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Traudes Hochzeitsabend

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 181

 

Traudes Hochzeitsabend

 

Erzählt von

Max Schraut

(Walther Kabel)

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 36, Elisabethufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1926 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Die Glücksnuß.

Damals in dem verregneten Juli befand sich mein Freund Harald Harst zumeist in miserabelster Laune.

Wir hatten als Detektive absolut nichts zu tun. Die allgemeine Geschäftsflaute und Geldknappheit wirkte auch auf unser „Handwerk“ zurück. Wenn wir nicht unseren Garten gehabt hätten, der mit zu dem alten Harstschen Familiengrundstück in Schmargendorf-Berlin, Blücherstraße, gehört, wären wir vor langer Weile umgekommen, denn zum Verreisen hatten wir keine Lust, zumal Haralds Mutter etwas kränkelte. –

Während ich diese einleitenden Sätze zu Traudes Hochzeitsabend niederschreibe, liegen meine Notizen und noch etwas neben mir – etwas sehr Merkwürdiges und doch auch sehr Alltägliches: Eine Kokosnuß, – das heißt zwei Kokosnußschalen, in der Mitte durchgesägt.

Diese Nuß war einst unversehrt, trug auch noch ihre dicke Basthülle …

Und diese Nuß fand ich am Vormittag des 15. Juli mit einem Bindfaden an einen Ast unseres schönsten Birnbaums angebunden.

Ganz zufällig entdeckte ich sie …

Starrte empor zu der bräunlichen Kugel und rief dann Harald herbei, der fünf Schritt weiter Radieschen säte …

„Harald, komm doch mal her … Hier im Birnbaum hängt eine Kokosnuß …“

Er schaute auf …

„Du bist verrückt,“ entfuhr es ihm … „Wenn du nicht bessere Witze machen kannst, so …“

Und schwieg …

Er hatte nun die braune Kugel ebenfalls gesehen …

Sprang elastisch auf …

„Entschuldige, mein Alter … Ich bin verrückt, nicht du, – verrückt vor schlechter Laune …! – Entschuldige – und bleibe stehen … Wir müssen mal die Umgebung des Birnbaumes genau mustern. Gestern abend hing die Nuß bestimmt noch nicht dort oben, denn als ich die vom Winde herabgewehten halbreifen Birnen nach dem Abendbrot aufsammelte, hätte ich das Ding bemerken müssen. Also hat man sie nachts dort festgebunden … – Aha, hier sind Fußtapfen in dem Mohrrübenbeet … Hm – seltsam … Was hältst du von den Spuren?“

„Ein Weib …,“ erklärte ich. „Zierliche Schuhe mit hohen Absätzen … Ein Füßchen, kein Fuß …“

„Ja – und ein zierliches, geschmeidiges Persönchen dazu. Die Spuren sind flach. Die Donna kann kaum 110 Pfund wiegen. – Sehen wir, wie sie den stark gekalkten Birnbaum erklettert hat …“

Nach einigen Minuten meinte er:

„Die Frau oder das Mädchen muß Akrobatin von Beruf sein … Bitte, hier hat sie sich in die Höhe geschnellt, hat den untersten Ast ergriffen und sich mit Klimmzug empor geschwungen … Das bringt nur ein trainierter Körper fertig … – Nun hole mal eine Leiter, mein Alter. Wir wollen uns die Sache bequemer machen.“

Dann hatte er die Kokosnuß in den Händen und trug sie in sein Arbeitszimmer, wo er in meiner Gegenwart die matt glänzende Haut der Basthülle sogar mit einem Vergrößerungsglase musterte.

Ich stand dicht neben ihm. …

„Begreifst du das?“ fragte er … „Die Hülle ist absolut unverletzt … Nirgends etwas Auffälliges – nirgends … Sehr merkwürdig! Ich glaubte, in der Basthülle könnte in einer Spalte ein Zettel stecken … Nichts davon!“

Er schüttelte den Kopf …

Er war jetzt wie ausgewechselt … Seine üble Laune verflogen. Er witterte ein Problem, und das genügte ihm, die alte geistige und körperliche Spannkraft wiederzugewinnen.

„Hm … komisch!“ murmelte er wieder. „Zwecklos wird die Frau die Nuß nicht in dem Birnbaum festgeknüpft haben! – Was bedeutet dies also?“

„Wollen vorsichtig sein,“ riet ich. „Man kann nicht wissen, ob nicht vielleicht …“

„… Sprengmasse darin ist?! Attentat?! – Ausgeschlossen! Diese Hülle ist unverletzt, nicht etwa wieder kunstvoll zusammengefügt und festgeklebt … Nur etwas ist möglich: daß auf der braunen mattblanken Außenhaut etwas mit Geheimtinte geschrieben ist. Versuchen wir, ob dies stimmt …“

Es gibt zahlreiche Verfahren, unsichtbar gewordene Schrift wieder sichtbar zu machen.

Harst erwärmte die Nuß vor unserer elektrischen Sonne – ohne Erfolg.

Dann begann er die Behandlung mit Säuren – mit vorsichtigem Überpinseln.

Siehe da: schon Alaunlösung brachte Schriftzüge in Hellblau zum Vorschein!

Wir entzifferten folgendes:

„Herr Harst, Sie werden im Kern dieser Nuß das Honorar für Ihre von mir erbetenen Bemühungen finden. – Es handelt sich um folgendes: Am 15. April dieses Jahres verschwand aus dem Wanderzirkus Torelli, der damals in dem kleinen märkischen Orte Grünheide gastierte, der Jongleur und Kunstreiter Gerhard Berner, genannt Signor Mailoka. Die Nachforschungen der Polizei blieben erfolglos. Man fand lediglich am Ostufer des Werlsees, an dem Grünheide liegt, seinen Alltagsanzug und seine Leibwäsche. Trotzdem ist es ausgeschlossen, daß er etwa ein Freibad genommen hat und dabei ertrunken ist. Seine Leiche hätte doch gefunden werden müssen. – Ich habe ein Interesse daran, diese Angelegenheit aufzuklären. Da mir die Mittel fehlen, ein anderes Honorar zu bieten, habe ich Ihnen diese Nuß zukommen lassen, die eine besondere Rarität darstellt. Schneiden Sie den harten Kern mit einer Säge auf, und Sie werden in der Kokosmilch das entdecken, was Sie reichlich bezahlt. Geben Sie mir bitte, sobald Sie etwas festgestellt haben, postlagernd unter E. S. 1000 nach dem Postamt W72 (im Kammergericht am Kleistpark, Berlin) sofort Nachricht. Ich flehe Sie an, mit Ihren Nachforschungen sofort zu beginnen, denn Leben und Tod eines Menschen hängt von dem Erfolg Ihrer Bemühungen ab. Meinen Namen kann ich nicht nennen. Bitte suchen Sie auch nicht zu ergründen, wer ich bin. Ich möchte Sie auch noch warnen, denn ich fürchte, Gerhard Berner ist heimtückisch beseitigt worden von einem Menschen, der über Leichen geht, um sein schamloses Ziel zu erreichen. Vielleicht rechnet dieser Mann damit, daß Sie und Ihr Freund sich mit dem Verschwinden des Jongleurs einmal befassen könnten. Merkt er, daß Sie hinter ihm her sind, wird er auch Mittel und Wege finden, Sie beide stumm zu machen. Fahren Sie auf keinen Fall als Harst und Schraut nach Grünheide und … beachten Sie den Turm in der Waldstraße.“

„Hm – allerhand!!“ meinte Harald, als er nun die Aufschrift auf dem Stück Papier übertrug. „Bitte mein Alter, hole Handwerkszeug … Wir werden die Nuß öffnen und – einen Edelstein finden.“

„Edelstein?!“ Ich glaubte mich verhört zu haben …

„Gewiß – Edelstein! Du bist doch oft genug auf Ceylon gewesen, und doch scheint dir der Aberglaube der dortigen Singhalesen, daß eine Kokosnuß mit Edelstein Glück bringe und Krankheiten fernhalte, unbekannt zu sein.“

„Ich bitte dich – jetzt machst du Witze!! Wie kann ein Edelstein in eine fest geschlossene Kokosnuß hineingelangen?! Unmöglich!“

„Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort, Max Schraut, – zuweilen auch das Alter! – Die Singhalesen bohren in unreife Früchte ein kleines Loch, schieben den Edelstein hinein, verschmieren das Loch mit Harz, die Frucht wächst weiter, das Loch schließt sich und – – die Rarität ist fertig!“

Ich sagte gar nichts mehr, holte ein Beil und eine Säge und … fünf Minuten drauf lag in meiner Handfläche ein Diamant von der Größe einer kleinen Haselnuß, von tadellosem Schliff und wunderbarer Reinheit, Wert mindestens 20 000 Mark!

„Unglaublich!“ meinte ich nur …

Harald nickte … „Zum ersten Male sehe ich nun einen dieser Nußdiamanten … Wer weiß, wie die Unbekannte, die für den Jongleur Interesse hat, zu dieser Rarität gekommen ist. Vielleicht hat sie sie … gestohlen, um uns zu bezahlen – – nicht ausgeschlossen, denn sie betont ja, daß sie arm sei.“

Dann schloß er den Edelstein und die Teile der Nuß in den Tresor ein, während ich mit einem Besen die auf den Teppich gefallenen Fasern des Bastes zusammenfegte.

Kaum hatte ich die Fasern weggeschafft, als es an der Vordertür läutete.

Harst spähte durch die Gardinen …

Draußen stand ein kleiner, schwarzbärtiger Kerl, der eine Art Jägerkostüm trug …

Harald flüsterte:

„Wenn das kein Zirkusonkel ist, bin ich nicht Harst! – Ich werde verwinden, mein Alter … Empfange du den Menschen allein …“

Und schon betrat er sein Schlafzimmer und zog die Tür zu … –

So begann eins der seltsamsten Probleme, die wir je gelöst haben.

 

2. Kapitel.

Der Bestohlene.

„Ignaz Torelli, Zirkusdirektor,“ stellte sich der Schwarzbärtige mit einem altmodischen Manegenkratzfuß mir vor.

„Max Schraut,“ nannte ich meinen Namen und fügte sofort hinzu, da Herr Torelli sich suchend im Herrenzimmer umschaute und offenbar Harsts Abwesenheit peinlich empfand …! „Mein Freund Harst ist leider stark erkältet und hat sich zu Bett legen müssen.“

Der Zirkusdirektor, dem vor der Weste eine dicke, goldene Uhrkette und daran ein Klumpen Eberzähne baumelte, die zu dem Jagdkostüm paßten und trotzdem unglaublich geschmacklos wirkten, kniff die Augen halb zu und schaute mich geradezu hinterlistig an …

„Vorhin war Herr Harst doch noch im Garten,“ platzte er dummerweise heraus und gab sich dadurch eine Blöße, die er selbst durch die sogleich folgende Bemerkung nicht wettmachen konnte, daß er sich auf der Suche nach unserem Hause verirrt habe und in das Laubengelände hinter unserem Gemüsegarten gelangt sei …

Ich tat, als ob ich alldem keinerlei Bedeutung beimäße und fragte nach seinen Wünschen …

Er saß mir im Klubsessel gegenüber, und die Tageshelle zeigte mir alle Einzelheiten seines bärtigen, schwammigen Gesichts, – die Hautfarbe unter den verdächtig wässerigen Augen, und die dicken, über der Nasenwurzel fest zusammengewachsenen Brauen.

Torellis Sprache hatte den harten Beiklang eines Ausländers. Er war meiner Schätzung nach Ungar, was sich nachher auch bestätigte.

„Hm – mich führt etwas recht Eigenartiges zu Ihnen,“ begann er nach einigem Zögern. „Wie ich schon erwähnte, bin ich Zirkusdirektor … Meine Truppe tritt zur Zeit in der Obststadt Werder auf. Wenn mein zirzensisches[1] Unternehmen auch klein ist, so verfüge ich doch über gutes Pferdematerial und …“

„Ist Ihnen ein Pferd gestohlen worden?“ suchte ich seinen Bericht abzukürzen, denn ich ahnte bereits, daß er wegen der Kokosnuß käme …

„Nein, Herr Schraut, kein Pferd … Etwas Wertvolleres … eine Seltenheit … – Ich war noch vor drei Jahren, bevor ich den Zirkus kaufte, Aufseher auf einer Teeplantage auf Ceylon …“

„Ah – da sind Sie ja ein weitgereister Mann …“

„Allerdings … Ich kenne so ziemlich die ganze Welt … Ich habe viel erlebt … Mir macht man so leicht nichts vor.“

Das letzte klang beinahe wie eine Drohung.

Sollte Torelli etwa beobachtet haben, wie wir die Kokosnuß vom Birnbaum herunterholten?!

„Nein – mir macht man nichts vor!“ wiederholte er noch drohender. „Irgendein Schuft hat mir einen kostbaren Edelstein gestohlen, den ich von Ceylon mitgebracht hatte … – Ich weiß nicht, Herr Schraut, ob Sie eine Bara Koko kennen?“

„Bara Koko?! – Bedauere. Was ist das?“

Und nun erzählte er mir genau dasselbe, was ich bereits von Harald über die Glücksnüsse gehört hatte …

„Seit gestern abend vermisse ich meine Nuß,“ fügte er dann hinzu und schlug mit der mächtigen Faust auf das Seitenpolster des Sessels … „In meinem Wohnwagen lag sie – in einem festen Wandschrank … Gestern kurz vor Beginn der Abendvorstellung fand ich den Schrank erbrochen … Die Bara Koko war verschwunden. Fünftausend Mark, Herr Schraut, wenn Sie mir die Nuß zurückverschaffen.“

Meine Annahme, er könnte wissen, daß wir die Nuß jetzt besäßen, schien doch irrig zu sein … Das merkte ich seinem Verhalten an …

Ich tat, als überlegte ich …

Er beobachtete mich gespannt … „Sie lehnen den Auftrag doch nicht ab, Herr Schraut?“ fragte er ängstlich …

„Nein … – Haben Sie die Polizei schon verständigt?“

„Ah bah – – lächerlich – – – Polizei!! Was die schon ausrichten!! – Nein, werde mich hüten, unfähige Köpfe zu bemühen …!“

„Sehr schmeichelhaft, Herr Torelli … Dann halten Sie Harst und mich also für fähige Köpfe. Aber auch wir können versagen … – Haben Sie gegen jemand Verdacht?“

„Nein – leider nein! Von der Existenz der Nuß wissen nur meine Familienmitglieder etwas, – meine Frau, meine Tochter Gertrud und mein Sohn Janos … Und diese drei kommen nicht in Betracht …“

„Kann nicht jemand zufällig von dem Vorhandensein der Bara Koko erfahren haben? Oder … könnten nicht Ihre Frau oder eins Ihrer Kinder mal eine Bemerkung darüber gemacht haben, die ein Unberufener mit anhörte?“

„Unmöglich, Herr Schraut, ganz unmöglich …“ Aber diese Worte klangen doch etwas unsicher und zaudernd …

„Haben Sie vielleicht,“ warf ich mein Netz jetzt aus, „… vielleicht in letzter Zeit jemand von Ihrer Gruppe entlassen? Hat Ihr Personal gewechselt? Ist jemand von Ihren Leuten auf und davon gegangen?“

Meine Sätze waren genau überlegt. Ich wollte feststellen, ob er Gerhard Berner erwähnen würde. Für mich war es bereits sicher, daß die Kokosnuß von Gertrud Torelli entwendet worden war, und daß das junge Mädchen zu dem Jongleur zarte Beziehungen unterhalten hatte.

Meine Fragen schienen dem Herrn Direktor denn auch recht wenig zu passen …

Er strich sich den Bart, klimperte mit den Schweinszähnen an seiner Uhrkette und rutschte auf dem Sessel hin und her, als ob er plötzlich auf Stecknadeln säße …

Schließlich bequemte er sich doch zu einer Antwort …

„Es … es ist da im April ein Jongleur meiner Truppe verschwunden, Herr Schraut, ein gewisser Gerhard Berner … ein übler Bursche, der meiner Tochter dauernd nachstellte …“

„So … so … – Kann nicht dieser Berner der Dieb sein?“

„Nein – er ist doch verschwunden …!“

„Kann aber wieder auftauchen, Herr Torelli … Oder glauben Sie, daß er tot ist?“

Er senkte den Kopf … Das nervöse Spiel seiner Hände wurde noch lebhafter … Seine Augen blieben halb geschlossen …

„Er … er wird sich wohl ertränkt haben,“ murmelte er undeutlich und mit sichtlichem Widerstreben …

„Woraus schließen Sie hierauf?“ bohrte ich unbarmherzig weiter …

„Na – seine Kleider lagen doch am Ufer des Werlsees. Und nackt kann doch kein Mensch flüchten …“

„Allerdings nicht … Berner scheidet also aus. – Und – Sie verzeihen die Frage – einer Ihrer Angehörigen kann der Dieb nicht sein?“

„Nein! Mein Sohn Janos ist erst siebzehn, und meine Tochter und meine Frau – – weshalb sollten die mich bestehlen?! – Ein Junge könnte ja vielleicht leichtsinnig sein und bummeln wollen, und daher …“

„Schon gut … – Haben Sie den Schrank und dessen Umgebung ganz so belassen, wie Sie ihn gestern abend erbrochen vorfanden?“

„Gewiß … Ich habe den betreffenden Raum des Wohnwagens abgeschlossen …“

„Dann bin ich bereit, Sie nach Werder zu begleiten und mir den Tatort anzusehen, Herr Torelli. Vielleicht kann mein Freund Harst uns nachmittags folgen, wenn er seine Schwitzkur beendet hat …“

Seltsam: Torelli wurde wiederum verlegen …

Druckste – druckste – – erklärte:

„Ich habe hier in Berlin noch mancherlei zu besorgen, Herr Schraut … Bitte fahren Sie allein hinaus … Hier ist der Schlüssel zu dem Raum des Wohnwagens … Für meine Frau gebe ich Ihnen meine Visitenkarte mit …“

Er händigte mir beides aus, erhob sich, verabschiedete sich und blieb trotzdem noch stehen, stierte zu Boden, hüstelte und sagte dann:

„Wenden Sie sich aber nur an meine Frau, Herr Schraut … Meine Kinder wissen noch nichts von dem Diebstahl und sollen auch vorläufig davon nichts erfahren …“

Er drückte mir die Hand, legte noch schnell fünfhundert Mark als Honoraranzahlung auf den Tisch und ging. Ich brachte ihn bis in den Vorgarten, schaute ihm nach. Hastig schritt er davon, wiegenden Ganges, den mächtigen Schädel vorgestreckt … Jede seiner Bewegungen verriet Kraft und Gewandtheit trotz des massigen, plumpen Leibes …

Und wie ich ihm so nachblickte, sah ich drüben auf der anderen Seite der Straße einen alten graubärtigen Herrn stehen …

Der Herr machte mir verstohlen ein Zeichen: Harst!

Da begriff ich: er wollte hinter Torelli drein!

Beruhigt kehrte ich ins Haus zurück und saß eine Stunde später im Vorortzuge nach Werder …

Das Abteil Zweiter war gerammelt voll. Ich mußte stehen. Der sonnige Julitag hatte eine Unmenge Ausflügler auf die Beine gebracht, zumeist Leute, die sich in jener gehobenen „Sonntagsstimmung“ befanden, die anderen schwer an die Nerven geht. Sogenannte Witzbolde gibt es ja überall. Ich war nicht gerade in der Stimmung, diese Art Humor angenehm zu empfinden. Ich wollte mir den Fall „Bara Koko“, denn die Glücksnuß schien mir das wichtigste bei alledem zu sein, gründlich nochmals in allen Einzelheiten überlegen, wozu ich nun wenig Gelegenheit hatte.

Immerhin gab es doch Augenblicke, in denen ich meine Gedanken genügend sammeln konnte, um schließlich aus dem ganzen Verhalten des wenig sympathischen Zirkusdirektors zu der Überzeugung zu gelangen, daß er über den Verbleib des „Signor Mailoka“, des Jongleurs, entschieden mehr wüßte, als er mir gegenüber zugegeben hatte.

Eine gewisse stille Freude erfüllte mich, als ich mich zu dieser Überzeugung durchgerungen hatte. War es doch gar nicht so ausgeschlossen, daß Ignaz Torelli den Verehrer seiner Tochter vielleicht im Jähzorn getötet und dann nur das „Bad im Werlsee“ vorgetäuscht hatte.

Diese Freude über einen meines Erachtens zutreffenden Verdacht, der doch unseren Nachforschungen nun eine bestimmte Richtung gab, wurde mir dadurch gestört, daß ich das Gefühl hatte, von irgendeinem Insassen des Abteils heimlich und fortgesetzt gemustert zu werden.

Nach einigen vorsichtigen Versuchen, den Betreffenden unauffällig herauszufinden, ertappte ich ein in der linken Ecke sitzendes junges Mädchen dabei, wie es mit seitwärts geneigtem Kopf durch eine Lücke zwischen den anderen Fahrgästen mich beobachtete.

Ein Blick in dieses schmale, rassige Gesicht: es war zweifellos Gertrud Torelli!

Sie hatte genau dieselben Augen wie ihr Vater, genau dieselben starken Augenbrauen, nur fehlte dem Blick das Versteckte, Lauernde.

Ich beobachtete das Mädchen scheinbar nicht weiter.

In Werder auf dem kleinen Bahnhof wartete meiner eine Überraschung …: Eine dicke, sehr gewöhnlich aussehende Frau, die mit unechtem Schmuck über und über behängt und stark geschminkt und gepudert war, sprach mich an – Frau Torelli, – erklärte, ihr Mann habe ihr telefoniert, daß ich nach Werder kommen würde, und daß sie mich hier in Empfang nehmen solle …

Sie redete wie ein Wasserfall, ließ mir kaum Zeit, selbst ein Wort zu sprechen, war sehr nervös und aufgeregt, und bat mich, ihr es nicht zu verargen, wenn sie mich in aller Heimlichkeit auf Umwegen zu dem Platz führe, wo das Zirkuszelt stehe.

Irgend etwas in ihrem Benehmen gefiel mir nicht. Sie schwitzte förmlich vor Aufregung, und seltsamerweise hatte sie in ihren hellen Katzenaugen genau denselben falschen Blick wie ihr Herr Gemahl. Diesem Ehepaar traute ich jedenfalls alles Mögliche zu.

Nach zehn Minuten sahen wir das Zelt und die großen Zirkuswagen vor uns. Der Wohnwagen des Herrn Direktors stand etwas abseits hinter einer Buschreihe, und ganz unbemerkt konnten wir hineinschlüpfen …

Nun war ich am Tatort …

Leider …!!

 

3. Kapitel.

Gertrud winkt …

Die Frau Direktor ließ sich erschöpft in eine Ecke des kleinen Sofas sinken …

„Diese Hitze!“ stöhnte sie und vermied es, mich anzusehen …

Sie gefiel mir immer weniger.

Desto besser gefiel mir die Einrichtung dieses Wohnwagens. Wer noch nie Gelegenheit gehabt hat, einen solchen Wagen von innen zu besichtigen, würde überrascht sein, wenn er die Behaglichkeit, den bescheidenen Luxus und die peinliche Sauberkeit wahrnehmen würde.

Ich saß in einem Brokatsesselchen, und während Frau Torelli nun eilfertig für mich eine Berliner Weiße als Erfrischung vorsichtig in ein dickbauchiges Glas füllte, legte ich mir die Frage vor, weshalb wohl Gertrud Torelli, die doch auch zusammen mit dem großen Schwarm von Ausflüglern hier auf dem Bahnhof ausgestiegen war und die ihre Mutter sicherlich bemerkt hatte, uns nicht angesprochen haben mochte. Und die zweite Frage: Wie hatte Frau Torelli mich so leicht in der Menschenmenge herausgefunden?!

„Bitte, trinken Sie, Herr Schraut …,“ sagte da die dicke Person und stellte mit leicht bebenden Fingern das Weißbierglas vor mich hin …

Rechts von mir war ein Büfett mit einem länglichen Spiegel in der Wagenwand eingebaut.

Wohl mehr ein Zufall war’s, daß ich gerade jetzt in diesen Spiegel blickte, dem Frau Torelli den Rücken zukehrte. Das Spiegelglas zeigte mir das eine Wagenfenster, und draußen zwischen den Büschen Gertrud Torelli, die mir mit hastiger Handbewegung zuwinkte und mir durch geschickte Gesten andeutete, das Weißbier nicht anzurühren.

Als ich diese Gesten verstanden, war mir mit einem Male auch klar, weshalb die Frau Direktor so überaus nervös sich gebärdete: Es war das schlechte Gewissen vor einer schlechten Tat! Ich sollte hier offenbar durch den Erfrischungstrank „erledigt“ werden!!

Aber – weshalb in aller Welt, – – weshalb?! – Welch ein Interesse hatte das Ehepaar daran, mich etwa durch Gift (letzteres wohl kaum!) auszuschalten, wo Torelli doch unsere Hilfe erbeten hatte?!

Nun hieß es schlau sein …

Durch eine scheinbar ungeschickte Armbewegung stieß ich das Glas um, und der Inhalt ergoß sich auf den Linoleumteppich. Ich entschuldigte mich wortreich, während in mir tausend Teufel über das enttäuschte Gesicht der Frau Direktor hohnlachten …

Eine zweite Weißbierspende lehnte ich ab … Ich hätte wenig Zeit und möchte sofort den Schrank in Augenschein nehmen, – was ja ganz überflüssig war, da ich nun mit aller Bestimmtheit die Diebin der Glücksnuß kannte: Gertrud Torelli!

Meine Detektivarbeit an dem Schranke war in zehn Minuten erledigt, war eitel Spiegelfechterei …

„Der Schrank ist von einem gewerbsmäßigen Einbrecher erbrochen worden,“ erklärte ich der Dicken, die mir mit einem Gesichtsausdruck zuschaute, als ob sie mich am liebsten gefressen hätte. „Ihr Mann, Frau Torelli,“ fuhr ich mit nachdenklicher Miene fort, „sprach von einem gewissen Gerhard Berner, der ein ziemlich übles Subjekt gewesen sein soll … Vielleicht hat Berner sich dem müheloseren Gaunerhandwerk ergeben und hier ein Gastspiel absolviert …,“ scherzte ich, um die Dicke, die vielleicht durch das Umwerfen des Glases mißtrauisch geworden, wieder in Sicherheit zu lullen …

Ich beobachtete sie dabei scharf. Der Name Berner war für sie sichtlich eine bittere Pille. Sie wandte sich halb ab, war sehr rot geworden …

„Vielleicht …,“ murmelte sie zerstreut … Und dann – lebhafter: „Darf ich Ihnen nun wenigstens einen Likör anbieten, Herr Schraut?“

Aha – – erst Weißbier, dann Schnaps!

„Danke verbindlichst,“ erwiderte ich. „Ich werde jetzt noch hier einen am Schrankschloß sichtbaren Fingerabdruck abzeichnen … – Sie können ganz beruhigt sein, Frau Torelli. Wir fassen den Dieb …“

Als ich mich dann verabschiedete, wollte sie mir eine Zigarre aufdrängen …

„Ich trinke weder Likör noch rauche ich,“ sagte ich lächelnd. „Unsereiner darf seinen Verstand weder durch Nikotin noch durch Alkohol lähmen … Auf Wiedersehen … Grüßen Sie Ihren Mann … Sie erhalten von uns hoffentlich recht bald günstige Nachricht …“

So schritt ich denn nun durch die alten gemütlichen Straßen der bekannten Obststadt dem Bahnhof wieder zu – in der stillen Erwartung, daß ich Gertrud Torelli vielleicht treffen würde und sprechen könnte …

Und, beschäftigt mit dem Gedanken, die immer wieder die wichtige Frage umspielten, weshalb Ignaz Torelli seiner scheinheiligen Ehehälfte doch offenbar telephonisch mit die Anweisung gegeben, mich durch einen Hexentrank zu betäuben!

Weshalb?! – Fürchtete er uns?! Hoffte er, daß, nachdem ich erledigt war, Harald nachmittags an die Reihe kommen würde?! – Weshalb?!

War Torelli etwa wirklich der Mörder Berners, und hatte etwa Gertrud gegen ihren Vater Verdacht geschöpft?!

Nein – letzteres war wohl ausgeschlossen. Die Inschrift auf der Hülle der Kokosnuß bewies, daß Gertrud bisher über das Schicksal ihres Verehrers und Geliebten (das war Berner ihr zweifellos gewesen) völlig im unklaren sein mußte.

Auch auf dem Bahnhof nichts von Gertrud …

Ich war etwas enttäuscht. Und doch auch zufrieden, weil ich Harald eine ganze Menge Neues mitteilen konnte. Er würde sich wundern, wenn ich ihm meine Erlebnisse hier in Werder berichtete. Mit einem Weißbier-Attentat hatte er sicherlich niemals gerechnet!

Vom Bahnhof aus rief ich unsere Nummer in Schmargendorf an, damit Harald nicht etwa auch noch hierher käme. Ich bekam auch sehr bald Verbindung, und es meldete sich Haralds Mutter …

Nein, Harald sei noch nicht wieder zurückgekehrt, nachdem er unser Haus in der Verkleidung verlassen hatte.

Das genügte mir. Also war er noch hinter Ignaz drein. Auch gut.

Ich fuhr gen Berlin. Leer das Abteil, keine Witzbolde, keine Ausflügler. Es war jetzt halb vier. Erst in Potsdam füllte sich der Wagen.

Als ich dann gegen sechs Haralds Mutter in unserem Garten begrüßte, war mein Freund noch nicht zurück …

Frau Auguste Harst, meine mütterliche Freundin, und ich setzten uns in die Veranda, und ich erzählte ihr, was ich erlebt hatte. Vor der alten Dame haben wir keine Geheimnisse.

Frau Harst gab mir durchaus recht, daß das Ehepaar Torelli, wahrscheinlich den Jongleur um die Ecke gebracht habe, oder doch jedenfalls Torelli, der dann seine Frau eingeweiht habe. Weshalb Torelli nun jedoch zu uns gekommen, konnte auch Frau Harst sich nicht erklären.

Es wurde acht, halb neun …

Wir aßen ohne Harald Abendbrot.

Es wurde zehn, und Frau Harst meinte, sie beginne sich ihres großen Jungen wegen zu sorgen.

Auf den seltenen sonnigen Julitag war ein wolkiger Abend von drückender Gewitterschwüle gefolgt … Von Westen her zog eine schwarze Wand herauf, über die immer häufiger ein fahles Leuchten hinlief. Kein Blatt der Gartenbäume regte sich. Kein Lufthauch war zu spüren. Fledermäuse schossen lautlos hin und her, und um die elektrische Verandalampe summten und flatterten große Nachtfalter …

Wir hatten lange Zeit kein Wort mehr gesprochen. Die Schwere der Luft benahm uns förmlich den Atem.

Im Eßzimmer schlug die Standuhr elf …

Ich gähnte verstohlen …

Sagte Frau Auguste da energisch: „Ich bleibe noch auf … Ich habe das Gefühl, daß Harald in Gefahr ist … Ich könnte doch nicht schlafen …“

Ich schüttelte die Müdigkeit ab … Richtete mich im Rohrsessel auf …

„Soll ich noch nach Werder hinausfahren, liebe Frau Harst …? Soll ich dort einmal nach Harald Umschau halten? Wenn es Sie beruhigt, – ich tue es gern …“

„Nein, nein, – das nicht,“ widersprach sie und erhob sich … „Wer weiß, wo Harald steckt … Ich werde uns Zitronenwasser holen … Es ist so furchtbar schwül hier …“

Und sie verließ die Veranda …

Hatte sie kaum verlassen, als ich etwas wie einen leichten Schlag an der linken Schläfe verspürte …

Fuhr hoch …

Faßte mit der Hand nach dem Kopfe …

Meine Finger waren blutig!!

Im Nu schaltete ich die Lampe aus …

Im Nu war ich unten im Hofe, im Garten …

Eine ungeheure Wut kochte in mir … Ich wußte: Windbüchse – – eine Kugel, die meine Schläfe nur gestreift hatte – ein feiges Attentat: Torelli natürlich!!

Mit der entsicherten Clement in der Hand suchte ich den Garten ab …

Fand natürlich nichts …

Es begann zu regnen …

Sturmstöße fauchten über die Baumkronen hin … Die alten Kastanien in unserem Hofe verbeugten sich vor dem jähen Orkan, ächzten und stöhnten …

Ais ich die Veranda wieder betrat, hatte ich mich bereits vom Blute gereinigt und die feine Rille an der Schläfe mit Heftpflaster überklebt.

Frau Harst hatte die Fenster geschlossen und die Vorhänge zugezogen. Sie bemerkte das Pflaster erst gar nicht. Ich erklärte, ich hätte im Garten die Mistbeetfenster des Regens wegen geschlossen und mir dabei die Schramme geholt, die nichts zu bedeuten habe.

Heimlich aber suchte ich den Fleck, wo die halb fehlgegangene Kugel eingeschlagen haben mußte, entdeckte auch die Stelle: neben dem Barometer – nur ein Löchlein in der Tapete!

Wir tranken Zitronenwasser …

Das Gewitter kam näher und näher …

Es war jene Julinacht, in der ein Wirbelsturm über die westlichen Vororte Berlins hinwegging und arge Verheerungen anrichtete …

Blitz folgte auf Blitz …

Wir schwiegen …

Und gerade in einer kurzen Atempause des Unwetters hörte ich im Flur das Telephon schrillen …

Sehr anhaltend …

Eilte hin … meldete mich …

Harald – – Gott sei Dank …!!

Frau Harst stand neben mir …

„Wo ist er?“ flüstere sie …

„In Grünheide … – Einen Augenblick …“

Und Harald sprach weiter:

„Du mußt aus Berlin sehr vorsichtig verschwinden und hierher kommen … Ich telephoniere vom Hotel Crahé aus … Ich erwarte dich morgen halb zwölf mittags an der Abfahrtstelle der Motorboote nach Erkner … Grüße Mutter … Sie soll sich keine Sorgen machen … Schluß …“

Und bevor ich noch etwas fragen konnte, hatte er abgehängt.

Frau Harst war beruhigt. Wir gingen schlafen …

Schlafen?!

Nein – es dauerte noch Stunden, bevor ich einschlummerte …

Harst in Grünheide!!

Was weiß die große Welt von Grünheide?!

Dressuranstalt – – vielleicht! Polizeihunddressuranstalt …

Sonst?! – Ich selbst war noch nie dort gewesen, hatte es kaum dem Namen nach gekannt, dieses Örtchen in der angeblich so sandigen Mark! Angeblich!

Harst in Grünheide …

Dort am Ostufer des Werlsees sollte Gerhard Berner ertrunken sein – sollte …

Ob Harald etwa dort noch Spuren eines im April begangenen Mordes zu finden hoffte?! Drei Monate waren seit Gerhard Berners Verschwinden vergangen – eine schier endlose Zeit, wenn es sich um ein bisher unaufgeklärtes Verbrechen handelt. Nach drei Monaten pflegt nur noch der launenhafteste Verbündete des Kriminalisten, der Zufall, die Aufdeckung einer Untat herbeizuführen … Es sei denn, daß ein Mann von den anerkannt vielseitigen Fähigkeiten eines Harst sich einer derart verfahrenen Sache annimmt …

Und dies war hier der Fall! Harald mußte seine sehr triftigen Gründe gehabt haben, daß er sich nach Grünheide begeben hatte. Welche Gründe aber?! Was hatte ihn dazu veranlaßt, die Beobachtung Ignaz Torellis aufzugeben und das einsame, entlegene Nest, diese bescheidene Sommerfrische, aufzusuchen?

Über diesen Gedanken schlief ich doch endlich ein …

 

4. Kapitel.

Die Insel.

Und schon um acht Uhr war ich wieder auf den Beinen, und pünktlich zehn Uhr saß ich im Vorortzuge nach Erkner. Station auf Station passierte der Zug … Durch endlose Kiefernwälder führt die Bahnstrecke … Kleine Eigenheime leuchten aus frischem Grün hervor …

Dann – Erkner … Man steigt aus, stutzt … Ein unangenehm scharfer Geruch umweht den Ausflügler: Fabrikdünste! Aber dort blinken bereits helle Wasserstreifen … Blitzsaubere Kaffeegärten lassen auf starken Sonntagsverkehr schließen. – Ich frage mich zur Motorbootstation durch … Habe noch Zeit … Aber – kein Harst zu sehen … Nirgends … Ich sitze auf einer Bank, neben mir den Koffer … Ich bin nicht Max Schraut … Ich bin ein sehr solider, sehr bärtiger älterer Herr … Harald hat ja in der Nacht telephonisch zur Vorsicht gemahnt, und ich bin auch aus Berlin unter Anwendung all der kleinen Tricks abgereist, die jeden Verfolger irreführen müssen.

Kein Harst … Zwölf Uhr … Ich lasse das zweite Motorboot vorüber … Halb eins … Da gebe ich es auf … Harald kommt nicht mehr. Ich besteige das abfahrtbereite Boot und genieße mit gemischten Gefühlen die Fahrt durch den Löcknitzkanal … Diese wunderbare Fahrt, die nach dem Lärm und der Unruhe der Weltstadt die Nerven so angenehm entspannt.

Das Boot biegt in den Peetzsee ein. Ich habe mir eine Karte der Umgegend von Erkner gekauft … Vergleiche …

Da liegt mitten in dem umwaldeten See eine Insel, teilweise von Bäumen bedeckt, Schilfstreifen am Ufer … Und am Ufer ein paar braune Wohnzelte, Boote, kleine Jachten …

Ich nehme mein Fernglas … Die Insel interessiert mich … Dieses sommerliche Lagerleben dort ist so romantisch. Erinnerungen an Robinson Crusoe tauchen auf …

Ich stelle das Glas ein …

Sehe abseits unter Erlen auf kleiner Anhöhe ein einzelnes Wohnzelt …

Vor dem Zelt eine Gestalt …[2]

Ein Taschentuch flattert in einer erhobenen Hand …

Ich stutze …

Wahrhaftig – – Harald, Harald in der Verkleidung des alten Herrn …

Jetzt läßt er das Taschentuch sinken … Mit seinen tadellosen Augen hat er mich fraglos erkannt … Ich stehe ja ganz allein am Heck des Motorbootes, und schon meine Gestalt verrät mich einem Harald Harst, mag ich auch noch so tadellos falschen Bart und Perücke tragen …!

Weiter gleitet das Boot …

Hinein in den kurzen Kanal, der den Peetzsee und den Werlsee verbindet …

Legt dann am Stege des Hotel Crahé an …

Grünheide …! Wald- und Seeidyll …! Zum ersten Male schaute ich es … Zum ersten Male erfreute ich mich an der friedlichen Lieblichkeit dieser Villen, Häuschen und sauberen Gärten … Und – – seitdem hat Grünheide es mir angetan …

Doch – – zunächst hatte ich anderes zu bedenken … Ein Ruderboot war bald gemietet … Mein Koffer hinein … Und dann zurück zum Peetzsee, zur Insel …

Unterwegs kommt mir ein anderes Boot entgegen …

Harald darin …

Ruft: „Tag, mein Alter … Hast dich wohl sehr gewundert, daß ich Zeltsommerfrischler geworden … Aber darüber nachher … Jetzt kehren wir um, bringen dein Boot zurück, und dann nehme ich dich wieder mit …“

Bord an Bord ruderten wir …

„Die Sache hier ist nämlich verdammt sengerich[3], mein Alter,“ beginnt Harald wieder … „Wir haben es hier mit einem Gegner zu tun, im Vergleich zu dem ein Massenmörder ein Säugling ist …“

Wenn Harald sich derart ausdrückt, dann muß schon etwas daran sein …

„Ein Gegner?“ frage ich … „Wohnt denn in Grünheide jemand, der …“

„Dort,“ unterbricht er mich und deutet auf das nahe Nordufer, wo ich inmitten kleiner Villen ein burgähnliches, fast phantastisches Gebäude erkenne … „Dort haust Herr Chemiker Doktor Georg Amalgi, der Verlobte Gertrud Torellis …“

Die Ruder entgleiten fast meiner Hand …

„Ver … Verlobte?“ bringe ich mühsam hervor …

„Allerdings …“

Wir biegen in den Kanal ein … Hier müssen unsere Boote hintereinander fahren … Die Unterhaltung stockt … Bis wir beide dann in Haralds Boot sitzen. Er rudert. Ich steuere. Ein Motorfahrzeug kommt vorüber … Eine aus drei Leuten bestehende Jazzkapelle spielt Valencia – natürlich Valencia …

Und Harald erzählt:

„Ich folgte Ignaz Torelli, wie du weißt … Er ahnte nicht, daß jemand hinter ihm war, traf am Potsdamer Platz mit einem jüngeren, eleganten Herrn zusammen, mit dem er in die Weinstuben von Freedrichsen ging. Nach drei Stunden fuhr der Elegante nach Erkner. Ich mit ihm im selben Zuge … Und dann weiter nach Grünheide … Wo ich bald heraushatte, wer der Betreffende war: ein schwerreicher Junggeselle, der sich hier vor einem Jahr niedergelassen und den großen Besitz eines älteren Ehepaares erworben hat …“

Wir kamen jetzt an der burgähnlichen Villa wieder vorüber …

Ich schaute neugierig hin …

Der große Park schien die reinste Wildnis zu sein … Aus Buschwerk und Bäumen blinkten Dächer von verwitterten Pavillons und seltsamen kleinen Häuschen auf … Grün bemooste Marmorstatuen redeten von vergangener Pracht … Auch das Haus selbst machte einen recht verfallenen und verwahrlosten Eindruck …

„Einem Künstler hat der Besitz vorher gehört,“ erklärte Harald … „Und jetzt ist ein … Scheusal von Mensch Herr dieses Fleckchens Erde, das gerade in seiner Verwilderung wie ein verträumtes Märchen wirkt … Leider ein grausiges Märchen … Doktor Amalgi hat dafür gesorgt, daß die Poesie in Grauen sich wandelte. Und … niemand hier ahnt etwas davon … Nur ich – – weiß, nur ich habe in der vergangenen Nacht gesehen, was …“

Schwieg …

Aus einem Einschnitt des Schilfgürtels kam ein kleines Motorboot hervorgeschossen …

Am Steuer ein bleicher, jüngerer Herr mit unheimlich großen dunklen Augen …

Das Boot jagte gen Westen davon … Es war ein Rennboot mit offenbar sehr starkem Motor. Ein dicker Wasserschwalch wurde am Heck von der Schraube hochgesogen …

„Er!!“ sagte Harald nur.

„Amalgi?!“

„Ja …“

„Allerdings, der Mensch sieht wie ein moderner Mephisto aus …“

„Ist es auch, mein Alter … Beeilen wir uns, daß wir in unser Zelt kommen … Dort zieht eine bedrohliche Wolkenwand hoch … Zelt und Boot und alles andere hat mir der Oberkellner des Hotel Crahé gegen anständige Bezahlung geliehen … Ich zog die Insel als Operationsbasis vor, da man dort weniger beobachtet wird und nachts jederzeit den Doktor Amalgi besuchen kann … O, – es beginnt schon zu tröpfeln … Beeilen wir uns …“

Er legte sich energischer in die Riemen …

Wir landeten … Zogen das Boot ans Ufer …

Es regnete stärker …

Harald hob die Leinwand des Zelteingangs empor …

„Bitte …“

Ich bückte mich, trat ein …

Halbdunkel hier im Zelte …

Ich … fühlte plötzlich zwei Hände um meinen Hals – – wie Eisenklammern … Ein Hieb traf meinen Schädel …

Hinter mir ein gurgelnder Schrei …

Auch Harald erging’s wie mir …

Und – – draußen goß es in Strömen, entlud sich ein Sommergewitter von unerhörter Heftigkeit …

Ich … sah und merkte nichts mehr davon … Ich war im Lande der toten Gedanken … war bewußtlos, war zusammen mit Harald der teuflischen Schlauheit eines Doktor Amalgi zum Opfer gefallen …

 

5. Kapitel.

Der Spiegel.

„Chemiker Doktor Georg Amalgi,“ stellte der blasse, schlanke Herr sich vor …

Ich rieb mir die Augen …

Traum?! … Traum …?!

Befand ich mich wirklich auf einer Gartenterrasse im strahlenden Sonnenschein, saß ich wirklich in einem Rohrsessel an einem überreich gedeckten Frühstückstisch …?!

Saß dort mir gegenüber wirklich Harst in seiner Verkleidung …?!

Blitzte dort drüben tatsächlich der Spiegel des Peetzsees, – lag dort nicht die Insel, fuhr dort nicht ein großes Motorboot in den Kanal ein?

„Sie scheinen überrascht, Herr Schraut,“ sagte der Schlanke vor mir, lächelte süßlich-diabolisch und setzte sich zu uns …

„Greifen Sie zu, meine Herren … Sie sind mir als Gäste sehr willkommen … Wenn Sie verständig sind, können Sie in meiner Villa, die zum Glück nach der Straße hin durch Hecken geschützt ist und nach dem See zu durch den verwilderten Park und das Wasser und Röhricht gedeckt ist, ein paar angenehme Jahre verleben, bis eben meine Versuche, die ich mit Ihnen anzustellen beabsichtige, eines Tages vielleicht Ihren Tod zur Folge haben … – Greifen Sie doch bitte zu … Sie müssen ja Hunger haben … Sie waren rund achtzehn Stunden bewußtlos … Genieren Sie sich nicht … Ich kann Ihnen diesen Frühstückskäse warm empfehlen, noch mehr diese Fischpastete …“

Er füllte unsere Kaffeetassen aus einer Nickelkanne …

Harst blieb Statue … Ich desgleichen …

Harsts vollkommene Starrheit verwirrte mich … Nicht einmal die Augen bewegte er, nicht einmal die Lider zuckten. Um seinen Mund lag ein verzerrtes Lächeln …

Mir krampfte sich das Herz vor Schreck zusammen … Ich umklammerte mit zitternden Händen die Lehnen des Sessels …

Da sagte Amalgi wieder. „Mag es Sie nicht weiter stören, Herr Schraut, daß Ihr Freund mehr einer Mumie gleicht … Es handelt sich bei ihm nur um eine Art Starrkrampf … Er wollte vorhin, als Sie noch nicht wach waren, mit mir wie mit einem gewöhnlichen Verbrecher umspringen … Und da habe ich meinem Famulus und Diener den bewußten Spiegel, meine Erfindung, auf ihn richten lassen … – Geben Sie acht … Auch Sie sollen’s probieren …“

Und da glitt es wie ein heller Schein über meine Augen hin …

Wie wenn etwa Kinder mit einem Stück Spiegelglas im Sonnenschein aus Übermut Vorübergehende durch den blendenden Strahl necken …

Ein heller Schein …

Und doch stach’s mir in die Augen, als ob mir glühende Spitzen bis zum Hinterkopf getrieben würden …

Im selben Moment hatte ich auch das Gefühl, als ob mein Leib zu Eis erstarrte …

Ich wollte mich bewegen …

Ich war gelähmt …

Stierte geradeaus …

Harald in die Augen …

Gelähmt …

Schlimmer als Ohnmacht war das …

Gefühl vollkommenster Hilflosigkeit … Aber – – die Gedanken kreisten … Das pochende Herz führte dem bewußten Hirn stets neues Blut zu …

Ich sah, hörte, empfand, lebte …

Und war doch wie tot …

Ein entsetzlicher Zustand, noch verschlimmert durch ein Gefühl wahnwitzigen Grauens, das mir in der Kehle wie ein glühender Klumpen saß …

Dann … glitt wieder ein heller Schein über meine Augen hin …

Ein Ruck ging durch meinen Leib …

Ich … war wach … war befreit von der gräßlichen Erstarrung …

Auch Harald …

Neben uns sagte Doktor Amalgi …:

„Sie haben nun einen geringen Beweis dessen erhalten, was ich vermag … Ich hoffe, daß Sie beide fernerhin nie mehr wagen werden, sich gegen meinen Willen aufzulehnen … – Frühstücken wir … Der Kaffee wird kalt …“

Harald saß zusammengesunken da …

Noch nie in all den Jahren, die wir uns kennen, habe ich in seinen Augen einen solchen Ausdruck verstörter Hilflosigkeit gesehen wie damals … Ich merkte es ihm an, daß er mit aller Macht sich aufzuraffen versuchte … Ich versuchte ja dasselbe. Ihm gelang’s schneller wie mir … Er griff nach der Tasse, trank sie leer … Langte nach einem Röstschnittchen … Schaute mich scharf an … Und dieser Blick war wie ein Hieb, eine harte Aufmunterung …

Doktor Georg Amalgi meinte: „Brav so, meine Herren …! Nur nicht die Köpfe hängen lassen … Man gewöhnt sich an alles, auch daran, mein Versuchskaninchen zu sein …“ Er sprach jetzt ohne alle Bosheit und Ironie im leichten Plauderton. „Gewiß, die Welt wird sich wundern, und wird es bedauern, daß der große Harst und sein Freund plötzlich so spurlos verduftet sind … Es wird sich ein gewaltiges Geschrei in den deutschen Zeitungen erheben … Polizei und Behörden werden eine fabelhafte Untätigkeit entwickeln, um Sie beide aufzuspüren – – Untätigkeit, denn man wird die Bemühungen sehr schnell wieder einstellen müssen, selbst wenn man Ihre Spuren bis hier nach Grünheide verfolgen könnte. Ich – ich bin über jeden Verdacht erhaben. Ich bin für die Öffentlichkeit der Wohltäter von Grünheide. Man singt mein Loblied in allen Tonarten …“ Jetzt wurde er bissig und sarkastisch … „Es gibt ja nichts Dümmeres und Kritikloseres als die sogenannte große Masse … Es gibt noch keinen Ausdruck, das Maß von Verachtung irgendwie zu bezeichnen, das ich für … das Volk, die Menschen empfinde …“ Seine Stimme wurde immer schärfer … „Ich verachte die Menschen so sehr, daß für Haß oder Feindseligkeit in meiner … sogenannten Seele kein Raum mehr ist …“ – Seine schwarzen Satansaugen schillerten vor innerer Erregung …

Und – mir rieselte es kalt über den Rücken … Ich ahnte, daß dieser Amalgi durch irgendwelche Ereignisse, die einst sein Herz vor Schmerz und Trauer zerfleischt haben mußten, zum Menschenhasser geworden, – ahnte auch, daß er als Chemiker Erfindungen gemacht, von denen niemand etwas wußte – nur … seine Opfer, – – wie wir beide hier, die ein Spiegel zu lebenden Leichnamen verwandelt hatte … Dabei mochte dieser Teufelsspiegel noch das geringste Kampfmittel sein, über das Amalgi verfügte … –

Jeder Bissen, den ich an diesem denkwürdigen Morgen zu mir nahm, blieb mir halb in der Kehle stecken … Und doch hatte ich Hunger, sagte mir auch, daß ich unbedingt etwas genießen müßte, um bei Kräften zu bleiben …

Amalgi hatte eine Weile geschwiegen …

Nun begann er wieder: „Sehen Sie, Herr Harst, selbst Leuten von Ihrer anerkannten Tüchtigkeit als Detektiv unterlaufen zuweilen schwere Fehler … Als mein Schwiegervater Torelli – denn morgen feiere ich meine Hochzeit mit seiner Tochter Gertrud – mir gestern nach dem Besuch bei Ihnen mitteilte, er habe nur mit Herrn Schraut gesprochen, da sagte ich mir sofort, daß hier irgend etwas nicht stimmte, und hielt die Augen daher doppelt auf, bemerkte so den alten Herrn, der mich verfolgte und … das Weitere war ein Kinderspiel.“

Er lächelte ein wenig …

„Ja – ein Kinderspiel, das mir zwei geschätzte Gäste in meine einsame Villa gebracht hat, in der Sie beide sich völlig frei – auch im Park – bewegen können. Nur ist Ihnen verboten, sich den Hecken, die mein Grundstück nach der Straße und nach den Seiten begrenzen, weiter als bis auf fünf Schritt zu nähern … Ihre Wohnung werde ich Ihnen nach dem Frühstück zeigen … Ich habe es wohl nicht nötig, Sie noch besonders vor Hilferufen oder ähnlichen Torheiten zu warnen … – Von hier entkommt niemand!“ betonte er mit erhobener Stimme … Dann füllte er wieder unsere Kaffeetassen und begann ein Gespräch über Indien, das er sehr genau zu kennen schien … –

Wenn ich die Empfindungen, mit denen ich in meinem Rohrsessel lehnte und all dies über mich ergehen ließ, näher schildern wollte, würde ich Seiten brauchen … Vielleicht bezeichne ich meine damalige Stimmung am treffendsten, wenn ich sage: Mir war zumute, wie einem Kinde aus einem Märchen, das plötzlich in den Garten eines bösen Zauberers geraten ist! –

Bald erhob sich Amalgi …

„So, meine Herren, nun zu Ihrem Quartier … Wenn Sie mir folgen wollen …“

Wir schritten neben ihm … Und selbst ein Harald Harst konnte diesem Schurken nicht an die Kehle … Wir wurden ja bestimmt beobachtet … Der lebende Tod bedrohte uns in jeder Sekunde … Und über uns lachte die Julisonne … In den Parkbäumen jubilierten Vögel aller Art … Ein Specht hämmerte am Stamm einer Kiefer … Mein unruhiges Herz in meiner bedrückten Brust aber hämmerte noch schneller … – So gingen wir mit Doktor Amalgi, dem Wohltäter von Grünheide, über die lange Terrasse zur breiten Steintreppe, die in die Parkwildnis hinabführte …

 

 

Amalgis Ahnengalerie

 

1. Kapitel.

Amalgis künstliche Ohren …

Parkwildnis …

Von Wegen kaum mehr etwas zu erkennen … Trauerweiden, Edeltannen, Ulmen, Rotbuchen, Eichen, Kastanien und uralte Haselbüsche, – es gab hier kaum eine deutsche Baumart, die nicht vertreten war …

Kniehoch wucherten Gräser, hüfthoch ganze Gestrüppe von Farnkräuter …

Einsame, schmutzige Marmorstatuen gaben ihre verschwommene Schönheit auf diesem bunten Hintergrund von Baumgrün preis …

Amalgi erzählte von dem Künstler, der diesen Besitz vor zwanzig Jahren geschaffen hatte …

Dann vor uns über einem großen Teich, auf dem Mummeln und andere Wassergewächse schwammen, ein auf starken Eichenpfählen erbautes Gartenhäuschen. Vom Ufer lief eine Holztreppe mit fünfzehn Stufen zu der Eingangstür empor. Die Pfähle waren in den Grund des Weihers eingerammt, und die Treppe, sah ich, ließ sich durch eine Hebelvorrichtung nach dem Ufer hin hochklappen, so daß das zierliche Bauwerk dann ein richtiges Wassergefängnis bildete.

Amalgi zeigte uns die beiden Räume des Häuschens, die alles enthielten, was ein verwöhnter Europäer nötig hat …

„So, meine Herren, nun will ich Sie sich selbst überlassen …,“ meinte er dann. „Sie werden das Bedürfnis haben, sich miteinander auszusprechen, was verständlich ist … Mich werden Sie vorläufig nicht zu Gesicht bekommen, da ich, wie schon erwähnt, morgen heirate, und dann eine Hochzeitsreise unternehme … Auf Wiedersehen …“

Er verbeugte sich und ging davon … Die Treppe knarrte leicht … Seine schlanke Gestalt verschwand in der Wildnis des weiten Parkes …

Harald ließ sich in einen der kleinen Klubsessel des kleinen Wohnraumes fallen. Die Eingangstür stand weit offen, und eine breite Bahn grellen Sonnenlichts beschien den kostbaren Perserteppich … Ich lehnte am Türrahmen, hatte dem Satan Amalgi nachgeschaut … Ich wandte den Kopf und blickte nun den Freund fragend an – den Freund, der … helfen sollte …!

Er nickte mir zu … ernst, aber doch mit einem unmerklichen Lächeln um die Lippen, das mir Mut machen sollte.

„Erzähle …,“ sagte er, nahm sein Zigarettenetui und holte eine seiner Mirakulum hervor …

„Da – bediene dich gleichfalls, mein Alter …“

Ich ging und setzte mich neben ihn in die Ecke des Miniaturklubsofas …

„Erzähle,“ munterte er mich von neuem auf …

Ich rauchte ein paar Züge … Berichtete: von der Fahrt nach Werder, von dem Weißbier, von Gertruds Warnung, von dem Schuß in die Veranda, der natürlich auf Torellis Konto kam … Und fügte hinzu:

„Unbegreiflich ist mir, weshalb der Zirkusdirektor mir ans Leben wollte …“

„So?! Unbegreiflich?! – Lieber Alter, es lag da eine Kokosnußfaser auf dem Teppich in meinem Arbeitszimmer … Ich schaute durch den Spion vom Schlafzimmer aus euch beiden zu. Torelli bemerkte die gelbbraune Faser, kurz, bevor er sich verabschiedete … Da wußte er, daß wir die Nuß im Besitz und geöffnet hatten … Da telefonierte er seiner Frau, dich in Werder festzuhalten, zu betäuben, hoffte, daß er auch mich … ausschalten könnte …“

Er blies drei tadeltose Rauchringe … Fuhr fort:

„Ich nehme an, daß jedes Wort, das wir hier sprechen, belauscht wird … durch besondere Apparate … Gehen wir also zum Seeufer hinab … Dort ist eine Bank und ein freier Platz …“

Wir gingen …

Im Park keine lebende Seele … Bisher hatte ich hier nur Amalgi bemerkt, sonst niemand …

Wir setzten uns auf die grün bemooste Steinbank. Fünf Schritt vor uns rauschte das hohe Schilf … Wenn die Stengel sich vor dem Winde verneigten und eine Lücke in der Wand von Stengeln entstand, konnten wir einen Teil des Peetzsees überblicken … Ein Angler saß da in einem Kahn vor der Schilfmauer, ein altes, buckliges Männchen – stumpfsinnig, regungslos …

„Einer von Amalgis Leuten,“ meinte Harald gedämpft …

„Wie – der Angler?!“

„Ja … Ich war ja schon in der vergangenen Nacht hier … Ob Amalgi das ahnt, weiß ich nicht mit Bestimmtheit … Er hat jedenfalls drei Leute als Diener: den Alten dort, einen jüngeren Kerl, der etwas hinkt, und seinen sogenannten Famulus, einen bartlosen, schmächtigen, schielenden Menschen mit einem Leichengesicht … – Ich war nachts hier, gegen halb elf … Und … fand den Eingang zu der Stätte der Lebendig-Toten … Deshalb nannte ich Amalgi ein Scheusal … deshalb …“

Harald atmete schwer. Ich spürte, daß ihm eine starke Erregung die Brust beengte …

„Unter der Terrasse liegt ein langes Gewölbe … Die Fenster sind vermauert. Aber aus einer Fuge ist der Mörtel herausgefallen … Ein schwacher Lichtstreifen erregte beim Näherschleichen meine Aufmerksamkeit … So sah ich denn, daß Amalgi in dem Gewölbe hin und her schritt, sah dort nebeneinander eine Reihe von sargähnlichen Kästen stehen … Was sie enthielten, blieb mir verborgen, bis ich eben die kleine Tür hinter dem dicken Epheu an der Seite entdeckte, ein eisernes Pförtchen, verschlossen – nur nicht für mich …“

Er nahm eine frische Zigarette …

Seine Stimme wurde noch leiser …

„Acht Kästen … Und in jedem ein … Mensch, nicht lebend, nicht tot … Alles Männer, alle acht … Alle in demselben unheimlichen starren zustand, den auch wir durchgekostet haben …“

Ich … fror plötzlich, obwohl wir in der prallen Sonne saßen …

„Und der achte … ist Gerhard Berner, mein Alter … Gerhard Berner, der diesem Ungeheuer von Amalgi im Wege war, als er sich um Gertrud bemühte … Gertrud liebte Berner. Und nun liegt der arme Signor Mailoka dort im Gewölbe im … Starrkrampf … mit offenen Augen, hört, sieht alles, und kann sich doch nicht regen … Sein Hirn arbeitet, wie auch das unsrige weiterfunktionierte … Sein Geist ist lebendig, und seine seelischen Qualen müssen alles übersteigen, was man sich nur an Pein und Verzweiflung vorstellen kann. Vielleicht besucht dieses Scheusal von Amalgi jeden Tag seine … Leichenhalle, und weidet sich an dem Anblick der Unglücklichen …“

Er warf plötzlich die Zigarette weg …

„Sie schmeckt mir nicht … Wie sollte es auch?! – Schraut, ich habe alles Mögliche versucht, einen der acht Männer aufzuwecken … Ich habe Hypnose versucht, magnetische Striche – – alles … Es war erfolglos … Nur Amalgi könnte die Ärmsten wieder ins Leben zurückrufen.“

Ich … stierte ihm ins Gesicht …

Wie einer, der ein gräßliches Märchen aus phantasievollem Munde hört und sich wundert, woher der Erzähler die ungeheuerlichen Einzelheiten nimmt …

„Es ist alles so, wie ich’s sage, nickte Harald fast wehmütig … „Und es ist wenig Hoffnung, daß wir beide hier jemals entweichen können … – Arme Gertrud! Morgen wird sie – natürlich gegen ihren Willen – an dieses Ungeheuer verschachert … Entsetzlich, – – dieser Bestie als Weib angehören zu müssen …! Grauenvoll!!“

Ich raffte mich auf … Ich schüttelte diese lähmende Schwäche von mir ab …

„Sie könnte doch fliehen,“ sagte ich …

Harst lacht bitter …

„Fliehen?! Vor einem Amalgi?!“

Da sagte ich nichts mehr – nichts …

Und eine lange Zeit verstrich, bevor Harald wieder begann:

„Es muß mit dieser Glücksnuß noch eine besondere Bewandtnis haben, um …“

… Amalgi war neben uns aufgetaucht … Grüßte … Kam näher … Stand vor der Bank …

„Es war mir recht interessant,“ sagte er, „aus Ihrem Munde, Herr Harst, so viel schmeichelhafte Ausdrücke über meine Person zu hören …“ Obwohl er seine Stimme zu gleichgültigem Ton zu zwingen suchte, loderten seine Augen doch in einem bedrohlichen Glanz. In den Tiefen dieser schwarzen Pupillen war ein Flackern und Flimmern, das alles – alles befürchten ließ … „Auch Ihr Besuch in meiner … Ahnengalerie war mir neue, Herr Harst … – Bedauern Sie im übrigen sieben von jenen acht Halbtoten nicht …! Denn diese sieben Kreaturen, die mich zu dem gemacht haben, was ich heute bin … Alles Verwandte von mir, Herr Harst, – Gelichter schlimmster Art …“

Sein Gesicht verzog sich wie im Krampf. Ein unbändiger Haß leuchtete aus seinen Zügen …

Dann wandte er sich um …

Vor der Bank lag ein großer Stein …

Er bückte sich, – und hob den Stein empor …

Da sahen wir, daß von dem Stein zwei dicke Drähte in die Erde liefen, und daß der Stein in einer breiten Spalte ein gut verborgenes Mikrophon enthielt …

So also war jedes unserer Worte belauscht worden – – so!!

Amalgi legte den Stein nieder, verneigte sich und ging.

Wir saßen und regten uns nicht …

In uns war nichts als ein Gefühl übergroßer Hilflosigkeit …

Nicht einmal sprechen konnten wir hier miteinander …

Gefangen – dauernd belauert …

Und – – fliehen?!

Wie – – nur?!

 

2. Kapitel.

Flucht.

Der alte bucklige Mann dort im Kahn, der harmlose Angler, hatte sich jetzt auf der Ruderbank anders gesetzt, wie ich zufällig bemerkte, mit dem Gesicht nach uns hin … Er trug eine Brille, die ihm halb auf die Nase gerutscht war … trug eine blaue Schirmmütze, die er sich weit ins Genick geschoben hatte …

Harst brachte seinen Mund dicht an mein Ohr und flüsterte:

„Du tust ganz recht daran, dem Alten einige Aufmerksamkeit zu schenken … Er angelt gar nicht … Die beiden Angelruten, die er ausgelegt hat, sind nicht mit Angelschnüren, sondern mit Drähten versehen, die ins Wasser hinabreichen. Ich denke, zwischen dem Alten und der Villa wird eine drahtlose telephonische Verbindung bestehen, – ein weiterer Beweis, daß wir hier in einer hochmodernen Rattenfalle sitzen … Aber … Ratten haben scharfe Zähne, und … der Weiher, über dem sich unser Gartenhäuschen erhebt, ein Verbindung nach dem Peetzsee, die du wohl gesehen haben wirst, lieber Alter …“

Nun – ich hatte diese Verbindung allerdings nicht gesehen …! Das war hier jedoch völlig gleichgültig. Die Hauptsache blieb: Harald schien trotz aller Hindernisse bereits einen Plan entworfen zu haben, wie wir diesem Satan und seinen Helfershelfern entschlüpfen könnten.

Kein Wunder also, daß sich meine Stimmung augenblicklich um einige zehn Grad hob, und daß ich dem sogenannten Angler da draußen vor dem Schilfgürtel am liebsten eine lange Nase gemacht hätte … mitunter kommt man eben in der Freude seines Herzens auf ganz verrückte Gedanken … –

Ich muß hier noch erwähnen, daß wir unsere Verkleidung vorhin im „Wasserpavillon“ insofern abgelegt hatten, als wir die falschen Bärte und die Perücken abgenommen hatten, da sie uns nur lästig waren und da Amalgi uns in keiner Weise nahegelegt hatte, maskiert zu bleiben. Er hatte uns dann jetzt soeben auch mit glatten Gesichtern gesehen und nichts dazu gesagt.

Harald erhob sich nun, meinte ganz laut …:

„Wollen uns den Park genauer anschauen … Ich muß mir etwas Bewegung machen …“

Ich ahnte schon: diese Besichtigung galt der Verbindung des Mummelteiches mit dem Peetzsee!

Wir schlenderten davon … Urplötzlich tauchte da vor uns ein magerer Mensch mit kittgrauem Gesicht auf … Ein Mensch, der nur der Famulus des Doktors sein konnte, denn dieses Gesicht hatte tatsächlich etwas Leichenhaftes an sich …

„Gulling,“ stellte er sich mit piepsender Stimme vor … „Gulling, jetzt der Vertreter meines Herrn … – Ich befehle Ihnen, daß Sie Ihre Bärte und Perücken stets anlegen, wenn Sie sich dem Seeufer nähern wollen …“

„Wie Sie wünschen, Herr Gulling,“ erwiderte Harald höflich … Und fügte hinzu: „Ich gehe wohl nicht fehl, wenn ich annehme, daß der Angler dort beständig telephonische Verbindung mit der Villa unterhält …“

Der Leichenkopf grinste …

„Sie haben einen feinen Riecher, Herr Harst … Jedenfalls ist der Herr Doktor Amalgi ein Künstler in jeder Beziehung – auch darin, sein Besitztum hier so gründlich zu schützen, daß kein Fremder hinein- oder hinausgelangt …“

Verbeugte sich – – schritt davon, etwas schleppenden Ganges …

Harald schob seinen Arm in den meinen … Wir schlenderten einen mit Unkraut bedeckten Weg entlang, bis wir am Ufer eines etwa vier Meter breiten Kanals, dessen Ufer durch Pfähle abgestützt waren, halt machten …

„Die Verbindung,“ flüsterte Harald …

Nach links zu, etwa zwanzig Meter weiter, mündete dieser Kanal in den See. Dort lag auch das Motorrennboot vertäut … Dasselbe Boot, in dem das Scheusal Amalgi gestern an uns vorübergesaust war …

Dieses Boot stach mir in die Augen … Wenn wir damit entwischen konnten, würde uns niemand einholen können … Im Nu würden wir aus dem Bereich der geheimnisvollen Strahlen des gefährlichen Spiegels sein, der doch offenbar nur wirkte, wenn die Strahlen die Augäpfel trafen.

Neben mir jetzt Haralds ärgerliches Raunen:

„Sei nicht so unbegabt, zum Donner …!! Was stierst du das Boot an!! Willst du die Schufte vorzeitig warnen?!“

Und wieder zog er mich mit sich fort – dem Weiher zu …

Wir erstiegen die Holztreppe und betraten unser Heim, unseren Pfahlbau … –

Wenn mir hier in diesem Bändchen mehr Raum zur Verfügung stände, würde ich dem freundlichen Leser gern in aller Ausführlichkeit berichten, wie wir diesen Tag verbrachten. So aber muß ich mich darauf beschränken zu erwähnen, daß die Mahlzeiten reichlich und tadellos waren, daß es gegen Abend wieder stark windig und wolkig wurde, und daß gegen elf Uhr ein orkanartiger Sturm über den großen Park hinwegbrauste.

Unsere Betten in dem Schlafgemach, das mehr als Stübchen zu bezeichnen war, standen sich an den fensterlosen Längswänden gegenüber. Zwischen den Betten war nur ein freier Raum von etwa ein Meter Breite. Der Fußboden war mit Linoleum belegt, über den noch ein großer Bettvorleger ausgebreitet war.

Wir waren gegen halb elf schlafen gegangen. Ich brauchte mir keine Mühe zu geben, wach zu bleiben, denn der Lärm, den der Sturm draußen verursachte, war so stark, daß selbst die besten Nerven sehr bald bei diesem Gemisch verschiedenartigster Geräusche rebellisch geworden wären …

Kurz nach elf (ich hatte meine Taschenuhr mit ihrem Leuchtzifferblatt in der Hand behalten) begann es noch zu regnen.

Knatternd schlugen die vom Orkan gepeitschten Tropfen gegen die Fensterscheiben …

Tiefe Finsternis ringsum …

Ich wußte, daß Harald etwas vorhatte …

Vielleicht arbeitete er auch bereits an unserer Befreiung.

Dann – gegen zwölf … strich eine Hand über mein Gesicht hin …

Eine Stimme flüsterte mir ins Ohr:

„Auf!! Jetzt oder nie!! Es regnet noch stärker … Ich habe hier zwischen unseren Betten eine Art Leiter aus Tischen und Stühlen aufgebaut … Gib mir die Hand … Wir müssen durch die Dachluke ins Freie … in unseren Schlafanzügen – wie wir sind … Wir lassen alles hier, nur die Pistolen nehmen wir mit … – vorwärts … taste dich vorsichtig nach oben … Über dem Dache ist ein Buchenast, den ich im Sprunge zu erreichen hoffe … Ich ziehe dich dann empor …“

Und – – es glückte …

Ich schob mich durch die kleine Dachluke … Der Regen peitschte mir ins Gesicht … Im Augenblick war ich völlig durchnäßt … Nicht die Hand vor Augen war zu sehen … Ich stand aufrecht, reckte die Arme hoch, – – Harald war schon oben auf dem nicht allzu starken Ast, der sich unter seinem Gewicht offenbar gesenkt hatte. Ob der Ast uns beide tragen würde?!

Jetzt fühlte ich Harsts Hände …

Ein Ruck …

Ich schwebte … wurde hochgezogen, lag nun mit dem Bauch über dem wippenden Ast, zitternd vor Erregung, zitternd vor Angst, daß wir entdeckt werden könnten …

Nichts geschah …

Ich erreichte den Stamm des Baumes, tastete mich hinab, fühlte wieder Haralds Hand, fühlte das Wasser des Teiches.

Wir schwammen …

Wußten nur ungefähr die Richtung …

Und gelangten doch in den Kanal …

Gelangten bis zum vertäuten Rennboot …

Es goß weiter …

Ich schwang mich an Bord … Harald hatte die Persenning, die Leinenhülle des Decks, bereits zerschnitten …

Harald raunt mir zu:

„Das Tau losmachen …! Wir werden sofort sehen, ob der Motor anspringt …“

Das Tau ist gelöst …

Ich spüre, wie das Boot vom Ufer weggleitet …

Dann – – ein Surren, Rattern …

Triumph: der Motor arbeitet …

Das Boot schießt durch die Lücke des Schilfes …

Der Motor faucht, tobt, saust, rumort …

Wie ein flüchtender Hai, der in flaches Wasser geraten, rast das Boot in den See hinaus …

Triumph!! Gewonnen!! Gewonnen!!

Da – – ein mächtiger Ruck …

Als ob das Boot am Heck durch eine Trosse festgehalten würde …

Die Schraube saugt das Heck tief ins Wasser … Undeutlich sehe ich, daß zwei Gestalten plötzlich neben uns auftauchen …

Eine Laterne blitzt …

Herr Gulling ruft mit seiner unreifen Stimme:

„Stellen Sie den Motor ab, Herr Harst … Es ist zwecklos …“

Und … Harald, vom Laternenlicht umspielt, gehorcht …

Ich begreife nichts …

Wie in aller Welt sind die beiden Halunken an Bord gelangt?!

Woher kam die Trosse, die den Lauf des Rennbootes hemmte?!

Aber – zum Nachdenken hatte ich keine Zeit mehr …

Gulling setzt sich ans Steuer …

Der alte Bucklige, der Angler, hält die Laterne …

In der Linken …

In der Rechten etwas, das wie ein Fön-Apparat aussieht …

Das kann nur der verhängnisvolle Spiegel sein …!!

Und – wir beide, zahm wie die Lämmer – werden wieder an Land geschafft … Das Boot legt an … Wir müssen aussteigen …

Da ist tatsächlich am Heck eine Stahltrosse, die vorhin, als wir flüchteten, bestimmt nicht da war …!

Sagt Gulling schon:

„Bitte – in Ihr Heim, meine Herren … Morgen früh findet sich das weitere …“

Und wir tappen hinter ihm drein …

Hinter uns der Bucklige mit dem Spiegel …

Wir steigen die Treppe zu unserem Pfahlbau empor …

Und Gulling schließt die Eingangstür von außen ab …

Wir schlüpfen in den nassen Schlafanzügen, die wir lediglich ausgewunden haben, ins Bett … Die Nachttischlampe brennt … Mir klappern die Zähne im Munde wie im Fieber …

Morgen – – morgen das weitere! hat der bleiche Teufelsgehilfe Gulling gesagt …

Vielleicht werden wir morgen gleichfalls in Amalgis Ahnengalerie in Holzkästen liegen und das Grauen des Starrkrampfes nochmals kennenlernen …

Und doch – selbst diese bange Furcht vor der Zukunft tritt zurück vor der ungelösten Frage: Wie hat man das Rennboot aufgehalten? Woher die Stahltrosse? Woher Gulling und der Alte, die erst unterwegs an Bord gekommen sein konnten? Aber – – wie?!

Da löscht Harald die Nachttischlampe aus …

Dunkelheit …

Draußen tobt das Unwetter weiter …

 

3. Kapitel.

Auf dem Grunde des Weihers.

Harald hat die Lampe mit dem gelben Seidenschirm ausgeschaltet …

Harald schlüpft zu mir ins Bett …

Kopf an Kopf liegen wir …

Er flüstert – und in seiner gedämpften Stimme klingt unendliche Verachtung:

„Dumm sind die Kerle trotz allem …! – Unsere künstliche Steigeleiter werde ich sofort wieder aufrichten … Dann ein zweiter Versuch!“

„Wahnwitz wäre das!“ raune ich zurück …

Er lacht lautlos …

„Ein Witz wird’s – ein feiner Witz, mein Alter … Die Schufte haben sich verraten … Ich bin dem Herrn Doktor wieder hinter eins seiner Geheimnisse gekommen! Und – – ein leerer Wahn ist’s von unseren drei Wächtern, daß wir uns hier festhalten lassen! – Ich baue jetzt die Stuhl- und Tischpyramide von neuem … Dann geht’s auf demselben Baumwege zum Ufer des Weihers – wie vorhin … Die Kerle werden kaum annehmen, daß wir die Kühnheit besitzen, jetzt sofort nochmals zu fliehen …“

Er will aus dem Bett …

Ich halte ihn fest …

„Harald, es kann uns das Leben kosten!“

„Niemals! Habe nur Vertrauen zu mir …“

Und – hinaus ist er …

Ich sehe nichts, höre nichts …

Bis er mich berührt …

„Vorwärts!“

Nur sehr widerstrebend kletterte ich in dieser Finsternis zur Luke empor …

Es regnet schwächer …

Die Bäume rauschen, brausen …

Wir sind auf der Buche … Wir sind am Rande des Teiches, liegen im Grase …

Flüstert Harst:

„Warte hier … Ich muß tauchen …“

Er verschwindet – lautlos …

Die Zeit fliegt …

Endlich – – er ist wieder neben mir – Kopf an Kopf …

Flüstert wieder:

„Du wirst staunen – – staunen!! Amalgi hat sich für alle Fälle ein Werkzeug zur Flucht geschaffen, falls man ihm, dem Wohltäter von Grünheide, einmal auf die Spur kommen sollte … – Folge mir … Hinein in den Weiher …

Wir schwimmen …

Vor mir, um mich herum das Dunkel der Unwetternacht.

Bis meine Hände vor mir etwas Metallisches berühren.

Bis Harald mir auf den gewölbten Leib eines merkwürdigen Bootes emporhilft …

Hinein in einen kleinen Turm, dessen Deckel aufgeklappt ist …

Ich beginne zu begreifen … Und obwohl mein Verstand sich dagegen sträubt, die Tatsache bleibt doch bestehen: es ist ein winziges U-Boot, in dem wir uns nun befinden, das nun langsam durch den Kanal schleicht mit still arbeitendem Elektromotor … Ein winziges U-Boot, das jetzt an dem Rennboot vorüber in den See flüchtet …

In den See …

Hinab – – unter Wasser – – mit geschlossenem Turmdeckel …

Ein Miniatur-Tauchboot, vielleicht sechs Meter lang …

Und doch ein Wunder der Technik …

Unter Wasser flüchten wir – – bis der Boden des Bootes über sandigen Grund schleift …

Deckel des Turmes auf …!!

Wir liegen dicht am Ufer der Insel des Peetzsees … In der noch tieferen Finsternis des Baumschattens, umwogt von Röhricht, halb festgefahren auf dem Grunde … Aber hier trifft uns der rauhe Südwest nicht, hier ist vom Sturm kaum etwas zu spüren … Die Insel ist unser Windschirm, und die hohen Rohrstengel unsere Deckung …

Wir warten …

Warten auf Verfolger …

Niemand taucht auf … Das Rennboot zeigt sich nicht.

Warten zehn Minuten, dann erst steigt Harald wieder in den kleinen Turm hinab und schaltet das Licht ein, bedient wieder die Hebel …

Langsam schiebt sich Amalgis Miniaturtaucher wieder in offenes Wasser hinaus …

Langsam wendet das U-Boot und schleicht durch dünnen Regen und fauchende Windstöße in den Grünheider Kanal hinein … unter der hellen Zementbrücke hindurch – hinein in den Werlsee, gen Norden bis zu der Anlegebrücke des Hotel Werlnixe …

Wir vertäuen das kleine Fahrzeug in aller Stille …

„Was nun?“ frage ich …

„Postamt!“ erwidert Harald nur …

Und in unseren durchweichten Schlafanzügen geht’s hinauf zu dem kleinen Häuslein, in dem das Grünheider Postamt untergebracht ist …

Der dort wohnende Beamte wird herausgeklingelt … Ein jüngerer Mann, der uns wie Spukgestalten der Hölle mustert … Wir sehen ja auch nicht gerade sehr vertrauenerweckend aus … Im Gegenteil: beide stoppelbärtig, ohne Kopfbedeckung, vor Nässe triefend, – mehr Strolche als das, was wir nach Ansicht des Publikums, der großen Welt sind: Gentlemandetektive!

Harst nennt dem Beamten seinen Namen …

„Ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie sich die größten Unannehmlichkeiten zuziehen würden, wenn Sie auch nur ein Wörtlein davon verraten, daß ich hier nach Berlin telephoniert habe … – So, nun lassen Sie uns bitte allein …“

Der Beamte, dessen gesundes, offenes Gesicht sehr für ihn einnimmt, meint höflich:

„Wenn ich Sie nicht nach den von Ihnen veröffentlichten Bildern wiedererkennen würde, Herr Harst, müßte ich mißtrauisch werden …“ Er lächelt ein wenig … „Darf ich den Herren vielleicht mit trockenen Anzügen aushelfen?“

„Vielen Dank … Wir haben es eilig …“

Der gutgenährte Stephansjünger, dem die Grünheider Luft offenbar tadellos bekommt, begibt sich in den Nebenraum. – Harald ruft eine bestimmte Nummer des Berliner Polizeipräsidiums an, wo wir vom ersten bis zum letzten Beamten herab gute Freunde haben … Kriminalkommissar Doktor Lüttge ist im Präsidium. Harst teilt ihm nur das Notwendigste mit und gibt ihm genaue Verhaltungsmaßregeln.

„Die Trauung des jungen Paares, lieber Lüttge, wird ja erst um die Mittagsstunde in Werder stattfinden, ebenso der standesamtliche Akt vorher … Wenn Sie um zehn vormittags in Werder sind, genügt’s um die Eheschließung zu verhindern. Verhaften Sie Amalgi in aller Stille und schaffen Sie ihn, das Mädchen und die Eltern sofort hierher. Eine Überwachung des hiesigen Besitzes dürfte sich erübrigen … – Haben Sie noch etwas zu fragen?“

Lüttge verneint. Harst hängt ab. Wir bedanken uns bei dem Postbeamten und eilen wieder in die laue Julinacht hinaus.

Das Wetter hat sich nicht geändert …

Es ist jetzt zwei Uhr morgens …

Es regnet, stürmt … Der Himmel schwarz mit Wolken bedeckt … Auf den Straßen Grünheides keine Seele … Wachthunde kläffen hinter den Gartengittern. Vor dem Hotel Crahé brennt eine einsame Lampe – die ganze Straßenbeleuchtung!

Harst eilt im Geschwindschritt der Anlegebrücke zu …

Das Miniatur-Tauchboot ist noch da …

Wir klettern an Bord …

Ich erlaube mir zu fragen. „Und jetzt?“

„Heimwärts, mein Alter, – in unseren Pfahlbau …“

„Wirklich?“

„Was sonst ?! – Unsere Flucht ist nicht entdeckt worden … Wir haben also Aussicht, unbemerkt das U-Boot wieder in den Weiher zu bringen und ebenso unbemerkt unser Häuschen zu erreichen. Gefahr für uns besteht nicht mehr. Selbst wenn Amalgis Kumpane uns heute morgen etwa irgendwie des Fluchtversuchs wegen bestrafen, werden Kriminalbeamte uns heraushauen … Die Trümpfe haben wir jetzt in der Hand … – Los mit den Tauen – – Abfahrt! Dort im Osten zeigt sich schon ein lichter Streifen … Es wird Tag …“

Abermals gleitet das kleine Fahrzeug durch den Grünheider Kanal – in den Peetzsee … in die Einfahrt zu dem Grundstück Amalgis, durch den schmäleren Kanal in den Teich …

Wir stehen in dem winzigen Turm …

Harst gibt mir kurz Aufschluß, wie er auf die Vermutung gekommen, daß nur ein U-Boot uns beide auf dem Rennboot verfolgt haben könnte …

„Die Stahltrosse – – die beiden Leute so plötzlich bei uns an Bord, – und doch kein anderes Fahrzeug sichtbar: da gab es eben nur die eine Erklärung! – Und auch meine Annahme, daß das kleine Tauchboot auf dem Grunde des Weihers läge, stimmte, ferner, daß an der Außenseite des Decks sich ein Hebel befinden müsse, der das Boot von seinem Wasserballast befreite und aufsteigen ließ. Ich fand den Hebel, während du im Ufergrase lagst. Ich mußte freilich dreimal in die Tiefe hinab, bevor ich den Hebel entdeckte.“

Undeutlich gewahrten wir jetzt dicht vor uns die dicken Eichenpfähle, die unser Heim trugen …

Das Boot hielt … Harald schloß die Luke … drückte den Außenhebel nach links. Langsam versank das Boot. Wir schwammen zum Ufer, erkletterten die Buche, kletterten auf dem Ast entlang, kamen wohlbehalten in unser Schlafstübchen.

Zogen die nassen Anzüge aus, frottierten uns gegenseitig die durchkälteten Leiber, tranken jeder einen Schluck Kognak und legten Oberhemden anstelle der Schlafanzüge an …

Ein wohliges Gefühl von Wärme durchrieselte meinen Körper, als ich mich nun im Bett behaglich ausstreckte …

Die Nachttischlampe hatten wir nicht eingeschaltet gehabt, hatten alles im Dunkeln erledigt. – Harst rauchte im Bett noch eine Mirakulum … Ich sah das rote, glühende Pünktchen sich zuweilen wie ein Glühwürmchen bewegen. Dann kam die Müdigkeit … Meine Gedanken verwirrten sich. Und in jenem Zustand zwischen Traum und Wachsein, wo Wirklichkeit und Traumbilder sich so phantastisch zu vermischen pflegen, erschien vor meinen Augen eine riesengroße Kokosnuß, in der geheimnisvoll ein faustgroßer Diamant funkelte und sprühte …

Dann schlief ich ein …

Bleiern tief und fest war mein Schlaf … Nicht weiter wunderbar …! Was hatte ich in den letzten vierundzwanzig Stunden alles durchgemacht!! Nur ein an Strapazen gewöhnter Körper, nur ein an unerhörtes Geschehen gewöhnter Geist ist imstande, derlei Aufregungen zu überwinden …

Wie ein Toter schlief ich …

Träumte trotzdem … Und wenn ich so träume, ist zumeist Logik in den schnell dahinhuschenden Traumgesichten …

Ich stand in dem Gewölbe unterhalb der großen Terrasse … Vor der Reihe von Holzkästen, in denen die Lebendig-Toten lagen, als achter Gerhard Berner … Da waren aber noch zwei neue Särge … Und in dem einen erkannte ich mich selbst, – starr, reglos, mit offenen Augen, den Blick stier ins Leere gerichtet … In dem anderen lag Harst …

Diese Reihe von zehn Holzkisten mit ihrem entsetzlichen Inhalt, – dieser Anblick meiner eigenen vom Starrkrampf gelähmten Gestalt ließ mich mit einem Schrei hochfahren …

Mit weit aufgerissenen Augen saß ich im Bett …

Heller Tag …

Sonne umspielte die Fenster … Sonne schlich ins Stübchen, schlich durch die Spalten der Vorhänge, zog über mein Bett einen leuchtenden Strich, der sich auf dem dunklen Anzug eines zwischen unseren Betten stehenden Menschen fortsetzte. …

Der Mann war … Doktor Georg Amalgi!

Noch immer Traum?!

Wie kam Amalgi um diese Zeit hierher?! Heute war doch sein Hochzeitstag, und es konnte jetzt kaum neun Uhr vormittags sein, schätzte ich …

Traum?! – – Nein – – auch Harald saß aufrecht … Und ich hörte draußen deutlich die Vögel jubilieren, die Schwalben zwitschern … Und sah das dünne Lächeln um Amalgis schmale, grausame Lippen, hörte ihn sagen: „Guten Morgen, meine Herren …!“

Er … war im Frack … Mit weißer Binde … Im Knopfloch des Frackaufschlages ein Myrtensträußchen[4]

Tadellose Figur machte er im Frack … Der Neid mußte es ihm lassen …

Wiederholte: „Guten Morgen … Sie dürfen mir gratulieren, meine Herren … Ich bin glücklicher Ehemann … Gestern nachmittag wurden Gertrud und ich in aller Stille standesamtlich verbunden, und heute früh acht Uhr fand ebenfalls in Werder die kirchliche Feier statt … Eigentlich wollte ich mit meiner Frau sofort auf die Hochzeitsreise gehen … Aber einen Depesche meines Famulus brachte mich auf einen anderen Gedanken … Das Hochzeitsmahl wird nun im engsten Kreise hier stattfinden … Sie erlauben, daß ich Sie beide dazu einlade …“

Die ganze satanische Bosheit dieses genialen Ungeheuers zeigte sich in diesen hohntriefenden Worten …

In der halb erhobenen Rechten hielt er das Ding, das wie ein Fönapparat aussah …

Lächelte fortwährend …

Harald erwiderte kühl (ein Wunder, daß er sich angesichts der für uns so niederschmetternden Tatsache der bereits vollzogenen Ehe derart beherrschen konnte):

„Wir nehmen die Einladung an, Herr Doktor …“

„Werden Sie wohl müssen, Herr Harst … – Wie hat Ihnen mein U-Boot gefallen? Ein reizendes Spielzeug, nicht wahr?! Und der Postbeamte war so überaus entgegenkommend …! Schade nur, daß ich die Telephonleitung längst angezapft habe, und jedes Gespräch mit abhören kann … Ich sagte Ihnen ja: Ich habe mich gesichert – – auch heute! So habe ich mir zum Beispiel erlaubt, an Kommissar Doktor Lüttge eine Depesche folgenden Wortlauts zu schicken: „In bewußter Sache vorläufig nichts unternehmen. Harst.“ Mithin bleiben wir hier hübsch unter uns, meine Herren, und wir können das Hochzeitsfest ungestört bis zur Neige auskosten …“

Ich fühlte, daß ich erbleichte …

Erbleichte – – mit Recht!! Denn nun waren wir ja diesem Scheusal auf Gnade und Ungnade ausgeliefert! Nun würde sich vielleicht mein Traum wirklich erfüllen und die Zahl der Holzkisten in der Ahnengalerie um zwei vermehrt werden!!

Und wie ich dies dachte, drängte sich in die bang flatternden Gedanken eine andere Frage ein: „Weshalb nannte wohl Amalgi das Gewölbe seine Ahnengalerie?!“

Und dieser Amalgi schaute jetzt den besiegten Harst mit einem unendlich überlegenen höhnischen Blick an …

„Haben Sie noch irgend etwas zu bemerken, Herr Harst?“ fragte er mit jener Liebenswürdigkeit, die nichts anderes ist als bewußte Ironie einem Wehrlosen gegenüber …

„Ich hätte schon etwas zu fragen, Herr Doktor,“ meinte Harald, indem er nach seinem auf dem Nachttischchen liegenden Zigarettenetui griff und eine Mirakulum herausnahm … „Sie gestatten im übrigen, daß ich rauche,“ fügte er hinzu. „Ihre Mitteilungen haben mich ein wenig überrascht … Kein Wunder weiter … Ich glaubte mich Sieger und bin doch der Unterlegene …“

Er rieb ein Zündholz an …

Amalgi zog einen Stuhl herbei und setzte sich …

„Fragen Sie, Herr Harst …“

„Gut denn … War die Bara Koko, die Glücksnuß, wirklich Torellis Eigentum?“

Ein mißtrauischer Blick schoß aus den schwarzen Augen Amalgis zu Harald hinüber …

„Was liegt an der Nuß!“ antwortete er dann mit einer wegwerfenden Handbewegung …

Harald formte einen wohlgelungenen Rauchring … „Ich glaube, Herr Doktor, die Nuß ist Ihr Eigentum und Ihnen überaus wertvoll … So wertvoll, daß Sie dieselbe selbst hier in Ihrer Festung nicht für sicher genug hielten und sie daher Ignaz Torelli zur Aufbewahrung übergaben …“

Pause …

Endlose Pause …

Merkwürdig, daß Amalgi mit so stark gerunzelter Stirn zu Boden blickte …

Was war’s mit der Nuß?! Was?!

 

4. Kapitel.

Die Brille auf der Nuß.

Endlose Pause …

Bis Harald sagt: „Es war für Sie wohl eine böse Überraschung, als Sie erfuhren, daß Ihre Braut gerade die Bara Koko uns als Honorar nächtlicherweile am Birnbaum befestigt hatte?“

Amalgis Kopf schnellte hoch … „Also war Gertrud wirklich nicht persönlich bei Ihnen?“ fragte er überhastet …

Harst erwiderte, ohne auf diese Frage einzugehen:

„Ich weiß, daß Sie Gertrud Torelli zur Ehe gezwungen haben, weil Sie ihren Vater jederzeit ins Zuchthaus bringen könnten. Das Mädchen liebte Berner und hat sich nur geopfert …“

Amalgi stand auf und stützte sich schwer auf den Rand des Fußteiles von Haralds Bett … Seine Stimme war dumpf und schwer, als er sagte:

„So … so weiß Gertrud also, daß ich mit Torellis Hilfe meine lieben Verwandten …“

Und – – brach mitten im Satz ab, hatte sich wohl darauf besonnen, daß ein Harst ein Künstler im Ausforschen war …

„Ja,“ nickte dieser Harst, „Torelli hat Ihnen geholfen, Ihre Verwandten verschwinden zu lassen – sieben an der Zahl – – der Erbschaft wegen!“

Da lachte Amalgi schallend heraus …

„Köstlich!! – – Ihre Phantasie in Ehren, Herr Harst … Aber hier sind Sie auf dem Holzwege …! – Was es mit meiner Ahnengalerie auf sich hat, sollen Sie noch zeitig genug erfahren. – Ich wünsche Ihnen einen vergnügten Tag, meine Herren … Auf Wiedersehen um neun Uhr abends … Dann beginnt das Festessen …“ – Verbeugte sich, ging …

Harst schaute ihm mit einem merkwürdigen Blicke nach …

Wandte den Kopf nach mir hin …

Lächelte …

„Also erheben wir uns, mein Alter … Die Sonne lockt.“

Schon war er aus dem Bett …

Und gegen halb elf saßen wir draußen im Park in einem offenen Pavillon und frühstückten. Der Bucklige, der „Angler“ bediente uns … wortlos, schweigsam …

Feuchtwarmen Dunst lockten die sengenden Sonnenstrahlen aus dem regendurchtränkten Erdreich des Parkes hervor. Trotz des nur schwach bewölkten Himmels war die Luft schwül und mit Elektrizität übersättigt … Man konnte wähnen, sich in den Tropen zu befinden …

Von diesem Pavillon aus (es gab ja ein Dutzend von Häuschen in dem weiten verwilderten Garten) überschaute man den größten Teil des Peetzsees mit der Insel.

Der Peetzsee lag heute still und friedlich da. Kein Lüftchen regte sich. Mit bloßem Auge konnte ich drüben am Inselufer die braunen Wohnzelte erkennen …

Jetzt bog vom Löcknitzkanal her eine große Motorjacht um die Insel herum und hielt auf Grünheide zu …

Diese Jacht mit den blitzenden Fenstern der Wohnkajüte, dem blendend weißen Anstrich und der Marineflagge am Heck kam mir sofort eigentümlich bekannt vor …

Ich blickte schärfer hin …

Kein Zweifel: es war Doktor Lüttges Jacht Medusa! Denn der Kommissar kann sich so etwas leisten, ist schwerreich, ist mehr aus Neigung Beamter … – So manche vergnügte, gemütliche Stunde haben wir auf der Medusa verlebt, haben mit Lüttges Kollegen Bechert, unserem Intimus, die Jacht auch einmal für ernstere Zwecke benutzt …

Und mein Blick wandert nun zu Harald hin … Wir sehen uns an … Das genügt … Wir triumphieren … Lüttge scheint der Depesche doch nicht so recht getraut zu haben, kommt nun ganz harmlos als Ausflügler mit einigen „Bekannten“ nach Grünheide!

Ich zähle auf der Medusa sechs Herren, alle im Sportdreß …

Näher und näher schiebt sich die elegante Jacht dem Grünheider Kanal zu …

An Bord drüben hat einer der Herren ein Fernglas an den Augen, scheint den Pavillon zu mustern, läßt das Glas nun sinken, nimmt die Mütze ab …

Es ist Fritz Bechert!!

Und Harst hebt den linken Arm, beschreibt einen Kreis.

Ein längst vereinbartes Zeichen, das bedeutet: Abwarten!!

Die Jacht verschwindet im Kanal …

Wir beide setzen das Frühstück mit doppeltem Appetit fort … Jetzt ist Doktor Amalgi geliefert – – jetzt werden dieses Festessen und dieser Hochzeitsabend anders enden als der Doktor denkt!

Ein wohliges Gefühl von Sicherheit verdrängt in mir selbst die letzten Reste des Grauens vor den teuflischen Erfindungen Amalgis …

Die Sonne scheint mir jetzt heller denn je zu scheinen … Ich fühle die Freude an der Sonnenpracht der Natur wieder in meiner Seele aufglühen. Mein kleines Poetenherz überlegt bereits, wie ich meiner Lesergemeinde den Fall Amalgi schildern werde … –

Wir sind mit dem Frühstück fertig. Der Bucklige erscheint lautlos und räumt den Tisch ab … Sein von Pockennarben durchlöchertes Gesicht mit dem grauen schütteren Vollbart hat einen merkwürdig geistesabwesenden Ausdruck. Die halb von grauen Schleiern des Alters überzogenen Augen scheinen durch die Dinge hindurchzusehen – etwa wie die eines Irren, der sich einbildet, erblindet zu sein. Bisher haben wir mit dem Manne kein Wort gewechselt, kennen nur seinen Vornamen: Hubert.

Als er nun die Teller auf das Tablett stellt, fragt Harald:

„Hubert, Sie waren’s, der in der vergangenen Nacht das U-Boot lenkte …“

Der alte Mann blickt Harst verständnislos an …

„U-Boot?! Ich weiß nichts von einem U-Boot … Was meinen Sie damit, Herr? Der Doktor besitzt nur die kleine Rennjacht …“

„Es war ein Scherz,“ erklärt Harald gleichgültig …

Und der Alte schiebt mit dem Tablett ab …

Harst beugt sich über den Tisch … Flüstert so leise, daß ich mein Gehör aufs äußerste anstrengen muß. „Amalgis drei Diener hier sind Puppen, Marionetten … Sie leben Ihr Leben hier zumeist in einem Zustand von tiefer Hypnose … Sie sind Automaten, die alles wissen, alles tun und doch nichts wissen, nichts tun, was nicht dem Willen ihres Herrn und Gebieters entspringt. Amalgi ist überaus vorsichtig … Er besitzt keinen einzigen Vertrauten, behaupte ich, – vielleicht nur das Ehepaar Torelli, und auch diese Zirkusleute nutzt er lediglich aus. Ich bin gespannt, wie sich … die Ahnengalerie aufklären wird …“

Der Tisch, an dem wir hier im Pavillon sitzen, ist mit einer kostbaren Filetdecke belegt. Es ist ein Holztisch, morsch, alt, verwittert, mit einem einzigen Fuß in der Mitte, einem Stück Birkenstamm von Schenkeldicke …

Kaum hat Harald den letzten Satz beendet, als zu unserem nicht geringen Schreck eine Stimme aus der Mitte der Tischplatte ertönt – Amalgis Stimme – durch das weite Gewebe der Filetdecke hindurch …

„Sie haben ganz recht, meine Herren: meine drei Diener sind Marionetten ohne eigenes Hirn. Im übrigen teile ich Ihnen mit, daß die Motorjacht Medusa drüben auf dem Werlsee vorhin einen merkwürdigen Unfall erlitten hat. Sie muß auf ein Hindernis aufgerannt sein und hat ein so starkes Leck davongetragen, daß sie in zwei Minuten wegsackte und das auf ihr befindliche Polizeiaufgebot mit knapper Not nicht mit … ersoff – entschuldigen Sie den vulgären Ausdruck … Nun sind die sechs Herren im Hotel Crahé, trocknen ihre Kleider und haben einen Zettel mit Harald Harsts Handschrift empfangen, daß sie ja nichts unternehmen möchten, bevor Harst ihnen nicht genauere Anweisungen gegeben hat, da die Verdachtsmomente gegen den Doktor Amalgi sich größtenteils als hinfällig erwiesen haben …“

Ich konnte nicht anders …! Mir entfuhr ein wütendes „Sie Satan!!“ worauf aus dem Tische ein harmloses Lachen kam und die Worte:

„Herr Schraut, vielleicht lernen Sie milder über mich denken … Auf Wiedersehen abends …“

Schluß mit dieser Unterredung war’s nun …

Und wir beide saßen wie die berühmten Lohgerber da, denen die Felle weggeschwommen sind …

Natürlich hatte Amalgi die Jacht durch sein Tauchboot rammen lassen …!! – Was gab’s, das dieser Mensch nicht fertig brachte – was?! Wo war man vor ihm sicher? – Nirgends!!

Und das schlimmste: Jetzt durften wir auf Becherts und Lüttges Eingreifen nicht mehr rechnen! Jetzt nahmen unsere Freunde an, die Dinge hätten hier einen vollkommenen Umschwung erfahren … –

Wie die Lohgerber …!! Selbst mein alter Harald zerkrümelte seine erst halb aufgerauchte Mirakulum nervös zwischen den Fingern …

Wehrlos, machtlos waren wir …

Über uns schwebte beständig wie ein Damoklesschwert der niederträchtige Spiegelapparat mit seinen verderblichen Strahlen – der Starrkrampf-Fön!

Gut zehn Minuten regten wir uns kaum. Dann erhob Harald sich …

„Gehen wir …“

Da war an der Westseite des Parkes eine Art Wiese, von mächtigen Haselnußstauden umgeben … Kniehoch das Gras … Hin und wieder ein Busch … Und mitten in dieser grünen Wildnis erhob sich eine Nachbildung der Venus von Milo in Marmor …

Vor diesem holden Frauenbilde legten wir uns in das Gras, in die pralle Sonne …

„So, hier wird Amalgi wohl keine Horchapparate angebracht haben,“ meinte Harald gedämpft … „Und hier in dieser Graswildnis kann auch niemand beobachten, wenn ich mit den Händen dicht am Boden hantiere …“

Er … holte aus dem Ärmelfutter ein braunes, dünnes Etwas hervor …

„Ein Stück von der Basthülle der Glücksnuß, mein Alter, wie du unschwer erkennst. Ein Stück, das ich verschwinden ließ, als wir die Nuß öffneten … – Da, lege dich auf den Bauch und betrachte dieses unscheinbare Nichts … Du wirft darin etwas eingeritzt finden …“

„Ja – das soll eine Brille sein …,“ nickte ich … „Das ist mir gänzlich entgangen, als wir die Nuß besichtigten …“

„Das Wichtigste entgeht dir auch jetzt noch,“ meinte er noch leiser. „Dort, wo die Gläser der Brille sich abzeichnen, ist ein Wort eingekerbt …“

„Hm – leider nicht zu entziffern …“

„Doch … Es heißt: Glimmer!“

„Stimmt … Jetzt erkenne ich’s ebenfalls. – Was soll die Glimmer-Brille?“

„Sie stellt das Wertvollste an der Bara Koko dar …“

„So?!“

„Allerdings … Ich will dich nicht zwingen, dein Hirn unnötig anzustrengen, mein Alter … Ich nehme an, daß derjenige, der mit einer Glimmerbrille seine Augen schützt, vor den gefährlichen Spiegelstrahlen sicher ist …“

„Ah – – nicht schlecht, der Gedanke, Harald … Nur … – weshalb sollte jemand auf die Außenhülle der Kokosnuß …“

„Jemand?!“ unterbrach er mich … „Kein Jemand: Amalgi hat die Brille eingeritzt, – für Ignaz Torelli! Er wird Torelli mitgeteilt haben, daß er Menschen durch einen Spiegel lähmen könne, und daß Torelli, falls er, Amalgi, plötzlich stürbe, auf der Nuß den einzigen Schutz gegen diese Strahlen angegeben finden würde … – Torelli gehorcht dem Doktor zweifellos ebenso blindlings wie die drei Diener. Torelli hat die Bara Koko von Amalgi erhalten mit dem Befehl, die Nuß erst unter bestimmten Umständen genau zu besichtigen – und so weiter. Ich glaube kaum, daß ich mich irre … Jedenfalls müssen wir uns diese Schutzbrillen vor dem Abend noch unbedingt verschaffen …“

„Woher?!“ Ich sagte das mit unendlicher Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit …

Man soll jedoch die Hoffnung nie aufgeben …

Hoffnung verloren, alles verloren!

So auch hier …

Denn – staunend sahen wir setzt, wie des Doktors leichenhafter Famulus Gulling hinter der Statue der Göttin plötzlich auftauchte – kriechend wie ein Indianer …

Hörten die piepsende Stimme: „Der Hund soll sie nicht anrühren …!! Da!!“

Und dann rollte uns ein kleines, in grünliches Papier gehülltes Paket vor die Füße …

Gulling verschwand blitzschnell …

 

5. Kapitel.

Der treue Hubert.

An diesem Tage, der mit Sonnenschein begonnen wie so viele Tage im Juli, – an diesem Tage bewies das Wetter abermals seinen betrübenden Wankelmut. Bis drei Uhr nachmittags blauer Himmel … Dann eine Wiederholung dessen, was die verflossene Nacht gebracht hatte: Regen, Sturm, Gewitter!

Wir beide saßen in unserem Häuschen über dem Weiher, warteten …

Um neun Uhr sollte das Festessen beginnen … Amalgi wollte uns holen lassen, wenn es Zeit sei … So hatte er uns durch den Buckligen befohlen.

Wir warteten …

Meine Nerven waren durch ein Übermaß von Kognak wieder fügsam geworden, nachdem die neue freudige Überraschung vor der Venusstatue mich in einen Taumel von Siegesbewußtsein versetzt hatte.

Warteten …

Längst war’s neun Uhr vorüber …

Die Batterien des Himmels feuerten noch immer donnernden Salut zu Traudes Hochzeitsabend …

Traude …!! So war sie auf dem Zettel genannt worden, der dem grünen Päckchen beigefügt war, das uns ein vor wahnwitziger Eifersucht Halbirrer in einem Moment eigener, freier Willenbetätigung zugeworfen hatte …

Traudes Hochzeitsabend …

Sturm, Gewitter …

Der Park schwimmt vor Nässe …

Die Bäume scheinen zu weinen … Jedes Blatt vergießt Tränen …

Arme Traude! Sie hat Gerhard Berner geliebt … Und hat Doktor Georg Amalgi heiraten müssen … Gestern standesamtlich … Heute kirchlich … Und nun steht ihre Hochzeitsnacht bevor …

Diese Nacht ist bereits angebrochen …

Das pechschwarze Gewölk, das den Himmel in ein Sargtuch verwandelt, täuscht eine weit spätere Stunde vor …

Halb zehn ist’s jetzt …

Ich habe soeben nach der Uhr gesehen …

Da wird die Eingangstür aufgerissen …

Herein stürzt der leichenhafte Gulling …

Sprudelt etwas hervor …

Seine Stimme schnappt über …

Kaum verständlich ist das, was er kreischt … Amalgi habe sich mit Traude in das große Gartenhaus begeben, das er als Flitterwochennest heute hergerichtet habe … Amalgi sei toll vor Begehrlichkeit … Wollte nichts mehr wissen von Festessen und grauenvollen, uns beiden zugedachten Überraschungen … Amalgi suche Traude zu ehelicher Fügsamkeit zu zwingen …

Das treibt uns hoch …

„Sie bleiben hier, Gulling …,“ befiehlt Harald … Unter dem Rock trägt er den Starrkrampf-Fön … Und im Laufen setzen wir nun die Glimmerbrillen auf …

Regenpause …

Auf dem Wege zum großen Gartenhaus tritt uns der alte Hubert entgegen …

Schildwache hier – Liebeswächter …

Hat das Teufelsinstrument in der Hand … Ein gleißender Strahl fährt über unsere Gesichter hin …

Ohne Erfolg … – Harst schlägt zu … Der Alte taumelt in die nassen Büsche …

Weiter …

Dort das zierliche Gartenhaus, absichtlich im bescheidenen Bauernstil aufgeführt … Die Fenstervorhänge geschlossen … matt erleuchtet …

Gerade jetzt öffnen sich die schwarzen Schleier des Firmaments … Durch die Lücke grinst die Mondsichel hindurch … Gelbgrüner, fahler Schimmer des Nachtgestirns fällt auf den Vorplatz …

Wir hören einen schrillen Schrei – –

Wir hetzen weiter …

Harst bemüht sich nicht erst, die Tür zu öffnen …

Harst wirft sich mit dem Rücken gegen eins der niedrigen Fenster …

Glas splittert … Der Holzrahmen fliegt nach innen … Gardinen, Vorhänge prasseln herab …

Im Nu sind wir in dem traulich eingerichteten Zimmer …

Luxus, Geschmack, mildes Licht …

In einem weichen Brokatsessel Traude im Hochzeitsstaat …

Amalgi lehnt am hellen Kachelkamin …

Beide starren uns an …

Amalgi ist aschfahl … Auf seiner Stirn stehen dicke Schweißtropfen … Er sieht in Haralds Hand den gefährlichen Spiegel, sieht unsere Brillen, weiß, daß das Spiel zu Ende ist … endgültig …

Aber – das, was wir hier zu finden erwartet hatten, gefürchtet hatten, entsprach in nichts unseren durch Gulling geweckten Befürchtungen …

Und doch – schon ist’s zu spät, das zu verhüten, was notwendig erfolgen mußte, da Harald in der Handhabung des teuflischen Instruments noch zu wenig bewandert war.

Harst hatte den kleinen Apparat eingeschaltet gehabt, hatte – ein Zufall – den Strahl über Amalgis Gesicht hingleiten lassen …

Was geschah?

Amalgi zuckt zusammen …

Wankt … Ich springe zu, fange den Stürzenden auf, lasse ihn auf einen Stuhl gleiten …

Traude Torelli, nein, doch schon Traude Amalgi, weint, und hat die schlanken Hände vor das Gesicht gedrückt …

Harald steht ratlos da … Niemals hat es in seiner Absicht gelegen, den Doktor in dieser Weise außer Gefecht zu setzen, zumal die Szene, die wir hier vorfanden, durchaus nicht dem entspricht, was des leichenhaften Gulling vor krankhafter Eifersucht überhitzte Phantasie gefürchtet hatte …

Harald rafft sich auf …

„Frau Gertrud Amalgi …!!“

Das wirkt … Sie läßt die Hände sinken, sagt sofort ohne jede weitere Aufforderung:

„Doktor Amalgi ist vielleicht mehr zu bedauern als zu verurteilen, Herr Harst. Er hat mir soeben seine Lebensgeschichte erzählt, von der ich bisher nichts wußte … Denken Sie: seine Verwandten hatten ihn, als er vor fünf Jahren einen Onkel beerbte, und die anderen leer ausgingen, durch verwerfliche Machenschaften in ein Irrenhaus einsperren lassen und sich des Erbes bemächtigt. Erst vor anderthalb Jahren gelang es ihm, die Freiheit und sein Vermögen zurückzuerhalten. Körperlich und seelisch gebrochen, verließ er die Anstalt. In seinem Herzen war nur noch ein Gefühl lebendig: Haß gegen die sieben Leute, die seines Bluts waren und trotzdem an ihm wie Mörder gehandelt hatten. Mit Hilfe meines Vaters, den er von früher her kannte, brachte er seine Feinde in seine Gewalt. Unseligerweise verliebte er sich dann in mich, und war in dieser Liebe ebenso zügellos wie in seiner Rachsucht. Heute, als ich ihm hier erklärte, ich würde mich eher töten, als mich ihm jemals ohne Zwang hingeben, erwarte das Gute in ihm … Kurz bevor Sie beide hier eindrangen, versprach er mir, mich freizugeben und auch Gerhard Berner wieder ins Leben zurückzurufen … Ich kenne jetzt auch seine so überaus gefährliche Erfindung, den Strahlenapparat, weiß jedoch nicht, wie man die vom Starrkrampf Befallenen wieder erwecken kann …“

Harst erwiderte rasch: „Wahrscheinlich ist Gulling eingeweiht … Wir werden Gulling holen … Wir sind sofort wieder da …“

Aber Traude Torelli umklammerte angstvoll Haralds Arm … „Nein – nein, – nehmen Sie Amalgi mit … lassen Sie mich nicht mit ihm allein … Ein namenloses Grauen packt mich beim Anblick dieser leblosen Gestalt …“

So geschah’s denn, daß wir Amalgi draußen vor dem Häuschen auf die Bank setzten … Traude bat uns noch, ihm die weit offenstehenden Augen zu verbinden, da sie bestimmt wußte, daß besonders Mondlicht den in dieser Weise Betäubten vielleicht das Sehvermögen rauben könnte …

Wir eilten nun der Villa zu … Suchten Gulling … Fanden nur das Ehepaar Torelli, das völlig verstört im Salon saß … – Der Zirkusdirektor teilte uns zögernd mit, daß vor wenigen Minuten die in dem Gewölbe ruhenden acht Leute, also auch Berner, durch Gulling wieder ins Bewußtsein zurückgerufen worden seien, und daß sowohl diese acht als auch die drei Diener die Villa fluchtartig verlassen hätten …

Schleunigst kehrten wir nun zu dem Gartenhäuschen zurück … Das Gewölk am Himmel hatte sich noch mehr zerteilt, der Mond leuchtete hell und klar …

Schon von weitem vernahmen wir da, als wir uns dem Häuschen näherten, eine überlaute, uns fremde Stimme …

Erblickten dann ein Bild, das uns zu raschem Eingreifen veranlaßte …

Vor dem Häuschen im nassen Grase lag Traude Torelli in ihrem Hochzeitskleide vor … Gerhard Berner auf den Knien …

Berner, dem während seines kataleptischen Schlafes ein langer Bart gewachsen war und der sich in der Eile ein wohl dem Doktor gehöriges Jägerhütchen aufgestülpt hatte, machte hier der Geliebten in völliger Verkennung der Sachlage eine wilde Eifersuchtsszene …

Wir traten aus den Büschen heraus, und durch wenige Sätze hatte Harald den eifersüchtigen Jongleur davon überzeugt, daß Traude ihm niemals die Treue gebrochen habe … Wir geleiteten das Paar zur Villa und befragten hier den alten Torelli, ob er nicht wüßte, wie man Amalgi wieder erwecken könnte. Er verneinte …

„Ich weiß nur, Herr Harst, daß die Bara Koko über Schutzmaßregeln gegen die Strahlen Aufschluß geben kann … Die Nuß hat Amalgi mir zur Aufbewahrung seinerzeit ausgehändigt …“

„Dann werden Schraut und ich den Doktor zunächst einmal hier ins Haus tragen,“ meinte Harald, dem es sehr nahe zu gehen schien, daß durch seine Schuld Amalgi in diesen totenähnlichen Zustand versetzt worden war …

Schweigend legten wir abermals den Weg nach dem Gartenhause zurück …

Und … fanden die Bank leer …

Amalgi war verschwunden …

Auf der Bank lag ein Zettel – flüchtig mit Bleistift beschrieben:

Herr Harst, der alte Hubert hat mir doch die Treue bewahrt und mich gerettet! Suchen Sie nicht weiter nach uns … Wir sind mit dem U-Boot auf und davon. Traude einen letzten Gruß! Möge sie mit Berner glücklich werden! Aber meinen Verwandten einen Fluch über alle Ewigkeit hinaus!! – Georg Amalgi.

– Es stimmte: das U-Boot war aus dem Weiher verschwunden!

Von Amalgi und dem alten Hubert hörte man lange Zeit nichts. Gulling und der Diener, die ihrem Herrn noch eine größere Geldsumme gestohlen hatten, entgingen genau so allen polizeilichen Nachforschungen. Amalgis Verwandte wurden strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. Die Villa in Grünheide mit dem großen verwilderten Park hat Traude später als Amalgis einzige Erbin wieder an den Vorbesitzer verkauft. Ihre Ehe mit Amalgi wurde geschieden, da der Doktor verschwunden blieb – genau wie die gefährlichen Strahlapparate, über deren Konstruktion noch heute nichts Näheres bekannt ist …

Amalgi blieb verschwunden …

Nicht für uns …

Wo und wie wir wieder mit ihm zusammentrafen, – was er im fernen Lande tat, litt und leidet, das werde ich in den nächsten Bänden berichten, so daß der freundliche Leser Gelegenheit finden wird, die geniale Erfindergabe dieses geistvollen, im Grunde unglücklichen Mannes noch wiederholt zu bewundern … Bevor ich jedoch unser Wiedersehen mit dem Doktor hier schildere, muß ich noch einen anderen Kriminalfall schriftstellerisch verwerten, mit dem wir uns Ende Juli zu beschäftigen hatten – eine eigenartige Hochstaplergeschichte, die mit einem toten Pferde begann und auf einem zertrümmerten Flugzeug endete …

 

Nächster Band:

Dämon Rache.

 

 

Anmerkungen:

  1. Lateinisch: circensis = zur Arena gehörig, zu: circus, Zirkus
  2. Zeilen (zwei Sätze) sind in der Vorlage vertauscht.
  3. brenzlig
  4. In der Vorlage steht: „Myrrthensträuschen“ – Auf „Myrtensträußchen“ geändert.