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Wie Doktor Amalgi starb

 

 

Harald Harst

Aus meinem Leben

 

Band: 185

 

Wie Doktor Amalgi starb

 

Erzählt von

Max Schraut

(Walther Kabel)

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin SO 36, Elisabethufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. – Copyright 1926 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann, G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Für immer …

Jemand rüttelt mich kräftig …

Weckt mich aus angenehmen Träumen …

Aus Träumen von einem behaglichen Bett in meinem behaglichen Schlafzimmer daheim in Berlin-Schmargendorf, Blücherstraße …

Leider nur Träume …

Unser jetziges vorübergehendes Heim ist durchaus nicht behaglich …

Eine Hütte, aus Zweigen geflochten, außen noch bedeckt mit den Riesenblättern der Kanna odorata[1], des Stinkkrautes, … – Die reine Ironie ist dieser Name für diese Stänkerpflanze: die duftende Kanna!! – Ja – – duftend!! Aber wie!! Wie ein Kehrichthaufen etwa, den die pralle Sonne bescheint! – Und doch hatten wir diese Blätter zum Abdichten der Hütte benutzen müssen, weil wir sonst hier auf der kleinen Insel im Salzsee der indischen Thar-Wüste[2] bei diesen tropischen Regengüssen dauernd pitschnaß gewesen wären …

Kein liebliches Quartier … Keine wohltuenden Nächte … Nur stets dahindösend in einer Art Halbschlaf – – zuweilen für Minuten in wirre Träume versinkend, wieder aufschreckend durch einen frechen Wassertropfen, der sich durch das Hüttendach unschwer einen Weg gebahnt hat und das Gesicht trifft … –

So hausen wir fünf Gefährten nun bereits drei Tage auf dieser Insel – wir fünf: Doktor Georg Amalgi, die Engländerin Honoria Goord, Amalgis Diener Hubert Enoch und wir beide, Harald Harst und ich …

Wir fünf, die wir nach den mannigfachsten Abenteuern schließlich hier auf dieses Eiland im Salzsee gelangt sind, – Abenteuer, auf die meine Freunde und Leser sich unschwer besinnen werden, wenn ich nur ein paar Stichworte nenne: Dschebel Hammak, Rani Gadwura, Cholerafriedhof, Afghanendorf und Jacht Dragari!

Der Leser weiß, daß hier auf der Insel im Salzsee das große Geheimnis schlummerte, dem wir nachspüren wollten: die Höhle mit der unermeßlich reichen Goldader! … Weiß, daß dieses Geheimnis durch die Kraft einer ungeheuren Dynamitexplosion für immer begraben wurde, daß wir mit knapper Not mit dem Leben davonkamen und in der Goldgrotte nicht nur die Fürstin, sondern auch ihr verbrecherischer Anhang und ihre bedauernswerten weißen Sklaven ihr Ende fanden …

Aus der Höhle war ein großer Trümmerberg geworden. Hätte man diese Felsblöcke wegräumen wollen, würde man nicht nur ein Heer von Arbeitern, sondern auch Maschinen, Sprengstoff und anderes gebraucht haben.

„Wir kehren später hierher zurück,“ hatte Harald entschieden, da unser Proviant nur noch für ein paar Tage reichte und ein ferneres Verweilen auf dem Eiland zwecklos gewesen wäre.

So hatten wir denn am Morgen die kleine Jacht bestiegen und waren, den Kutter der Fürstin im Schlepptau, nordwärts gefahren, – dorthin, wo hinter den Schleiern des unaufhörlichen Regens die Randberge des Sambhar lagen und in diesen Bergen das Afghanendorf. Dort hofften wir unsere Waffen, Reitdromedare und Lastkamele zurückzuerhalten.

Kaum fünfhundert Meter waren wir dann von der Insel entfernt, vorsichtig mit halber Kraft dahingleitend, als Doktor Amalgi ganz plötzlich (er bediente das Steuer) in kurzem Bogen wendete und wieder auf das Eiland der Toten zuhielt.

Harst rief Amalgi zu: „Weshalb?“

Amalgi rief zurück: „Später!“

Und neben ihm stand die schlanke Engländerin in ihrer Männertracht – mehr Mann als Weib. Beide hatten eifrig miteinander geflüstert.

Es ist nicht Haralds Art, viel zu fragen, wenn man ihn mit einer so knappen Antwort abfindet und wenn ein Mann wie Amalgi diese fast unhöfliche Antwort „Später!“ für genügend erachtet.

Die Jacht Dragari steuerte also wieder in die grüne Bucht des felsigen Eilandes hinein …

Landete … wurde vertäut …

Dann sagte Amalgi ebenso kurz:

„Lieber Harst, Miß Goord behauptet, am Ufer menschliche Gestalten bemerkt zu haben. Durchsuchen wir die Insel nochmals …“

Und wir taten’s …

Wir ließen den alten Diener an Bord her Dragari zurück als Wache.

Da das Eiland nur klein, brauchten wir nur eine Stunde, um festzustellen, daß Miß Goord sich getäuscht haben müsse. Wir fanden außer Riesenschildkröten kein lebendes Wesen auf dem Inselchen.

Als wir vier dann völlig durchnäßt zur grünumrahmten Bucht zurückkehrten, lag da im hellen Sande des Ufers unser alter Enoch bewußtlos mit blutiger Stirnwunde … Jacht und Kutter waren verschwunden, und wir fünf also vorläufig dazu verurteilt, hier auf dem Eiland unser Leben kümmerlich zu fristen, bis wir eben aus Teilen des Wracks des Zweimasters, den ein Sturm früher einmal hier hatte scheitern lassen, ein Floß hergestellt haben würden.

Deshalb bauten wir die Hütte … Deshalb arbeiteten wir am Tage an dem Floß, dessen Balken und Bretter wir aus dem Wrack mit ganz primitiven Werkzeugen hatten herausbrechen müssen.

Und nun war’s die dritte Nacht in der Hütte …

Nun hatte Harald mich wach gerüttelt …

„Munter werden, mein Alter!!“

Ich saß schon aufrecht auf meinem Graslager …

Die nassen Kleider klebten mir am Körper … Und diese Kleider stanken halb verfault, da sie nie mehr trocken wurden. Unsere Schuhe waren mit weißem Schimmel bedeckt … Dazu eine drückende Hitze, die einem den Atem benahm …

Dunkel ringsum …

„Was gibt’s?“ frage ich etwas unwirsch.

„Bitte – – horche.“

Ich horche …

Höre die eintönige Musik der fallenden Tropfen – – wie immer …

Tropenregen – Regenzeit …

Ich horche …

Und … höre von fernher jetzt einen schrillen Ruf …

Nochmals … nochmals …

Mit einiger Phantasie könnte man den Ruf als den Hilfeschrei eines Menschen deuten … –

Dann flackert neben mir ein Flämmchen auf … Harald hat sein Feuerzeug in der Linken … Das Flämmchen flackert …

Ich sehe, daß wir nur mehr zu dreien in der Hütte sind, daß Miß Honoria und der geheimnisvolle, schweigsame, geistvolle Amalgi fehlen.

Harst greift nach der Büchse … Winkt …

Auch ich nehme die Waffe… Und wir schleichen hinaus, ohne den alten Hubert zu wecken …

Trotz der emsig herabrollenden Bindfäden des Regens erkennen wir im Osten den ersten helleren Schimmer des nahenden Morgens …

Stehen unter einer Palme … Lauschen … Die Rufe sind verstummt …

Woher sie kamen, ist schwer zu bestimmen …

Harald schreitet vorwärts … Durch die Büsche und Sträucher – der Inselmitte zu …

Felsmassen ringsum …

Felsenstraßen, von der Natur geschaffen … Tiefe Kanons, enge Gassen, freie Plätze …

Dann der Trümmerberg der früheren Goldhöhle …

Und wir machen halt …

Sagt Harst zu mir: „Daß Menschen auf der Insel waren und daß Miß Goord sich nicht getäuscht hatte, wiesen wir. Sie entführten Jacht und Kutter. Wer diese Menschen waren, konnte selbst Hubert nicht angeben, denn er wurde an Deck der Jacht hinterrücks niedergeschlagen … – Was ist nun geschehen? Weshalb haben Amalgi und Honoria die Hütte leise verlassen? Was wollten sie im Freien? Und – was waren das für ferne Rufe, die wir vernahmen?“

So spricht er …

Und um uns her erscheint das trübe Dämmern eines regnerischen Morgens …

Ich starre auf die Felsentrümmer, unter denen die Rani und viele andere Menschen ruhen …

Ich denke an Amalgis Worte: „Die Höhle hatte nur einen Zugang … Von denen, die durch die Explosion in der Grotte überrascht wurden, kann niemand mehr leben oder sich gerettet haben, – keiner von all den Unseligen kommt als Entführer der Jacht in Betracht …“

Keiner …!!

Und Harald hatte dem Doktor beigepflichtet …

Harald hatte jetzt soeben mir gegenüber zugegeben, daß er die neuesten Geschehnisse nicht begreife. –

Wir umrunden den Trümmerberg …

Es wird heller und heller. Zuweilen läßt der Regen etwas nach … Wir sehen das graue Gewölk am Himmel dahinziehen, wir sehen von einer Kuppe aus die benachbarten Eilande …

Von den Gefährten nichts …

Und nach zwei Stunden wissen wir, daß Amalgi und Miß Honoria Goord nicht mehr auf dem Eiland weilen, daß sie entweder gewaltsam davongeschleppt sind oder sich heimlich entfernt haben.

„Sie hatten ja immer miteinander zu tuscheln und zu flüstern,“ sage ich in der Hütte zu Harald und Hubert und schaue dabei den alten Diener durchdringend an.

Enoch mit seiner verbundenen Stirn und seinem verwilderten Bart meint bescheiden:

„Herr Schraut, ich kann nur nochmals versichern, daß ich nicht weiß, wo mein Herr geblieben ist … Ich habe ganz fest geschlafen …“

„Wir glauben Ihnen,“ nickt Harald freundlich. „Langen Sie zu, Hubert … Nachher müssen wir wieder an die Arbeit … Das Floß soll heute fertig werden.“

Unser Frühstück besteht aus gesottenen Schildkröteneiern … Unser Speisenzettel ist nicht gerade sehr reichhaltig.

Und als wir satt sind und als Nachtisch ein paar bittersüße Tupisfrüchte genießen, ist der Himmel für kurze Zeit wolkenleer. Die Sonne scheint …

Wir eilen zum Strande und zum Wrack hinab … Da liegt unser Floß …

Und … auf dem Floß eine verkorkte große Flasche, durch deren grünliche Glaswand etwas Helles hindurchschimmert.

Ein Zettel … –

Harst zerschlägt die Flasche …

Auf den feuchten Zettel ist mit Bleistift geschrieben:

Leben Sie wohl – – für immer! Uns beide ruft die Pflicht! Hubert soll nach Amber zurückkehren, wo ich für ihn bei der Filiale der India-Bank eine Summe deponiert habe, die ihm einen sorgenlosen Lebensabend in seiner deutschen Heimat gestattet.

Dr. G. Amalgi. – Honoria Goord.

 

2. Kapitel.

Fünf Schüsse.

„Ich hatte mit Ähnlichem gerechnet,“ meint Harald und reicht Enoch den Zettel. „Da – behalten Sie ihn als letzten Gruß Ihres Herrn … Amalgi hat uns ja bereits im Felsenschlosse des hohlen Dschebel Hammak vorausgesagt, daß seine Tage gezählt seien, und daß er Anfang November sterben würde – – sterben müsse …“

Dem graubärtigen Alten rollen ein paar dicke Tränen über die Wangen …

Er unterdrückt mühsam ein Schluchzen …

Und murmelnd sagt er:

„Mein … mein Herr … hat mich leider in seine Geheimnisse nie ganz eingeweiht … – Ja, daß er bald sterben würde, hat er des öfteren erwähnt, hat aber auch immer betont, daß er sterben und doch leben wird … – Ich bin ja nur ein einfacher Mann, Herr Harst, der von den Geheimwissenschaften Indiens nichts versteht … Aber der Herr Doktor sprach zuweilen ganz laut im Schlafe … sprach dann immer von einem Yogi (Fakir) der Samur-Kaste, der ihn in die letzten Geheimnisse aller Dinge eingeweiht hätte, und von … seiner Bildsäule, die ihn darstellen würde, wie er im Leben ausgesehen habe …“

Der alte Mann wischt verstohlen ein paar neue Tränen fort und zuckt die Achseln, fügt hinzu: „Ja – wenn ich nur so alles behalten hätte, Herr Harst, was mein Wohltäter – denn das war Georg Amalgi mir – noch weiter im Schlafe vor sich hin redete. Mit diesem Wenigen werden Sie eben nichts anfangen können, Herr Harst, … und es ist doch wohl eigentlich selbstverständlich, daß wir nicht zulassen dürfen, daß meinem Herrn ein Leid geschieht oder daß er sich womöglich selbst das Leben nimmt …“

Worauf Harald nur zerstreut nickte und weiter gedankenverloren nach Südost starrte, woher der Morgenwind schon wieder ein schwarzes Ungetüm von Regenwolke heraufführte, die in kurzem die freundliche Sonne verschlucken mußte …

Was meine Person betrifft, so waren mir Huberts recht ungenaue und phantastische Angaben weit gleichgültiger als die Frage, weshalb Honoria Goord sich Amalgi angeschlossen hatte, mit dem sie doch erst vor kurzem hier in der Thar bekannt geworden war. – Freilich, ein Gemeinsames verband die beiden: sie hatten jeder für sich auf besondere Art Kenntnis von der Existenz der Goldhöhle hier auf dem Eiland erlangt, und beide hatten stets auf mich den Eindruck gemacht, als ob sie irgend etwas noch für sich behielten, was diese nunmehr zerstörte Grotte betraf.

Während mein Blick nun sinnend auf Haralds scharfem Profil ruhte und die finstere Wolke mit beklagenswerter Schnelligkeit, mit neuen Regengüssen drohend, heraufzog, wandte Harst mit kurzem, energischem Ruck den Kopf wieder nach uns hin …

„Arbeitet weiter an dem Floß,“ befahl er. „Ich habe noch etwas zu erledigen …“

Und ohne irgendein erklärendes Wort schritt er dem Uferwalde zu und verschwand hinter den noch regennassen Sträuchern, auf denen die Wassertropfen im Sonnenglanz wie Diamanten glitzerten.

Verschwand …

Hatte etwas zu erledigen …

Eigentlich war ich ein wenig empört, weil Harald mich soeben durch seinen kurzen Befehl mit Hubert Enoch gleichsam auf eine Stufe gestellt hatte …

Was wohl?!

Anderseits würde er hierfür wohl seine Gründe haben, sagte ich mir – und wies alle weiteren empfindlichen Gedanken von mir.

„Los denn, Hubert,“ munterte ich den alten Diener auf, der trotz seiner Jahre noch beneidenswert rüstig war.

Wir kletterten also an Bord des Wracks, um neue Bretter und Balken loszusprengen, wozu wir uns einiger Eisenstangen bedienten.

Dieses Wrack, im ganzen noch leidlich erhalten, war eins jener plumpen, schwerfälligen Segler gewesen, wie sie auf dem Sambhar-Salzsee zumeist gebräuchlich sind. Es besaß nur ein Vorder- und Achterdeck, während der mittlere Laderaum offen war und nur im Notfalle mit einer Ölleinwand überspannt werden konnte. In diesem Mittelraum stand das Wasser etwa anderthalb Meter hoch und verbreitete einen fauligen, ekelhaften Geruch, der im Verein mit der drückenden Schwüle überaus lästig war.

Enoch betrat vor mir den Achterdeckaufbau, in dem wir bereits die Zwischenwände entfernt hatten. Wir fühlten uns leider nur allzu sicher, da Harald und ich ja vorhin die Insel durchsucht hatten.

Leider …!!

Denn um so überraschender kam uns nun der hinterlistige Angriff im Halbdunkel der Kajüte, auf den wir in keiner Weise vorbereitet waren …

Ich sah nur, wie aus einem Winkel ein halbes Dutzend Gestalten sich vorschnellten …

Eine große wollene schwere Decke, wie die Tharhirten sie in kalten Nächten als Burnus benutzen, flog mir über den Kopf …

Man riß mich zu Boden, und ehe ich noch recht begriffen, was vorging, lag ich schon am Boden und wurde mit Lederriemen zu einem hilflosen Bündel zusammengeschnürt, wurde fortgeschleift und unsanft in eine Seitenkammer geworfen, wo – ein geringer Trost! – Enochs Stimme an mein Ohr drang, der unsere Angreifer mit einigen deutschen Kernflüchen belegte, auf die er keinerlei Antwort erhielt.

Man hatte mir die Decke nicht wieder abgenommen, und so steckte ich denn bis zum Bauche wie in einem Sack, der einen keineswegs lieblichen Geruch ausströmte – nach Schafmist, Kamelunrat und schlechtem Tabak …

Enochs Stimme war auch nur ganz gedämpft an mein Ohr gedrungen, und als er jetzt seine derben Flüche als zwecklos einstellte, lastete drückende Stille um uns her, die nur durch das Knattern der Regentropfen auf das Kajütdach unterbrochen wurde.

Meine sorgenden Gedanken folgten dem Freunde, der da draußen auf der Insel in dieser abermals niederströmenden Sintflut ahnungslos das erledigte, was er mir und Hubert verschwiegen …

Und ebenso ahnungslos würde er diesen Kerlen, die ich nur im Halbdunkel gesehen und die ich für Bewohner des Afghanendorfes hielt, in die Hände geraten – – wie wir soeben!

Umsonst wälzte ich mich dicht neben Enoch und rief ihm zu, die Knoten meiner Riemen zu lösen …

Wir beide waren viel zu sorgfältig gebunden, als daß wir uns selbst hätten befreien können.

Immerhin schien keiner unserer Angreifer mehr auf dem Wrack zu sein, denn niemand störte uns bei unseren fruchtlosen Versuchen, die Riemen schleunigst abzustreifen.

„Herr Schraut,“ meldete der Alte sich jetzt nach geraumer Weile abermals, „ich fürchte beinahe, daß auch der Doktor und Miß Honoria von den Schuften überrumpelt worden sind …“

„Allerdings,“ konnte ich nur antworten. „Ich nehme dasselbe an, Hubert … Die Kerle haben die Flasche mit dem Zettel nur deshalb liegen lassen, um uns in Sicherheit zu wiegen, was ihnen ja auch gelungen ist … – Nun, vielleicht entgeht ihnen Harst, und der wird dann …“

Ich schwieg …

Geräusche … stampfende Schritte … und ein Körper schlug dumpf neben uns nieder …

Eine rauhe Stimme brüllte:

„Da – – der dritte!! Nun haben wir euch … Nun sollt ihr dafür büßen, daß …“

Der Bursche hatte wohl kaum geahnt, wie schnell ihn die Vergeltung ereilen sollte …

Ein blechernes, unverkennbares Peng … – ein Schuß aus einer modernen Repetierpistole …

Der Kerl verstummte …

Ich konnte nichts sehen …

Hörte nur …

Hörte ein paar wütende Aufschreie …

Noch vier Schüsse …

Und das Stürzen, Poltern menschlicher Leiber, die, von den Kugeln niedergeworfen, gegen die Wände taumelten und zu Boden sanken … –

Stille …

Nur Sekunden …

Ein Stöhnen …

Eine helle, klare Stimme dann, englische Worte …

„Einen Augenblick, meine Herren, – ich werde Sie sofort befreien … Will nur noch das Wrack durchsuchen, ob nicht noch ein paar von den braunen Halunken anderswo stecken.“

Stille … Hastige Schritte, die sich entfernten …

Dann neben mir Harald:

„So – – ich bin frei … Unser Retter wird sich die Mühe sparen können … Mein Federmesser im Ärmel Aufschlag hat sich wieder einmal bewährt …“

Gleich darauf war auch ich Fesseln und Decke los …

Starrte mit stillem Grauen auf die fünf Leichen, die dort vor der Tür der kleinen Kammer in der Kajüte lagen, … reglos, mit verkrampften Gliedern …

Keine Afghanen …

Nein, reinblütige Radschputen … Sehnige Gestalten … Tot … erschossen … Jeder mit einer Kugel in der Stirn.

Unser Retter mußte ein glänzender Pistolenschütze und ein rücksichtsloser Draufgänger sein.

Der alte Enoch flüsterte scheu:

„Mein Gott, Herr Harst: fünf – – fünf Menschen so ohne weiteres niederzuknallen!! Dazu gehört … …“

„… die Erkenntnis, daß wir anders nicht zu befreien waren,“ ergänzte Harald kühl. „Der, der so tadellos die fünf Kugeln anbrachte, wird wohl gewußt haben, daß …“

Im selben Moment erschien vom Deck her in der offenen Kajütentür ein schwarzbärtiger Inder, der ein Stück Ölleinwand als Regenpelerine um die Schultern gelegt hatte.

Nickte uns zu, verbeugte sich …

„John Gordon-Berlett,“ stellte er sich vor …

Musterte uns scharf …

Fügte hinzu – in demselben tadellosen Englisch, mit derselben klaren energischen Stimme:

„Wenn mich mein Personengedächtnis nicht täuscht, habe ich die Kollegen Harst und Schraut vor mir … Ihre Gesichter, meine Herren, sind zu weltbekannt und zu charakteristisch, als daß ich mich irren könnte …“

Nun – der Name Gordon-Berlett war auch uns wahrhaftig nicht fremd. John Gordon-Berlett hatte seit zwei Jahren viel von sich reden gemacht, war trotz seiner Jugend einer der gesuchtesten Londoner Privatdetektive …

Harst streckte ihm die Hand hin …

„Stimmt – sind Kollegen … Und danken Ihnen, Sir … – Wie kommen Sie hierher?“

„Suche Miß Honoria Goord im Auftrage des Testamentsvollstreckers ihres verstorbenen Onkels, der ihr rund zehn Millionen hinterlassen hat … Habe Ihre Fährte, Herr Harst, bis hierher von Amber aus verfolgt. Kam mit einem Segelboot vor einer Stunde vom Festlande herüber … Wurde Zeuge, wie die fünf Farbigen Sie drüben in den Felsen überfielen. Hatte keine andere Wahl, als die Kerle niederzuschießen. Waren gut bewaffnet, hätten mich kalt gemacht …“

Nun, man merkte, daß Kollege Gordon nicht gern langatmige Erklärungen abgab … Und wir richteten uns danach. Besonders Harst, der sich ja stets den Eigentümlichkeiten der Leute anpaßt, mit denen er es gerade zu tun hat.

„Kommen Sie,“ sagte Harald. „Ich will Ihnen etwas zeigen, das auch Schraut und Enoch noch nicht gesehen haben …“

Wir traten in den Regen hinaus …

Begaben uns ans Ufer … Schritten schweigend den Felsen zu …

Nur der alte Hubert raunte mir zu:

„Herr Schraut, – – zehn Millionen!! Zehn Millionen geerbt!! Und wenn man bedenkt, daß eine so reiche Dame hier in der Thar sich als halbe Abenteuerin umhertreibt!“

Mir imponierten die Millionen nicht …

Und ob Honoria Goord großen Wert auf diese Erbschaft legen würde, bezweifelte ich gleichfalls …

Denn dieses Mädchen von dreißig Jahren hatte während ihrer langen Gefangenschaft über Menschen und Dinge anders denken gelernt, als dies gewöhnliche Sterbliche tun …

Dieses früh gealterte, grauhaarige Mädchen war wohl weit erhaben über jede Sehnsucht nach den Freuden und Genüssen der großen Welt dort draußen …

Auch sie war von dem Wunderlande Indien und seinen Geheimnissen in Bann geschlagen worden – wie wir seit Jahren, – wie wir, die immer aufs neue zurückkehrten in das Riesenreich mit seinen zweihundert Millionen Menschen, seinen berückenden Tempeln, seinen pfadlosen Dschungeln, Tigern, Giftschlangen und Elefanten …

Immer wieder … Weil in unseren Herzen die Sehnsucht nach Indien nie erstarb … –

Harst bog in die Felswildnis ein …

Wandte sich nach Norden …

Dorthin, wo der Trümmerhügel der eingestürzten Höhle am steilsten war …

Blieb stehen …

Bückte sich …

Hob eine flache Steinplatte empor …

Ein Loch kam darunter zum Vorschein …

Der Eingang zu einem schrägen Felsentunnel …

Felsentunnel, in dem wir undeutlich ein paar zerfetzte Leichname erkannten …

Und aus dessen Tiefen uns ein betäubender Verwesungsgeruch entgegenquoll …

„Der zweite Eingang zu der Goldgrotte,“ sagte Harst …

 

3. Kapitel.

Mumien?!

„Goldgrotte?“ fragte Kollege Gordon …

Harald gab ihm mit wenigen Sätzen Aufschluß …

„Ich war stets überzeugt, daß die Rani Gadwura sich gerettet habe, nachdem Miß Goord uns zur Umkehr veranlaßte, weil sie Gestalten am Strande gesehen,“ erklärte er zum Schluß. „Ich suchte vorhin nach diesem von mir vermuteten zweiten Eingang, fand ihn auch, und auf dem Rückwege überfielen die fünf Inder mich, die von der Rani hier zurückgelassen waren, damit sie sich unserer bemächtigen könnten.“

Kollege Gordon nickt …

„So glauben Sie, daß auch Miß Goord und der Doktor jetzt Gefangene dieser Fürstin sind?“ fragt er dann …

„Ja …“

„Und Sie werden mir helfen, Herr Harst, die beiden zu befreien? – Sie kennen ja meinen Auftrag … Ich muß Miß Honoria finden …“

„Wir helfen Ihnen … – Wo liegt Ihr Boot?“

„Drüben am Nordufer, gut versteckt …“

„Dann möchte ich erst einmal, bevor wir die Insel verlassen, die noch erhaltenen Teile der Grotte besichtigen …“

„Wir alle,“ meint Gordon … „Klettern wir hinab …“

Pesthauch der Verwesung …

Dunkle, feuchte, schimmelige Felswände …

Wir steigen über Tote hinweg, die durch den Luftstoß der Explosion gegen das Gestein geschleudert wurden …

Hirnteile kleben am grauschwarzen Fels …

Und wir klettern tiefer …

Breiter wird der Tunnel …

Eine Halle öffnet sich …

Harzfackeln haben wir gefunden, angezündet …

Qualm steigt in Wolken hoch …

Roter, zuckender Lichtschein gleißt in tiefe Nischen hinein.

In den Nischen auf plumpen Felssockeln Mumien – Männer mit unheimlich gut erhaltenen Gesichtszügen – mit glitzernden Augen …

Opale hat man den Mumien anstelle der Augen eingesetzt, große, herrliche Opale …

Nicht weniger als vierzehn dieser Mumien stehen hier.

Alle in armselige Fetzen gekleidet … Alle auf der Stirn mit der hellblauen Tätowierung, die den Gott Samur darstellt, eine der Gottheiten zweiter Ordnung des Brahma-Kultus, – Schirmherr der Samur-Fakire …

„Yogis der Samur-Kaste,“ sagt Harald leise … „Jener Kaste, von der man weiß, daß sie allein in die uralten drawidischen Mysterien eingeweiht sind, von denen auch Amalgi seine geheimnisvollen Kräfte gewann …“

Und Harst tritt auf eine der Mumien zu, die völlig frei ohne jede Stütze auf den Steinsockeln stehen …

Greift nach der linken herabhängenden Hand …

Hebt Hand und Arm empor …

Keine Leichenstarre …

Der Arm ist frei beweglich …

„Die Hand ist warm wie die eines Lebenden,“ sagt er leise, wie erfüllt von den Schauern tiefster Geheimnisse …

Mir … rieselt es kalt über den Rücken …

Ich denke an Amalgis Worte: daß er sterben und doch leben würde, – – vielleicht wie diese Samur-Yogi hier. –

Wenn einer der Leser sich über diese Mumien näher unterrichten möchte, so verweise ich auf den in der Dezembernummer der englischen Zeitschrift The World erschienenen Artikel, den Gordon-Berlett verfaßt hat.

Mir gestattet es leider nicht der Mangel an Raum, hier auf diese Dinge näher einzugehen …

Jedenfalls: den Zugang zu der eigentlichen Goldgrotte fanden wir vollkommen versperrt, und das aus den Steintrümmern hervorquellende Wasser bewies uns, daß die salzigen Wassermassen des Sees irgendwie von unten her in die Grotte eingedrungen sein mußten. Es ist denn auch bisher niemandem gelungen, bis zu der Goldader vorzudringen, obwohl der englische Gouverneur von Gwalior mit allen modernen technischen Hilfsmitteln die Goldschätze freizulegen versucht hat. – Aber genug hiervon … Zu vieles gibt es noch zu berichten über Doktor Amalgis Tod – falls man hier von Tod sprechen kann.

Nachdem wir vier uns hier in der Felsenhalle etwa zehn Minuten aufgehalten und uns überzeugt hatten, daß diese frei stehenden Mumien völlig lebenswarme Leiber hatten, verließen wir diese Stätte unergründlicher Geheimnisse still und wortlos …

Mir hatte es geschienen, als ob über die braunen hageren Gesichter der Samur-Yogis[3] zuweilen ein hochmütiges Lächeln glitt, als ob die Opalaugen sich bewegten …

Ich war froh, als ich wieder draußen im niederströmenden Regen stand …

Vielleicht war alles nur Täuschung gewesen … Vielleicht war das unsichere Fackellicht an allem schuld … Aber – – seltsam: auch Harald, Gordon und Enoch machten einen merkwürdig verstörten Eindruck …

Still und schweigsam wanderten wir zum Nordufer …

Bestiegen das plumpe Segelboot, mit dem der so tadellos als Inder verkleidete Kollege bis hierher gelangt war, fuhren gen Norden …

Landeten nach vier Stunden unweit der Militärstation, von der ich im vorigen Band gesprochen …

Und abends zehn Uhr waren wir, immer im strömenden Regen, in der Nähe jenes Afghanendorfes angelangt, wo die flüchtige Rani von Jaisulmir sich nicht umsonst Anhänger geworben hatte und wo wir nun auch Amalgi und die Miß und unsere Waffen und Reitdromedare wiederzufinden hofften …

Es war längst völlig finster …

Mit der Örtlichkeit waren wir gut vertraut … Standen in demselben Gebüsch des weiten Felsentales, in dem wir vor Tagen unsere Dromedare verborgen hatten … Hörten nun von Gordon, daß er hier im Afghanendorfe gleichfalls bereits gewesen und durch Bedrohung eines jüngeren Burschen, den er abseits der Baulichkeiten überwältigt hatte, das Wesentlichste erfahren habe. – Gordon-Berlett hätte uns dieses getrost schon vorher mitteilen können. Aber er war wie gesagt kein Schwätzer, sondern ein sehr wortkarger Mensch, immer still und in sich gekehrt, was bei seiner Jugend (er war sechsundzwanzig) den Eindruck hervorrief, als ob er vieles erlebt haben müßte, was ihn so etwas zum Melancholiker gemacht hatte. Und doch konnte man ihn nur als einen geradezu trefflichen Gefährten bezeichnen, der sich ohne weiteres Harst unterordnete, in dem er respektvoll den älteren und erfahreneren Kollegen achtete. –

Es kam nun darauf an, daß wir uns darüber Gewißheit verschafften, ob die Rani sich mit ihren Gefangenen hier im Dorfe befände. Harald erklärte, er wolle mit mir zusammen an das Dorf heranschleichen. Gordon und Enoch sollten uns in diesem Gestrüpp erwarten.

Wir ließen unsere Flinten zurück, nahmen nur Gordons Repetierpistolen mit, die er uns für diesen Kundschaftergang von selbst anbot.

Daß wir wiederum bis auf die Haut durchnäßt waren, brauche ich wohl kaum zu erwähnen. Seit jener sonnigen Morgenstunde auf dem Goldeiland hatte der Himmel uns nicht nochmals ein freundlicheres Antlitz gezeigt.

In tiefster Finsternis schritten Harald und ich nun vorsichtig nach Süden das Tal hinab, stießen auch sehr bald auf eine jener Mauern aus übereinandergeschichteten Steinen, die von den Afghanen zur Umgrenzung ihrer Weideplätze, als Hürden, benutzt wurden.

Hier blieb Harst stehen, flüsterte:

„Hörst du etwas?“

„Nichts …!“

„Ja – und das ist auffaltend … Kein Tier meldet sich … Schafe blöken selbst nachts … Und die Hunde der Afghanen waren doch recht lebhaft, als wir zum ersten Male hier waren … Sollten etwa die Bewohner des Dorfes zusammen mit der Fürstin den weiten Weg in ihre ferne Bergheimat wirklich angetreten haben, wie ihnen die Rani dies schon damals vorschlug, als wir die Versammlung im Beratungshause belauschten?! Wenn ja, dann steht uns noch ein böses Stück Arbeit bevor …! Denn dann hat die Fürstin auch Amalgi und Miß Honoria mit sich genommen, um die beiden irgendwo unterwegs verschwinden zu lassen …! Zutrauen darf man ihr nach den bisherigen Proben ihrer Gewissenlosigkeit alles – selbst das gemeinste Bubenstück! Denke nur noch an die Katzen im Dschebel Hammak mit den vergifteten Krallen!!“

Ob ich daran dachte!! Und es überlief mich heiß und kalt, als ich mir flüchtig jene nächtliche Szene ausmalte, wie wir vor diesen Satansbestien von Thar-Katzen[4] geflohen waren …! –

Wir lauschten, – – und hörten nichts als das Knattern der Regentropfen …

Kein Tier meldete sich …

Zehn Minuten drauf hatten wir festgestellt, daß die Steinhütten und das große Beratungshaus vollständig leer waren. Die Afghanen hatten tatsächlich den ebenso abenteuerlichen wie waghalsigen Zug gen Nordwest durch die Thar angetreten, und zwar erst vor allerhöchst zwei Tagen, da der Londoner Kollege das Dorf noch bewohnt angetroffen hatte.

So waren denn diese ehemaligen Kriegsgefangenen, die mehr als sechzig Jahre hier inmitten der indischen Bevölkerung als Fremdlinge gehaust hatten, ohne Erlaubnis der englischen Behörden mit Weib, Kind und allem Vieh auf und davon gezogen, – eine Karawane von mindestens fünfhundert Personen, die wahrscheinlich darauf rechneten, daß sie jetzt während der Regenzeit unbelästigt ihr fernes Ziel erreichen könnten …

Während der Regenzeit, die für Indien ja auch stets die Seuchen wieder aufflackern läßt: Cholera, Beulenpest, Malaria und Ruhr …! Und was die Cholera zum Beispiel in diesen Landstrichen bedeutet, das hatten wir am eigenen Leibe vor kaum einer Woche erfahren …!

Cholera, – – schlimmster, heimtückischster Würgeengel dieses Zauberlandes, …

Cholera, – – Schreckgespenst, erbarmungsloser Würger!!

 

4. Kapitel.

Eine der Mumien?

Wir holten Gordon und den alten Hubert aus dem Versteck ab, bezogen Nachtquartier im großen Beratungshaus, weil wir dort am wenigsten von Flöhen und ähnlichen Quälgeistern belästigt zu werden hofften.

Ein Feuer brannte inmitten des runden, kahlen Raumes. Über dem Feuer briet ein Stück Schildkrötenfleisch, das wir für alle Fälle von der Insel mitgenommen hatten. Es war schon etwas anrüchig geworden. Wir besaßen jedoch im Augenblick nichts Besseres, waren damit auch ganz zufrieden, weil wir die Wohltat, daß unsere Kleider wieder einmal trocken wurden, höher schätzten als einen gefüllten Magen.

John Gordon-Berlett, schweigsam wie immer, rauchte sinnend eine schwarze Brasil, die infolge der ungünstigen Einwirkung der feuchten Luft mehr stank als roch …

Der alte Hubert hatte soeben Harald gebeten, uns auch fernerhin begleiten zu dürfen, da er um keinen Preis über das Schicksal seines Herrn im ungewissen bleiben wollte.

„Gewiß kommen Sie mit, lieber Hubert,“ erwiderte Harst freundlich und nahm den Schildkrötenbraten vom Feuer. „Es ist nur die Frage, ob wir Amalgi und die Miß jemals wiedersehen, da wir uns nicht verhehlen dürfen, daß es außerordentlich schwer fallen wird, der Karawane der Afghanen zu folgen. Dieser anhaltende Regen wäscht alle Fährten fort, und … …“

Da erwachte John Gordon aus seiner stoischen Ruhe …

„Herr Harst, – entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbreche,“ sagte er in seiner energischen Art … „Aber Miß Goord muß gefunden werden …! Man hat mir tausend Pfund Honorar zugesichert, wenn ich die Millionenerbin wohlbehalten nach England bringe … Ich bin zum ersten Male in Indien … Ich allein kann hier nichts ausrichten. Fünfhundert Pfund, Herr Harst, wenn Sie mich weiter unterstützen und mir zum Erfolg verhelfen – fünfhundert Pfund, das sind immerhin zehntausend Mark … Ich darf Ihre Zeit und Ihre Intelligenz nicht ohne Entgelt in Anspruch nehmen …“

„Über diesen Punkt reden wir später …,“ erklärte Harald freundlich. „Zumal Schraut und ich ein persönliches Interesse an der Wiederauffindung der beiden haben … – Lassen Sie uns jetzt erst einmal unser Nachtmahl schleunigst beenden, damit wir morgen in aller Frühe ausgeruht das Wichtigste erledigen können: den Ankauf von Proviant und Reittieren! Sie, lieber Gordon, sind ja zum Glück mit Geld wohlversehen, was man von uns nicht behaupten kann, da all unsere Sachen sich noch im Besitz der Rani befinden …“

Und eine halbe Stunde später lagen meine drei Gefährten neben dem lustig knisternden Feuer und bemühten sich, eine Schnarchsinfonie ersten Ranges zustande zu bringen. Ich aber hatte beim Auslosen der Wachen den kürzesten Halm gezogen und mußte als erster bis Mitternacht das Beratungshaus unter meine Obhut nehmen, – ein mäßiges Vergnügen, wenn einem die Augen vor Müdigkeit zufallen und wenn man außerdem noch diese Vorsichtsmaßregel für überflüssig hält. Aber Harst hatte nun einmal darauf bestanden.

Ich lehnte also, die Büchse im Arm, an der halb offenen, schwerfälligen Balkentür und starrte in die plätschernde Dunkelheit hinaus. Zu sehen war nichts … Nicht auf fünf Schritt konnte man einen Gegenstand erkennen.

Und … ich gähnte immer häufiger …

Immer häufiger fielen mir die Augen zu … Zuweilen sank mir der Kopf auf die Brust. Dann schrak ich zusammen, raffte mich wieder auf, packte die Büchse fester und suchte mich durch allerlei gruselige Gedanken wach zu erhalten, stellte mir im Geiste die Mumien auf der Goldinsel vor und grübelte darüber nach, was es wohl mit diesen lebenswarmen Toten mit den schillernden Opalaugen für eine Bewandtnis haben mochte.

Bis vor mir aus der Dunkelheit ein leises Geräusch an mein Ohr drang …

Nur ein leises Geräusch …

Das Plätschern des Regens übertönend – wie das Tappen vorsichtiger Schritte eines Menschen, der in der Finsternis in große Pfützen gerät …

Im Nu verschwand ich halb hinter der Tür …

Das Feuer, um das die müden Gefährten lagen, war halb erloschen, konnte kaum mehr von draußen bemerkt werden.

Tappende Schritte …

Ich hielt mich bereit …

Und aus den grauen Regenvorhängen löste sich nun eine Gestalt heraus – – ein langer, hagerer Inder mit grauem Bart, wie ich undeutlich wahrnahm, als der Mann kaum noch zwei Meter von der Tür entfernt war …

Ich drückte mich vollends hinter die Tür, hatte die Büchse zum Schlage bereit …

Wollte den Fremden erst einmal in das Beratungshaus hineinlassen … Dann hatten wir ihn sicher.

Er … trat ein …

In demselben Augenblick flackerte die Glut des Feuers knisternd empor, fand neue Nahrung an ein paar noch unverkohlten Ästen …

So konnte ich denn das scharfe Profil des zerlumpten Inders ganz genau mustern – das Profil eines Fakirs, eines Yogi, wie ich mit leichtem Unbehagen feststellte, – eines Yogi der Samur-Kaste, denn auf seiner Stirn zwischen den Augen unter dem Turbanrande leuchtete die hellblaue Tätowierung: der Gott Samur, Schirmherr der Samur-Kaste!!

Mein Herz jagte plötzlich …

Stand fast still, als der Inder sich nun langsam umdrehte und … mich anblickte …

Langsam in mäßigem Englisch sagte:

„Sahib Schraut, was ihr braucht, findet ihr in der dritten Steinhütte – – dort …“ – und er hob die Hand, deutete nach draußen und … schaute mich wieder aus seinen unnatürlich flimmernden Augen an …

Dann nickte er mir zu – mit einer unaussprechlich hoheitsvollen Bewegung des Hauptes, trat wieder in den Regen zurück und verschwand.

Was damals, als ich vollkommen verwirrt an der Mauern hinter der Tür lehnte, in mir vorging, ist schwer zu schildern.

Mir war zumute, als ob ein Gespenst, kein Lebender mit mir gesprochen hatte, und ich hätte darauf schwören mögen, daß die Augen dieses Samur-Yogi … Opale, nicht natürliche Sehorgane gewesen!

Da – – vom Feuer her ein Ruf …:

„Schraut!!“

Harald hatte sich aufgerichtet …

Auch Gordon und Hubert wurden munter …

Alle drei kamen eilends auf mich zu …

Harst voran … Bleibt vor mir stehen …

„Was gab’s?“ fragt er kurz … „Hast du etwa geschlafen, mein Alter?“

„Nein!“ Und ich berichte …

Gordon lacht …

„Sie haben geträumt, bester Schraut …“

Seine Taschenlampe beleuchtet den Boden …

„Wenn hier jemand gewesen, hier im Trockenen, der mit Ihnen sprach, müßte der Mann feuchte Spuren und die von seinen Kleidern herabrinnenden Tropfen hinterlassen haben.“

Ich starre zu Boden …

Nicht ein einziger Tropfen …!

Und ich werde an mir selbst irre, murmele unsicher:

„Vielleicht war ich wirklich für Sekunden eingenickt …“

Harst entgegnet:

„Das Unbegreifliche hat sich uns hier in anderer Form genähert … Denn ich erwachte, weil … ich genau dasselbe geträumt habe – – genau: daß ich hier an der Tür Posten stand, daß aus dem Regen ein Mann erschien, mich anredete, von der dritten Hütte sprach, wo wir alles finden würden, was wir brauchen …“

Gordon meint:

„Gedankenübertragung, Herr Harst … Sie und Schraut sind durch den langjährigen Verkehr seelisch derart aufeinander abgestimmt, daß …“

Harald unterbricht ihn:

„Ausgeschlossen! – Kommen Sie!“

Und er eilt voraus …

In der Dorfgasse dort die dritte Steinhütte …

Wir hinein …

Leer …

Scheinbar leer … Auf dem gestampften Lehmboden jedoch, offenbar mit einer Messerspitze eingeritzt, ein Viereck …

Wir wühlen den Lehm auf … Wir merken, daß dieser Lehm noch feucht ist … Finden darunter ein Loch, und eingehüllt in zwei große Wolldecken all das, was man uns und unseren Freunden abgenommen: Remingtonbüchsen, Patronen, Pistolen, Messer, Taschenlampen, Brieftaschen – – alles!

Und – – in dem Stalle hinter dieser Hütte stehen vier Reitdromedare und zwei Lastkamele, vollkommen angeschirrt, mit Sätteln, Satteltaschen, – – unsere eigenen Tiere darunter!

Schweigend nehmen wir das Wunder hin …

Ein Wunder …

Indien – – Indien, in dem die süße, geheimnisvolle Lyrik eines greisen Tagore emporblühte, – eine Lyrik, von der mein alter Harald stets behauptet, daß sich hinter ihren wohlklingenden Worten mehr Geheimnisse verbergen, als der greise Inder mit den klugen, klaren Augen irgendeinen Europäer ahnen läßt … –

Ein Wunder!!

Nein – kein Wort sprachen wir über das Geschehene. Wozu auch?! Ergründet hätten wir die Zusammenhänge zwischen dem nächtlichen Besucher und unseren so wertvollen Funden doch niemals!

Nur Hubert Enoch fragte in der Einfalt seines Herzens Harald:

„Wie reimen Sie sich diese Dinge zusammen, Herr Harst?“

Harst sagt nur: „Ich zweifle nicht daran, daß Doktor Amalgi selbst in die Samur-Kaste aufgenommen ist, ebenso Miß Goord … Und ich möchte meinem alten Freunde Schraut fast beipflichten, wenn er behauptet, der Unbekannte habe Opalaugen gehabt … Er kam, damit wir Honoria und Amalgi rasch befreien könnten … Er kam vielleicht von der Goldinsel im Salzsee … vielleicht …“

 

5. Kapitel.

Der Scheiterhaufen.

Morgens brachen wir auf – hoch zu Dromedar, gut verproviantiert, noch besser bewaffnet.

Und diese Morgenstunde damals, als wir das öde Afghanendorf verließen, brachte uns wieder einmal Sonnenschein und klaren Himmel, – wieder eine Laune der Natur, des Wettergottes, der es bis dahin mit uns wahrlich nicht gut gemeint hatte.

So ritten wir vier denn gen Norden in die Berge hinein. Harald voran, Hubert mit den beiden Lasttieren am Leitseil als letzter …

Einer hinter dem anderen ritten wir auf engen Pfaden, zuweilen dicht an Abgründen vorüber, zuweilen über Steinbrücken, deren primitive Bauart einem ein Prickeln auf der Haut erzeugte … Ein Fehltritt des Dromedars, und man stürzte in die Tiefe, brauchte keinen Sarg mehr …

Ritten in gehobener Stimmung dahin und freuten uns des fröhlichen Sonnenlichtes um so mehr, als wir genau wußten, daß diese köstliche Morgenstunde nur zu schnell dahinschwinden würde. –

Die Berge nördlich des Salzsees haben keine allzu große Ausdehnung. Schon nach einer Stunde hatten wir die freie Wüste vor uns …

Wüste?!

Nein – dieser Ausdruck paßte jetzt nicht mehr … Denn gerade in den Randgebieten der Thar ruft jede Regenperiode sofort eine überaus üppige, wenn auch nur kurzlebige Flora hervor …

Grün schimmerten die bisherigen Sanddünen. Grüner Rasenteppich, feucht und dicht und blumenreich, täuschte eine heimische Wiese vor. Unsere Tiere wurden geradezu ausgelassen … Nur mit Mühe konnten wir sie immer wieder davon abbringen, das nasse, frische Gras zu rupfen, das ihnen ja so überaus gefährlich, weil es schwere Kolik erzeugt.

Nachdem wir dann ein Radschputendorf in weitem Bogen der Choleragefahr wegen umgangen hatten (daß die entsetzliche Seuche hier in diesen Landstrichen wütete, habe ich schon im vorigen Band erwähnt), ließ Harald mich und Gordon gen Osten und Westen davongaloppieren, damit wir nach der Fährte der Afghanenkarawane suchten, die in diesem frischen Grasteppich unbedingt eine deutliche Spur zurückgelassen haben mußte. Harald hatte eben mit dem so überaus raschen Emporschießen dieser kurzlebigen Vegetation nicht gerechnet und war nun überzeugt, daß wir auch in dieser Beziehung Glück haben würden.

Es stimmte. Und gerade ich, der nach Osten zu nach Fährten ausspähen sollte, hatte das Glück, eine breite, vollständig niedergetretene Linie zu finden, die sich vorsichtig in Tälern entlangschlängelte: die Spur der Karawane!

Kein Zweifel, dieser niedergetrampelte Strich, diese Menge Kamel- und Schafdünger, – es waren die Gesuchten, es war die Rani mit den flüchtigen Afghanen!

Vom Rande eines Steilabhangs aus verfolgte ich mit dem Fernglase den Verlauf der Fährte. Ja – sie führte nach Nordwest, und allem Anschein nach konnte der Zug der Reiter und Herden erst vor etwa zwölf Stunden hier vorübergekommen sein.

Schon wollte ich umkehren, als mein treffliches Glas mir in der Ferne auf dem klar erkennbaren Strich ein paar dunklere Punkte zeigte, über denen in der Luft eine Unmenge Aasgeier schwebten, die zuweilen niederstießen, wieder emporflogen, abermals herabschossen – in ewig wechselndem Spiel.

Meine erste Annahme, daß dort ein paar Schafe, Ziegen oder Rinder krepiert und liegen geblieben seien, mußte ich angesichts dieses Verhaltens der Aasgeier wieder verwerfen. Nur vor noch lebenden Geschöpfen weichen die geflügelten Leichenfresser scheu aus – vor noch lebenden, aber schon in den letzten Zügen liegenden … Menschen!!

Ich trieb mein Dromedar zu flotter Gangart an …

Jagte auf der Fährte dahin …

Kam näher und näher …

Hielt …

Glas an die Augen …

Sah …

Sechs … acht Menschen im Grase …

Acht Unglückliche …

Opfer … der Seuche, ahnte ich …

Und – – mir ward’s eisig auf dem Rücken …

Cholera – – Cholerakarawane!! Der Würger inmitten der Flüchtlinge … Keine Hilfe, keine Rettung für die Hunderte!

Ich fror in der prallen, heißen Sonne …

Entsetzen packte mich …

Ich jagte gen Westen, hatte in einer halben Stunde Harald, Gordon und Enoch erreicht, – berichtete …

Und als ich noch sprach, kam auch schon von Südost neues Regengewölk herauf …

Schwarze Riesen mit ungeheuren Wasserschläuchen … Riesen, die selbst die Sonne bezwangen … Riesen, die über das Firmament flogen mit wallenden düsteren Mänteln …

Es goß … goß in Strömen …

Eilends hüllten wir uns in die fettigen, regendichten Wolldecken …

Trabten weiter …

Kleine Wasserlachen wurden zu Teichen … Unsere Tiere wateten hindurch …

Teiche wurden zu Seen, füllten die Täler …

Wer nie einen tropischen Wolkenbruch erlebt, macht sich keine Vorstellung von einer solchen Sintflut …

Wieder war nicht einmal die Hand vor Augen zu sehen.

Wieder nahmen wir unseren Weg durch nasse Finsternis.

Wußten, daß wir bei diesem Unwetter die Fährte der Karawane kaum bemerken würden … Ritten gen Nordost, mußten so an die breite Spur gelangen. …

Und – kamen nach einer halben Stunde auf felsigen Boden, gerieten in einen jener kahlen, schluchtenreichen Höhenzüge, die dem Sandmeer der Thar so viel Abwechslung verleihen …

Es goß weiter …

Harst uns voran – immer an den Südausläufern der steinigen Berge dahin …

Bis sein Tier stutzt, ausweicht …

Choleraleichen …

In dieser schwülen, stickigen Luft bereits stinkend – Verwesungsdunst verbreitend …

Drei … Eine Frau, zwei Kinder …

Wir traben vorüber …

Wir haben die Fährte gefunden …

Leichen zeichnen den Weg …

Hinein in die Berge geht’s …

Hinein in ein Tal …

Leichen – – einzeln, zu zweien, dreien …

Und … Kranke dazu, mit dem Tode Ringende …

Aasgeier fliegen kreischend hoch …

Weiter … weiter …

Wir denken an Amalgi und Honoria …

Wir hoffen, daß die Gefährten noch Reste der schützenden, aber so gründlich Mund, Magen und Darm desinfizierenden Kumussa-Wurzel besitzen, der bitteren, seifig schmeckenden Kumussa, die uns bereits vor einer Woche gerettet hat.

Weiter – immer tiefer in die Berge hinein, wo die Regenzeit nur an besonders begnadeten Stellen ein paar grüne Halme hervorgelockt hat.

Es ist jetzt elf Uhr vormittags …

Drückend heiß trotz des Regens …

In Dampf scheint der Regen sich aufzulösen …

Das Atmen wird mir schwer … Auch die Tiere keuchen.

Cholerawetter …

Wetter für den furchtbaren Würger!

Wieder ein paar Kranke am Boden …

In Qualen sich windend …

Wimmernd – schreiend – heulend …

Wir – – vorüber …

Helfen?! – – Wie?!

Unmöglich!!

Und – weiter …

Ein neues Tal …

Vor uns das Blöken von Schafen …

Harst reißt sein Tier herum …

Zurück …

Hinein in ein Seitental …

Offenbar hat die Karawane drüben halt gemacht.

Enoch muß unsere Tiere bewachen …

Wir drei anderen zu Fuß hinüber …

Schleichen vorwärts …

Wettergott vertreibt die Regendämonen … Sonne strahlt wieder … Für Minuten …

Wir kauern hinter Felsblöcken …

Kauern …

Erschauern …

Sehen …

Sehen mitten im Tale den qualmenden Holzstoß von frisch gefällten Bäumen … Die eine Talwand ist bewaldet.

Sehen auf dem Scheiterhaufen fünf Pfähle … Menschen daran gefesselt …

Die Rani – – drei Radschputen – – und ein fünfter Mann: der verräterische Thar-Trapper[5], der brutale Helfer der Fürstin, – ein Weißer, – derselbe, der uns überlistet hatte.

Fünf Menschen in Feuer und Rauch …

Längst erstickt …

Und um den Holzstoß die Afghanen wie Irrsinnige tobend, brüllend, tanzend, johlend …

Die Afghanen, die auf diese Weise die Verführerin strafen, von der sie in Tod und Verderben gelockt worden sind, begreifen wir mit kaltem Entsetzen …

Höllisches Strafgericht …!

Unsere Gesichter verlieren die Farbe …

Satanstanz um den lohenden Stoß …

Choleratanz …

Kranke sinken um …

Kranke taumeln zur Seite …

Seitwärts stumpf und stier die Dromedare der Karawane – mit kühlen, hochmütigen Blicken die wilde Szene musternd, – die über die Seuche erhabene Kreatur, den Menschen, seinen Herrn, belächelnd, verachtend …

Und mitten in der Masse der Kamele, auf hohem Sattelsitz zwei Gefangene …

Unsere Freunde …

Amalgi – – Honoria …

Beide auf tadellosen Tieren – gefesselt … –

Und – – Harald winkt …

Wir umrunden das Tal …

Kommen ungesehen an die dichte Masse der reiterlosen hochbeinigen Geschöpfe …

Der Satanstanz geht weiter …

Die Sonne verschwindet …

Neue Regenfluten …

Wir drängen uns zwischen die Tiere …

Umsonst …

Umsonst: Amalgi und Miß Goord nicht mehr da!

Geflohen ohne unsere Hilfe …

Und wir zurück ins Nebental …

In den Sattel …

Nur nach Norden können die beiden entwichen sein …

Hinter uns bleibt die Todeskarawane zurück …

 

 

Die Millionenerbin

 

1. Kapitel.

Nochmals der Yogi.

Vielleicht liest sich der erste Teil unseres Abenteuers mehr wie eine Abenteuererzählung. Vielleicht vermißt der freundliche Leser darin das rein detektivmäßige Moment. Und doch: Wenn es sich hier auch nicht um ein besonders verzwicktes Problem handelt, so fand mein Freund Harst im folgenden doch Gelegenheit genug, seine geistigen Gaben in vielfacher Weise auszunutzen. – Der Leser mag selbst urteilen.

Miß Honoria Goord und Doktor Amalgi waren also ohne unsere Hilfe entkommen, und für uns hieß es nun, ihre Fährte zu entdecken, was ganz andere Schwierigkeiten in sich schloß als die Spur der Karawane zu verfolgen. Zwei einzelne Dromedarreiter hinterlassen keine Fährte, die besonders ins Auge fällt, und daß die Miß und Amalgi sich alle Mühe geben würden, in der Tat „spurlos“ zu verschwinden, war angesichts der ganzen Sachlage selbstverständlich.

Bevor ich nun über die Jagd auf die Millionenerbin näheres berichte, möchte ich noch ganz kurz hier angeben, was mir über das Schicksal der Afghanen bekannt ist. Wir erfuhren davon erst später durch die Zeitungen. – Die Karawane blieb damals nach dem grausamen Strafgericht über die Rani und deren Anhänger nur noch bis zum Abend in dem Bergtale und machte dann kehrt. Von all denen, die den abenteuerlichen Zug angetreten hatten, kehrten nur zweihundert in das verlassene Dorf zurück. Alle übrigen hat die Cholera hinweggerafft. – Die indische Regierung, die durch uns von dem Flammentode der Fürstin Gadwura von Jaisulmir benachrichtigt worden war, hat durch einen Spezialkommissar die Angelegenheit untersuchen lassen. Die Hauptschuldigen konnten nicht mehr zur Verantwortung gezogen werden. Die Seuche hatte sie bereits bestraft. So hausen denn heute wieder jene Afghanen als friedliche Kolonisten in dem Bergtale nördlich des Sambhar-Salzsees, und fraglos werden diese Fremdlinge nie mehr den Versuch wagen, ihre ferne Heimat zu erreichen. – –

Nun zurück zu uns, die wir jetzt vor der Aufgabe standen, Miß Goord und Amalgi irgendwie von neuem aufzustöbern.

Wir bestiegen unsere Tiere. Unser kleiner Zug setzte sich wieder in Bewegung. Nach Süden konnten die beiden nicht entwichen sein, da sie sonst an den halbtollen Afghanen hätten vorüberschleichen müssen. Nur der Nordausgang des Tales bot ihnen die Sicherheit, zunächst nicht verfolgt zu werden.

Wir ritten also durch Seitenschluchten auf kurzem Umweg zu diesem nördlichen, recht schmalen Paß, der sich in Form eines Kanons mit steilen Wänden nach Nordost schlängelte und erst in den Nordausläufern des Höhenzuges auf einem Plateau endete.

Es regnete wieder ununterbrochen.

Hier auf dem steinigen Plateau war nun guter Rat teuer.

Wohin hatten die beiden sich gewandt?! Sie konnten jede Richtung mit Ausnahme der südlichen gewählt haben. Ihr Reiseziel war uns genau so unbekannt wie ihre Absichten und die Gründe, weshalb sie sich von uns getrennt hatten.

Und – hier auf dem steinigen Boden nach Fährten suchen – – unmöglich!

Scheinbar unmöglich …

Für einen Harald Harst gibt es dieses Wort nicht … gibt es kein Unmöglich!

Gordon-Berlett fragt Harst sehr kleinlaut:

„Was nun weiter?“

„Abwarten,“ erwidert Harald und trabt über das Plateau gen Norden.

Zwischen Wolkenfetzen werden winzige Teile des blauen Äthers zuweilen sichtbar.

Wir erreichen die grüne Wüste …

Harst hat sein Glas an den Augen …

Wir halten …

Er späht gen Norden, Westen und Osten …

Im Süden zieht sich der düstere Höhenzug entlang.

Dann weiter …

Nach Westen …

Sehr bald treffen wir auf ein paar Herden: Schafe, Ziegen, Kamele, Rinder.

In einer Senkung liegt ein kleines Radschputendorf.

Kein Zweifel: Harald hat die Herden bemerkt gehabt und daraus auf die Nähe einer Ortschaft geschlossen.

„Erwartet mich hier,“ befiehlt er kurz und jagt weiter – auf ein paar Hirten zu, die mit ihren zottigen großen Hunden unter einem offenen Schutzdache aus vier Pfählen mit Grasauflage um ein Feuer kauern.

Wir beobachten ihn …

Er spricht mit den finsteren Burschen …

Jeder Radschpute der freien Thar ist ein fanatischer Europäerfeind.

Und nach einer Weile kehrt er mit einem der Hirtenhunde an der Leine zurück. Er hat das Tier gekauft – für zwanzig Rupien, und der bisherige Besitzer des starken Hundes dünkt sich nun Krösus. Was sind zwanzig Rupien für einen armen Tharhirten – – ein Vermögen!!

„Honoria und Amalgi haben dort im Dorfe Lebensmittel eingehandelt,“ erklärt er uns. „Dann sind sie nach Nordwest weitergeritten. Sie haben gleichfalls einen Hund gekauft, das stärkste Tier des Ortes …“

Und er trabt davon – gen Nordwest …

Nach einer Stunde gelangen wir, ohne bisher die Fährte der beiden entdeckt zu haben, in einen jener Teile der Thar, wo selbst der warme Regen dem allzu natronhaltigen Sande auch nicht einen einzigen Halm zu entlocken vermag.

Sand hier – Sanddünen – – nichts als Sand …

Das sanfte Geriesel des Regens ist uns günstig. Wir trennen uns, reiten fächerförmig weiter. So müssen wir auf die Fährte der beiden stoßen. Wer sie findet, hat Harald angeordnet, feuert einen Schuß ab.

Und schon fünf Minuten später rechts von mir ein Knall.

Ich nehme das Glas … Kollege Gordon hat geschossen, schwenkt seine Mütze. (Die Verkleidung als Inder hat er längst abgelegt.)

Ich reite auf ihn zu. Wir vier vereinen uns wieder. Die Spuren zweier Dromedarreiter sind im feuchten Sande scharf ausgeprägt.

Der stille, melancholische Gordon sagt nur: „Dort ist auch die Fährte des Hundes …“

„Ja,“ nickt Harald zufrieden, „jetzt werden wir die beiden sehr bald haben …“

Er läßt sein Tier niederknien …

Nimmt den Hund Gaska (was soviel wie Wächter bedeutet) ganz kurz an die Leine und drückt Gaskas Schnauze auf die Eindrücke der Pfoten des anderen Hundes.

Gaska schnuppert, wedelt, winselt …

Harst steigt wieder in den Sattel.

In scharfem Trab bleiben wir auf der klar sichtbaren Spur …

Bis am Horizont ein neuer Höhenzug auftaucht und der Sand in Steingeröll übergeht.

Nun tut Gaska seine Schuldigkeit. Seine Nase ist besser als unsere Augen. Amalgi und Honoria sind hier nach rechts abgebogen, und wieder nach zehn Minuten befinden wir uns inmitten kahler Felskuppen, haben gerade wieder eine Anhöhe unter des Hundes Führung erklommen, als ich, der nun unsere beiden Lasttiere am Leitseil hat, zufällig rückwärts blicke.

Ich bin der letzte …

Ich sehe fern in der Sandwüste einen verschwommenen, beweglichen Punkt …

Glas heraus …

Rasch eingestellt …

Der Regen fällt noch immer dünn …

Erkenne: ein einzelner Dromedarreiter, genau aus der Richtung, woher wir gekommen …

Ein Verfolger etwa?! Etwa ein Späher der Afghanen?!

Und ich jage den Freunden nach …

„Harald!!“

„Weiß schon, mein Alter,“ meint er. „Du hast den Burschen nun ebenfalls erspäht … Er ist übrigens schon die ganze Zeit hinter uns her – von jenem Tale an, wo die Afghanen die Rani verbrannten …“

„Also ein Afghane?“ fragt Gordon …

„Nein … Ein Inder …“

„Und – – was hat … …“

„Darüber später …“

Harst, den Hund am langen Riemen, läßt sein Dromedar wieder antraben …

So durchreiten wir die kahlen, felsigen Kuppen, kommen wieder auf frische Wiese – hinein in ein Tal … –

Gaska zerrt immer toller an der Leine. Honoria und Amalgi müssen dicht vor uns sein …

In diesem Tale, offenbar einem früheren Flußbett, liegen überall gewaltige Felsblöcke umher, in den Sand eingebettet wie die sogenannten erratischen Steine in deutschen Heidestrichen. Das Tal hat außerdem zahlreiche kurze Krümmungen, so daß man stets nur einen freien Ausblick von kaum hundert Meter hat.

John Gordon-Berlett reitet jetzt voller Ungeduld voraus … obwohl Harald ihm ärgerlich zuruft, die bisherige Marschordnung auch weiter einzuhalten. Aber der Londoner Kollege denkt wohl nur an seine Aufgabe, seinen Auftrag … Die Frau, die er sucht, ist dicht vor ihm, – – die Millionenerbin …

Wieder eine Biegung …

Die Talwände sind lehmig und steil …

Gordon kommt uns aus den Augen …

Sein Dromedar ist schnellfüßiger als unsere Tiere …

Harald spornt seine gelbgraue Dromedarstute durch Zuruf zu rascherer Gangart an …

Dann – – vor uns ein Schuß – – ein zweiter …

Unsere Tiere stutzen …

Jagen weiter …

Um die Biegung herum …

Nichts mehr von Gordon zu sehen – nichts …

Der dünne Regen behindert kaum den Ausblick …

Weiter … weiter …

Und da – – neben einem der dunklen, regenfeuchten Felsen liegt der Londoner Kollege im nassen Grase auf dem Gesicht …

Neben ihm sein Reittier – noch mit den langen Beinen zuckend …

Aus einer Stirnwunde quillt der rote Lebenssaft hervor … Noch einmal geht’s wie ein Zittern durch den Leib des Dromedars … dann rührt es sich nicht mehr …

Gaska wittert das Blut, heult, winselt …

Harst ist schon aus dem Sattel …

Mustert die Talränder, hat die Remingtonbüchse schußbereit …

Winkt uns zu …

„Hubert, begleiten Sie mich!“

Und der alte Diener und er erklimmen die Südwand … verschwinden …

Ich knie neben Gordon … Öffne ihm die Jacke, die Lederweste …

Finde die Spur der Kugel, finde das plattgedrückte Bleigeschoß in Gordons Zigarettenetui, das er in der linken oberen Westentasche getragen hat – zu seinem Glück!

Ein Etui aus schwerem Silber … Und in dem Etui hat er in einem zusammengefalteten Papier ein paar altindische Goldmünzen verwahrt gehabt, die er irgendwo gekauft haben mag – – zu seinem Glück! Denn an diesen Münzen hat sich die Kugel platt gedrückt, hat nicht den Weg zum Herzen finden können.

Gordon ist nur ohnmächtig … Der Stoß des durch das Metall aufgehaltenen Geschosses hat das Herz getroffen und diese Bewußtlosigkeit hervorgerufen.

Ich bringe ihn rasch wieder ins Leben zurück …

Dann kehren auch schon Harald und Enoch mit dem Hunde zurück …

Ich habe mir über den meuchlerischen Schützen noch keinerlei Gedanken gemacht …

Frage nun, während ich Gordon stütze, der sich halb aufgerichtet hat:

„Saht ihr jemanden?“

„Der einzelne Reiter war’s,“ erwidert Harald mit grüblerischer Miene … Wendet sich dann an Gordon … „Sagen Sie, – ist Ihnen irgendwie aufgefallen, daß man Ihnen hier nachspürte?“

Der Engländer schüttelt den Kopf …

„Nein … Wer sollte mir auch nachspüren, bester Harst? Er lächelt schwach … „Der Kerl wird wohl so ein Thar-Strauchdieb sein … Hoffte vielleicht, daß …“

Harst – sehr ernst:

„Sie irren, lieber Gordon … Der … Kerl war derselbe Fakir, der uns im Afghanendorfe das Versteck unserer Sachen verriet … Damals unser Helfer also, jetzt unser Feind!“

Gordon und ich starren Harald ungläubig an … Bis der alte Enoch auch seinerseits erklärt: „Es stimmt schon … Es war jener Inder … Und er besitzt ein Dromedar, mit dem unsere Tiere sich nicht messen können … Er floh nach Süden zu, hatte einen zu großen Vorsprung … Herr Harst wollte noch schießen. Aber es wäre zwecklos gewesen …“

Seltsam – – unbegreiflich: der Fakir?! Dieser Fakir der Samur-Kaste soll den Wegelagerer gespielt haben?! – Ich kann es nicht glauben …!

Da begegnet mein Blick dem Haralds …

Harald zwinkert mir verstohlen zu …

Ich begreife: Es ist doch nicht der Yogi gewesen! Es war ein verkleideter Fremder, der lediglich Gordon beseitigen wollte …!

Aber – – weshalb?!

Weshalb?!

 

2. Kapitel.

Drei Schüsse.

Mit einem Schlage hat sich unsere bisher doch mehr oder weniger gefahrlose Suche nach den beiden Gefährten mit einem geheimnisvollen, drohenden, dunklen Gewand umkleidet …

Bisher ritten wir dahin – mehr Touristen denn Detektive, die mit Feinden und Widerwärtigkeiten rechnen …

Unser Ritt war harmlos gewesen …

Gewesen …!!

Zwei Schüsse hatten die Sachlage vollkommen verändert.

Dort lag das tote Reittier Gordons …

Hier saß Gordon selbst, noch blaß und mit matten Augen, gestützt von meinem Arm, mit geöffneten Oberkleidern …

Hier saß der Mann, dem die tödliche Kugel gegolten …

Ein Zufall hatte ihn gerettet …

Und – – der unbekannte Feind, dieser fraglos tadellose Schütze?!

Ahnte Harald, wer dieser Mann war, wer er sein mochte?

Und aus welchem Grunde wollte mein Freund diese seine Vermutungen vor Enoch und Gordon nicht in aller Klarheit erörtern?! Welcherlei Überlegungen ließen es ihn vorteilhafter erscheinen, diese seine Gedanken zunächst nur mir zu offenbaren?!

Fragen – – viele Fragen …

Und noch keine Antwort … Denn ich selbst fand keine Antwort … –

Inzwischen hatte Harst aus seiner Satteltasche die noch wohlgefüllte Kognakflasche herausgenommen. Gordon trank. Sein Gesicht bekam wieder Farbe. Er atmete leichter …

Harald befahl Enoch, das eine der Lastdromedare für Gordon zu satteln …

Zehn Minuten drauf ritten wir weiter … Nur im Schritt … Mußten darauf verzichten, Amalgi und die Miß einzuholen, die vielleicht die Schüsse gehört hatten und sich jetzt noch mehr beeilen würden, das Innere der Thar und damit die völlige Einsamkeit zu gewinnen …

Harst wieder mit Gaska voran …

Wir vier jetzt gewarnt …

Wir vier nicht mehr in dem unübersichtlichen Tale …

Nein, oben am rechten Rande … Vom hohen Dromedarsattel aus weiten Überblick … Ein Überfall jetzt unmöglich …

Und doch konnten wir bequem die Fährte im Auge behalten …

Im Schritt … Bis John Gordon-Berlett von selbst sein Tier wieder in Trab setzt … Er hat sich vollkommen wieder erholt. Die klaren, kühlen, melancholischen Augen haben wieder Glanz … Um den bartlosen, etwas verkniffenen Mund liegt ein Zug von jener brutalen Energie, die diesen Mann die Inder auf dem Wrack niederschießen ließ.

Im Trab – – weiter …

Eine volle Stunde …

Längst liegt das Tal hinter uns …

Wir traben auf der Fährte dahin, durch welliges Gelände, durch stärker strömenden Regen, durch gelbbraunen Sand, der hier wieder keinem einzigen Halm das Leben gönnt …

Durch Dünen und Sandschluchten …

Eine volle Stunde …

Gaska wird wieder eifriger …

Der Hund ist für uns der beste, sicherste Beweis, daß der Vorsprung der beiden doch nicht mehr so bedeutend sein kann.

Dann eine besonders hohe Düne …

Die Spur führt über den Gipfel hin. Man sieht, daß Amalgi und die Miß hier halt gemacht haben, daß Amalgi eine Zigarette geraucht hat … Der Stummel liegt im Sande.

Man sieht leider nur dies …

Es gießt wieder … In unsere Wolldecken gehüllt hocken wir in den Sätteln …

Schwere, warme Tropfen schlagen uns in die Gesichter … Harst ist abgestiegen und hat den nassen Zigarettenstummel in der Hand …

„Weswegen die beiden hier wohl gehalten habe?“ meint er …

John Gordon-Berlett erwidert zögernd:

„Vielleicht haben sie nach Verfolgern ausgespäht …“

„Hm …“

Dieses langgereckte „Hm“ von Haralds Lippen ist ein verstecktes „Nein“ … Seine Augen sind starr auf den Sandboden gerichtet, in dem der Regen die Fußspuren längst fast völlig verwischt hat …

Dann bückt er sich …

Gerade dort, wo der Zigarettenstummel gelegen hat …

Kniet nieder …

Wühlt mit den Händen den nassen Sand auf …

Und – – bringt so etwas zum Vorschein …

Etwas … – eine leere flache Blechbüchse: konzentrierte Fleischnahrung ist darin gewesen. Den aufgeschnittenen Deckel hat man wieder zugedrückt. – Harst biegt ihn empor …

Ein Zettel – fettig, zerknittert, Blatt aus einem Notizbuch …

Aufschrift mit Bleistift:

Gefährten, verfolgt uns nicht weiter. Wir danken euch, daß ihr uns befreien wolltet. – Unsere Angelegenheiten gehen nur uns etwas an.

Honoria Goord. Amalgi.

Harald wendet sich an den Londoner Kollegen …

„Sehen Sie, Gordon, wenn dieser Zigarettenstummel auch völlig durchweicht ist, so trägt er am Korkmundstück doch die unzweifelhaften Kennzeichen, daß er lediglich künstlich hergestellt wurde … Amalgi hat den Oberteil der Zigarette abgerissen und zerrieben und weggeworfen … Hier – bitte … geringe Spuren von Zigarettentabak und Papier … Mithin wollte Amalgi durch den für jeden andern harmlos und nichtig erscheinenden Stummel lediglich diese Stelle des Sandbodens mit einem Zeichen versehen … Wir sollten die Blechdose und den Zettel finden. Und der Zettel wieder beweist, daß Honoria und der Doktor uns hinter sich bemerkt haben.“

Gordon verbeugte sich leicht – mit einem gewissen Respekt …

„Bester Harst, meine Anerkennung …! – Aber trotz des Zettels, trotz dieses unzweideutigen Wunsches der beiden, von uns nicht behelligt zu werden, muß ich …“

„… ganz recht, Gordon, – wir müssen die beiden einholen …! Was sie auch vorhaben mögen: Miß Goord würde vielleicht ihre Entschließungen ändern, wenn sie wüßte, daß sie jetzt über Millionen verfügen kann!“

Und ohne jede weitere Bemerkung bestieg er wieder sein Dromedar und trabte weiter, geführt von Gaska, der mit heiserem Wieseln die Fährte von neuem aufnahm.

Schweigend ging’s weiter …

Ich war noch immer der letzte des kleinen Zuges, hatte unser Lasttier am Leitseil, das nun doppelte Schwere zu tragen hatte.

Schweigend … Jeder seinen Gedanken nachhängend …

„Was mochten wohl Amalgi und Honoria vorhaben?“ fragte ich mich immer wieder …

Und dachte abermals an Amalgis ernste Voraussage: daß er in kurzem sterben würde, daß die ersten Tage des November ihm den Tod bringen würden.

Also – – ritt er dem Tode entgegen, und Honoria Goord begleitete ihn dorthin, wo seines Lebens Uhr ablaufen würde … – Weshalb begleitete sie ihn?! War auch sie, wie Harald behauptet hatte, wirklich in die Samur-Kaste aufgenommen worden?! Hing Amalgis Ende irgendwie mit den Geheimnissen dieser auserwählten Eingeweihten, der Samur-Fakire, zusammen?

Diese letzte Frage beantwortete ich mir im stillen mit einem entschiedenen Ja. All die anderen aber blieben vorläufig ungelöste Rätsel, genau wie die über den unbekannten Meuchelmörder, der den englischen Kollegen niederzuknallen versucht hatte.

… Schweigend ritten wir …

Der Nachmittag neigte sich dem Abend zu … Es regnete sachter … Bald würde die dunkle Nacht herbeischleichen – unfreundliche Finsternis …

Der Sandboden hatte wieder steinigem, bergigem Gelände Platz gemacht. Gaska, unser Hund, zauderte nirgends auch nur eine Sekunde. Die Nase dicht über dem Boden, lief er triefend dahin …

Die Berge wurden höher, steiler … Wir hatten den ödesten Teil der Thar erreicht …

In einer Schlucht unter einem überhängenden Felsen rasteten wir zwei Stunden. Enoch und Kordon waren recht erschöpft. Die Dunkelheit kam. Wir konnten nicht einmal ein Feuer anzünden. Die dritte gebratene Hammelkeule unseres Proviants wurde verzehrt. Auch Gaska erhielt seinen Teil – – schmale Ration nur!

Der Regen hörte auf …

Durch einen Wolkenriß lugte der Mond.

Harst nimmt seine Büchse …

„Ich will zusehen, ob ich nicht eine wilde Bergziege schießen kann,“ erklärt er kurz … „Ich rate euch, hier vorsichtig zu sein … Der Yogi könnte sich wieder heranschleichen … Gebt auf Gaska acht. Der wird euch wohl rechtzeitig warnen.“

Er schreitet rasch von dannen – nach Norden zu …

Das Gewölk am Himmel zerteilt sich immer mehr …

Vollmond übergießt die wildromantische Bergszenerie mit fahlem Schein.

Wir drei Zurückbleibenden sitzen auf Steinen dicht an der Felswand, die Büchsen über den Knien. Ich habe Enoch und Gordon geraten, ein wenig zu schlafen, habe den Hund zehn Meter vor uns an einen Felsblock gebunden.

Gaska liegt lang auf einer Satteldecke, den Kopf auf den Vorderpfoten, die Nase nach Süden …

Enoch und Gordon nicken ein … Die Köpfe sinken ihnen auf die Brust …

Ich halte mich mit aller Gewalt wach …

Beobachte Gaska …

Der Himmel ist wolkenlos …

Wie lange wohl?!

Und die drückende Wärme des Tages, diese lähmende Treibhausluft, ist jetzt einer empfindlichen Kühle hier in den Felsenbergen gewichen …

Ich ziehe die Wolldecke enger um die Schultern … Stehe leise auf …

Gaskas Kopf fährt sofort herum …

Der Hund hat sich bereits vollständig an uns gewöhnt. Er wird von seinen neuen Herren weit besser behandelt als bisher … Die Radschputen der Thar erblicken in jedem Tiere nur das nützliche, niemals das von Gott erschaffene Geschöpf. Danach richten sie auch ihr Verhalten ein: roh, brutal, lieblos, soweit ihnen dies nicht der Hinduglaube bestimmten Tierarten gegenüber verbietet.

Ich streichle Gaskas Kopf …

Gaska setzt sich aufrecht, schmiegt sich an meinem Schenkel … Er hat die Größe eines deutschen Schäferhundes, aber längeren Behang und die stumpfe Schnauze eines Bernhardiners, dagegen die Lebhaftigkeit eines Spitzes oder Terriers. Seine gelblichen Augen sind voll Feuer. Er ist ein reinblütiger Vertreter der kräftigen Hirtenhunde der Thar.

So stehen wir nebeneinander, Mensch und Hund …

Der kalte Nachtwind streicht durch die Schlucht …

Trägt uns den fernen Knall eines Schusses zu …

Noch eines …

Noch eines …

Drei Schüsse so kurz hintereinander?!

Ich werde unruhig …

Gaska winselt …

Und kurz entschlossen rufe ich Gordon an …

„Hallo – – aufwachen, Gordon!!“

Er schnellt hoch … Ist im Augenblick munter …

Ich teile ihm das Nötige mit …

„Drei Schüsse … Das ist nicht Harst, der auf Bergziegen jagt … Der fremde Reiter, Gordon … Ich bin in Sorge. Ich nehme Gaska mit …“

Der Hund begreift sofort, eilt auf Haralds Spur gen Norden die Geröllhalde empor …

Ein Felsplateau vor uns …

Wir laufen …

Ich entsichere die Repetierbüchse …

Der Mond scheint hell und klar …

Kleine Wasserpfützen stehen in flachen Vertiefungen …

Der Mond spiegelt sich in ihnen … Sie glänzen wie Silber.

Wir laufen …

Gaska macht mir dieses Tempo leicht, zieht mich vorwärts, daß ich ihn kaum halten kann …

Hinter dem Plateau flache, kahle Kuppen … Ein paar Bäume und Sträucher in dem einen Tale …

Gaska rast darauf zu …

Winselt …

Und – mein Herz jagt nicht nur wegen der raschen Gangart … Angst kriecht mir zum Hirn, Angst um Haralds Leben …

Der fremde Reiter – – drei Schüsse!!

Dann …

Dann herum um das Gestrüpp …

Ein Blick …

Rechts eine Bergziege – – tot …

Links ein Mensch am Boden …

Ich springe zu …

Gott sei Dank: nicht Harald!!

Nein – – der Fremde – – der Yogi, und doch nicht der Yogi …

Ein maskierter Europäer, in Lumpen gehüllt …

Tadellos maskiert …

In der Stirn über der Nasenwurzel ein Schußloch …

Tot …!!

Ich atme auf …

Also doch ein Kampf …

Ein Schuß der Ziege, ein Schuß auf Harald, und Haralds Kugel dann dem Schurken ins Hirn …

 

3. Kapitel.

Die anderen Erben.

Wo steckt Harald?!

Mondlicht füllt das gestrüppreiche Tal … Bis in die fernsten Winkel war es zu überschauen …

Kein Harst …

Und abermals überkam mich da die quälende Unruhe, daß dem Freunde doch etwas zugestoßen sein könnte …

Vielleicht hatte auch ihn das Blei des Gegners niedergeworfen … Vielleicht lag er doch irgendwo zwischen den Sträuchern … –

Gaska, der Hund, zerrt an der Lederleine. Den Toten hat er nur kurz beschnuppert, hat nur dumpf geknurrt …

Jetzt will er weiter – Harald nach, in dem er doch wohl seinen eigentlichen Herrn sieht …

Er zerrt – – zieht mich mit …

Und plötzlich taucht da vor uns über ein paar Blöcken der nördlichen Talwand der Kopf eines Dromedars auf …

Eines Dromedars, das von Harst am Zügel geführt wird …

„Hallo, mein Alter,“ ruft er mir zu … „Dachte mir schon, daß dich die Sorge hierher treiben würde … – Der Mann dort hat das Schicksal herausgefordert. Hast du ihn dir angesehen? – Ein Europäer … Unter den indischen Lumpen trägt er einen derben Sportanzug … Tadellos bewaffnet, aber keinerlei Papiere …“

Er ist jetzt dicht vor mir …

Ich erkenne das prächtige Reitdromedar des Unbekannten.

„… Keinerlei Papiere … Aber der Sportanzug ist in London gekauft … Und ich gehe wohl in meiner Vermutung nicht ganz fehl, wenn ich annehme, daß dieser Engländer ein Erbschaftskonkurrent Miß Honorias ist, der erst uns vier und dann Honoria und Amalgi auslöschen wollte …“

Mit einem Schlage scheint so das Geheimnisvolle dieses Mörders geklärt …

„… Der Mann hatte sein Reittier im Nebentale verborgen,“ fährt Harald fort … „Alles weitere kannst du dir ja selbst zusammenreimen. Wir werden nachher Gordon fragen, ob noch andere Anwärter auf die Erbschaft vorhanden sind, und er wird mit Ja antworten, schätze ich …“

Wir standen vor der Leiche …

Gaskas stürmische Freude beim Anblick Haralds hat sich bereits wieder gelegt, nachdem Harst ihn mehrmals gestreichelt hat …

Der Turban, den der verkleidete Tote trägt, ist ein wenig verrutscht. Was Harald entgangen, bemerke ich jetzt: der Mann trägt eine Perücke!

Ich beuge mich hinab, ziehe ihm die schwarz Perücke und den schmierigen Turban herunter …

Blondes, ganz kurz geschnittenes Haar hat der Fremde.

Und – auch der schwarze Bart ist falsch …

Das bartlose Gesicht zeigt einen Mann von etwa vierzig Jahren … Dieses hagere Antlitz mit den zahllosen Falten und Fältchen wirkt wenig sympathisch. Es ist ein ausgesprochenes Verbrechergesicht – niedere, vorgebaute Stirn, schief gestellte Augen und eine brutale Kinnpartie …

„Dem Burschen war allerdings so manches zuzutrauen,“ meint Harald. „Lassen wir ihn vorläufig hier liegen … Die Bergziege laden wir dem Dromedar auf … Vorwärts, – wollen Gordon und Enoch nicht zu lange warten lassen …“

Auf dem Rückwege zu dem Tale, in dem sich unser Lager befand, benutzte ich diese Gelegenheit des Alleinseins mit Harald dazu, ihn einmal über seine Ansicht über Amalgis und Honorias Vorhaben auszuforschen, …

Er antwortete auch bereitwilligst, meinte, daß ohne Zweifel dieser Wunsch der beiden, ohne uns ihren Ritt fortzusetzen, mit der Samur-Kaste irgendwie zusammenhinge …

„Ich glaube, mein Alter,“ schloß er seine kurzen Erklärungen, …daß wir am Vorabend großer Überraschungen stehen, die uns sicherlich einen tiefen Einblick in Indiens geheimste Geheimnisse geben werden. Nicht Neugier ist es, die mich veranlaßt, Amalgi und Miß Goord gegen deren ausdrückliches Vergangen weiter zu folgen, auch nicht das Gordon gegebene Versprechen, ihm ein Zusammentreffen mit Honoria zu ermöglichen … Über die Samur-Yogi ist von englischen Reiseschriftstellern und Gelehrten schon so viel zusammenphantasiert worden, daß nun endlich einmal Klarheit geschaffen werden muß, wo die märchenhafte Ausschmückung aufhört und die Wahrheit, das Tatsächliche, beginnt …“

Wir bogen in das Tal ein … Gordon kam uns entgegen.

Harald berichtete in aller Kürze …

Fragte dann: „Sind noch andere Anwärter auf die Erbschaft vorhanden, Gordon?“

Der Kollege nickte eifrig. „Gewiß – ein verbummelter Neffe des Erblassers, der ebenfalls Goord heißt – Thomas Goord …“

„Kennen Sie den Mann von Ansehen?“

„Und ob …! Der Bursche ist in London als Kokainhändler und Spieler berüchtigt und war vor einem Jahr mit in einen dunklen Mordfall verwickelt, wußte sich aber geschickt herauszulügen. Bei den Ermittlungen nach dem Mörder war ich mit tätig und habe Thomas Goord mehrmals Auge in Auge gegenübergestanden. – Also war doch offenbar dieser Goord der Mensch, der mich niederstrecken wollte und den Sie nun für immer …umgelegt haben.“

„Sie werden sich den Toten ansehen, Gordon … Dann haben wir Gewißheit …,“ erwiderte Harald nur …

Und er und der Londoner Kollege begaben sich sofort wieder in Begleitung Gaskas in das andere Tal hinüber …

Kehrten nach einer halben Stunde zurück …

Mit merkwürdig ernsten Gesichtern …

„Die Leiche ist verschwunden,“ sagte Harald …

Ich war bestürzt …

„Verschwunden?! Wer kann den Toten fortgeschafft haben?“

„Drei andere Dromedarreiter, mein Alter … Wir fanden ihre Spuren … – Ich habe im übrigen Gordon das Äußere des von mir Erschossenen genau beschrieben … Es war Thomas Goord.“

„Und die drei?“

„Fraglos Helfershelfer des Meuchelmörders, die sich bisher vor uns zu verbergen wußten … Es waren, oder besser es sind gleichfalls Europäer, wie ich aus den Spuren feststellen konnte. Wir werden fortan noch vorsichtiger sein müssen. Außerdem haben wir allen Grund, uns recht zu beeilen, damit wir Amalgi und Honoria bald erreichen, denn die beiden sind weit mehr gefährdet als wir … Wie Gordon mir zu sagen wußte, war Thomas Goord fünfundvierzig Jahre alt und verheiratet. Seine beiden Kinder Lucy und Edgar, neunzehn und zwanzig Jahre, sollen dem Vater, was Neigung zum Verbrechertum betrifft, nur zu sehr gleichen. Wahrscheinlich sind zwei von den drei Dromedarreitern Goords Kinder, denn die eine Spur wies Abdrücke kleiner, zierlicher Füße auf.“

Ich machte zu alledem ein ziemlich langes Gesicht …

Denn das Gefühl, nunmehr jederzeit mit einer heimtückischen Kugel rechnen zu müssen, war nicht gerade angenehm.

Harald drängte zum Aufbruch …

Bestieg das Reittier Thomas Goords, das, wie erwähnt, ein selten schönes Geschöpf war, ein Rassetier, das sicherlich aus einer der berühmten Dromedarzüchtereien im Osten der Thar stammte.

Der Mond lächelte noch immer freundlich auf uns herab.

Gegen Morgen aber, als wir gerade den Lagerplatz Amalgis und Honorias erreicht hatten, wo noch die Asche des Feuers heiß war, so daß die Gesuchten wohl kaum mehr als eine Stunde Vorsprung haben konnten, – gegen Morgen begann es von neuem zu tröpfeln, und aus dem leichten Sprühregen ward schnell ein böser Wolkenbruch, der es selbst unserem braven Hunde schwer machte, die Fährte nicht zu verlieren …

Weiter also …

Todmüde alle …

Uns hielt nur noch der Gedanke aufrecht, daß die beiden Freunde vor uns in Gefahr seien …

Weiter …

Längst waren wir wieder auf sandigem, vollkommen unfruchtbarem Boden … Nach Haralds Berechnung mußten wir jetzt auf einer Höhe mit der Stadt Bikaner sein, die an der die Thar durchschneidenden Eisenbahnlinie liegt.

Zehn Minuten drauf bog die Fährte denn auch scharf nach Osten ab …

Und einen Tag später waren wir ohne weitere Zwischenfälle, aber auch ohne die beiden Gesuchten eingeholt zu haben, in Bikaner angelangt, wo wir unschwer auf dem Bahnhof ermittelten, daß zwei Europäer, die nur Miß Goord und Amalgi sein konnten, Fahrkarten bis nach Nepalgang[6], einer bereits in Nepal am Fuße des Himalaya liegenden Eisenbahnstation, genommen hatten und am Abend vorher abgereist waren.

Von den drei Dromedarreitern aber, den Gegnern, war auch hier in Bikaner nichts zu spüren.

 

4. Kapitel.

In Nepal.

Ich überspringe einen Zeitraum von vier Tagen …

Vier Tage Eisenbahnfahrt …

Eine Marter …

Eine noch größere Marter für unseren treuen Gaska, von dem wir uns nicht hatten trennen wollen … Denn das arme Tier mußte dauernd in einen Verschlag des Gepäckwagens eingesperrt bleiben. Hundeabteile gibt es in Indien nicht.

Also vier Tage … Marter!!

Dann aber durften wir befreit aufatmen, durften die frische, erquickende Luft des Berglandes Nepal atmen und uns im kleinen, sauberen Hotel des Ortes erst einmal erholen …

Der einzige von uns, dem diese Reise durch Treibhausluft, Hitze, Choleragebiete und pestverseuchte Landstriche nichts angetan hatte, war Harald.

Abends waren wir angekommen. Morgens um sechs nahm er schon ein Bad und verließ das überfüllte Hotel, das von Flüchtlingen, die vor der Cholera und Pest Reißaus genommen, besetzt war. Nepalgang gilt nämlich als außerordentlich gesund.

Wir drei anderen (wir waren alle fünf einschließlich Gaskas im Lesesaal einquartiert worden, und auch dies nur infolge Bestechung des Herrn Hoteldirektors) erhoben uns erst gegen neun Uhr, frühstückten auf der Veranda, genossen den Anblick der weißen Schneeberge des „Daches der Welt“ und musterten die anderen Hotelgäste ringsum, zumeist Frauen englischer Kaufleute nebst Kindern … Männer waren wenig vertreten.

Gordon spähte scharf nach Thomas Goords beiden Sprößlingen aus. Auch Harald war ja überzeugt, daß wir mit dem Wiederauftauchen der drei Dromedarreiter ohne Dromedare noch rechnen müßten, was er wiederholt betont hatte.

Aber Gordon suchte umsonst …

Gegen elf Uhr vormittags besichtigten wir drei die Stadt. Ich hatte Gaska an der Leine.

Nepalgang liegt in einem Bergtal und erinnert so etwas an Odda in Norwegen …

Die Talwände sind himmelhoch und derart steil, daß man nur durch künstliche Mittel hier und dort den Aufstieg ermöglicht hat. Nach Norden zu öffnet sich das Tal, wird flacher, hat einen kleinen See und geht in ein Hochplateau über.

Wir schlenderten zum Bahnhof. Die Kultur Europas hat auch in Nepalgang jenes wunderliche Gemisch von Ursprünglichem und Übermodernem geschaffen, wie man dies im Orient so oft findet. Neben einem kleinen Elektrizitätswerk, das aus einem Wasserfall die nötige mechanische Kraft nahm, standen die Filzzelte wandernder Nepalesen, weideten Herden und schnurrten im frischen Winde die Gebetmühlen der Bekenner des Lamaismus, der Religion Tibets. Wir waren eben bereits so weit nördlich, daß Hinduglaube und Buddhismus völlig verschwunden waren. Hier herrschte der Lamaismus, hier sah man überall über braunen Gesichtern die spitzen Pelzmützen von Tibetanern … –

Auch auf dem kleinen Bahnhof kein Harst … Der Himmel mochte wissen, wo er wieder steckte, um Erkundigungen nach Amalgi und der Miß in Männerkleidern einzuziehen.

Wir kehrten also zur Stadt zurück … Waren gerade an einem Lagerplatz einer der großen Salzkarawanen vorübergekommen, die das Steinsalz bis in die entlegensten Gegenden Tibets schaffen, als Hubert Enoch stehenblieb und auf ein abseits errichtetes Filzzelt von beträchtlicher Größe deutete, das hinter Büschen halb verborgen war … – „Dort sitzt ja Herr Harst,“ sagte der Alte überrascht …

Ja – dort saß er … Im Kreise von fünf in Schaffelle gekleideten Nepalesen … Auf einem vor dem Zelte ausgebreiteten Teppich … Sah uns, machte mir verstohlen ein Zeichen, daß wir weitergehen sollten …

Wir taten’s. Und eine halbe Stunde drauf war er im Hotel, in unserem ungemütlichen gemeinsamen Schlafsaal alias Lesezimmer …

Vergnügt, frisch und angeregt erklärte er, daß seine Nachforschungen Erfolg gehabt hätten … „Amalgi und Honoria haben hier gestern bei den Nepalesen, mit denen ihr mich zusammensaht, zwei Bergponys gekauft und sich nach dem Weg nach dem Kloster Damalang an den Nordabhängen des Kudri-Berges erkundigt. Diese Nepalesen halten mich für einen Gelehrten, hatten gegen Banknoten nichts einzuwenden und gaben so allmählich zu, daß niemand recht wisse, wer in dem alten Felsenkloster Damalang hause, das nur mit Hilfe eines Aufzugs zu erreichen ist, da es auf einer Terrasse des Berges an der Schneegrenze liegt. Die Nepalesen taten jedenfalls sehr geheimnisvoll, was diese angebliche Mönchsniederlassung von Buddhisten anbetrifft. In Wahrheit wußten sie wohl über Damalang genau so wenig wie all die anderen Leute hier, die ich vorsichtig von hinten herum ausforschte. Unser Hoteldirektor hier sagte mir soeben, daß das Kloster bisher noch nie von einem Europäer betreten worden sei, und daß wir uns keine Mühe geben sollten, dorthin zu gelangen, da die Mönche es streng bewachten, die man im übrigen nie zu Gesicht bekäme. Ich habe nun bereits fünf Bergponys erworben, und nachmittags brechen wir auf …“

Gordon, der an einer Zigarette saugte, fragte sehr gedehnt:

„Und … die drei Dromedarreiter, lieber Harst?“

„Ach so – – die!! Ganz recht, die sind gestern abend hier im Hotel gewesen, Kollege Gordon: ein junges Mädchen, ein jüngerer Herr und ein älterer Mann, alle drei Engländer, also die Geschwister Goord mit einem Begleiter, wie wir bereits vermuteten … Sie sind hinter Amalgi und Honoris drein, brachen um zehn Uhr abends mit einem nepalesischen Führer auf. Amalgi und die Miß haben jedoch fünf Stunden Vorsprung. Und ein solcher Vorsprung läßt sich hier in den Bergen nicht wieder einholen …“

„Hoffentlich nicht!“ meinte Gordon etwas besorgt. „Weshalb wollen wir denn erst am Nachmittag Nepalgang verlassen und hier … die Zeit unnütz vertrödeln?! Ich denke, wir haben alle Ursache, uns zu beeilen, denn diese drei Wegelagerer werden wohl kaum zaudern, der Miß und Amalgi das Lebenslicht auszublasen, wenn …“

„… ja, wenn die sogenannten Mönche des Klosters Damalang nicht den Spieß umkehren, lieber Gordon!! Für mich besteht kein Zweifel, daß in dem Kloster lediglich Angehörige der Samur-Yogi wohnen, und daß dieses Kloster gleichsam eine Erziehungsanstalt, eine Hochschule für die alten drawidischen Geheimwissenschaften ist, denn die Nepalesen wußten mir zu berichten, es kämen häufig jüngere indische Pilger durch Nepalgang, die ihr Reiseziel ängstlich verschwiegen. – Daß wir noch vier Stunden hierbleiben werden, hat seinen guten Grund: die Bergponys müssen erst herbeigeschafft werden, außerdem Proviant und manches andere. Gegen vier Uhr begeben wir uns mit unseren Waffen und den allernotwendigsten Sachen aus unseren Koffern zu dem Rendezvousplatz, den ich mit dem Nepalesen verabredet habe. Unsere Koffer lassen wir hier. Gaska kommt natürlich mit.“ – –

Vier Uhr …

Hier in dem Bergnest Nepalgang regnete es nicht, jedenfalls nicht andauernd. Bei klarstem Sonnenschein schritten wir, ausgerüstet wie zu einer Tigerjagd (denn in den Nepalwäldern gibt es noch weit mehr von diesen Bestien als in Indien) zur Stadt hinaus, bogen nach Osten ab, erkletterten auf schmaler, in den Steine gehauener Zickzacktreppe die himmelhohe Talwand, wurden oben von einem geradezu eisigen Winde in Empfang genommen und waren froh, als wir zehn Minuten drauf in einer Schlucht zwei Nepalesen mit den vier Reit- und dem einen Lastpony antrafen, – noch froher, daß wir nun in die Schafpelze schlüpfen konnten und die Lammfellmützen über die Ohren ziehen konnten.

Aufbruch …

Die Nepalesen wurden bezahlt … Der eine beschrieb uns nochmals den Weg, deutete nach Norden, wo der schneebedeckte, vergletscherte Gipfel des dreitausend Meter hohen Kudri klar zu erkennen war, dahinter aber die unendliche Kette der Bergriesen des Himalaja – eine Szenerie von so überwältigender Schönheit, daß unsere deutschen Alpen dagegen mehr wie ein Spielzeug wirken.

Aufbruch …

Auf zottigen, dickbeinigen Ponys ging’s an Abgründen vorüber, die mir den kalten Schweiß auf die Stirn trieben.

Harald wieder voran …

Und – siehe da, nach zwei Stunden bereits heulte unser braver vierbeiniger Fährtensucher auf einem mit kleinen Schneehalden bestreuten Hochplateau winselnd und derart kennzeichnend, daß wir sofort wußten: hier waren Amalgi und Honoria vorübergekommen, hier mußten sie abgestiegen sein, hatten vielleicht die Sättel fester geschnallt …

Nun brauchten wir nicht mehr zu fürchten, den richtigen Weg zu verfehlen … Nun konnten wir uns auf Gaska verlassen …

Weiter also – in flotterem Tempo, soweit dies das Gelände zuließ.

 

5. Kapitel.

Was Honoria bestimmte …

Die Dunkelheit kam …

Es wurde noch kälter. Unsere Gesichter brannten von der scharfen Luft wie Feuer …

Und wie von Feuer beschienen glühte vor uns der Gipfel des Kudri – bereits ganz nahe – – scheinbar …

Wir rasteten, aßen, tranken heißem Tee …

Weiter …

Der Hund führte … Ohne den Hund hätten wir Tage gebraucht, um in dieser grandiosen Bergwelt unser Ziel zu erreichen.

Harald betonte mehrfach, daß es für ihn bereits erwiesen sei, daß Doktor Amalgi den Weg nach dem Kloster genau kenne … „Die beiden haben keinen Führer mitgenommen. Das besagt genug …“

Wieder ein Hochplateau, bedeckt mit körnigem Schnee …

Und hier stoßen wir endlich auch auf die Fährte der drei Rivalen … Hier finden wir an schneefreier Stelle zwischen Felsblöcken Spuren eines Lagerplatzes. Harst beweist uns, daß die drei hier gerastet haben, daß sie vor kurzem erst wieder aufgebrochen sind …

Weiter … Hinein in ein kahles Tal … Wieder aufwärts dann …

Nun ist es völlig Nacht geworden. Die Abendröte läßt den Gipfel des Kudri nicht mehr leuchten … Und doch sehen wir das zerklüftete Bergmassiv im Glanze zahlloser Sterne deutlich vor uns …

Weiter …

Unser Gaska trabt … Die Ponys traben …

Wieder schmale Pfade an Abgründen, wieder im Schritt.

Alle Wunder, der ganze Zauber nächtlichen Hochgebirges tut sich vor uns auf … Finstere Wälder bedecken steinige Halden … Aus der Tiefe der entlegenen Waldungen dringt das Heulen und Brüllen von Tigern und Panthern bis an unser Ohr. Es ist ein Irrtum, wenn man annimmt, der Tiger hause nur in den warmen Dschungeln der indischen Tiefebene. Die Nepaltiger sind nur heller in der Färbung. – Zweimal begegnen wir schwarzen Bären, die jedoch scheu das Weite suchen. Harst hätte so gern eine Kugel angebracht.

Um Mitternacht erscheint der Mond …

Wir nähern uns der Nordseite des Berges …

Gaska wird immer lebhafter …

Wieder ein Tal …

Wieder beschwerlicher Anstieg. Wir führen die Ponys am Zügel … Wir ahnen, daß das Kloster nicht mehr fern.

Dann links von uns eine Felswand von gut zweihundert Meter Höhe – ein endlos langer, senkrecht abfallender Steinwall, dessen Konturen sich im Dämmerlicht der Ferne verlieren …

Und vor uns vereiste, schneebedeckte Hügel, kahle Felsen, Schutthaufen von früheren Bergstürzen, ein paar indische Kiefern, Gestrüpp …

Harald hat das Fernglas am Auge …

Blickt zur Felswand empor … Auch ohne Glas erkenne ich, daß der Steinwall in etwa achtzig Meter Höhe zurückspringt, eine breite Terrasse bildet, – erkenne dort oben einen tempelartigen Bau mit einer Vorhalle, mit acht Steinsäulen, mit einem matt blinkenden Metalldach …

Da – – nicht allzu fern von uns Schüsse …

Vier … fünf …

Der Wind trägt uns ein paar gellende Schreie zu …

Stille wieder …

Harald treibt seinen Pony zu plumpem Galopp an …

Aber das Gelände ist hier derart unübersichtlich, daß wir gut zehn Minuten umherirren, bis John Gordon-Berlett uns durch lauten Zuruf auf zweierlei aufmerksam macht: Links an der Steilwand schwebt zum Kloster Damalang an einem dicken Tau ein Riesenkorb, aus Weiden geflochten, empor, in dem wir drei Leute in der Tracht der Buddhistenmönche erkennen … Rechts aber auf einem vereisten Hügel ein anderes Bild: ein Mann in Pelzkleidung, in einer Schneewehe bis zum Bauche stehend – mit zum Himmel emporgereckten Armen … Vor ihm ein zottiger Hund, auf dem Rücken liegend – – offenbar tot, ein Tharhund … Daneben eine Büchse …

Der Mann … ist Amalgi …

Im klaren Lichte des anbrechenden Morgens erkennt man deutlich die leichenhafte Entstellung der Gesichtszüge …

Amalgi, Doktor Georg Amalgi lebt nicht mehr … Seines Daseins ruhelose Uhr ist früher abgelaufen, als er es uns im Dschebel Hammak vorausgesagt hat …

Dann – – die Stimme Hubert Enochs – – leiderfüllt, – – mehr Schrei des Schmerzes als Ausdruck des Entsetzens:

„Mein … Herr, mein armer Herr!! Und – – dort drüben … noch drei Tote … unsere Gegner …!“

Jetzt erst sehen wir in einer engen Schlucht schräg links von uns ein paar Ponys, daneben drei regungslose Gestalten am glitzernden Erdboden …

Im selben Moment hat die Sonne den Dunstkreis des östlichen Horizonts überwunden und übergießt die Berglandlandschaft mit strahlender Lichtfülle – diese herrliche, köstliche Region des ewigen Eises …

Und doch – ringsum auch hier der Mensch mit seinen brutalen Leidenschaften, Begierden und sittlichen Mängeln … Ringsum der Tod, die Rätsel der Menschenseele … Dort Amalgi, dort die drei, die uns nachgestellt haben, dort links der schwebende Korb, der nun gerade in einer Spalte des Randes der Felsterrasse verschwindet …

Harst springt von seinem Tiere … Ich desgleichen … Und wir beide erklimmen eilends den Eishügel, gelangen bis zu der aufrecht stehenden Leiche, bis zu dem toten, erschossenen Hunde – erschossen, wie wir jetzt sehen …

Aber Amalgis Körper weist keinerlei Verletzungen auf.

Harst untersucht ihn …

Keine Verletzung …

Und das Gesicht, so aus der Nähe gesehen, macht vollkommen den Eindruck des eines Menschen, der vom Frost, von der Kälte überwältigt langsam in das Jenseits hinübergeschlummert ist …

Von der Kälte?! – Die Temperatur hier beträgt kaum fünf Grad unter Null … Bei einer solchen Temperatur erfriert niemand so leicht …

Dann sagt Harald – und in seiner Stimme schwingt das geheime Grauen vor etwas Unfaßbarem mit:

„Schau dir die Augen an …!“

Ich … schaue … pralle fast zurück … – Augen?!

Nein … Opale sind’s, Opale wie die der Mumien in der Inselgrotte …

Harst berührt Amalgis Gesicht – die Wangen, das Kinn.

Sagt wieder: „Lebenswarm!!“ Und wieder klingt durch seine Stimme das stille Grauen vor dem Unbegreiflichen. –

Hinter uns Stimmen … Ich wende den Kopf … Stutze … Miß Goord, Gordon und Hubert kommen zu uns empor.

Honoria reicht uns die Hand … wortlos …

Blickt gen Norden zum nie erklommenen Gipfel des Gaurisankar, bewegt die Lippen, beginnt zu sprechen:

„Meine Freunde, ich bitte Sie, mich nichts zu fragen, was Amalgis Tod betrifft …“

Sie schiebt die Pelzmütze aus der Stirn …

Und auf dieser Stirn leuchtet jetzt das hellblaue Bildnis des Gottes Samur …

„Mein Sehnen ist erfüllt,“ fährt sie noch leiser, weltentrückter fort … „Ich habe den wahren Frieden gefunden … Dort oben im Felsenkloster Damalang werde ich den Rest meiner Tage verbringen … – Ihnen, Landsmann Gordon, gebe ich ein Schreiben mit, daß ich mein Erbe Londoner Wohltätigkeitsanstalten überweise … Geld hat für mich keinen Wert … Ich bin aufgenommen in die Gemeinschaft der wenigen, die des Daseins letzte Geheimnisse hüten. Das ist mehr als Milliarden, mehr als alle Seligkeiten irdischen Lebens … – Und Ihnen, Herr Harst, der Sie so selbstlos uns schützten, überreiche ich hier Amalgis Vermächtnis … Öffnen Sie diesen Brief erst in Nepalgang …“

Sie gibt Harald einen großen, dreifach versiegelten Umschlag … Schreibt für Gordon ihren letzten Willen … Wendet sich der Bergterrasse zu, winkt nach oben … Der Korb schwebt leer wieder herab …

„So, meine Freunde,“ sagt Honoria Goord, „nun heißt es Abschied nehmen – für immer! Kehren Sie zurück zu den Menschen … Kümmern Sie sich nicht weiter um jene drei Toten, die aus Geldgier Amalgi und mich niederschießen wollten, – nicht um Amalgi, der jetzt seines Lebens höchste Sehnsucht erfüllt sieht, der … lebt und doch für euch Menschen tot zu sein scheint … scheint!“

Sie drückt einem jeden von uns die Hand … Schreitet den Eishügel hinab … Steigt in den Korb … Schwebt empor …

Still, beklommen, sehen wir, wie sie emporgehißt wird …

Um uns her ist das Wehen einer anderen Welt … das Wehen überirdischer Gewalten …

Harst rafft sich auf … „Ich glaube, wir haben hier nichts mehr zu erledigen,“ sagt er … Und schaut Amalgi ins blasse Antlitz … „Ich will Ihr Vermächtnis getreulich erfüllen, Amalgi … In Nepalgang werde ich Ihre Niederschrift lesen … Leben Sie wohl …“ Er tut, als ob er zu einem Lebenden spräche …

Wendet sich, klettert uns voran den Hügel abwärts … Wir folgen schweigend … Besteigen schweigend unsere Ponys …

Ein letzter Blick nach oben zu dem unerreichbaren Felsenkloster …

Keine Seele dort auf der Terrasse … Die … Millionenerbin ist verschwunden …

Wir reiten davon …

Und in meinem Innern wird die ungewisse Frage rege, ob wir wirklich niemals hierher zurückkehren werden …

Amalgi ist tot … – – tot?!

Sein Vermächtnis lebt …

Und wie nach feierlicher Andacht in einer prachtvollen Kirche setzen wir den Heimritt fort.

 

Nächster Band:

Doktor Amalgis Vermächtnis.

 

 

Anmerkungen:

  1. Cananga odorata. Siehe auch Wikipedia: Ylang-Ylang.
  2. In der Vorlage: „Tharwüste“ – Innerhalb des Amalgi-Zyklus (Band 181; 183–187) auf gleiche Schreibweise „Thar-Wüste“ geändert.
  3. „Samuryogi“ / „Samur-Yogi“ – Beide Schreibweisen vorhanden. Alles auf „Samur-Yogi“ geändert.
  4. In der Vorlage: „Tharkatzen“ – Innerhalb des Amalgi-Zyklus (Band 181; 183–187) auf gleiche Schreibweise „Thar-Katzen“ geändert.
  5. In der Vorlage: „Thartrapper“ – Innerhalb des Amalgi-Zyklus (Band 181; 183–187) auf gleiche Schreibweise „Thar-Trapper“ geändert.
  6. Gemeint ist wohl Nepalganj.