Harald Harst: Aus meinem Leben
Band: 188
Erzählt von
Max Schraut (Walther Kabel)
In den ersten Dezembertagen war’s. Draußen unfreundliches Wetter, weder Schnee noch Regen, jene unangenehme Mischung von beiden, die bei scharfem Wind die Sehnsucht nach behaglich durchwärmtem Zimmer selbst in den fanatischsten Spaziergänger wachruft.
Ich hatte ein paar Einkäufe erledigt und kehrte gegen sechs Uhr nachmittags heim. Harald Harst war zu Hause geblieben, weil er seinen Schreibtisch einmal wieder aufräumen wollte. So große Ordnung er auch in den Schubfächern seines nie versagenden Gedächtnisses hält: sein Schreibtisch wird zumeist aus Mangel an Zeit in dieser Beziehung grob vernachlässigt, und was sich dort, so im Laufe eines Monats an überflüssigen Briefen, Druckschriften und anderen Papieren ansammelt, ist geradezu unglaublich.
Als ich in unsere Blücherstraße einbog, bemerkte ich schon von weitem trotz des Schneeregens die grellen Lichtstreifen der Scheinwerfer eines Autos, das vor unserem Vorgarten hielt. Dieser Kraftwagen setzte sich jetzt in Bewegung, schoß an mir vorüber und verschwand um die nächste Ecke. Ich hatte lediglich erkannt, daß es ein sehr elegantes Auto war, daß der Chauffeur einen Vollbart trug und daß die Vorhänge der Seitenfenster zugezogen waren. Ob jemand außer dem Fahrer in dem dunkel lackierten Wagen gesessen, war nicht festzustellen gewesen.
Ich dachte natürlich sofort an einen Klienten, der Harald aufgesucht hatte und den ich bei uns noch anzutreffen hoffte. Eine Unterredung mit meinem Freunde dehnt sich zumeist weit über zwanzig Minuten aus, und länger hatten mich meine Besorgungen nicht von daheim ferngehalten.
Als ich die Gartenpforte, die tagsüber nur eingeklinkt ist und erst abends verschlossen wird, nun öffnete, sah ich auf dem mit hellen Fliesen belegten Fußwege, der von der Pforte bis zu den Steinstufen der altertümlichen breiten Haustür läuft, in dem Schneeschlick klar ausgeprägte Spuren schmaler, kleiner Damenstiefel …
Also ein weiblicher Klient!
Doch nein – ein Irrtum, wie ich nun bemerkte, als ich dem Hause zuschritt. Die Fährte bog nach links ab und schien dann in dem Durchgang zwischen Zaun und südlicher Hausseite dem Hofe zuzuführen.
Das war merkwürdig.
Um eine Dame handelte es sich ja fraglos. Weshalb diese jedoch, nachdem sie dem Auto entstiegen und bis in unseren Vorgarten gelangt war, nach dem Hofe sich gewandt hatten mußte mich notwendig stutzig machen.
Ich folgte der Fährte. Nachdem ich den Lichtkreis der über unserer Haustür hängenden schmiedeeisernen Ampel verlassen hatte, schaltete ich meine Taschenlampe ein, ohne die ich kaum jemals ausgehe, genau so wie es mir zur Gewohnheit geworden, stets die kleine Clementpistole in der Schlüsseltasche der Beinkleider bei mir zu tragen.
Der Lichtkegel der Taschenlampe zeigte mir die Fährte der Fremden bis zum Hofe ganz deutlich. Hier aber stieß [ich mit unserer Köchin Mathilde zusammen, die ganz eifrig mit][1] einem mächtigen Besen den Schneeschlamm zusammenfegte.
Mathilde erschrak leicht …
„Herr Jotte noch mal, Herr Schraut,“ meinte sie ärgerlich, „weshalb müssen Sie mir auch so ’nen Schreck einjagen! Weshalb schleichen Sie denn hier ums Haus herum, wo Sie’s doch vorn durch die Haustür viel näher haben!“
Man tut gut, Mathildes unliebenswürdige Anwandlungen einfach zu übersehen. Daher frage ich auch nur:
„Seit wann säubern Sie den Hof, liebe Mathilde?“
„Nu, ich hab jrade anjefangen, Herr Schraut … Ich will ja auch nur bis zum Stall den Matsch wegfegen …“
„Hm – ist eine Dame durch die Hintertür ins Haus gekommen?“
„Dame – – Hintertür?! Was für ’ne Dame?! Bei Harsts jeht man vorne rein, falls nicht jrade Herr Harald ’nen Klijenten von hinten bestellt von wegen ’s Nichtjesehenwerden sollen …“
„Sehr richtig, liebe Mathilde. Wenn Sie aber mal hier diese Spuren betrachten wollen, deren Fortsetzung Ihr Reinigungseifer jetzt leider zerstört hat … Das sind Abdrücke von elegantem Damenschuhwerk …“
„Stimmt, Herr Schraut …! Das wird vielleicht so eine jewesen sein, die sich nicht recht zu Herrn Harald jetraute … Vielleicht ist sie durch ’n Jemüsejarten wieder abjezogen …“
„Gut, sehen wir nach …“
Aber seltsamerweise war die Fährte nirgends mehr zu entdecken, was mich noch stutziger machte.
„Komisch!“ meinte auch Mathilde, die mir mit geschultertem Besen gefolgt war. „Das Frauenzimmer kann doch nich durch die Luft wieder wejjeflogen sind!!“
Ich suchte nochmals nach der Fährte.
Wir in unserem Beruf haben ja allen Grund, vorsichtig zu sein. Es gibt eine ganze Menge Leute, die uns durchaus nicht lieben und deren geheime Rachegelüste zumeist nur durch die Angst vor uns zurückgedrängt werden.
Schließlich prüfte ich auch die ziemlich hoch über der Erde liegenden Hinterfenster der Parterreräume und fragte auch Mathilde, ob die Hoftür bestimmt verschlossen gewesen.
„Bestimmt!“ versicherte die Köchin feierlich und begann brummend wieder ihre Arbeit, da ihr die ganze Geschichte wohl schon langweilig wurde. Mir nicht.
Wieder wandte ich mich an Mathilde …
„Halten Sie es für ausgeschlossen, daß die Person sich etwa heimlich an Ihnen vorbeigedrückt hat und ins Haus geschlüpft ist?“
Sie hob die Schultern bis zu den Ohren, und zeigte mit dem triefenden Besen nach der elektrischen großen Lampe über der Hintertür …
„Herr Schraut, – – bei die Beleuchtung!! Ich hab doch Augen im Kopp, und Sie wissen ja am besten, wie die Hintertür in den Angeln kreischt, Herr Schraut! Das Ölen hilft immer nur einen halben Tag. Die Tür hängt schief, und es is ’ne Lodderei, daß wir nicht mal ’nen Zimmermann bestellen, und …“
Das weitere von Mathildes Herzenserguß entging mir, da ich es vorzog, ins Haus zu eilen und Harald von meinen Beobachtungen zu berichten.
Als ich im Flur den Sportpelz und den Hut abgelegt hatte, betrat ich Haralds Arbeitszimmer, wo unser Lautsprecher gerade einen Vortrag über Körperpflege meinem am Schreibtisch beschäftigten Freunde übermittelte.
Harst saß inmitten von Stößen von Briefen, Zeitungen, Zeitungsausschnitten, Mappen, Kartons und anderem.
Die Zigarette im linken Mundwinkel, hielt er mit weit ausgebreiteten Händen eine alte Nummer der Londoner Times straff gespannt, und überflog irgendeinen Artikel, nahm von mir kaum Notiz, nickte nur, als ich ihm Guten Abend wünschte und sagte dann plötzlich:
„Stelle den Blechtrichter ab, mein Alter … Das Ding stört mich jetzt …“
„Was hast du denn in der alten zerknitterten Zeitung so Interessantes gefunden?“ fragte ich etwas ironisch und schaltete den Apparat aus. „Ich glaube,“ fügte ich lauter hinzu, daß ich dir weit Wichtigeres berichten kann …“
„So?!“
Er ließ die Zeitung sinken.
Ich erzählte …
Sein Gesicht veränderte sich, je eindringlicher ich darauf hinwies, daß trotz Mathildens bestimmter Behauptung, die Fremde könne unmöglich unbemerkt an ihr vorübergeschlüpft sein, doch der Verdacht naheliege, die Dame könnte sich ins Haus geschlichen haben.
Kaum hatte ich den letzten Satz meiner etwas erregten Angaben beendet, als es klopfte und Haralds Mutter eintrat.
Die würdige weißhaarige Matrone mit dem schwarzen Spitzenhäubchen blieb angesichts der Unordnung auf Haralds Schreibtisch kopfschüttelnd an der Tür stehen und meinte dann humorvoll:
„Seit anderthalb Stunden räumst du nun auf, mein Junge, aber sehr viel geschafft hast du nicht …! Natürlich fandest du wie stets irgend etwas, das dein Interesse wachrief, und …“
„Zeitung gelesen hat er,“ warf ich ein …
Frau Harst trat näher …
„Ich wollte nur fragen, worauf ihr zum Abendbrot Appetit habt …“ – und sie lächelte noch immer. Aber – täuschte ich mich? – sie schien mir etwas nervös zu sein …
Auch Harst entging dies nicht …
„Sag’ mal, liebe Mama, Mathilde hat dir wohl bereits Schrauts Verdacht mitgeteilt, daß …“
„Ja, ja – so ist’s, mein Junge … Doch dieser Verdacht ist durchaus grundlos … Ich war in der Küche, als Mathilde auf den Hof ging. Sie drückte die knarrende und kreischende Hintertür ins Schloß, wie ich hörte. Und auch Sie hörte ich, lieber Schraut … Nein, es kann niemand das Haus betreten haben. Die Person wird sich wieder entfernt haben. – Vernahmst du denn nichts von dem Auto, Harald, das vor der Gitterpforte vorgefahren war?“
„Der Lautsprecher trompetete weise Ratschläge ins Zimmer, Mama, und dann hatte mich auch der Artikel über die …“
„So, – nun was wünscht ihr zum Abendbrot?“ fragte Frau Auguste Harst ein wenig zerstreut, indem sie dem Sohne ins Wort fiel. „Ich hätte eigentlich auf etwas Warmes Appetit – bei dem Wetter!! Wie wär’s mit Wiener Schnitzel …? Mathilde läuft schnell zum Fleischer hinüber … Man soll ja abends nichts Schweres zu sich nehmen, aber … – es bleibt also bei Wiener Schnitzel … Um halb acht essen wir … Auf Wiedersehen …“
Sie verließ das Zimmer.
Harald blickte mit leicht gekrauster Stirn auf die Tür und murmelte etwas Unverständliches vor sich hin. Dann griff er wieder nach der Times und meinte: „Die Dame wird vielleicht nochmals erscheinen, mein Alter … – Ich habe hier in der Times vom 8. August 1923 einen Artikel über die in der Wildnis von Neuguinea spurlos verschwundene Expedition des Herzogs von Daugberry gefunden … Sehr spannend … Letztens ging übrigens eine Notiz durch die Presse, daß die englische Regierung nunmehr die Nachforschungen nach dem Verbleib der Expedition eingestellt hat.“
Was mir sehr gleichgültig war …
„Die Fremde scheint dich also nicht weiter zu beunruhigen,“ erlaubte ich mir zu bemerken, denn Haralds absolute Wurstigkeit gegenüber meinen Beobachtungen ärgerte mich …
„Beunruhigen?! Nein, mein Alter … – Aha – da geht Mathilde zum Fleischer … Daß sie auch immer die Haustür derart ins Schloß wirft!“
Nach wenigen Minuten hörten wir Mathilde zurückkehren.
Harald erhob sich aus dem Schreibsessel. …
„Ich muß mir noch Federn holen,“ sagte er merklich geistesabwesend. „Ein kleiner Spaziergang kann mir nichts schaden … Wiedersehen …“
So machte ich mich denn über den Schreibtisch her … Dabei mußte ich zunächst die Times zusammenfalten … Mein Blick fiel auf den bewußten Artikel … Ich las … las weiter … Diese Einzelheiten waren mir neu …
„… Leichtfertiger als der junge Herzog Thomas Daugberry hat wohl kaum je der Erbe eines alten Namens das Familienvermögen vergeudet. In zwei Jahren drei Millionen durchbringen – immerhin ein Kunststück! Und als es dann mit der Herrlichkeit der Daugberrys zu Ende war, als Schlösser, Güter, Pachthöfe gepfändet waren, da erwachte in dem verbummelten, haltlosen, entnervten Träger eines der berühmtesten Namens Englands das abenteuerlustige, verwegene Normannenblut. Des Herzogs Studienfreund Ralph Loncire kehrt aus Neuguinea zurück, will im tiefsten unerforschten Innern abbaufähige Goldadern gefunden haben. Der Herzog veräußert, was noch sein eigen, kauft einen Schoner, rüstet eine Goldgräberexpedition aus, läßt sein junges Weib daheim, zieht mit dem Freunde in die Ferne … – Seit Januar 1923 hat man von der Expedition keinerlei Nachricht mehr …“
Ich falte die Zeitung zusammen … Der Artikel ist noch weit länger. Aber ich will den Schreibtisch in Ordnung haben, bevor Harald zurückkehrt.
Und es gelingt mir. Als er fünf Minuten nach sieben das Zimmer betritt, begrüßt ihn die Ouvertüre zu Puccinis Boheme, die ich aus London „eingefangen“ habe. Unser Vierröhrengerät und unsere Antenne sind erstklassig.
Harald nickt mir zu … „Hab’ Dank, mein Alter … Bist fleißig gewesen … Im übrigen – es sind fünf Scheiben.“
„Fünf Scheiben …? Was für Scheiben?“
„Und die anderen Scheiben sind dicht verhängt … Ja, ja, Weiber können verteufelt schlau sein …“
„Sprichst du etwa von der verschwundenen Fremden?“
Er wirft sich in den Klubsessel, macht ein sehr ernstes Gesicht …
„Ja, lieber Max Schraut, – von der Frau mit den zierlichen Füßen … Die Spuren waren noch halbwegs zu erkennen … Die Frau geht etwas einwärts, und den linken Fuß schleppt sie ein wenig nach. – Hast du mir die Times aufgehoben?“
„Dort liegt sie …“
„Gelesen?“
„Zum Teil …“
„Auch das von des Herzogs Gattin, der amerikanischen Milliardärstochter?“
„Nein …“
„Schade … Dann orientiere dich ein wenig über diese Miß Doris Fangalan, jetzige Herzogin Daugberry, deren selbstbewußter Vater, Chikagoer Viehgroßhändler, der Tochter jede Mitgift verweigert hat … Sie sollte seinen Neffen Emery Fangalan heiraten …“
Es klopfte … Mathilde bat uns zu Tisch …
„Man schnell, die Herrens … Halbkalte Schnitzel schmecken nicht …“
Anderthalb Stunden später. Frau Auguste Harst geht früh zu Bett, stülpt im Bett den Hörer über und läßt sich „in den Schlaf radiolen“, wie sie scherzend zu sagen pflegt.
Wir sitzen in Haralds Zimmer am Sofatisch. Der Lautsprecher übermittelt uns das Berliner Programm: Bunter Abend …
Harst qualmt Zigaretten, liegt mit halb geschlossenen Augen im Klubsessel. Ich lese jetzt den Artikel über den Herzog Thomas Daugberry …
„… Miß Doris Fangalan, die sich übrigens als Kind beim Reiten den linken Fuß gebrochen hat und seitdem unmerklich diesen Fuß nachschleppen läßt, heiratete den Herzog gegen den Willen Ihres Vaters und …“
Ich blicke auf …
„Harald!“
„Bitte …“
„Die Herzogin könnte vielleicht, da sie ebenfalls den linken Fuß …“
„Na also, mein Alter! Es war und ist die Herzogin! – Mathilde holte fünf Scheiben Kalbsschnitzel vom Fleischer. Ich habe den Fleischer gefragt. Mathilde hat ferner Briketts nach oben in das südliche Mansardenzimmer getragen. Ich fand die Brikettkrümel auf der Treppe. Außerdem sind die Fenster der Mansardenstube dicht verhängt, wie ich von der Straße aus sah. Da wir hier nur vier Personen waren, brauchten wir nur vier Schnitzel. Das fünfte war für Mutters heimlichen Gast. Und dieser Gast ist deine Spuren-Dame. Mutter und Mathilde haben uns beschwindelt. Mathilde fegte den Hof nur deshalb, um die Spuren auszutilgen …“
Ich saß steif und starr in meiner Sofaecke. Endlich hatte ich nun begriffen …
Fragte: „Woher kam dir die Vermutung, daß deine Mutter die Dame vor uns verheimlichte?“
„Mama war sehr nervös … Mama spendet uns selten ein warmes Abendbrot. Sie hält dies für unbekömmlich. Nun gar Kalbsschnitzel mit Sardellen, Ei und Gurkenstückchen, dazu Apfelmus, als Nachtisch drei Sorten Käse! Das roch nach Gast! Und schließlich: wo sollte die Frau geblieben sein?!“
„Allerdings …“ – Ich erholte mich langsam von dieser nie geahnten Überraschung … „Weshalb aber mag die Herzogin, falls sie es wirklich ist, sich vor uns …“
Ich schwieg …
Die Flurglocke hatte angeschlagen …
Harst warf einen ärgerlichen Blick auf die Standuhr in der Ecke … Ein Viertel zehn …
„Er hätte auch früher kommen können,“ meinte er …
„Wer denn?!“ Diese Frage war den ganzen Umständen nach durchaus berechtigt.
„Nun – er selbst oder ein Beauftragter … – Geh’ öffnen, mein Alter … Milliardäre läßt man nicht warten.“
„Fangalan?“ rief ich leise …
„So geh’ doch …! Doris, geborene Fangalan, kann sich doch nur vor ihrer Sippe hier bei uns verborgen haben … Mutter nimmt so leicht keinen heimlichen Gast auf, es sei denn, daß … – Doch davon später …“
Ich verließ das Zimmer …
Dann stand vor mir im hell erleuchteten Flur ein etwas über Mittelmaß großer jüngerer Herr mit breiten Schultern, frischem Gesicht mit etwas groben Zügen, bartlos, kalten, blaugrauen Augen.
„Emery Fangalan,“ stellte er sich vor. „Sie sind Mister Schraut … Ich möchte Mr. Harst sofort sprechen. Ich komme im Auftrage meines Onkels, des Chikagoer Milliardärs Patrick Fangalan …“
Na – an Mangel von Selbstbewußtsein litt dieser Herr wahrhaftig nicht!
„Wollen Sie bitte ablegen,“ meinte ich kühl.
In Haralds Zimmer schaute sich dieser Emery Fangalan dann in einer Weise um, als ob er Kriminalbeamter sei und eine Räuberhöhle betreten habe.
„Nehmen Sie doch Platz, Mr. Fangalan,“ sagte Harald nochmals und deutete auf einen Klubsessel.
Der Amerikaner blieb stehen …
„Mr. Harst, mein Onkel, der Milliardär Patrick Fangalan, schickt mich zu Ihnen – Patrick Fangalan aus Chikago …“ (Er schien sehr stolz auf diesen Oheim zu sein!) – „Meines Oheims Tochter und einziges Kind, die verwitwete Herzogin Doris Daugberry, hat gestern früh London heimlich verlassen. Der von mir bezahlte Londoner Detektiv James Barne hat festgestellt, daß Doris sich hier nach Berlin begeben hat, offenbar in der Absicht, Ihre Hilfe zur Wiederauffindung ihres Gatten in Anspruch zu nehmen. Doris war bereits hier bei Ihnen und hat mit Ihnen verhandelt.“
„Bedaure, Mr. Fangalan … Ich habe die Herzogin noch nie zu Gesicht bekommen und habe weder schriftlich noch mündlich mit ihr verhandelt.“
Der junge Mann machte ein recht verblüfftes Gesicht. Seine Augen forschten in Haralds Zügen …
Und Harst lächelte ganz wenig. … „Ich wüßte nicht, Mr. Fangalan, welchen Grund ich haben sollte, eine Bekanntschaft mit der Frau Herzogin abzuleugnen … Sie scheinen mir nicht recht zu glauben …“
„Doris kann Sie gebeten haben, ihren Besuch zu verschweigen, Mr. Harst,“ sagte Fangalan recht herrischen Tones. „Mein Onkel läßt Ihnen bestellen, daß er durchaus nicht wünscht, daß Sie sich in unsere Familienangelegenheiten irgendwie einmischen. Ein Milliardär vermag viel …“
Harst verbeugte sich ironisch … „Soll das eine Drohung sein, Mr. Fangalan …“
„Wie Sie es auffassen wollen … Jedenfalls: Doris war hier!“
Harald blieb höflich trotz der anmaßenden Frechheit dieses Menschen …
„Ich betone nochmals, daß ich die Herzogin nicht gesehen und auch kein Wort bisher mit ihr gewechselt habe, ebensowenig einen Brief von ihr erhielt. Das muß Ihnen genügen, Mr. Fangalan. Sie wissen ja, mit wem Sie es zu tun haben. – Was Ihre unverblümte Drohung betrifft, so zwingt diese mich, die Unterredung mit Ihnen abzubrechen. Ihr Onkel ist in der Wahl seines Vertreters wenig glücklich gewesen.“
Knappe Verneigung …
Und ich … öffnete die Zimmertür …
Dieser Bursche war mir geradezu widerwärtig. Ich kenne übergenug Amerikaner. Noch keiner hatte sich bei aller Zwanglosigkeit des Benehmens als Flegel bewiesen.
Fangalan kniff die Lippen aufeinander. Seine Augen wurden klein und tückisch … Aber er beherrschte sich, versuchte plötzlich sehr verbindlich zu lächeln und meinte: „Pardon, Mr. Harst … Ich würde es nie wagen, eine in dieser Form von Ihnen abgegebene Versicherung anzuzweifeln. Doris wird sich dann eben morgen bei Ihnen einfinden. Mein Onkel verlangt, daß Sie die Todeserklärung ihres fraglos in Neuguinea umgekommenen Gatten beantragt und nach Chikago zurückkehrt. Doris besitzt nichts mehr als ihre Juwelen, die von ihrem Vater stammen. Mein Onkel erhebt auf diese Juwelen Anspruch, da er sie Doris einst unter falschen Voraussetzungen schenkte. Sollte Doris Ihnen also diese Juwelen als Honorar anbieten, so müßte ich die Kleinodien sofort beschlagnahmen lassen. – Sie sind nun im Bilde, Mr. Harst …“
„Durchaus, Mr. Fangalan … – Schraut, begleite Mister Fangalan in den Flur …“
Vielleicht war es diesem Herrn Neffen des Milliardärs bisher noch nie begegnet, daß man ihn derart … hinauswarf …
Sein brutales Gesicht wurde grüngelb vor Wut … Er war ein miserabler Diplomat und Schauspieler …
Indem er den dicken Schädel und den Stiernacken wie ein Boxer vorschob, preßte er zwischen den vielfach plombierten blinkenden Zähnen hervor:
„Sie werden uns kennen lernen, wenn Sie es wagen sollten, Doris …“
„Schraut, bringe dem Herrn den Pelz!“ Und Harst machte kehrt, ging zum Empfänger, den er vorhin abgeschaltet hatte, und stöpselte die Anodenbatterie … Die Lampen brannten noch. Der Lautsprecher spie dem Flegel denn auch – ein ulkiger Zufall – das von einem Tenor gesungene Lied ins Gesicht:
„Ich hab ’mein Sach’ auf nichts gestellt …“
Emery Fangalan ging steifbeinig in den Flur, zog den Pelz an, schmetterte die Haustür hinter sich zu … –
Als ich wieder das Arbeitszimmer Haralds betrat, sagte dieser achselzuckend:
„Nun wird Kollege Barne aus London mit seinen Schergen unser Haus bewachen … Mag er …! Das Vöglein ist bereits im Nest. Barne ist übrigens ein gefährlicher Bursche. Sein Detektivinstitut nährt sich von faulen Geschichten. – So, jetzt zu unserem Gast, mein Alter … Ich schätze, wir werden Mutter oben bei ihr finden …“
Es war so …
Als Harald an die Mansardenzimmertür geklopft hatte, verstummten die Stimmen drinnen. Wir waren ganz leise die Treppen emporgestiegen.
Harald rief:
„Frau Herzogin, wir haben Emery Fangalan bereits an die frische Luft gesetzt …“
Da erst wurde die Tür geöffnet.
So lernten wir die junge Herzogin Daugberry kennen, ein aschblondes, liebliches Geschöpf mit leider nur allzu vergrämten Zügen.
Haralds Mutter saß auf dem Sofa und nickte ihrem großen Jungen ohne jede Verlegenheit zu …
„Ich konnte nicht anders, Harald … Sie bat so sehr …“
Wir nahmen Platz. Harst meinte gut gelaunt: „Es hat ja alles nach Wunsch geklappt … Ich konnte Mr. Emery mit gutem Gewissen erklären, daß ich die Frau Herzogin bisher weder gesehen noch gesprochen hätte. Er mußte abziehen. Und jetzt sind Sie hier sicher wie in Abrahams Schoß, Frau Herzogin …“
„Ich danke Ihnen, Mr. Harst … Ich wollte ja nur Emerys Besuch abwarten, damit Sie … nicht zu lügen brauchten. Dann hätte ich Ihnen mein Leid geklagt. Mein Vater, der meinen Gatten haßt, will mich zwingen, zu ihm nach Chikago zurückzukehren, außerdem soll ich meinen Tom für tot …“
„Weiß ich alles bereits, Frau Herzogin. – Bitte, regen Sie sich nicht auf … – Sie nehmen an, daß Ihr Gatte noch lebt …?“
„Ja – ja …!!“
„Und woher diese Zuversicht?“
„Mein Gefühl sagt es mir. Tom ist unglaublich leichtsinnig gewesen, hat gespielt, hat für mich Unsummen verschwendet. Ich hielt ihn für reicher, als er es war …“
„Sie lieben ihn über alles, und die Liebe zwischen zwei Menschen schafft jene allerfeinsten Seelenschwingungen, die selten trügen. Bisher ist ja auch durch nichts bewiesen, daß der Herzog umgekommen ist …“
„Nein – durch nichts …“
„Gestatten Sie mir ein paar Fragen, Frau Herzogin … – Die Expedition Ihres Gemahls verließ London Ende März 1922, erreichte Ende Mai desselben Jahres Granville, den Haupthafen aus der Südostseite der Insel, und trat den Marsch ins Innere an. Die Expedition zählte neun Europäer und fünfzehn farbige Träger. Seit Januar 1923 blieb jede Nachricht von den Goldsuchern aus. Alle Bemühungen der englischen Regierung, eine Spur der in den Urwäldern Verschollenen zu finden, blieben vergeblich. Seit rund drei Jahren gilt Ihr Gatte bei den meisten Menschen für tot. – Diese meine Kenntnis der angeführten Einzelheiten verdanke ich einer Nummer der Times, die mir heute nachmittag zufällig in die Hände geriet – ein merkwürdiger Zufall, Frau Herzogin, denn gleich darauf erschien Schraut und berichtete mir von den Spuren im Schneeschlamm unseres Gartens. – Das Wichtigste weiß ich also. Nun zu meinen Fragen. Hat Ihr Vetter Emery großen Einfluß auf Ihren Vater?“
„Leider – und einen Einfluß, den ich nicht recht begriffen habe.“
„Hatten Ihr Vater und Emery Fangalan Kenntnis von der beabsichtigten Expedition?“
„Das dürfte kaum der Fall gewesen sein Mr. Harst. Seit meiner Heirat hatte ich mit Pa keinerlei Verbindung mehr.“
„Trauen Sie es Ihrem Vetter zu, daß er aus Eifersucht irgendwie an dem Verschwinden der Expedition die Schuld trägt?“
„Ja! Ich würde Emery alles zutrauen. Er ist Pas Erbe, falls ich als Erbin ausscheide. Aber – wie sollte er Tom haben … verwinden lassen?! Emery ist 1922 und 1923 bestimmt in Chikago gewesen, ist jetzt erst nach England gekommen, um …“
„Man kann auch Helfershelfer dingen, Frau Herzogin,“ fiel Harald ihr ins Wort. „Ihrem Vetter entschlüpfte in der Erregung die Bemerkung, daß er Sie durch den Londoner Detektiv James Barne hierher hat verfolgen lassen. Barne gehört zu den schlauesten, aber auch gewissenlosesten Leuten unserer Zunft. – Ihr Fall interessiert mich, Frau Herzogin. Da ich infolge des überreichen Vermächtnisses, das Doktor Amalgi mir hinterließ – vielleicht haben Sie in den Zeitungen etwas hierüber gelesen …“
„Gewiß …“
„… mir hinterließ, jetzt wieder in der Lage bin, als Liebhaberdetektiv mich zu betätigen, werde ich alles daransetzen, den Verbleib der Expedition aufzuklären … – Keinen Dank, Frau Herzogin … Sie bleiben einstweilen hier bei meiner Mutter als Gast. Schraut und ich reisen morgen früh ab. Ich hoffe in drei bis vier Monaten wieder zurück zu sein – Gute Nacht, Frau Herzogin …“
Sie reichte ihm wortlos die Hand. Auch mir. Sie hatte Tränen in den Augen. Sprechen konnte sie nicht.
Abreisen … Morgen früh … Nach Neuguinea. – Das hatte aus Haralds Mund so geklungen, als ob es sich um einen Ausflug nach Werder, der berühmten Obststadt in der Nähe Berlins, handelte.
Werder – – Neuguinea! Leider ein kleiner Unterschied! Denn Harst hatte ja auch betont, daß er in drei bis vier Monaten wieder zurück zu sein hoffe – – hoffe!
Als wir nun die Treppen ins Erdgeschoß hinabstiegen (im Dunkeln, denn nur der untere Flur wurde regelmäßig beleuchtet), ging mir dies alles durch den Kopf: die endlose Seefahrt bis zur fernen Rieseninsel im Stillen Ozean, die Strapazen einer Durchquerung unerforschter Gebiete, die geringe Aussicht auf Erfolg (denn was englische Behörden mit ihren vielfachen Hilfsmitteln nicht fertig gebracht hatten, das sollten wir zustande bringen?!) und schließlich noch, was doch auch von Bedeutung war, auf Schritt und Tritt von Gefahr umgeben, als Gegner eines Milliardärs unerschöpfliche Hilfsquellen und den Londoner Kollegen James Barne!! – – Nette Aussichten waren das …!!
Als wir nun im ersten Stock angelangt waren – wir fanden uns ja auch im Finstern zurecht –, sagte Harald leise: „Wir könnten einmal von hier aus die Straße beobachten … Vielleicht erspähen wir etwas von Barnes Personal. Seine Garde soll sich aus sogenannten bekehrten Entgleisten zusammensetzen – gewesenen Einbrechern, Hochstaplern, Taschendieben, Fassadenkletterern und ähnlichen Ehrenmännern, die sich insofern ja fraglos für den Detektivberuf eignen, als sie praktische Erfahrung besitzen, freilich vom verkehrten Ende …“
Wir standen nun am Flurfenster, das auf die Straße hinausging …
Der Schneeregen hatte aufgehört. Die Temperatur war gesunken. Am Himmel funkelten die Sterne …
Wir blickten hinab auf unsere friedliche, stille Blücherstraße. Wir konnten nichts Verdächtiges bemerken …
Ich begann zu frieren. Harald aber übersah meine deutlichen Anzeichen von Ungeduld. Ich hüstelte, stampfte mit den Füßen auf, – nichts half. Er stand wie angemauert.
„So komm doch!“ meinte ich unwillig. „Die Straße ist leer … Ein Spion wird sich doch nicht ausgerechnet unter einer Laterne aufbauen!“
„Das wohl nicht, mein Alter … Aber ein Spion sollte, wenn er unsere uralte Linde im Vorgarten erklettert, trotz der Dunkelheit seine Brille abnehmen …“
Linde – – erklettert?!
Meine Blicke flogen nach rechts … Dort ragten ein paar schenkeldicke kahle Äste des mächtigen Baumes bis dicht an das Ziegeldach heran …
Zunächst konnte ich nichts von dem Kletterkünstler wahrnehmen. Dann sah ich ein schwaches doppeltes Blinken …
Der Schein der Laterne vor unserem Hause hatte in der Tat ein Paar Brillengläser aufleuchten lassen …
Und jetzt, wo ich wußte, in welcher Richtung ich den Spion zu suchen hatte, erkannte ich eine Gestalt, die langsam auf dem stärksten der Äste sich vorwärtsschob, eng angeschmiegt an die rissige Rinde – wie ein Leopard, gewandt, gelenkig, vorsichtig, dem Ziegeldache zustrebend …
„Der arme Kerl wird frieren,“ flüsterte Harald ironisch. „Wir wollen ihm daher einen möglichst warmen Empfang bereiten. Der Mann will offenbar durch das Bodenfenster eindringen. Komm, wir werden die Empfangsfeierlichkeiten vorbereiten …“
In drei Minuten waren wir vor der eisernen Bodentür. Harald öffnete sie mit seinem Patentdietrich …
Das Bodenfenster, das nach der Straße zu lag, zeichnete sich als helles, verschwommenes Viereck ab …
Wir warteten …
Mir war nicht mehr kalt … Ich fühlte das Jagdfieber in den Adern glühen. Meine Pulse klopften … Wenn wir diesen Spion wirklich abfaßten, konnten wir ihn unschwer zu einem Geständnis zwingen … Wir würden dann erfahren, was die Gegner planten … Wir würden so ein paar gute Trümpfe in die Hand bekommen …
Da – das helle Viereck verdunkelte sich …
Die Umrisse eines Kopfes wurden sichtbar …
Eine Hand drückte etwas Schwarzes auf ein Quadrat des viergeteilten Fensters …
Natürlich ein mit Seife, Teer oder Leim beschmierter Lappen …
Dann ein splitterndes Krachen …
Durch das Loch gleitet ein Arm hinein …
Hebt den eisernen Stützenverschluß, hebt das Fenster …
Und langsam schieben sich jetzt ein paar Beine hinein … Der Oberkörper folgt …
Lautlos springt der Eindringling auf die Dielen, richtet sich auf …
Armer Kerl!
Harald war ihm rascher an der Kehle, als ich noch gleichfalls mit zupacken konnte …
Ein gurgelndes Röcheln … Ein kurzes Ringen …
Dann haben wir dem bebrillten Burschen schon mit einem Taschentuch die Hände auf den Rücken gefesselt, und ihm mein Taschentuch als Knebel in den Mund geschoben.
Eilends geht’s die Treppen hinab …
Der Spion sträubt sich nicht mehr …
Ich reiße Haralds Zimmertür auf …
Blendende Helle schlägt uns entgegen …
Ich schließe die Tür wieder …
Unter der Eichenholzkrone mit den fünf matten Schalen, die so gut eine Deckenbeleuchtung ersetzen, steht ein Mann mit kümmerlichem Vollbart, einer Hornbrille und in einem dürftigen, halbnassen Anzug einer längst verflossenen Mode. Die Halbschuhe sind vertragen, die Strümpfe unter den ausgefranzten Hosen schimmern seidig-lila Seide mit schwarzen Streifen. Die spitze Nase, die eingefallenen Wangen und Schläfen, dazu die entzündeten Augen – – ein jämmerliches Bild!
Harst deutet auf einen Sessel …
„Nehmen Sie Platz, Verehrtester …“
Der Mann gehorcht. Seine flache Brust fliegt vor Erregung in schnellen Atemzügen … Die schwarzen Augen irren hilflos umher.
„Ein Glas Portwein wird Ihnen gut tun,“ meint Harald. „Schraut – auch für uns Gläser …“
Ich schenke ein … Wir setzen uns auf das Sofa. Harald nimmt sein Glas …
„Prosit, mein Freund … Auf rasche Verständigung …! Sie wissen, Verständigungsfrieden sind modern … Nur wollen wir Ihnen beweisen, daß wir dem Gegner, der die Waffen gestreckt hat, nicht das Fell über die Ohren ziehen …“
Der Mann stürzt das Glas Portwein in einen Zug hinab, leckt sich die Lippen …
Wir haben ihm gleich nach Betreten des Zimmers Handfesseln und Knebel abgenommen. Jetzt blicke der Mensch sehnsüchtig auf den mit Zigaretten gefüllten Silberkasten … Langt auf einen Wink Haralds zu, reibt ein Zündholz an … Widerliche schmutzige Spinnenfinger hat der Bursche. Sein fuchsiges Mähnenhaar ist fraglos falsch, und auch die Ränder unter den Augen erscheinen mir getuscht.
Er raucht, starrt vor sich hin …
Bisher ist nicht ein einziges Wort über seine schmalen verkniffenen Lippen gekommen …
Und stelle fest, daß auch der Vollbart unecht ist, daß die Krawatte, die fleckenbesäten Jackenaufschläge, die Weste, an der drei Knöpfe fehlen …
Ich betrachte seinen brüchigen Gummikragen, die speckige Nase offenbar überschminkt und die Augenbrauen nachgetuscht sind …
Wie mag der Mensch wohl in Wahrheit aussehen? Sicherlich ganz, ganz anders!
„Nun?!“ fragt Harald … – Es ist keine Frage, es ist ein Befehl.
Der Bursche blickt auf, macht eine Art Verbeugung …
„Theo Starnbeck, ehemaliger Filmschauspieler, jetzt Einbrecher,“ sagt er kläglich in tadellosem Deutsch.
„Sie beabsichtigten was?“ muntert Harald ihn zu freiwilligem Geständnis auf.
„Stehlen,“ erklärt Theo Starnbeck.
Harald formt drei Rauchringe …
Dann: „Das wird so kein ehrlicher Verständigungsfrieden, lieber Starnbeck. Sie sind einer von Barnes Leuten.“
Herr Theo macht ein erstauntes Gesicht …
„Verzeihung, Herr Harst … Wer ist Barne?“
„Vergessen Sie doch nicht, mit wem Sie es zu tun haben … – Schraut, entferne Perücke, Bart, Nasenspitze und Schminke …“
Theo hält ganz still …
Harst lacht ihn heiter an …
Und in wenigen Minuten habe ich aus den Maskeraderequisiten einen völlig anders aussehenden Kopf herausgeschält …
Theo Starnbeck entpuppt sich als ein Mann von etwa dreißig Jahren, mit leichter Stupsnase, blondem Bürstenkopf und dünnen kühn geschwungenen Augenbrauen …
Fraglos ein intelligentes, wenn auch arg verlebtes Gesicht … –
„Leere seine Taschen,“ befiehlt Harald weiter …
Auf diese Arbeit verstehe ich mich …
Außer Dietrichen, Klappstemmeisen, kleiner Repetierpistole, Fläschchen mit Chloroform, feinem Batisttuch, Nagelfeile, silbernem Zigarettenetui und flacher Uhr mit Sprungdeckel, Gold, Schweizerwerk, kommen noch eine Brieftasche, und aus dem Jackenfutter ein Paß auf den Namen Theo Starnbeck zum Vorschein.
Die Brieftasche enthält etwa dreihundert Mark in deutschem Gelde, ferner eine alte Photographie eines übel herausgeputzten Weibes und drei an Herrn Theo gerichtete Liebesbriefe einer gewissen Rosalinde.
Alles ganz harmlos also … Nirgens ein Hinweis, daß Theo mit zu Barnes Garde gehört.
Und Theo sagt nun bescheiden:
„Herr Harst, Sie sehen, daß ich Sie nicht belogen habe … Lassen Sie mich bitte laufen …“
Harald erhebt sich. „Ich sehe das Gegenteil,“ meint er gleichmütig. „Schraut, reiche mir mal Herrn Starnbecks verbeulten Filzhut dort vom Stuhle her …“
„Bitte …“
Und – merkwürdig! – –: Theochen rutscht mit einem Male auf dem Klubsessel unruhig hin und her, als ob er Ameisen oder Flöhe in den Hosen hätte …
Harst nimmt den schwarzen Filzhut … eine steife Dohle – sie paßt zu Theos Kostüm …
Harst kippt das Schweißleder nach außen …
Und – siehe da: ein schmaler, dreimal gefalteter schmieriger Zettel flattert auf den Teppich …
Theo ist wie ein Blitz hochgefahren …
Hat den Zettel erwischt, will ihn in den Mund schieben.
Will …
Ein Fausthieb Harsts, und die Hand Theos schnellt zur Seite …
Ich packe zu … habe den Zettel …
Harald wird ungemütlich …
„Binden wir Herrn Starnbeck, mein Alter … Er ist ein Wolf im Schafspelz …“
Theochen läßt alles mit sich geschehen …
Hockt im Sessel …
Blinzelt uns frech an … –
Ich streiche den Zettel glatt. Wir lesen:
Urwaldrätsel.
Wo das heilige Wort
An verborgenem Ort
Von Rittern ward beschützt,
Dort der Eine sitzt.
Vom heiligen Wort
Eile nach Südwest fort,
Erreiche das Schloß
Mit grünlichem Moos,
Poche nur an, sage das Wort
Dreimal vor der Türe dort,
Füge hinzu das lohende Grün,
Und man wird am Türschloß ziehn.
Harst wirft Starnbeck einen fragenden Blick zu …
„Was soll der Unsinn?! Noch dazu so miserable Reime! Vernünftige Rätsel sind in tadellosen Versen geschrieben. Das ist mild gesagt … Mist! Weshalb verteidigen Sie den Wisch so?! Weshalb verbargen Sie ihn unter dem Hutfutter?!“
Theo stammelt: „Die Rückseite, Herr Harst … Die Adresse!“
Da steht tatsächlich – ebenfalls mit Tinte in derselben klobigen, schmucklosen Schrift:
Jakob Schmelzer, Grenadierstr. 8,
2. Hof links III.
„Wohl die Adresse eines Hehlers?“ meint Harald, knüllt den Zettel zusammen und wirft ihn in den Papierkorb. „Wir werden weder Ihnen noch Ihrem Hehler etwas antun, Starnbeck, wenn Sie ehrlich sind … Kennen Sie James Barne?“
Starnbeck steht auf … reckt die Schwurhand gen Himmel. „Herr Harst. beim Andenken meiner Eltern: ich kenne keinen Barne! Ich hoffte bei Ihnen auf dem Boden Wäsche und Kleidungsstücke zu finden … Sie sehen ja, wie abgerissen ich bei der Kälte umherlaufe! Ich wußte, daß Sie keine Hunde halten … Ich stellte es mir sehr leicht vor, gerade bei Ihnen …“
„Schon gut …“ – Harald scheint zu überlegen. Sagt dann: „Maskieren Sie sich wieder … Wir werden Ihnen einen alten Mantel und anderes schenken und Sie nicht weiter behelligen. Nur einen Gegendienst verlange ich. Ich glaube, daß unser Haus bewacht wird. Klettern Sie nachher wieder zum Bodenfenster hinaus und an der Linde in den Vorgarten hinab. Schauen Sie sich genau auf der Straße um. Falls Sie etwas Auffälliges bemerken, zünden Sie sich eine Zigarette auf der anderen Straßenseite an. Und – werden Sie ehrlich, Starnbeck! Hier sind fünfzig Mark. Fangen Sie ein besseres Leben an …“
Ich wußte wahrhaftig nicht, was ich von dieser unverständlichen Milde Haralds halten sollte. Nun – er mußte wohl seine Gründe dafür haben.
Eine Viertelstunde später war Herr Theo verduftet. Wir standen wieder am oberen Flurfenster und beobachteten die Straße … Das mit Theo vereinbarte Signal blieb aus.
„Geh’ die Koffer packen, mein Alter,“ befahl Harald. „Nimm aber die beiden ältesten und schäbigsten …“ Was er noch weiter antwortete, erfährt der Leser später. – Fragen konnte ich ihn nichts. Er war Moltke, großer Schweiger in höchster Potenz. Er blieb am Flurfenster als Wache zurück, revidierte auch wiederholt Boden und Dach.
Vormittags neun Uhr … Anhalter Bahnhof Berlin … D-Zug nach München … Abteil erster Klasse, Raucher, leer bis auf uns beide …
Draußen Sauwetter … Harald schaut von seinem Fensterplatz auf den Bahnsteig hinaus. Bisher bin ich so klug wie zuvor. Harst lehnt jedes Gespräch über unseren Theo ab.
Drei Minuten noch bis zur Abfahrt …
Harald nickt mir zu … „Ja – drei Minuten, und drei sind’s …“
„Was? Drei?“
„Spione … Zwei Damen, ein alter Herr … Alle drei äußerlich sehr vornehm … Barnes Garde … Waren hinter mir am Schalter, als ich die Fahrkarten bis Basel löste … Waren hinter dir, als du die beiden mit Steinen gefüllten Koffer aufgabst … Nahmen nur Bahnsteigkarten. Glaubten uns eingewickelt zu haben. Barne ist ein Idiot … Die beiden Damen sind verkleidete Männer. Und Theo Starnbeck war James Barne.“
Mein Mund bleibt offen … Ich bin sprachlos. Kein Wunder weiter …
Harst schaut wieder zum Fenster hinaus. Der Zug ruckte an …
Harald lehnt sich in die Polster zurück und lacht … Faßt in die Sportpelztasche, holt eine Nummer einer Londoner illustrierten Zeitschrift hervor …
„Bitte …“
Ich sehe ein ovales, scharfes Bild … Erkenne unseren Theo. Unter dem Bilde steht:
Detektiv James Barne, der nach viertägiger Verhandlung aus Mangel an Beweisen wegen der Ermordung Sir Howard Kensings freigesprochen wurde.
Harst zerreißt die Zeitschrift, wirft die Stücke zum Fenster hinaus und meint:
„Barne-Theo lacht sich nun ins Fäustchen … Glaubt uns nach Neuguinea unterwegs …“
„Wie – und wir …?“
„… wir fahren nur bis Leipzig, natürlich … Das Urwaldrätsel, mein Alter!!“
Selten habe ich Harald gegenüber in derart starkem Maße das Gefühl völliger Bedeutungslosigkeit gehabt wie damals.
Er spricht weiter: „Daß ich die Koffer mit Steinen füllen ließ und daß unsere notwendigsten Requisiten hier in unseren Handtaschen liegen, hätte dir schon meine wahren Absichten enthüllen müssen, mein Alter. Barne und sein Auftraggeber Emery Fangalan wissen, daß Doris Daugberry bei uns war, wissen nicht, daß sie noch bei uns ist. Barne wollte uns für immer erledigen. Die Pistole und das Chloroformfläschchen besagten genug. Er ist rücksichtslos, ist ein Mörder, ist für Geld zu allem zu haben. Emery Fangalan hat durch Barne und dessen Garde die Expedition des Herzogs austilgen lassen, damit er, Emery, die Milliarden und Doris an sich bringen könne. Emery liebt Doris fraglos – eine verbrecherische Liebe! – Der Fall liegt klar …“
Ich komme so allmählich wieder zu mir …
„Wenn du das alles so bestimmt weißt, Harald, – weshalb ließest du Barne-Theo denn laufen?! Und – was soll das Urwaldrätsel?!“
„Es ist der Schlüssel, mein Alter …“
„Schlüssel?!“
„Ja – zum Schloß mit dem grünlichen Moos … Dort sitzt der eine … Poche nur an, sage das Wort – und so weiter … – Oder hast du die Knittelverse nicht behalten?!“
„Nein – bedaure …“
„Bitte, hier ist der fettige Zettel … Du hast jetzt Zeit … versuche das Rätsel nur zu lösen. Der Verfasser ist Barne. Aber es war von ihm eine bedenkliche Dummheit, es bei sich zu tragen …“
Ich nehme den Wisch, lese zerstreut die ersten Zeilen:
Wo das heilige Wort
An verborgenem Ort
Von Rittern ward beschützt …
Ich reiße mich zusammen …
Grüble, sinne, überlege …
Umsonst …
Der Zug saust weiter … weiter …
Zehn Minuten vergehen …
Ich zünde mir eine Zigarre an. Harald lächelt mir zu.
„So schwer?! Bringt dich denn nicht das lohende Grün auf die richtige Spur?! Vielleicht soll dies … Lohengrin bedeuten … – So, nun habe ich dir einen Wegweiser gezeigt. Denke an König Artus Tafelrunde, an die wundervolle Sage vom …“
Er schweigt …
Und ich – – ein Licht geht mir auf! – rufe:
„Der heilige Gral, das strahlende Gefäß, das von den Rittern des Königs Artus bewacht wurde!“
„Stimmt … – Wo der heilige Gral in der jedem Menschen unerreichbaren Gralsburg von Rittern beschützt wird – und so weiter …“
„Sehr gut! – Doch – weshalb hat Barne „Urwaldrätsel“ darüber geschrieben, und was sollen die letzten Zeilen:
Poche nur an, nenne das Wort
Dreimal vor der Türe dort …
Füge … Lohengrin hinzu,
Und man wird am Türschloß ziehn.
Was soll das?“
„Das ist der Schlüssel zur Burg, das heißt: Klopfe und flüstere das Wort „Gral“ dreimal und füge „Lohengrin“ hinzu. Dann läßt man dich ein.“
„Wo?!“
„Dort, wohin wir von Leipzig aus reisen werden … – Jetzt möchte ich jedoch ein paar Stunden schlafen, denn ich habe diese Nacht kein Auge zugetan …“ – –
Abends sechs Uhr … auf dem Stettiner Bahnhof in Berlin stehen zwei harmlose ältere Herren mit Handtaschen am Fahrkartenschalter …
Wir …
Ich bin gespannt, wohin die Reise geht …
Harst sagt zu dem Fahrkartenverkäufer …
„Wir möchten nach dem Ostseebade Graal[2] bei Müritz … Zwei Karten dritter … Graal in Mecklenburg …“
Nun bin ich etwas schlauer … etwas …
Also das Graal ist gemeint, darauf bezieht sich das Urwaldrätsel! – –
Erst morgens sind wir in Graal …
Meine Fragen über den Zweck dieser Reise an die winterliche Ostseeküste hat Harald überhört – alle Fragen.
Im Grunde bin ich genau so schlau wie zuvor … –
Das Pensionat Waldesluft[3] ist für uns wie geschaffen. Es liegt abseits, ist jetzt im Winter zum Teil mit Brettern vernagelt, schaut daher wie ein Neubau aus, zu dessen Vollendung dem Eigentümer das Geld gefehlt hat. Nur die Erdgeschoßräume atmen Leben. Aber die mächtigen Kiefern alten Waldes umrauschen den nüchternen Bau, und durch eine Lücke der dünn bepflanzten Dünen sieht man das Meer, scheinbar endlos, und dennoch nur ein Teil der bescheidenen Ostsee.
Frau Holderbusch, die Inhaberin, eine blonde Walküre vorgerückten Alters, prüft uns erst auf Herz und Nieren, bevor sie uns aufnimmt. Sie haust zu dieser Jahreszeit hier ganz allein ohne jede Bedienung. Die beiden gemütlichen Leipziger Lehrer, als die wir uns vorstellen, gefallen ihr schließlich. Harald sächselt so prächtig, und ich mache ein so bieder einfältiges Gesicht – –, kurz, Frau Witwe Holderbusch weist uns im Erdgeschoß ein Zimmer zu, von dessen Erker aus man Wald und See mit Blicken genießen kann. Wir helfen hier den weißen Kachelofen heizen, wir schleppen Briketts aus dem Stalle ins Haus, fegen den Schnee im Hofe zusammen, Harald spaltet Kleinholz: die Holderbusch ist entzückt!!
So gegen ein Uhr wird unser Zimmer warm. Aber das Mittagessen nehmen wir noch mit der Walküre gemeinsam ein. Frau Holderbusch weiß, daß wir nervös überarbeitet sind und gute Pflege brauchen. Es gibt Fleischbrühe, Bratflundern, Hammelrippchen und nachher Torte mit Schlagsahne. Acht Mark je Person für den Tag – dafür läßt sich schon ein Menü herrichten. Die Holderbusch fr… ißt am meisten. Die Unterhaltung fließt glatt wie Öl. Harald beginnt bei den Hammelrippchen unbemerkt Detektiv zu werden, und ich horche auf …
„Hier in der Nähe soll doch der ehemalige Großherzog weite Forsten besitzen, Frau Holderbusch?“
„Ja – auch einen Wildschutzpark, in dem seit fünfzig Jahren keine Axt gearbeitet hat, kein Schuß gefallen ist, Herr Harke … Es ist der reine Urwald …“
Ich spitze noch mehr die Ohren …
Urwald!! – Urwald, hat sie gesagt …!
Urwaldrätsel!!
Harst-Harke blickt mich flüchtig an …
„Und dieser Urwald gehört noch immer dem Großherzog?“ fragt er weiter …
„Gewiß, gewiß … Nur einen kleinen Teil hat der Ehemalige an einen verrückten Engländer verkauft samt dem Jägerschlößchen Gralsburg, einem alten, verwitterten Steinkasten, dessen Granitquadern mit der Zeit ganz unter grünen Moospolstern verschwunden sind …“
Grüne Moospolster!! Schau an!! Und in Barnes Rätsel heißt es: „Schloß mit grünlichem Moos!!“ – Harald ist wirklich ein Genie! Dieses Urwaldrätsel hat er überraschend schnell bewältigt. Nur – weshalb mag James Barne, doch natürlich im Auftrage des Milliardärs Patrick Fangalan, das alte Jagdschloß erworben haben?
Das ging mir so durch den Kopf, und deshalb hatte ich auch eine Weile nicht mehr recht auf das Gespräch zwischen Frau Holderbusch und Harald geachtet.
Ich hörte nun wieder hin. Die Walküre sagte gerade: „Es wohnen dort außer einem älteren Ehepaar noch zwei jüngere Männer, alles Engländer, Herr Harke … Die beiden jungen Leute sollen Verwandte des Herrn Barne sein und brauchen Waldluft, da sie schwindsüchtig sind. Zuweilen kommen sie hier nach Graal. Es ist ein Jammer, diese sieche Jugend mühsam an Stöcken daherschleichen zu sehen …“
„Wann kaufte dieser Barne das Jagdschloß?“
Hm – jetzt hatte Harald sich doch insofern verhauen, als er den geistigen Horizont der Witwe Holderbusch falsch eingeschätzt hatte. Aus ihren blauen, verwaschenen Augen traf ihn ein langer, langer Blick. Dann sagte sie sehr geradezu: „Sie wollen Lehrer sein, Herr Harke …?! Entschuldigen Sie schon, das glaube ich nicht …“
„Das sollen Sie auch gar nicht mehr glauben,“ lächelte Harst gemütlich, – eine Erwiderung, die mich sehr in Erstaunen setzte. „Ich habe Sie jetzt genügend kennengelernt, liebe Frau Holderbusch, und daher wollen wir im Vertrauen auf Ihre Diskretion die Maske fallen lassen … Wir sind die Berliner Detektive Harst und Schraut, und hierhergekommen, um ein Verbrechen aufzuklären, dessen Spuren auch nach Schloß Gralsburg hinführen. Der Tatort selbst liegt im Stillen Ozean auf der Insel Neuguinea, wo …“
„Mein Gott – – so weit!“ rief Frau Holderbusch entsetzt. „Mein Mann war Schiffskapitän, und daher kenne ich mich in der Geographie gut aus. – Sie sollen es nicht bereuen, meine Herren, mich Ihres Vertrauens für würdig befunden zu haben. Auf mich ist Verlaß. Wo und wie ich Ihnen helfen kann, tue ich es gern. Ihr Name, Herr Harst, ist mir ja nicht fremd. Im Gegenteil … –“ Sie geriet ordentlich in Eifer, die brave Walküre … Und daß sie es ehrlich meinte, daran war nicht zu zweifeln … – In einem Atem fügte sie hinzu: „Dieser Barne kaufte das Schlößchen samt zwei Morgen Urwald etwa im März 1923. Ich habe Barne nur ein einziges Mal bei meinen Bekannten, dem Förster Lindner, gesehen. Er sprach tadellos deutsch und machte keinen üblen Eindruck. Barne ist ein älterer Herr mit fuchsigem Bart und langem rotblonden Haar und …“
Sie hätte fraglos noch eine halbe Stunde geredet, wenn Harald sie nicht unterbrochen haben würde … Er zog sie nun wirklich vollends ins Vertrauen, schilderte ihre den ganzen Fall Daugberry und erklärte zum Schluß: „Da Barne die Gralsburg im Frühjahr 1923 erwarb und da von der Expedition des Herzogs jede Nachricht seit Januar 1923 ausgeblieben ist, vermute ich, daß dieser Emery Fangalan es nicht gewagt hat, auch den Herzog ermorden zu lassen, sondern daß Tom Daugberry von Neuguinea hierher geschafft wurde und nun in der Gralsburg gefangengehalten wird, worauf ja auch die eine Zeile des „Urwaldrätsels“ hinweist:
Dort der Eine sitzt!
Das kann nur bedeuten, daß man dort jemand verborgen hält, – ein Gedanke, der mir schon in Berlin gekommen war.“
Diese letzten Sätze Haralds schlugen wirklich wie eine Bombe ein. Die brave Holderbusch war ganz blaß geworden, und auch ich fühlte, wie mir alles Blut aus dem Gesicht zum Herzen strömte.
Harald fuhr unbeirrt fort: „Schraut und ich werden nun in der nächsten Nacht in das Jagdschlößchen einzudringen suchen. Sollen wir bis morgen mittag nicht wieder zurück sein, liebe Frau Holderbusch, so benachrichtigen Sie den hiesigen Landjäger, den Gemeindevorsteher und den Förster Lindner. Man soll dann ohne jede Rücksicht in die Gralsburg eindringen …“
Unsere walkürenhafte Wirtin saß so, daß sie durch das eine Fenster gerade auf die am Hause vorbeilaufende Straße hinausschauen konnte …
Kaum hatte Harst das letzte Wort über die Lippen gebracht, als die Holderbusch ganz heiser rief:
„Da … da sind sie …!! Das sind Barnes schwindsüchtige Verwandte!“
Wir sind im Nu am Fenster, bekommen aber nur noch die Kehrseite der beiden jungen Engländer zu Gesicht. Die Holderbusch flüstert: „Dieser Weg hier läuft nach links in den Wald, nach rechts in den Ort … Ist’s nicht ein wahres Jammerbild, die beiden?!“
Allerdings … In dunkelgrauen Sportpelzen mit hochgeklappten Kragen schleichen da, auf Stöcke sich stützend, zwei lange, hagere, gebückte Gestalten durch den Schnee … Wirklich Jammerbilder!
„Und blaß sind sie immer wie der Tod …,“ erklärt unsere Wirtin weiter. „So blaßgelb, Herr Harst, und mit den Kirchhofsrosen an den Backenknochen … – Sie wissen doch – die roten Flecke …“
„Ich weiß … – Nur … ich glaube nicht daran …! Schminke macht viel, Frau Holderbusch …“
„Aber Herr Harst …!“
„Warten Sie ab … Ich werde den beiden folgen … Du wieder, mein Alter, bleibst zehn Schritt hinter mir … Rasch …!“
Und gerade, als wir dann das Haus verlassen, durchbricht die Sonne die dünne Schicht grauen Schneegewölks.
Harst zehn Schritt vor mir … Dreißig Schritt weiter die beiden angeblich Kranken … Sie biegen nach links in die Hauptstraße ein … Betreten hier den Kolonialwarenladen … Harald bleibt stehen. Eine Kopfbewegung … Ich bin bei ihm …
„Geh du hinein,“ flüstert er … „Deine Figur ist nicht so auffallend wie die meine …“
Er hat recht … Ich bin in meiner jetzigen Maske ein kleiner wohlbeleibter Spießbürger. Bei ihm ist trotz Bart und Perücke die so charakteristische Nase genau so wenig zu verheimlichen wie die schlanke, sehnige Figur, mag er selbst noch so krumm gehen … –
Also ich hinein in das Geschäft … – Der typische Dunst nach Seife, Petroleum, Eßwaren und Gewürzen schlägt mir entgegen. Hinter dem Verkaufstisch steht ein rotbäckiger Mann mit vergnügten Äuglein, und wiegt Mehl ab. Die beiden Engländer sitzen im Hintergrunde an einem kleinen Tischchen. Die Beleuchtung ist hier zu miserabel, als daß ich diese blassen Gesichter daraufhin prüfen könnte, ob sie künstlich gebleicht sind.
Ich verlange Zigarren, fünf Stück zu fünfzehn Pfennig, ganz leicht … Der Kaufmann mustert die fremde Erscheinung mit jener Neugier, die nun einmal in so kleinen Orten während der toten Saison jedem Fremden entgegengebracht wird. – Bevor ich jedoch bedient werde, erledigt er erst die Stammkundschaft aus Jagdschloß Gralsburg, die einen langen Wunschzettel ihm überreicht haben. Ich warte geduldig. Der Kaufmann unterhält sich mit den Engländern. Sie sprechen ganz gebrochen deutsch, und ihre Stimmen sind heiser und leise, ihr Hüsteln mitleiderregend …
Ob es den Herren besser ginge, fragt der kerngesunde Mecklenburger … – Nein, die Winterluft sei zu streng … Sie würden morgen abreisen nach dem Süden … Auch das alte Ehepaar … Das Schloß würde bis zum Frühjahr unbewohnt bleiben …
Ich beschaute mir scheinbar völlig uninteressiert die Ansichtskarten von Graal und dem benachbarten Seebade Müritz, drehte den Ständer langsam weiter und erlauschte jedes Wort …
Der zweite „Schwindsüchtige“ erklärte jetzt hüstelnd:
„Nur unsere Doggen bleiben im Schlosse … Der alte Fischer Radtke wird sie jeden Tag füttern … Er braucht ihnen das Futter und das Trinkwasser nur durch das Gitter zu schieben.“
Der Kaufmann hatte inzwischen das große Paket für die beiden Bedauernswerten fertig gemacht, begleitete sie bis zur Tür, dienerte und wünschte ihnen glückliche Reise und gute Erholung. Dann bediente er mich, wollte eine Unterhaltung mit mir anfangen, hatte wenig Glück damit und wünschte mir mißmutig ein „Auf Wiedersehen“ …
Als ich auf die Straße hinaustrat, hatten die Engländer bereits einen beträchtlichen Vorsprung gewonnen, und Harst war verschwunden.
Ich stapfte also durch den Schnee zum Pensionat zurück, sah unsere „Freunde“ in den Wald einbiegen und dann am Erkerfenster unseres Zimmers meinen Harald, der noch die Momentkamera in der Hand hielt. Er hatte bei diesem tadellosen Licht die Engländer offenbar geknipst – kein schlechter Gedanke, denn wenn die Bande die Gralsburg jetzt wirklich verließ, konnte es von Bedeutung sein, die beiden auf dem Filmstreifen zu haben.
Als ich Harald dann im Zimmer berichtete, was ich im Kaufmannsladen erlauscht hatte, und die Bemerkung daran knüpfte, daß seine Annahme, der Herzog befinde sich als Gefangener in dem Jagdschloß, unter diesen Umständen doch wohl kaum zutreffen dürfte, es sei denn, die Leute nähmen Daugberry mit sich, erwiderte er prompt:
„Die Herrschaften haben, wie du mir soeben mitteiltest, zehn Pfund Mehl, vier Büchsen Sardinen, zwei große Büchsen Konservenfleisch, fünf Pfund Butter und vier Dauerwürste eingekauft, außer Kaffee, Tee und zehn Tafeln Schokolade … – Meinst du, daß dies alles der alte Fischer Radtke den Hunden geben soll?!“ – Harald kann in gewissen Momenten unangenehm ironisch sein. In diesem Falle hatten er mit seiner Ironie recht: ich war geradezu blamabel gedankenlos gewesen, hätte mir selbst sagen müssen, daß diese Spießgesellen des Mr. Barne mit ihrer Abreise nur Spiegelfechterei trieben!
„Die Bande bleibt also hier!“ meinte ich kleinlaut …
„Gewiß, mein Alter … Und mehr noch: die Bande fühlt sich hier nicht mehr ganz sicher – unseretwegen! Nicht etwa, daß ich vermute, sie wüßten, daß wir in Graal sind. Das nicht. Aber sie wissen uns beide auf ihrer Fährte, und da hat Barne für alle Fälle seine Vorsichtsmaßregeln angeordnet. Sollten wir eben irgendwie doch herausfinden, (so hat er kalkuliert), daß die Gralsburg des Herzogs Gefängnis ist, so sollen wir hier eben bei unseren Nachforschungen erfahren, das Jagdschloß stände jetzt leer und die Doggen bewachten es, würden gefüttert und so weiter … – Du verstehst den Trick …“
„Allerdings …“
„Und in Wahrheit wird das alte Ehepaar und die beiden Kerle, die sich die Schwindsucht ins Gesicht getuscht haben, irgendwo in verborgenen Gelassen hausen – im Kellen wahrscheinlich. Das Schloß ist alt, und der Großherzog, der es einmal erbauen ließ, war ein halber Sonderling und liebte das Romantische. Da wird er fraglos auch in der Gralsburg geheime Gemächer geschaffen haben, und …“
„Still …!“ unterbrach ich ihn und deutete durch das Fenster auf die Straße …
Vom Walde her kam ein altes gebücktes Männchen mit einem Hausiererkasten auf dem Rücken vorüber …
Mit dem Auftauchen dieses greisen Händlers trat das Problem „Urwaldrätsel“ in ein neues Stadium …
Sanft, friedlich, ohne große Sensation war der Fall „Urwaldrätsel“ bisher wie ein freundlicher Waldbach dahingeplätschert, worüber ich durchaus nicht weiter ärgerlich gewesen, denn in meinem Alter liebt man die Ruhe, und bei meinem Schmerbäuchlein schätzt man Probleme, die nicht gerade eine Hetzjagd von Gefahren, Überraschungen und nächtlichen Ausflügen darstellen.
Schon als Harald von den Geheimkellern in der Gralsburg gesprochen hatte, war in mir so ein gelindes Gruseln aufgestiegen. Ich ahnte: das friedliche Waldbächlein würde plötzlich zum reißenden Strome werden.
Ich machte Harald auf den alten Mann im Schafspelz aufmerksam, der da draußen auf dem Wege müde vorüberschlürfte und doch mit so blinkenden forschenden Augen unter dicken grauweißen Brauen hervor unser Pensionsheim musterte.
„Vielleicht gar James Barne selbst …,“ flüsterte Harald, und seine Stimme war dunkel vor Erregung … „Vielleicht! Sollte ein Spion uns auf den Fersen geblieben sein?! Ich kann’s kaum glauben …! – Ah – da geht er weiter … Wir müssen vorsichtig sein … Lassen wir ihm einen größeren Vorsprung … – Hinein in die Pelze, mein Alter … – So – jetzt auf die Straße …“
Drüben hundert Meter weiter biegt der Weg in die Hauptstraße ein …
Der Weg ist leer … Keine Seele …
Harald blickt mich an …
„Er kann noch gar nicht bis zur Hauptstraße gelangt sein … Sehen wir, ob er etwa vom Wege sich schon früher wieder in den Wald verkrümelt hat … Die Schneedecke ist frisch … Jede Spur muß sich klar abzeichnen …“
Wir wandern weiter …
Nichts … Nur Fährten von Hunden und von Kindern mit Schlitten …
„Unbegreiflich!“ sagte Harst ärgerlich. … „Wo blieb der Bursche nur?“
Plötzlich steht er still …
Deutet auf die Spuren winziger Stiefel …
„Da – die Fährte ist ganz frisch … Aber sie kann nur von einem Kinde herrühren …“
Sinnend betrachtet er die Eindrücke in der nicht allzu dicken Schneeschicht …
Murmelt etwas Unverständliches vor sich hin. Dann sind wir wieder in unserem warmen Erkerzimmer … Harald wirft sich auf den Diwan …
„Du hast auf dem Sofa Platz, mein Alter … Schlafen wir Vorrat … Wer weiß, was die Nacht uns bringt …“
Müde genug sind wir … Ich schlafe sehr bald ein … Und wir erwachen erst, als um halb fünf Frau Holderbusch an die Tür pocht und uns den Kaffee bringt. – Harald sitzt auf dem Diwan, gähnt und reibt sich die Augen … Frau Holderbusch hat Licht gemacht. Die ehrwürdige Petroleumlampe erhöht nur die Gemütlichkeit.
Mit einem Male ruft Frau Holderbusch, indem sie einen Zettel von der Tischdecke nimmt:
„Herr Harst – für Sie!“
Harald ist schon neben ihr …
„Wirklich …!“ Sie hat ihm den Zettel gereicht … „Hier steht:
Herrn Harst, Graal.
Se werdn sich verwundern, daß e alter jiddischer Hausierer hat sich gemengt in Ihre Sachen, Herr Harst. Aber e anständjer Mensch unterstitzt gern die Anständjen. Herr Harst, die aus dem Jagdschloß hoben sich bestellt e Schlitten für heit obend, um zehn zu fahren zur Eiserbohnstation Gelbensande. Um Uhre sieben soll das Schlittchen kommen ßu stehn vors Schloß.
Jakob Maschel.
„Was bedeutet das?!“ quält unsere Walküre hervor … „Wie ist der Zettel hier ins Zimmer gelangt?! Ich war doch daheim, Herr Harst, und …“
Harald unterbricht sie …
„Es gibt Fenster und Dietriche, liebe Frau Holderbusch. Immerhin setzt es auch mich in Erstaunen, daß ich, der einen so leisen Schlaf hat, nicht gehört haben sollte, wenn jemand die Zimmertür geöffnet hat …“
Wir drei raten hin und her. Harald geht die Flurfenster und andere Eingangsmöglichkeiten untersuchen. Es kommt nichts dabei heraus. Wie Jakob Maschel eingedrungen ist, läßt sich nicht aufklären.
Frau Holderbusch verschwindet, und nun prüft Harst den Zettel noch genauer, stellt fest, daß das Papier nach schlechter Seife und Tabak stinkt und daß vier Abdrücke von schmutzigen, fettigen Fingerspitzen sehr undeutlich zu erkennen sind. – Aber auch dies bringt uns nicht weiter. – Harald erklärt dann, als ich den Inhalt des Wisches für eine Mystifikation hinstelle, sehr bestimmt: „Das glaube ich niemals! Hier handelt es sich zweifellos um einen Bundesgenossen, mein Alter … Ob ich recht habe, wird sich ja in zwei Stunden erweisen …“ –
Sieben Uhr … Auf Umwegen, genau orientiert von Frau Holderbusch, haben wir den halbstündigen Marsch bis zur Gralsburg auf fast eine Stunde ausgedehnt. Jetzt stehen wir im Tannendickicht, unter grünen Nadelästen, die winterlich weiß bestäubt sind.
Zwanzig Meter vor uns auf der Waldlichtung erhebt sich das von hohem schmiedeeisernem Gitter umgebene phantastische Schlößchen mit seinen beiden kleinen Nebengebäuden, dem Garten mit den entlaubten Obstbäumen und den immergrünen Hecken …
Vor dem großen Flügeltor des Zaunes hält ein mit zwei Pferden gespannter Kastenschlitten. Der Bauer, dem er gehört, hockt vorn auf dem Sitzbrett, den Pelzkragen hochgeschlagen.
Dann tauchen von der Allee her, die zum Portal läuft, vier Gestalten auf … Drei Männer, eine Frau … Jeder schleppe einen Koffer …
Die Koffer werden im Schlitten verstaut.
Ich verfolge die Bewegung der vier …
Ich bin argwöhnisch … Doch nein: der Herzog kann unmöglich einer der vier sein!
Dann ziehen die Gäule an. Die Schlittenglocken bimmeln, die beiden Laternen werfen matten Schein auf den Schnee …
Der Schlitten entschwindet …
Da plötzlich erhebt sich hinter dem Gitter ein wahnwitziges Heulen und Bellen …
O – das sind keine angenehmen Wächter, diese drei prächtigen gelben Doggen … Jetzt erst haben sie begriffen, daß sie allein zurückbleiben … Springen am Gitter hoch … Rasen hin und her …
Bis sie sich schließlich beruhigen …
Längst ist das Schellengebimmel verhallt …
Schweigen ringsum … Kiefernrauschen … Sonst kein Laut … Dunkel, geheimnisvoll liegt die Gralsburg da … Der Burgstil ist im großen ganzen gewahrt. Aber die angeklebten Erker an den beiden Türmen und die Balkone am Mittelbau verderben den Gesamteindruck. Auf den Moospolstern der Granitquadern hat sich stellenweise Schnee festgesetzt … Die Schloßfront sieht wie marmoriert aus.
„Gehen wir!“ flüstere ich … Denn – was sollen wir hier noch?! Ein Eindringen in die Gralsburg ohne Vorbereitungen ist unmöglich … Außerdem erscheint es mir auch besser, wenn wir die vier Reisenden erst wieder heimlich zurückkehren lassen …
„Bleiben wir!“ flüstert Harst … „Wenn einer von uns die drei Doggen hier vorn beschäftigt, kann der andere – ich – von hinten eindringen … Vorwärts, mein Alter … Das ist die einfachste Lö…“
Er hat Lösung sagen wollen …
Über unsere Köpfe hinweg fliegt ein Päckchen, fällt in den Schnee …
Wir fahren herum …
Sehen nichts … nichts … Dazu ist’s hier zu dunkel …
Harst zieht mich rasch hinter den nächsten Stamm …
„Es kann eine Höllenmaschine sein …!“
Wir drücken uns eng aneinander …
Siedend heiß wird es mir …
Minuten verstreichen …
Keine Explosion …
Harald drängt mich beiseite, holt das Päckchen, befühlt es.
„Weich! Zeitungspapier …! – Schalte mal deine Taschenlampe ein …“
Und da erst sehen wir unter dem Bindfaden des Päckchens einen Zettel … Lesen …
Worscht, Herr Harst, Worscht mit e bißchen Schlafpulver – for die Hündchen.
Jakob Maschel.
Harald steht wie eine Bildsäule …
Mir geht’s nicht anders: Herr Jakob Maschel scheint starke Überraschungen zu lieben!
Dann meint Harst: „Der Hausierer denkt an alles! – Gut – beschauen wir uns die Worscht …“
Es sind zehn daumendicke Stücke Leberwurst …
Und diese Stücke fliegen gleich darauf über den Zaun … Harald hat sich bis an das Gitter geschlichen. Die Doggen witterten ihn sofort, vollführen einen Höllenlärm …
Aber, … fressen die Wurststücke …
Die drei Doggen laufen jetzt träge die Allee hinab, dem Schlosse zu. Ihre Bewegungen sind unsicher … Die Beine scheinen ihnen nicht mehr zu gehorchen …
„Sie suchen ihren Zwinger auf, sie spüren die Müdigkeit,“ meint Harald … „Noch eine Viertelstunde, dann ist der Weg frei …“
Die Viertelstunde ist vorüber … Wir verlassen das Dickicht und schleichen der Gitterpforte zu, sind beide überzeugt, daß dieser merkwürdige Kauz von Hausierer, in den ich einen maskierten Kollegen vermute (wozu Harald geschwiegen hat) uns von irgendwoher beobachtet.
Wir erreichen die Pforte. Zur Probe rüttelt Harald erst einmal mit aller Kraft an den Eisenstäben … Das zweiteilige Gittertor klirrt … Der schrille Ton fällt mir auf die Nerven …
„Los denn!“ und Harst ist im Nu drüben. Ich folge etwas langsamer …
Wir ducken uns hinter eine Hecke, kriechen halb auf den düsteren Bau zu …
Dann – – wir beide stehen wie gebannt …
Nur noch zehn Meter sind’s bis zum Portal …
Über der dunklen Eichentür befindet sich ein buntes, vergittertes Bogenfenster …
Und diese bunten Scheiben glühen mit einem Male auf.
In der Halle ist das Licht eingeschaltet worden … Frau Holderbusch hat uns erzählt, daß die Gralsburg ihre eigene elektrische Beleuchtung besitzt …
Grell schimmern die blauen, roten, grünen, gelben Scheiben durch die Monddämmerung. Ich umkralle meine treue Pistole fester …
Da – das Licht erlischt wieder …
Harst schmiegt sich enger an die Buche, hinter die wir geschlüpft sind …
„Machen wir kehrt …!“ mahne ich leise zur Vorsicht …
Habe den kurzen Satz kaum beendet, als dort hinter der schweren Tür ein gellender, heller Schrei ertönt …
Kurz abbricht …
Dann ein Schuß – unmittelbar danach …
Harald stürmt vorwärts …
Neben der Tür sind in der Mauer zwei mächtige Zierlaternen angebracht, deren schmiedeeiserne Stützen tief herabreichen, so tief, daß Harald sich daran emporschwingen kann. Oben splittert das bunte Glas. Harsts Taschenlampe blitzt auf …
Ich bemühe mich, ihm schleunigst zu folgen …
Dann sind wir in der Halle. Zwei weiße Streifen gleiten umher. Zwei Pistolen sind entsichert …
Die Halle ist leer …
Unsere Taschenlampen enthüllen uns alle Einzelheiten des sechseckigen Raumes, aus dem vier hohe Eichentüren, tief nachgedunkelt und mit altertümlichen Eisenbeschlägen versehen, die Verbindung zu den übrigen Schloßräumen herstellen. Die Wände sind teilweise mit weißlichen Schimmelbildungen bedeckt, die die Wandmalereien im Laufe der Jahrzehnte zerstört haben. Wie feucht und ungesund die Luft hier ist, spüren wir beide am besten. Gleich Eisenklammern legt sich diese Luft mir um Kehle und Hals. Etwas unsagbar Bedrückendes, Unheimliches hat diese kahle Halle an sich. Von der gewölbten Decke hängt ein elektrischer Kronleuchter aus Hirschgeweihen herab. Das ist hier der einzige Schmuck. – Der Boden besteht aus schwarzen und weißen Fliesen, bildet ein riesiges Schachbrett.
Harald greift jetzt nach dem Lichtschalter neben der Eingangstür. Ein Knacken, und acht Birnen glühen auf …
Wir schalten unsere Taschenlampen aus. Harst umschreitet langsam auf Zehenspitzen den Raum, nachdem er mir einen Wink gegeben hat, die vier hohen Eichentüren zu beobachten. Ich halte mich schußbereit.
Vor der zweiten Tür von links macht Harst halt, bückt sich und untersucht den Boden.
„Blut,“ flüstert er …
Auch ich sehe sechs Blutstropfen in Abständen von je einem Schritt, den letzten dicht vor der zweiten Tür von links.
Weitere Spuren sind auf dem Schachbrett nicht zu erkennen.
„Es war der Schrei eines Weibes,“ meint Harald sinnend. „Es müssen zwei Personen hier in der Halle gewesen sein. Die eine schaltete den Kronleuchter ein – vielleicht, um uns zu warnen – durch das farbige Bogenfenster über dem Eingang. Die zweite Person hatte diesen Eindringling beobachtet, überfiel ihn, muß also einer von Barnes Garde gewesen sein. Die erste Person wieder, die den Schrei ausstieß, war der Eindringling. Man könnte aus diesem Schrei und diesem Schuß und diesen Blutflecken hier mancherlei Kombinationen ableiten. Wir haben keine Zeit dazu. Wer den Schuß abfeuerte, ob die Überfallene oder der Angreifer, bleibt sich vorläufig gleich. Jedenfalls ist eine der beiden Personen verwundet worden, und zwar an der Hand oder am Unterarm. Nur so ist es zu erklären, daß diese einzelnen Tropfen Blut auf die Fliesen gefallen sind. – Jetzt wollen wir einmal diese Tür öffnen … Tritt zur Seite, mein Alter. Die Waffe, mit der hier geschossen wurde, enthält sicherlich noch mehr Patronen …“
Er legte die Hand auf den dicken Messingdrücker. Zog die Tür auf. Sie war gut geölt, bewegte sich ganz lautlos.
Harst, die Taschenlampe weit von sich gestreckt haltend, flüsterte: „Eine Treppe …!“
Ja – hinter dieser Flügeltür lag die Treppe, die in die oberen Räume führte …
Der Lichtkegel von Haralds Lampe glitt langsam die Stufen empor … glitt wieder abwärts … Und blieb auf etwas Weißem haften, das sich scharf von dem roten Plüschläufer abhob, mit dem die Treppe belegt war.
Ein Zettel …!
Harald nimmt ihn … – Wieder eine Nachricht von dem geheimnisvollen Jakob Maschel … Da steht in derselben ungelenken Bleistiftschrift:
Wenn ich auch bin nur e alter Jidd, – mer sein nicht faige, Herr Harst … Mer haben geschüsse, und der Ganneff is wegjeloofen. Tun Se nur in Ruhe durchsuchen disse Reiberhehle. – Jakob.
Harst lacht leise … „O Jakob, daß du kein alter Jidd bist, ist nun sonnenklar …“
„Wofür hältst du den Mann?“ frage ich gespannt.
„Hm – mir ist da ein Gedanke gekommen, der sehr widerspruchsvoll erscheinen mag … Das für später … – Suchen wir …“
Wir schreiten die Treppe empor. Wir finden sechs leere Zimmer, Kammern, Verschläge … Wir finden die Zugänge zu den Seitentürmen, durchstöbern auch die Turmgelasse …
Nirgends mehr ein Blutstropfen …
Nur Staub, eisig-feuchte Luft, halb verfaulte Tapeten, Reste von Wandmalereien …
Im Südturm klettern wir schließlich auf schmaler Stiege in das Erdgeschoß hinab, gelangen in einen Saal mit vier Bogenfenstern.
Ah – hier ist es warm … Hier sind die Heizkörper angestellt (die Gralsburg hat Zentralheizung). Fast zu heiß diese schwere Luft … – Der Saal ist mit einigen alten Möbelstücken ausgestattet. Geweihe an den Wänden, ein Kolossalgemälde, eine Fuchshatz darstellend.
Außer diesem Saal gibt es hier im Erdgeschoß noch eine Bibliothek und zwei kleine Schlafzimmer mit je zwei Betten, ferner Küche, Speisekammer, Bad, und winklige, dunkle, enge Gelasse, in denen Gerümpel aufgetürmt ist. Hier unten haben das Ehepaar und die beiden Schwindsüchtigen gehaust, hier herrscht überall dieselbe gleichmäßige Wärme.
Wir entdecken nichts, was irgend von Wichtigkeit wäre. Wir bewegen uns ganz leise, hüten uns, die Lichtkegel unserer Taschenlampen auf die Fenster fallen zu lassen. Harald ist wie ein Spürhund. Den Kopf tief gesenkt, durchschnüffelt er jeden Winkel. In den beiden Schlafzimmern riecht es scharf nach einem Mundwasser. In dem, das die beiden „Kranken“ benutzt haben, liegen in einem Aschbecher noch vierzehn Stummel von englischen Zigaretten – opiumhaltig, widerlich duftend.
„Nette Schwindsüchtige!“ meint Harst und deutet auf die Stummel. „Diese Sorte englischen Dreck verträgt kaum ein Gesunder …“
Dann stehen wir im Küchenflur vor der Kellertür … Der Schlüssel steckt von außen …
Wir steigen die Steintreppe hinab …
Eine wahre Siedehitze strahlt uns entgegen … Hier unten befindet sich der Heizkessel … Man merkt’s. Längst habe ich mir den Pelz aufgeknöpft und glühe wie ein Pfingströslein.
Harald wird noch vorsichtiger … Ich bin ziemlich sorglos. Ich verlasse mich auf Jakob Maschel. Jakob ist unser Schutzgeist. Wenn wir hier noch etwas zu fürchten hätten, würde sein Zettel anders gelautet haben …
Auch hier beklopft Harald in den verschiedenen Kellerräumen die Wände, betrachtet den Ziegelsteinboden, sucht nach einer Geheimtür, die uns zu Tom Daugberry führen soll.
Wir finden nichts – nichts … Wir verstehen es, nach verborgenen Türen zu suchen … Wir schwitzen … schwitzen!
Als letzten Raum haben wir uns den Heizkeller aufgespart, dessen eiserne Tür halb offen steht … Siedehitze quillt aus der Türspalte … Wir sehen den Kessel, die Röhren, die rote Glut in der Feuerung, Steinkohlenberge in einer Ecke …
Harst äugt zunächst nur durch die Türspalte …
„Der Kessel ist überheizt,“ sagt er … „Hörst du das Sicherheitsventil zischen?! – Bleibe hier an der Tür stehen.“
Er tritt ein, schiebt die Eisentür ganz weit auf …
Eine Hölle von Hitze dort drinnen …
Ich nehme die dicke Winterreisemütze mit den Ohrenklappen ab und trockne mir die beperlte Stirn …
Leichtsinn war das … Bodenloser Leichtsinn, mir auch noch die Brillengläser zu säubern. Aber mein Vertrauen zu Jakob Maschel ist übergroß …
Ich habe Brille und Taschentuch noch in den Händen, als ein Mensch mich anspringt …
Ich fliege wie ein Gummiball in den Heizkeller hinein, reiße Harald um …
Die Eisentür schmettert zu …
Und obwohl Harst wie ein Blitz wieder auf den Beinen ist, obwohl er zu verhindern sucht, daß der Halunke uns einschließt, kommt er zu spät …
Ich habe mich aufgerappelt, habe die Brille auf die Stupsnase gestreift, stehe wie ein begossener Pudel da …
Zerknirscht, niedergedrückt, gedemütigt, starre ich vor mich hin …
Harald macht sich am Kessel zu schaffen, löst ein Gewicht vom Ventil, damit der überhitzte Dampf leichter entweichen kann.
Zischend, fauchend, fährt der Dampfstrahl gegen die Kellerdecke …
Wird aber noch übertönt von einer schrillen, haßerfüllten Stimme, die aus einer der viereckigen kleinen Ventilationsöffnungen hervordringt …
Eine Stimme, die ich sofort wiedererkenne: Emery Fangalan!
Emery Fangalan!!
„Sie sind also wirklich auf die Leimrute gekrochen, Mister Harst! Gratuliere zu dieser Minderbegabtheit …! Sie hätten sich doch gleich sagen müssen, daß James Barne das Urwaldrätsel absichtlich unter die Hutkrempe geschoben hatte! Daß Sie es lösen würden, bezweifelten wir keinen Augenblick. Wir wollten Sie eben von einer überflüssigen Reise nach Neuguinea bewahren, wo Sie genau so wenig entdeckt hätten wie die englischen Hilfsexpeditionen, die monatelang die Wildnis durchzogen haben und doch nichts ausrichteten – gar nichts!“
Hohnvoll, frech, geifernd, spuckte er uns diese Sätze durch die enge Maueröffnung zu …
Ich konnte mir sein Bulldoggengesicht so recht vorstellen, wie es dabei vor höllischem Triumph strahlte …
Und weiter: „Auch der Hausierer hat Sie glänzend hineingelegt! Daß es einer von Barnes Leuten sein könnte, auf den Gedanken sind Sie genialer Geist nicht gekommen! Und darauf, daß wir hier zu dreien unseren Einzug hielten, bevor die bisherigen Bewohner die Gralsburg verließen, erst recht nicht!! Genau so unbegabt zeigten Sie sich auf den Schrei und den Schuß hin – nichts als Lockmittel! – Nun wünsche ich Ihnen angenehme Stunden im Dampfbad, meine Herren! Lebend werden Sie die Gralsburg nicht mehr verlassen. Dafür ist gesorgt …!“
Dann Stille …
Harst hatte mit einer Seelenruhe, die mir unbegreiflich war, den Pelz abgelegt und sich auf eine leere Kiste gesetzt, schaute den fauchenden Heizkessel an, und schien von Emery Fangalans ekelhaftem Geschwafel gar keine Notiz genommen zu haben.
Ob Harald dieses trügerische Doppelspiel des Hausierers wirklich nicht durchschaut haben sollte?! Ob er diesmal wirklich versagt hatte?! Barne hatte ihn ja bereits mit dem Urwaldrätsel überlistet … – Wurde Harald alt, ließ seine geistige Spannkraft nach, hatte er seine genialen Fähigkeiten in diesem jahrelangen Kampf gegen die Verbrecherwelt abgestumpft – wie selbst ein Schwert aus bestem Stahl einmal stumpf wird?!
Scheu blickte ich ihn an …
Und er … beobachtete den Kessel …
Erhob sich plötzlich, nahm einen der Eisenhaken und öffnete die Tür der Feuerung … Diese war bis obenan mit Kohlen vollgepropft … Weißlich schillerte die Glut in den unteren Schichten, oben noch rötlich … Und aus dem Türloch prallte eine Glutwelle in den Kellerraum, die mich zum schleunigen Ausweichen zwang.
Harst warf die Tür wieder zu …
Wandte sich langsam um …
„Vielleicht ist es aus mit uns, mein Alter,“ sagte er mit ungewohnter Herzlichkeit … „Der Kessel ist überheizt … Die Glut dürfen wir aus der Feuerung nicht herausziehen … Wir würden ersticken … Freilich, ob … das Verbrühtwerden ein angenehmerer Tod ist, fragt sich …“
Das Ventil pfiff immer lauter …
Dampfwolken sammelten sich unter der Kellerdecke …
„Harald, wenn wir das Wasser aus dem Kessel ablaufen ließen,“ rief ich ebenso schrill, wie das Ventil unser nahes Ende signalisierte …
„Unmöglich!“ meinte er achselzuckend … „Da – die Hähne fehlen … Man hat die Handgriffe abgeschlagen …“
Mein Herz pumperte gegen die Rippen – bis zum Halse empor … Ich merkte, daß meine Pupillen vor übergroßer Erregung sich verengerten, daß jener Flockenfall vor den Augen eintrat, der stets dem schweren Neurastheniker das Gespenst der Erblindung vortäuscht …
Der Drache dort spie weiter Glut und zischenden Odem …
Harald hatte mit Bewegungen, als befände er sich halb im Traum, sein goldenes Zigarettenetui hervorgeholt und mechanisch eine Mirakulum angezündet. Seine Augen wanderten … Hafteten auf der Eisentür … Glitten weiter … Etwas Müdes, ein Zug von Fatalismus beherrschte den Ausdruck seines schmalen Gesichts, das von Schweißperlen glänzte.
Dieser Heizkeller besaß nur die eine Tür und oben unter der Decke die beiden Ventilationslöcher, die jetzt mit Ziegelsteinen verstopft waren. Die Granitquadern vielleicht mit den eisernen, langen Schürstangen zu bearbeiten, um einen Ausweg ins Freie zu schaffen, wäre lächerlicher Unsinn gewesen. Genau so verhielt es sich mit der starken eisernen Tür. Wir waren eben verloren.
Harst hatte drei lange Züge geraucht, warf nun plötzlich die Zigarette achtlos fort, bückte sich und packte eine der Schürstangen … Es war eine Stange, an der das gekrümmte Ende zum Losreißen der Schlacken abgebrochen war.
Seine Gestalt schien in demselben Augenblick zu wachsen, als er so zu einem bestimmten Entschluß gelangt war …
Mit dumpfem Krach bohrte sich das untere Ende in eine Fuge zwischen den von Kohlenstaub geschwärzten Ziegelsteinen des Bodenbelags ein …
Ich begriff ihn nicht.
Als ich nun aber durch die immer dichter sich zusammenballenden Dampfwolken seine sehnige Gestalt in eiliger Arbeit mit spielend leichten Bewegungen die Ziegel emporwerfen sah, da überkam auch mich das fieberhafte Verlangen, im zu helfen, selbst wenn all dies zwecklos sein sollte …
Ich nahm ein kleineres Schüreisen …
Wir arbeiteten ums Leben …
Harst rief mir zu: „Es muß sich hierunter noch ein Keller befinden … Hörst du:, es klingt hohl! Eine Zementdecke!“
Harsts Eisenstange fuhr in die Tiefe …
Ein wuchtiger Stoß meinerseits: ein Stück der Zementdecke polterte nach unten …
Das Ventil pfiff jetzt wie die Sirene einer Fabrik …
Noch drei, vier Stöße …
Das Loch war weit genug. Ich kletterte an der Eisenstange als erster in die Finsternis hinab … Kaum waren wir unten, als droben der Kessel explodierte …
Es schien, als ob die ganze Gralsburg in sich zusammenfallen sollte …
Zementbrocken, Kalkstücke, polterten herab …
Der ungeheure Knall hat mich halb betäubt. Eine Faust packte mich … Harst riß mich vorwärts, in der Linken die eingeschaltete Taschenlampe …
Ein langer, schmaler Keller hier … Dann eine morsche Holztür … Ein Fußtritt – sie schnellte auf …
Ein zweiter Kellerraum … ebenfalls leer …
Modergeruch, kleine schlammige Pfützen am Boden …
Wieder eine Holztür, halb offen … Dahinter ein quadratisches, ebenso niederes Gelaß mit ein paar armseligen Möbelstücken, einem eisernen Ofen, durch dessen Feuerungstür an den Rändern rötliche Glut schimmert.
Von einem eisernen Klappbett an der Wand uns gegenüber erhebt sich eine grauenvolle Gestalt …
Eine Frau in einem zerschlissenen Pelzmantel, verfilzten, schlohweißen Haaren, und einem abschreckend mageren Gesicht, dessen krankhaft blasse Farbe die großen, fast unheimlich leuchtenden Augen noch dämonischer macht …
Zusammengeduckt steht sie da …
Der zahnlose Mund klappt auf und zu, als ob die Ärmste nach Luft schnappe …
Luft?!
Wenn in den beiden anderen Kellern nur Modergeruch uns umweht hatte, – hier pestete uns Kloakengestank entgegen … Der Blechkübel dort in der Ecke, die ganze Ecke … – nicht näher zu beschreiben …
„Schraut, Kognak …!“
Es war noch ein Rest in der Flasche …
Sie trinkt, hustet, trinkt wieder …
Dann fragt Harst: „Wer find Sie?“
Die bleichen zitternden Lippen flüstern widerwillig:
„Ich … war … einst die Frau des Milliardärs Patrick Fangalan in Chikago … Ich … ich …“
Mit einem Ruck sitzt sie aufrecht …
„Mister – – und Sie?! Sie gehören nicht mit zu meines Neffen Verbündeten?“
Ein grelles Lachen …
„Meines Neffen, Mister, der mich hier seit Jahren eingesperrt hält!! Kennen Sie Emery Fangalan?“
„Als Feind, Mistreß … Nur so! – Ich bin der Detektiv Harald Harst, ein Deutscher …
Ein überirdisches Lächeln gleitet da über die verwüsteten faltigen Züge dieser armseligen Reste einer fraglos einmal eleganten, luxuriösen Weltdame …
Ein Lächeln der Erlösung …
„Harst … Mister Harst – – endlich!!“
Zehn Minuten später …
Frau Maria Fangalan hat uns ihr trauriges Schicksal erzählt, deutet nun auf Haralds Frage nach oben zur Decke, wo wir jetzt eine runde Öffnung bemerken, über der ein verrosteter eiserner Deckel liegt …
„Dort werden mir die Speisen in einem Korbe zweimal täglich an einem Strick herabgelassen …“
„Der Eisendeckel ist verschlossen?“
„Ja … Sonst hätte ich in meiner Verzweiflung ja längst einen Fluchtversuch gewagt, Mr. Harst …“
Frau Fangalan ist jetzt wie ausgewechselt. Sie weiß, daß all ihre namenlosen Leiden nunmehr zu Ende sind … Eine geradezu unfaßbare Energie leuchtet in ihren Augen … Auf den Wangen brennen ihr die roten Flecken der beseligenden Hoffnung, ihr einziges Kind demnächst wiederzusehen …
„Mr. Harst,“ fügt sie hinzu, „wäre es nicht angebracht, wenn Sie beide einmal dort drüben im dritten Keller nachsehen wollten, ob nicht etwa das von Ihnen hergestellte Loch in der Decke diesem Unmenschen von Fangalan verrät, daß Sie beide lebend entkommen sind …“
Harst nickt nur … „Komm, mein Alter … Mistreß Fangalan hat uns rechtzeitig gewarnt … Nur eins noch, Mistreß: sollte vielleicht in unserer Abwesenheit dort oben der Deckel gelüftet werden, so suchen Sie den Mann, der Ihnen den Korb hinabläßt, irgendwie noch aufzuhalten … Sie verstehen mich …“
Wir eilen den Weg zurück, den wir gekommen …
Schon der zweite Kellerraum ist halb mit Dampf angefüllt … Der dritte nur ein Dunstmeer … Auf dem Ziegelboden verglühen zischend Kohlenstücke, die durch das von uns gemeißelte Loch herabgefallen sind … Sie glühen durch den Dampfnebel wie die Augen sterbender Tiere, deren fauchende Todesseufzer durch den grauen Dunst schreckhaft klar an unser Ohr dringen …
Nein – keine Möglichkeit, daß vorläufig jemand den oberen Heizkeller betritt und Ausschau nach unseren zerfetzten Leibern hält …
Nein – wir haben von ihm zunächst nichts zu fürchten.
Kehren um …
Wir stehen vor der nur angelehnten Tür zu Frau Fangalans Kerker …
Ich schiebe den Kopf vor … Schaue hinein – – sehe Frau Maria auf dem Rücken gerade unter der Deckenöffnung liegen …
Und aus dem runden Loche oben hängt ein daumendicker Strick herab … Daran hängt ein braunes Körbchen, pendelt leicht hin und her …
Regungslos liegt das arme Weib, die Rechte in den Stoff des zerschlissenen Pelzmantels gekrallt, die Augen geschlossen …
Wie tot …
Der Korb schwebt an dem Strick langsam wieder empor …
„Trick!“ haucht Harald mir ins Ohr …
Der Korb verschwindet … Der Strick erscheint wieder, senkt sich … fällt mit dem unteren Ende der Toten auf das bleiche Gesicht, windet sich hin und her wie eine Schlange.
Frau Fangalan regt sich nicht …
„Schlaue Bande!“ flüstert Harst. „Sie sind argwöhnisch!“
Aber jeder Argwohn schwindet …
Durch das Loch kommen zwei Beine zum Vorschein … Braune Schnürschuhe, Wintersohlen, grüne Sportstrümpfe, Kniehosen, dunkel gefleckt, flockiger, englischer Stoff …
Es folgt der Oberkörper …
Der Mann klettert an dem Strick abwärts … Jetzt der Kopf …
Nein – nicht Emery Fangalan … Ein Unbekannter …
Ein breiter Schädel, ein Gesicht mit eingedrückter Nase … Wulstlippen … Negerblut muß der noch junge Bursche in den Adern haben …
Jetzt ist er unten … steht neben Frau Fangalan … beugt sich über sie … hält das Messer stoßbereit …
Sein Niggergesicht überfliegt ein Grinsen …
Das letzte, das aus seiner verkommenen Seele seine groben Züge verzerren soll …
Es geschieht etwas, womit wir nie gerechnet haben. Harst hat die Clement schon schußbereit …
Von oben her saust ein Stück Steinkohle, ein Stück von gut fünfzig Pfund Schwere dem Burschen gerade ins Genick.
Der schlägt wie vom Blitz gefällt zu Boden … Ein letztes Zucken geht durch seine Glieder …
Wir beide regen uns ebensowenig wie Frau Fangalan.
Wir starren durch die Türspalte … Starren auf das weiße Vöglein, auf den Riesenschmetterling, der jetzt wie in taumelnder Müdigkeit aus dem Loche herabflattert. Ein Zettel ist’s … Er flattert, schwebt, gleitet, legt sich Frau Fangalan in zarter Berührung mitten auf die Brust, auf den von Motten zerfressenen Pelzbesatz des verbrauchten Mantels.
„Jakob Maschel!“ sagt Harald ganz laut, und reißt die Tür auf … Eilt vorwärts, stößt den Körper des Toten mit dem Fuße an …
Dem Manne ist nicht mehr zu helfen … Genickbruch – vielleicht nicht beabsichtigt … Höhere Fügung …
Harst nimmt den Zettel …
„Mistreß Fangalan, bitte …!!“
Sie öffnet die Augen … Ich helfe ihr auf …
Harald wirft einen Blick zu dem runden Loche empor, liest dann vor:
Der Weg ist frei … Verlassen Se sofort diese Reiberhehle … Aberst sain Se vorsichtig … Die vier Ganneffs, wo sein angeblich abgereist, sein auch widder da. Das Schlößche steckt voller übler Jenossen. – Bei die Holderbusch mehr.
Jakob Maschel.
Harst übersetzt Frau Fangalan diese Sätze, schaut sie dann merkwürdig forschend an …
„Es kann eine neue Falle sein, Mr. Harst,“ meint die weißhaarige, vor Unsauberkeit stinkende und so bemitleidenswerte Milliardärsgattin …
„Nein – niemals!“ erklärt er nachdrücklich. „Nur dieser rätselhafte Hausierer hat den Mann dort mit dem Kohlenklotz gefällt … Ich habe nie an ihm gezweifelt, denn ich weiß, wer er ist …“
Wir beide klettern nacheinander an dem Strick empor. Zu unserem Erstaunen finden wir uns oben in einer der Kammern neben der Küche. Briketts sind hier an den Wänden sauber aufgereiht, und dort, wo in den Dielen das Loch klafft, wo nebenbei der eiserne Deckel liegt, hat ein sehr geschickt hergestellter Holzrahmen voller Preßkohlen zum Verbergen dieses Durchschlupfs gedient.
Frau Fangalan wird an dem Strick emporgehißt. Harst verschließt das Loch, schiebt den Preßkohlenkasten darüber. Dann befiehlt er uns hier zu warten. Er will zunächst allein auskundschaften, wie wir am sichersten unbemerkt die Gralsburg verlassen können. Er kehrt sehr bald zurück, winkt … schreitet voran zur Hintertür … Wir hören von fern, offenbar aus dem Saale, das Lärmen halbtrunkener Menschen, das Gedudel eines Grammophons, das Klirren von Gläsern und das Knallen von Sektkorken …
„Man feiert unseren Tod,“ sagt Harald ironisch …
Öffnet die Hintertür, die unverschlossen ist …
Kalte, klare Nachtluft umweht uns. Frau Fangalan zieht den löcherigen Pelz enger um die entkräfteten Glieder. Ich muß sie stützen. Sie taumelt … Die frische Luft bringt sie einer Ohnmacht nahe …
Über uns spannt sich der friedliche ausgestirnt Nachthimmel aus. Die Sterne flimmern aus unendlichem Weiten, der Mond wirft keuschen Dämmerschein über Schloß, Nebengebäude und Garten. Jenseits des Gitterzaunes der dunkle Kreis des deutschen Urwaldes wie hohe Mauern …
Am Hundezwinger kommen wir vorbei.
Die drei Doggen liegen im Stroh und schlafen … schlafen …
Dann links von uns die erleuchteten Fenster des Saales, der Lärm des Zechgelages … Hin und wieder gleitet ein schwankender Schatten über die geschlossenen Vorhänge …
Totenfest – – unseretwegen!
Und ich, die Ärmste stützend, die von diesen Bestien hier gefangengehalten wurde wie ein wildes Tier … Ein Bündel Menschenleid, saftlos, kraftlos, – Gattin eines der reichsten Männer Amerikas, Mutter eines jungen Weibes, das an den Tod des Geliebten nicht glauben will …
Thomas, Herzog von Daugberry …!
Weshalb verlassen wir das Schloß, – weshalb suchen wir nicht nach dem zweiten Opfer des satanischen Erbschleichers Emery Fangalan?! Glaubt Harst, daß der Herzog doch nicht hier verborgen gehalten wird?! Vorhin, als er Frau Maria Fangalan berichtete, weshalb wir in die Gralsburg eingedrungen seien, hat er diesen Punkt mit unklaren Redensarten abgetan, genau so wie den andern: daß Doris Daugberry zu uns flüchtete und um Hilfe bat! Frau Fangalan weiß bisher nicht, daß wir ihre Tochter kennen, vermutet ihr Kind in London …
Jetzt, als wir die Gitterpforte erreicht haben und Harald den Patentdietrich versucht, rafft die Ärmste sich auf …
„Mr. Harst, und mein Schwiegersohn?! Und der Herzog – jener Mann, der den ersten Anlaß zu dem Zerwürfnis zwischen mir und Patrick gab? Wollen Sie ihn dieser blutgierigen trunkenen Rotte überlassen?!“
„Ich überlasse ihn Jakob Maschel, Mistreß …“
Er drückt das Tor auf, verschließt es wieder hinter uns.
Frau Fangalan wagt nicht mehr zu mahnen, zu fragen … Vielleicht ist sie auch zu matt … Immer schwerer hängt sie in meinen Arm …
Der Wald nimmt uns auf … Das Dickicht umsäumt den Fahrweg … Windbrüche, vom Sturm gefällte Baumriesen, bilden neben dem Wege ungeheure Verhaue, beste Schlupfwinkel für das vielartige Wild, das hier im Schonrevier unbelästigt sich vermehrt.
Ein gespenstischer Troß von Schwarzkitteln, Wildschweinen, wechselt vor uns über den Weg …
Harst hat Frau Fangalan ohne weiteres in die Arme genommen, trägt sie …
Ich friere, daß mir die Zähne im Munde klappern. Ich bin schweißfeucht, fühle die nasse Unterwäsche wie eisige Kompressen am ganzen Leibe. Hinzu kommt die Nervenentspannung nach all den Aufregungen der letzten Stunden. Zum Glück ist unsere Kognakflasche noch nicht leer, und Harald schlägt ein Tempo an, daß ich kaum gleichen Schritt halten kann.
Dann das Gatter, das den Urwald von dem gepflegten Forst trennt. Ich ziehe den Pflock aus der Krampe. Knarrend schwingt das Gatter nach außen …
Weiter – gen Graal …
Frau Fangalan schläft an Haralds Brust …
Noch eine Biegung des verschneiten Weges, und vor uns liegt die einsame Villa der Frau Holderbusch.
Freundlich leuchten zwei der Hinterfenster durch die Nacht.
Merkwürdig, daß unsere Walküre noch wach ist. Die Uhr geht auf drei … Sehr merkwürdig …
Harst wendet sich der Hintertür zu …
„Läute …!“
Ich drücke auf den Knopf … Die Glocke schrillt …
Da sind rechts die beiden hellen Fenster …
Ich sehe, daß das Licht in jenem Zimmer plötzlich erlischt. Dann hastige Schritte im Flur, eine Stimme:
„Sie, meine Herren?“
„Ja – wir!!“
Die Tür geht auf …
Vor uns die Holderbusch mit einer Küchenlampe … Der Lichtschein trifft die schlafende Märtyrerin …
„Mein Gott, wen bringen Sie denn …“
Harst drängt sie schon beiseite …
„Ein Bad fertig machen, Frau Holderbusch … Wärmflaschen ins Bett … Glühwein … Wir helfen …“
Ich weiß nicht, – mir kommt es so vor, als ob die Holderbusch auf diese Überraschung vorbereitet gewesen.
„Ich … ich wollte selbst baden …,“ meint sie. „Das trifft sich gut … Wer ist die Frau, Herr Harst?“
„Eine … Tote, eine Totgeglaubte …“
Er trägt Frau Fangalan in unser warmes Erkerzimmer bettet sie auf den Diwan …
Ich habe die Petroleumlampe auf dem Sofatisch angezündet. Am Lampensockel lehnt ein Zettel. Die Holderbusch ist ins Badezimmer geeilt.
„Harald … – ein neuer Zettel des Hausierers!“
„Schon gut – nebensächlich …!“
Er breitet die Schlafdecke über Frau Fangalan.
„Gestatte – durchaus nicht nebensächlich … Maschel schreibt hier, daß er in ein paar der Weinflaschen der verbrecherischen Zecher in der Gralsburg einen Schlaftrunk getan hat, und daß die ganze Bande …“
„… Damit hatte ich gerechnet, mein Alter … Jetzt werde ich eine Depesche aufsetzen. Die trägst du sofort zur hiesigen Postagentur …“
Er nimmt am Sofatische Platz … Sein Füllfederhalter gleitet über eine Seite seines Notizbuchs … Dann gibt er mir den Telegrammentwurf.
Polizei Rostock.
Bitte schleunigst zwölf Beamte mit Kraftwagen nach Graal, Pension Waldesluft. – Harald Harst.
Ich laufe zur nahen Post … Der Schnee knirscht unter meinen Sohlen. Mir ist nicht mehr kalt. Ich hetze mich ab, will rasch zurück sein, will nichts versäumen – nicht den Augenblick, wo Harald Frau Holderbuschs seltsames Verhalten, das so stark auf teilweise Kenntnis dessen, was sie eigentlich nicht wissen kann, schließen läßt.
Als ich die Villa wieder betrete, kommt die Walküre gerade aus dem Badezimmer, raunt mir zu …:
„Sie sitzt in der Wanne … Ich habe ihr Kleider von mir zurechtgelegt. Der Glühwein hat Wunder gewirkt …“
Am Ende des Flurs öffnet sich die Tür unseres Erkerzimmers. Harald winkt uns herein, drückt die Tür ins Schloß … Sagt zur Holderbusch:
„Sie sind eine brave Seele. Sie haben vormittags Jakob Maschel aufgenommen. Deshalb fanden wir ihn nicht mehr. Sie selbst haben den ersten Zettel Maschels auf unseren Tisch gelegt, als sie den Kaffee brachten … Auch jetzt ist der Hausierer hier im Hause, aber nicht allein. Er hat den Herzog in der Gralsburg gefunden und befreit und hierher geführt … Es hat keinen Zweck mehr, irgendwie voreinander Versteck zu spielen, liebe Frau Holderbusch …“
Sie lächelt gezwungen …
„Herr Harst, Sie …“
„Bitte – ich werde doch wohl Verkleidungsstücke wiedererkennen, die aus meinen eigenen Schränken stammen. Ich habe sie freilich zu spät erkannt. Schon die frische Kinderspur im Schnee, die im Bogen auf Ihr Haus zulief, hätte mir sagen müssen, daß die liebliche Herzogin Doris, dieses zarte, vergrämte Geschöpf, meine Mutter ganz für sich gewonnen hatte, daß meine Mutter ihr die Maske als Maschel zurechtgemacht hat, damit die Herzogin uns folgen könnte. Der Hausiererkasten hat mir schon öfters gute Dienste geleistet, und das Schlafmittel für die Hunde und die Verbrecher lag unten im Doppelboden des Kastens …“
Armer, blinder Max Schraut!!
Ich stand dabei – ein reiner Tor!! Hätte der Blitz vor mir in den Boden eingeschlagen, ich hätte kein anderes Gesicht machen können!“
„Nur eins, liebe Frau Holderbusch, ahnt dies tapfere kleine Frauchen nicht, die sich in die Höhle des Löwen gewagt und sich so schlau für einen Abgesandten James Barnes ausgegeben hat: daß … ihre Mutter noch lebt, daß die Ärmste, die jetzt die Wohltat eines Bades genießt, Frau Maria Fangalan ist!“
Die Walküre zittert plötzlich … „Barmherziger Himmel – ist das wahr?! – Die Herzogin nahm an, die Frau sei eine ihr Wildfremde und …“
„Holen Sie jetzt Doris Daugberry … Oder nein … Wir werden das Ehepaar aufsuchen … Die beiden sind doch noch nicht zu Bett gegangen?“
„Nein. Der Herr Herzog hat sich vorhin mit dem Rasierzeug meines verstorbenen Mannes rasiert, und jetzt stutzt die Herzogin ihm das Haar … Auch ein Bad hat der …“
„Führen Sie uns hin, – dann sorgen Sie weiter für Frau Fangalan …“ –
Ich komme so ganz allmählich wieder zu mir … Das in dieser Nacht Erlebte erscheint mir wie eine Ausgeburt überhitzter Traumphantasie. Und doch: alles ist logisch, klar, – unheimlich klar diese scheußlichen Taten einer erkauften Bande von Bösewichtern!
Wohnzimmer der Holderbusch … Die Holderbusch hat angeklopft … Wir beide sind eingetreten. Auf dem ehrwürdigen Plüschsofa ein Paar, das sich innig umschlungen hält, jetzt emporfährt … Doris, in einem schlichten Kleide, das aschblonde Haar sehr verwirrt, der schlanke Herzog mit dem bleichen Leidensgesicht, aber strahlenden Augen. –
Für Schreiber von Familienromanen böte diese Szene Gelegenheit, den Lesern ein paar Tränlein zu entlocken. – Ich arbeite mit solchen Mitteln nicht, überlasse es der Phantasie jedes einzelnen, sich in bewegten Bildern auszumalen, wie das glückselige Paar uns dankte und wie die Herzogin sich entschuldigte, daß sie uns unwissentlich der furchtbaren Gefahr in dem Heizkeller ausgesetzt habe …
Dann die noch bewegtere Szene, als Harst die letzte Wahrheit enthüllt: die weißhaarige Frau, die zweite Gefangene Emerys, sei Doris’ Mutter!!
Erst wird Doris Daugberry bleich wie der Tod … Dann stürmt sie hinaus …
Wir hören im Flur ihren schluchzenden Schrei …
„Mutter … Mutter …!!“
Frau Holderbusch hat die Erlöste gerade aus der Badestube in ihr Schlafzimmer führen wollen.
Der Herzog beschattet die Augen mit der Hand … Seine Stimme bebt … „Meine Herren, ich … ich hatte längst jede Hoffnung aufgegeben, jemals wieder das Licht des freien Himmels zu sehen. Im Stallgebäude der Gralsburg, im Kartoffelkeller hatten die Unholde mich eingesperrt … Und dann in dieser Nacht – – das nie mehr Erhoffte: die Falltür hob sich … Ein Mann klettert zu mir herab, sinkt mir an die Brust … Kein Mann – – mein Weib …!“
Er weint … – –
Ein wunderbarer Wintermorgen bricht an … Die Sonne wirft ihre ersten Strahlen über die Wipfel der säuselnden Kiefern des Urwaldes rings um die Gralsburg …
Zwei Herren betreten das Schloß durch die Hintertür.
Totenstille in allen Räumen … Dort rechts die hohe eichene Flügeltür, die in den Saal führt. Harald öffnet … Die elektrischen Kronleuchter brennen noch … Um die lange Tafel herum liegen auf den Teppichen acht wehrlose Schläfer … Weindunst, kalter Zigarrengestank erfüllt die stickige, eisige Luft. Die Heizung ist zerstört. Der Winter hat seine Kältewellen bis hier hinein fluten lassen …
Dort Emery Fangalan, halb auf der Seite liegend – in einer Lache erbrochenen Weines, schnarchend, pustend, – das groblinige Gesicht blaurot …
„Tragen wir ihn in die Bibliothek,“ meint Harald …
Dort in einem der Sessel rütteln wir ihn wach. Wir haben in einer Flasche starken schwarzen Kaffee mitgebracht, der noch lauwarm ist. Emery Fangalan schüttelt langsam die schwere Betäubung von sich ab, trinkt willenlos, ist noch immer zu benommen, um mit seinen matten Augen uns beide, die wir keine Masken mehr tragen, zu erkennen. Aber der Kaffee tut seine Schuldigkeit. Des abgebrühten Schurken bleischwere Lider heben sich mehr und mehr. In den verschleierten Blick tritt Leben, Bewußtsein dessen, was mit ihm und um ihn her vorgeht. Mit einem Ruck richtet er sich auf, packt die Sessellehne, krallt die vom Wein klebrigen Finger in das Leder … Aschfahl wird er. Stiert Harald an, bewegt die zitternden schmalen grausamen Lippen.
Unsere Zeit ist da. Harst sagt ganz laut: „Kein angenehmes Erwachen für Sie, Mr. Fangalan … Eigentlich sind Sie es nicht wert, daß ich überhaupt noch das Wort an Sie richte. Immerhin, ich pflege mit meinen Gegnern nämlich abzurechnen, bevor ich sie der Polizei übergebe. Draußen stehen zwölf Beamte und ein Rostocker Kriminalkommissar. Und in diesem Augenblick dürfte auch James Barne samt den drei noch in Berlin befindlichen Schurken bereits verhaftet sein. Sie haben sich von dem Hausierer täuschen lassen, der das sogenannte „Urwaldrätsel“ kannte und durch das Erkennungswort „Gral“ Sie überlistete. Die Herzogin Doris war dieser Hausierer, und sie war’s auch, die ihren Gatten aus dem Kartoffelkeller befreite und uns aus Frau Maria Fangalans Kerker heraushalf …“
Emery knickte zusammen … Ein blödes Lallen kam über seine Lippen … Kraftlos, ein Jammerbild, hockte er in dem Sessel …
Harst fuhr ebenso eisig fort: „Beginnen wir mit Frau Maria Fangalans angeblichem Tode. Die Ärmste hatte Ihre moralische Verworfenheit längst durchschaut. Aber Patrick Fangalan ließ sich nicht überzeugen, daß Sie Doris nur der Milliarden wegen zum Weibe begehrten. Der Herzog heiratete Doris, und Frau Fangalan durfte mit ihrem einzigen Kinde nicht einmal mehr Briefe wechseln. – Ein Jahr nach der Hochzeit unternahm der Milliardär mit seiner Frau und Ihnen eine Tour ins Felsengebirge. Patrick Fangalan steuerte das Auto, fuhr auf dem schmalen Serpentinenweg am Mount Richard mit unzulässiger Geschwindigkeit, schleuderte so ein ihm entgegenkommendes anderes Auto samt den beiden Insassen in den Kanon des Richardflusses hinab, wurde dabei selbst verwundet, verlor das Bewußtsein und erwachte in einer Felsenhöhle neben Ihnen, der ihm dann vorlog, auch Frau Maria sei durch den Zusammenstoß in die grausige Tiefe und in die schäumenden Wasser gestürzt. Patrick glaubte Ihnen. Der angebliche Unfall wurde gemeldet, aber der Absturz des anderen Autos verschwiegen, das der Fluß verschluckt hatte. Seitdem hatten Sie Ihren Onkel völlig in Ihrer Hand. Frau Maria ließen Sie zunächst von drei Strolchen in einer einsamen Jägerhütte bewachen. Nachher, als Sie durch Barnes Mörderkolonne auch die Goldexpedition bis auf Thomas Daugberry hatten abschlachten und den Herzog nach der Gralsburg hatten bringen lassen, diente Ihnen dieselbe kleine Jacht dazu, auch Frau Maria aus Amerika zu entfernen … – Weshalb Fangalan?! Wo Sie so viele Menschen aus dem Hinterhalt durch Barne niedergeknallt hatten, konnte es Ihnen doch kaum auf zwei Leben mehr oder weniger ankommen!“
Emery hatte plötzlich die Linke flach auf die keuchende Brust gedrückt. In seinen Augen flackerte das schreckhafte Flimmern höllischer Schmerzen …
„Was … was … ist mit mir?!“ stieß er kaum verständlich hervor … Ich … ich …“
Ein schwerer Hustenanfall schüttelte ihn hin und her … Auf seinen Lippen erschien blutiger Schaum. Sein Gesicht ward blaurot, wechselte wieder jäh die Farbe, wurde gelbweiß. Nur an den Backenknochen brannten rote Flecke …
„Was … ist mit mir …?“ – und er krümmte sich vor Schmerzen zusammen, hustete abermals …
„Sie haben stundenlang in dem eiskalten, vorher aber überheizten Saale gelegen,“ sagte Harald ohne Erbarmen. „Sie werden die nahende Lungenentzündung wohl kaum überstehen. Und vielleicht ist dieser Tod noch milder als die Angst vor … der Hinrichtung, Emery Fangalan! – Weshalb schonten Sie Frau Maria und den Herzog? – Geben Sie der Wahrheit die Ehre, Mann! Es ist aus mit Ihnen, so oder so …!“
Fangalan flüsterte, mühsam einen neuen qualvollen Hustenanfall unterdrückend:
„Barne, der … der verfluchte Feigling, wagte sich an die beiden nicht heran … Barne wollte die beiden als dauerndes Schreckgespenst gegen mich benutzen – – zu Erpressungen, wenn ich erst … Milliardär geworden …“
Sein wahnwitziger Haß gegen Barne ließ ihn jetzt hochschnellen … Zum Himmel reckte er die Arme empor, die geballten Fäuste …
„Mister Harst, Barne war mein Studienfreund … Barne hat mich verführt … Von ihm stammt der Plan, auch den Herzog …“
Da verzerrte sich sein Gesicht noch mehr …
Die Augen quollen ihm aus den Höhlen …
Ein pfeifender Husten …
Ein schwarzer Blutstrom aus dem weit aufgerissenen Munde …
Er taumelte in den Sessel …
Fünf Minuten drauf war er tot … – –
James Barne und die übrigen Mitschuldigen wurden zur Bestrafung nach England ausgeliefert. In London wurden acht Wochen später neun dieser Verbrecher an einem Tage durch den Strang hingerichtet. –
Das Ehepaar Daugberry lebt jetzt in Chikago im Palast Patrick Fangalans, der seine ihm auf so wunderbare Weise wiedergeschenkte Gattin mit aller Liebe umgibt, die ein Geldmensch aus dem Dollarlande nur aufbringen kann.
Frau Holderbusch aber hat es nicht mehr nötig, sich mit Pensionsgästen herumzuärgern. Der Scheck, den Patrick ihr sandte, war zwar nicht ganz so wertvoll wie der, den wir erhielten. Immerhin – sie ist reich geworden, die brave Walküre. – –
Während ich, Max Schraut, mir jetzt mit dem Federhalter in der Hand überlege, was ich für den Leser noch nachzuholen hätte, um ihm auch nicht die geringste Einzelheit des Urwaldrätsels vorzuenthalten, ruht mein Blick auf dem fettigen Zettel, der links neben mir auf der Schreibtischplatte liegt. Es ist der Zettel, der unter der Hutkrempe versteckt war, das Rätsel, das Lockmittel, mit dem Barne uns nach Graal führen wollte … – Barne war ein großer Verbrecher. Dieses Lockmittel hatte er so fein ausgetüftelt, daß selbst Harald zunächst nicht völlig darüber im klaren war, ob der Zettel von uns gefunden werden sollte. Daß Harald das Rätsel lösen und „den Heiligen Gral“ erraten würde, damit hatte Barne von vornherein gerechnet. –
Die Gralsburg (und hiermit will ich schließen) hat Patrick Fangalan als Erbe seines Neffen dem ehemaligen Großherzog zurückgeschenkt. Sie ist heute ihrer früheren Bestimmung wiedergegeben, ist wieder Jägerschlößchen und träumt inmitten der alten, unberührten Wälder einsam von jenen Zeiten, wo in ihren friedlichen Räumen vertierte Menschen zwei Unglückliche gefangen hielten … – Über die Goldader auf Neuguinea noch etwas das nächste Mal …
Nächster Band:
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin SO 36, Elisabeth-Ufer 44
Anmerkungen: