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Thomas Bruck, der Sträfling

 

 

Walther Kabel[1]

 

Thomas Bruck, der Sträfling

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44.

 

Nachdruck verboten. Alle Rechte einschließlich Verfilmungsrecht vorbehalten. Copyright by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin 26. – 1923.
Druck: Buchdruckerei P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Der alte Gefangenaufseher Lietzner klapperte heute so vergnügt mit den Schlüsseln, als er vormittags zehn Uhr den langen Flur des Zuchthauses hinabschritt und vor der Tür der Zelle Nr. 108 halt machte.

Er schloß auf. Der Insasse der Zelle erhob sich von seinem Schemel, wie es Vorschrift war.

„Morgen, Herr Bruck,“ sagte Lietzner und nickte dem Gefangenen zu.

Das geschah zum ersten Mal in diesen acht Jahren. Lietzner hielt sich streng an die Instruktion.

Thomas Bruck verharrte in derselben Stellung. Keine Miene seines fahlen Gesichts verzog sich.

Lietzner schüttelte den Kopf.

„Nicht so verbittert sein, lieber Herr Bruck,“ meinte er. „Noch eine halbe Stunde, dann sind Sie frei, dann sind Sie keine bloße Nummer mehr.“

Er streckte ihm die Hand hin. „Ich wünschte, all unsere Zöglinge würden sich so führen wie Sie!“

Bruck übersah die Hand, und der Alte lachte ärgerlich auf.

„Na – wenn Sie nicht wollen! – Kommen Sie mit ins Büro –“ –

Thomas Bruck stand vor dem Direktor des Zuchthauses.

„Ihre Strafe ist vorüber, Bruck,“ sagte der Direktor freundlich. „Bevor Sie nun wieder in das Leben zurückkehren, möchte ich Ihnen noch meine Anerkennung für Ihre musterhafte Führung aussprechen. Leider konnte ich ja bei der Schwere Ihrer Straftat Ihnen keine Erleichterung –“

Er schwieg. Brucks Gesicht wurde von der durch das breite Fenster hereinflutenden breiten Sonnenbahn des klaren Apriltages hell beschienen. Und in diesem Gesicht lag nichts als eisige, verbitterte Ablehnung; in den Augen aber eine ungeheure Feindseligkeit, mehr noch, ein wilder Haß, der diesem Beamten als dem Vertreter der Staatsautorität, der strafenden Gerechtigkeit galt.

Der Direktor hüstelte. Dieser Blick verwirrte ihn. – Er kramte in den Papieren, die auf dem Schreibtisch lagen, und fuhr hastig fort:

„Sie werden die Welt da draußen sehr verändert finden, Bruck. Sie wissen noch nichts von dem, was an Umwälzungen in unserem Vaterlande –“

Da erst schäumte bei dem bisherigen Sträfling der tiefe, seelenzerfressende Groll über.

„Schenken Sie sich all das, Herr Direktor,“ stieß er hervor. „Ich weiß, wie es in der Welt jetzt aussieht. Auch Zuchthausmauern plaudern aus, was draußen vorgeht. Ich wünsche genau so behandelt zu werden, wie es die Vorschrift verlangt, – nichts weiter!“

Der Direktor seufzte und blickte Bruck etwas scheu an. „Sie wollen also durchaus die Rolle des Schuldlosen –“

Abermals unterbrach Bruck ihn. „Ich will nur eins,“ rief er. „Meine Unschuld beweisen! Und – ich werde dies erreichen!“

Der Direktor zuckte leicht die Achseln. Der alte Lietzner, der an der Tür stand, lächelte gutmütig-mild. – Die Förmlichkeiten der Entlassung wurden dann ohne jedes überflüssige Wort erledigt.

Als der Direktor jetzt Bruck die während der Strafzeit erarbeiteten und ersparten 1385 Mark auf den Tisch zählte, machte Bruck eine entschiedene Handbewegung. „Ich lehne die Annahme ab,“ sagte er kurz. „Überweisen Sie das Geld irgend einer Wohltätigkeitsanstalt. Nichts – nichts soll mich mehr an diese acht verlorenen Jahre erinnern!“

„Und – wovon wollen Sie draußen Ihr Leben in den ersten Tagen fristen?!“ fragte der Direktor mit gütigem Vorwurf. „Bruck, seien Sie verständig! Sie –“

„Nochmals: ich lehne das Geld ab! Es bleibt dabei!“ –

Thomas Bruck durchschritt das Hauptportal des Zuchthauses. Dort vor ihm zwischen Wäldern und sprossenden Saaten lag das kleine Städtchen. Er warf nicht einen einzigen Blick auf die roten, hochragenden Gebäude der Strafanstalt zurück; er merkte nichts von dem Wehen des Frühlings ringsum, nichts von dem warmen Sonnenschein. Seine grauen Augen waren halb zugekniffen. Das Licht blendete ihn. Er stützte sich schwer auf den Spazierstock mit der silbernen Krücke, den er damals bei sich gehabt, als man ihn in dem Restaurant an der Havel verhaftet und im Auto nach Berlin gebracht hatte. Heute war er genau so gekleidet wie damals – genau so! Man hatte ihm seine Sachen zurückgeben müssen. Auch das war Vorschrift. –

Vor einem Trödlerladen der kleinen Stadt blieb er dann nachdenklich stehen. Er scheute sich, einzutreten. Hier im Städtchen sah ihm ja jeder an, woher er kam. Die Leute hier waren an diese kittgrauen, verkniffenen Gesichter der entlassenen Zuchthäusler längst gewöhnt. Und doch starrten sie diesen armseligen Gestalten stets mit der gleichen Neugier und einem Gefühl pharisäerhafter Verachtung nach.

Thomas Bruck hob den Kopf mit einem Ruck höher. „Fürchtest Du Dich vor den Menschen?!“ dachte er. „Sollen sie Dich nicht fürchten lernen?! Sie sollen es!“

Er trat schnell ein. Die Türglocke bimmelte, und aus dem Hintergrunde des dunklen Ladens schlich lautlos der bucklige Trödler herbei.

„Ich möchte diesen Spazierstock verkaufen,“ sagte Bruck.

Der Trödler wiegte den Kopf hin und her, besichtigte die schwere Silberkrücke, murmelte:

„Nu – zehn Mark –“

Der Stock war heute zweihundert wert.

„Gut – zehn Mark,“ nickte Bruck. „Dann diese Uhr und diesen Trauring – Uhr nebst Kette, beide echt Gold.“

Der Trödler ließ die Lider über die Augen herabfallen, um ihr Aufleuchten zu verbergen.

„Nu – hundertfünfzig Mark für alles,“ brummte er.

Mit hundertsechzig Mark in Papiergeld ging Bruck zum Bahnhof, setzte sich in den Wartesaal, bestellte fünf Zigaretten, eine Tasse Kaffee und ein belegtes Brot.

Nachher hatte er 25 Mark zu zahlen.

Er schaute den Bahnhofswirt ungläubig an.

„Fünfundzwanzig Mark?! Wohl ein Irrtum,“ meinte er.

Es war kein Irrtum. Da merkte Bruck, daß der Trödler ihn betrogen hatte. Er lächelte nur verächtlich.

„Die Welt empfängt mich, wie sie mich hineinschickte in die roten Mauern: als Betrügerin!“ dachte er.

Der Rest des Geldes reichte gerade noch für eine Fahrkarte vierter Klasse bis Berlin.

So fuhr Thomas Bruck dem neu gewonnenen Leben entgegen. Neben ihm im Abteil Vierter saß ein älterer Herr mit Schmissen. Sie kamen ins Gespräch. Der alte Herr stellte sich nachher als pensionierter Oberregierungsrat vor. Bruck hatte kein Hehl daraus gemacht, daß er aus dem Zuchthaus käme. – Der Oberregierungsrat hatte nur schmerzlich gelächelt, als Bruck sich wunderte, daß das Publikum in der vierten Wagenklasse so viel „feiner“ geworden.

Und abermals ging da in Thomas Bruck die dunkle Ahnung auf, daß die Welt jetzt doch wohl noch ganz, ganz anders sei, als die Zellengefangenen sich dies durch Klopftöne in ihren schlaflosen Nächten durch die Mauern zutelegraphiert hatten.

 

2. Kapitel.

Vor dem geschmackvoll dekorierten Schaufenster eines der besten Delikatessen-Geschäfte des Berliner Westens stand ein mit etwas unmoderner Eleganz gekleideter Herr, dessen bartloses, überaus mageres Gesicht mit seltsamem Ausdruck all den teuren Leckerbissen zugewandt war, die dort hinter der dicken Fensterscheibe ihm so nah und doch so völlig unerreichbar entgegenleuchteten.

Seine grauen Augen, halb zugekniffen, scheuten sich, die fast tierische Gier zu verraten, mit der sie die einzelnen Sachen musterten: den rotbetupften Hummersalat, den großlöcherigen Schweizer Käse, die dicke Zungenwurst und all das übrige, was geeignet war, sowohl den Hunger zu stillen als auch die Nerven der Zunge anzuregen.

Der Mann, der da an diesem lauen Aprilabend mit dieser ungeheuren Bitterkeit im Herzen an ein trockenes Stück Brot als Gegensatz zu all diesen erlesenen Gaumengenüssen dachte, – an ein Stück Brot, das er sich genau so wenig kaufen konnte wie etwa dort die Büchse Sardinen, dieser schlanke, in seiner ganzen Haltung so schlaffe Mann ahnte nicht, daß vor einigen Minuten eine Dame in hellem Kostüm und kleinem schicken Hut mit Reiherstutz neben ihn getreten war und nach flüchtigem Blick, der über seine Gestalt zunächst ohne jedes Interesse hinglitt, durch den Ausdruck seines Gesichts dann sofort gefesselt wurde und nun den Schleier mit den mattgoldenen, aufgestickten Blumen hastig herabzog, um ihr blasses, gepudertes Antlitz auf diese Weise in eine verschwommene, durch nichts irgendwie auffallende Alltagslarve zu verwandeln.

Ulla Kresten glaubte einige Menschenkenntnis zu besitzen. Dieser Mann hatte Hunger; dieser Mann hatte einst bessere Tage gesehen.

Vielleicht, dachte sie, vielleicht wäre gerade dieser Eine, den ihr der Zufall hier in den Weg geführt hatte, für sie der lang Gesuchte! –

Nochmals ein prüfender Blick hinter dem kostbaren Schleier hervor.

Ja, die Hände dieses Mannes, die da auf der Krücke des derben Spazierstocks übereinander ruhten, als ob der Körper diese Stütze nötig habe, waren tadellos gepflegt, obwohl die Knopflackstiefel und der kurze Sportpaletot nicht mehr ganz einwandfrei schienen. Den Ausschlag für Ulla gaben das intelligente Gesicht und dieser hungrige, starre Blick, dieser zu einer schmalen Linie zusammengepreßte Mund und der Seufzer, der sich jetzt zwischen den Lippen hervorstahl und sofort wieder wie in jähem Erschrecken unterdrückt wurde.

Hinter Ulla und dem Manne mit dem fahlen, fleischlosen Antlitz flutete auf dem Bürgersteig der abendliche Verkehr der Weltstadt gleichgültig und gleichmäßig vorüber. Niemand kümmerte sich um die beiden, die dort im grellen Lichte des Schaufensters standen und von so verschiedenartigen Gedanken bewegt wurden.

Wirklich niemand?!

Wenige Schritte weiter studierte ein kleiner Herr mit spärlichem Vollbart und goldener Brille vor den Augen an der Plakatsäule einen Theaterzettel.

Hin und wieder wandte er den Kopf nach links und schaute nach dem Manne vor dem Delikatessengeschäft hinüber.

Ulla Kresten war jetzt zu einem Entschluß gelangt. Zwei Schritte nach rechts, und sie sprach den Unbekannten an.

„Würden Sie mir einen Gefallen tun, mein Herr?“ fragte sie halblaut.

Der Mann zuckte zusammen. Flüchtige Röte färbte die graugelben Wangen. Er schämte sich. Ob diese Dame etwa erraten hatte, was in ihm vorgegangen war, als er so regungslos dastehend seinen Hunger an all den lang entbehrten Genüssen gestillt hatte – nur in Gedanken! –, ob sie ihm etwa ein Almosen anbieten wollte?!

Da hatte er schon den Hut gelüftet, hatte mit etwas knapper, reservierter Verbeugung erwidert:

„Gnädigste wünschen?“

Ulla genügten diese zwei Worte. Sie hatte sich nicht getäuscht. Das konnte der sein, den sie gesucht hatte.

„An diesem Ort läßt sich meine Bitte schlecht vortragen,“ erklärte sie nun mit der ruhigen Würde und Sicherheit der Dame von Welt. „Wollen Sie mich daher vielleicht ein Stück begleiten. Wenn es Ihnen recht ist, suchen wir ein bescheidenes Restaurant auf. Daß ich von Ihnen nicht falsch eingeschätzt werde, weil mein Verhalten immerhin etwas eigentümlich ist, brauche ich wohl kaum zu fürchten. Hielte ich Sie nicht für einen Gentleman, würde ich Sie nicht angesprochen haben.“

Der Unbekannte verbeugte sich abermals. „Ich bitte, von dem Besuch eines Restaurants absehen zu wollen,“ sagte er mit kaum merklicher Verlegenheit. „Es genügt wohl, wenn wir –“

Ulla Kresten hatte zustimmend genickt und schritt langsam weiter. Der Mann blieb an ihrer linken Seite. Schweigend legten sie den Weg bis zu einer menschenleeren Nebenstraße zurück.

Hier begann die Verschleierte, indem sie stehen blieb und einen forschenden Blick nach rückwärts warf:

„Mein Herr, in meiner Lage ist Offenheit – gegenseitige Offenheit unbedingt nötig. Darf ich erfahren, wer Sie sind?“

Er zögerte erst. Dann entgegnete er etwas ablehnend: „Mein Name tut nichts zur Sache. Jedenfalls bin ich vor mir selbst bisher noch das, wofür Sie mich hielten, als Sie mich einer Anrede würdigten, meine Gnädige, obwohl die Menschheit –“

„Noch das! Noch das!“ wiederholte sie, ihn unterbrechend. „Bisher noch das! – Mein Herr – ohne alle Phrasen: Sie befinden sich in bedrängten Verhältnissen, Sie sind – mittellos!“

„Ja!“ sagte er hart und klar. „Vollkommen mittellos. Ich scheue mich nicht, dies einzugestehen. Ich bin überzeugt, Sie haben herausgefühlt, weshalb ich dort vor dem Schaufenster so versunken in den Anblick all der Herrlichkeiten dastand.“

„Sie – haben Hunger,“ meinte sie leiser, und er hörte sehr wohl das Mitleid heraus, das ihre Stimme weicher färbte.

„Auch das trifft zu.“

„Kommen Sie,“ erklärte sie sofort lebhafter.

Er blieb wieder neben ihr.

Längst hatte sich in ihm die Neugier geregt, was diese Frau, von der er hinter dem dichten Schleier nur ein Paar lebhafte große Augen schimmern sah, wohl von ihm zu erbitten hätte.

Sie winkte dann ein Auto herbei und rief dem Chauffeur den Namen eines bekannten Bierpalastes in der Friedrichstraße zu, fügte aber leiser noch etwas anderes hinzu.

Der Kraftwagen wand sich durch den lebhaften Verkehr des Nollendorfplatzes.

„Sie sind noch nicht lange in Berlin?“ fragte Ulla Kresten nun.

„Nein. Erst seit gestern abend.“

„Woher kamen Sie? – Es liegt bei mir wirklich keine müßige Neugier vor –“

„Aus dem – Zuchthaus!“ sagte er schroff. Und er dachte gleichzeitig: „So – nun wird sie sich schnell und verlegen verabschieden!“

Ulla Kresten blickte ihn von der Seite an. Auch er wandte den Kopf. Seine Mundwinkel waren höhnisch verzogen; seine Augen feindselig und fast herausfordernd.

„Ich darf nun wohl auf den Ball drücken, damit der Chauffeur hält,“ fügte er ironisch hinzu. „Ein Mann, der acht Jahre Zuchthaus hinter sich hat, ist als Begleiter einer Dame nicht recht geeignet, wenn –“

„Sie irren sich,“ erklärte Ulla Kresten ruhig. „Vielleicht freue ich mich jetzt sogar noch mehr, daß ein Zufall uns zusammengeführt hat.“

„Das wäre seltsam,“ meinte er erstaunt. Und dieses Erstaunen war völlig echt. Er begriff diese Frau immer weniger. Dann aber ein jäher Gedanke. Und er richtete sich höher auf, sagte schneidend:

„Verlangen Sie von mir nichts, das mich mit den Gesetzen in Konflikt bringen könnte! Wenn ich auch auf einer Bank im Tiergarten genächtigt und seit gestern abend nichts mehr genossen habe, so würde ich doch –“

„Keine Sorge! Warten Sie bitte ab.“ Und Ulla Kresten lehnte sich in die Polsterecke des Autos zurück und spielte mit dem Schloß ihrer goldenen Handtasche, drückte es auf, knipste es zu und sann darüber nach, was dieser Mann wohl begangen haben könne, der doch so gar nicht den Eindruck eines Verbrechers machte. Das Auto glitt jetzt an der Gedächtniskirche vorüber und bog in den Kurfürstendamm ein.

Der Mann neben Ulla wurde aufmerksam, schaute sich verwundert um und fragte unvermittelt:

„Was haben Sie dem Chauffeur noch zugeflüstert? Was bedeutet das?! Wir fahren nicht nach der Friedrichstraße?!“

„Nein – nach Dahlem fahren wir. Warten Sie nur ab –“

Auch er lehnte sich jetzt zurück.

„Ein merkwürdiges Abenteuer!“ schoß es ihm wieder durch den Kopf. „Wie wird es sich weiter entwickeln?! Ob etwa –“ – und abermals straffte sich sein Körper wie unter einem die Energie aufpeitschenden Gedanken – „– ob etwa diese Frau mit zu jenen gehört, die Dich einst hinter den Zuchthausmauern begraben ließen?!“

Sein Argwohn war erwacht. – „Vorsicht!“ warnte er sich selbst. „Vorsicht! Wenn es eine Falle wäre?! Wenn die teuflischen Ränke etwa schon wieder begönnen?!“

 

3. Kapitel.

Das Auto hielt schließlich vor der Gartenpforte einer einzeln stehenden Holzvilla, die in einem durch Maschendraht eingezäunten Waldstück weit ab von den übrigen vornehmen Wohnpalästen dieses stillen Vorortes lag. Ulla Kresten stieg aus und bezahlte den Chauffeur. Dann winkte sie leicht mit dem Kopf, öffnete die Pforte und bat ihren Begleiter, einzutreten.

Dieser hatte unwillkürlich aus einer verstärkten mißtrauischen Regung heraus sich umgeblickt. Er bemerkte auch etwas, das ihm auffiel: gut hundert Meter zurück stand an der Straßenkreuzung ein anderes Auto, und daneben ein kleiner, graubärtiger Herr, der mit dem Chauffeur sprach. An dieser Straßenkreuzung hatte sich noch soeben kein Auto befunden. Und jetzt schaute der Graubart von drüben mit halber Körperwendung wie zufällig die Straße hinab, begegnete dem Blick des Anderen und fuhr mit dem Kopf wieder herum.

„Vorsicht!“ dachte Ulla Krestens Begleiter da abermals. Und dachte weiter: „Wenn ich wenigstens eine Waffe bei mir hätte!“

Ulla rief ihm, bereits im Garten stehend, leise zu:

„Sie brauchen nicht zu fürchten, daß Ihnen in meinem Hause etwas zustoßen könnte. Ich heiße Ulla Kresten und wohne hier mit meiner Gesellschafterin Miß Steep und einer Köchin und einer Zofe.“

Der Herr lächelte ein wenig und folgte Ulla dann raschen Schrittes. Das Lächeln war halb verlegen, halb nachdenklich. Ulla Kresten! Der Name schien ihm nicht fremd, rief in ihm irgend eine Erinnerung wach – woran nur – woran?! –

Auf der geräumigen Diele half ihm eine Zofe mit weißem Häubchen aus dem Überzieher und führte ihn in ein modern eingerichtetes Speisezimmer. Ulla hatte sich für ein paar Minuten entschuldigt.

Er nahm am Fenster in einem kleinen Damenklubsessel Platz. Er war jetzt allein und musterte das Zimmer, die Möbel, die Bilder, bis sein Blick auf einer eingerahmten Gruppenaufnahme haften blieb, die auf dem Paneelbrett über dem Klubsofa stand. Er erhob sich, ging über den roten Afghanteppich zögernd auf das Sofa zu und nahm das Bild in die Hand.

Etwa ein Dutzend Personen, Herren und Damen, saßen auf der Freitreppe einer großen Villa. Nur eine einzelne Dame, ein dunkelhaariges junges Mädchen mit großen Augen, lehnte mehr im Hintergrunde an der mit Rankengewächsen gefüllten Steinschale, die das Steingeländer der Treppe oben verzierte.

„Ah – Ulla Kresten!“ murmelte der Mann, und stellte das Bild wieder auf das Paneelbrett zurück. „Ulla Kresten, die damals der Baronin das Diadem –“

Seine Gedanken erhielten eine andere Richtung. Die Tür hatte sich geöffnet, und eine rundliche, ältere Frau war mit einem voll besetzten Teebrett eingetreten.

„Unser Fräulein läßt bitten zuzulangen,“ sagte die Köchin Minna Volker freundlich.

Im Nu hatte sie den Tisch gedeckt und auch eine Flasche Rotwein neben all die köstlichen Leckerbissen gestellt.

Der Herr war wieder allein.

„Meine erste Mahlzeit in der Aufmachung von einst!“ dachte er und nahm Platz. „Ulla Kresten, ich danke Dir für Dein taktvolles Fernbleiben! In Deiner Gegenwart wäre ich vielleicht zu sehr Gesellschaftsmensch gewesen und hätte mich nicht satt gegessen!“

„Sie hat Dich erkannt,“ sagte er sich weiter, als er den Kaviar kostete. „Ganz bestimmt hat sie Dich erkannt. Das sind nun acht Jahre und sieben Monate her – ja, genau so lange ist’s her! Wie aber kann Ulla Kresten, einst Gesellschaftsdame und Vorleserin der morphiumsüchtigen Baronin Salbing, jetzt zu solchem Wohlstand gelangt sein, daß sie mir im eigenen Heim Kaviar, Hummersalat, kaltes Geflügel und Gänseleberpastete vorzusetzen vermag?!“

Er goß sich ein Glas Rotwein ein, hielt das Glas unter die Nase, trank langsam, mit Andacht, – trank noch ein Glas. Seine Wangen bekamen Farbe; sein Hirn arbeitete schneller. Ein stilles Wohlbehagen erfüllte ihn.

„Sie muß doch damals verurteilt worden sein,“ überlegte er. „Sie ließ mich bitten, ihre Verteidigung zu übernehmen, nachdem sie verhaftet worden war. Ich lehnte ab. Ich hatte ja für nichts mehr Interesse – für nichts!“

Seine Hand umkrampfte plötzlich das Tischmesser.

Der Haß erwachte jäh wieder wie ein auflohendes Flammenmeer, der Haß gegen alle, die mit schuld daran waren, daß er acht endlose Jahre hinter Kerkermauern zugebracht hatte.

„Jetzt habe ich Interesse – auch für Dein Leid, Ulla Kresten!“ dachte er mit bösem Lächeln. „Vielleicht hat man Dir genau so übel mitgespielt wie mir!“

Er hob das zum dritten Male gefüllte Glas.

„Es lebe die Rache! Mörder und Diebin – ein feines Gespann!“ –

„Unser Fräulein läßt den Herrn in den Salon bitten,“ sagte die Zofe eine Viertelstunde später.

Er stand elastisch auf. Die neugierigen Blicke des Mädchens, das ihn fast ungezogen musterte, verrieten deutlich das namenlose Erstaunen über sein verändertes Aussehen. Sie öffnete die andere Tür des Zimmers, die in einen fast leeren Raum führte, der durch einen großen Flügel zur Hälfte ausgefüllt wurde, wies auf die gegenüberliegende Tür und blieb zurück.

Ulla Kresten rief „Herein!“ Sie hatte inzwischen ein dunkles Hauskleid aus blauer Seide angelegt, dessen hoher Kragen ihr früh verblühtes Gesicht mit den vielen Fältchen um Mund und Augen etwas voller und frischer erscheinen ließ. Die Vorhänge der Fenster waren geschlossen, und die Lichtfülle von sechs matten Glühbirnen der Deckenlampe zeigte dem eintretenden Gast sofort die grausamen Spuren, die das Leid und die Verzweiflung in dieses Frauenantlitz eingegraben hatten, das damals vor so und so viel Jahren mit seinen weichen Linien und seinem wundervollen Pfirsichteint den Neid der geschminkten Baronin Salbing ständig wachgerufen und ihre Schroffheit gegenüber dem bescheidenen jungen Mädchen noch vermehrt hatte.

Ulla stand in der Mitte des Zimmers und hatte die Linke leicht auf die Platte des achteckigen Tischchens gestützt. Auch ihr erging es jetzt genau so wie der Zofe: sie starrte den Herrn, dessen blauer Jackenanzug trotz der Knüllen den ersten Schneider verriet, wie entgeistert an.

Er verbeugte sich.

„Haben Sie mich jetzt erkannt, Fräulein Kresten? – Ich bin tatsächlich der frühere Rechtsanwalt Doktor juris Thomas Bruck, der – angebliche Mörder seiner Frau!“

„Welcher Zufall! Welch seltsames Zusammentreffen!“ flüsterte sie, noch ganz fassungslos, und streckte ihm die Hand hin. „Sprechen Sie bitte leise,“ fügte sie ebenfalls mit stark gedämpfter Stimme hinzu. „Miß Steep ist im Theater. Meine Köchin und die Zofe habe ich für den Rest des Abends beurlaubt; sie werden sofort das Haus verlassen. Dann brauchen wir keine Lauscher zu fürchten. Dienstboten sind stets neugierig, und sowohl Frau Volker als auch Anita habe ich bisher auf ihre Zuverlässigkeit nicht prüfen können. Ich wohne hier erst vierzehn Tage –“

Thomas Bruck hatte ihre Hand kräftig gedrückt.

„In der Tat – ein seltsamer Zufall!“ meinte er leise. „Sie kennen doch die Geschichte meiner Verurteilung, nicht wahr?“ fragte er dann, indem sein jetzt leicht gerötetes Gesicht sich verfinsterte.

„Ich las den Prozeß in einer amerikanischen Zeitung gleich nach meiner Übersiedelung nach Neuyork im Juli 1914, Herr Rechtsanwalt.“ Sie machte ihre Hand frei und deutete auf das kleine Gobelinsofa. „Setzen wir uns dort nebeneinander.“

Sie holte noch Zigarren und Zigaretten und stellte ein kleines Tischchen vor das Sofa.

Begierig griff Bruck nach einer Zigarette. Auch Ulla rauchte. Dann begann sie ihm zunächst ihre Schicksale zu erzählen.

„Sie wissen, daß in meinem Zimmer bei Frau von Salbing drei Diamanten aus dem Diadem der Baronin gefunden wurden – in der Erde eines Blumentopfes. Ich wurde verhaftet. Die Kriminalpolizei ermittelte, daß ich mit einem Herrn mich häufiger heimlich getroffen hatte. Dieser Herr war eine Zufallsbekanntschaft gewesen, ein Mann, der meine Vereinsamung klug auszunutzen verstanden hatte. Er nannte sich Herbert Müller. Mehr konnte ich über ihn nicht angeben. Erst einen Monat nach meiner Haftentlassung, die im Mai 1914 erfolgte und die ich lediglich dem Eingreifen des amerikanischen Detektivs Brooc zu verdanken hatte, der gerade hier in Berlin weilte und den mein Fall interessierte, erfuhr ich von Ihrer Verhaftung, Herr Rechtsanwalt und zwar in Hamburg, von wo ich mit der Lusatia nach Neuyork reisen wollte, da mir Mr. Brooc dort eine Stellung besorgt hatte.“

„Verzeihung. Wie erreichte der Detektiv Ihre Enthaftung, Fräulein Kresten?“

„Dadurch, daß er den Beweis erbrachte, jener Herbert Müller sei mit einem internationalen Verbrecher identisch, der in Wahrheit Moschler hieß und der sich mir nur genähert hätte, um –“

„Ich verstehe. – Drüben in Neuyork hatten Sie dann mehr Glück, Fräulein Kresten?“

„Nein – nein, kein Glück! Alles andere als das! Mr. Jones Brooc verlobte sich mit mir im Herbst 1914. Dann stellte sich heraus, daß ein entfernter Vetter meines Vaters – ich war ja schon mit vierzehn Jahren Waise geworden – vor zwei Jahren in Los Angeles als reicher Mann gestorben und sein Vermögen seinen Verwandten hinterlassen hatte. Ich erhielt einen Teil des Geldes, gegen 120 000 Dollar. Jones und ich wollten Februar 1915 heiraten. Kurz vor der Hochzeit aber ist Jones dann spurlos in Neuyork verschwunden. Wahrscheinlich ist er ermordet und beraubt worden. Er wollte gerade für mich 28 000 Dollar auf die Bank tragen. Im Fahrstuhl der Bank fand man seinen blutbefleckten Hut, und es wurde festgestellt, daß ein Auto zu der betreffenden Zeit einen angeblich plötzlich Erkrankten weggeschafft hatte. Mehr konnte nicht ermittelt werden. Ich habe Jones nicht gerade sehr innig geliebt. Dennoch traf mich dieser Schlag aus anderen Gründen so vernichtend, daß ich monatelang an schwerem Nervenfieber daniederlag. Der Krieg verhinderte meine Rückkehr nach Deutschland. Mir gefiel es drüben nicht mehr. Erst 1920 kam ich hier nach Berlin. Mit meinem Dollarvermögen war ich jetzt in Deutschland reich. Ich wollte nicht etwa die deutsche Not durch die Kaufkraft des Dollars noch vergrößern. Nein, ich –“ – sie zögerte etwas und blickte Thomas Bruck unsicher an – „ich hatte nun einmal den Verdacht, daß jener Herbert Moschler meinen Verlobten beseitigt hätte, weil Jones es doch gewesen, der die Polizei auf seine Fährte hetzte –“

„Wie kamen Sie auf diesen Gedanken, Fräulein Kresten?“ fragte Bruck sinnend.

„Weil ich Moschler in Neuyork fünfmal in meiner Nähe bemerkt hatte. Es machte auf mich ganz den Eindruck, als ob er mich beobachtete. Freilich lagen stets viele Monate, einmal sogar fast zwei Jahre dazwischen. Das fünfte Mal erkannte ich Moschler abends in der Untergrundbahn, als ich aus dem Theater kam. Ich wollte ihn festnehmen lassen. Er jedoch drehte den Spieß um und ließ mich als Taschendiebin verhaften, indem er behauptete, ich hätte ihm im Gedränge der Untergrundbahn seine Uhr abgeknöpft. Die Uhr fand sich auch in meiner Handtasche. Auf der Polizeiwache stellte sich heraus, daß die Uhr eine ganz minderwertige Goldnachahmung war. Moschler aber verstand es, von der Wache zu verschwinden. Zum Glück merkte ich sofort, daß aus meiner Handtasche meine Schlüssel fehlten. Die Polizei begleitete mich nach meiner Wohnung. Inzwischen war dort jedoch schon eingebrochen worden. Man hatte mir die Kassette gestohlen, in der ich meine bescheidenen Schmucksachen und Jones Briefe und Andenken aufbewahrte. Dies geschah im Herbst 1920, und nach diesem Vorfall verließ ich Neuyork. – Ehrlich gesagt, Herr Rechtsanwalt: mich trieb es geradezu hier nach Berlin! Eine immer wieder in mir auftauchende Ahnung, eine von Tag zu Tag deutlicher sich meldende innere Stimme flüsterte mir zu, daß ich Moschler gerade hier, wo ich Jones kennengelernt hatte, wieder begegnen und das Rätsel des Todes meines Bräutigams völlig aufklären würde. Ich habe mich hier dann an drei Detektivinstitute nacheinander gewandt, habe sehr viel Geld dafür ausgegeben und doch nichts erreicht. Ich sah schließlich ein, daß ich nur zum Ziele käme, wenn ich einen intelligenten Mann fände, der sich lediglich der Aufgabe widmen würde, die ich ihm stellen wollte: mich dauernd unbemerkt zu begleiten! – Lächeln Sie nicht über diese etwas romantischen Pläne eines früh gealterten Weibes, Herr Rechtsanwalt. –“

„Oh – ich lächele durchaus nicht! Ich finde Ihren Wunsch, Licht in diese fraglos recht dunkle Angelegenheit zu bringen, durchaus begreiflich. Ich weiß jetzt auch, weshalb Sie mich dort vor dem Schaufenster angesprochen haben: Sie wollten mich bitten, die Aufgabe zu übernehmen, die Sie soeben erwähnten. Leider kann ich hierauf nicht eingehen. Ich könnte es, wenn ich noch der Thomas Bruck von einst wäre. Ich bin es nicht mehr. An meinem Namen haftet ein schwerer Makel. Ich –“

„Ein Makel?!“ rief Ulla Kresten da. „Ein Makel?! – Für mich nicht. Für mich sind Sie derselbe gütige, heitere Doktor Bruck, der als einziger der Gäste der Baronin sich mit mir, der Gesellschafterin, beschäftigte und die Ungezogenheit der übrigen Damen und Herren mich vergessen machte. Niemals habe ich daran geglaubt, daß Sie Ihre Gattin beseitigt haben könnten, deren Leiche ja bisher nicht einmal gefunden worden ist und über deren Vergangenheit durch den Prozeß –“ – Sie schwieg plötzlich. Sie hatte die jähe Veränderung seiner Züge bemerkt. – „Entschuldigen Sie,“ bat sie verlegen und scheu. „Es war taktlos von mir, dies zu erwähnen. Ich wollte Ihnen nur beweisen, daß ich die Prozeßberichte in den amerikanischen Zeitungen sehr genau verfolgt habe. Ich habe Sie sogar gegenüber meinem Bräutigam Jones Brooc wiederholt verteidigt, da er Ihre Angaben für ein –“ – Abermals brach sie mitten im Satz ab.

Thomas Bruck schaute zu ihr empor und reichte ihr beide Hände, in die sie nur zögernd und in einer rührend mädchenhaften Verwirrung die ihren legte.

„Fräulein Kresten,“ sagte Bruck nun, „es tut so sehr wohl, wenn man merkt, daß wenigstens ein Mensch, ein einziger Mensch auf dieser jämmerlichen Welt lebt, der mich für unschuldig hält! All meine Bekannten und Verwandten haben an mir gezweifelt. Meine Mutter ist vor Gram dahingesiecht – vor Gram und – Scham, daß ihr Kind, ihr verwöhnter Sohn aus blinder Eifersucht seine Frau – ertränkt hat! – Ich behaupte noch heute: meine Frau hat mich absichtlich als Mörder hinstellen wollen und ist entflohen! – Genug davon! Ich bin bereit, für Sie in der von Ihnen angedeuteten Weise tätig zu sein. Ich kann sehr gut mich auch gleichzeitig mit meiner eigenen Angelegenheit beschäftigen.“

„Oh – wie mich das freut!“ meinte sie herzlich. „Dann müssen Sie aber auch sofort dieses hier –“ – sie erhob sich und holte von einem anderen Tischchen einen großen Briefumschlag, den sie dort bereitgelegt hatte – „als vorläufiges Honorar annehmen. – Keine Widerrede, Herr Rechtsanwalt!“

Er hatte eine ablehnende Handbewegung gemacht und war aufgestanden, besann sich jedoch sofort eines besseren und sagte mit trübem Lächeln: „Ich kann das Geld nicht entbehren. Ich bin ja völlig mittellos. Die Prozeßkosten haben meine Ersparnisse damals verschlungen. Ich danke Ihnen, Fräulein Kresten. Ich werde mir dieses Geld verdienen. Sie sollen mit mir zufrieden sein.“

Er schob den Umschlag in die Innentasche seiner Jacke.

„Einen Augenblick,“ flüsterte Ulla dann, die offenbar durch ein Geräusch im Flur argwöhnisch geworden war. „Ich will nur nachsehen, ob das Mädchen und die Köchin sich entfernt haben. Ich bin sofort wieder zurück –“

Sie verließ das Zimmer durch die Flügeltür nach dem Flur zu.

 

4. Kapitel.

Bruck hatte ihr nachgeschaut.

Sie hatte noch so junge, frische Bewegungen, diese Ulla Kresten, die er auf etwa achtundzwanzig Jahre schätzte. Älter konnte sie kaum sein.

Und – wie ehrlich ihre Freude gewesen, als er ihre Bitte zu erfüllen versprochen hatte, als er dann auch das Geld annahm! –

Diesen Jones Brooc, sagte er sich weiter, indem er wieder auf das Sofa sich niederließ, – diesen Detektiv kann sie wirklich kaum geliebt haben. Ich habe auch das Gefühl, daß sie mir irgend etwas verschweigt, was ihre Beziehungen zu diesem Brooc betrifft. Sie betonte ja, daß dieser Schlag sie „aus anderen Gründen“ so schwer –

Thomas Brucks Gedanken erhielten da plötzlich eine andere Richtung. Seine Augen waren starr auf die matten Glasscheiben der Flügeltür gerichtet, hinter der Ulla Kresten soeben verschwunden war.

Ein Schatten war über diese Scheiben hingeglitten – das Schattenbild eines Mannes mit leicht gewölbtem Rücken und einem kurzen Vollbart, der vom Kinn auffallend weit abstand.

Ein Mann mit einem weichen Filzhut auf dem Kopf – ein kleiner Mensch ohne Frage.

Vielleicht – vielleicht jener, der dort an dem anderen Auto –

Abermals riß der Gedankenfaden.

Von rechts her ein halb unterdrückter, schwacher Schrei, der Thomas Bruck vom Sofa jäh hochtrieb.

Ein Schrei aus weiblicher Kehle.

Ulla Kresten etwa?! –

Bruck hielt den Oberkörper lauschend und sprungbereit vorgeneigt.

Nichts mehr. Stille.

Brucks Sinneswerkzeuge wollten sich nicht das Geringste entgehen lassen. Er regte sich nicht; er war ganz wacher Argwohn.

Nichts mehr – minutenlang.

Sein Blick irrte von der weiß lackierten Tür rechts wieder zu den matten Scheiben zurück.

Da – der Schatten.

Und – der Schatten machte vor der Flügeltür halt.

Bruck schnellte sich vorwärts; er hatte das leise Geräusch eines im Türschloß sich drehenden Schlüssels gehört.

Seine Rechte packte den Drücker.

Der Schatten huschte in selben Moment nach links hinweg.

Und – die Tür war jetzt verschlossen – von außen verschlossen.

Bruck wandte sich sofort der anderen Tür zu, die den Salon mit dem Musikzimmer verband.

Auch versperrt – auch von außen verschlossen!

Was bedeutete das?! Was bedeutete der Schrei?!

Mit drei weiteren Sprüngen stand er vor der dritten Tür – vor der, die nach rechts führte. Und von hier – hinter dieser Tür war der Schrei erklungen.

Ah – unverschlossen.

Er stieß sie auf.

Das Licht einer matten blauen Ampel bestrahlte ein elegantes Damenschlafgemach. In der Mitte ein breites Bett – rot Mahagoni, wie alle Möbel hier.

Noch einen Schritt tat Bruck. Dann sah er Ulla Kresten. Sie lag quer über dem Bett auf der Spitzendecke, lag da mit geschlossenen Augen – mit einem Ausdruck wahnwitzigen Entsetzens in dem starren Gesicht.

Thomas Bruck fühlte, wie ihm die Knie bebten, wie seine Nerven zu versagen drohten.

Er krallte die Hände zu Fäusten, drückte die Nägel in die Haut.

Und – ging auf das Bett zu, beugte sich über das Mädchen.

Kein Heben und Senken der Brust mehr – kein Atemzug.

Und dort – dort in dem schlichten blauen Seidenkleid an der Stelle des Herzens zwei Schnitte – zwei schmale Löcher.

Bruck überlief ein Eiseshauch.

Mord – ermordet etwa?! Und er – er, der erst gestern entlassene Sträfling hier in diesem leerem Hause!

Fort von hier! Fliehen – nur fort! Nur nicht abermals hineinverwickelt werden in einen Mordprozeß, nur nicht zum zweiten Mal all die Qualen durchmachen müssen, sich schuldlos zu fühlen und doch verurteilt zu werden!

Er schritt der Tür zu, die in den Flur münden mußte. Er hatte den Drücker bereits in der Hand, zögerte trotze dem noch.

Da – vom Bett her ein schwacher Seufzer.

Sofort war er wieder neben der stillen Gestalt.

Und zuckte froh zusammen.

Ulla Kresten hatte die Augen geöffnet. Ihr verschleierter Blick hing an seinem Gesicht. Ihre Lippen flüsterten – nur wie ein Hauch:

„Rächen Sie – mich – Es – war – Moschler. Fliehen – Sie. Jones Brooc – hat mich ge –“

Das Flüstern erstarb; der letzten Silbe folgte nichts mehr – nur ein Seufzer, halb ein Stöhnen.

Dann Stille – jene furchtbare Stille, in der Thomas Bruck das Blut in den Ohren singen und das Herz klopfen hörte.

„Rächen Sie mich!“ – Das gab ihm Kraft, das nahm die Lähmung von ihm.

Er eilte zur Tür, fand sie nur eingeklinkt, war im Flur, wo die drei Birnen der Deckenlampe brannten, griff nach Hut, Stock und Sportpaletot und – trat nach links an die Wand, wo das Telephon hing.

– – – – – – – –

Kriminalkommissar Doktor Feldt wollte gerade gegen halb zehn abends sein Dienstzimmer verlassen, als der Kriminalbeamte Krosta nach kurzem Anklopfen hastig eintrat.

„Herr Doktor – wilde Sache!“ rief der kleine Krosta atemlos. „Soeben wurden wir aus Dahlem angerufen, aus der Heinrizistraße, wo ein Fräulein Kresten eine Villa bewohnen soll. Eine Männerstimme meldete, daß die Dame soeben ermordet worden sei. Ich halte die Geschichte für Schwindel. Der Mann nannte seinen Namen nicht, antwortete auf keine Frage, beschränkte sich auf die Angabe: „Fräulein Kresten liegt in ihrem Schlafzimmer mit zwei Stichwunden tot auf dem Bett. Bringen Sie einen Arzt mit –“ – Das war alles, Herr Doktor. Vorher nur noch die Wohnungsangabe.“

Der behäbige Feldt nahm den Hörer vom Tischtelephon. Das Amt mußte ihm die Nummer in Dahlem heraussuchen. In der Heinrizistraße gab es nur vier Villen. Jede hatte Telephon.

Nun meldete das Amt, daß die Nummer 812 allein in Frage käme.

812 blieb stumm. – Feldt legte den Hörer auf die Stützen zurück. – „Auto, Krosta – dalli!“

Krosta jagte davon. Feldt telefonierte abermals. Der Polizeiarzt Menke war noch im Präsidium. –

„Menke, Sie müssen mit. Ihre Skatbrüder können warten!“ –

Das Auto glitt durch die Straßen.

„Es wird Bluff sein!“ sagte der klein Alex Krosta, der Feldt und Menke gegenübersaß.

Feldt zuckte die Achseln. Doktor Menke rauchte und war in Gedanken am Stammtisch.

Fünf Minuten vor zehn hielt das Auto vor der Gartenpforte der norwegischen Villa. Die Pforte war nur angelehnt.

„Schon faul!“ murmelte Feldt.

Die drei Herren hasteten der Villa zu.

Auch die Haustür nur angelehnt.

Alex Krosta kratzte sich den Hinterkopf. „Oberfaul!“ sagte er zu Doktor Menke.

Dann durchschritten sie die Räume, stießen auf die verschlossene Tür des Musikzimmers; Feldt drehte den Schlüssel um, betrat den Salon.

Die Tür zum Schlafzimmer weit offen. Die blaue Ampel beschien die reglose Gestalt.

„Also doch!“ meinte der dicke Feldt leise.

Menke fühlte nach dem Puls.

„Sie lebt,“ erklärte er. „Der Puls ist ganz kräftig.“

Eine halbe Stunde später war Ulla Kresten bei Bewußtsein und konnte Feldt, der neben dem Bett saß, einige Fragen beantworten. Die Miederstange hatte die beiden Messerstöße abgelenkt. Es war nur ein starker Blutverlust durch die Fleischwunden eingetreten. Die tiefe Ohnmacht führte Menke hauptsächlich auf Schreck und Todesangst zurück.

Feldt fragte, und Krosta stand am Fußende des Bettes und lauschte mit halb gedrehtem Kopf und flackernden Augen. Der kleine Krosta kannte ja nur eine Leidenschaft: seinen Beruf! Vor vielen Jahren war er noch armseliger Schreiber bei einem Rechtsanwalt gewesen; jetzt war er Alex Krosta, der wie ein Liebhaber von einer Schmiere aussah und der es sich erlauben durfte, seines Vorgesetzten Fragen zu ergänzen.

„Hm,“ meinte er jetzt und lächelte süßlich, „Sie wollen also hier im Hause ganz allein gewesen sein, als der Unbekannte Sie überfiel? Wer hat denn dort im Salon die angerauchte Zigarre liegen lassen, gnädiges Fräulein?“

Ulla Kresten suchte Brucks Anwesenheit um jeden Preis zu verheimlichen.

„Ein Herr, der mich in einer geschäftlichen Angelegenheit besucht hatte,“ flüsterte sie. „Der Herr verließ mich dann wieder, und gleich darauf wurde ich hier im Schlafzimmer von dem Fremden erst gewürgt und dann niedergestochen –“

„Wie hieß der erste Herr?“ fragte Feldt nun.

„Schmidt. Er ist Agent. Er hatte mich auf der Straße angesprochen und bot mir eine Villa in – in – Babelsberg zum Kauf an.“

„Sie lügt,“ dachte Alex Krosta.

Doktor Menke saß links von Krosta auf dem Diwan. „Feldt, für jetzt ist’s genug,“ meinte er. „Fräulein Kresten braucht Ruhe.“

Die drei Herren gingen in den Salon und lehnten die Tür hinter sich an.

Krosta setzte sich auf das Sofa. Feldt blickte ihn forschend an.

„Liebestragödie, nicht wahr?“ fragte er.

Alex Krosta zog die schmale Nase kraus.

„Nein, Herr Doktor. – Sie denken, ein Liebhaber hat sie so zugerichtet, und nun sucht sie ihn zu schützen. Das stimmt nicht. Es waren zwei Männer hier an diesem Abend – zwei! Der eine ist über den Zaun geklettert und durch das offene Küchenfenster eingestiegen. Ich war vorhin im Garten. Der andere hat die Zigarre geraucht und hier die beiden Zigaretten. Der dritte Zigarettenstummel rührt von Fräulein Kresten her. Die beiden Männer waren gleichzeitig hier, das ist die Hauptsache.“

„So?!“ meinte Menke gedehnt.

Feldt nickte. „Krosta hat schon recht, lieber Menke. Wir fanden ja zwei der drei Türen dieses Salons von außen verschlossen vor. Ich verstehe Krostas Gedankengang. Der Angreifer hat den Anderen hier eingeschlossen gehabt. Und der Andere hat dann telephoniert und uns herbeigerufen.“

Krosta stand auf und eilte hinaus, kehrte nun mit der Zofe Anita zurück.

„Ich hörte die Hintertür knarren,“ sagte er zu Feldt. „Es ist die Zofe. – Haben Sie keine Angst. Ihre Herrin ist bei dem Überfall nur leicht verletzt worden. – Wer war der Herr, den das Fräulein heute abend mit heimbrachte?“

Anita erklärte, der Herr sei ihr unbekannt.

Feldt forschte sie dann weiter aus. Das Mädchen berichtete, daß der schlanke Herr zuerst allein im Speisezimmer gegessen hätte. „Ich glaube, unser Fräulein wußte nicht mal seinen Namen,“ fügte sie freiwillig hinzu. „Er aß sehr viel, und nachher sah er ganz anders aus – so frisch und kräftig.“

Alex Krosta ging leise ins Speisezimmer, schaltete das Licht ein und schaute sich hier um – so, wie er sich an einem Orte umschaute, der zu einem Verbrechen in Beziehung stand.

Nachher, als Minna Volker, die Köchin, zurückgekehrt war, verschwand Krosta leise in der Küche und suchte die leere Rotweinflasche hervor, die er sorgfältig in eine Zeitung einwickelte. Es war die Flasche, die Thomas Bruck zu der gesunderen Gesichtsfarbe verholfen hatte.

 

5. Kapitel.

Thomas Bruck verließ die Villa in gemächlichem Schritt wie ein harmloser Besucher. Haustür und Gartenpforte lehnte er hinter sich nur an. Für diese beiden Türen hatte er im Flur am Schlüsselbrett die passenden Schlüssel, die mit weißen Knochenschildchen versehen waren, herausgesucht – auch für später, denn vielleicht war es nötig, nochmals in die Villa einzudringen.

Bruck hielt Ulla Kresten für tot. Als er jetzt die Straße betrat und schnell nach rechts und links blickte, um festzustellen, ob irgend eine verdächtige Person in der Nähe sei, hatte er das Gefühl, daß bereits viele, viele Tage zwischen seiner Entlassung aus dem Zuchthaus und diesen Augenblick lägen, wo er nach diesen wechselvollen Erlebnissen mit einer doppelten Aufgabe in dem Strudel des Weltstadtgetriebes, scheinbar besorgt um die eigene Sicherheit, untertauchen wollte.

Ullas matt geflüsterte Anschuldigung gegen jenen Herbert Moschler und die Tatsache, daß der Mörder ein kleiner Mensch mit kurzem Vollbart gewesen, also sehr wahrscheinlich derselbe, den er neben jenem Auto bemerkt hatte, schließlich die noch wichtigere Tatsache, daß dieser Mann ihn gezwungen hatte, das Schlafzimmer als Durchgang zum Flur zu benutzen, indem er die beiden anderen Salontüren abgeschlossen hatte, – alles dies hatte in Brucks zu logischem Denken geschultem Geiste einen besonderen Verdacht wachgerufen.

Dieser Verdacht zeigte ihm seine traurigen Schicksale in ganz neuem Lichte. Vielleicht gab es wirklich eine verbindende Brücke zwischen Ulla Krestens Leiden und den seinen. Noch konnte er diese Brücke nicht einmal in Gedanken konstruieren. Er fühlte sie mehr, als daß er sie als festes Gebilde im Geiste vor sich sah.

Er handelte jetzt nach einem wohlerwogenen Plane, der immer klarere Gestalt annahm, je mehr er sich den belebteren Straßen näherte.

Der laue Aprilabend hatte viele Spaziergänger ins Freie gelockt. Bruck blickte sich absichtlich wiederholt um, blieb auch häufiger stehen, als fürchte er einen Verfolger. So gelangte er an die erste Haltestelle der Straßenbahn, nach Roseneck, wo die Geleise nach Alt-Schmargendorf abbogen. Ein Wagen stand hier abfahrtbereit. Der Führer läutete gerade. Einige Ausflügler beeilten sich, den Wagen noch zu erreichen.

Bruck stieg ein und stellte sich auf die hintere Plattform. Etwa ein Dutzend Menschen kamen noch nach ihm. Er musterte jeden einzelnen. Nein – ein kleiner Mann mit rundem Rücken war nicht darunter. Und die Straße war nun weithin nach Dahlem zu leer.

Bruck dachte: „Wenn es mehrere sind, die in diese dunklen Machenschaften verwickelt sind, dann kann auch jemand anders hinter Dir her sein!“

Und er schaute abermals durch die Tür in das Wageninnere und suchte nach der Person, die es auf ihn jetzt abgesehen haben könnte. Diese Prüfung der Mitfahrenden blieb ergebnislos.

Und doch war Bruck überzeugt, daß er ständig beobachtet würde. – „Nur Geduld! Ich finde Dich!“ ermutigte er sich selbst. –

An der Gedächtniskirche sprang er dann aus dem Wagen, als dieser schon die Haltestelle verlassen hatte. Hier in der Tauentzienstraße war noch recht lebhafter Verkehr. Bruck verschwand hinter der nahen Plakatsäule und blickte der Straßenbahn nach. Wenn sofort nach ihm noch ein Fahrgast abgesprungen wäre, hätte er ihn bemerken müssen.

Bruck fühlte sich etwas bedrückt, weil schon die erste seiner Annahme falsch gewesen: er wurde nicht verfolgt!

Wie er so noch die Tauentzienstraße entlangsah und mit Augen und Verstand nach etwas Auffälligem forschte, gewahrte er ein dicht am Bürgersteig haltendes Auto, dessen Tür gerade von einer Dame zugeworfen wurde. Die Dame eilte jetzt zwischen den abendlichen Bummlern hindurch und auf die Plakatsäule zu.

Bruck ging weiter und lächelte zufrieden, überquerte die Straße und bog nachher in die Augsburger ein, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen. Wer wie er in Berlin groß geworden und dann hier noch vier Jahre als vielbeschäftigter Strafverteidiger gewirkt hatte, der kannte Berlin, der kannte auch die Art und Weise, wie man aus einem Verfolgten einen Verfolger machte und die Rollen also wechselte.

Er ging nach dem Kurfürstendamm zurück und winkte ein Auto herbei.

„Invalidenstr. Nr. 204,“ rief er dem Chauffeur zu. Es war ein geschlossenes Auto, das im Hinterverdeck ein kleines Fenster hatte, im übrigen ein uralter Klapperkasten, dem man die Kriegsnot noch an den Vollreifen anmerkte.

Bruck blickte durch das Fenster zurück.

Ah – die Dame im hellen Mantel stieg dort hinten ebenfalls ein!

Und – wieder lächelte er. Dann zog er Ulla Krestens Geld hervor und zählte die Scheine. Es waren fünfzig Banknoten zu 1000 Mark. Damit ließ sich selbst heute manches anfangen. –

Das Auto hielt. Der Fahrpreis betrug gegen vierhundert Mark. Bruck wechselte den ersten Tausender und schob den Umschlag wieder in die Tasche.

Dann ging er vier Häuser weiter und musterte das Schild des Kellerlokals. Ja, der blaue Affe existierte noch.

Dicht hinter ihm betrat die übel berüchtigte Kneipe ein magerer Herr mit Monokel, der beobachtet hatte, wie Bruck den Umschlag wieder wegsteckte.

Bruck setzte sich in eine halbdunkle Ecke. Der mit dem Monokel nahm an einem Tische bei fünf Kartenspielern Platz. Außerdem waren nur noch zwei Pärchen anwesend.

Die Wirtin war noch dieselbe wie damals, als Bruck hier aus besonderen Gründen häufiger verkehrt hatte.

Sie kam und fragte, was er zu trinken wünsche. Die Witwe Kamlack hatte ein vorzügliches Personengedächtnis. Während sie langsam zum Schanktisch zurückkehrte, forschte sie in ihrer Erinnerung nach. Und als das Bierglas voll geschenkt war, wußte sie Bescheid. Sie brachte das Glas und setzte sich unaufgefordert neben Bruck.

„Wohl bekommts, Herr Rechtsanwalt!“ sagte sie leise.

„Haben Sie mich wirklich erkannt, Mutter Kamlack!“ Er gab ihr die Hand.

„Und ob! Ihr Gesicht vergißt man nicht. – Wie alt Sie geworden sind!“ – Sie dachte nach. „Ja – Ihre acht Jahre müssen rum sein –“

„Stimmt, Mutter Kamlack. Ich bin wieder frei. Daß mich aber jeder sofort erkennt, paßt mir nicht. Wie steht’s mit so was?“ Und er tippte mit dem Zeigefinger auf den kahl geschorenen Kopf und fuhr sich mit demselben Finger über die Wangen und das Kinn.

„Perücke und Bart?“ fragte Mutter Kamlack geschäftsmäßig. „Hm – also beides!“ Sie drehte sich halb um und musterte die Kartenspieler, rief dann: „He, Schniegel-Otto, eenen Momang mal!“

Der hagere Mensch mit dem Monokel, dessen Gesicht und ganze Aufmachung eine gewisse Vornehmheit verrieten, stand auf und trat näher, verbeugte sich lässig vor Bruck, stutzte und rief gedämpft:

„Herr Rechtsanwalt – Sie – Sie?!“

Bruck nickte nur. Er war leicht gerührt. Ausgerechnet hier fand er zwei Menschen, die sich ebenso ehrlich freuten, ihn wiederzusehen, wie Ulla Kresten sich gefreut hatte.

Schniegel-Ottos Hand umschloß die des Mannes, der ihn vor neun Jahren aus einer ekligen Geschichte vor der Strafkammer herausgehauen hatte, mit kräftigem Druck. „Kann ich irgendwie helfen, Herr Rechtsanwalt?“

„Ich brauche alles, was zum Verkleiden gehört,“ sagte Bruck leise.

„Jut – machen wir! Aber – eenen wohljemeinten Rat janz umsonst: stecken Sie det Jeld in die Innentasche der Weste, Herr Rechtsanwalt! Außer mir jibt’s noch mehr Taschendiebe in Berlin!“ Er grinste pfiffig. – „Soll ich die Sachen jleich holen, Herr Rechtsanwalt?“ fragte er dann.

„Bitte. Und noch eins, Herr Bröse: schaun Sie sich doch draußen mal nach einem Auto und einer Dame im hellen Mantel um, die vielleicht darin sitzt –“ –

Schniegel-Otto verließ die Kaschemme.

Mutter Kamlack trat wieder an Brucks Tisch heran. „Wie wär’s mit ’n Kalbsschnitzel, Herr Rechtsanwalt? Falls Ihre Portmaneeverhältnisse nicht janz in Ordnung sind: Sie haben Kredit!“

Bruck dankte und bestellte nur noch Zigaretten. „Ich bin wirklich satt, Mutter Kamlack. Ich weiß, Sie meinen’s gut,“ sagte er herzlich. „Ich möchte nachher nur in Ihrer Wohnung mich etwas verändern.“ –

Schniegel-Otto erschien bereits nach zehn Minuten. Er lehnte jede Bezahlung ab. Ein Auto oder eine Dame im hellen Mantel hatte er nicht bemerkt.

Nach einer weiteren halben Stunde trat ein gebückter Mann mit weißem Bart, Trinkernase und einem kleinen Hausiererkasten unter dem Arm aus der Kaschemme auf die Straße und schlurfte in seinen abgerissenen Sachen in der Richtung nach dem Stettiner Bahnhof davon. Kurz nach ihm erschien auf der Treppe der Kneipe ein zweiter Mann, der einen Sportpaletot über dem Arm und auch den blauen Anzug wie vorhin Thomas Bruck trug, ebenso den schwarzen steifen Hut etwas ins Genick geschoben hatte. Selbst der derbe Spazierstock fehlte nicht. Dieser zweite entfernte sich nach dem Lehrter Bahnhof hin, also in entgegengesetzter Richtung, ging sehr langsam und bog dann links in die Bahnhofsauffahrt ein.

Der alte Hausierer hatte kehrt gemacht. So sah er denn, daß dem Anderen eine geschlossene Taxameterdroschke im Schritt folgte. Die Droschke hielt nun vor dem Aufgang zum Stadtbahnhof. Ein schlanker Herr mit dickem schwarzen Schnurrbart stieg aus, reichte dem Kutscher einen Geldschein und befahl kurz: „Warten!“ Der Herr hatte einen dunklen leichten Ulster an und trug einen weichen Filzhut. Kaum eine halbe Minute nach dem „Blauen“ trat er an den Fahrkartenschalter heran. Der „Blaue“ hatte eine Karte nach Charlottenburg verlangt. Der mit dem schwarzen Schnurrbart war der vierte am Schalter hinter ihm. Nun bekam er das Gesicht des „Blauen“ zu sehen. Er murmelte eine Verwünschung, verzichtete auf das Lösen einer Fahrkarte und beobachtete, wie der „Blaue“, kein anderer als Schniegel-Otto in Brucks Sachen, die Treppe zum Bahnsteig emporstieg, die Karte lochen ließ und verschwand.

„Pest – doch überlistet!“ fluchte er leise. „Der Richtige wird der alte Hausierer gewesen sein. Nun kann ich mich vor dem in acht nehmen!“

Er kehrte zu der Droschke zurück. „Klappen Sie das Verdeck herab!“ sagte er zu dem Kutscher. „Haben Sie vielleicht einen weißbärtigen Hausierer mit einem Kasten bemerkt?“ fügte er hinzu.

„Ne, Herr, – nischt!“ Er kletterte vom Bock herab und ließ das Verdeck herunter.

Über das schmale, rosige Gesicht des Schlanken glitt ein höhnisches Aufleuchten hin.

„Fahren Sie nach Tiergartenstraße Nr. 16, aber auf dem kürzesten Wege!“ befahl er dann. „Sie bekommen ein gutes Trinkgeld, wenn Sie es in einer Viertelstunde schaffen.“

„Jut, jut – wird jemacht, Herr –“

Die Droschke rumpelte davon.

 

6. Kapitel.

Die Seitenwege des Tiergartens waren bereits wie ausgestorben. Der Herr in der Droschke beobachtete dauernd die Umgebung, stand zuweilen auf, blickte nach rückwärts und glaubte nun den günstigsten Moment für gekommen.

Der Kutscher auf dem Bock fühlte plötzlich, wie ihm eine Schlinge über den Kopf glitt.

Die Schlinge wurde mit einem Ruck zugezogen. Der müde Droschkengaul ging sofort in Schritt über, als niemand ihn mehr antrieb, blieb stehen.

Der Insasse der Droschke hatte sich schon auf das Vorderverdeck geschwungen, hatte den wild sich Sträubenden hochgezerrt und drückte ihm nun ein feuchtes Tuch fest auf das Gesicht. Die Wirkung des Betäubungsmittels stellte sich sofort ein. Der Körper des Kutschers sank schlaff zusammen.

Wenige Minuten später saß der Herr im Rock des Kutschers und mit dessen Zylinder auf dem Bock und fuhr weiter. Im Wagen lag, mit einer Decke halb verhüllt, der Betäubte.

Die Droschke wendete und schlug die Richtung nach Alt-Moabit ein. Der Mann auf dem Bock blickte sich fortwährend um. Er fürchtete den „Blauen“ mit dem Monokel, der Bruck bei diesem Streich geholfen hatte, noch immer hinter sich. Erst als er in die stillen Straßen von Moabit einlenkte, war er beruhigt.

Der Wagen hielt schließlich vor einem verräucherten Hause der Sickingenstraße. Gegenüber lag ein Kohlenlagerplatz. Der Mann stieg ab und klopfte fünfmal an ein Erdgeschoßfenster. Gleich darauf wurde die Haustür aufgeschlossen und ein anderer Mann, bartlos und von zartem Gliederbau, half nun dem Kutscher, den Bewußtlosen in das Erdgeschoßzimmer zu schaffen, das einen besonderen Zugang vom Hausflur hatte.

Der Kutscher fuhr dann mit dem Wagen wieder davon, machte erst im Tiergarten halt, warf den Kutscherrock und den Zylinder ab, setzte einen weichen Filzhut auf und überließ Pferd und Wagen ihrem Schicksal. –

Inzwischen war Thomas Bruck erwacht. Er fand sich geknebelt und gefesselt in einem Sessel wieder, fand sich einem Manne gegenüber, der sich ein Taschentuch vor das Gesicht gebunden hatte, in das zwei Löcher für die Augen geschnitten waren.

Das Zimmer war recht bescheiden möbliert. Von der dreiarmigen Gaskrone brannte nur eine Flamme.

Der Mann mit dem verhüllten Gesicht sagte jetzt mit krächzender Stimme, die offenbar verstellt wurde:

„Der Trick, erst den Hausierer und dann den Droschkenkutscher zu spielen, war ja recht gut. Mein Freund hat die Sache aber doch durchschaut. Wir verstehen uns auf solche Scherze besser. – Wissen Sie, Herr Bruck, was nun geschehen wird? Wir werden Sie hier der Polizei in die Hände spielen –“

Brucks Kopf wurde klarer. Er hätte dem Maskierten gern etwas erwidert, aber der Knebel saß zu fest im Munde.

Der andere erhob sich aus dem zweiten Plüschsessel, setzte seinen Filzhut auf und nahm einen mittelgroßen Koffer auf.

„Leben Sie wohl, Herr Bruck! Mag es Ihnen gut gehen!“ sagte er mit satanischem Hohn.

Thomas Bruck war’s, als hätte er einen Faustschlag erhalten.

Der Maskierte hatte sich vergessen, hatte die Stimme nicht so sorgfältig verstellt.

Bruck fuhr hoch, wollte aufspringen, sank aber mit einem gurgelnden Wutschrei zurück.

Vor seinen Augen sprühten Funken. Sein Herz raste. Der wahnwitzige Grimm erzeugte für Sekunden einen halben Ohnmachtsanfall.

Als die wallenden Nebel, in denen er versunken zu sein schien, gewichen waren, als er den Kopf hin und her wandte, um die zu suchen, die all sein Unglück verschuldet, war das Zimmer leer. –

Thomas Bruck schloß die Augen. Seine Nerven bebten, seine Gliedmaßen flatterten. Die ungeheure Erregung ebbte nur langsam ab.

Ein Gedanke sprang immer wieder in seinem Hirn auf: „Der Polizei in die Hände spielen!“

Und – Ulla Kresten war tot. Ulla Kresten konnte nicht mehr bekunden, konnte ihn nicht mehr entlasten. Würde man ihm glauben, was er über den Grund seiner Anwesenheit in Ullas Villa angeben konnte?! Nein – nein – man würde ihm mit genau so skeptischem Lächeln zuhören wie damals, als er behauptet hatte, sein Weib wäre irgendwie aus dem Wasser lebend an Land gelangt, nachdem ihre Hilferufe die fünf Ruderer herbeigerufen hatten.

Bruck fühlte eisigen, klebrigen Schweiß auf Stirn und Händen. Die Angst zerfraß ihm die Seele. Nur nicht nochmals all die Qualen einer Untersuchungshaft durchmachen müssen! Nur nicht abermals –

Ah – im Flur ein Geräusch. Und jetzt – jetzt wurde an dem Schloß der Zimmertür gearbeitet.

Er hatte den Blick starr auf die Tür gerichtet.

Nun ging sie auf.

Es war Schniegel-Otto in Brucks Kleidern, den Paletot über dem Arm, den Stock in der Linken.

Er drückte die Tür zu, führte den Dietrich ins Schlüsselloch; der Riegel schnappte vor. – Dann wandte er sich an Bruck.

„Diese vafluchte Bande, Herr Rechtsanwalt! Na wir renken die Jeschichte wieder ein!“ Er warf Mantel und Stock auf das Sofa, knotete die Stricke auf, nahm Bruck den Knebel ab.

„Man soll nich sagen, wat der Sport so allens nützen tut,“ meinte er. „Ick bin wahrhaftig hinter den Droschkon im Tiergarten dreingetrabt, nachdem ick mein Auto am Großen Stern verlassen hatte. Ich ahnte ’ne Schweinerei! Und ich ahnte richtig! – So, ich helfe een bißken, Herr Rechtsanwalt. Die Pedale zittern noch. Nu man raus aus diese Bude –“

Um halb eins war’s, als sie Arm in Arm auf die Sickingenstraße hinaustraten. Sie schritten die Beusselstraße zu. Die Straße war völlig leer.

„Ich danke Ihnen, Herr Bröse,“ sagte Bruck herzlich. „Man wollte mich der Polizei als Mörder Ulla Krestens in die Hände spielen –“

„Quatsch!“ meinte Schniegel-Otto. „Det is doch man blauer Dunst, Herr Rechtsanwalt! Die Bande wird sich hüten! Ne – so dämlich sind die nich! Denn, wenn sie die Polizei zum Beispiel antelephoniert und jemeldet hätten, daß Nr. 65 Sickingenstraße Erdgeschoß rechts der Mörder der Kresten gefesselt sitzt, dann wäre die Polizei woll alleene auf den vaninftijen Jedanken jekommen, daß Sie hier det Opfer von ’ne janz raffinierte Intrije sind. Ne – die Jeschichte muß ’n andern Hinterjrund haben. Sehen Sie doch mal nach, Herr Rechtsanwalt, ob Sie noch Ihre Brieftasche und das Geld haben –“

„Beides gab ich dem Droschkenkutscher in Verwahrung und zugleich als Pfand für die Überlassung von Wagen und Pferd,“ erklärte Bruck.

„Sehr jut – sehr jut. – Hat man Ihnen die Taschen durchsucht?“

„Das weiß ich nicht. Ich war ja recht lange bewußtlos.“

„Dolle Schose – dolle Schose!“ brummte der Schniegel-Otto.

„Leider sind uns jetzt die beiden entwischt,“ meinte Bruck enttäuscht. „Was hilft uns nun –“

„Ne, Herr Rechtsanwalt, – ins Jejenteil! Die sind uns nich entwischt! Haben Sie jejlaubt, ich würd’ nicht dafor jesorgt haben, daß wir die Kerle an die Strippe behalten?! Ne – man hat doch überall jute Bekannte. Der Musjeh, der mit den Droschkon abjondelte, hat nu meinen Freind Pinzke als stillen Beobachter. Und der Franz Pinzke is noch um hundert Kerzenstärken heller als ich! Wir treffen uns nachher mit Franz im Vesuv in der Borsigstraße, und dann wird er Bericht erstatten, wie’s in der Bürosprache heißt. Der Vesuv ist für Stammjäste die janze Nacht von hintenrum zu besteigen. – Na – zufrieden, Herr Rechtsanwalt?“

„Ja – ja! Wie soll ich Ihnen nur danken, Herr Bröse?!“

„Jar nicht! Mir macht det Spaß – Tatsache! Schniegel-Otto als Detektiv – da is ’s Ende von wej! – Übrijens – der Kerl, der mit ’m Koffer loszog, hatte sich als Weib rausstaffiert –“

Bruck überlegte. Bröse hatte es eigentlich verdient, daß er ihm alles anvertraute.

„Herr Bröse,“ sagte er zögernd, „ich kann mich wohl auf Ihre Verschwiegenheit verlassen: der Mann mit dem Koffer war meine – ermordete Frau! Ich habe sie an der Stimme und den langen schmalen Händen wiedererkannt –“

„Jott Strambach! Ihre – Ihre Frau, die Sie –“

„– ja, die ich ertränkt haben soll –“

Der Taschendieb schob den Hut ins Genick.

„Da wird einem janz wirr unter die Scheitelmähne,“ meinte er. „Wenn Sie sich nur nich jetäuscht haben, Herr Rechtsanwalt –“

„Ausgeschlossen, gänzlich ausgeschlossen! Ich spürte ja den Haß, der mir aus ihren Worten entgegenwehte, – denselben Haß, der sie heucheln ließ, bis – bis sie mich so weit hatte, wie es ihre Absicht gewesen: im Zuchthaus!“

Bröse ging weiter. „Das müssen Sie mir mal jenau erzählen, Herr Rechtsanwalt. Als Ihr Prozeß stattfand, saß ich ja im Knast. – He – Auto! – So, bitte einzusteijen. – Chauffeur, Borsigstraße 109 –“ –

Vor dem Kellerlokal „Vesuv“ war soeben erst eine Droschke vorgefahren. Das Auto hielt zwei Häuser weiter zurück. Bröse bezahlte schnell und lief auf die Droschke zu.

„Mensch, Franz, da biste ja! Und hast den Hafermotor gleich mitjebracht!“ begrüßte Schniegel-Otto den als Kutscher verkleideten Pinzke. „Hier – dies ist Herr Rechtsanwalt Doktor Thomas Bruck,“ – er sprach plötzlich ein tadelloses Hochdeutsch – „der mich seiner Zeit verteidigt hat – ohne jedes Honorar, wie Du weißt, obwohl mein Fall keinerlei Reklamewirkung hervorbringen konnte, also rein aus Berufsinteresse an der psychologischen Seite des Prozesses.“

Bruck war nicht im geringsten erstaunt über diese Fähigkeit Bröses, Sprache und Ausdrucksweise so vollständig zu ändern. Otto Bröse gehörte eben zu den zahllosen völlig entgleisten Gebildeten, hatte einst Medizin studiert und war infolge eines unausrottbaren Leichtsinns immer weiter auf die abschüssige Bahn gelangt.

Franz Pinzke, ein ganz anderes Gewächs aus dem Unkrautgarten des Verbrechertums, hatte Bruck mit biederem Grinsen die Hand hingestreckt. „Freut mich, Sie kennen zu lernen, Herr Rechtsanwalt,“ sagte er mit halbem Kratzfuß. „’s war mir eine Ehre, Ihnen helfen zu dürfen. Ich –“

„Quatsch nich, Krause!“ fuhr Schniegel-Otto dazwischen.

„Wo soll nun der Wagen hin, Herr Rechtsanwalt?“

„Der Besitzer wohnt Müllerstraße 81 und heißt Kumst,“ erklärte Bruck. „Am besten wäre wohl, wir drei führen dorthin. Ich möchte von Herrn Kumst gern meine Brieftasche und mein Geld abholen.“

„Jut – dann werd’ ick Kutscher spielen,“ sagte Bröse. „Sie und Franzen kennen hinten in die Foteuchpolster Platz nehmen, wo Pinzke jleich sein Jarn abspulen kann.“

„Da is nich ville abzuspulen,“ meinte der vierschrötige, äußerlich ebenso elegante Pinzke, indem er den Kutscherrock aufknöpfte und Otto Bröse den Taxameterzylinder gab. „Ich bin hinter dem Herrn langsam herjefahren. Er fühlte sich janz sicher und drehte sich nich een eenzichtes Mal um und verschwand im Hotel Excelsior in der Bellevuestraße, wo der Nachtportier mächtig tiefe Bücklinge vor ihm machte. Mehr weiß ich nich –“

„Na – denn hast De Deine dreihundert Märker leicht vadient, Franz,“ sagte Schniegel-Otto darauf und reichte Pinzke das Geld. „Mensch, wir brauchen Dir vorläufig nich. Halt’ Dir morjen aber im Vesuv auf.“ – Dann fuhren Bruck und Bröse nach der Müllerstraße.

 

7. Kapitel.

Der Droschkenbesitzer Kumst war noch in seiner Wagenremise, wo er seinen anderen Wagen für morgen in Stand setzte. Er händigte Bruck Brieftasche und Geld aus, erhielt die vereinbarten fünfhundert Mark und war mit dem Geschäft dieser Nacht sehr zufrieden.

Für Bruck hieß es nun, irgendwo ein Nachtquartier zu finden. Es war inzwischen gegen halb zwei Uhr morgens geworden, und er fühlte, wie eine schnell zunehmende Erschöpfung ihm zuweilen den kalten Schweiß auf die Stirn trieb.

Schniegel-Otto bot ihm seinen Diwan als Bett an. „Ich wohne absolut sturmfrei, Herr Rechtsanwalt,“ erklärte er. „Wie ein Fuchs – mit zwei Ausgängen! Falls es nicht gegen Ihr Gefühl als ehrlicher Mensch geht, Gast eines mehrfach abgefaßten Taschendiebes zu sein, dann –“

„Sie vergessen, daß ich ein – Mörder bin,“ fiel Bruck ihm ins Wort. „Ich nehme mit Dank an. Nur – sollen wir den Mann im Excelsior ohne Aufsicht lassen?“

„Nein. Das Beaufsichtigen hat bis morgen vormittag – bis heute vormittag besser – Zeit. Ich werde Ihnen dieserhalb schon Vorschläge machen.“

Sie fanden ein freies Auto, und Otto Bröse nannte dem Chauffeur die Heklastraße in Halensee als Ziel. Das Auto fuhr den westlichen Stadtvierteln zu.

Schniegel-Otto ließ Bruck das Auto bezahlen, als es nun an der Ecke Kurfürstendamm und Heklastraße hielt.

Sie bogen nach links in die Heklastraße ein. „Ich muß noch Otto Bermuth werden,“ sagte Bröse und schwenkte in eine Toreinfahrt ab, nachdem er sich vorsichtig umgeschaut hatte. Hier holte er unter dem Oberhemd ein flaches Ledertäschchen hervor. Im Augenblick hatte er einen blonden Spitzbart befestigt und eine blonde Perücke übergestreift, eine Brille mit runden Gläsern aufgesetzt und seinem verlebten Gesicht durch roten Puder ein frisches, gesundes Aussehen gegeben.

Thomas Bruck staunte.

„Ja, ja,“ nickte Bröse. „Ich wohne dort in Nr. 8 seit anderthalb Jahren als Schriftsteller Doktor Otto Bermuth, habe einen Toten, dessen Papiere ein Zufall mir in die Hand spielte, auf diese Weise wieder aufleben lassen, bin polizeilich gemeldet und gelte im Hause als ein Muster von Solidität. – Kommen Sie. Sie werden noch mehr staunen, Herr Rechtsanwalt. Vom Berliner Verbrechertum kennen Sie noch nicht die Hälfte alles Interessanten.“ –

„Doktor Bermuth“ bewohnte im Gartenhause links zwei Zimmer mit Bad, Küche und einer winzigen Mädchenkammer. Die Möbel waren geschmackvoll und modern. Das Arbeitszimmer mit Klubsofa und zwei Klubsesseln wirkte ganz wie die Studierstube eines ernsten Gelehrten.

Bröse bot Bruck Zigaretten und einen Likör an. Dann führte er ihn in die Mädchenkammer, öffnete einen Kleiderschrank und zeigte Bruck den Mechanismus einer von ihm selbst angelegten Geheimtür, die durch den Schrank noch besser verdeckt wurde und in eine Gartenhauswohnung des Nebengrundstücks mündete – ebenfalls in die Mädchenkammer.

Bruck folgte ihm in diese zweite Behausung.

„Hier wohnt der Agent Otto Balzer,“ sagte Bröse mit feinem Lächeln. „Auch ein sehr solider Mann. Auch polizeilich gemeldet. Er trägt schwarzen Bart und Kneifer, ist sehr selten zu Hause und heißt nebenbei auch Otto Bröse und Doktor Otto Bermuth. Bei Bermuth ist’s aber gemütlicher. Balzer ist sehr bescheiden eingerichtet, wie Sie sehen. Kehren wir um –“ –

Dann saß Bruck in der einen Ecke des Klubsofas und sah zu, wie Bröse flink den Tisch deckte, denn sie hatten beide Hunger und Kaffeedurst.

Eine Kaffeemaschine begann sehr bald unter den Hitzestrahlen des brennenden Spiritus leise zu singen.

„Langen Sie zu, Herr Rechtsanwalt,“ sagte Bröse und schob ihm eine frisch geöffnete Büchse Sardinen hin.

„Vielleicht erzählen Sie mir jetzt mit allen Einzelheiten die Schicksale der armen Kresten,“ meinte Schniegel-Otto, indem er eine zweite Büchse Sardinen öffnete.

Thomas Bruck war es nur recht, daß er auf diese Weise sein Gedächtnis auffrischen konnte. Er schilderte nochmals sein Zusammentreffen mit Ulla vor dem Schaufenster, berichtete von den Vorfällen in der Villa in Dahlem, erwähnte den Schatten des buckligen Mannes auf der Glastür und schließlich auch Ullas letzte Worte.

Bröse fragte dann: „Wie deuten Sie den letzten, unvollendet gebliebenen Satz, dieses „Jones Brooc hat mich ge –“? Wie würden Sie dieses „ge“ ergänzen? Es kann doch wohl nur ein einzelnes Wort dem Satze fehlen, etwa „geliebt“ oder ge –, hm, – mir fällt nichts Passendes ein.“

Thomas Bruck nickte. „Dann geht es Ihnen wie mir. Ich habe mir ebenfalls den Kopf zerbrochen, was Ulla wohl hat sagen wollen. „Geliebt“ – nein, das glaube ich nicht. Es machte ja überhaupt so den Eindruck, als ob ihr Wunsch, ihres Verlobten Verschwinden aufzuklären, keineswegs aus dem Herzen heraus entstanden war. Nein, ich möchte fast behaupten, daß sie an diesem amerikanischen Detektiv etwas irre geworden war. Sie betonte ja, daß der Schlag, also Broocs Beseitigung sie aus „anderen Gründen“ so vernichtend getroffen hätte, – also nicht der Schmerz um Broocs Verlust war hier die Hauptsache!“

Bröse schenkte die Kaffeetassen voll. „Vielleicht hat sie Ihnen auch vieles verschwiegen, Herr Rechtsanwalt.“

„Möglich! – So, und nun will ich Ihnen auch kurz die Tragik meines eigenen Lebens schildern.“ – Er rührte mit dem silbernen Löffel versonnen in der Tasse.

„Es war so hart, daß gerade ich, der allzeit von den Frauen eine so hohe Meinung hatte und allen unsauberen Weibergeschichten aus dem Wege gegangen war, an ein durchaus verderbtes, raffiniertes, heuchlerisches und gefühlsarmes Wesen geraten mußte. Ich hatte im Februar 1913 in München eine Verteidigung. Ich benutzte den Nachtzug und die zweite Wagenklasse. In meinem Nichtraucher-Abteil saß noch eine junge Dame, die gleichfalls schon in Berlin eingestiegen war. Sie benahm sich äußerst zurückhaltend. Erst gegen Morgen wurde sie zugänglicher. Wir kamen ins Gespräch. Und – ich verliebte mich im Handumdrehen in sie –“

Bruck lachte höhnisch auf. „Ich verliebte mich derart, daß ich blindlings ins Verderben in diese Ehe hineinrannte. – Sie hieß angeblich Agathe Link, war Waise und Sekretärin bei einem mexikanischen Gelehrten, der sich studienhalber in München aufhielt und sie sehr gut honorierte. Als ich sie meiner Mutter als meine Braut dann hier in Berlin vorstellte, merkte ich sofort, daß Agathe meiner Mutter unsympathisch war. Im August 1913 heirateten wir – in aller Stille. Sennor Braziano, Agathes bisheriger Brotherr, war einer der wenigen Gäste, ein älterer würdiger Herr, der das Deutsche nur sehr unvollkommen beherrschte. – Sehr bald nach der Hochzeit offenbarte Agathe einen Teil ihres wahren Wesens. Sie wollte durchaus einen Stammbaum meiner Familie – wir Brucks stammen aus Holland – anlegen und erbat hierzu von meiner Mutter alles an alten Familienpapieren, was diese nur irgend besäße. Meine Mutter gab die Papiere nicht aus der Hand. Da verlangte Agathe von mir, daß ich – Doch – ich will nicht allzu sehr in Einzelheiten mich verlieren. Kurz: dieser Stammbaum war bei Agathe zur fixen Idee geworden! Mit einem Starrsinn ohnegleichen bestand sie darauf, daß meine Mutter die Papiere und Urkunden hergeben müsse. Es kam zwischen uns zu Szenen, wobei sie öfters mit Ausdrücken derart aus der Rolle fiel, daß ich immer mehr daran zweifelte, eine Dame vor mir zu haben. – Im Dezember 1913 geschah etwas Neues: ich merkte, daß Agathe heimlich mit jemand im Briefwechsel stand; ich fand auch zwei Briefe. Aber – sie enthielten nur Chifferschrift, nur Zahlen, mit Maschine geschrieben wie auch die Adresse –“

Bruck trank die Tasse leer.

„Agathe, von mir zur Rede gestellt, behauptete, sie korrespondiere mit einer Freundin. Dabei blieb sie; mehr sagte sie nicht. – In meiner inneren Zerrissenheit flüchtete ich zu meiner Mutter, suchte bei ihr Trost. Ich traf sie ganz verstört an. In der verflossenen Nacht hat man bei ihr einen Einbruch versucht. Die Diebe waren auch bis in das Schlafzimmer eingedrungen und hatten meine Mutter offenbar gewaltsam zur Herausgabe von Geld und Wertsachen zwingen wollen, mußten aber infolge des energischen Widerstandes und der gellenden Hilferufe der Überfallenen flüchten. Meine Mutter riet mir nun, mich von Agathe scheiden zu lassen. Ich war einverstanden. Daheim wußte Agathe mich dann aber aufs neue zu umgarnen, doch – mein Mißtrauen blieb rege. Anfang März beauftragte ich einen Privatdetektiv mit der Beobachtung Agathes. Schon nach einer Woche wußte ich so, daß sie mit einem Herrn am 5. März ein Stelldichein im Hotel London am Bahnhof Friedrichstraße gehabt hatte. Jetzt sagte ich Agathe daheim diesen Besuch in jenem Hotel auf den Kopf zu. Sie erbleichte, flog mir um den Hals, schluchzte und behauptete, all das hinge mit Politik zusammen; sie dürfe aus dem Geheimbund nicht austreten, sonst würde man sie töten.

Agathes Heuchelei siegte abermals. Ich erstickte fast unter ihren wilden Zärtlichkeiten. Ende April reisten wir für acht Tage nach Mecklenburg in das Dörfchen Kronbaum am Ufer des Müritz-Sees. Agathe badete täglich. Ich mußte hierauf verzichten, weil ich im Winter einen Anfall von Gelenkrheuma gehabt hatte. Wir hatten uns eine versteckte Bucht des Sees mit weit über das Wasser hängenden Erlen ausgesucht. Hier – soll ich Agathe am 2. Mai 1914 nachmittags fünf Uhr ertränkt haben – aus Eifersucht, da ich ja schon durch einen Detektiv sie hätte beobachten lassen! – In Wirklichkeit spielten sich die Vorgänge so ab: Agathe war wie immer ein Stück in den See hinausgeschwommen, kehrte zurück, rief plötzlich um Hilfe. Ich sprang in Kleidern ins Wasser. Da versank sie vor meinen Augen, und gleichzeitig erschien der Vierer eines Ruderklubs, den die Hilferufe herbeigelockt hatten – Die Bucht wurde mit Netzen eine Stunde später abgesucht. Die Leiche war nicht zu finden. Ich fuhr am 4. Mai nach Berlin zurück. Am 5. wurde ich verhaftet, da der Bauer, bei dem wir in Kronbaum gewohnt hatten, der Polizei einen Brief Agathes ausgehändigt hatte, der ihm mit dem Auftrag gleich nach unserer Ankunft von Agathe übergeben war, ihn der Polizei zuzustellen, falls ihr hier etwas zustieße –“

Bruck trank einen langen Schluck Kaffee.

„Der Brief enthielt die Bitte, ihren Tod recht genau zu untersuchen, da sie dauernd in der Angst lebe, daß ich sie aus Eifersucht – umbringen wolle! – Ich kam vor die Geschworenen. Ich kann Ihnen hier nicht alles einzeln aufzählen, was dieses Weib vor ihrem „Tode“ an Kleinigkeiten vorbereitet hatte, damit der Staatsanwalt leichter die nötigen Schuldbeweise zusammenschmieden könnte. – Man bewilligte mir mildernde Umstände, weil inzwischen festgestellt worden war, daß Agathe in Wahrheit Chansonette gewesen und Emma Müller geheißen hatte, daß es ferner einen Mexikaner namens Braziano gar nicht gab und das Vorleben dieser Emma Müller, die mit Hilfe falscher Papiere meine Frau geworden, recht dunkle Punkte enthielt. So wanderte ich für acht Jahre ins Zuchthaus. Selbst meine Mutter glaubte an meine Schuld. Sie starb vor Gram. Sie hatte jetzt ja beide Söhne verloren, denn mein älterer Bruder Hans, ein recht leichtsinniger Mensch, war schon vor vier Jahren verschollen, nachdem er nach Südamerika ausgewandert war. – Ich behaupte, daß meine Frau, die eine so vorzügliche Schwimmerin und Taucherin gewesen, damals unter Wasser das nahe Ufer erreicht hat, im Schutze der Erlenzweige an Land gestiegen ist und mit Hilfe ihrer Freunde heimlich entweichen konnte. – So, Herr Bröse, jetzt wissen Sie den Hergang.“

Schniegel-Otto putzte nachdenklich sein Monokel, sagte leise:

„Und jetzt ist diese Agathe wieder aufgetaucht und hat versucht, Ihnen abermals Ungelegenheiten zu bereiten – jetzt abermals nach acht Jahren! Weshalb nur – weshalb?! Haßt dieses Weib Sie denn so über alle Maßen, daß sie sogar auf Ihre Entlassung aus dem Zuchthaus gewartet und Ihnen den kleinen Buckligen mit dem grauen Vollbart entgegengeschickt hat, damit dieser Sie im Auge behielte! – Denn – das nehme ich bestimmt an, Herr Rechtsanwalt: der Mann, den Sie in der Villenkolonie Dahlem neben dem Auto stehen sahen, war Ihr Verfolger, nicht der Ulla Krestens!“

„Aber – es war doch jener Herbert Moschler, Herr Bröse, jener Moschler, der Ulla Kresten in den Verdacht des Diebstahls brachte!“

Bröse klemmte das Monokel ein und seufzte.

„Ja – hier könnte tatsächlich nur ein tüchtiger Detektiv helfen, ein Mann etwa von den Fähigkeiten meines „Freundes“ Alex Krosta, eines überaus gerissenen Kriminalbeamten! – Gehen wir jetzt zu Bett. Es ist draußen schon hell –“

 

8. Kapitel.

In Doktor Feldts Dienstzimmer saßen nachts 12 Uhr der Kriminalkommissar und Alex Krosta. Sie waren vor einer halben Stunde aus Dahlem zurückgekehrt. Beide rauchten. Krosta hatte soeben aus der Fingerabdruck-Kartothek eine einzelne Karte geholt und hatte dann am Tische wieder Platz genommen.

Der kleine Krosta nahm die Rotweinflasche, die er aus der Villa mitgebracht hatte, und verglich mit Hilfe eines Vergrößerungsglases die Fingerabdrücke auf der Flasche mit denen der Karte.

„Es ist der frühere Rechtsanwalt Doktor Thomas Bruck!“ sagte er nun und blickte Feldt triumphierend an. „Thomas Bruck, der im Juli 1914 zu acht Jahren Zuchthaus wegen Totschlags verurteilt wurde. Dies hier ist seine Karte. Und hier auf der Flasche befinden sich dieselben Abdrücke.“

Feldt legte die Zigarre weg. „Wie sind Sie denn gerade auf Bruck gekommen? Sie meinen also, er ist der angebliche Agent Schmidt, den die Kresten mit nach Hause nahm und dort bewirtete?“

„Ja – das war Bruck! Und Bruck ist vorgestern aus dem Zuchthaus entlassen worden. Seine Strafzeit war um. – Wie ich auf ihn kam? – Nun, ich ging durch die Zimmer und fand das Bild auf dem Paneelbrett.“

„Welches Bild, Krosta? – Wenn Sie wieder sich jedes Wort einzeln herausziehen lassen, werde ich saugrob!“

„Ich hatte die Köchin über den Gast ausgefragt. Sie betonte, daß er einen kahl geschorenen Kopf und ein fahles Gesicht gehabt hätte, daß er eine Photographie, eine Gruppenaufnahme, vom Paneel herabgenommen und dann das Bild ganz starr vor Staunen betrachtet hätte. Die Köchin mußte sich die Gruppenaufnahme dann ebenfalls ansehen, und mit einem Male rief sie: „Hier – dies ist der Herr, der die Flasche Rotwein getrunken hat!“ – Ich nahm das Bild aus dem Rahmen. Auf der Rückseite waren die Namen der Photographierten vermerkt – so, wie sie auf der anderen Seite ihren Platz hatten. Und – so kam ich auf Thomas Bruck. Ich war meiner Sache noch nicht sicher und prüfte alles hier nach. Nun weiß ich’s bestimmt: Bruck war bei der Kresten, und die Kresten will dies vor uns verheimlichen!“

Doktor Feldt rauchte wieder.

„Das haben Sie brav gemacht, Krostachen,“ sagte er.

„Es nützt nur nicht viel. Denn – Bruck ist der Attentäter nicht! Das ist der andere, der in das Haus heimlich einstieg.“ Der Kleine zog die Nase in Falten. „Aber – vielleicht kennt Bruck diesen anderen. Wir müssen Bruck suchen.“

Feldt nickte und strich die Zigarrenasche ab. „Die Kresten wird uns seine Wohnung nicht verraten, mein Lieber.“

Krosta schwieg. Dann beugte er sich vor.

„Herr Doktor, die Kresten saß im Frühjahr 1914 wegen Diebstahlsverdacht in Untersuchungshaft,“ platzte er heraus. „Ich war damals noch Rechtsanwaltsschreiber bei Justizrat Wermke. Der verwaltete das Vermögen der Baronin Salbing, und der Baronin war ein Brillantdiadem gestohlen worden.“

„Ich besinne mich dunkel –“

„Ja – ein internationaler Gauner war der Dieb. Er hatte sich an die Kresten, damals Gesellschafterin der Salbing, herangemacht und die Gelegenheit ausbaldowert. Der Gauner hieß –“ – er dachte nach „nein, ich komme nicht auf den Namen. Aber ich werde mir sofort das Aktenstück heraussuchen.“

Er eilte davon.

Nach einer Viertelstunde trat Krosta wieder ein.

„So – hier haben wir die Sache –“ Er blätterte in dem Aktenstück. „Aha – Herbert Moschler hieß der Gauner. Man hat ihn nicht erwischen können. Hier steht über ihn:

„Auch der Name Moschler dürfte falsch sein. Festgestellt wurde, daß dieser Moschler geborener Deutscher ist und 1910 Beamter des Detektivinstituts Rablay u. Komp. in Neuyork war, wo er unter dem Namen Müller ein Doppelleben als Schwindler und Detektiv führte und mit neun Monaten Gefängnis bestraft wurde.““

Feldt trommelte einen Marsch auf der Tischplatte. „Bringen Sie etwa diesen Mordversuch mit dem Diademdiebstahl in Verbindung – nach acht Jahren?!“ meinte er gähnend.

„Ja, Herr Doktor! Ich – ich fühle diese Verbindung sozusagen, kann sie aber noch nicht beweisen. – Daß Bruck sofort nach seiner Entlassung bei der Kresten weilte, gibt auch zu denken. Ich vermute hier eine ganze Menge dunkler Zusammenhänge. Weshalb hat die Kresten uns zum Beispiel belogen und Brucks Besuch verheimlicht?!“

Feldt nickte. „Ganz recht! Und – woher hat sie das Geld, eine Villa zu mieten, sie, die frühere Gesellschafterin?!“

„Ja – und was hat sie seit 1914 getrieben? – Oh – wir werden all das sehr bald erfahren, und dann –“

Es hatte geklopft. Ein Beamter trat mit einer soeben eingegangenen Meldung ein, die er Feldt überreichte. Er blieb abwartend stehen.

Feldt las:

Kriminalassistent Mörner hat soeben, auf Patrouillengang in der Borsigstraße begriffen, folgendes aus einer Toreinfahrt beobachtet. – Vor dem Kellerlokal Vesuv hielt eine Taxameterdroschke an, die aus der Richtung Invalidenstraße gekommen war. Gleich darauf machte ein Taxameterauto, und zwar Nr. 11214, zwei Häuser weiter vor Nr. 109 halt. Einer der Autofahrgäste war der Schniegel-Otto. Der andere trug offenbar eine Verkleidung. Schniegel-Otto begrüßte den Kutscher der Taxameterdroschke, wechselte mit ihm Rock und Hut, und nach kurzer leiser Unterhaltung zwischen den dreien fuhren Schniegel-Otto und der ärmlich Verkleidete nach der Müllerstraße 81 zu dem Droschkenbesitzer Alfred Kumst, bei dem sie den Wagens zurückließen. – Da möglicherweise hier Beihilfe bei einem Einbruch vorliegt, wird obiger Vorfall unter dem Hinzufügen zur Meldung gebracht, daß der erste Kutscher der Droschke der zuletzt als Bahnhofsdieb vorbestrafte Franz Pinzke war, der sich nach Abfahrt der Droschke in den Vesuv begab.

Feldt reichte jetzt Alex Krosta diese Meldung.

Der kleine Krosta nahm sie mit dem gleichgültigsten Gesicht entgegen und überflog sie. Seine Augen weiteten sich plötzlich. Die Gleichgültigkeit schwand.

„Herr Doktor, ich werde mal den Vesuv besuchen,“ sagte er hastig.

Feldt warnte: „Seien Sie nicht unvorsichtig! Ich werde lieber mitkommen.“

„Nein, Herr Doktor – nein! Besser nicht! Erscheinen dort zwei von der Polente (Polizei), wird alles wild.“

„Was hoffen Sie dort denn festzustellen?“ meinte Feldt zögernd.

„Ich hoffe nichts, Herr Doktor,“ hatte der kleine Krosta schon erwidert. „Ich will nur jede Kleinigkeit verfolgen, die in dieser Nacht geschehen ist und die etwas besonderes an sich hat – wie zum Beispiel diese Droschkenverleihgeschichte, die ohnedies doch aufgeklärt werden muß.“

„Dann ist es einfacher, zu Alfred Kumst nach der Müllerstraße zu fahren. Ich komme mit, Krosta.“ –

Das Polizeiauto hielt vor Müllerstraße 70. Feldt und Krosta gingen zu Fuß weiter.

Es dauerte eine Viertelstunde, bis sie Kumst herausgeklingelt hatten. Er ließ sich erst die Legitimationen der beiden Beamten zeigen und prüfte sie sehr genau. Dann bat er Feldt und Krosta in seine gute Stube und erklärte:

„Ich habe zwar zu schweigen versprochen, aber Ihnen gegenüber, meine Herren, darf ich das nicht. Das weiß ich sehr wohl. Die Sache war also folgendermaßen. – Ich kam gegen halb elf gestern abend leer durch die Invalidenstraße. Da wurde ich aus einem Auto, das soeben angehalten hatte, angerufen. Eine Dame mit dunklem Filzhut, schwarzem Schleier und hellem Mantel stieg aus dem Auto, bezahlte den Chauffeur und sagte mir dann, ich solle das Hinterverdeck meines Wagens hochschlagen. Sie gab mir sofort hundert Mark. Ich tat es, und sie befahl mir, immer vor dem Hause Nr. 204 im Schritt hin und her zu fahren, fünfzig Meter nach links, fünfzig Meter nach rechts. Da ahnte ich schon, daß sie wen beobachten wollte, der im blauen Affen weilte. – So war es auch. Nach gut Dreiviertelstunde mußte ich dann einem Herrn folgen, der einen Mantel überm Arm und einen blauen Jackettanzug trug, dazu einen derben Spazierstock. Aber – inzwischen war aus meiner Dame ein Herr geworden mit dickem schwarzen Schnurrbart. Der Herr stieg dann vor dem Aufgang zum Lehrter Stadtbahnhof aus, weil der Andere dort hineingegangen war, gab mir noch hundert Mark und sagte, ich solle warten. Kaum war er in der Halle verschwunden, als ein alter Hausierer an mich herantrat und mir fünfhundert Mark bot, wenn ich ihn Kutscher meiner Droschke spielen ließ. Als Pfand für Pferd und Wagen reichte er mir seine Brieftasche und einen Umschlag mit ’ner Masse Tausendmarkscheine. Ich war einverstanden. Er zog meinen Rock an, setzte meinen Hut auf und ließ sich von mir noch Stücke von seinem grauweißen falschen Bart herauszupfen, weil ich eben ’nen dünneren Vollbart hatte. Na – sehr ähnlich war er mir auch so nicht. Ich ging dann ein Stück weg und sah, wie der Herr, der vorher Weib gewesen, von meinem Ersatzmann nun das Verdeck herunterklappen ließ und wie der Wagen wendete und nach der Invalidenstraße zu davonfuhr. Ich machte mich nun nach Hause, und ich gebe zu, daß ich aus Neugier mir dann den Inhalt der Brieftasche ansah und die Banknoten zählte. Es waren 49 000 Mark, und in der dicken Brieftasche befanden sich lauter Papiere, die auf den Namen Thomas Bruck – Rechtsanwalt Thomas Bruck – lauteten, darunter auch ein Formular, aus dem hervorging, daß dieser Bruck vorgestern aus dem Zuchthaus entlassen worden war –“

Krosta hüstelte triumphierend und sagte: „Nur weiter, Herr Kumst. – So gegen ein Uhr wurde dann die Droschke zurückgebracht, nicht wahr?“

„Ja, so ist’s. Zwei Leute brachten sie, einer mit ’n Monokel und der mit ’m falschen Bart. Er trug den Bart aber nicht mehr. Ich kriegte meine fünfhundert Mark, und dann schoben die beiden ab. Es war ’ne einträgliche Nacht, meine Herren.“ Der alte Kumst griente vergnügt, und Feldt und Krosta verabschiedeten sich.

Auf der Straße sagte Feldt:

„Sehen Sie, Krosta, nun haben wir ohne jedes Risiko alles erfahren –“

„Alles?!“ meinte der Kleine. „Doch wohl kaum! Wie kam denn Franz Pinzke als Droschkenkutscher auf den Bock?!“

„Wir werden Pinzke vorladen. Nur nichts übereilen, Krosta!“

„Vorladen?! Herr Doktor, dieses Eisen muß noch in dieser Nacht geschmiedet werden. Wir sind hier fraglos einer feinen Sache auf der Spur. Ich werde in den Vesuv gehen. Sie halten draußen in einiger Entfernung. Ich werde im Vesuv ganz harmlos auftreten. Der Pinzke gehört nicht gerade zu den geistig Reichen. Er wird manches verraten.“

 

9. Kapitel.

Franz Pinzkes Leidenschaft war das Skatspiel. Auch jetzt saß er in Vater Brüskes Wohnstube mit drei anderen Skatratten und hatte soeben beim Zahlenreizen bis 40 geboten.

Vater Brüske, der Inhaber des Vesuv, bediente vorn die anderen Stammgäste. Zwei davon hatten vorhin bezahlt, und Brüske ließ sie nun vorsichtig hinaus, indem er erst mal allein den Kopf zur leise geöffneten Kellertür hinausstreckte. Die Luft war rein. Die beiden Gäste gingen davon.

Alex Krosta stand dicht daneben in der Ecke der Haustür, trat jetzt schnell vor.

„’n Abend, Vater Brüske –“

„Ah – hoher Besuch!“ – Der dicke Brüske deutete auf die nur angelehnte Kellertür. „Bitte – nach Ihnen, Herr Krosta –“

„Ist Franz Pinzke unten?“

„Ja. Er spielt Skat. Wir feiern son kleenet Familienfest.“

Brüske hatte bereits auf den in der Tür verborgen angelegten elektrischen Kontakt gedrückt. Er wußte, daß die Gäste nun alle in der Wohnstube saßen, so daß ihm wegen Überschreitung der Polizeistunde nichts passieren konnte.

Krosta schritt die Stufen hinab und sagte mit halb zurückgewandtem Kopf: „Dort drüben sitzt Kommissar Feldt im Auto. Ich werde Ihr Fest jedoch nicht lange stören, Vater Brüske, habe den Franz nur ’ne Kleinigkeit zu fragen. Keine Verhaftung, also kein Anlaß zu Ärger und Mißstimmung.“

Im Kneipraum mit der gewölbten Decke brannte nur eine Gasflamme. Die Tische waren leer. Krosta lächelte verstohlen. Diese Lokale hatten alle ein Alarmsignal. –

Franz Pinzke spielte den ältesten Buben aus.

„Raus mit Eire Hampelmänner!“ brüllte er.

Am Sofatisch saßen die sechs anderen Gäste der „kleenen Familienfete“. Alex Krosta lächelte freundlich, wünschte allerseits guten Abend und bat Pinzke für einen Augenblick in den Vorderraum.

Pinzke erhob sich. In der Stube herrschte eine schwüle Stille.

„Bitte,“ sagte Krosta. „Im übrigen, meine Herren, – keine Verhaftung! Also feiern Sie fröhlich weiter.“

Franz saß dann vorn im Lokal dem Beamten unter der Glasflamme gegenüber. Krosta bot ihm eine Zigarre an.

„Wie steht’s mit den Geschäften, Pinzke?“ begann er und nahm Pinzkes Feuerzeug, rauchte seine Zigarre an. „Was haben Sie von Rechtsanwalt Bruck für die heutige Chose bekommen? Einen Braunen?“

Pinzke war zusammengezuckt. Er merkte: hier gab’s kein Leugnen mehr!

„Ne – man bloß dreihundert,“ erklärte er finster.

„Wenig, sehr wenig! Für so ’ne Kutscher-Maskerade! Wo ist denn der Herr mit dem schwarzen dicken Schnurrbart geblieben?“

„Weeß ick nich – warraftij – weeß ick nich!“ Pinzke wollte retten, was noch zu retten war.

„Hm – wollen Sie wirklich mit aufs Präsidium, Pinzke, – wegen Beihilfe?! Mann, das ist ja so töricht, zu lügen. Wir bekommen doch alles heraus. Kumst aus der Müllerstraße hat schon gepfiffen, und der Schniegel-Otto wird weniger Faxen machen als Sie! Auf Ihnen bleibt’s dann sitzen, Pinzke!“

Pinzke knackte mit den Fingern. „So, so, Kumst hat jepfiffen. Na, dann – dann hilft’s ja woll nischt. Also der mit ’n schwarzen Schnurrbart jing ins Excelsior-Hotel in de Bellewühstraße.“

„Erzählen Sie genauer, Pinzke –“

„Na, der Schwarze hatte doch den Bruck in ’n Tierjarten so halb alle jemacht – mit ’n Betäubungsmittel, und fuhr ihn dann mit’s selbe Droschkon nach Nr. 65 in de Sickingenstraße in Moabit. Otto war immer hinterdrein. Ick kam jrade von meine Braut aus die Beusselstraße, als Otto mir anrief. Ick sollte dem Droschkon folgen, und der Schwarze ließ es denn eenfach in ’n Seitenwej von ’n Tierjarten stehen und jing nach’s Excelsior. Otto hatte mir hier in ’n Vesuv for nachher bestellt, und ick hatte eben det Droschkon jleich aus ’n Tierjarten wieder mitjenommen. Det is allens, und dafor bekam ick die dreihundert Meter von Otto.“

Alex Krostas Augen flackerten vor Freude. Aber er hatte die Lider vorsichtigerweise halb geschlossen.

„Ich verstehe,“ nickte er. „Der geschniegelte Otto hat Bruck befreit –“

„Ja, det tat er, nachdem der Andere det Zimmer und det Haus verlassen hatte. Sie hatten den Bruck dort jefesselt und jeknebelt, sagte Otto. Aber mehr weeß ick nu wirklich nich.“

Krosta rauchte ein paar bedächtige Züge.

„Wie ist denn Bruck mit Schniegel-Otto zusammengekommen?“ fragte er dann.

„Weeß ick wirklich nich. Wir hatten keene Zeit, so allens durchzuquatschen, Herr Oberwachtmeister.“ –

Pinzke log nicht.

Krosta beugte sich weit über den Tisch. „Es geht um Mordversuch, Pinzke!“ sagte er leise, aber mit Betonung. „War Schniegel-Otto vergangenen Abend in Dahlem in der Villa des Fräulein Kresten?“

Franz machte große Augen. Sein Erstaunen war ehrlich. „Wat – Mordversuch – etwa der Otto?!“ Dann verzog er verächtlich den Mund. „Der Otto quetscht keene Wanze tot! Ne Herr Krosta, det stimmt nich.“

Krosta merkte: Pinzke wußte noch nichts von den Geschehnissen in Dahlem! – Daher gab er sich auch mit dem hier Erreichten zufrieden und verabschiedete sich.

„Ich würde Ihnen dringend raten, weder Bruck noch Otto etwas von meinem Besuch hier mitzuteilen,“ sagte er ernst, als Pinzke ihm die Ausgangstür geöffnet hatte und sie bereits auf der Treppe standen.

„Hm – det jeht nich,“ meinte Franz kopfschüttelnd. „Otto würd’s von den andern doch erfahren, und wir sind Freinde, der Otto und ich, und der Bruck is nu ooch eener von uns –“

Krosta verzichtete auf alles weitere, wünschte Pinzke nochmals „viel Schwein“ im Skat und schritt dem Auto zu. –

Franz Pinzke sah das Polizeiauto davonfahren, holte seinen Hut und erklärte der Skatrunde, daß er „mal für ’n Oojenblick wej misse –“

Er ging schnell der Chausseestraße zu, traf ein leeres Auto und war eine Viertelstunde später in einer Seitenstraße des Lützowplatzes vor einem vornehmen Wohnhause, in dem unten zwei Läden sich befanden. Der eine war ein „Schönheitspflege-Salon“, Inhaberin Adele Schneider.

Pinzke holte einen Schlüssel hervor und schloß die Ladentür auf, trat ein, schloß ab und schaltete seine Taschenlampe ein, tappte durch den Laden und klopfte an eine Tür.

„He – Adele – hier is Franz! Ick hab’ Dir was Eiljes mitzuteilen.“

Nach einer Weile ging die Tür auf und ein schlankes blondes Weib ließ Pinzke eintreten.

Pinzke erzählte überstürzt. „Du mußt Otto also warnen, Adele. Ick weeß ja nich, wo er seine richtje Bleibe hat. Aber Du weeßt es.“ –

Nach fünf Minuten kehrte er in den Vesuv zurück.

– – – – – – – –

„Nächste Ecke halten!“ hatte der kleine Krosta beim Einsteigen dem Polizeichauffeur zugerufen. – Das Auto ruckte an.

„Herr Doktor, Pinzke wird Schniegel-Otto schleunigst eine Warnung zugehen lassen,“ sagte Krosta zu Feldt. „Wir trennen uns am besten. Sie können den Vesuv weiter beobachten, und ich fahre nach der Sickingenstraße.“

Feldt lachte. „Daß wir doch immer dasselbe denken, Krosta! Gut – trennen wir uns!“

Krosta erzählte noch schnell, was er von Pinzke über Brucks Erlebnisse in der Droschke gehört hatte.

„Donner noch eins!“ meinte Feldt. „Die Sache wird verzwickt. Na – da lohnt es wenigstens, sich wieder mal eine Nacht um die Ohren zu schlagen!“ –

So kam es, daß Pinzke beobachtet wurde, als er den Laden der Adele Schneider am Lützow-Platz betrat, und daß Feldt dann sofort von der nächsten Polizeiwache dem Haupttelephonamt Befehl gab, den Inhalt jedes Gesprächs zu kontrollieren, das etwa von Lützow Nr. 961 (die Nummer stand an dem Schaufenster des Schönheitssalons) geführt wurde.

Um halb vier Uhr morgens war Feldt wieder in seinem Dienstzimmer, nahm einen Bogen Papier und schrieb auf, was er über Bruck, Schniegel-Otto und Pinzke wußte. Er ordnete den Stoff ganz logisch, überlas nun das Geschriebene, da klopfte es kräftig, und Krosta stieß von draußen die Tür auf.

Sein Aussehen deutete auf eine wichtige Neuigkeit.

Seine Worte überhasteten sich.

 

10. Kapitel.

Der kleine Krosta hatte vor Ungeduld gefiebert, nach der Sickingenstraße 65 zu kommen. Das Polizeiauto war ihm heute nicht schnell genug.

Er hatte sich nochmals umgedreht und Doktor Feldt flüchtig zugewinkt, der den Vesuv beobachten wollte. Dann hatte er in den Polstern ganz zusammengesunken gekauert und seine Gedanken kreisen lassen.

Das Auto hielt an der Ecke Beusselstraße. – „Warten!“ befahl Krosta.

Dann stand er vor Nr. 65 – Da rechts war die Nachtglocke für den Hauswart. Er läutete. Sehr bald schlurfende Schritte.

Der Portier blickte Krosta mißtrauisch an, wurde aber sofort ganz Diensteifer, als er die Legitimation sah.

Krosta fragte.

„Ja,“ erklärte der Hauswart, „dort rechts hat die Hausbesitzerin, die Witwe Gluck, das Vorderzimmer seit vierzehn Tagen an einen Ausländer, einen Amerikaner, vermietet, der Tompson heißt – Allan Tompson –“

Krosta fragte weiter. Sie standen in der Haustür. Die fahle Morgendämmerung lag über Straße und Häusern.

„Tompson ist sehr wenig daheim,“ sagte der Portier nun. „Man bekommt ihn selten zu Gesicht. Er ist bartlos und unter Mittelgröße, hat einen runden Rücken, also ’nen Buckel, und recht lange Arme. – Besondere Kennzeichen? Hm – die Oberlippe ist sehr kurz, und man sieht ganz deutlich die drei goldenen Oberzähne –“

Alex Krosta wiederholte wie verträumt: „Kurze Oberlippe – drei obere Goldzähne. Wie bei Moschler in den Akten Salbing!“ Dann sagte er lauter: „Ich werde Frau Gluck wecken. Sie muß mir die Tür des Zimmers öffnen.“ –

Frau Gluck gehörte zu den nicht gerade seltenen Hausbesitzerinnen, die am sogenannten Beamtenkoller leiden. Der Empfang Krostas durch diese dürre Fünfzigerin war deshalb auch außerordentlich kühl, was Alex jedoch nicht störte.

Hier hatte er also kein Glück. Die Dürre blieb eisig. Krostas Fragen schien sie dem Inhalt nach nicht zu erfassen.

Krostas Galle schwoll. Aber er blieb liebenswürdig, wie die Gluck eisig blieb. – „Warte,“ dachte er, „ich werde Dir schon noch eine andere Tonart beibringen!“

„Mit wem verkehrt dieser Tompson?“ fragte er jetzt, immer noch mit der Gluck im Wohnungsflur stehend, wo eine Gaslyra brannte.

„Ich verbitte mir so unanständige Fragen!“ fuhr sie scheinbar empört auf. „Herrn Tompsons Liebschaften gehen mich nichts an!“

„Sie haben also bemerkt, daß er Damenbesuch empfing,“ sagte Krosta kühl. „Das stimmt mit unseren Beobachtungen überein. Haben Sie in dieser Nacht in Tompsons Zimmer besondere Geräusche gehört?“

„Ich bin etwas schwerhörig –“

„Sehr bedauerlich. – Würden Sie mir jetzt sein Zimmer öffnen?“

„Ich habe keinen Schlüssel zu dem Flureingang –“

„Dann werde ich die Tür durch einen Schlosser öffnen lassen –“

„Wie Sie wollen. – Sie können aber auch durch die zweite Tür von meiner gute Stube aus hinein.“

Sie ging voran. – Vor der Tür nach Tompsons Zimmer stand ein Paneelsofa. Aber es war merkwürdigerweise so weit von der Wand abgerückt, daß man sich bis zur Tür hindurchschieben konnte.

Krosta tat dies so schnell, daß er hierbei der dürren Gluck zuvorkam, legte die Hand auf den Drücker und fühlte gleichzeitig, daß der Schlüssel von dieser Seite im Schloß steckte. – Die Tür war unverschlossen, schlug nach außen und gestattete Krosta ohne weiteres den Eintritt, da drüben kein Möbelstück den Weg versperrte.

„Das sieht so aus, als ob Tompson bei der Gluck auf diese Weise jeder Zeit Zutritt hatte,“ dachte er und schaltete seine Taschenlampe ein, rieb dann ein Zündholz an und stieg auf einen Stuhl, um die eine Flamme der dreiarmigen Gaskrone anzuzünden.

Ein besonderer Gedanke ließ ihn das Streichholz so ungeschickt halten, daß es nutzlos abbrannte. Inzwischen hatte er mit dem Finger den Zylinder befühlt. Der war kalt.

Er rieb ein zweites Zündholz an und drehte die Krone. Ah – dieser Zylinder war noch warm! Also mußte vor kurzem jemand hier im Zimmer gewesen sein.

Das Gas puffte auf, und Krosta stieg vom Stuhl herab. Die Gluck stand noch in der halb offenen Tür mit höhnisch verzogenen Mundwinkeln.

Krosta schaute sich um. – Da war der Sessel, da lagen die Stricke auf dem Teppich. Sonst nichts Auffälliges.

Er deutete auf die Stricke. „Herr Tompson macht merkwürdige Scherze!“ meinte er.

Die Gluck trat näher, spielte die Neugierige.

„Inwiefern?“ fragte sie in nur mäßig gut geratenem Tonfall des Staunens.

Krosta antwortete nicht, sondern fragte seinerseits:

„Sie waren wohl gestern abend zum letzten Mal hier im Zimmer?“

„Ja – so gegen acht Uhr,“ kam die schnelle Erwiderung.

„Seltsam!“ kopfschüttelte Krosta. „Gestern abend! Und doch hat Tompsons Freundin dieses Zimmer gegen halb eins, vor reichlich zwei Stunden verlassen, und wenig später sind zwei Herren, die ebenfalls hier weilten, weggegangen. Wenn nun diese beiden Herren das Gas ausgedreht haben, dann könnte der Zylinder da jetzt nicht mehr warm sein. Er ist aber warm. Also muß jemand nach den beiden Herren noch hier gewesen sein.“

Die Schielaugen der Gluck suchten einen Moment den Boden. Dann blickten sie an Krosta vorbei, und die Gluck sagte sehr unsicher:

„Ja – dann muß wer hier gewesen sein!“

„Vielleicht Sie?!“ – Der Angriff war geglückt. Das Weib ließ vor Schreck den Unterkiefer sinken.

„Ich – ich?“ rief sie dann. „Was sollte ich wohl hier?! Wie kommen Sie –“

Krosta hatte sehr energisch abgewinkt. „Weshalb steht das Paneelsofa dort so weit von der Wand ab?“ fragte er fast drohend.

„Ich – ich habe reingemacht –“

„Und weshalb ist der Waschtisch hier so dicht an den Schreibtisch geklemmt, obwohl er vor der Tür sehr bequem Platz hätte?“

Die Gluck schwieg jetzt. Die Schielaugen waren auf den Teppich gerichtet.

„So – Sie werden nun gestatten müssen, daß ich Ihre Wohnräume durchsuche,“ fügte Krosta scharf hinzu. „Folgen Sie mir! Sie werden den Portier rufen, der Sie so lange bewachen wird. Oder – wollen Sie nicht lieber zugeben, daß Sie mit diesem Mieter, der sich zuweilen auch Moschler nennt –“

Der Schlag hatte noch besser gesessen. Die Gluck war zurückgefahren, stierte Krosta offenen Mundes an, bis sie merkte, daß sie sich verraten hatte.

Fahle Flecken erschienen auf den Wangen. Ein Zittern lief über ihre hagere Gestalt hin.

Dann – und für Krosta kam’s völlig überraschend – flog sie ihm an den Hals. Ihre dürren, knochigen Hände umklammerten seine Kehle, und mit einer Gewandtheit, die ihr vielleicht nur die Wut eingab, versetzte sie dem weit kleineren Manne mit dem hochgezogenen Knie einen solchen Stoß vor den Leib, daß Krosta vor Schmerz und jähem Übelkeitsgefühl kraftlos zusammenknickte.

Sie ließ ihn auf den Teppich gleiten. Aber ihre Hände preßten ihm desto stärker die Kehle zusammen; sie kniete auf ihm; er sah ihre verzerrte Satansfratze dicht über sich; Speichel träufelte ihr aus dem Munde; ihre Augen frohlockten.

Krosta wußte, daß diese Bestie ihn kaltblütig erdrosseln würde, daß er hier fraglos den Schlüssel zu den Geheimnissen dieser Nacht finden könnte, wenn – wenn er sich zu retten vermochte.

Er lag still, hielt den Atem an. Die Ohnmachtsanwandlung ließ nach.

Er schloß die Augen, röchelte.

Er schauspielerte um sein Leben.

Und schnellte mit aller Kraft den Oberkörper hoch, packte die Arme des Weibes, stieß sie gegen den Sessel.

Sie taumelte. Und bekam einen Fausthieb unter das Kinn, der sie für Sekunden erledigte. –

Krosta drückte sie in den Sessel, griff nach den Stricken, fesselte ihr die Füße, die Hände, schlang die Stricke um die steile Sessellehne.

Da kam sie wieder zu sich. Ein irrer Blick traf ihn, – ein Blick voll wilder Angst.

Und Alex Krosta begann zunächst das Zimmer der Gluck zu durchsuchen, denn daß er in Tompsons Zimmer nichts finden würde, wußte er. Er suchte so, wie Leute seines Berufs suchen. Selbst das Photographiealbum nahm er vom Nickelständer und betrachtete jedes Bild sehr genau, zog nun ein Bild heraus und beschaute die Rückseite, schob es in die Tasche und murmelte: „Das genügt!“

Suchte weiter und fand noch mehr – in der Gluck Schlafstube und im Mülleimer in der Küche, dessen Inhalt er auf den Boden gekippt hatte.

Dann kam er zu der Gefangenen zurück, rief den Portier und schickte diesen zur nächsten Polizeiwache, sagte sehr eindringlich: „Wenn Sie nicht schweigen, dann –! Also kein Wort – zu niemandem!“

Nun war er mit dem Weibe allein.

„Frau Gluck, wir Kriminalbeamten haben ein gutes Gedächtnis,“ meinte er gelassen. „Als der Mordprozeß Bruck verhandelt wurde, war ich zwar noch Rechtsanwaltsschreiber. Aber ich habe jenen Prozeß sehr genau verfolgt. Sie, Frau Gluck, waren in erster Ehe mit dem Friseur Hermann Müller verheiratet. Ich habe die Papiere in der Kommodenschublade gefunden. Ihre Tochter aus dieser Ehe hieß Emma – Emma Müller! Und Brucks angeblich ermordete Frau hieß als Mädchen ebenso! Sie lebt! Sie war diese Nacht hier!“

Die Gluck hatte den Kopf noch tiefer gesenkt. Sie regte sich nicht. –

Gleich darauf mußte sie sich zum Ausgehen anziehen und den Gang nach der Polizeiwache antreten, ohne daß dies jemandem auffiel.

 

11. Kapitel.

Doktor Feldt war aufgesprungen. Und Krosta hastete hervor: „Sickingenstraße war ein Haupttreffer! Die Hausbesitzerin von Nr. 65, gleichzeitig Moschlers Wirtin, sitzt auf der Wache!“

Er war ganz erschöpft, der kleine zappelige Krosta, sank nun in einen Stuhl und berichtete stockend und wiederholt tief Atem holend, was er dort in der Wohnung alles entdeckt hatte.

„Hier – bitte – eine Photographie Moschlers und der Emma Müller,“ sagte er nun. „Auf der Rückseite steht:

Zum Andenken an Deine Kinder
Emma und Hans.
München, November 1912.

Und hier –“ – er reichte Feldt ein paar Papiere, darunter zwei zerknitterte Blätter – „eine Urkunde des deutschen Konsulats in Mexiko vom 2. August 1911 über die vollzogene Eheschließung des Kaufmanns Franzesco Almado mit Emma, geborenen Müller; ferner ein Geburtsschein dieser Emma Müller. Dann – diese zerknüllten, beschmutzten Blätter aus dem Mülleimer, bedeckt mit Schreibversuchen, bedeckt mit dem Namen „Dr. Thomas Bruck“, also Fälschungsversuche!“

Kommissar Feldt lächelte etwas. „Ruhe, Krosta, Ruhe. Ich begreife ja Ihre Aufregung. Sie haben die Brücke entdeckt, die von dem Fall Salbing-Kresten zu Bruck sich spannt: die Person Moschlers, die vielleicht unter dem Namen Almado der erste Gatte der Emma Müller war! Sie haben eine Tote lebendig gemacht – Trotzdem: Ruhe, Krosta! – Kognak gefällig?“

„Danke. Nicht nötig. Das ist bei mir nicht Aufregung, das ist Temperament, Herr Doktor! Ich bin außerdem noch nicht fertig. Ich war auch im Excelsior-Hotel, habe den Nachtportier und den Direktor gesprochen. Moschler wohnt dort seit vierzehn Tagen als Sennor – Franzesco Almado nebst Gattin aus Neuyork, – drei Luxuszimmer, scheinbar sehr viel Geld –“

„Donnerwetter – Almado!“ entfuhr es Feldt.

„Ja – Almado! Und Almado ist auch Tompson, ist wahrscheinlich doch auch der „Hans“ von der Bildrückseite, und ebenso wahrscheinlich ist er als Moschler der Dieb des Diadems gewesen und jetzt der Attentäter aus Dahlem!“

„Ah – genau dasselbe vermutete auch ich, Krosta! – Nun aber mal eine kleine Atempause, sonst platzt uns der Schädel!“

„Das stimmt! Ich werde rauchen, und ein Kognak kann ebenfalls nichts schaden –“

Als Feldt ihm zuprostete, schrillte das Tischtelephon.

„Hier Kriminalpolizei, Kommissar Doktor Feldt. Ah – Nr. 2130 – Halensee! – Gut, verstanden: Doktor Bermuth, Heklastraße 8. Danke bestens.“

Er legte den Hörer auf die Stützen. „Krosta, der Franz Pinzke hat den Schniegel-Otto durch dessen Geliebte, die Friseuse Adele Schneider, warnen lassen. Das Telephongespräch zwischen der Schneider und Schniegel-Otto ist notiert worden. Die Schneider hat nur gesagt: „Franz war hier. Die Greifer waren im Vesuv. Die Droschke kann teuer werden.“ – Und Schniegel-Otto hat geantwortet: „Keine Sorge – Droschke ganz harmlos!“ Wir kennen nun also Otto Bröses Schlupfwinkel, und dort werden wir wohl auch Bruck finden. – Lesen Sie jetzt mal zunächst diese Protokolle aus den Akten Salbing-Kresten und Bruck.“

Alex Krosta brauchte dazu zehn Minuten. Als er nun die Akten Bruck auf den Tisch legte, zog er die schmale Nase ganz kraus und sagte langsam:

„Es kann kein Zufall sein, daß Brucks Frau so versessen darauf war, einen Stammbaum der Familie Bruck anzulegen, und daß die Kresten hier im Protokoll über ihren betrügerischen Verehrer Herbert „Müller“ angibt:

„Ich bin nur vier Mal, stets abends, mit ihm zusammengewesen. Wir sind dann spazieren gegangen. Er machte mir stark den Hof, und er war mir auch, von seiner heiseren, leisen Stimme abgesehen, ganz sympathisch, obwohl ich für Männer mit Spitzbärten nicht schwärme. Er sprach meist von seinen Arbeiten über Wappenkunde. Er beschäftigte sich, behauptete er, mit der Aufstellung von Familienstammbäumen, und er fragte wiederholt, ob ich nicht genügend alte Urkunden über die Familie meines Vaters besäße, um sie ebenfalls für einen Stammbaum benutzen zu können. Solche Urkunden befanden sich nun lediglich im Besitz einer entfernten Verwandten von mir, und Müller bat mich, die Urkunden mir doch zusenden zu lassen.“

Moschler-Müller hat also dieselbe Stammbaum-Manie gehabt wie Brucks Frau, die ja rechtmäßig nie seine Gattin, vielmehr die des noch immer etwas rätselhaften Sennor Franzesco Almado war, der sich auch „Hans“ nannte. Diese Manie des Paares muß einen besonderen Grund gehabt haben –“ – Er blickte seinen Vorgesetzten erwartungsvoll an. Aber Doktor Feldt blieb stumm und erwiderte den Blick nur in gleicher Weise.

Krosta hatte weitersprechen, hatte das, was er vermutete, andeuten wollen. Jetzt aber sagte er nur mit leichtem Achselzucken nach längerer Pause: „Auch dieser besondere Grund wird sich enthüllen lassen!“

Feldt nickte zerstreut und erhob sich. „Dann also nach Heklastraße 8 in Halensee. – Was haben Sie wegen des Paares im Excelsior angeordnet, Krosta?“

„Die Almados werden von drei Beamten auf Schritt und Tritt überwacht werden, Herr Doktor. Im übrigen hoffe ich, daß wir die Sache heute noch völlig erledigen.“

„Ich hoffe dasselbe.“ Feldt lachte leise auf. „Unsere Gedanken wandern meist dieselben Wege, lieber Krosta, – vielleicht auch hinsichtlich des besonderen Grundes der Stammbaum-Manie – nicht wahr?“

Alex Krosta wurde etwas verlegen und sagte zaudernd: „Es wird sich um Geld handeln –“

„Um sehr viel Geld, das aus – einer einzigen Quelle fließen sollte!“

Da lachte auch Krosta. „Wir haben mit unseren Gedanken Versteck gespielt, Herr Doktor. Wir wollten beide den Schlüssel des Geheimnisses in der Tasche behalten. Der Schlüssel heißt: –“

Und das eine Wort flüsterte er nur.

– – – – – – – –

Thomas Bruck lag auf dem Diwan in „Doktor Bermuths“ Arbeitszimmer und schlief – schlief fest und traumlos, bis das Telephon auf dem Schreibtisch so anhaltend schrillte, daß er schließlich erwachte und schnell Otto Bröse weckte, der nebenan im Schlafzimmer ebenfalls ganz fest geschlummert hatte.

Bröse nahm dann die telephonische Warnung Adelens sehr ruhig entgegen und sagte nachher zu Bruck:

„Weiß der Henker, woher die Polente schon wieder Wind von der Droschken-Geschichte bekommen hat! Man muß es den Herrschaften lassen: sie sind rührig!“

Bruck saß auf dem Rand des Diwans und hob seine Beinkleider auf, die vom Stuhl geglitten waren. Dabei fiel der Schlüsselring aus der Tasche.

Bruck hob ihn auf, stutzte plötzlich

„Es fehlt ein Schlüssel!“ rief er. „Bei der Entlassung aus der Anstalt waren fünf Schlüssel an dem Ringe – wie bei meiner Einlieferung. Jetzt nur vier. Der Schlüssel zu meinem Safe bei der Deutschen Bank fehlt. Ich habe die Safemiete all die Jahre weiter gezahlt, weil in dem Safe all unsere Familienpapiere liegen, die ich –“

Bröse unterbrach ihn hastig. „Sehen Sie – dann ist Ihnen in der Sickingenstraße doch etwas geraubt worden, eben dieser Schlüssel! – Hm – ob Ihre Frau etwa an die Familienpapiere sich heranmachen will, die Ihre Mutter ihr stets vorenthalten hat?“

„Möglich, aber nicht wahrscheinlich, denn – welchen Vorteil bringen ihr die Papiere?!“

„Das ist allerdings richtig. – Na, darüber reden wir noch, wenn wir uns ausgeschlafen haben.“

Bruck war jetzt zu munter geworden, um sofort wieder in das Reich der Träume hinübergleiten zu können. Die Gedanken, die vielfachen Fragen, die ihn nun bestürmten, verscheuchten die Müdigkeit. Er grübelte und grübelte. Weshalb grade der Safeschlüssel?! Weshalb?!

Draußen wurde es heller und heller.

Bruck war jetzt leise aufgestanden und in die Beinkleider geschlüpft. Er sah ein, daß er doch keinen Schlaf mehr finden würde. Dann trat auch Otto Bröse ein, sagte: „Uns geht es einem wie dem andern: die Nacht ist für uns vorbei! Wir wollen uns ankleiden und Kaffee trinken.“ –

Der Kaffeetisch war gedeckt. Bruck hatte geduscht, hatte sich rasiert und fühlte sich wie neu geboren.

Mit einem Male schlug die Flurglocke an. – Bröse zog die Augenbrauen hoch, legte den Finger auf die Lippen und schlich an das Guckloch der Flurtür, kam sofort ins Herrenzimmer zurück.

„Polizei!“ flüsterte er.

Bruck verfärbte sich etwas.

„Ihnen kann nichts passieren,“ meinte Bröse. „Aber ich –?!“

„Dann – dann fliehen Sie doch! Schnell – hinaus durch die Geheimtür! – Da – sie läuten schon wieder. Fliehen Sie! Sie sollen nicht meinetwegen in Ungelegenheiten geraten!“ Und er drängte Bröse rasch in die kleine Mädchenkammer.

Bruck warf die Zimmertür ins Schloß und ging zur Flurtür, nahm die Sicherheitskette weg und schloß auf.

Zwei Herren standen vor ihm, traten schnell ein. Und Feldt fragte kurz:

„Herr Doktor Bruck, nicht wahr?“

Bruck verbeugte sich. „Ja – Thomas Bruck!“

Feldt stellte sich vor und ebenso Krosta, reichte Bruck dann die Hand.

„Herr Rechtsanwalt, Ihre Schuldlosigkeit ist erwiesen. Ihre Frau lebt, befindet sich hier –“

„– hier im Excelsior-Hotel,“ vollendete Bruck. „Ich weiß das bereits, Herr Kommissar. Ich habe meine Frau an der Stimme und an den Händen wiedererkannt. – Bitte, wollen die Herren nicht näher treten? Ich bin jetzt hier Hausherr –“

„Und – wo ist Bröse, Herr Rechtsanwalt?“

„Entflohen und in Sicherheit. Er war gewarnt worden –“

Die drei standen nun im Herrenzimmer.

„Bröse kann erst soeben entflohen sein,“ sagte Alex Krosta da und zeigte auf den Kaffeetisch. „Zwei volle Kaffeetassen – zwei!“

Bruck zuckte nur die Achseln, und Feldt und Krosta begannen zu suchen. Nach einer Viertelstunde hatte der kleine Krosta die Geheimtür entdeckt. Aber auch die Nebenwohnung war leer. Krosta sah, daß die Flurtür hier nur ins Schloß gedrückt war, eilte die Treppen hinab auf die Straße, wo noch drei Kriminalbeamte postiert waren. Sie hatten aus Nr. 9 vorhin eine alte, grauhaarige Dame mit einer Markttasche heraustreten sehen – weiter nichts! – Kein Wunder, daß Krosta Wut schnaubte. Schniegel-Otto war wieder mal entwischt! –

Inzwischen hatte Bruck dem Kommissar mitgeteilt, wie und wo er Otto Bröse sich als Gehilfen gedungen hatte.

Dann erschien Krosta wieder. „Bröse ist über alle Berge,“ sagte er. „Ich denke, Herr Doktor, wir fahren jetzt zu Fräulein Kresten hinaus. Sie ist ja vernehmungsfähig.“

 

12. Kapitel.

Unterwegs im Auto erwähnte Bruck, daß ihm der Safeschlüssel abgenommen worden sei. – Feldt und Krosta tauschten nur einen langen Blick aus. Der gestohlene oder besser der geraubte Schlüssel paßte ganz in ihre Theorie dieses Doppelfalles hinein. –

Ulla Kresten hatte sich verhältnismäßig rasch erholt. Als Miß Steep ihr die drei Herren meldete, rief sie ganz froh: „Auch Bruck ist dabei? – Oh, das kann nur etwas Gutes bedeuten!“

Miß Steep brachte das Schlafzimmer noch schnell etwas in Ordnung. Dann führte sie die Herren hinein.

Ulla blickte Bruck strahlend entgegen, sagte sofort:

„Nicht wahr, Ihre Schuldlosigkeit hat sich irgendwie herausgestellt?“

Bruck drückte ihr die Hand. „Ja, Fräulein Kresten. Und jetzt soll auch der Rest der Geheimnisse geklärt werden, wie Herr Krosta vorhin im Auto versicherte.“

Dann nahmen die drei neben dem Bett Platz.

Feldt winkte Krosta zu. „Beginnen Sie, lieber Krosta. Ehre, wem Ehre gebührt! Sie haben hier die Hauptarbeit geleistet.“

Krosta faßte in die Tasche und holte eine zerknitterte Zeitung hervor. – „Diese Zeitung stammt aus meiner Raritätensammlung. Es ist eine Berliner Zeitung vom November 1912. Sie enthält im Annoncenteil einen Erbenaufruf und darunter Stellen aus dem Testament des Erblassers, des am 15. September 1912 in Los Angeles verstorbenen Haziendabesitzers Emil Alfred Friedrich Fändler. Ich habe diese Zeitung aus meiner Wohnung geholt, nachdem mir klar geworden, daß die Geschehnisse dieser Nacht mit der Fändlerschen Millionenerbschaft in Zusammenhang stehen mußten. In den Prozeßakten Bruck und den Akten Salbing-Kresten waren nämlich als Leumundzeugen je eine entfernte Verwandte Brucks und Fräulein Krestens namhaft gemacht worden, und diese beiden alten Damen hießen Fändler. So kam ich dahinter, daß Ulla Kresten und Thomas Bruck verwandt sein müßten, wenn auch sehr weitläufig, und daß das Fändlersche Testament beide etwa angehen könnte. – Nach dieser Einleitung möchte ich Sie, Fräulein Kresten, fragen, ob Sie nicht Ihren verschwundenen Bräutigam Jones Brooc mit der Erledigung Ihrer Erbschaftssache, von der uns Doktor Bruck schon vorhin auf der Herfahrt Mitteilung gemacht hat, beauftragt hatten?“

„Ja,“ nickte Ulla Kresten mit bitterem Lächeln. „Er hatte eine Vollmacht von mir. Er fuhr nach Los Angeles. Ich vertraute ihm blindlings. Erst nach seinem Verschwinden wurde ich argwöhnisch. – Diesen Argwohn habe ich Ihnen gegenüber verheimlicht, Herr Rechtsanwalt,“ wandte sie sich an Bruck. „Ich schämte mich, weil Brooc mich doch so schändlich getäuscht hat. Erst nach meiner Verwundung durch Moschler –“

„Verzeihung,“ warf Krosta ein, „Moschler und Brooc sind ein und dieselbe Person.“

„Auch das habe ich vermutet,“ erklärte Ulla Kresten leise. „Also – erst nach meiner Verwundung, Herr Rechtsanwalt, wollte ich Ihnen anvertrauen, daß Brooc mich getäuscht hatte. Ich konnte das Wort „getäuscht“ jedoch nicht mehr vollenden. – Jedenfalls fuhr ich dann damals nach Los Angeles und stellte fest, daß mein Erbteil nicht 120 000, sondern 250 000 Dollar betragen hatte. Brooc hatte mich um das Geld also betrogen.“

„Ja – und er hat sich nur deshalb mit Ihnen verlobt, um auf diese Weise Sie ausplündern zu können, Fräulein Kresten,“ sagte der kleine Alex lebhaft. „Zuerst hatte er es auf Ihre Familienpapiere abgesehen. Er wollte eben in Amerika seine Frau als Ulla Kresten ausgeben können. Seine Frau aber ist jene Emma Müller, die sich vorher schon an Herrn Bruck herangemacht hatte – zu demselben Zweck! Auch Herr Bruck sollte um die Erbschaft betrogen werden. Deshalb wollte seine Frau auch die Familienpapiere durchaus an sich bringen, damit eben Jones Brooc sich als Erbe genügend legitimieren könnte. Dieser Plan mißglückte, und aus Rache wurden Sie, Herr Rechtsanwalt, von dem Pärchen ins Zuchthaus gebracht. Dann kam der Krieg. Jeder Verkehr mit Amerika ruhte. Aber Brooc und Frau hatten ihre Absichten auf die Erbschaft nicht aufgegeben. Sie wußten, daß die Bruckschen Familienpapiere im Safe der Deutschen Bank ruhten. Sie warteten, bis der, der den Safeschlüssel besaß, freikam. Und Brooc hat Sie, Herr Rechtsanwalt, dann nicht aus den Augen verloren, sah Sie diese Villa betreten, suchte dann Fräulein Kresten zu töten, weil er fürchtete, Sie könnten durch Fräulein Kresten auf die Erbschaft aufmerksam werden. Dann raubte man Ihnen den Schlüssel. Und nun wird das Pärchen versuchen, die Familienpapiere der Brucks sich anzueignen. Ihre Unterschrift hat Brooc schon genügend in der Sickingenstraße geübt.“

Alex Krosta holte jetzt die Photographie hervor, die aus Frau Glucks Album stammte. „Sie haben bisher kein Bild dieses Mannes „mit den tausend Namen“ gesehen, Herr Rechtsanwalt. – Bitte! Aber – erschrecken Sie nicht allzusehr!“

Bruck warf nur einen Blick auf die Photographie.

„Mein Bruder! Mein Bruder Hans!“ stammelte er. „Der Verschollene – der Taugenichts, der –“ – Er konnte nicht weitersprechen, stand schnell auf und trat ans Fenster, um sein verstörtes Gesicht zu verbergen.

„Die Ähnlichkeit der Namen Bruck und Brooc ließ mich die Wahrheit ahnen,“ erklärte Krosta leise. „Und die Bestimmungen des Fändlerschen Millionentestaments bestätigen dies auch, denn nach dem Testament sollten zwar selbst die allerentferntesten Verwandten erben, aber niemand der vorbestraft ist, der im Gefängnis gesessen hat! Und Ihr Bruder Hans ist 1911 in Neuyork zu neun Monaten Gefängnis verurteilt worden. Dies war ein Grund mehr für ihn, in Gemeinschaft mit seinem verbrecherischen Weibe Sie um die Erbschaft zu betrügen.“

Bruck drehte sich um. „Das verstehe ich nicht ganz. Gesetzt den Fall, Hans wollte mit Hilfe der Familienpapiere unter meinem Namen Erbansprüche geltend machen, dann hätte er doch aber, weil ich ebenfalls vorbestraft war, abgewiesen werden müssen.“

Krosta schüttelte den Kopf. „Die ganze satanische Schlauheit dieses Paares durchschauen Sie noch immer nicht, Herr Rechtsanwalt. Sobald Ihr Bruder die Familienpapiere in Besitz gehabt hätte, wäre eben Ihre „tote“ Frau wieder aufgetaucht und hätte Sie rehabilitiert, – natürlich, um dann bald wieder zu verschwinden und sich mit ihrem wahren Gatten zu vereinen. – Sie brauchen hieran nicht zu zweifeln, Herr Rechtsanwalt! Wenn Sie bedenken, was diese beiden Menschen alles an Heimtücke, Gemeinheit und Verworfenheit geleistet haben, müssen Sie mir recht geben. – Daß der Schatten auf der Glastür, den Sie zweimal sahen, klein und bucklig war, besagt ja bei der Verkleidungskunst Ihres Bruders gar nichts. – Schließlich noch der Diademdiebstahl bei der Baronin Salbing, bei dem Ihr Bruder auch nur deshalb den Verdacht auf Fräulein Kresten lenkte, weil er als „Detektiv Brooc“ sie leichter durch scheinbare Menschenfreundlichkeit zu gewinnen hoffte und gleichzeitig noch Brillanten im Werte von einer halben Million –“

Bruck machte eine unwillige Handbewegung. „Ich habe keinen Bruder mehr!“ meinte er hart. „Wir waten hier in einem Sumpf von Gemeinheit! Ich will nichts – nichts mehr wissen von alledem!“

Ulla Kresten streckte ihm die Hand hin.

„Der Sumpf liegt ja schon hinter uns. Sie sind frei, und ich – ich bin ebenfalls am Ziel! Ich habe Brooc ja nie richtig geliebt. Ich lernte ihn verachten. Und nun wird er büßen, was er uns angetan, uns, den Fändlerschen Erben!“ – Ihre Stimme klang so warm und herzlich, und ihr blasses Gesicht erschien mit einem Male wieder so jung und lebensfroh, denn in ihren Augen lag das stille Leuchten einer neu erwachten Liebe.

– – – – – – – –

An demselben Tage noch wurden Hans Bruck und seine Frau verhaftet, als ersterer bei der Deutschen Bank die Familienpapiere mit Hilfe eines gefälschten Ausweises und des Safeschlüssels an sich zu bringen suchte. –

Ein halbes Jahr später feierten Thomas Bruck und Ulla Kresten Hochzeit. Unter den Glückwunschdepeschen befanden sich auch zwei, die der junge Ehemann mit dankbarer Rührung las. Sie kamen von Franz Pinzke und Schniegel-Otto aus einer süddeutschen Großstadt.

 

 

Anmerkung:

  1. In Abweichung davon wird auf dem Einband Walther Kabels Pseudonym W. v. Neuhof als Autor benannt.