in dieses kluge, durchgeistigte Gesicht des großen Erfinders …

Und mir war’s, als ob die Opalaugen mich grüßend anlächelten …

Grauen wohnte in meiner befangenen Seele … Ich spürte den Hauch all der zahllosen dunklen Rätsel, die das unendliche Asien, die Wiege der Völker, uns Europäern beständig aufgeben wird.

Ich hörte kaum hin auf das, was der älteste der Äbte sprach …

Schaute erst auf seine hohe Gestalt, als er auf den ungefesselten Maduro zuschritt und ihm mit der Hand leicht über die Stirn fuhr …

Da war die hellblaue Tätowierung von dieser Stirn wie weggewischt …

„Geh!“ befahl der Greis …

Und der Spanier taumelte hinaus – durch die breite Tür ins Freie …

Die Tür schloß sich wieder … –

Morgens lag Maduros zerschmetterte Leiche im Eise unterhalb der Terrasse.

Mittags verabschiedeten wir uns von den Mönchen, wurden im Förderkorbe auf das Plateau hinabgelassen und schritten der kleinen Schlucht zu, wo wir unsere Ponys munter und wohlauf vorfanden.

Still bestiegen wir die Pferdchen, ritten still von dannen.

Anderthalb Tage drauf waren wir wieder im Hotel in Nepalgang in unserem Mansardenzimmer.

Jetzt erst, nachdem wir gebadet und gefrühstückt hatten, öffnete Harald Amalgis noch unversehrten Brief und auch das Päckchen, das der älteste der Äbte beim Abschied Harst in die Hand gedrückt hatte.

Das Päckchen enthielt zwei goldene Statuen des Gottes Samur – mit Opalaugen … Diese Statuen liegen jetzt wohlverwahrt in Haralds Tresor.

Amalgis Brief aber lautete:

Geschrieben im Kloster Damalang
am Tage meiner Verwandlung.

Meine Freunde!

Als wir uns vor Monaten in der deutschen Heimat in der so zu Unrecht als Sandbüchse verschrienen Mark Brandenburg in dem idyllischen Flecken Grünheide als Gegner kennen lernten, haben wir’s wohl kaum geahnt, daß des Schicksals wunderbares und doch uns allen genau vorgezeichnetes Walten uns einmal zu Freunden machen würde. Weil wir Freunde geworden, will ich Ihnen beiden auch das eine anvertrauen, was als dunkelster Punkt in meinem reichbewegten Leben nunmehr meinen Tod, besser meine Verwandlung fordert. – Sie wissen, daß ich früher schon jahrelang in Indien gelebt habe, daß ich damals schon in die Samur-Kaste aufgenommen wurde. Kurz vorher hatte ich in Bombay eine junge Schwedin aus den Krallen chinesischer Mädchenhändler befreit. Sigrin Svendsen war Waise. Sie wurde vor Gott mein Weib. Bei der Geburt unseres Töchterleins starb sie. Damals wütete in Bombay die Cholera. Ich erkrankte, genas, fand aber nach meiner Entlassung aus dem Seuchenlazarett den kleinen Bungalow auf den Malabar Hills leer, den wir bewohnt hatten.

Leer … Auch unsere Diener waren verschwunden – von der Cholera hinweggerafft. Mein Kind – – war offenbar geraubt worden. Umsonst habe ich ein volles Jahr nach der kleinen Sigrin geforscht. –

Sie finden in diesem Briefumschlag eine Anweisung auf die Filiale der India-Bank in Bombay über 50 000 Pfund Sterling. Dieses Geld gehört zur Hälfte Ihnen beiden und meinem verschollenen Kinde, falls Sie die kleine Sigrin irgendwo entdecken.

Auf dem beiliegenden Zettel habe ich außerdem alles angegeben, was Ihnen die Nachforschungen erleichtern kann.

Dies ist mein Vermächtnis.

Die Schuld aber, die ich auf mich geladen, besteht darin, daß ich meinem Weibe gegenüber mich weigerte, unseren Bund auch gesetzlich anerkennen zu lassen. Die Tote hat immer wieder gefleht, ich solle mit ihr vor dem deutschen Konsul die Ehe schließen. Ich war damals jung – zu jung, verachtete Gesetz und Recht, dünkte mich erhaben über die paragraphierte Moral der Gesellschaft. So starb Sigrin Svendsen als meine Geliebte.

Ich bin seelisch nie über diese Selbstvorwürfe hinweggekommen, die ich mir später meines fast grausamen Verhaltens wegen gemacht habe. Und da nur ein reiner Mensch, ein innerlich Geläuterter, die Wohltaten Samurs, des Beglückers, genießen kann, habe ich freiwillig den … Tod gesucht. Die Menschen würden sagen, ich bin auf dem Plateau unterhalb des Kudri-Berges erfroren. – Ich bin nicht tot … Niemand stirbt … Unser irdisches Dasein ist nur eine Vorstufe zum wahren Leben.

Vielleicht sehen wir uns einst wieder …

Und nun noch etwas, bevor ich schließe. Ihnen beiden ist bekannt, daß ich damals mit dem von mir konstruierten U-Boot nach Indien floh. Mein treuer Hubert Enoch war mein einziger Begleiter. Für seinen Lebensabend habe ich gesorgt. Auch das wissen Sie. – Mein U-Boot liegt nördlich von Bombay in der Gawarra-Bucht in einem sumpfigen Flußarm versteckt. Vielleicht kann es Ihnen irgendwie von Nutzen werden.

Sollten Sie mein Kind finden, so bringen Sie es nach Stockholm, wo eine Schwester meines Weibes an einen Ingenieur Homstaal verheiratet ist. Ich hoffe, Sie werden Sigrin finden. Ihnen sind schon schwierigere Ausgaben als diese gestellt worden.

Leben Sie wohl!

Georg Amalgi.

 

4. Kapitel.

Zehn Tage später …

In Bombay … Chinesenviertel …

All diese „Chinatown“ der Hafenstädte, sei es Neuyork, Frisko, London oder Havanna, – all diese Stätten, wo das gelbe, schlitzäugige, kaninchenhaft fruchtbare, bereits internationale Gesindel sich niedergelassen hat, gleichen einander wie ein Ei dem andern, nur daß im Orient die engen Gassen und Gäßchen noch üblere Düfte als stinkende Anklage gegen Schlamperei in hygienischer Beziehung gen Himmel senden.

Bombay …

Abends zehn Uhr … Ein schmales, von zahllosen, im Winde schwankenden Papierlaternen erhelltes Gäßchen, das auf den Hafen, das Meer mündet …

Bordellstraße ersten Ranges …

Zwischen armseligen Stein- und Bretterhütten neue, saubere Häuser mit grünen Stabjalousien …

Vor jedem Hause ein Pförtner in schreiend bunter Livree.

Livree?! – Nein! Hier kann man mit abgelegten Paradeuniformen aller Länder ein Wiedersehen feiern. Die Tage der goldstrotzenden Generalsröcke sind ja vorüber. Feldgrau ist Trumpf. Nicht hier in Bombays Chinatown … –

Zwei leicht angezechte Seeleute, Steuerleute irgendeines der schwimmenden Riesenhotels, kommen Arm in Arm die Gasse entlang …

Beide blondbärtig, sonnverbrannt, schmuck im Äußeren.

Der eine schlank, fast mager … Der andere klein und dick, fast zu dick …

Die Sonnenbräune haben sie sich freilich nicht auf See, sondern im nepalesischen Hochgebirge geholt …

Beide …

Die Portier-Generale reißen einladend vor ihnen die dicken Türen der stillen Häuser auf …

Dann schallt Musik aus dem Innern hervor …

Saxophone gurgeln … Schlagzeuge klirren, meckern, pauken …

Die beiden bleiben stehen …

Der Dicke flüstert:

„Zum Teufel, Harald, – was sollen wir eigentlich hier?!“

Der andere flüstert zurück: „Mein Alter, dein Hirn ist ausgedörrt … Ich will’s schon wieder anfeuchten – durch Tränen …“

Was mir, Max Schraut, unverständlich bleibt.

Wir betreten das Teehaus des fraglos sehr ehrenwerten Großhalunken Ma Singo Lan. So steht’s in Goldbuchstaben an der dunklen Tür …

Ma Singo Lan …

Wir sind zwei Minuten später im Tanzsaal …

Etliche zwanzig junge Damen, deren Bekleidung noch mangelhafter ist als die der modernen „anständigen“ Ladys, leisten hier etlichen dreißig liebehungrigen Europäern Gesellschaft. Parfümduft, Opiumgeruch und jenes ekle Gemisch von Likördunst und Zigarettenqualm legen sich mir wie Blei auf die Brust …

Die Jazzbande tobt in Rhythmus …

Hinter dem vergoldeten Büfett steht ein magerer, kleiner Chinese in tadellos weißem Leinenanzug. Stehkragen bis an die Ohren. Das Haar zum Scheitel festgeklebt – graues Haar … Und die Visage über dem Stehkragen könnte jedem Verbrecheralbum zur Zierde gereichen. Ein Totenkopf voller Falten, um den verkniffenen Mund ein lüsternes, kriecherisches Lächeln.

Wir sitzen an einem Marmortischchen …

Und eine der Damen nimmt sofort bei uns Platz … offenbar eine Russin oder Polin … All diese bedauernswerten Geschöpfe hier sind Europäerinnen – – eine Schmach und Schande!

„Champagner!“ bestellt Harst …

Das Mädchen ruft’s einem chinesischen Bengel mit lasterhaften Augen in Liftboyuniform zu …

Um uns her das übliche Treiben dieser Lasterhöhlen …

Harst beginnt das Gespräch mit der Polin … Maruschka nennt sie sich …

Und ich horche auf …

„Dieses Haus hat früher doch einem gewissen Schimo gehört?“

„Ja, mein Herr … Sie sind also nicht zum ersten Male hier …“

„Nein … – Wo steckt denn Schimo jetzt?“

(Schimo ist einer der Namen von Amalgis Zettel!! – Mir wird das Hirn schon wieder weicher!!)

„Nach China zurück – Rentier, mein Herr …“

„Wann hat er verkauft?“

„Vor vier Wochen …“

„So … so …“ – Harald füllt die Gläser von neuem.

Eine Freundin Maruschkas gesellt sich zu uns … Diese Mädchen sind ja alle „Freundinnen“ und … hassen und beneiden einander heimlich …

Das Gespräch wird von Harald in andere Bahnen gelenkt.

Diese Mädchen haben alle denselben unerschöpflichen Unterhaltungsstoff bereit: ihre Vergangenheit – die Zeit, wo sie noch ehrbar waren …

Maruschka erzählt … Die Freundin, eine Holländerin von beneidenswerter Stupidität, beginnt mit mir zu liebäugeln … Die zweite Flasche Sekt erscheint. Wir brauchen nicht zu sparen. Vormittags hat Harald von Amalgis Vermögen von der India-Bank 50 000 Rupien abgehoben, ist dann erst nach vier Stunden zu mir in das Fremdenheim Lavater zurückgekehrt. Was er in dieser Zeit getrieben, habe ich bisher nicht erfahren. Aber er wird wohl nach Herrn Schimo sich erkundigt haben.

Maruschka erzählt, vergießt einige Krokodilstränen …

Meine stupide Antje flötet, wir sollten doch lieber in ein Separee gehen.

Harst ist einverstanden. Also Separee …

Zwei Treppen nach oben … Ein elegantes Zimmer … Mattrosa Ampel … zwei Diwane …

Sekt …

Maruschka hat ihr Herzeleid schon wieder vergessen und läßt das Grammophon spielen, tanzt uns einen Krakowiak vor …

Hat Temperament, das Weib … Nur in den schwarzen Augen einen so lauernden Blick. Antje ist eine blonde harmlose Kuh dagegen …

Harald schickt Maruschka nach Zigaretten und Antje nach Kaviar und Röstschnittchen …

Kaum sind wir allein, als er sich dicht zu mir hinüberbeugt:

„Vorsicht …“

Dann … dreht er das Licht aus …

Aus dem Dunklen seine gedämpfte Stimme:

„Clement in den Ärmel …!“

Das Licht blitzt wieder auf …

Wir sitzen wieder harmlos auf dem Rohrsofa …

Die Mädchen treten ein …

Ich sehe, daß Maruschkas Blick noch lauernder geworden.

Antje serviert den Kaviar …

Ich fühle unter dem Tisch Haralds warnenden Fußdruck.

Die beiden Geishas stochern mit den Löffelchen in ihrem Kaviar umher …

Maruschka erzählt – überhastet, nervös …

Harald sagt zu ihr:

„Iß doch, schwarze Hexe …!“

„Nach Ihnen, mein Herr … probieren Sie nur … Echter Beluga …“

„Hm – unverfälscht?!“

Die Polin verfärbt sich trotz der Schminke unter seinem Blick …

Und mit einem Male hat Harst die Clement in der Hand.

„Iß!“ befiehlt er …

Maruschka läßt das Löffelchen fallen …

Antje will zur Tür …

Ich packe sie …

„Hinsetzen – hiergeblieben!“

Harald dämpft die Stimme …

„Maruschka, ich will aus meinem Gedächtnis streichen, daß du Beihilfe zu einem Doppelmorde leisten wolltest …“

„Nur ein Betäubungsmittel, Herr, – bei der heiligen Jungfrau,“ heult die Dirne auf …

„Nun gut – mag sein … – Hat Singo Lan mit unserem Erscheinen gerechnet, so kennt er uns auch. Wie weit hat er euch beide eingeweiht? Wißt ihr, wer wir sind?“

Die beiden weißen Sklavinnen eines gewissenlosen Asiaten machten Gesichter, als ob sie die harmlosesten Schäfchen von der Welt seien. Antje, ganz fraglos die unbegabtere, begnügte sich mit einem energischen Kopfschütteln. Die edle Polin jedoch erwiderte scheinheilig:

„Herr, daß Singo Lan auf euren Besuch vorbereitet war, ist richtig. Als ihr eintratet, gab er mir und Antje allerlei Anweisungen. Ihr solltet irgendwie ein Betäubungsmittel erhalten. Wer ihr seid, sagte er nicht. Man sieht ja aber, daß ihr zu einem der großen Dampfer gehört, die im Hafen ankern …“

Harsts Blick ruhte unverwandt auf dem schmalen Gesicht der schlauen Dirne … Unter diesem Blick wurde sie immer verwirrter, verlegener …

„Du lügst!!“ Haralds Stimme kann in gewissen Momenten wie ein Messer sein – scharf, schneidend, kalt wie Stahl … – „Du lügst!! Als wir gestern abend hier im Hotel Prinz Albert abstiegen, belegte kurz nach uns eine ältere, grauhaarige Dame das Zimmer neben uns. Diese Dame hatte bereits im Nebenabteil gesessen, als wir von Allahabad den Luxuszug benutzen. Und dieselbe Dame schlich mir heute vormittag nach – oder besser … wollte mir nachschleichen … Diese Grauhaarige bist du, Maruschka …! Deine kostbaren Ringe an der linken Hand haben dich verraten … Du weißt auch genau, wer wir sind … Kaum hatten wir uns in das Fremdenbuch des Hotels eingetragen, als du auch schon das Buch verlangtest. Ich hatte den Hoteldirektor ins Vertrauen gezogen … Wer sich hinter den Namen Horter und Schrack verbirgt, ist dir genau so bekannt wie …“

Die Nerven der Polin konnten nicht mehr recht in Ordnung sein …

Sie wurde plötzlich ohnmächtig, so daß wir sie auf den Diwan tragen mußten.

Meine Nerven waren in Ordnung. Aber trotzdem wurde auch mir ganz wirr im Kopf über all diesen Neuigkeiten, von denen ich nichts ahnte … Harald hatte eben wieder einmal seine beliebte, verwünschte Schweigetaktik verfolgt und mich wie einen unmündigen Säugling außerhalb der Ereignisse belassen. Ich wußte nichts von der Grauhaarigen, erfuhr jetzt erst, daß die Spione der gelben Brut längst auf unserer Fährte gewesen – – längst!! –

Und dieser verteufelte Harst, der hier der heimtückischen Bande so gründlich das Spiel verdorben hatte, wandte sich nun an Antje: „Du wirst dich um Maruschka bemühen … – Hat Singo Lan uns in diesem Zimmer beobachtet?“

Antje hauchte ein verängstigtes Ja …

Harald schritt zur Tür … Öffnete … Im Flur brannte Licht … – Wir hielten die Clementpistolen bereit. Aber niemand trat uns in den Weg. Unten im Saale kreischte, quiekte und schnarrte die Jazz …

Hinter dem Büfett stand ein anderer Chinese – ein dicker, großer Kerl in tadellosem Smoking …

„Wo ist der Besitzer des Teehauses?“ fragte Harald den Fettwanst …

Feixend kam die Antwort: „Der Besitzer bin ich, Mister.“

„Seit wann?“

„Seit heute,“ grinste der Kerl.

„Und Singo Lan?“

„Verreist, Mister … Er kehrt nach China zurück – als Rentier, Mister … Er hat genug verdient …“

Wir verließen das Bordell …

 

Schlechtes Gewissen.

Auf der Straße hakte Harald mich unter …

Sagte halb entschuldigend: „Du mußt es mir nicht nachtragen, daß ich dir die Spionin verheimlicht habe. Ich war mir meiner Sache nicht ganz sicher. Erst hier im Hotel erhielt ich Gewißheit. Jedenfalls müssen die Chinesen mit Schimo an der Spitze wahrscheinlich durch Zeitungsberichte über unsere Tharabenteuer von unserer Freundschaft mit Amalgi erfahren haben und dadurch auf den Gedanken gekommen sein, Amalgi könnte das tun, was er dann ja auch wirklich getan hat: uns beauftragen, nach seinem 1911 verschwundenen Kinde zu suchen! – Das Chinesenpack bekam’s mit der Angst. Schimo, aus dessen unsauberen Klauen unser Freund Amalgi damals im Frühjahr 1910 die junge Schwedin befreite, ist ja zweifellos derjenige, der im Herbst 1911 dann die kleine Sigrin rauben ließ – aus Rache! Der alte Halunke – Amalgi hat uns ja sein Äußeres auf dem Zettel genau beschrieben – hielt es für angebracht, sein Teehaus zu veräußern, damit er jederzeit verduften könne. Singo Lan, sein Nachfolger, war sein Verbündeter und deckte sich in ähnlicher Weise den Rücken, falls es ihm eben nicht gelingen sollte, uns beide verschwinden zu lassen. Der Dicke, der seit heute vormittag Singo Lans Nachfolger geworden, ist natürlich in alles eingeweiht, aber ebenso natürlich in keiner Weise zu fassen. Fraglos kämpfen wir hier gegen eine ähnliche Hydra von Mädchenhändlern – wie damals vor einem Jahre, – nur daß wir es jetzt mit weit gefährlicheren Subjekten zu tun haben. Trotzdem – wir werden Sigrin finden! Gerade diese Angst Schimos vor unserem Eingreifen beweist mir, daß wir die Schuldigen vor uns haben und daß das jetzt fünfzehnjährige Mädchen noch lebt …“

Ich konnte Harald nur beipflichten.

Wunderbar genug war es ja, daß er noch jetzt nach anderthalb Jahrzehnten so rasch die richtige Fährte aufgespürt hatte. Und dieser Schimo mußte in der Tat ein mehr als schlechtes Gewissen haben, jedoch auch einen überaus feinen Riecher für jede ihm drohende Gefahr.

Ich fragte nun, als wir in die nächste Hauptstraße einschwenkten:

„Wie bist du auf Maruschka bereits in Allahabad aufmerksam geworden?“ Denn dieser Punkt interessierte mich vorläufig am meisten.

Harald lachte still in sich hinein …

„Dja, mein Alter, – – wie?! Der Luxuszug war ja überfüllt, und eigentlich hatten wir keinen Grund, an Spione zu denken oder die zahlreichen Fahrgäste einzeln als irgendwie verdächtig aufs Korn zu nehmen … Aber wenn eine Dame im Gange des Wagens steht und wenn unter der grauen Perücke eine Strähne seidigen schwarzen Haares hervorlugt, dann regt sich in mir sofort der Detektiv – – sofort! Ich beobachtete die Fremde also, die ja auch einen dichten Schleier trug, stellte fest, daß sie um unser beider Wohlergehen offenbar äußerst besorgt war, – und alles weitere machte sich von selbst …“

„Allerdings, scheinbar sehr einfach … – Und hier in Bombay?“

„… war ich heute vormittag nicht nur auf der Bank, sondern auch bei Freund Neelpool auf der Polizeidirektion und sicherte mir seine Hilfe. Neelpool ist Spezialist für alles, was die gelben Herrschaften bereißen. Er konnte mir über Schimo genaue Auskunft geben, betonte, daß dem alten Gauner bisher in keiner Weise beizukommen gewesen sei und daß Schimo sich ja auch damals bei der Geschichte mit Sigrin Svendsen glänzend herausgelogen habe …“

„Hm – und jetzt sind Schimo und Singo Lan über alle Berg und … wir haben das Nachsehen,“ meinte ich ein wenig ironisch …

Mein guter Harald darauf – noch ironischer: „Wenn ich dir soeben mitgeteilt habe, daß Detektivinspektor Neelpool mit von der Partie ist, dann wirst du wohl …“

Im selben Augenblick schwankte ein schwer beso… trunkener Matrose mit fuchsrotem Bart auf uns zu und bat um Feuer für seinen Zigarrenstummel, hielt sich rülpsend an Haralds Arm fest, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und … flüsterte hastig:

„Singo Lan ist im Auto zum Hafen gefahren, hat dort ein Motorboot bestiegen und …“

„Ein Mietboot, Neelpool?“ unterbrach Harald den Kollegen …

„Ja … Nummer 168, Besitzer Ahmed Durra, Liegeplatz Viktoria-Dock …“

Harst reichte Neelpool Feuer …

„Danke … das genügt mir vorläufig,“ – und er versetzte dem scheinbar Trunkenen einen leichten Stoß …

Neelpool taumelte weiter … –

Diese gut gemimte kurze Szene konnte selbst dem eifrigsten Spion der Gelben kaum aufgefallen sein. Und mit Spionen mußten wir unbedingt rechnen.

Wir nahmen an der Ecke der Kalkuttastraße ein Auto und waren wenige Minuten später in unserem Hotel. Die Fenster unserer beiden Zimmer gingen nach dem Hotelgarten hinaus. Im Nu hatten wir uns umgezogen, im Nu waren wir unten im Garten und benutzten hier eine Seitenpforte der hohen Parkmauer. Den Schlüssel hatte sich Harald schon vormittags vom Hoteldirektor geben lassen.

Bombay war für uns bekannter Boden. Am Viktoria-Dock fragten wir einen Hafenpolizisten nach dem Bootsverleiher Ahmed Durra. Der Inder war mit seiner Motorpinasse bereits wieder zurück. Ohne Zögern teilte er uns mit, daß er vor einer halben Stunde einen Chinesen mit einem Koffer nach dem Frachtdampfer Timitri gebracht habe, der dann sofort die Anker lichtete und nach Norden zu verschwand.

Während wir noch mit dem Inder am Bollwerk standen, tauchte neben uns ein bartloser Europäer auf: Neelpool, Charles Neelpool, der Detektivinspektor!

Begrüßte mich durch Händedruck, meinte schmunzelnd:

„Alles im Lot, lieber Harst … Bin ganz im Bilde … Hinter dem Timitri ist einer unserer Polizeikutter her und wird den Dampfer zur Umkehr zwingen … – Gehen Sie also getrost schlafen … Morgen früh werde ich Ihnen Mister Singo Lan als Gefangenen vorführen … Gute Nacht …“ –

Morgen früh …!!

Nun – wir hatten sehr gut geschlafen … Um neun Uhr vormittags rief Harald vom Hotel aus Freund Neelpool an.

Neelpool meldete sehr kleinlaut, daß die Polizeibarkasse bisher nicht zurückgekehrt und daß von ihr bisher auch keinerlei radiotelegraphische Nachricht eingelaufen sei. Immerhin könne er uns jedoch etwas recht Wichtiges mitteilen, nämlich, daß Schimo den Dampfer Timitri in aller Stille gestern angekauft und samt der bisherigen, zumeist aus Farbigen bestehenden Besatzung übernommen habe.

Harald erklärte Neelpool hierauf, daß wir zu einer persönlichen Rücksprache mit ihm unter diesen Umständen leider keine Zeit mehr hätten. Neelpool würde später von uns noch hören.

Keine Zeit …

Das stimmte …

Wir verließen das Hotel samt unserem Gepäck geradezu fluchtartig, erwarben am Hafen für taufend Rupien ein älteres, wenn auch noch leidlich seetüchtiges größeres Motorboot und stachen damit Punkt halb elf Uhr in See, – Kurs Nordwest – – auf jene Bucht der Küste zu, in der Amalgis U-Boot liegen sollte …

Sollte …! – Ob wir es noch vorfinden würden, erschien mir sehr fraglich …

Und mit dieser Abfahrt von Bombay begann für uns erst so recht eigentlich jene tolle Hetzjagd von Ereignissen, die den harmlosen Titel „Doktor Amalgis Vermächtnis“ trägt.

Jenes kunterbunte Durcheinander von grotesker Komik, sensationellen Überraschungen, Mordrausch, Grauen und Todesangst, wie all dies uns in den vielen Jahren unseres abenteuerlichen Lebens noch nicht beschert worden war. –

 

 

Timitri, das Leichenschiff.

 

1. Kapitel.

Bombay ist bekanntlich eine Inselstadt, ein indisches Venedig. Die Stadt selbst liegt am Südende der gleichnamigen Insel, nordöstlich von dieser die etwas kleinere Insel Siwa und nördlich Salsette, so daß die Eisenbahn, die von Bombay ins Innere des Riesenreiches führt, zwei Brücken passiert. Im allgemeinen pflegen Seeschiffe die nördliche enge Massage zwischen der Insel Salsette und dem Festlande zu meiden, da dieser Weg ins freie Meer durchaus keine Zeitersparnis einbringt. Wenn also der von dem Chinesen Schimo angekaufte Frachtdampfer trotzdem die nördliche Richtung eingeschlagen hatte, mußte der neue Besitzer des Schiffes schon sehr gewichtige Gründe für die Wahl dieses Kurses gehabt haben. –

Unser Motorboot, das einem älteren Inder namens Rami gehört hatte, den wir für alle Fälle als Lotsen mitnahmen, steuerte nun also an diesem trüben, regnerischen und trotzdem glühend heißen Vormittag ebenfalls nach Norden.

Rami hatte uns erklärt, daß er die Gawarra-Bucht sehr genau kenne. Wir hatten ihm also das Steuer überlassen und saßen ein Stück von ihm entfernt auf zwei Klappstühlen. Was wir in der entlegenen und der Sumpffiebergefahr wegen geradezu verrufenen Bucht wollten, hatten wir ihm natürlich verschwiegen. Er hielt uns wohl für ein paar Touristen, die dort wahrscheinlich Flugwild schießen wollten.

Nachdem das äußerst lebhafte Hafengebiet von Bombay hinter uns lag, nachdem nun auch die gewaltigen Docks des Stadtteiles Castle im Regennebel verschwunden waren, zog Harald sein Fernglas aus dem gelben Lederfutteral und spähte nach Verfolgern aus …

Ich saß mit hochgeklapptem Ölmantelkragen da und kaute mißmutig an einer erloschenen und halb aufgeweichten Zigarre.

„Etwas Verdächtiges?“ fragte ich nach einer Weile …

„Nichts …“ Und Harst schraubte das Glas wieder klein und schob es in das Etui zurück …

„Nichts …,“ wiederholte er leiser … „Und gerade das beunruhigt mich …“

Ich blickte ihn an … „Weshalb?“

„Weil diese gelbe Brut uns fraglos nicht aus den Augen verloren hat, mein Alter. Hier ist irgendeine Teufelei im Gange, behaupte ich …“

„Wo?! Wie?! – Schwarzseher!!“ Und ich warf die braune Tabaknudel über Bord in das graue, düstere Wasser.

Harald zuckte die Achseln … „Du bist zumeist zu ungelegener Zeit überflüssig wurstig, Max Schraut … Wenn auch auf dem Wasser kein Verfolger sichtbar ist, so kann doch immer zum Beispiel ein Motorradler auf den Inseln auf den Uferstraßen mit uns gleichen Schritt halten – vielleicht auch mehrere Burschen in einem Auto. Sind sie im Besitz eines guten Fernglases, so können sie jederzeit beobachten, wo wir bleiben und vielleicht zu ungelegener Minute in der Bucht erscheinen …“

Hm – er hatte hiermit nicht ganz unrecht … Die Geschichte konnte in der Tat brenzlich werden, wenn die Herren Gelben gut bewaffnet waren und uns aus dem Hinterhalt niederzuknallen versuchten.

Harald hatte sich nach Rami umgedreht …

„Hallo, Rami … Wie weit ist’s noch bis zur Gawarra-Bucht?”

„Eine halbe Stunde, Sahib,“ erklärte der graubärtige Inder gleichgültig und stierte unverwandt weiter geradeaus.

„Dann steuere jetzt nach Osten bis zur Festlandküste,” bestimmte Harst in demselben ernsten Tone. „Und damit du Bescheid weißt, Rami: mein Freund und ich sind Detektive und möchten uns von den Inseln her nicht beobachten lassen …“

Der Inder nickte nur …

„Wie du es wünschest, Sahib …“ Das Boot änderte den Kurs, und Rami fügte hinzu: „An der Küste steht hohe Brandung … Der Wind kommt von Westen … Ich werde mindestens hundert Meter vom Strande fernbleiben müssen.“

Ich wunderte mich, daß der Alte die Mitteilung, daß unser Beruf mit harmlosen Touristen sehr wenig gemein habe, so gleichmütig hinnahm.

Harst fragte denn auch:

„Wußtest du, wer wir sind, Rami?“

„Ja, Sahib …“

„Woher?“

„Durch meinen Sohn, Sahib Harst …“

„So – auch unsere Namen kennst du … Wer ist dein Sohn?“

„Der Bootsverleiher Ahmed Durra, der den Chinesen an Bord des Timitri brachte … Der eine Hafenpolizist wußte, wer die Sahibs waren, die mit Inspektor Neelpool befreundet sind …“

„Du bist ja recht gut unterrichtet, Rami,“ meinte Harald merklich erstaunt. „Dann ahnst du wohl auch, wer unsere Verfolger sein können?“

„Ja, Sahib: des Chinesen Schimo Freunde!“ Und er spuckte kräftig über Bord. – Kein Inder liebt die Chinesen. Im Gegenteil.

„Kennst du Schimo vielleicht genauer!“ forschte Harald weiter.

„Jeder in der Stadt kannte Schimo … Er besaß außer dem Teehause in der Gasse der zärtlichen Mädchen noch drei Häuser. Er war so reich, daß er selbst vielleicht nicht wußte, wie reich er war. Jedenfalls wußten es die Behörden nicht, Sahib. Kein Chinese in Bombay hat die Steuerbeamten derart betrogen wie Schimo es tat – oder er hat sie bestochen, Sahib. Hier in Bombay ist nach dem Kriege auch vieles anders geworden. – Vor vier Wochen hieß es, er habe Indien für immer verlassen. Sahib – eine Lüge war’s, die Schimo selbst ausgestreut hat … Wir Leute vom Hafen, Sahib, erfahren mehr als andere. Wir halten zusammen, wir flüstern einer dem andern zu, was wir sehen und hören. Aber wir reden zu niemandem darüber, der außerhalb unserer Kaste steht. Mit dir, Sahib, und deinem Freunde spreche ich ganz offen. Du willst Schimo etwas antun. Weshalb, das ist mir gleichgültig. Wir hassen die Gelbgesichter, die in Scharen unser Land überschwemmen und Reichtümer sammeln. Wir bleiben arm, sie werden reich, weil sie ohne Gewissen, ohne Heimat sind und zusammenhalten wie die Kletten. Schimo hat diese vier Wochen über in der Gawarra-Bucht in einem Wohnschiffe im verborgenen gehaust. Er fürchtete das Sumpffieber nicht … Er war in der Bucht sicher. Niemand verirrt sich dorthin. Du wirst die Bucht kennenlernen, Sahib … Es ist ein Ort des Streckens. Nirgends gibt es in der Nähe von Bombay noch Riesenschlangen … In der Gawarra-Bucht leben Untiere solcher Art, länger als ein Ankertau.“

Des alten Rami eintönige Stimme und das Überraschende seiner Mitteilungen wirkten seltsam lähmend auf mich. Schone seit dem heutigen Morgen, seit dem Telephongespräch Haralds mit Freund Neelpool verspürte ich ein seelisches Unbehagen wie die Vorahnung böser Ereignisse. Diese gedrückte, mißmutige Stimmung verstärkte sich jetzt noch mehr.

Harst und ich tauschten verstohlen einen ernsten Blick. Wir verstanden uns. Wenn Schimo vier Wochen in der Bucht sich verborgen gehalten hatte, war’s nicht von der Hand zu weisen, daß ein Zufall ihn das U-Boot Amalgis hatte finden lassen oder … daß gar der Dampfer Timitri dort in der verflossenen Nacht in aller Stille eingelaufen war und sich noch dort befand.

Harald fragte denn auch den Inder, dem wir volles Vertrauen schenken durften, ob es nicht eine Möglichkeit gebe, die Bucht von der Landseite zu erreichen und unser Motorboot vorher irgendwie zu verbergen.

Rami kniff die Augen nachdenklich zusammen …

Dann erwiderte er auffallend zögernd:

„Sahib, wenn du mit zur Polizei gehörtest, würde ich mit Nein antworten. Da du und dein Freund jedoch aus Deutschland seid und nichts verraten werdet, so will ich euch einen Weg führen, den nur … die Schmuggler kennen …“

Und nach kurzer Pause: „Sahib, jeder will verdienen.“

„Das heißt, auch du schmuggelst zuweilen, Rami,“ lachte Harald gutmütig. „All das geht mich nichts an. Du bist sicher, daß wir schweigen werden …“

Der graubärtige, verwitterte Inder nickte zufrieden …

Die Ostküste des Festlandes war nun bereits ganz nahe. Da es stärker regnete und auch jetzt von Verfolgern auf dem Wasser nichts zu bemerken war, brauchten wir Spione nicht mehr zu fürchten. – Rami hielt zehn Minuten später auf eine bewaldete, scharf nach Norden gekrümmte Halbinsel zu, die sich weit ins Meer hinaus erstreckte und hinter deren Nordseite wir völlig ruhiges Wasser antrafen, ebenso ein Flüßchen, das gerade tief genug für unser Boot war.

Die geologische Gestaltung des den drei Inseln Bombay, Siwa und Salsette gegenüberliegenden Küstenstriches ist sehr mannigfach. Kahler Sandstrand, sumpfige Strecken und Felspartien wechseln fast ohne merklichen Übergang miteinander ab und verleihen diesem Festlandsufer ein ganz besonderes Gepräge. – Das Flüßchen, in das Rami nun hineinsteuerte, glich mit seinem rasch dahinschießenden Wasser, seinen von Gischt umstäubten Felsen und Steinen und den von dichtestem Urwald bedeckten Ufern einem tropischen Gebirgsbach. Der Inder legte dann am Ufer hinter einer Kulisse von haushohen Felsblöcken an – in einem von Baumästen beschatteten natürlichen Hafen.

„Hier ist das Boot sicher,“ erklärte er Harald. „Ihr könnt eure Koffer getrost im Boote lassen, Sahib …“

Wir nahmen denn auch nur das Notwendigste mit: unsere Rucksäcke, die Winchesterbüchsen und manches andere, was man bei unserem Beruf nicht entbehren kann.

Rami schritt voran. Es gab hier einen schmalen Pfad, der sich scheinbar an verschiedenen Stellen mehrfach teilte und stets durch Wald und Dickicht dahinlief. Es waren fast Wege eines Irrgartens. Ein Unkundiger hätte sich hier niemals zurechtgefunden.

Nach etwa zwanzig Minuten wurde der Boden immer sumpfiger. Der Pfad war auf weite Strecken mit Baumästen als Schutz vor dem Einsinken belegt. Die schwüle, heiße Luft begann unangenehm zu stinken. Es war der für tropische Moräste so charakteristische Geruch nach faulenden Pflanzen, Sumpfgasen und den überall üppig wuchernden Sumpfblumen. Wer diese schwere, die Brust beengende Luft noch nie geatmet hat, kann es kaum begreifen, daß man in einer solchen verpesteten Niederung bereits nach kurzer Zeit völlig benommen und müde wie ein Schlafkranker ist. –

Rami wandte sich um und machte uns mit der Hand ein warnendes Zeichen …

Die Gawarra-Bucht war nahe …

Gleich darauf erkletterte der Inder das Wurzelende eines vom Sturm umgelegten Urwaldriesen, dessen Krone, wie wir sehr bald sahen, ein Stück in die Bucht hineinragte, im Wasser neue Wurzeln geschlagen hatte und so mit ihrem undurchdringlichen Ast- und Blätterwerk ein tadelloses Versteck abgab. Wir schritten auf dem dicken Stamm entlang, zu dessen beiden Seiten das Gestrüpp zur schmalen Gasse weggehauen war, und fanden zu unserer Überraschung die Baumkrone gleichsam hohl und innen mit Brettern verkleidet: eine Baumhütte, zur Hälfte mit Schmugglerwaren gefüllt …!

In den Wänden waren drei mittelgroße Fenster angebracht, so daß man die fast kreisrunde Bucht bequem überblicken konnte.

Rami schaute hinaus …

„Das Wohnschiff des Chinesen ist nicht mehr da …,“ sagte er …

Ich stand vor dem rechten Fenster …

Es stimmte: die Bucht war leer. Kein Dampfer, kein Boot – – nichts!

Auf dem grünlichen Wasser, das nur wenig offene Stellen zeigte und zumeist verkrautet war, tummelten sich einige Vögel: Pelikane, Marabus, große Möwen, indische Glanzreiher und Schwärme grüner Stare.

Auf den verkrauteten Stellen faulten Baumstämme, reckten kahle Äste wie riesige Skelettarme in die Luft …

Und auf den sechs flachen Felsriffen, die aus dem Morast hervorragten, ruhten Leib an Leib Krokodile …

Hier – kaum zwei Meilen von Bombay entfernt – – Krokodile!!

Ein Krähenschwarm, der drüben einen Baum umflatterte, erregte jetzt meine Aufmerksamkeit …

Ich stutze …

Täuschen mich meine Augen?! Hängen dort in den Baumästen wirklich Menschen?!

Rasch stelle ich mein Glas ein …

Da sagt Rami schon:

„Ihr seht, daß Schimo blutigen Abschied genommen hat … Er hat die Besatzung des Polizeikutters drüben aufknüpfen lassen, den Inspektor Neelpool ihm nachgeschickt hatte …“

Sechs Tote …

Und die Krähen bereits an der Arbeit …

Und ekle Aasgeier nehmen an der scheußlichen Mahlzeit teil.

Deshalb also ist der Polizeikutter nicht zurückgekehrt!! Schimo hat ihn verschwinden lassen, und hier hängen die sechs braven Inder, die den Dampfer Timitri zurück nach Bombay bringen sollten!

Durch das Glas erkenne ich die Leinenuniformen der Ärmsten trotz des reichlich herabrieselnden Regens …

Und ich wende mich nach links, blicke Harald an …

Der schiebt eben sein Glas in das Futteral zurück und sagt:

„Hier werden wir keinen der Bande mehr antreffen … Machen wir dort das kleine Zinkboot flott, Rami, das ihr wohl für eure nächtlichen Pascherfahrten braucht …“

Rami ruft:

„Sahib – – schnell, – – eine Boa Constrictor[3]!!“

Im Nu haben wir die Ferngläser wieder vor den Augen.

Drüben in den Ästen des mit aufgeknüpften Hafenpolizisten grauenvoll geschmückten Baumes schiebt sich ein Untier von Schlange höher und höher …

Krähen und Aasgeier kreisen jetzt angstvoll in der Luft.

Die Boa windet sich um einen der Gehenkten, reißt den Leib herab … Der Kopf fällt in den Sumpf …

Das Untier verschwindet mit seiner leichten Beute im Blattgrün …

Und – ich habe plötzlich im Munde einen gallebitteren Geschmack …

Kognak hilft …

Auch Rami trinkt …

Dann bringen wir das Zinkboot zu Wasser.

 

2. Kapitel.

Und es ist, als ob der Wettergott uns beweisen möchte, daß er es gut mit uns meint …

Das Regengewölk zerteilt sich … Die Sonne übergießt die vielleicht fünfhundert Meter breite Bucht mit unheimlich klarem Licht …

Jetzt erst, wo das kleine Zinkboot durch das dicke, schlammige, grüne Wasser seine träge Bahn zieht, obwohl des Inders knöcherne, aber muskelstrotzende Arme die Ruder geschickt handhaben, – jetzt erst wird uns Europäern klar, weshalb dieser Küstenstrich derart gemieden wird.

Jetzt erst sehen wir die dicke, schmale Nebelschicht stinkenden Brodems, die über der Wasseroberfläche lagert … Sehen wir auf den dick verkrauteten Stellen die Skelette von Vögeln, Fischen, Affen … Sehen überall aus dem Morast die tückischen Äuglein von Krokodilen hervorblinzeln … Sehen an den Ufern die mit Schlamm überkrusteten Wurzelstöcke unterspülter Bäume … Und auf diesen Wurzeln mit ihren faulenden Blätterteppichen noch mehr Überreste von armseligem Getier, das im Kampfe ums Dasein unterlegen ist …

Und drüben winken die fünf Gehenkten, baumeln im Winde wie Glockenklöppel hin und her – Glockenklöppel im Dome des Urwaldes …

Unser Boot biegt in den schmalen Flußarm ein …

Mannshohes Schilf zu beiden Seiten …

In der Mitte eine kaum meterbreite freie Rinne, offenbar von den zahllosen Krokodilen bei ihrem beutegierigen Hin und Her niedergedrückt und gleichsam ausgebaggert.

Ich flüstere Harald zu:

„Unmöglich, daß hier ein U-Boot verankert ist … Das Schilf müßte doch niedergepflügt sein …“

„Ein Irrtum, mein Alter … Seit Amalgis Ankunft hier in Indien sind sechs Wochen verstrichen. In dieser Zeit richtet sich Schilf nicht nur wieder auf, sondern wächst sogar bis zur Höhe der anderen Stengel nach … Wir werden also sehr achtgeben müssen, wo etwa frische Stengel sich kenntlich machen oder sonstwie sich Auffälliges zeigt … Beobachte du nach links, ich nach rechts …“

Und zu Rami: „Rudere ganz langsam … Wir suchen etwas, Rami … Wir wollen dir völlig vertrauen … Wir suchen ein U-Boot, das ein Freund von uns hier verborgen hat …“

Der Inder starrte Harald sprachlos an …

Er wußte sehr wohl, was U-Boote sind … Er kannte sie aus dem Weltkrieg, kannte sie aus dem Kriegshafen von Bombay …“

Aber daß hier im Sumpf ein solches geheimnisvolles Unterwasserfahrzeug versteckt sein sollte, das wollte ihm nicht in den Kopf …

Harst nickte ihm zu … „Es stimmt schon, Rami … Vor sechs Wochen kam ein gewisser Doktor Amalgi in diesem U-Boot hierher. Es handelt sich nur um ein kleines Boot … Hilf uns, die Stelle zu finden, wo es liegt. Du bist auf dem Wasser groß geworden, du bist mit den örtlichen Verhältnissen hier vertraut …“

„Ja, Sahib, „meinte der Alte zaudernd. „Vertraut wohl … Aber ich fürchte, wir werden nichts finden … Da … sieh hin, Sahib: der Flußarm wird breiter … Und – – nichts als Schilf. Und dicht stehen die Stengel wie die Borsten beim Stachelschwein. Zäh sind sie, Sahib …zäh!! Wer mit dem Buschmesser sich Bahn schlagen will, der verbraucht zehn Wetzsteine und zwanzig Messer, Sahib …“

Rami hatte recht. Auch mir erschien es vollkommen aussichtslos, diese Wasserwildnis nach einem Schifflein zu durchstöbern, von dem vielleicht nur der Deckturm sichtbar war …

Harald jedoch kniff die Lippen zusammen …

„Wir müssen!!“ sagte er kurz. „Ich will mir die Erfindung Amalgis nicht entgehen lassen, schon deshalb nicht, weil ich hoffe, daß …“

Und schwieg …

Erhob sich … starrte nach links …

Winkte …

Rami zog die Ruder ein … Das Zinkboot lang still …

Ich stand gleichfalls auf …

Da hob Harald auch schon die Hand …

Und ich erblickte zehn Meter seitwärts über den Spitzen der Schilfstengel den Kopf und ein Stück des grüngrauen Leibes eines wahren Ungetüms von Riesenschlange …

Mitten im Schilf mußte diese Boa, die noch weit größer war als die vorhin von uns erblickte, mit dem Leibe, dem Schwanzende irgendwo Halt gefunden haben …

Ich stierte noch wie gebannt auf den hin und her schwankenden Kopf des Ungeheuers, als neben mir ein scharfer Knall wie ein überlauter Schlag auf einen harten Blechdeckel erschallte …

Harst hatte aus der Winchesterbüchse auf das Reptil gefeuert.

Die Boa fuhr auf den Schuß hin mindestens zwei Meter höher, drehte sich wie ein Kreisel, sank in sich zusammen, verschwand …

Harald rief:

„Hier vor uns, Rami, – was meinst du … Sieht das hier nicht aus, als ob das Schilf zerstört wurde und wieder nachgewachsen ist?“

„Recht hast du, Sahib … Die Stengel sind jung …“

Und er beugte sich über Bord, packte mit der Linken eine Menge Rohr, holte mit dem Buschmesser aus und schlug tief unter Wasser … Das Wasser spritzte …

Das gekrümmte, schwertartige Buschmesser säbelte die Stengel ohne Mühe nieder …

Und so bahnten wir uns jetzt einen Weg dorthin, wo die Boa zusammengesunken war und wo wir auch sehr bald die verschwommenen Umrisse eines grauen runden Dinges gewahrten, das nur der Turm des kleinen U-Bootes sein konnte.

Es war der Deckturm …

Die Luke offen …

Auf dem Lukendeckel frisches Blut … von der Boa … Das Untier selbst wohl im Sumpfe versunken …

Unser Boot legt an. Rami springt auf den Turm …

Und im selben Moment schießt aus der Luke wie ein grüngrauer Blitz mit halb zerschmettertem Schädel die Riesenschlange empor …

Der blutende tellergroße Kopf mit dem stumpfen Maul wendet sich gegen den unglücklichen Rami …

Wie die Eisenfaust eines Boxers schlägt der Rammbock von Schlangenschädel gegen Ramis nackte Brust …

Röchelnd fällt Rami rückwärts – mir in die Arme …

Harst … feuert …

Jeder Schuß ein Treffer …

Und dennoch fliegt die Riesenfaust abermals gegen uns.

Ich spüre einen Stoß gegen die Schulter …

Fliege mit dem bewußtlosen Rami in das Röhricht – – selbst halb bewußtlos …

Sehe noch mit verschleiertem Blick, daß Harst mit dem Buschmesser wie ein Fechter um sich schlägt …

Dann schwinden mir die Sinne … – –

Ich erwache wieder …

Langsam finde ich mich in diese gänzlich veränderte Umwelt wieder hinein …

In einem Bett liege ich …

Schmales Kojenbett …

Über mir brennt eine elektrische Birne …

Und an meinem Ohr dringt das gleichmäßige sausende Rattern eines Motors …

Leichter Benzinduft dringt mir in die Nase …

Und – – anderes dringt an mein Ohr …: eine halb erloschene Stimme …

Dort von links …

Dort ein zweites Bett in winziger niederer Kabine …

Ich erkenne auf hellem Kissen Ramis braunes Gesicht …

„Sahib Schraut … Sahib Schraut, wir … wir fahren!“

Freude, Jubel in dieser Stimme …

„Sahib, wir fahren im U-Boot …! Sahib hörst du: der Motor! Und das Wasser höre ich rauschen an den Bordwänden … Die … die Boa hat uns doch nichts anhaben können …“

Ich schließe die Augen …

Und in meine Seele schleicht unendliches Grauen in nur zu grellem Erinnern an die letzten Sekunden, bevor im Schilf der Fieberbucht das Bewußtsein mich verließ …

Wieder Ramis hastige Stimme:

„Sahib, wir leben …! Sahib Harst hat uns gerettet … Sahib, ich höre die See rauschen, die Wellen klatschen … Wir … leben … leben!“

Und da richte ich mich mit einem Ruck auf …

Da beachte ich nicht die schmerzende Schulter …

Ich lebe – – lebe …

Ich höre das freie Meer draußen sich melden mit markigem Sang …

Und bin auf den Beinen …

Taumele etwas … Das U-Boot rollt … Ich taste mich zum Tischchen …

Kognakflasche … drei Schluck …

Feuer, Kraft in den Adern …

Rami kommt …

„Trinken, Sahib … trinken …“

Sein Atem pfeift … Seine wunde, verbundene Brust fliegt in kurzen Stößen …

Er trinkt …

Sein Gesicht strahlt …

Er … lebt … Wir leben … Und der Tod war so dicht vor uns, um uns der Tod in den Windungen eines muskelstarrenden Schlangenleibes … –

Ich öffne die kleine Tür …

Tageslicht schräg oben …

Die offene Luke – der Turm … In dem Turm zwei Beine – braune Schuhe, grün-braune Wickelgamaschen. Harald – Harald vor dem Steuerapparat …

Ich klettere die kurze Eisenleiter empor …

Harst wendet den Kopf …

„Endlich …!! Endlich, mein Alter! Achtzehn Stunden war ich hier an Bord ganz allein auf mich angewiesen …“

Ich blicke ihn an … Schwarze Ränder hatte er unter den matten, hohlen Augen … Seine Lider flatterten vor Übermüdung und Nervosität … Seine Stimme brüchig, schrill …

Achtzehn Stunden!! Achtzehn …! Ohne Schlaf – und mit der Verantwortung für das kleine Schifflein, nebenbei noch Krankenpfleger für Rami und mich …! – Ich begriff alles …

„Harald!!“

„Keinen Dank … Ich muß schlafen … schlafen … Ich habe dir hier alles Nötige auf diesen Zettel geschrieben …“

Er lehnte schachmatt an der Wandung des Turmes …

„Wohin geht’s, Sahib?“ fragte der Inder ihn scheu – scheu vor Ehrfurcht ob so viel Energie und Herrschaft über einen längst ruhebedürftigen Körper …

„Der Zettel!“ murmelte Harald nur und tastete sich wie ein Trunkener die Eisenleiter hinab …

Der Zettel – – ein Blick darauf …:

Ziel: die Nikobareninsel Tillangchong – so las ich …

Tillangchong?! Nikobaren?! – Wie war Harst gerade auf diese entlegenen Inseln als Fahrtziel gekommen?!

Ich las weiter …:

„Mit der Bedienung von Amalgis „Robbe“ wirst du unschwer fertig werden. Die einzelnen Hebel sind so genau bezeichnet, daß bei einiger Sorgfalt ein Versehen kaum vorkommen kann …“

Ich legte den Zettel rasch auf das winzige Kompaßtischchen …

Wie konnte ich nur so nachlässig sein und das Schifflein sich selbst überlassen!!

Rasch also nach dem Stande der Kompaßnadel geschaut …

Hände ans Steuerrad …

Nikobaren – – also gen Süden …

Und dann ein Blick durch das Turmfenster in die Fahrtrichtung …

Freies Meer …

Sonnenschein … Träge rollende grünblaue Wogen … Und – – Ramis Stimme:

„Sahib, wenn du mir ein wenig Bescheid sagen würdest, konnte ich das Boot schon lenken …“

Der brave Alte hatte recht. Ich war ja nicht auf mich allein angewiesen wie Harald achtzehn endlose Stunden lang!

Rami begriff sehr schnell alles Nötige. Er gehörte zu jenen Indern, die einen ausgesprochenen Drang nach Ausfüllung der vielfachen Lücken ihrer Allgemeinbildung besitzen. Er wollte lernen – alles. Und er war intelligent und behende, geistig und körperlich.

So konnte ich denn nun in Ruhe den mit Bleistift flüchtig beschriebenen Zettel Haralds zu Ende lesen.

„… Versehen kaum vorkommen kann … – Nachdem ich im Gawarra-Sumpf der Boa glücklich mit dem Buschmesser den Kopf und Teile des Rumpfes abgeschlagen hatte, zog ich dich und Rami aus dem Schilf wieder an Bord. Du warst infolge deiner Schwere schon ziemlich tief weggesackt und hattest mehr Wasser geschluckt, als dein Magen vertrug. Ich brachte euch in der Kabine unter und verband Ramis schwere Brustquetschung. Bei dir genügten kalte Umschläge. Dann begab ich mich in die Nachbarkabine, die Amalgi bewohnt hatte. Hier fand ich deutliche Beweise dafür, daß Schimo mit seinem Anhang doch die „Robbe“ entdeckt gehabt und sich des öfteren hier an Bord aufgehalten hatte. Ich bekam so auch einen Zettel in die Hand, der wohl aus Versehen dem Chinesen entfallen und hinter den kleinen Schreibtisch geflattert war. Dieses Stück Papier enthielt lediglich die mit Tintenschrift geschriebenen Worte in englischer Sprache:

Auf Tillangchong alles bereit. Nichts Neues. Bisher keinerlei Verdacht der Nachbarn oder Anzeigen, daß die beiden deutschen Spürhunde uns aufgestöbert haben. – Sikussa.

Diesen Zettel deutete ich dahin, daß es sich um die Nachricht eines der Verbündeten Schimos handelte. Dieser Sikussa hält sich fraglos auf Tillangchong auf. Und vielleicht werden wir dort auf der Insel das finden, was wir suchen. – Du steuerst also weiter auf die Nikobaren zu. Die „Robbe“ macht, wie ich festgestellt habe, durchschnittlich achtzehn Knoten. Sollte es Sturm geben, so tauche. – Ich bin mit dem U-Boot bei starkem Regen unbemerkt an Bombay vorübergekommen. Von Fischern erfuhr ich, daß der Dampfer Timitri nachts an der Festlandküste entlang nach Süden zu verschwunden ist, also nicht die enge Nordpassage gewählt hat. Der Timitri dürfte vor uns Tillangchong erreichen, wenn er als Frachtschiff auch nur zehn bis zwölf Knoten läuft. – Diese Mitteilungen werden dir genügen.“

Gewiß, sie genügten mir …

Sie wirkten sogar auf mich wie ein anfeuernder Trank. Der Gedanke, daß Amalgis Tochter sich auf Tillangchong befinden könnte, daß wir das junge Mädchen befreien und die Chinesenbrut für die Ermordung der sechs Hafenpolizisten bestrafen würden, verscheuchte bei mir auch den letzten Rest von Mattigkeit. Gewiß, meine Schulter schmerzte noch immer gehörig, und auch unter meinem kahlen Schädel machte sich zuweilen noch ein leichtes Gefühl von Schwindel und Benommenheit bemerkbar. Ich achtete nicht darauf. Ich schaute auf den hier im Turme angebrachten Schiffschronometer … Fünf Minuten vor zwölf …! Daher holte ich rasch aus Amalgis Kabine die nötigen Instrumente herbei, um unseren Schiffsort zu bestimmen. Fünf Minuten nach zwölf wußte ich, daß die „Robbe“ sich bereits auf einer Höhe mit der Hafenstadt Alleppi befand. Bis zur Südspitze Vorderindiens hatten wir es also nicht mehr allzu weit, und wenn wir dann erst die Palkstraße nördlich Ceylon passiert haben würden, brauchten wir nur noch den Meerbusen von Bengalen zu durchkreuzen, um die Nikobaren auf kürzestem Wege zu erreichen, freilich eine Seereise von mindestens noch acht Tagen …

Acht Tage …

Nein, sieben Tage … Ich hätte über diese Woche, die wir drei einsam auf kleinem Schifflein auf hoher See zubrachten, kaum etwas zu berichten. Harald hatte volle zwölf Stunden ohne Unterbrechung geschlafen. Dann war er wieder völlig der alte. In dem Hafenorte Negapatam ergänzten wir nachts in aller Stille unseren Benzinvorrat. Negapatam ist dem Leser nicht fremd. Ich brauche nur an den „toten Radscha“ und den „Abreißkalender des Kapitäns“ zu erinnern. –

Sieben Tage … Dann, nachdem Harald und ich das Kloster Damalang, Amalgis Tod mit seinen geheimnisvollen Begleitumständen und unsere Abenteuer in Nepal beinahe schon vergessen hatten, ereignete sich an diesem siebenten Tage abends etwas so Merkwürdiges bei uns an Bord, daß mit einem Schlage alle Rätsel der toten, lebenswarmen Samur-Yogi mit erschreckender Klarheit wieder vor unsere Seelen traten …

Abends neun Uhr …

Regen, leichter Sturm …

Wir fahren in zehn Meter Tiefe dahin, um die „Robbe“ nicht der Gefahr auszusetzen, von den schweren Brechern beschädigt zu werden.

Wir drei sitzen auf Klappstühlen eng nebeneinander im Turme … Harst schickt Rami in Amalgis Kabine. Der Inder sollte aus dem Seekartenvorrat die Karte der Westküste von Hinterindien heraufholen, auf der auch noch die Andamanen und Nikobaren mit enthalten sind.

Rami kommt mit der Karte zurück, sagt ein wenig unsicher:

„Sahib Harst, dies hier lag auf dem Schreibtisch …“

Reicht Harald ein Blatt … beschrieben mit Bleistift …

Harst wirft einen Blick darauf …

Sein Gesichtsausdruck verändert sich …

Liest dann vor:

„Taucht um Mitternacht auf …!“

Nichts weiter …

„Es ist … Amalgis Schrift,“ meint Harald wie geistesabwesend. „Da, mein Alter, überzeuge dich …“

Ich prüfe jeden Buchstaben. Im Vergleichen von Handschriften bin ich eine kleine Autorität.

„Nun?!“ fragt Harald, dem’s offenbar zu lange dauert.

„Es stimmt – Amalgi!“ erkläre ich genau so geistesabwesend wie Harst soeben … Denn – beim Himmel: mir rieselt’s kalt über den Rücken! Mir ist’s, als ob die Geheimnisse von Kloster Damalang und seiner Bewohner wie graue Gespenster uns umflattern.

Rami – wir haben in Rücksicht auf ihn englisch gesprochen – meinte bescheiden und verdutzt:

„Ist denn außer uns noch jemand an Bord?!“

Und diese Bemerkung trifft den Nagel auf den Kopf.

Rami weiß alles, was wir in Nepal erlebt haben. Während dieser ereignislosen sieben Tage hat Harald ihm von Doktor Amalgi, Miß Goord und von dem seltsamen Beginn dieser Reihe von Abenteuern im fernen Deutschland erzählt – dort in Grünheide in der Mark zwischen Peetz- und Werlsee … Dort wurde das kleine U-Boot, die „Robbe“, erbaut … Dort lernten wir Amalgi kennen … Dort war er noch unser Feind …

„Der Zettel ist von Amalgi geschrieben,“ erwiderte Harst nun auf des Inders Frage. „Der Zettel bedeutet einen Befehl. Da ich nun bestimmt weiß, daß Amalgi nicht mehr lebt und im Kloster Damalang in einer der vergoldeten Nischen auf weißem Marmorpostament steht, – da ich ferner an übernatürliche Vorgänge dieser Art nicht glaube, kann der Zettel nur eine geschickte Fälschung sein, und es muß sich außerdem auch ein blinder Passagier hier an Bord befinden. – Mein Alter,“ wendet er sich mir zu, „du bleibst hier im Turm. Rami und ich werden nochmals alle Räume der „Robbe“ besichtigen und durchsuchen …“

So spricht Harald …

Leugnet, daß er an Übernatürliches „dieser Art“ glaube.

Aber in seinen Worten ist wenig Überzeugungstreue. Sie klingen so, als ob er – was so selten geschieht – sich selbst belügen, sich selbst etwas vormachen will …

Er und Rami verlassen den Turm …

Die Arbeit, die „Robbe“ gründlichst zu durchsuchen, ist nicht groß. Das kleine Tauchboot hat nicht allzu viel Räume: zwei Kabinen, vier Vorratskammern, den Maschinenraum, die winzige Küche.

Harald und der Inder sind denn auch wenig später wieder bei mir.

Haben natürlich nichts entdeckt.

Wir tauschen über dieses negative Ergebnis nur knappe Bemerkungen aus.

Ich steige in die Kombüse hinab. Bei Seefahrten ist es von jeher mein Amt gewesen, Koch zu spielen, was ich gar nicht ungern tue. Ich bin ein wenig Feinschmecker, und wenn man eine so reichhaltige Vorratskammer hat wie wir hier, dann macht das Kochen Spaß und … der Bauch wird dicker. Ein paar Pfund hatte ich bereits in diesen sieben Tagen auf See fraglos zugenommen, Nun – sie sollten sehr bald wieder in Nichts zerfließen – – auf Tillangchong bei der Suche nach Sigrin Amalgi – oder Sigrin Svendsen, wie man das Mädchen nennen will.

Ich schalte in der Miniaturküche das Licht ein …

Und dann – – fand ich, was mir abermals einen Eiszapfen den Rücken hinabrutschen ließ …

 

3. Kapitel.

Linker Hand führt eine Tür in die „Speisekammer“. Das ist ein langgestreckter, kaum anderthalb Meter breiter Raum an der Backbordseite der „Robbe“.

Ich drehe auch hier das Licht an … Da steht das mächtige Regal mit den Schutzleisten und den vielen Blechbüchsen. Ich mustere sie, halte Auswahl …

Und mein Blick gleitet wie von ungefähr nach unten … Da ist unter das Regal eine lange Kiste geschoben. Vorn eine Papptafel daran:

Iglama – Hartbrot.

Bisher haben wir nur Zwieback gegessen. Hartbrot eignet sich nur zum Rösten, schmeckt auch dann nicht.

Und doch hängt mein Blick sinnend auf dieser bis jetzt völlig unbeachtet gebliebenen Kiste und dieser Papptafel …

Iglama … Ig…lama …, lese ich immer wieder …

Mit einem Male geht’s mir wie ein leichter elektrischer Schlag durch den Körper …

Iglama!!

Sind wir denn bisher blind gewesen?!

Iglama …!! –

Man lese es von rückwärts und man wird mein Erstaunen begreifen!!

Amalgi – –, Amalgi-Hartbrot?!

Hartbrot?!

Ich bücke mich …

Die Kiste ist schwer …

Ich ziehe sie hervor …

Der Deckel hat hinten drei Scharniere, wie ich erst jetzt sehe, und die Nägelköpfe im Deckel sind eitel Spiegelfechterei.

Ich klappe den Deckel ohne weiteres hoch …

Sehe eine seidene, golddurchwirkte Decke, wie sie droben in Nepal gewebt werden …

Unter der Decke zeichnen sich deutlich die Umrisse eines menschlichen Körpers ab …!!

Ich zaudere …

Ich fühle wieder das Grauen in meiner Seele aufkeimen …

Presse die Lippen aufeinander …

Reiße die Decke hoch …

Das kalte elektrische Licht der Glühlampe bescheint … Amalgis schmales, kluges Gesicht …

Die Opalaugen schillern, scheinen mich anzustarren …

Unwillkürlich weiche ich bis zur Tür zurück …

Ich bin nicht feige, bin vielleicht auch kein Held. Ich meide überflüssige Gefahr, halte es für töricht, mit dem eigenen Leben leichtfertig zu spielen. Wir haben jeder nur ein Leben zu verlieren, und Dolche, Messer, Kugeln nehmen wenig Rücksicht hierauf.

Kein Held …

Aber wer sich in meine damalige Lage zu versetzen vermag, wer genug Phantasie besitzt, sich diese Szene auszumalen und dabei noch an den Zettel Amalgis zu denken, an den seltsamen Befehl, der wird begreifen, daß ich hier vor etwas derart Unfaßbarem stand, wie mir dies bisher kaum begegnet.

Kein Held …

Gefahr für mich war hier nicht vorhanden. Und doch sehnte ich mich nach Gesellschaft, eilte in den Turm, berichtete …

Harst und Rami starren mich ungläubig an …

Begleiten mich, nachdem der Motor abgestellt ist. Die „Robbe“ treibt nun also in zehn Meter Tiefe … Und wir drei stehen vor der … Hartbrotkiste …

Rami ganz hinten …

Harst kniet nieder … Befühlt Amalgis Hände …

Sagt: „Warm – aber kein Pulsschlag!“

Befühlt die eingesetzten Augen, die prächtigen Opale … Augen aus Stein, wie Perlmutter in allen Farben schillernd.

„Es sind Opale,“ sagt er wieder …

Erhebt sich …

Zuckt die Achseln …

Auf seiner Stirn liegen dicke Falten.

Hinter uns flüstert Rami:

„Er muß doch leben! Er hat doch den Zettel geschrieben!“

Und auch diese Bemerkung trifft den Nagel auf den Kopf. Harst breitet schweigend die Decke über den unheimlichen Toten und winkt mir zu …

„Tragen wir die Kiste in Amalgis Kabine, mein Alter.“

Wir tun’s …

Stellen sie mitten in den kleinen Raum …

Rami sieht zu, meint abermals:

„Man muß den toten Sahib Doktor doch von Nepal nach Bombay geschafft haben – in die Gawarra-Bucht …“

Harst bleibt stumm …

Stumm geht er in den Turm …

Ich in die Kombüse. Damals abends hat mir das Kochen wenig Freude gemacht, und als wir drei nachher in der sogenannten großen Kabine gemeinsam speisten, wurde es eine recht stille, beklommene Mahlzeit.

Rami fragt schließlich:

„Sahib Harst, was hältst du von alledem?!“

Harald erwidert: „Ich werde hierfür wohl nie eine Erklärung finden, Rami. Ich halte es auch für zwecklos, über Dinge nachzugrübeln, die außerhalb der eng gezogenen Grenzen menschlichen Begreifens liegen. All diese toten Samur-Yogi die Schraut und ich sahen, waren lebenswarm wie … Amalgi …“

Der alte Inder nickt nachdenklich …

„Ja, Sahib Harst, es gibt vieles, was hier in meiner Heimat dem Fremden das Blut aus dem Gesicht treibt – vor staunendem Schreck … Ich habe einen Yogi gekannt, den schon mein Großvater als Greis gesehen hatte … Dieser Yogi verschwand vor einem Jahr aus Bombay. Man sagte, er sei zweihundert Jahre alt geworden …“ –

Unsere Mahlzeit ist beendet.

Harst schaut nach der Uhr …

Elf …

Nach eine Stunde, dann werden wir die „Robbe“ an die Oberfläche des Meeres emporsteigen lassen …

Und dann?! –

Die Zeit kriecht …

Wir sitzen im Turm … rauchen. Der Motor schnurrt … Ruhig gleitet das Boot unter Wasser dahin … – Rami ist unten im Maschinenraum … Ich blicke Harald an … Er schüttelt den Kopf …

„Frage nichts, mein Alter … Ich weiß, was du fragen willst. Ich könnte dir keine Antwort geben. Es bleibt ein unfaßbares Rätsel, und – wir haben einen Toten an Bord, der nicht tot ist …“ –

Endlich drei Minuten vor Mitternacht …

Harald dirigiert die „Robbe“ nach oben. Die Ballasttanks entleeren sich. Das Boot steigt. Der Turm taucht auf, – und ich blicke durch das Fenster über ein schwach bewegtes Meer, das im hellen Vollmondglanz daliegt – im Glanze des prächtigen südlichen Sternhimmels …

Ich … sehe noch etwas …

Gerade vor uns einen großen Dampfer …

Der Dampfer treibt … Kein Qualm entquillt seinem Schlote … treibt bald hierhin, bald dorthin – steuerlos …

Harst schraubt den Lukendeckel auf …

Wir klettern auf den Turm. Rami bringt die Ferngläser …

Es ist so hell wie am Tage …

Unsere „Robbe“ kommt dem Dampfer näher …

Noch hundert Meter …

Ich entziffere die Buchstaben am Bug …

Timitri!!

„Also deshalb!!“ sagt Harald …

Er sagt’s … Und greift in die Tasche, holt seine kurze Pfeife hervor, dreht sein Feuerzeug an …

Da treibt auch mir der Wind vom Dampfer her eine Wolke eklen Verwesungsgeruches in die Nase …

Rami ruft:

„Sahib, ein Pestschiff!!“

Auch er hat’s gerochen …

Nicht besser kann er’s bezeichnen: Pestschiff!!

Dort drüben an der Reling, auf der Brücke keine lebende Seele … Die Kessel kalt … Kein Laut … Kein Zeichen, daß auch nur ein einziger der Besatzung noch am Leben … Nur Möwenschwärme umkreisen das Leichenschiff … Aber an Deck müssen sie liegen, diese in der Sonne des Südens bereits verwesten Toten … Woher sonst dieser übermäßige Leichengeruch?!

Leichengeruch, der in mir sofort trübe, entsetzliche Bilder hervorgezaubert: der Cholerakirchhof, die Schlucht, in der wir mit Amalgi, Miß Honoria und dem alten Enoch sterben sollten – angesteckt werden!!

Und dort vor uns auf dem Timitri [hat][4] fraglos der zweite grausame Würgeengel Indiens gewütet: die Beulenpest! – Nur sie mäht ganze Schiffsbesatzungen erbarmungslos nieder, nur sie wählt sich hauptsächlich zu ihren Opfern die Farbigen aus.

Da ist unsere „Robbe“ schon dicht an dem Dampfer …

Rami schleudert das Tau mit dem Haken … Der Haken faßt …

Der Inder klettert dann empor …

Wirft nur einen Blick über die Reling, rutscht wieder herab …

Sein braunes Gesicht ist aschfarben …

Wir brauchen ihn nichts zu fragen … Der Ausdruck seiner Augen sagt genug.

Wahnwitz wäre es von uns, etwa an Deck des Timitri zu steigen …

Und unsere „Robbe“ wendet, enteilt der verseuchten Luft … Wir wissen, daß Schimo, der Mörder der sechs Hafenpolizisten, nicht mehr lebt, daß auch Ma Singo Lan der Pest erlegen. Alle Boote des Dampfers hängen noch in den Davits. Kein Mensch hat das Schiff verlassen, das schon in Bombay den Tod an Bord hatte: die Pest!!

 

4. Kapitel.

Zwei Tage später … Unsere „Robbe“ liegt an der felsigen, zerklüfteten Nordküste von Tillangchong in einer kleinen, geschützten Bucht. Bei Anbruch der Dunkelheit haben wir uns dem Strande genähert. Jetzt ist es finstere Nacht. Regengüsse gehen hernieder. Der Sturm heult um die zerrissenen Felsmassen … Oben an den Steilhängen der Bucht, wo der berüchtigte Urwald der Nikobaren seine von Lianen und anderen Schmarotzerpflanzen durchwebten Baumriesen dem Orkan entgegenstemmt, krachen morsche Stämme mit donnerndem Lärm zu Boden, reißen andere mit …

Die ganze Natur ist in wildestem Aufruhr. Unzählige Salanganen, jene Schwalbenart, die die eßbaren Vogelnester liefern, kreisen in dichten Schwärmen über dem Wasser. Man sieht sie nicht, aber man hört ihre schrillen Pfiffe, die genau so klingen, als ob eine Schar kleiner Jungen aus Übermut sich im Pfeifen übt.

Wir haben soeben die „Robbe“ an einer Felszacke vertäut und noch den Heckanker ausgeworfen. Wir sind auf Haralds Wunsch hier im gebirgigen Nordteil der Insel vor Anker gegangen, weil Harst annimmt, daß Schimos geheime Behausung, in der auch Sigrin gefangen gehalten wird, kaum an anderer Stelle zu suchen sein dürfte, weil die übrige Insel flach und unbewaldet und wenige fruchtbar ist. Nach der Seekarte befinden sich auf ihr lediglich drei von Europäern geleitete Kokospflanzungen und fünf Eingeborenendörfer.

Meiner Ansicht nach wird es uns sehr schwer fallen, Sigrin zu entdecken, was ich jetzt auch Harald gegenüber betone, der in Ölzeug neben mir auf dem Turme steht. Rami ist in der Kombüse und spielt heute ausnahmsweise den Koch.

Harst erwidert nur: „Wir haben Zeit, mein Alter … Niemand wird gegen uns irgendwie Verdacht schöpfen. Außerdem wird man uns hier kaum bemerken …“

Das alles mag richtig sein. Aber die Angaben auf dem Zettel, den der Chinese verlor und den Harald fand, sind so wenig erschöpfend, was die Lage von Schimos hiesigem Schlupfwinket betrifft, daß nur ein Zufall meines Erachtens uns einen Erfolg bescheren kann. Dieser mit Sikussa unterzeichnete Zettel spricht zwar von „Nachbarn, die noch nicht mißtrauisch geworden sind“. Das ist verdammt wenig, um ein vor fünfzehn Jahren geraubtes Kind hier aufzustöbern.

Es gießt in Strömen …

Nicht die Hand vor Augen ist zu sehen …

Die Nikobaren sind ja ihrer Stürme und starken Regenfälle wegen berüchtigt. Als die jetzt England gehörige Inselgruppe noch Dänemark gehörte, starben die weißen Ansiedler in diesem mörderischen Klima wie die Fliegen dahin. Das Fieber ist hier ständiger Gast. –

Wir beide stehen hier oben an Deck meinem Dafürhalten nach ziemlich zwecklos herum. Ich habe Sehnsucht nach der Kabine, nach heißem Tee mit Rum und … einer Dosis Chinin, denn seit gestern packt mich zuweilen ein leichter Schüttelfrost, und in mir wacht zuweilen die gräßliche Angst auf, daß die Beulenpest mir beweisen will, wie heimtückisch sie auch den gesunden Europäer beschleicht. – Meine Stimmung ist gedrückt und mißmutig.

„Gehen wir hinab,“ sage ich leicht gereizt … „Weshalb wollen wir hier …“

Da erst merke ich, daß ich in den Wind rede …

Harst ist von meiner Seite verschwunden …

Wohin?! – Keine Ahnung …!

Ich rufe …

„Harald!!“

Nein – ich brülle …

„Hallo!“ kommt die Antwort vom Bug her … „Hierher, mein Alter … Ich habe einen ungebeten Besucher erwischt …!“

Ich taste mich nach vorn … Aus dem Regennebel taucht Harsts schlanke Gestalt auf. Er trägt einen Mann in den Armen, einen Nikobaresen …

„Ich habe den Burschen niederschlagen müssen,“ meinte er gelassen „Diese Stammesverwandten der Malaien lieben vergiftete Dolche … Schließe hinter uns die Turmluke …“

In der großen Kabine legt er den nassen, bärtigen, rotbraunen Kerl mit den Wulstlippen und dem langen Weiberhaar auf den Teppich. Der Nikobarese ist ein älterer Mann, nur mit Bastschurz bekleidet, um die Lenden noch einen Strick, an dem ein Dolch in Lederscheide und ein Beutel mit Blasrohrpfeilen hängen …

Sagt Harald, indem er den Ölrock auszieht: „Dir entging es, mein Alter, daß die „Robbe“ plötzlich auf besondere Art schaukelte. Der rotbraune Gentleman ist an der Stahltrosse vom Ufer an Deck geklettert.“

Fünf Minuten drauf sitzt unser Gefangener bei vollem Bewußtsein aufrecht da und stiert uns ängstlich an.

Harst steht mit der Clement in der Hand vor ihm, fragt ihn in englischer Sprache aus. Zunächst tut der Bursche so, als ob er englisch nicht verstünde. Aber in den großen schwarzen Augen liegt ein Ausdruck, der meinen Freund berechtigt, dem widerborstigen Gesellen eine Kugel zu verheißen, falls er nicht sein Wulstmaul öffne …

Da bequemt dieser magere Wilde sich denn schließlich zu einer Antwort … nickt, spricht:

„Ich wohnen hier drüben in nächster Bucht in Dorf auf Insel, Mister …“ Sein Kauderwelsch ist wirklich kaum verständlich. „Ich hier an Bucht Vogelnester sammeln, weil bei große Regen Nester sauberer … Ich allein waren, Mister.“

Seine Augen hängen angstvoll an der Pistole.

Harald weiß seine Leute zu nehmen, reicht dem Nikobaresen eine Zigarre …

Der strahlt … und beißt ein Stück von der Zigarre ab, schiebt es als Kautabak in die Backe. Den Rest in den Pfeilbeutel.

„Wohnen hier auf Tillangchong Chinesen?“ fragt Harald weiter.

„Ja, Mister … viel Chinesen …“ Er hebt zweimal die zehn ausgespreizten Finger. – Also zwanzig Schlitzgesichter.

„Wo wohnen die?“

„Hinter Wald, Mister … Bei Erdölquelle …“

Auf den Nikobaren gibt es zahlreiche natürliche Petroleumquellen. Das Erdöl ist aber sehr minderwertig.

„Kennst du einen gewissen Sikussa?“ lautet die nächste Frage.

„Ja, Mister … Ist Leiter der Ansiedlung, Mister … Chinesen beuten Ölquelle aus …“

„Wie weit ist’s bis dorthin? Und liegt eine Kokosplantage in der Nähe?“

„Nicht weit, Mister … Plantage mehr nach Süden …“

Harst gibt ihm eine zweite Zigarre, und der Kerl fletscht vor Freude die spitz gefeilten Zähne. Im übrigen hat der dürre Gentleman sich derart mit ranzigem Öl eingerieben, daß er unglaublich stinkt.

Wieder fragt Harald: „Haben die Chinesen Frauen bei sich? Vielleicht eine Europäerin mit blondem Haar?“

Der Zigarrenfresser nickt beängstigend eifrig. „Fünf Frauen, Mister … Eine hellere Haut auch da sein …“

„Dann wirst du uns jetzt sofort nach der Niederlassung führen … Als Lohn erhältst du dies hier …“

In Amalgis Schreibtisch hatten wir auch einen verrosteten Revolver mit einer Schachtel Patronen gefunden. Beides zeigt Harald nun dem stinkenden Kerl. Der fliegt vor Seligkeit vom Teppich hoch …

„Gut, gut … Kommen mit, Mister … gleich kommen!“

Für alle Fälle nehmen wir die Remingtonbüchsen und auch Rami mit. Revolver und Patronen sollen dem Führer erst später ausgehändigt werden, damit er uns in der Finsternis nicht etwa auskneift.

Wir verlassen die „Robbe“ und Harald schließt den Lukendeckel von außen ab. Ich habe noch ein Gramm Chinin geschluckt und mit Kognak nachgespült. Meine Stimmung ist wie ausgewechselt. Harald hat natürlich von vornherein die Absicht gehabt, die Eingeborenen auszuforschen, und die Gefangennahme des Nestersammlers hat uns nur schneller zum Ziele geführt.

So beginnt denn der Abschluß dieses Abenteuers – ein etwas überraschender und doch auch merkwürdig geheimnisvoller Abschluß …

 

5. Kapitel.

Marsch durch den sturmgepeitschten Urwald auf schmalem Pfade … Ringsum Höllenlärm … Jeden Moment kann uns ein stürzender Stamm zu Mus quetschen … Der Nikobarese mit einer Karbidlaterne voran … Wir drei dicht hinter ihm … Gefährliche Kletterpartien durch Schluchten und Abgründe … Zerschundene Hände und Knie … – Eine halbe Stunde so … Mehr hätten wir in dieser stickigen Moderluft auch nicht ausgehalten. Dann fällt das Gelände sanft nach Süden ab, der Wald hört auf, kahle Felshügel legen uns kein Hindernis in den Weg.

Der Zigarrenfresser beschleunigt das Tempo. Nach zehn Minuten … riechen … wir die Ansiedlung: Petroleumduft!!

Die Laterne wird ausgelöscht. Wir steigen in ein Tal hernieder, sehen vor uns drei, vier verschwommene Lichtpünktchen: erleuchtete Fenster von Steinhäusern mit Wellblechdächern …

Wir stolpern über Schienen einer Kleinbahn. Der Nikobarese erklärt uns, die Bahn führe bis zur Plantage und weiter bis zur Südküste. Der Besitzer der Ölquellen habe sie vor drei Jahren bauen lassen: Schimo, der reiche Chinese!

Nun – Schimo ist erledigt, tot … Aber ein vielseitiger, fraglos äußerst geschäftstüchtiger Vertreter seiner unbeliebten Rasse war er fraglos: Bordellwirt, Mädchenhändler, Petroleumkönig, – wer weiß, was noch …!! Die Pest hat seinem Unternehmergeist Halt geboten. Sein Dampfer treibt im Bengalischen Meerbusen: als Leichenschiff! –

Harst befiehlt jetzt Rami, mit dem stinkenden Wilden zurückzubleiben. Das überhängende Dach eines Lagerschuppens bietet den beiden Schutz gegen den Regen.

Wir beide aber schleichen den beiden Wohnhäusern zu …

Lugen durch das erste helle, unverhüllte Fenster … Da sitzt in einem ganz europäisch eingerichteten Zimmer ein älterer Chinese mit Hornbrille an einem Schreibtisch und trägt Zahlen in ein dickes Buch ein, wühlt in Papieren und raucht Pfeife.

Neben dem Schreibtisch ein anderer Tisch … Wahrhaftig: eine tadellose Anlage für drahtlose Telegraphie, ganz modern.

„Kurzwellenbetrieb,“ flüstert Harald. „Dann war der von mir gefundene Zettel eine Radiodepesche, mein Alter, und Schimo wird in der Nähe von Bombay eine geheime zweite Station gehabt haben …“

Dann – zweites Fenster: fünf Chinesen beim Würfelspiel …

Uninteressant für uns … Wo steckt Sigrin? –

Wir wenden uns dem zweiten Hause zu … Es gießt – – gießt …

Und hier gleich das erste helle Fenster: geschlossene hellgelbe Vorhänge! Und – – Klavierspiel … Offenbar ein Flügel … Meisterhaftes Klavierspiel …: Grieg, Peer Gynt!! Ausgerechnet die Musik, die ich am meisten liebe …

Harald zieht mich weiter … Drittnächstes Fenster – unverhüllt: das Zimmer von drei chinesischen Mädchen, ohne Zweifel Dienerinnen nur … Sie sitzen um einen Tisch bei einer Karbidlampe und bessern höchst ehrbar Strümpfe.

„Hier wohnen nur Frauen,“ flüstert Harald. „Im übrigen gefällt mir die Geschichte nicht …“

„Weshalb nicht?“

„Bedenke, daß Sigrin als Säugling entführt wurde …“

Und damit wendet er sich auch schon der Haustür zu … öffnet …

Ein erleuchteter Flur … Alles blitzsauber …

Von links die Musik … Diese weißlackierte Tür mit dem Elfenbeindrücker öffnet sich … In der Tür eine magere, blonde, reizlose Dame mit kurzer Oberlippe und Bleckzähnen, Typ: englische Gouvernante!

Das Klavierspiel verstummt …

„Sie wünschen?“ fragt die Miß sehr von oben herab …

Harald wird einer Antwort überhoben …

Hinter der Miß taucht die schlanke, blondhaarige junge Künstlerin auf … In einer Art Phantasiekostüm aus kostbarster, goldbestickter chinesischer Seide …

Ein liebreizendes Gesichtet, leicht gebräunt … Graublaue Augen, die uns neugierig betrachten.

„Wir haben Ihnen eine Botschaft auszurichten,“ sagt Harald zu Sigrin Amalgi. „Von Ihrem Vater, Miß, – unter vier Augen …“

Sigrin zu der englischen Gouvernante:

„Bitte, Miß Baker, wollen Sie mich mit den Herren allein lassen …“

Wir betreten das strahlend helle, kostbar eingerichtete Musikzimmer … Sigrin weist einladend auf zwei Brokatsessel, nimmt selbst auf dem Sofa Platz … Ihre schmalen Hände mit den tadellos gepflegten Nägeln tragen blitzende Ringe. An ihrer jungen Brust funkelt eine Brosche: ein von Brillanten umgebener großer Opal – so groß wie die Augen im Kopfe des toten Amalgi, ihres wirklichen Vaters!

„Sie sind also Sigrin Schimo?“ fragt Harald, nachdem er schon vorher unsere Namen genannt hat – recht undeutlich …

Ein erstauntes „Gewiß – wer sonst?!“ ist die Antwort.

Harst dämpft die Stimme. „Miß, Sie sind gröblich getäuscht worden … Schimo hat Sie wahrscheinlich stets in dem Glauben gehalten, Sie seien sein und einer Europäerin Kind?“

„Ja …“ Das klingt befangen, ängstlich. „Meine Mutter war eine Schwedin … Ich heiße wie sie mit Vornamen Sigrin … Sigrin Schimo …“

„Eine Lüge Schimos, Miß …,“ erklärt Harald feierlich. „Ihr Vater war ein Europäer namens Georg Amalgi …“

Und dann berichtet er ihr in kurzem all das, was nötig ist, um Sigrin zu überzeugen, daß Schimo sie nur geraubt hat. Zum Schluß zeigt er ihr dann Amalgis Schreiben – das Vermächtnis.

Das Mädchen ist blaß geworden, liest – liest immer wieder …

„Dieser Amalgi ist ein schändlicher Verleumder!“ ruft sie. „Schimo ist mein Vater! Wie sollte er mich sonst wohl mit so unendlicher Liebe umgeben haben! Jeden Wunsch hat er mir von den Augen abgelesen! Und …“

„… und hat Sie stets hier in der Einsamkeit vor jedem fremden Auge verborgen gehalten, Sigrin Amalgi! – Gut, mag er Sie geliebt haben … Dennoch: er hat Sie belogen, er hat Sie einst geraubt …“

Das Mädchen springt auf … „Schmähen Sie meinen toten Vater nicht!“ – und sie weist zur Tür … „Gehen Sie … gehen Sie! Ich bin Sigrin Schimo, und …“

„… und … mein Name ist Harald Harst, Miß, – Harald Harst! Kennen Sie ihn?“

Sie starrt ihn an … stammelt verwirrt:

„O, ich habe über Sie so viel gelesen, Mister Harst …“

„Hier mein Ausweis mit Lichtbild … Sie sehen, ich bin Harst. Trauen Sie es mir zu, Sie täuschen zu wollen?! Zu welchem Zweck?!“

Sie senkt den Kopf … Rührend hilflos sieht sie aus …

Sagt dann entschlossen: „Ich begleite Sie zu dem U-Boot … Ich will den toten Doktor Amalgi sehen … – Warten Sie, ich hole nur meinen Mantel …“ –

Eine Stunde drauf …

Wir sind mit Sigrin wieder auf der „Robbe“, stehen vor der Tür der kleinen Kabine …

Harald drückt die Tür auf … In der Mitte die offene Kiste … offen!! Und die Nepaldecke liegt daneben … Amalgis Leiche unverhüllt, obwohl die Kiste vordem verschlossen war …

Sigrin wendet sich an Harald …

„Bitte – lassen Sie mich mit dem Toten allein …“

Und sie betritt die Kabine, schließt die Tür … –

Erst nach zehn Minuten kommt sie dann zu uns in die große Kabine, blaß, verweint … Sagt nur:

„Mister Harst, Amalgi ist mein Vater … Fragen Sie nichts … Nehmen Sie mich mit zu meinen Verwandten nach Stockholm. Ich will keinen der Chinesen der Ansiedlung wiedersehen …“

Was damals in Amalgis Kabine vorgefallen, wie Sigrin sich die Überzeugung verschafft, daß sie nicht Schimos Kind war, – wir wissen es nicht – niemand weiß es … Es wird uns stets Geheimnis bleiben. –

Als wir damals nach vier Tagen in Kalkutta anlangten, verschwand die Kiste mit Amalgis Leiche auf unaufgeklärte Weise von Bord des U-Bootes. Sigrin wünschte nicht, daß wir die Sache irgendwie zu klären suchten. – –

Jetzt lebt Sigrin Amalgi im schönen Stockholm bei ihrer Tante, schreibt zuweilen an uns einen langen Brief und … erwähnt niemals Schimo oder ihren Aufenthalt auf Tillangchong.

Harald ist fest überzeugt, daß Amalgi wieder als „Toter“ in der Halle des Klosters Damalang auf weißem Marmorsockel steht. Und als ich ihn einmal fragte, ob er wirklich glaube, daß Amalgi noch am Leben gewesen und Sigrin, seinem Kinde, in der Kabine der „Robbe“ die Beweise für ihre wahre Abstammung geliefert habe, da hat Harst nur eine vieldeutige Handbewegung gemacht und gemeint: „Ich nehme an, daß der Inder Rami hierüber mehr weiß als du und ich, mein Alter … Einmal verschob sich Ramis sehr fest gewickelter, bis zu den Augenbrauen herabreichender Turban … Ein einziges Mal … Da sah ich auf seiner Stirn das Bild Samurs!! Rami war ein Samur-Yogi! Vielleicht hatte er den Zettel geschrieben, den er uns in den Turm des Bootes brachte, vielleicht hat er mit Sigrin heimlich gesprochen, denn er war angeblich an Deck, als Sigrin die zehn Minuten mit dem Toten allein blieb … Vielleicht findet alles so eine natürliche Erklärung – – vielleicht …!“ –

Was aus der kleinen, schnellen „Robbe“ geworden, berichte ich im nächsten Band …

Über Amalgi, die Samur-Yogi und deren Geheimnisse kann ich dem Leser zu meinem Bedauern nichts mehr mitteilen …

Indien – – Indien, Land der Rätsel …!

 

Nächster Band:

Robbenfang.

 

 

Anmerkungen:

  1. Handschriftliche Randnotiz des Sammlers Herbert Gerike: „Ein phantastischer Detektivroman, der keine große Anteilnahme hervorruft. Es wird Zeit, daß W. Kabel wieder auf den Boden der Wirklichkeit zurückkehrt. Gerike 31. XII 1972.“
  2. Gemeint ist wohl Nepalganj.
  3. Hier hat sich Walther Kabel vertan. Die Boa Constrictor lebt in Südamerika. In Indien hingegen der Tigerpython. Die folgende Beschreibung der Schlange mit graugrün wurde aber besser zu einer Großen Anakonda passen, die ebenfalls nur in Südamerika vorkommt.
  4. Fehlendes Wort „hat“ ergänzt.