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Fünf Finger am Fenster

 

 

Walther Kabel

 

Fünf Finger am Fenster …[1]

 

Kriminal-Roman

 

Verlag moderner Lektüre G. m. b. H.
Berlin 26, Elisabeth-Ufer 44

 

Nachdruck verboten. – Alle Rechte, einschl. das Verfilmungsrecht, vorbehalten. Copyright 1925 by Verlag moderner Lektüre G. m. b. H., Berlin.
Druck: P. Lehmann G. m. b. H., Berlin.

 

1. Kapitel.

Hinter dem Müllkasten.

Der Hauswart Bimke, Gerolsteiner Straße 8, Berlin W, hockte auf einem Küchenschemel hinter dem großen eisernen Müllkasten im zweiten Hofe der Mietskaserne und rauchte kalt …

Rauchen mußte er. Ohne sein Holzpiepchen sah man ihn niemals.

Da er heute nacht unter diesen besonderen Umständen nicht wagte, die Pfeife anzuzünden, hatte er sie wenigstens zwischen den wenigen Zähnen, die ihm die Jahre noch gelassen hatten.

Friedrich Wilhelm Bimke befand sich sozusagen auf dem Anstand. Als Waffe hatte er einen Kavalleriesäbel mitgenommen, der ihm nun über den feisten Schenkeln lag. Das Wild, auf das er lauerte, war ein fremder Kerl, den er gestern und vorgestern abend schon beobachtet hatte. Der Mensch kam mit affenartiger Geschicklichkeit über die Mauer geklettert, die den zweiten Hof von dem Laubengelände trennte, und hatte beide Male in das eine Fenster der leerstehenden Erdgeschoßwohnung im linken Seitenflügel hineingeschaut. Dann war er auf demselben Wege wieder verschwunden. Also alles in allem eine scheinbar harmlose Sache, die jedoch trotzdem Bimkes Argwohn erregt hatte, so daß er heute nun den Fremden, der im übrigen recht abgerissen aussah, stellen, und fragen wollte, was er hier zu suchen hätte. Das war eines Hauswartes gutes Recht und heilige Pflicht.

Bimke hatte hier von seinem Versteck aus die Mauer sowie die Fenster gerade vor Augen. Die Aprilnacht war leidlich warm und nicht zu dunkel. Im Hause herrschte Stille – vorläufig. Die hier zumeist wohnenden Künstler kamen erst später heim. Jetzt war es kurz vor Mitternacht.

Der dicke Hauswart hatte oben auf dem Deckel des Müllkastens eine Unmenge Papier und zerrissene Pappkartons aufgehäuft, damit sie auch seinen Kopf verdeckten. In diesem Papierwall befand sich jedoch eine Lücke, und Bimke konnte so alles überblicken, ohne sich erheben zu müssen.

Seine Laune war jetzt bereits bedenklich schlecht geworden. Vorgestern und gestern hatte der fremde Kerl sich bereits vor halb zwölf gezeigt. Ob er heute etwa ausblieb?! – Das wäre eine Mordsschweinerei, denn dann würde Frau Bimke ihren Herrn Gemahl weidlich auslachen, weil er so zwecklos ein paar Stunden Schlaf geopfert hatte.

Bimke nahm sich vor, noch bis ein Viertel eins zu warten. Erschien bis dahin niemand, so würde er die Sache für diese Nacht aufgeben, denn Friedrich Bimke war Kriminalschutzmann a. D. und hartnäckig! Also nur für heute …! Morgen würde er den Fremden dann bestimmt abfassen.

Nun – kaum hatte er sich dies zurechtgelegt, als er zusammenzuckte … Sein Bauch wackelte … Seine Augen traten aus den Höhlen hervor …

Da war der Kerl …!

Hoppla[2] – mit einem Satz war er von der Mauer herunter, glitt nach links zu demselben Fenster der leeren Erdgeschoßwohnung und schaute hinein …

Bimke, Riesenfilzschuhe an den Füßen, schlich lautlos aus seinem Versteck hervor …

Gerade als der Kerl wieder verduften wollte, kriegte Bimke ihn am rechten Ärmel zu packen …

„Halt, Männeken …!!“

Der Fremde hatte offenbar gute Nerven, drehte sich langsam um, musterte Bimke, musterte den drohend geschwungenen Kavalleriesäbel und grinste …

Sein junges verlebtes Gesicht mit dem ungepflegten blonden Schnurrbart war auffallend bleich …

Kellnerkouleur nannte Bimke diesen Teint …

Grinste also …

Sagte frech: „Wat wollen Sie, Dicker?! Lassen Se man Ihre Plempe sinken … Ick bin keen Jauner …“

Bimke war starr …

Er, Friedrich Wilhelm Bimke, allmächtiger Portier von Gerolsteiner Straße 8, Vertrauter des Hauswirts, mehr Verwalter als Portier, er wurde hier von diesem Lumpaci Vagabundus Dicker tituliert?! Unerhört war das!

Bevor er noch die Schale seines berechtigten Zornes über diesen Frechling entleeren konnte, erklärte der schon weiter:

„Ick mechte nemlichst heiraten, Dicker … Und mir fehlt ’ne Wohnung. Nun hatt’ ick zufällig gehört, daß hier die Zweezimmeretage leer stehn tut … Und da will ick man bloß nachschaun, for wie lange det mit das Leerstehn so bleibt, vastehn Sie …!“

Bimkes Zorn verrauchte …

Bei dem übergroßen Wohnungsmangel war es begreiflich, daß ein Heiratslustiger selbst auf diese Art sein Interesse für verfügbare Wohnungen bekundete.

„Ach so!“ sagte Bimke und ließ den Arm des Blassen los. „Ach so – verlobt sind Sie und ’ne Wohnung suchen Sie! Na – hier ist nichts zu wollen, lieber Freund. Ich als Hauswart muß das wissen … In den Fußböden dort ist die Trockenfäule … Der Hausbesitzer muß erst die Fußböden und die Balken erneuern lassen, und dazu fehlt ihm das Geld. Außerdem … hm ja … außerdem gehört die Wohnung auch zu dem Tabakladen im Vorderhaus. Der Zigarrenhändler Friese würde die Wohnung nie hergeben. – Ne – Sie sehen: da ist nichts zu machen …!“

Und schleunigst rieb er ein Zündholz an, indem er den Säbel unter den linken Arm klemmte, und setzte die geliebte Pfeife in Brand.

Der Blasse grinste wieder …

„Wo hatten Se sich eejentlich versteckt, Herr Hauswart …?! Hinter’m Müllkasten, watt …?! Na – tut mir leid, daß ick Ihnen so umsonst bemieht habe … – Sie meenen also, der Tabakfritze würd’ die Bude nich an ’n andern vamieten?“

„Nein … bestimmt nicht … – Ich heiße Bimke – Friedrich Wilhelm Bimke … Und Sie?“

„Herbert Graf Brachlitz …“

Jetzt grinste Bimke …

„Mann, Sie sind ’n Witzbold!!“

„Nu – Scherz muß sind … Ick will Ihnen nich länger belästjen, Herr Bimke … Jute Nacht …“

Er zog den schäbigen Filz und machte eine Art Kratzfuß, eilte zur Mauer, benutzte eine hier stehende leere Kiste als Leitersprosse und war im Moment über die Mauer hinweg.

„Komisch!“ brummte Bimke … „Der Kerl hatte so etwas an sich, das … das mit seinem Benehmen im Widerspruch steht … Unsereiner hat doch trotz der fünfundsechzig Jahre noch Polizeiaugen im Kopf – von früher her …“

Nachdenklich blickte er auf das Fenster, durch das der Kerl in die leere Wohnung hatte hineinspähen wollen …

Dann dachte er:

„Ich glaube, Bimke, der Lump hat Dich beschwindelt …! Die Geschichte mit der Wohnungssuche ist Bluff …! Du hast Dich durch die Frechheit dieses Menschen überrumpeln lassen …“

Noch immer musterte er das Fenster …

„Anderseits,“ murmelte er, eifrig dabei qualmend, „anderseits: der Kerl hat nun an drei Abenden genau dasselbe getan: immer nur durch die Scheiben hineingeglotzt! Also …“

Und dieses Also bedeutete den Schlußstrich unter Bimkes geistige Anstrengungen, dem Tun des Fremden eine besondere Erklärung zu geben.

Er ging zum Müllkasten hinüber und hob den Küchenschemel empor, um nach vorn in seine Portierwohnung zurückzukehren.

Als er sich jetzt umwandte, sah er aus der offenen Hintertür des ersten Hofgebäudes einen Mann heraustreten, der sich vorsichtig umschaute …

Es war Herr Edgar Friese, der Zigarrenhändler.

Bimke duckte sich …

Frieses scheues Benehmen fiel ihm auf. – Was er dann beobachtete, war so merkwürdig, daß er vor Staunen beinahe den Mund geöffnet und die Pfeife verloren hätte.

Der junge Ladeninhaber aus dem Vorderhause schlich nämlich an dasselbe Fenster der leeren Wohnung heran …

In seiner Hand blitzte eine Taschenlampe auf …

Dann – – nahm er sein Taschentuch und rieb die eine Fensterscheibe anscheinend blank, machte kehrt und verschwand.

Bimke stand wie ein Ölgötze da …

Was bedeutete das nun wieder?! War denn hier in Nummer 8 mit einem Male der Teufel los?!

Und Bimke stellte den Küchenschemel wieder hin, watschelte zu jenem Fenster, rieb ein Zündholz an und tat dasselbe, was Herr Edgar getan: er beleuchtete die linke Fensterscheibe …

Hm, – Staub, – in dem Staub eine saubere Stelle …

Und auf dem blanken Glas fünf kaum mehr sichtbare runde kleine Flecken …!

Plötzlich dann in Bimkes nicht allzu regem Hirn ein schärferes Erinnern: Der blasse Kerl hatte sich ja, als er in die Wohnung hineinlugte, mit der linken Hand scheinbar auf die Scheibe gestützt gehabt …! Ja – ganz genau erinnerte Bimke sich jetzt: mit der linken Hand scheinbar aufgestützt!

Scheinbar – scheinbar …!

Vielleicht hatte er aber auch mit dem Handballen den Staub entfernt und dann auf die saubere Stelle die fünf Fingerspitzen gedrückt, denn … diese runden Flecken waren Fingerabdrücke, sogar von Fingern, die lila gefärbt waren! Die kaum sichtbaren Flecken schimmerten noch jetzt lila!! –

Friedrich Bimke betrat seine Portierwohnung. Seine nicht minder rundliche Frau lag längst im Bett, war aber noch wach …

„Na, Mann, wie war’s,“ fragte sie aus den Kissendünen heraus …

„Ja, Mutter, das … das war sehr … sehr sonderbar …“

Er setzte sich zu ihr auf den Bettrand und erzählte.

„Daß du aber zu keinem Menschen darüber sprichst, Mutter …!“ ermahnte er sie nachher. „Du weißt, daß ich dem Friese nie so recht getraut habe … Und abends ist er nie zu Hause … Nie kommt er vor Uhre zwei heim – genau wie die Künstlerbande im zweiten Hof … – die Maler und Bildhauer und die verdrehten Weiber … Eine nette Bande …!“

Frau Bimke setzte sich aufrecht. Sie trug eine rotgeblümte Flanelljacke, eine Nachthaube und in den Ohren große Wattebausche, die noch ein Stück hervorragten … Sie sah unglaublich komisch aus.

„Herr Gott, Mann …,“ flüsterte sie … „Wenn das nur nicht Verbrecher sind, der Friese und der andere! Du meinst also, die beiden haben sich verabredet, und die Fingerabdrücke bedeuten was?!“

„Natürlich bedeuten sie was, und zwar so was wie ’ne Nachricht für den Friese! – Mutter, ich war doch zwanzig Jahre bei der Kriminalpolizei, und …“

„… und sie haben Dich pensioniert, weil Du nicht recht paßtest für den Beruf …! – Fritz, Fritz, verlaß Dich bloß nich auf Deinen Verstand …! Melde die Sache … Du hast doch noch Bekannte bei der Kriminalpolizei, die Dir gern …“

„… Hör’ auf, Mutter … Du beleidigst mich! Diese Sache werde ich aufklären, ich ganz allein …! Und Du hältst den Mund, Mutter …! Redest Du auch nur einen Ton darüber, etwa zu Fräulein von Birth, der Du ja alles brühwarm erzählst, so kriegst Du zum Geburtstag auch nicht für ’n Groschen was geschenkt … – So, nun leg’ ich mich ebenfalls schlafen …!“

 

2. Kapitel.

John Holliwood.

Der Mann, der sich Herbert Graf Brachlitz genannt hatte, war nach der Aussprache mit Bimke durch den Hauptweg des Laubengeländes geeilt, hatte so die Kufsteiner Straße erreicht und betrat hier das Haus Nr. 25, nachdem er einige kleine Veränderungen an seinem Anzug vorgenommen, die ihn nun weniger strolchmäßig erscheinen ließen.

Er stieg im Vorderhause die beläuferte Treppe empor, ohne das Nachtlicht einzuschalten, und schloß im ersten Stock rechts die Flurtür auf. Über dem Glockengriff dieser Tür war ein Messingschild befestigt:

v. Brach.

Vergnügt pfeifend schritt er den Flur entlang, nachdem er die Ampel angeknipst hatte, und stand nun in einem gedämpft erleuchteten Damensalon …

Auf einem fellbedeckten Diwan lag in einem kostbaren seidenen Schlafrock ein junges blondes Weib …

Das Buch, in dem sie gelesen hatte, war ihr entfallen …

Sie war über der Lektüre eingeschlummert.

Der Blasse horchte eine Weile auf ihre gleichmäßigen Atemzüge und schlich dann auf Fußspitzen in das Nebenzimmer, schloß die Tür ganz leise hinter sich, um die Schläferin nicht zu wecken, und entfernte hier in diesem mit gediegenem Geschmack ausgestatteten Herrenzimmer den falschen Schnurrbart …

Zehn Minuten darauf stand er wiederum vor dem Diwan …

Das blonde Weib schlief noch immer …

Vorsorglich und ganz sacht breitete der Mann, der nun einen dunklen Jackenanzug von modernem Schnitt trug, eine Decke über die Schläferin, zog im Flur einen Ulster über und verließ die Wohnung.

Es war jetzt genau drei Viertel eins.

Auf der Treppe begegnete ihm ein Ehepaar. Er grüßte die Mitbewohner, und der Herr sagte etwas gönnerhaft:

„’n Abend, Herr Graf …“ – Es war der Hausbesitzer.

Graf Herbert v. Brach schlenderte die Kufsteiner Straße bis zur Berliner hinab und bog dann rechts nach dem Bayerischen Platz ein.

An der Haltestelle der Straßenbahn wurde er von einer Dame angerufen …

„Herbert …!! – Gut, daß ich Dich treffe … Das erspart mir einen Brief …“

Brach drückte seiner entfernten Verwandten kräftig die Hand …

„Guten Abend, Lexa … Wir haben uns eine Ewigkeit nicht gesehen … Was macht die Kunst?“ – Er war ein wenig verlegen, konnte sich aber gut beherrschen.

Alexandra v. Birth erwiderte ebenso kühl, wie sie ihn begrüßt hatte:

„Die Kunst hungert weiter. Ich bin im übrigen gerade auf dem Wege zu Tante Thildens Wohnung. Das ist’s, was ich Dir mitteilen muß, Herbert: Tante Thilde ist heute abend elf Uhr verstorben.“

Sie standen etwas abseits von den übrigen hier an der Haltestelle Wartenden. Lexa fügte vielleicht noch kälter hinzu:

„Du hast Dich ja seit Monaten um niemanden von der Familie mehr gekümmert, Herbert … Verzeih, wenn ich Dir rate, nicht zu Tantes Beerdigung zu kommen. Man ist sehr gegen Dich eingenommen …“

„Weshalb?!“

Lexa schaute zur Seite …

„Dort kommt meine Bahn … Gute Nacht, Herbert …“

Und ohne ihm die Hand gereicht zu haben eilte sie hinweg …

„Spießbürger!!“ dachte Brach achselzuckend. Aber ihm war doch seltsam bedrückt zu Mute, weil gerade Lexa es ihn so stark fühlen ließ, wie sehr die Familie sein Verhältnis mit Loo Looker verurteilte.

Er schlenderte weiter …

Unwillkürlich verglich er im Geiste diese beiden jungen Mädchen miteinander, Loo und Lexa …

Nein – sie waren nicht zu vergleichen … Das waren Geschöpfe aus zwei Welten, obwohl auch Lexa Künstlerin war …

Hm – Künstlerin?! War denn Loo Künstlerin?! Was war sie?! Filmstatistin gewesen … angeblich …

„Was weiß ich überhaupt von ihr?“ fragte sich Brach in diesen Minuten innerer Einkehr. „Eigentlich nichts … In München ist sie mir über den Weg gelaufen … Ich nahm sie mit nach Berlin … Das war Ende Januar … Nun wohnt sie bei mir – angeblich meine Haushälterin … Ein süßer, harmloser Fratz … Noch drei Monate, dann habe ich sie allerdings bestimmt satt … – Hm – – und Lexa?! Die beiden vergleichen – in einem Atem nennen?! Nein, das wäre eine Beleidigung für Lexa …“

Er ging rascher …

Fünf Minuten nach eins betrat er die Räume des Standard-Klubs, einer Vereinigung reicher Lebemänner jüngsten Datums … –

* * *

Kaum hatte Graf Brach das Haus verlassen, als Loo Looker sich vom Diwan erhob, auf den Balkon hinaustrat und den Davonschreitenden beobachtete, bis er ihren Blicken entschwand.

Sie telephonierte jetzt …

„Hallo … John?! – Alles in Ordnung … Beeile Dich … Das Auto kommt zwar vor drei nicht heim, aber … – also fix, John …“ –

Zehn Minuten später empfing sie an der Flurtür einen mittelgroßen, breitschultrigen Menschen mit ausgesprochen amerikanischem Gesicht …

Im Salon küßte sie ihn … wie eine Verschmachtete.

Aber John Holliwood hatte heute wenig Sinn für solche Szenen …

„Laß das, Betsie …,“ meinte er schroff in englischer Sprache. „Unsere Geschäfte verlangen all meine Kräfte … – Wie war’s heute?“

Das blonde Weib versuchte zu schmollen.

„Wie immer …!“ sagte sie und wandte ihm den Rücken …

„Was heißt das?! Hast Du ihn nicht gefragt? So rede doch …!“

„Nein, ich habe ihn nicht gefragt … Ich stellte mich schlafend, als er zurückkehrte. Seine Zärtlichkeiten sind mir widerwärtig …!“

Sie schrie den letzten Satz wie in wildem Haß. Und plötzlich warf sie sich auf den Diwan und verbarg den Kopf in einem der übergroßen Brokatkissen. Ein krampfartiges Schluchzen schüttelte ihren Körper …

John Holliwood hatte ein verächtliches Lächeln um die schmalen Lippen …

„Du bist eine verdammt schlechte Mitspielerin, Betsie …!“ sagte er grob. „Du bist ein klägliches Frauenzimmer wie alle anderen … Ich hatte mehr von Dir erwartet …“

Diese brutalen Worte prasselten wie Peitschenhiebe auf Betsie herab …

Aber die Wirkung war fein berechnet. John wußte mit Weibern umzugehen …

Totenblaß richtete das Mädchen sich wieder auf …

„John, sei gut …,“ wimmerte sie …

Ihr Puppengesicht hatte etwas von dem Ausdruck eines geprügelten Hundes …

„John, Du sollst lieb zu mir sein … John, Deinetwegen bin ich … Dirne geworden – noch Schlechteres … Ich bin Deine Geliebte und lebe hier mit einem Manne zusammen, der … der mir ekelhaft ist mit seinem vornehmen Getue, der …“

„Gut, gut, – Du weißt ja, weshalb das alles sein muß, Betsie … – Also – Du hast ihn nicht gefragt?“

„Nein … Ich hörte ja, wie er leise pfeifend den Flur entlangschritt … Mithin war nichts geschehen … Wäre er abgefaßt worden, der Narr, dann hätte er wohl kaum so vergnügt gepfiffen …“

„Allerdings …“

Betsie streckte flehend die Arme aus …

„John, Du … Du sollst nie mehr über mich zu klagen haben … Du …“

„Rege Dich nicht wieder auf,“ unterbrach er sie etwas freundlicher. „Die andere Sache wird jetzt ebenfalls spruchreif, Betsie … Die Alte ist tot …“

„Ah – nicht möglich …!“

„Na – bei einem Weibe von sechsundachtzig Jahren ist alles möglich … – Nun wird sich ja herausstellen, ob unsere Kalkulationen stimmen …“

Er zog einen Stuhl an den Diwan heran und setzte sich.

„Du wirst jetzt also doppelt herzlich zu ihm sein, Betsie, – verstanden?!“

„Ja …“

„Drei Monate Frist ist in dem Testament festgesetzt … Dann … bin ich der Erbe … Und die Erbschaft lohnt, Betsie … Wir können uns dann zur Ruhe setzen, wenn noch das Geschäft Nummer eins in Ordnung kommt …“

Sie griff nach seinen mächtigen Händen …

„Du heiratest mich, John …? Nicht wahr, Du hast es mir doch versprochen, John …“

„Natürlich, Betsie … Ich halte, was ich verspreche … – Vergiß also nicht: doppelt herzlich! Fessele ihn an Dich … Gib ihm keine freie Minute … Fahre mit ihm aus … Er darf auf keinen Fall mit der anderen häufiger zusammenkommen … Und aus demselben Grunde dürfen wir uns vorläufig nicht sehen, Betsie … Der Teufel könnte die Hand im Spiele haben und … – na, Du verstehst: Brach darf nichts von meiner Existenz ahnen …“

Betsie schluchzte leise …

„Nicht … sehen, John …?! Das … das halte ich nicht aus … Du …“

„… Du wirst vernünftig sein, Mädel …! Verdammt, wir haben doch später Zeit genug zu Schäferstündchen …! – Und noch etwas, Betsie … Brach wird also morgen, nein, heute abend zum vierten und letzten Male die Geschichte erledigen … Bitte ihn, daß er sich ja in acht nehmen soll … Und diesmal soll er den Kreis bilden, Betsie … Schärfe ihm das ein …“

„Ja – den Kreis …,“ nickte das blonde Weib. „Ich werde es nicht vergessen …“

John Holliwood stand auf …

Um Betsie gefügiger zu machen, nahm er sie in seine muskulösen Arme und küßte sie …

Ihre Lippen brannten … –

Als er zehn Minuten später dann die Wohnung des Grafen Brach verließ, war Loo Looker restlos glücklich.

Holliwood schloß unten die Haustür mit dem Nachschlüssel auf und ging die Kufsteiner Straße nach dem Laubengelände zu hinab.

Wiederholt schaute er sich um. Er war immer mißtrauisch. Er traute niemandem – nur sich selbst.

Dann bog er in die Gerolsteiner Straße ein, nachdem er sich überzeugt hatte, daß niemand hinter ihm her war.

Er schlug den Kragen seines Ulsters hoch und drückte den Hut tiefer ins Gesicht.

Dem Haus Nummer 8 gegenüber blieb er stehen.

Das Haus hatte drei Läden, zwei größere, Drogerie und Papierwaren, und ein Zigarrengeschäft mit schmalem Schaufenster …

Holliwood murmelte einen Fluch vor sich hin …

„Wenn der Schuft nicht will, – – es gibt auch andere Mittel!“

Dann ging er weiter.

Ein Mietauto trug ihn nach der stillen vornehmen Rankestraße, wo im ersten Stock eines breiten Gebäudes der Standard-Klub seine Räume hatte.

 

3. Kapitel.

Der andere Brach.

Graf Brach saß im Spielzimmer in einer Ecke am kleinen Schachtisch und schaute grübelnd die Figuren an …

Sein Gegner, Professor Grabert, der berühmte Pianist, sagte zum dritten Male:

„Brach, Sie sind heute nicht bei der Sache … – Was haben Sie?!“

Brach hob den Kopf. Sein zerstreuter Blick glitt über die anderen Spieltische hin. Hazard wurde hier nur in Form von Kartenspielen geduldet. Roulette war verboten …

„Machen wir Schluß,“ meinte er. „Man kann sich nicht geistig sammeln, wenn einem Dinge durch den Kopf gehen, die …“

Er beendete den Satz nur durch eine müde Handbewegung.

Grabert strich die berühmte Stirnlocke zurück …

„… die mit Weibern zusammenhängen,“ ergänzte er seinerseits. „Im übrigen: Ihr Geschmack ist nicht schlecht, lieber Graf. Die blonde Maid, mit der man Sie jetzt allerorten sieht, scheint ein rassiges Weib zu sein … Das längliche Gesicht deutet auf Engländerin hin …“

„Eine Schottin, Professor … Und genau so abergläubisch wie all diese Hochländer. – Also – man spricht wohl schon über die Blonde in unseren Kreisen?“

„Und ob …! Man will wissen, daß Sie die Schönheit in Davos erobert haben …“

„Irrtum … In München … Zufallsbekanntschaft … – Sie verkehren doch auch viel in Familien, Professor … Werde ich auch dort Loos’ wegen durchgehechelt?!“

„Loo … Also Loo … – Ob Sie durchgehechelt werden?! Natürlich!! Und wie …!! Gerade weil Sie doch bisher der sogenannten guten Gesellschaft so wenig Anlaß …“

Er schwieg …

Holliwood war an ihren Tisch getreten, grüßte und sagte in seinem mäßigen Deutsch:

„Sind die Herren fertig? – Wie wär’s dann mit einer Partie Dreiblatt …?“

„Bedaure,“ meinte Brach. „Ich gehe heim … Bin müde …“

Sein frisches bartloses Sportgesicht, in dem das mit größter Lässigkeit getragener Monokel durchaus nicht geckenhaft wirkte, sah in der Tat abgespannt aus.

Auch Grabert erklärte, er wolle aufbrechen … Er müsse abends aufs Podium … „Man braucht Geld, Herr Holliwood … Man muß verdienen … Sie verdienen mehr zum Vergnügen …“

Holliwood erwiderte ernst:

„Das Geldverdienen ist nie ein Vergnügen … Ich bin nicht reich.“

Der Professor lachte. „Na – drüben im Dollarlande mißt man die Vermögen mit anderem Maßstab … – Gute Nacht, Herr Holliwood …“

Die Herren verbeugten sich, und Brach und Grabert verließen den Klub.

In der Rankestraße sagte Brach unvermittelt:

„Ich weiß nicht … – Ich muß diesen Holliwood schon irgendwo gesehen haben.“

„Gefällt er Ihnen nicht?“

„Nein, Professor, er mißfällt mir gründlich … Er drängt sich stets an mich heran … Wenn nicht Doktor Martin ihn eingeführt hätte, würde ich ihn für einen Abenteurer halten …“

Grabert nickte …

„Ja, weiß Gott: so denke auch ich! Und doch ist gegen Holliwood nichts einzuwenden. Er ist Ingenieur, ist Vertreter einer amerikanischen Riesenfirma und ein Mensch von leidlich guten Manieren …“

„Ja – leidlich …“ Und nach kurzer Pause: „Ich bleibe dabei: ich habe den Menschen schon einmal irgendwo gesehen – kürzlich, nicht hier in Berlin … Auch die Stimme kommt mir bekannt vor … – Na, – lassen wir den Yankee! – – Gute Nacht, Grabert. Hier trennen sich unsere Wege …“

Herbert Brach wanderte weiter zu Fuß heim. Sehr in Gedanken versunken, sehr unzufrieden mit sich und aller Welt.

Die Begegnung mit Lexa kam ihm nicht aus dem Sinn …

Tante Mathilde von Brach, von der anderen freiherrlichen Linie der Brachs, war nun also wirklich in eine bessere Welt hinübergeschlummert …

Und – – dem Begräbnis sollte er fernbleiben, hatte Lexa geraten. Gerade er, einst Tante Thildens Liebling …

Einst …

Das heißt: bis vor einem Jahr! Damals hatte er im Familienkreise leider Gottes ein politisches Gespräch angeschnitten …

Wie die Geier waren sie über ihn hergefallen – alle … alle …

Heiße Köpfe bekam man … Und damals hatten Graf Brachs Nerven gegenüber dieser allgemeinen Empörung versagt … Er hatte sich sonst gut in der Gewalt …

So war der erste Riß zwischen ihm und der Familie entstanden …

Der zweite durch Loo …

Und – im Grunde waren weder die Politik noch Loo es wert, daß man sich ihretwegen als Außenseiter behandeln lassen mußte …

Auch von Lexa …!

Und – – Brach seufzte …

Ein Mädchen strich an ihm vorüber, flüsterte etwas, machte kehrt und ging neben ihm …

Freche, lasterhafte Augen … Und doch um den Mund ein anderer Zug … Und – – so jämmerlich elend, armselig, ein geschminkter Totenkopf. Heiser die Stimme, röchelnd das hastige Atmen …

Brach sagte mitleidig:

„Kind, hier haben Sie zehn Mark … Gehen Sie schlafen … Sie sind krank.“

Die Dirne weinte plötzlich …

Und weinend lief sie mit dem Zehnmarkschein in eine Seitenstraße hinein …

„Das Leben!!“ dachte Brach. „Dieses Weib hungert wahrscheinlich … Wer nimmt ein solches Geschöpf?! Ich hätte ihr zwanzig Mark geben sollen … Loo würde mich auslachen …“

Er hatte den Bayerischen Platz erreicht … Schaute die Häuserreihen entlang …

Reichtum wohnte hier …

Die schwindsüchtige Dirne hungerte. Wie lange noch, dann würde man sie in ein Krankenhaus bringen, vielleicht in eine Heilstätte … Und wenn sie wirklich gesünder entlassen werden sollte, würde sie das alte Gewerbe wieder beginnen. Für geordnete Arbeit waren diese Geschöpfe verloren …

„Widerliche Welt!“ dachte Herbert Brach …

Und weiter: „Loo wird einmal genau so werden … Es ist der Lauf der Dinge … Wenn Du sie wegschickst, wird sie wahllos zugreifen: der nächste! – Dann ein paar Jahre: die Straße letzte Rettung! – – Wenn du sie nie aus München mitgebracht hättest!“

So dachte Brach noch immer, als er schon oben in seinem Wohnungsflur leise den Mantel ablegte …

Und noch leiser schlich er in sein Schlafzimmer, nachdem er im Salon nachgesehen, ob der Diwan leer …

Als die gelbweiße Steinschale über seinem Bett aufleuchtete, als das milde Licht Loos in den Kissen ruhenden Kopf beleuchtete, da krauste Brach die Stirn …

Er … kehrte um – Loo war nicht erwacht. Schaltete das Licht aus …

Auf dem Diwan machte er sich ein Lager zurecht.

Im Dunkeln lag er … Der Diwan duftete nach Loo … Brach empfand das Parfüm wie eine unauslöschliche Mahnung an die größte Torheit seines Lebens: daß er Loo zu sich genommen, daß die Familie ihn jetzt … schnitt, daß Lexa ihn so eisig behandelte …!

Er war so unzufrieden mit sich selbst wie noch nie in seinem Leben.

Schließlich schlief er ein …

Erwachte gegen neun … Loo saß auf dem Diwanrand, nur in dem hauchdünnen zartlila Seidenhemd …

Sie war rosig und frisch … Sie war zärtlich, sie spielte Komödie …

Und war so froh, als Brach gähnend erklärte, er habe scheußliche Kopfschmerzen … –

Loo schlüpfte in ihr Zimmer …

Brach saß aufrecht und war entschlossen, Loo … abzulohnen, überlegte, wie er das am besten einleiten könnte.

Er war nicht reich. Er besaß ein Gut in Mecklenburg, das er verpachtet hatte. Da er ein guter Rechner war, hatte er bisher nie Schulden gemacht. Jetzt hatte er Schulden: durch Loo! Und doch wollte er nochmals dreitausend Mark aufnehmen. Diese dreitausend sollte Loo erhalten. Und dann … machte er einen dicken Strich unter diese Riesendummheit! …

Ganz vergnügt wurde er jetzt … Als er sich in seinem Schlafzimmer rasierte, pfiff er einen Marsch und schnitt sich zweimal ins Kinn …

Loo kam, jetzt im schlichten Hauskleid, … knixte:

„Herr Graf, das Frühstück steht bereit …“

Dann wollte sie ihm einen Kuß geben …

„Bitte – ich blute, Loo …!“

Die Blutströpfchen am Kinn scheuchten Loo drei Schritt zurück … –

Friedlich saßen sie dann in Speisezimmer, aßen, plauderten. Um zehn Uhr kam die Morgenpost … Ein Brief für Brach …

Aha – Onkel Richards Handschrift! Seltsame Ehre! Was wollte Exzellenz?!

Brach las die derbe Schrift:

Berlin-Wilmersdorf,

Gontardstr. 42.

5. April 1925.

Lieber Herbert!

Tante Mathilde hat ein Testament hinterlassen, das sich in zwei handschriftlichen gleichlautenden Exemplaren in Lexas bezw. meinem Besitz befindet. Da ich es ablehnen muß, mit Dir zusammenzutreffen, wird Lexa Dich von dem Inhalt der Urkunde in Kenntnis setzen. So, wie die letztwillige Verfügung abgefaßt ist, wird Tante Mathildens Vermögen nach dem Auslande wandern.

Gruß

Onkel Richard.

Dieser Brief ließ Herbert Brach, was Testament und Vermögen anging, durchaus kalt. Anders war’s mit den Sätzen, die über Lexa handelten. Wenn Brach sich selbst gegenüber ehrlich sein wollte: er freute sich! Auf diese Weise würde er Gelegenheit haben, mit Lexa, seiner Jugendgespielin und Schülerliebe, sich auszusprechen.

Loo saß ihm gegenüber und beobachtete ihn …

„Nun, was gibt’s denn?“ fragte sie, als er noch immer versonnen in den Brief starrte.

„Familienangelegenheiten,“ meinte er ablehnend … Faltete den Brief zusammen und schob ihn in die Tasche seiner Hausjacke.

Loo war zu schlau, ihn jetzt weiter auszuforschen. Außerdem: den Brief würde sie schon finden!

So sagte sie denn nur: „Ich denke, Du bist mit Deiner feudalen Familie ganz auseinander, Bert …?!“ Und sprang rasch auf ein neutrales Thema über …

„Bert, wir könnten heute eigentlich einen Ausflug unternehmen … Es ist so herrliches Wetter … Wollen wir nach Werder fahren – zur Baumblüte?“

Brach hob die Schultern. „Bedaure, Loo … Unmöglich …! Ich muß heute allerlei Geschäftliches erledigen. Der Gutspächter will allerlei wissen, dann muß ich auch zur Bank und schließlich ist eine Schwester meiner Mutter gestern verstorben. Der Trubel in Werder paßt nicht in meine Stimmung hinein …“

Loo merkte immer mehr, daß seit der verflossenen Nacht mit Herbert eine ziemlich jähe Wandlung vor sich gegangen war.

Sie sah ein, daß es ihr sehr schwer fallen würde, Johns Befehle auszuführen. Sie wollte nicht zu aufdringlich werden. Ein Mann, der so überaus feinfühlig war wie Bert Brach, mußte mit Vorsicht behandelt werden.

„Da hast Du allerdings ganz recht, Bert …,“ erklärte sie ernst und ein wenig theatralisch gemütvoll. „Ein Todesfall – das wußte ich nicht … Mein Beileid, Bert …“

„Ich danke Dir, Loo … Die Dame war vierundachtzig Jahre alt … Es war die älteste von vier Schwestern und lebte doch am längsten …“

Loo füllte ihm die Teetasse …

„Die Dame war reich … Du hast das einmal beiläufig erwähnt …“

„Ja … Sie war ein Finanzgenie. Schon vor dem Kriege legte sie ihr großes Vermögen in Holland an … Nun – das kümmert mich wenig. Ich erbe nichts. Tante Mathilde war außerordentlich sittenstreng. Mein Leben mißfiel ihr gründlich …“

„Also – – ich wohl?!“

„Ja … Auch Du, Loo … – – Du wirst also schon zusehen müssen, wie Du den Tag am besten hinbringst …“

„Ich werde meine Wäsche ausbessern, Bert …“

Brach lächelte unwillkürlich. Loo – – Wäsche ausbessern?!

„Abends hast Du doch aber hoffentlich Zeit, Bert … Du weißt: noch heute!“

Er machte eine unwillige Handbewegung …

„Albernheiten, Kind!“

„Bitte, Du hast es mir versprochen …“

„Nun ja … Obwohl ich gestern nacht mit dem Hauswart dort ein kleines Renkontre hatte …“

Loo fuhr hoch …

„Ja … Der Mann hat mir aufgelauert … Und deshalb weiß ich nun auch, daß die ganze Geschichte, abgesehen von dem – verzeih! – lächerlichen Aberglauben auch sonst zwecklos ist. Die Wohnung gehört zu dem Zigarrenladen im Vorderhaus, und …“

„Hat der Portier Dich denn nicht festgehalten, Bert?“ fragte sie hastig … Zuweilen fehlten ihrem Deutsch, das sie ganz fließend sprach, doch die treffenden Ausdrücke …

„Festgehalten?! Du meinst, ob er mich nicht der Polizei übergeben wollte … Nein, der Mann war dick und gutmütig … – Wenn ich aber heute wirklich nochmals diese … Torheit ausführen soll, die wie gesagt gänzlich ohne Zweck ist, so würde ich mich vielleicht ernsten Unannehmlichkeiten aussetzen …“

Loo war um den Tisch herumgekommen, legte Brach den einen Arm um die Schultern und schmiegte sich an ihn …

Sie heuchelte Zärtlichkeit, und ihr Herz zitterte in Angst, daß er auf seiner Weigerung beharren könnte.

„Bert, vielleicht habe ich doch noch Glück,“ schmeichelte sie … „Solche Portiers reden viel … Bert, noch dies eine Mal … bitte … bitte!“

Sie wollte ihn küssen …

„Närrchen …!“ wehrte er ab … Und nur um ihren Zärtlichkeiten zu entgehen, fügte er hinzu: „Nun gut …! So werde ich mir denn nochmals das Gesicht blaß pudern, mir nochmals den Bart vorkleben und zum … letzten Mal den Strolch spielen …! Bisher hat mir die Sache als harmloses Abenteuer Spaß gemacht … – bisher …!“

„Und Du wirst dann fünf Fingerspitzen möglichst im Kreise auf die Scheibe drücken, Bert … Denn so muß es sein … Also im Kreise – daß sie einen Kreis bilden …“

Er lachte. „Ich verstehe ja schon …! – Ihr Weiber seid doch alle abergläubisch …! Sogar meine Kusine Lexa …“

Er schwieg plötzlich …

Loo blickte ihn forschend an …

„Nun?! Lexa …?!“

„Ach – das fiel mir nur so ein … – Gib mir bitte den Käse herüber …“

 

4. Kapitel.

Flucht …!!

Herr Friedrich Wilhelm Bimke ging den ganzen Tag über mit einem seltsamen Schmunzeln auf dem feisten, faltigen Gesicht umher.

Als er Edgar Friese, dem Zigarrenfritzen, im Hausflur begegnete, grüßte er doppelt höflich …

Und grinste nachher doppelt stark …

Oh – er hatte die Dinge schon in die Wege geleitet …! Wenn der Mann, der die Fingerspitzen in Lila auf das Fenster drückte, heute wiederum erschien, würde ihm ein warmer Empfang bereitet werden! –

So kam denn der Abend heran. Und aus dem Abend ward es Nacht, eine dunkle, windige, regnerische Nacht: Aprilwetter!

Um zehn Uhr sagte Bimke zu seiner Eheliebsten, die gerade die Nachthaube unter dem Kinn zuknotete:

„Ich bleibe bis Mitternacht auf … Die Herren wissen Bescheid …“

Und er nahm die Fortsetzung des Volksromans „Maritza, die lebendig Begrabene“ vor und schob die Brille bis auf die Nasenspitze, las mit Eifer und Andacht und Gruseln – wie die Schufte die schöne, aber unglückliche Gräfin Maritza, die das Versteck des Familienschatzes nicht angeben wollte, im Keller ihrer Räuberburg einmauerten und nur vor dem Gesicht eine kleine Öffnung ließen … –

Auf dem zweiten Hofe aber, wo der bewußte Müllkasten stand, war vor wenigen Minuten eine Gestalt erschienen, die sich hinter dem Müllkasten zusammenkauerte …

Im übrigen war es still und harmlos in den ringsum liegenden Wohnungen der Mietskaserne …

Die Künstler pflegten den Abend auswärts zuzubringen.

Nur im linken Seitenflügel im zweiten Stock erstrahlte ein Atelierfenster in blendender Helle …

Still und harmlos?! – Wer durch die verstaubten Fenster einen Blick in die leere Erdgeschoßwohnung mit den zerstörten Fußböden hätte hineinwerfen können, wer die Augen eines Luchses gehabt und im Dunkeln Einzelheiten unterscheiden gekonnt hätte, der würde in der Ecke am Ofen jenes Zimmers, zu dem das „bedruckte“ Fenster gehörte, zwei Gestalten bemerkt haben, ebenfalls am Boden hockend wie draußen Herr Edgar Friese hinter dem Müllkasten …

Zwei, die bereits um halb zehn die leere Wohnung betreten hatten und denen von Friedrich Wilhelm Bimke der Schlüssel mit vielen Bücklingen überreicht worden war …

Zwei, die ähnliche dunkle, geheimnisvolle Wege schon oft gewandelt waren …

Und die nun hier in der Finsternis des muffigen Zimmers leise miteinander flüsterten und doch das betreffende Fenster nicht aus den Augen ließen.

Draußen plätscherte der Regen …

Draußen bereiteten sich Dinge vor, die niemand ahnen konnte.

Was gestern noch einer Possenszene glich: Bimke mit Säbel, Filzschuhen und Pfeife –, das wurde heute Tragödie … –

Die Zeit verrann …

Wind war aufgekommen … Einzelne Windstöße fuhren in den Hofschacht hinab und ließen das nasse Papier auf dem Müllkasten flattern und träge emporfliegen …

Dann schwang sich ein Mensch über die Mauer von den Laubengärten her …

Der Blasse von gestern …

Graf Herbert Brach …

Er beeilte sich …

Im Nu war er am Fenster … Die fünf Fingerspitzen der rechten Hand hatte er schon vorher auf das lila Stempelkissen gedrückt …

Im Nu hatte er die Scheibe flüchtig gesäubert …

Preßte die Fingerkuppen darauf …

Eine Hand legte sich auf seine Schulter …

Er fuhr herum …

Ein Schuß knallte …

Edgar Friese taumelte, schlug krachend auf die Fliesen des Hofes …

Und aus dem Fenster, das jäh aufgerissen wurde, sprangen zwei Männer …

Brach floh – ohne recht zu überlegen, wie unsinnig diese Flucht war …

Blindlings stürmte er über den Hof, die Treppe empor …

Doch nicht ganz blindlings …

Ein Gedanke war jäh in ihm aufgeblitzt …: Lexa!! Lexa wohnte dort …! Und er hatte oben bei ihr Licht gesehen …

Der Schuß hatte Alexandra v. Birth bereits in den Flur gelockt, von der Arbeit weg …

Brach läutete …

Die Tür ging auf …

„Ich bin’s – Herbert …!!“

Und er drängte sie zurück, trat ein, schloß leise die Tür, drehte den Schlüssel um …

„Licht aus …!“

Lexa tat’s …

Und sie schlichen in das kleine Atelier … Die Tür klappte …

Sie standen sich gegenüber im blendenden Licht der elektrischen Lampen …

Lexa schaute Herbert mit ernsten Augen an …

„Erkläre, was hier vorgeht …,“ sagte sie herb …

Er nahm den schäbigen Filz ab … Wasser tropfte auf den Teppich …

„Verbirg mich …,“ keuchte er … „Ich … ich werde verfolgt … Man … man … wird mich für einen Mörder halten …“

Ihre graublauen Augen, denen die langen dunklen Wimpern etwas Melancholisch-Seelenvolles gaben, prüften ihn von oben bis unten …

Noch nie hatte sie Herbert Brach in einer solchen Verfassung gesehen …

„Setz’ Dich bitte … Du zitterst …,“ meinte sie kühl, aber nicht unfreundlich[3].

Sie deutete auf einen alten Armsessel. Das ganze Atelier enthielt antike Möbel, darunter einen jener riesigen Nürnberger Schränke mit Eisenbeschlägen, wie sie heute zu hunderten imitiert und in Dielen vornehmer Landhäuser aufgestellt werden.

Brach nahm Platz. Er kam jetzt allmählich wieder zu sich. Die ruhige Überlegung gewann die Oberhand. Sehr bitter sagte er:

„Das hat man nun für seine … Gutmütigkeit …! Kein Mensch wird mir zwar diese Geschichte zunächst glauben … Trotzdem hätte ich nicht fliehen sollen.“

Lexa war an eine Anrichte getreten und hatte ein Weinglas gefüllt, kam zu Brach zurück …

„Trinke, Herbert …“

„Ich danke Dir, Lexa …“

Er trank …

Seine Hand bebte noch leicht. Auf dem Glase blieben geringe lila Spuren der Fingerspitzen zurück.

Brach stellte das Glas auf ein Tischchen neben dem Sessel.

Jetzt klärte sich sein Hirn noch mehr …

„Eine ungeheure Dummheit, diese Flucht …!“ meinte er grollend – gegen sich selbst! „Ich habe wie ein unmündiges Kind gehandelt … Ich werde wieder hinabgehen …“

„Bleib sitzen …!“ Lexa lehnte neben ihm an einem zweiten Sessel. „Erzähle, weshalb Du in diesem sonderbaren Aufzug hierhergekommen … Man soll nichts übereilen …“

Brach senkte den Kopf …

„Nein, es ist doch besser, ich verlasse Deine Wohnung wieder, Lexa,“ murmelte er …

Und – das war Feigheit, nur Feigheit: er scheute sich, von Loo zu sprechen, daß er seiner Geliebten wegen diese Torheit begangen …!

„Du bleibst!“ sagte Alexandra abermals … Ihr schmales, rassiges Gesicht, das so wunderbar durchgeistigt erschien, rötete sich leicht. „Du darfst einer Unüberlegtheit nicht die zweite folgen lassen. Der Name Brach soll nicht in irgendeine schmutzige Geschichte verwickelt werden. Sollte man hier nach Dir suchen, so wird man Dich nie finden. Der Schrank dort hat einen geheimen Raum. Ich möchte den sehen, der das Geheimnis entdeckt. – Weshalb kamst Du hierher?“

Brach erwiderte zögernd:

„Es hatte mich jemand, der sehr abergläubisch ist und der gern eine eigene Wohnung haben wollte, gebeten, unten die leere Wohnung im Erdgeschoß gleichsam für andere zu versiegeln …“

Er erklärte ihr das kindliche Spiel mit den Fingerabdrücken …

„Dieser Aberglaube soll aus Schottland stammen,“ schloß er noch zögernder. „Wenigstens behauptet es die … die Dame, in deren Interesse ich …“

„Es ist gut …,“ unterbrach Lexa ihn. „Es ist sehr wahrscheinlich, daß man diese Deine Angaben anzweifeln wird, falls die … Dame nicht als Zeugin für Dich eintritt …“

„Das wird sie natürlich tun …“

„So natürlich erscheint mir dies durchaus nicht, falls es sich um Deine … Wirtschafterin handelt …“

Brach schoß Röte in die Wangen …

„Ich denke, wir brechen dieses Thema ab, Lexa.“ Und lauter und sie dabei fest anschauend: „Dieses Mädchen, Loo Looker, ist im übrigen die längste Zeit bei mir gewesen. Ich bin heute zu dem Entschluß gelangt, sie … abzufinden. Ich möchte mich mit der Familie wieder versöhnen. Wir Brachs und Birth gehören zusammen. Ich will nicht länger außerhalb eines Kreises stehen, in dem meine ganzen Jugenderinnerungen wurzeln …“

Sein Blick hatte etwas Bittendes, fast Flehendes.

Und einer warmen Regung seines Herzens gehorchend, erhob er sich und streckte Lexa die Hand hin …

„Schlag ein, Lexa …! Sei Du die erste, die mich wieder willkommen heißt …“

Mit einer Bewegung, die ebenso förmlich wie gemessen war, legte sie ihre Finger in die seinen …

„Ich habe kein Recht, Dir irgendwie zu zürnen, Herbert …“ Auch ihre Stimme war kühl und fremd. „Ich hoffe, in Deinem Interesse, daß die Familie sich mit Dir aussöhnt …“

Und sie zog ihre Hand wieder zurück …

Brach setzte sich – enttäuscht, leicht gereizt …

Was soeben unten im Hofe sich abgespielt hatte, war wie aus seinem Gedächtnis gestrichen …

Hier ging es um Wichtigeres für ihn …

Hier stand Alexandra von Birth vor ihm, die er vor drei Jahren, als sie sich als Malerin selbständig gemacht, mit ironischen Bemerkungen, mit beißendem Spott als Blaustrumpf, als Malweibchen im großen Kreise schwer verletzt hatte …

Und weshalb damals dieser Riß zwischen ihnen?! Weshalb hatte er damals so scharf und ungerecht ihre Handlungsweise kritisiert?! – Doch nur deshalb, weil Lexa für ihn bis dahin die Verkörperung all dessen gewesen war, was man unter Dame von Welt versteht … Weil sie seines Erachtens aus besonderen Gründen das Heim ihrer Eltern verlassen hatte: vielleicht jenes langhaarigen Künstlers wegen, der ihr Lehrer war und der hier in nächster Nähe wohnte …! –

Hart auflachend meinte er nun:

„Du bist wie Eis, Lexa … Das war keine Versöhnung … Das war mir der Beweis, daß Du …“

Beide fuhren leicht zusammen …

Die Flurglocke hatte geschrillt …

 

5. Kapitel.

Der Reporter Starch.

Lexa schaute sich nochmals im Zimmer um …

Nein – nichts deutete darauf hin, daß sie hier jemand bei sich verborgen hielt …

Wieder schlug die Glocke an …

Lexa ging in den Flur, schloß die Tür auf, ließ aber die Sicherheitskette vorgelegt.

Durch die Spalte sah sie draußen im Treppenhaus zwei unscheinbare Herren stehen, und hinter diesen zwei dürre Riesengestalten: ihre Malerkollegen Raßmuß und Pennhoven …

Einer der Unscheinbaren, der größere, sagte jetzt, indem er die regennasse Sportmütze lüftete:

„Wir möchten Sie gern einen Augenblick sprechen, gnädiges Fräulein … Mein Name ist Starch, Schriftsteller … Dies hier mein Freund Trausch, gleichfalls Mann der Feder … Wir sind Reporter … Unten im Hof ist doch ein Mord verübt, und da nur hier bei Ihnen das Atelierfenster hell ist, möchten wir über das Haus und die Bewohner einiges erfahren …“

Der lange Maler Hans Raßmuß, der stets nur der lange Hans genannt wurde, rief nun:

„Lexa, Sie können diese beiden Herren getrost einlassen … Wir kommen als Leibgarde mit … Wir wollten ja eigentlich zu Middler nach oben, aber Ihre Liköre und Zigaretten sind allemal besser …“ –

Die vier Herren saßen nun im Atelier um den großen runden Seitentisch herum. Lexa hatte rasch Likörgläser, Zigaretten und Flaschen aufgebaut … Sie war froh, daß die Polizei bisher nicht erschienen war.

Die beiden Reporter hatten ihre flachen Notizbücher zur Hand genommen …

Der lange Raßmuß meinte kollegial:

„Kinder, nun fragt die Lexa nur gehörig aus … Die weiß alles, was hier im Hause vorgeht … Die ist die Intimste von Frau Portieuse … – Also los!“

Starch beschaute tiefsinnig die Spitze seines Bleistifts …

„Zunächst,“ sagte er mit einer Art Verbeugung nach Lexa hin, „zunächst müssen wir Fräulein von Birth doch mitteilen, was unten passiert ist … – Also da hat ein Unbekannter …“

„Nein – stopp!“ rief Trausch dazwischen … „Kein Unbekannter … Auf der Pistole, der Mordwaffe, ist ein Name eingraviert:

Gr. H. v. Brach …

Mithin Graf von Brach …“

Lexa stand noch aufrecht …

Zum Glück …

Denn auf diese Weise war es ihr leicht, sich rasch nach einem geschnitzten Schemel zu bücken und so die Veränderung ihrer Gesichtszüge zu verbergen …

Sie zog den Schemel näher an den Tisch und setzte sich …

Sie hatte sich bereits wieder in der Gewalt …

Kühl erklärte sie: „Ein Graf Herbert von Brach ist ein entfernter Vetter von mir … Ich glaube kaum, daß Herbert Grund hätte, einen Menschen zu ermorden. Die Waffe kann ihm gestohlen worden sein. Sie aber, meine Herren von der Presse, bitte ich dringend, nach Möglichkeit den Namen eines Verwandten von mir nicht in Ihre Berichte hineinzubringen …“

„Nach Möglichkeit!“ sagten Starch und Trausch wie aus einem Munde …

Und Starch fügte noch hinzu: „Natürlich kann die Waffe gestohlen worden sein … – Was nun den Toten betrifft, so ist dies der Zigarrenhändler Edgar Friese aus dem Vorderhaus. Der Täter aber … ja – der Täter soll hier im Seitenflügel die Treppen emporgelaufen sein …“

„Was Donner!“ platzte Maler Raßmuß heraus. „Da hält der Schuft sich womöglich in einem der Ateliers verborgen …!“

„Vielleicht,“ nickte Starch: „Vielleicht hat er einen Dietrich gehabt und eine der Türen geöffnet und wieder abgeschlossen. Die Kriminalpolizei will daher auch alle Wohnungen durchsuchen …“

„Na, hier bei Lexa ist’s überflüssig,“ brummte Raßmuß und trank den dritten Kognak. „Lexa war ja daheim …“

„Oh – Fräulein von Birth kann sehr wohl überhört haben, wie der Täter die Flurtür öffnete …,“ sagte Starch bedächtig. „Es sei denn, die Sperrkette war vorgelegt …“

„Das war sie …!“ bestätigte Lexa hastig … etwas zu hastig.

Starch schaute sie denn auch merkwürdig durchdringend an …

„Wissen Sie das auch ganz genau, Fräulein von Birth?“ fragte er. „Zuweilen irrt man sich. In diesem Fall hat nämlich der flüchtende Mörder mit seinen regenfeuchten Sohlen nur gerade bis zum Treppenabsatz dieses Stockwerks Spuren hinterlassen.“

Lexa wollte recht schlau handeln …

„Ja – beschwören könnte ich’s natürlich nicht,“ meinte sie achselzuckend. „Mir wäre es selbst eine Beruhigung, wenn wir die Wohnung genau durchsuchen würden …“

„Bravo!! Vorwärts!!“ Der lange Maler schoß empor …

„Halt – nicht zu eilig, Herr Raßmuß …,“ mahnte Starch. „Ich sehe da soeben etwas, daß mir die Gewißheit gibt, der Mörder ist sogar hier im Atelier gewesen …“

Sein Blick war starr auf das kleine Tischchen gerichtet, auf dem noch das Weinglas stand …

„Was zum Teufel sehen Sie?!“ schrie da Raßmuß’ Kollege Pennhoven …

Alexandra von Birth erblaßte jetzt …

Der Zusammenhang war ihr sofort klar. Sie hatte an das Weinglas nicht gedacht, hatte es auf dem Tischchen stehen lassen. Und selbst von ihrem am weitesten entfernten Platze aus erkannte sie deutlich, daß außen auf dem Glase lila Flecken wie trübe Stellen sich abzeichneten.

Starch hatte einen flüchtigen Blick auf die Malerin geworfen. Dann erhob er sich und holte das Glas.

„Hm – merkwürdig …!“ meinte er. „Genau wie die Fingerspuren unten auf der Fensterscheibe – genau so …“ Und zu den beiden langen Künstlern: „Der Täter hat da nämlich ähnliche Fingerabdrücke seit vier Tagen jede Nacht auf einer Fensterscheibe der leerstehenden Parterrewohnung des anderen Flügels hervorgerufen …“

Raßmuß und Pennhoven riefen in einem Atem:

„Wozu das?!“

„Ja – wenn man das wüßte …!“ Und Reporter Starch setzte sich wieder, drehte das Glas in den Fingern und schaute es mit liebevoller Bedächtigkeit an. „Mithin …,“ fuhr er fort, „mithin …“ – und er hob das Glas gegen das Licht – „beweisen diese Abdrücke auf diesem Glase, die ebenfalls von Stempelfarbe herrühren, daß der Täter hier gewesen ist …“

Lexa nickte krampfhaft …

„Hier im Atelier?! Aber Herr Starch!! Ich habe doch hier gearbeitet …“

„Gewiß … Das schließt doch die Anwesenheit des Täters nicht aus, zumal auf der Mordwaffe der Name eines Verwandten von Ihnen zu finden ist, Fräulein von Birth …“

Da begriffen auch die beiden langen Maler, wurden unruhig, blickten scheu an Lexa vorüber …

Die kämpfte weiter für Herbert Brach – mit all der Energie, die der Grundzug ihres Charakters war.

„Sie verdächtigen mich geradezu, Herr Starch …,“ sagte sie schroff. „Sie deuten an, daß ich den Mörder verborgen halte. Bitte – durchsuchen Sie meine Wohnung …“

„Mörder?!“ Starch machte eine zweifelnde Handbewegung. „Ich sprach zumeist von dem „Täter“ und dachte dabei mehr an die Fingerabdrücke auf der Fensterscheibe … Ob auch Mörder, das wird sich erst herausstellen …“

Seine grauen großen Augen, die so starr und durchdringend die Menschen mustern konnten, hingen jetzt an dem riesigen Nürnberger Schrank …

„Ein schönes altes Stück, Fräulein von Birth …,“ meinte er leichthin, als sei plötzlich sein Interesse für antike Möbel erwacht. „In meinem Hause in Schmargendorf steht ein ganz ähnlicher …“

Raßmuß rief – denn leise oder mit normaler Stimmkraft konnte er überhaupt kaum sprechen:

„Wie – Sie sind Hausbesitzer, Herr Starch …?!“

„Ich erlaube mir … Mein Beruf ist einträglich. Ich bearbeite zumeist Fälle, die nicht gerade alltäglich sind. – Hat Ihr Schrank auch einen sogenannten Vexierraum, Fräulein von Birth?“

„Was verstehen Sie darunter …?“ – und Alexandras Stimme war brüchig und heiser …

„Einen Raum, den man seiner Größe wegen nicht gut als Geheimfach bezeichnen kann … Die Anordnung der Innenabteile vieler dieser Schränke ist derart, daß niemand ahnen kann, daß ein Mensch in einem verborgenen Raum bequem sitzen kann – leidlich bequem.“

„Nun, – bei meinem Schrank existiert ein solcher Raum nicht, Herr Starch …“ – Lexa hatte sich wieder gefaßt … Sie sprach ruhig und gleichgültig.

„Das heißt,“ ergänzte Starch, „Sie wissen nichts von einem solchen Vexierraum … Er kann schon vorhanden sein … kann … Und vielleicht hat der Täter sich hier in Ihrer Abwesenheit – Sie mögen in die Küche gegangen sein – durch einen Glas Wein gestärkt, hat den Schrank gesehen, kannte die Eigentümlichkeit mancher dieser alten Möbel und hat dann dort ein vorläufiges Versteck gesucht … – Wollen wir den Schrank nicht einmal besichtigen …?“

Lexa gab jetzt alles verloren …

Lexa war Weib … Der jähe Sturz in die Gewißheit des Endes dieses Kampfes trieb ihr Tränen in die Augen …

Raßmuß, der lange Hans, legte ihr da die Hand mit plumper Herzlichkeit auf die Schulter …

„Lexa, Herr Starch und sein Kollege werden Mitleid haben … Lexa, Sie müssen jetzt ehrlich sein … Es ist klar: Sie haben Ihren Vetter versteckt …“

Starch fügte ebenso herzlich hinzu:

„Fräulein von Birth, – – damit Sie es wissen: ich habe die Mordwaffe verschwinden lassen! Die Polizei weiß nichts von der Pistole mit dem eingravierten Namen … Nur mein Freund ist eingeweiht. Hier ist die Pistole …“

Er zog sie aus der Innentasche seines Ulsters hervor …

„Mithin wird es ganz und gar von den Antworten des Grafen Brach abhängen, ob wir die Sache der Polizei mitteilen … Ich selbst halte Brach nicht für den Mörder. Eine solche Dummheit, eine Waffe mit eingeätztem Namen nach der Tat wegzuwerfen, macht kein Mörder …“

„Oh – – ich … ich danke Ihnen …,“ stammelte Lexa …

Sie war hastig aufgestanden …

„Ja – Herbert ist hier … Er …“

„Das wußte ich schon, als wir bei Ihnen läuteten … – Ich möchte Brach einiges fragen …“

Lexa öffnete die linke Seitentür des Schrankes …

Bücher standen auf sechs Querbrettern – eine Unmenge Bücher …

Lexa zog diesen Innenkasten halb heraus, öffnete dann die Mitteltür und drückte die linke innere Seitenwand nach hinten …

Aus der schmalen hohen Öffnung trat Graf Brach ins Zimmer …

Dicke Schweißperlen ließen seine Stirn glänzen …

Starch verbeugte sich leicht …

„Herr Graf gestatten: mein Name ist Harald Harst, Detektiv Harald Harst … Dort mein Intimus Schraut, – dort die Herren Raßmuß und Pennhoven …“

Brach atmete tief auf …

„Gott sei Dank, Herr Harst: nun ist meine Sache in den besten Händen!“

Lexa und die beiden langen Maler waren zu verblüfft, um irgend etwas äußern zu können …

Bis Raßmuß unvermittelt brüllte:

„Himmel – waren wir Esel!! Wir hätten das längst merken müssen, daß dieser Reporter verflucht schlau die Geschichte hier befingert hat …! Veritable Esel waren wir … Sie natürlich ausgenommen, Lexa.“

 

6. Kapitel.

Was Harst schon vorher wußte.

Man saß nun zu sechs um den Tisch herum.

Brach trank einen Kognak, rauchte eine Zigarette an und begann zu erzählen …

„Im Hofbräu in München setzte sich am 28. Januar dieses Jahres eine junge blonde Dame an meinen Tisch. So lernte ich Loo Looker kennen. Sie nannte sich Filmschauspielerin, behauptete geborene Schottin zu sein und seit Jahren in Deutschland zu leben …“

Lexa erhob sich plötzlich und ging hinaus … Halb in der Tür stehend meinte sie: „Ich will für Herbert Tee aufbrühen … Er ist ganz durchnäßt …“

Nun waren die Herren unter sich. Brach sprach freier, ungezwungener. Lexas Anwesenheit bei diesen Erörterungen, die Loos Person betrafen, war ihm außerordentlich peinlich gewesen.

Er berichtete weiter …

„Loo Looker wurde meine Geliebte … Sie war kein Unschuldsengel mehr … Nein, bestimmt nicht … Sie war mir gegenüber stets von einer gewissen Zurückhaltung …“

Dann erklärte er eingehend, daß Loo sich so sehr eine eigene Wohnung gewünscht habe und wie sie ihn aus lächerlichem Aberglauben veranlaßte, diese abenteuerlichen nächtlichen Ausflüge nach dem zweiten Hof des Hauses Gerolsteiner Straße 8 zu unternehmen …

Harst hörte still zu …

Die Maler lächelten, als Brach den Aberglauben des „Versiegelns“ der Wohnung erwähnte. Schraut blieb ernst.

Der Graf kam nun zu der Schlußszene von heute nacht, wo die Tragödie eingesetzt hatte …

„Ich hatte gar keine Waffe bei mir,“ sagte er mit der schlichten Überzeugungstreue der Wahrheit. „Der Schuß fiel meiner Ansicht rechts von mir – von der Mauer her, die das Laubengelände abgrenzt …“

Harst, der vorhin die Pistole auf den Tisch gelegt hatte, nahm die Waffe zur Hand …

„Hier – Ihre Pistole, Herr Graf …,“ meinte er.

Brach griff hastig danach …

„Bei Gott …! – Wie ist das möglich?!“ rief er.

„Natürlich hat Loo sie gestohlen – heimlich dem Täter gegeben,“ erklärte der Detektiv achselzuckend. „Die Dinge liegen soweit ganz klar … Loo steht eben mit Leuten im Bunde, die es auf den Zigarrenhändler Edgar Friese abgesehen hatten … Haben Sie nie gemerkt, Herr Graf, daß Loo Looker Heimlichkeiten vor Ihnen hatte?“

„Niemals, Herr Harst …“

Eine andere Luft schien jetzt hier im Zimmer zu wehen … Jeder Verdacht gegen Brach war zerstreut.

Lexa trat wieder ein – mit einem Teebrett …

Sie stellte vor Brach die Tasse hin … Sie war eine reizende, vornehme Hausfrau.

Harst erklärte nur:

„Ihr Vetter hat mir sehr wertvolle Aufschlüsse gegeben, Fräulein von Birth. Ich werde nun meinerseits berichten, was zur Übersichtlichkeit der Sachlage nötig ist …“

Lexa setzte sich. Brach, der neben ihr saß, reichte ihr die Hand …

„Ich danke Dir, Lexa …“ Seine Finger drückten die ihren fast krampfhaft. Sein Blick war bittend und strahlte mehr als gewöhnliche Herzlichkeit aus, so daß Lexa leicht errötete …

Harst beobachtete still …

Dann begann er … Sprach von Hauswart Bimke, von dessen nächtlicher Wache, von Bimkes Unterredung mit Brach …

Wandte sich an den Grafen: „Sie haben sich Bimke gegenüber wie im Scherz Herbert Graf Brachlitz oder so ähnlich genannt …“

„Allerdings … Das war so halber Übermut von mir, Herr Harst …“

„Der Übermut des guten Gewissens … – Bimke sah dann, als Sie gestern nacht über die Mauer wieder verschwunden waren, den Zigarrenhändler Friese jenes Fenster beleuchten … Also galten die Fingerabdrücke dem jetzt Ermordeten … – Es gibt nun zwei Erklärungen für das, was Loo Looker von Ihnen, Herr Graf, angeblich aus einer abergläubischen Vorstellung heraus verlangt hat …“

Harst nahm eine neue Zigarette …

„Zwei Erklärungen: Erstens die, daß von Friese etwas erpreßt werden sollte, daß also die Leute, zu denen Loo Looker gehörte, die Möglichkeit hatten, Friese zu ängstigen, ihn durch diese Angst vor … der Enthüllung von Dingen aus seiner Vergangenheit zur Hergabe von Geld zu zwingen. – Diese Möglichkeit möchte ich ausschalten. Sie erscheint mir zu alltäglich.“

Er rauchte ein paar Züge …

„Dann die zweite: Edgar Friese, der hier übrigens erst seit einem halben Jahre das Zigarrengeschäft betreibt und der nach Portier Bimkes Behauptung etwas gebrochen Deutsch sprach, – dieser Friese, der wahrscheinlich ganz anders heißt, war Mitglied einer Gaunerbande, die er irgendwie betrog … Diese Bande mag sich der Fingerabdrücke zu geheimer Verständigung bedient haben, was daraus hervorzugehen scheint, daß Sie, Graf Brach, die mit Stempelfarbe gefärbten Fingerspitzen jede Nacht in anderer Anordnung auf die Fensterscheibe drücken mußten: in der ersten in Form eines[4] aus fünf Punkten bestehenden Kreuzes, in der zweiten in Form eines Dreiecks, in der dritten als Würfel mit einem Punkt darüber, heute in der vierten als Kreis.“

„So war’s,“ nickte Brach …

„Ja – und all diese Figuren müssen doch wohl eine bestimmte Deutung haben,“ nahm der Detektiv seine Erklärungen wieder auf. „Bedeutungen, die auch Edgar Friese bekannt gewesen sein dürften, der fraglos jede Nacht die Fensterscheibe besichtigt hat – nicht nur gestern … Mithin war ihm irgendwie mitgeteilt worden, daß er die Figuren dort vorfinden würde.

Heute nun hat er seinerseits dem Manne aufgelauert, der die Zeichen auf der Scheibe hervorrief. Wir, Schraut und ich, befanden uns in dem betreffenden Zimmer der leeren Wohnung. Wir sahen Friese hinter den Müllkasten schlüpfen. Wer jedoch dann, als Friese hinter Ihnen stand, den Schuß abfeuerte, das sahen wir nicht. Sie konnten es gewesen sein – konnten …! Jetzt weiß ich, daß Sie nicht in Frage kommen. Jetzt müssen wir den Mörder suchen …“

Er strich die Asche seiner Zigarette in die Schale ab …

„Übrigens war Friese bewaffnet, Herr Graf … Er muß im rechten Ärmel einen sogenannten malaiischen Kris, ein langes gebogenes Dolchmesser, verborgen gehabt haben. Als er nach dem Stirnschuß tot umsank, hat er sich mit dem Dolche das Handgelenk verletzt. Wahrscheinlich wollte er also demjenigen, der die Zeichen auf die Scheibe drückte, ans Leben. Wie Sie sich dann umwandten, muß er gesehen haben, daß es nicht der Mann war, den er vermutet hatte. Jedenfalls kannte er den Mörder – und Loo Looker kennt ihn ebenfalls. Jetzt dürfte Loo bereits verhaftet sein, falls sie nicht geflohen ist, was mir glaubhafter erscheint.“

Brach fragte etwas verlegen:

„Wie sind Sie denn aber, bevor Sie mich hier sprachen, Herr Harst, auf dieses Mädchen gekommen? Sie konnten doch gar nichts von Loo bisher wissen.“

„Ein Irrtum, Herr Graf …! Sie vergessen, daß Bimke mir erzählt hatte, der schäbige blasse Mensch von gestern nacht habe ihm den Namen Herbert Graf Brachlitz genannt … Bimke informierte mich vormittags über den Fall. Schraut und ich hatten also einen ganzen Tag Zeit, mit Nachforschungen zu beginnen. Im Adreßbuch fand ich einen Grafen Herbert von Brach. Das genügte mir, diesen Herrn, also Sie, zu beobachten. Ich weiß genau, was Sie den Tag über getrieben haben. Sie waren mittags zwölf Uhr auf der Deutschen Bank, haben dort dreitausend Mark aufgenommen, was eine Stunde beanspruchte. Dann aßen sie zusammen mit Professor Grabert und einigen anderen Herrn im Klub zu Mittag, spielten nachher mit dem Amerikaner John Holliwood eine Partie Billard und besuchten um fünf Uhr Ihren Onkel, Exzellenz Richard Graf Brach, den Bruder Ihres verstorbenen Vaters. Durch Professor Grabert erfuhr Schraut, der stets einen Teil der Ermittlungen erledigt, daß Sie Loo Looker aus München im Januar mit nach Berlin genommen hätten. Schraut setzte sich mit der Kriminalpolizei in Verbindung. Loo Looker heißt in Wahrheit Betsie Grandon und war die Geliebte eines amerikanischen Hochstaplers, der von Neuyork aus gesucht wird und John Hesterley heißt. Da Professor Grabert ferner meinem Freunde anvertraute, daß Ingenieur John Holliwood sich auffällig an den Grafen Brach herandränge, war es eine Kleinigkeit, mit Hilfe der Polizei eine dringende Funkdepesche an die Firma zu senden, die Holliwood hier vertreten will. Dank der Schnelligkeit des Funkverkehrs traf die Antwort bereits um halb neun ein: Holliwood ist der Firma unbekannt. Sie unterhält überhaupt keine Vertreter in Deutschland …“

Die beiden Maler, Lexa und Brach starrten den berühmten Detektiv wie eine übernatürliche Erscheinung an. Diese prompte, geschickte Einleitung der Untersuchung gegen Brach, die sich lediglich auf den einen Namen Herbert von Brachlitz gestützt hatte, war für alle derart verblüffend, daß sie eine geraume Weile stumm und fast wie gelähmt dasaßen.

Dann aber rief Brach, sich leicht gegen die Stirn schlagend:

„Herr Gott – jetzt fällt mir endlich ein, weshalb Holliwood mir so bekannt vorkam: in München sah ich ihn wiederholt …!“

„Ja – und er ist auch erst seit Ende Januar in Berlin,“ nickte Harst. „All das bestimmte mich dazu, abends neun Uhr die Kriminalpolizei zu bitten, Ihre Wohnung und Loo zu beobachten. Als dann jetzt hier vom nächsten Revier als erste zwei Kriminalbeamte eintrafen, habe ich ihnen geraten, Loo Looker verhaften zu lassen …“

„Fabelhaft!!“ meldete sich Raßmuß mit seiner dröhnenden Stimme. „Einfach fabelhaft …! Es staunt der Laie, und der Fachmann wundert sich! Einen Hochachtungsschluck, Herr Harst …“

„Danke … – Sie wissen noch nicht alles … – Auch Holliwood wird überwacht. Ich halte Holliwood für den Mörder, und …“

Das Schrillen der Flurglocke, schnitt ihm das Wort ab …

„Bleiben Sie …,“ bat Harst. „Ich werde öffnen. Es wird jemand von der Mordkommission sein … Man weiß, daß ich hier bin. – Graf Brach, Sie können alles Weitere mit Ruhe abwarten …“

 

7. Kapitel.

Das Testament.

Harst kehrte in Begleitung des Kriminalkommissars Doktor Neumeyer zurück.

Er erledigte die Vorstellung und fügte bei Brachs Namen hinzu: „Der Herr Graf ist völlig schuldlos, lieber Neumeyer … Nehmen Sie Platz … Ich will Sie einweihen …“

Doktor Neumeyer notierte, was ihm wichtig schien.

Als Harst erklärte, Loo Looker habe also dem Mörder die Pistole Brachs besorgt, sagte der junge Kommissar, einer der besten der vorzüglichen Berliner Polizei:

„Leider sind uns beide entwischt, Herr Harst – sowohl Loo Looker alias Betsie Grandon als auch John Hesterley-Holliwood. Erstere ist über die Dächer verschwunden, Hesterley wußte sich ab neun Uhr der Beobachtung zu entziehen.“

„Ich ahnte es …,“ entgegnete Harst nur … „Und der Ermordete, Neumeyer?“

„War verkleidet, hat hier ständig Perücke getragen, hat gefärbte Augenbrauen, gefärbten Schnurrbart und unterschminkte Augen. In seinem Zimmer hinter dem Laden fand ich auch nicht einen Fetzen Papier außer den Personalpapieren, die er hier bei der polizeilichen Anmeldung vorgelegt hat. Er hatte angegeben, daß er zuletzt in Köln gewohnt habe. Auf telephonische Anfrage erfuhr ich vor fünf Minuten, daß in Köln ein Edgar Friese, Zigarrenhändler, am 5. September vorigen Jahres verstorben sei. – Wie gesagt: ich habe dieses angeblichen Friese Laden und Zimmer mit meinen Beamten aufs genaueste durchsucht – und nichts gefunden als diese Ausweispapiere eines längst Verstorbenen. Nun sitzen wir fest. Es sei denn, daß Sie, Herr Harst, aus diesem Ding etwas machen können …“

Und er zog … den malaiischen Kris aus dem Ulster hervor …

„Hier sind nämlich in die Klinge genau dieselben vier Zeichen eingeätzt, die Sie erwähnten: ein Kreuz aus fünf Punkten, ein Dreieck aus fünf Punkten, ein Würfel und ein Kreis! – Bitte …“

Harst nahm den Dolch … besichtigte ihn, zuckte die Achseln …

„Das wird uns keinen Schritt weiterbringen, lieber Neumeyer … Der Kris ist nur ein klarer Beweis dafür, daß Betsie Grandon, John Hesterley und Friese durch besondere Fäden miteinander verbunden waren und daß diese Verbindung in Trennung und Feindschaft umschlug.“

Der Kommissar verabschiedete sich. Die Pistole Brachs nahm er mit. Auch die beiden Maler hatten genügend Taktgefühl, hier nicht länger zu stören. Sie begleiteten Neumeyer. So blieben denn im Atelier jetzt um Mitternacht nur noch Lexa, der Graf und die beiden Detektive zurück.

Harst sagte, als man wieder Platz genommen hatte:

„Sie gaben mir einen Wink, Fräulein von Birth … Ich glaube Sie richtig verstanden zu haben: Schraut und ich sollten noch Zeugen irgend einer Unterredung zwischen Ihnen und Ihrem Vetter sein …“

„Es ist so, Herr Harst …“ – Und Lexa ging zu dem altmodischen Schreibtisch, schloß das linke Schränkchen auf und brachte eine große Stahlkassette zum Tisch.

Der Kassette entnahm sie einen gelben versiegelten Umschlag.

Der Graf wußte, was nun folgen würde …

Alexandra reichte Harst den Umschlag.

„Bitte – besichtigen Sie die Siegel, lesen Sie die Aufschrift … Dann teilen Sie meinem Vetter den Inhalt der Urkunde mit …“ – Sie sprach merkwürdig erregt und war sehr rot …

„Ich … ich selbst möchte … dieser Testamentsverlesung nicht beiwohnen … Ich … habe meine Gründe dafür …“

Sie verließ das Atelier.

Harst las die Aufschrift des versiegelten Umschlags:

Mein Testament

in zweiter handschriftlicher Ausfertigung. Nach meinem Tode von meiner Nichte Alexandra von Birth zu öffnen.

Mathilde von Birth.

Berlin, den 1. September 1922.

Der Detektiv schnitt dem Umschlag auf und fragte dabei den Grafen:

„Haben Sie irgend eine Erklärung für dieses Verhalten Fräulein Alexandras?“

„Nein …“ – Brachs Stimme klang ebenfalls erregt. Er vermutete, daß das Testament Bestimmungen enthielte, die ihn, dem früheren Liebling der Erblasserin, verletzten müßten.

Harst las vor:

„Berlin, den 1. September 1922.

Rankestr. 46.

Mein letzter Wille!

Ich, Mathilde von Birth, älteste Tochter des Generals a. D. von Birth, verfüge über mein Vermögen, das ich selbst auf rund drei Millionen holländische Gulden schätze, wie folgt:

In der Überzeugung, daß mein Neffe Herbert Graf von Brach in unbegründeter Eifersucht sich mit seiner Jugendgespielin Alexandra von Birth überworfen hat, daß die beiden sich lieben und daß Alexandra für Herbert die einzige passende Frau sein würde, ernenne ich diese beiden zu gemeinsamen Erben meines gesamten Nachlasses, falls sie sich spätestens ein halbes Jahr nach meinem Ableben heiraten.

Geschieht dies nicht, so soll mein Vermögen mit Ausnahme der unten angeführten Legate dem Sohne meines verstorbenen Bruders, des in Neuyork ansässig gewesenen Kaufmannes Albert Birth; der drüben den Adel abgelegt hatte, zufallen. James Birth, mein Neffe, wird als Erbe die Auszahlung der Legate getreulich in meinem Sinne erledigen.

Legate erhalten …“

Der Schluß des Testaments war nicht von Wichtigkeit. Jedenfalls war Alexandra mit 50 000 Gulden bedacht. Herbert ging leer aus. –

Die Wirkung dieser Bestimmungen auf den hier anwesenden Brach war seltsam genug …

Er saß in dem Lehnsessel und hatte die Augen mit der Linken bedeckt … Rührte sich nicht … Schwieg beharrlich …

Und unter dieser sein Gesicht beschirmenden Hand hielt er die Augen geschlossen …

Was die alte, weltkluge Dame da in ihrem Testament niedergeschrieben hatte, war für ihn wie eine Erleuchtung gewesen …

„… daß die beiden sich lieben …“ …

Ja – wie richtig Tante Thilde doch ihn und seine wahren Gefühle für Lexa eingeschätzt hatte …!

Lieben …!! Lieben …!! – Und eine köstliche Ruhe und noch köstlichere Glückseligkeit durchzogen seine Seele …

Er liebte Lexa, hatte sie stets geliebt. Wollte er das heute in dieser Sekunde vor sich selbst leugnen?! War es bei ihm nicht wirklich lediglich Eifersucht gewesen, die ihn damals zu den ironischen Bemerkungen reizte, als Lexa sich selbständig gemacht hatte …?!

Oh – jetzt war er sich über seine Empfindungen völlig klar …

Er – – er!!

Aber – wie stand es um Lexa?!

Jählings schlug seine Stimmung wieder um …

Er dachte an die größte Torheit seines Lebens: an Loo Looker – Betsie Grandon …

Eine Hochstaplerin hatte er in sein Heim aufgenommen … Hatte, mit Blindheit geschlagen, sich durch ihre Zurückhaltung stets zu neuem Liebeswerben anfeuern lassen… Loos kühle Zurückweisung war der Magnet gewesen, der ihn an diese Dirne gefesselt hatte.

Der ganzen Verwandtschaft hatte er mit dieser frivolen Frechheit, ein solches Weib als seine Haushälterin auszugeben, ins Gesicht geschlagen … Was mußte Lexa wohl gelitten haben (falls er ihr nicht gleichgültig war!), als man ihr seinen neuesten Streich erzählt hatte …

Die selige Freude in seinem Herzen erlosch vollkommen …

Lieben … lieben …!! – Es war zu spät …! Er hatte Lexa verloren. Er kannte sie …! –

Und die intimen Freunde und Detektive schwiegen gleichfalls. Nur einen langen Blick tauschten sie aus. Sie verstanden sich. Sie waren so aufeinander eingespielt, daß ein Blick zwischen ihnen lange Sätze bedeutete – viele Worte, die andere zur Verständigung gebraucht hätten … –

Harst wartete geduldig … Er hatte beobachtet. Wenn Tante Thilde eine gute Menschenkennerin gewesen: hier saß einer, der diese Kunst bis zur Virtuosität ausgebildet hatte.

Ein kaum merkliches Lächeln lag um die Lippen des berühmten Mannes … Das Lächeln jener Herzensgüte, die der Detektiv bei keiner Gelegenheit vermissen ließ …

Jetzt senkte Graf Brach die Hand von den Augen und schaute flüchtig über den Tisch hinweg …

Da war die Kassette … Da war das Testament.

Und widerwillig sagte er nun:

„Eine Heirat zwischen Lexa und mir ist natürlich ein Unding, eine Unmöglichkeit …“

„Weshalb?!“ – Harst blickte ihn an und lächelte vertraulich. „Weshalb, Herr Graf?! Ich glaube bestimmt, daß die alte Dame Sie beide richtig eingeschätzt hat … Sie lieben sich …“

Herbert Brach schüttelte den Kopf …

„Wir liebten uns … einst …! – Lexa kannte dieses Testament … Selbst heute, wo sie mich schützte und verbarg, war sie von eisiger Zurückhaltung, damit ich ja nicht …“

Harst fiel ihm ins Wort …

„Überlassen Sie der Zeit das alles, Herr Graf … Die Zeit heilt alles … – Ich werde Fräulein von Birth jetzt hereinholen …“

Er ging in den Flur hinaus. Durch die matten Scheiben der Küchentür drang Licht in den Flur.

Als Harst den Raum betrat, stand Alexandra von Birth am Herd und hielt einen großen Blechlöffel über die Gasflamme. In dem Löffel lag ein Stück Zinn. Außerdem stand auf dem Herde noch eine Schüssel mit Wasser.

Lexa wurde über und über rot …

Harst half ihr über die Verlegenheit hinweg …

„Wollen Sie das Schicksal befragen?“ meinte er scherzend …

Ihre Ehrlichkeit siegte. „Ja, Herr Harst … So aufgeklärt ich auch sonst bin: an das Zinngießen glaube ich!“

Der Detektiv wurde ernst … „Ja – man sollte getrost ein wenig abergläubisch sein, Fräulein von Birth … Wenn die Linien der inneren Handfläche den Charakter, die Lebensbahn enthüllen, weshalb sollte nicht diese selbe Hand, die das geschmolzene Zinn ins Wasser schüttet, nicht durch seelische Momente derart beeinflußt werden, daß die erstarrte Zinnmasse etwas von diesem Seelischen widerspiegelt?! – Lassen Sie sich also nicht stören …“

Das Zinn schmolz …

Lexa zauderte … Dann schüttete sie es in die Schüssel … Ein von leisem Zischen begleiteter Knall … Das Zinn lag auf dem Boden der Schüssel, geformt zu einem länglichen Gebilde …

„Sie gestatten …,“ sagte der Detektiv und fischte das Gebilde mit vorsichtigen Fingern heraus, besichtigte es …

„Es gehört in diesem Falle keinerlei Phantasie dazu, die Form zu erklären,“ meinte er. „Bitte: es sind zwei ineinander verschlungene Hände, das Symbol der Liebe, der Ehe …! Nehmen wir es als gute Vorbedeutung für die Erfüllung des Herzenswunsches einer Toten.“

Lexa senkte den Kopf …

„Unmöglich!“ flüsterte sie … „Unmöglich, Herr Harst … Bitte sagen Sie Herbert, daß ich ihn heute nicht mehr sehen möchte … Sagen Sie ihm, daß ich … verreisen werde – sofort nach Tante Thildens Begräbnis …“ – Unsicherheit war in ihrer Stimme … Was sie sprach, geschah im Kampf gegen heimliche Stimmen in ihrem Herzen …

Der Detektiv verbeugte sich …

„Ich kann Sie verstehen, Fräulein von Birth … Aber Herbert Brach hofft, und ich hoffe ebenfalls … Wir Menschen müssen vergessen und verzeihen … Wir alle sind nicht vollkommen …“

Ein herber Zug erschien um ihren Mund …

„Verzeihen – ja …!! Vergessen – – nie! – Gute Nacht, Herr Harst … Die Herren finden wohl selbst hinaus …“ – Sie reichte ihm die Hand …

„Ich danke Ihnen,“ sagte sie wärmer „ich freue mich, Sie kennengelernt zu haben …“

Harald Harst schaute ihr ins Gesicht … Schweigend …

Dann verließ er ebenso wortlos die Küche … –

Brach nahm Lexas Erklärung mit der Miene eines Menschen hin, der nichts anderes erwartet hat.

„Gehen wir …,“ sagte er … –

Draußen rieselte ein feiner Aprilregen herab …

Der zweite Hof war leer … Traurig lagen die durchweichten Papiere und Pappstücke auf dem Müllkasten …

Harst nahm am Vorderausgang den Patentdietrich aus der Tasche …

So gelangten die drei auf die Straße. Man wünschte sich gute Nacht. Brach schritt die Straße links hinunter, die Freunde nach rechts … –

Als morgens acht Uhr die Aufwärterin, die zu des Grafen Wohnung einen Schlüssel hatte, die Zimmer aufräumte, merkte sie sehr bald, daß sie ganz allein in der Wohnung sich befand.

Weil Herbert Brach auch bis zur Mittagsstunde nicht erschien, weil des Grafen Bett unberührt und die Aufwartefrau eine sehr ängstliche Person war, rief sie das nächste Polizeirevier an.

Bis abends acht Uhr wußte niemand, wo Brach geblieben sein könnte …

 

8. Kapitel.

Das Fingerkreuz.

Abends acht Uhr kam Kommissar Neumeyer zu Harst. Er hatte sich telephonisch angemeldet.

Der bekannte Detektiv wohnte im alten Harstschen Familienhause im Erdgeschoß rechts vom Flur, während sein Freund Schraut die Zimmer linker Hand innehatte.

Neumeyer begrüßte die beiden etwas gedrückter Stimmung …

„Nehmen Sie Platz … Und machen Sie ein anderes Gesicht, Doktor,“ meinte Harst in seiner liebenswürdig-zwanglosen Art …

Neumeyer warf sich mit einem ärgerlichen Seufzer in einen der Klubsessel am Sofatisch. Sein Blick schweifte über die vornehme und doch so behagliche Einrichtung dieses Herrenzimmers hin, in dem schon so mancher Verzweifelte, Ratlose oder gar schuldlos Verfolgte Trost und Hilfe gefunden …

„Ich wollte mit Ihnen persönlich darüber sprechen, Herr Harst,“ sagte Neumeyer und bediente sich aus der Importenkiste … „Ein Mädchen hat sich vor anderthalb Stunden bei uns gemeldet, eine schwindsüchtige Straßendirne … Sie hat beobachtet, daß man Brach dicht vor seinem Hause in der Kufsteiner Straße in ein geschlossenes Auto lockte … Sie kennt Brach nur deshalb, weil er ihr vorgestern nacht aus Mitleid zehn Mark geschenkt hatte. Sie sagte, sie würde dies Gesicht nie vergessen, obwohl der Herr ganz anders gekleidet war …“

„Dann hat sie also den durch Lexa veranlaßten Aufruf an den Anschlagsäulen gelesen …“

„Natürlich …“

„Und woher Ihre schlechte Laune, Doktor?“

„Weil mir die Arbeit über den Kopf wächst …! Wenn das Publikum wüßte, wie abgehetzt wir Berliner Kommissare sind, würde man nicht immer wieder uns so scharf kritisieren … Ich kam mit der Straßenbahn hierher … Zwei Herren saßen mir gegenüber … Über mein Fell ging es her …“

Harst füllte die Rotweingläser. „Spülen Sie das Spießbürgergewäsch hinab, Doktor! Prosit …! – Was redeten die Kerle denn?“

„Über den Mord an Edgar Friese und über die Rolle, die der nun verschwundene Brach dabei spielte … Einige Abendblätter haben da ja Dinge zusammengefaselt, die einfach hahnebüchen sind …!“

Schraut lachte … „Allerdings …! Wir haben’s auch gelesen … Selbst Fräulein von Birth ist mit hineingezogen worden. Dieser Reporter haben erstaunliche Spürnasen und eine noch erstaunlichere falsche Phantasie …“

Neumeyer blickte Harst still an …

„Sie arbeiten doch weiter an der Sache, Herr Harst …?“ fragte er zögernd.

„Gewiß. Schraut und ich waren fast den ganzen Tag über auf den Beinen.“

„Und der Erfolg?“

„Ich bin zufrieden, Doktor … Unter anderem waren wir bei Exzellenz Brach, dem Onkel unseres Grafen …“

„So?! Und – zu welchem Zweck?!“

„Eines Testaments wegen … – Hören Sie zu, Doktor … Sie werden staunen … Gestern nacht wurde bei Lexa noch ein Testament verlesen …“

Er erzählte Einzelheiten …

„… Und deshalb gingen wir eben zu Exzellenz Brach … Ich wollte Auskunft über den Neuyorker Erben James Birth haben. Dessen Eltern sind vor einem halben Jahr verstorben. James Birth ist heute sechsundzwanzig Jahre alt und zur Zeit unbekannten Aufenthalts, denn Exzellenz hatte ihm sofort nach dem Tode der Erblasserin durch Eildepesche den Inhalt des Testaments in großen Zügen mitgeteilt … Ein Advokat depeschierte zurück, daß James Birth im Dezember des Vorjahres nach England gereist sei und seitdem nur ein einziges Mal aus Davos in der Schweiz eine kurze Karte geschrieben habe.“

Neumeyer schaute grübelnd in die Rauchwölkchen seiner Zigarre …

„Hm – und bringen Sie etwa dieses Testament irgendwie in Verbindung mit dem Morde an dem falschen Friese?“

„Ja und nein …“ – Harst trank einen Schluck Rotwein … „Ich bleibe dabei, daß dieser angebliche Friese zu jener Verbrecherbande gehörte, vor der er sich dann hier in Berlin als Zigarrenhändler verbarg. Zu dieser Bande gehörten aber auch Betsie Grandon und John Hesterley …“

„Nun ja … Und?!“ Neumeyer wurde etwas ungeduldig …

„Und wenn nun dieser James Birth, über den Exzellenz Brach weder etwas Gutes noch etwas Schlechtes sagen konnte, vielleicht Kenntnis von dem Inhalt des Testaments gehabt hat, dann kann er möglicherweise Betsie Grandon auf Herbert Brach gehetzt haben, damit sie dafür sorge, daß die im Testament angeführte Eheschließung nie zustande käme …“

„Hm – das hängt doch aber noch vollkommen in der Luft, Herr Harst …! Obwohl die Sache an sich Hand und Fuß hätte …“

„Bitte – hängt nicht in der Luft, Doktor … Ich habe in Davos angefragt … Man tat mir gern einen Gefallen und beeilte sich. Vor zehn Minuten kam die Antwort … Hier ist sie …“

Er reichte Neumeyer eine Depesche.

Der las geradezu begierig:

„James Birth hier Hotel Roland gewohnt bis 15. Januar mit hellblonder Dame, angeblich Ehefrau. Beide reisten nach München ab. – Kommissär Pigaud.“

Neumeyer war stutzig geworden …

„Etwa … Betsie Grandon, Herr Harst?!“

„Wahrscheinlich … – Jetzt habe ich nach München depeschiert. Und Exzellenz Brach wird einen Erbenaufruf in die Zeitungen bringen. Warten wir also ab …“

„Gewiß … Nur – – in der Angelegenheit Herbert Brach muß doch etwas geschehen. Jetzt ist ja wohl klar, daß John Hesterley und Genossen Brach verschleppt, womöglich gar ermordet haben …“

Harst und Schraut schauten sich flüchtig an …

„Wir wollen nicht das Schlimmste annehmen,“ meinte der Detektiv. „Was konnte das schwindsüchtige Mädchen denn über die Art von Brachs Entführung angeben?“

„Nicht viel … Ein Mietauto kam die Kufsteiner Straße entlang … Jemand rief Brach aus dem Auto an … Er ging auf den Fahrdamm bis dicht neben den Wagen. Anscheinend unterhandelte man mit ihm. Das Mädchen will gesehen haben, daß ein Revolver oder eine Pistole auf Brachs Kopf gerichtet war. Dann stieg dieser ein, die Tür schlug zu und das Auto raste von dannen. Von den Entführern konnte das Mädchen nichts aussagen … Im Innern des Autos war es dunkel.“

„Sie lassen jetzt nach diesem Auto suchen?“

„Ja. Und wir werden es finden. Es soll ein Taxameterauto gewesen sein mit älterem blondbärtigen Schofför. Bis Mitternacht spätestens haben wir es. Ich möchte Sie daher bitten, Herr Harst, vielleicht zu gestatten, daß ich den betreffenden Schofför hierher bringe …“

Wieder tauschten Harst und Schraut einen verstohlenen Blick …

„Außerdem haben wir des angeblichen Friese Signalement nach Neuyork gekabelt. Die Leiche hatte ein besonderes Kennzeichen: eine lange Narbe auf der Brust! Wenn der Mann drüben der Polizei bekannt ist, werden wir sehr bald seinen wahren Namen und Näheres über ihn wissen …“

„Die Antwort dürfte positiv ausfallen, Doktor … – Und die Flüchtlinge – Loo und John?“

„Bisher nichts – trotz unseres Riesenapparats … Alle Hotels, Pensionen, möblierten Zimmer werden durchforscht. Alle Bahnhöfe sind verständigt. Ich persönlich bin überzeugt, daß die beiden Berlin nicht verlassen haben …“

„Ich auch …! Es wäre doch …“

Harst schwieg, lauschte …

Nochmals schrillte die Flurglocke – sehr dringend.

Schraut eilte hinaus …

Eine verschleierte Dame …

„Ich bin’s, Lexa von Birth …“

Ganz atemlos …

„Bitte …“

Lexa trat ein … Die Herren hatten sich erhoben … Sie schlug den Schleier hoch … Reichte jedem die Hand …

Blaß war sie … erschöpft …

„Ich … habe … einen … Drohbrief erhalten,“ stieß sie hervor …

Schraut schob ihr einen Sessel hin … Sie nahm Platz, öffnete ihr Handtäschchen …

„Hier – – der Brief …“

Die drei Herren standen neben dem Sessel, steckten die Köpfe zusammen …

Der blaugraue Umschlag zeigte lila Maschinenschrift.

Der Briefbogen war die Hälfte eines gewöhnlichen Bogens Maschinenpapier … Auch hier die Schrift getippt – fehlerlos …

Kein Ort, kein Datum …

Nur:

„Graf Herbert Brach hat sich schwer gegen uns vergangen. Sollte er Ihnen über uns etwas mitgeteilt haben und sollten Sie es wagen, der Polizei hiervon Meldung zu erstatten, so hat Brach die längste Zeit gelebt.“

Als Unterschrift aber … fünf lila Fingerabdrücke in Form eines Kreuzes …!!

Neumeyer rief:

„Die Verbrecherbande läßt die Maske fallen! – Gnädiges Fräulein, was hat Brach Ihnen mitgeteilt?“

„Nichts … nichts …!“ Lexa war dem Weinen nahe … „Es ist ja auch ganz ausgeschlossen, daß Herbert sich je mit Verbrechern eingelassen hat …“ In ihren Augen flackerte die Angst um Brach … In ihren Augen lag das offene Geständnis, daß sie ihn liebte.

Harst sagte kühl: „Der Brief ist anders zu deuten. Die Drohung ist zu verstehen, daß Sie Ihrerseits nichts mehr zu Brachs Auffindung und Befreiung unternehmen sollen. Außerdem will man den Grafen vor Ihnen in ein recht schlechtes Licht setzen …!“

Neumeyer hatte ein Vergrößerungsglas aus der Westentasche gezogen und prüfte die Fingerabdrücke.

Nahm nun aus seiner Brieftasche eine photographische Vergrößerung der letzten auf der Fensterscheibe gefundenen Fingerabdrücke heraus, die er für alle Fälle hatte anfertigen lassen …

Verglich …

Rief wieder: „Was bedeutet das?! Hier auf dem Brief – – genau dieselben Muster der Fingerkuppen, also Brachs Fingerspitzen!“

„Sehr einfach,“ meinte Harst. „Die Bande hat Brach eben gezwungen, seine Finger zu diesem Spiel herzugeben …“

Lexa starrte die Herren an …

Ihre Augen waren tränenschwer …

„Mein Gott, helfen Sie, Herr Harst …,“ stöhnte sie auf … „Wenn ich daran denke, daß Herbert sich in der Gewalt eines Menschen wie dieses John Holliwood befindet, – – ich … sterbe vor Angst …!“

Ein kaum merkliches Lächeln zuckte um des Detektivs Lippen … Kaum merklich …

„Ich pflege nichts zu versprechen, was ich nicht halten kann, Fräulein von Birth …,“ meinte er freundlich. „Ich werde Brach finden. Ihm wird nichts zustoßen. Die Leute, die ihn verborgen halten, werden sich an ihm[5] nicht vergreifen …“

Lexa betupfte die feuchten Lider mit ihrem Taschentüchlein …

„Oh – Sie haben eine Spur gefunden?“ fragte sie aufatmend …

„Vielleicht … Ich rede nie über halbe Erfolge … Ich werde Betsie Grandon und John Hesterley eine Falle stellen … – wir, Schraut und ich … – Darf ich Ihnen ein Glas Rotwein anbieten?“

„Ich nehme mit Dank an …“

Sie trank … Alle Herbheit war aus ihren Zügen geschwunden. Sie war nur noch liebendes Weib … Die Angst um Herbert hatte ihr steinernes Herz, das in Wahrheit nie ganz versteinert gewesen, wieder weich und sehnsüchtig gemacht …

 

9. Kapitel.

James Birth.

Die folgenden zwei Tage vergingen, ohne daß etwas Wesentliches sich ereignet hätte. Aus Neuyork war die Antwort der dortigen Polizei eingetroffen: der Mann mit der Narbe auf der Brust, der sich in Berlin Edgar Friese genannt hatte, hieß in Wahrheit Richard Forst, war der Sohn deutschamerikanischer Eltern und wurde wegen eines großen Einbruchdiebstahles seit elf Monaten steckbrieflich gesucht. – Ferner hatte die Neuyorker Polizei noch mitgeteilt, daß die „fünf Finger am Fenster“, also die so verschieden angeordneten Fingerspitzenabdrücke tatsächlich die Geheimzeichen einer Verbrechervereinigung seien, die nun auseinandergesprengt war und deren Mitglieder zumeist in Sing-Sing saßen – also im Zuchthaus. John Hesterley sei wahrscheinlich ebenfalls Mitglied der Bande gewesen, und Betsie Grandon habe bereits zwei Jahre wegen Taschendiebstahls abgesessen … –

Harst wieder hatte aus München den Bescheid erhalten, daß James Birth und die Blonde drei Tage im Hotel „Zu den vier Jahreszeiten“ vom 16. bis 20. Januar gewohnt hätten. Die Blonde war dann in das Hotel Imperial übergesiedelt. Wo James Birth hingereist, ließ sich nicht feststellen. Im Imperial hatte die Blonde sich Loo Looker genannt. –

Drittens: Exzellenz Brach hatte am Begräbnistage Tante Thildens eine Depesche bekommen, in der James Birth sich meldete und erklärte, eine der Anzeigen in den Zeitungen sei ihm aufgefallen, weil der Name Birth so dick gedruckt gewesen. Er würde demnächst nach Berlin reisen, um sich den Verwandten vorzustellen.

Dieses Telegramm kam aus Schandau am Bodensee, und Exzellenz Brach hatte daraufhin schleunigst dem Detektiv Harst diesen Erfolg des Erbenaufrufs mitgeteilt. –

So standen die Dinge am Morgen nach dem Begräbnis des alten Fräuleins …

An diesem Morgen finden wir Harst und Schraut im Garten des Harstschen Familienhauses beim Pflanzen neuer Johannisbeersträucher vor – beide im entsprechenden Arbeitskostüm, beide mit solchem Eifer und solcher Geschicklichkeit arbeitend, als hätten sie einst den Gärtnerberuf erlernt.

Die prächtige Aprilsonne entlockte den Gartenbeeten kräftige Düfte. Der Frühling war da. Oben in den alten Linden vor den Starkästen pfiffen die munteren schwarzbraunen Gesellen … Und hoch in den Lüften schwebten zwei Störche.

Harst lehnte sich auf den Spaten …

Schaute nach oben … „Es gibt Hochzeit, mein Alter …,“ sagte er. „Die Störche sind da … – Und der Geier ist nicht fern,“ fügte er in anderem Tone hinzu.

Der kleine wohlbeleibte Schraut putzte seine Hornbrille. „Hm – Geier?! Wen meinst Du, Harald?“

„Warte ab … Der Geier wird sehr bald auftauchen …“

Schraut zuckte die Achseln …

„Verzeih: Hesterley?“

„Nein, lieber Alter … Du bist noch nicht ganz im Bilde … Aber er kommt sicher. Und wenn er da ist, stelle ich die Falle auf …“

Er stellte den Spaten weg … „Wir könnten jetzt gleich einmal das Laubengelände besichtigen …“ Er lächelte … „Wir müssen doch Quartier besorgen. Wenn wir beide derartiges inszenieren, muß alles erstklassig klappen …“

Hinter dem Harstschen Grundstück zog sich ein Feldweg hin, der die große Laubenkolonie nach Osten zu begrenzte.

Die beiden Freunde schlenderten langsam durch die sauberen Gärtchen … Fleißige Hände regten sich überall. Manch freundlicher Gruß wurde Harst zugerufen …

Dort, wo der Bahndamm das Laubengelände abschloß, gab es doch ein paar unbenutzte, verwilderte Gärtchen mit windschiefen, baufälligen Häuschen.

Hier blieben die beiden stehen …

„Romantisch und einsam,“ lächelte Harst. „Hier wird die Schlußszene der Tragikomödie gespielt werden … – Kehrt marsch …!“ – Er hatte nur flüchtig auf eine armselige Bretterbude gezeigt.

Als sie den Harstschen Gemüsegarten wieder betraten, kam ihnen die alte Köchin Mathilde entgegengeeilt und meldete, Exzellenz Brach habe soeben angerufen … James Birth träfe heute abend ein – Anhalter Bahnhof – zehn Uhr fünfzehn … Exzellenz würde den Neffen abholen. – –

Nachmittags rief wie immer Lexa an und fragte, … „wie es stände …“ …

Bisher hatte Harst stets erwidert: „Nichts Neues vor Paris … Nur Geduld und Mut und viel Liebe im Herzen …!“

Heute sagte er: „Halten Sie sich bereit, Fräulein von Birth … Morgen spätestens wird Hesterley verhaftet und Herbert frei!“ –

Abends – Anhalter Bahnhof … Fernbahnsteig drei …

Exzellenz Brach stelzt steifbeinig auf und ab. Er ist eingeweiht. Er weiß, daß vielleicht James Birth diese Loo Looker auf Herbert gehetzt hat, damit die Ehe zwischen Herbert und Lexa nie zustande käme. Er sieht diesem ersten Zusammentreffen mit dem „Amerikaner“ mit recht gemischten Gefühlen entgegen. Harst hat ihm eingeschärft, sich ganz zwanglos und herzlich zu geben … Das wird verdammt schwer werden.

Auf demselben Bahnsteig stehen auch zwei ältere Gepäckträger … Zwei plötzlich neu Eingestellte … Der eine hager, etwas über Mittelgröße, der andere klein und korpulent: Harst und Schraut!

Sie stehen und gähnen und haben doch die Augen überall …

Mustern jeden, der den Fernzug erwartet …

Mit einem Male flüstert Harst:

„Achtung …!!“

Ein altes Ehepaar kommt vorüber … Ganz bescheiden angezogen … Beide schon etwas gebückt. Er mit weißem Bart, Krückstock …

„Na?!“ fragt Harst, als sie vorüber sind …

„Du meinst wirklich …“ sagt Schraut …

„Ja: Hesterley und die Grandon …! Tadellose Masken … Nur schlechte Bewegungen … Der schleppende Gang beider ist übertrieben …“

„Und sie erwarten James?“

„Natürlich … James, der mit Ihnen im Bunde steht … Sie wollen sich irgendwie mit ihm verständigen … Ich habe das erwartet …“

Er geht zu zwei anderen Bahnbeamten hinüber, die am Gepäckaufzug lehnen …: Doktor Neumeyer und ein Kriminalassistent!

Sie flüstern …

Harst kehrt zu Schraut zurück … –

Der Zug läuft ein…

Aus einem Wagen zweiter Klasse steigt ein junger Mann aus, dessen Kleidung schon den Herrn von drüben verrät …

Es dauert eine Weile, bevor Exzellenz Brach den Neffen findet, den er nur von Photographien her kennt.

Exzellenz ist angenehm überrascht: ein sympathisches Gesicht, ehrliche braune Augen, muntere Sprache …

Sie schreiten dem Ausgang zu. Hinter der Sperre steht das alte Ehepaar …

James streicht dicht an der Frau vorüber … –

Dann sitzen Onkel und Neffe in einem Mietauto …

„Ich möchte sofort den Verdacht zerstreuen,“ sagt der junge Amerikaner jetzt, „daß ich etwa der Erbschaft wegen so eilig nach Berlin gekommen bin. Wie Sie wissen dürften, verehrter Oheim, haben mir meine Eltern ein Vermögen hinterlassen, dessen Zinsen mir vollauf genügen. Ich möchte nur die Familie kennenlernen und besonders Kusine Alexandra. Herberts Verschwinden bedaure ich aufrichtig.“

Das klingt durchaus ehrlich gemeint und ist auch in einem Punkte bestimmt ehrlich: daß James sparsam lebt und vermögend ist. – Exzellenz hat ja in Neuyork Erkundigungen einziehen lassen … –

Während das Auto der Wohnung Seiner Exzellenz zurollt, fährt ein anderes zum Polizeipräsidium.

Im Innern sitzen vier Personen: das alte Ehepaar vom Anhalter Bahnhof, das man vor dem Bahnhof ganz unauffällig und rasch verhaftet hat, und Neumeyer und Harst. Neben dem Schofför sitzt Schraut.

John Hesterley und Betsie Grandon sind gefesselt. Das überraschende Zugreifen der Polizei hat sie beide vollkommen niedergeschmettert.

In Doktor Neumeyers Dienstzimmer werden sie dann durchsucht. Der Zettel kommt zutage, den James Birth Betsie vor der Sperre zugesteckt hat.

Auf diesem Zettel steht in englischer Sprache:

„In Schandau alles in Ordnung. Morgen mittag werde ich versuchen, allein auszugehen. Also Achtung. Erstatte dann Bericht.“

Nichts weiter …

Harst fragt Hesterley:

„Was ist in Schandau in Ordnung? – Ich denke, Sie beichten jetzt …“

John Hesterley lacht … „Beichten?! Was?!“ Zynische Frechheit liegt auf seinem Boxergesicht, von dem man den falschen Bart entfernt hat.

Harst sagt eisig: „Sie halten in Schandau irgendwo den echten James Birth gefangen … Der Birth, der hier in Berlin soeben eintraf, ist einer Ihrer Komplicen, wird dem echten Birth ähnlich sehen … Der echte James Birth würde sich nach allem, was wir aus Neuyork über ihn erfuhren, niemals zu Schurkereien hergegeben haben. Der echte James ist ein harmloser, träger, nicht allzu schlauer Mensch …“

Doktor Neumeyer und Schraut stehen hier vor einer neuen Offenbarung. Daran haben sie nicht gedacht, daß hier ein falscher James auftreten könnte … –

Hesterleys freches Grinsen hat sich verloren … Der ganze feine Bau dieses Schurkenstreichs bricht zusammen … Leugnen hat keinen Zweck mehr. Dieser dreimal verdammte Harst bekommt die Wahrheit ja doch heraus. – Außerdem: Hesterley hat hinsichtlich des Mordes an Richard Forst längst eine feine Ausrede bereit! Ein paar Jahre Zuchthaus mag es geben! Den Kopf wird’s nicht kosten …

„Gut,“ erklärt er … „Ich will alles eingestehen!“

Neumeyer holt einen Protokollführer. Hesterley beginnt:

„Zunächst Edgar Friese, der eigentlich Richard Forst heißt … Wir beide und noch ein paar Jungens von der Zunft …“

„… von Ihrer Bande mit dem Finger-Geheimzeichen,“ warf Harst ein …

„Ja … – also wir hatten den Laden des Juweliers Matton in Neuyork leer gemacht. Forst sollte die Beute in Sicherheit bringen, verschwand aber … Einige von uns wurden verhaftet. Betsie und ich hielten uns gut verborgen. Betsies Mutter war Aufwärterin bei James Birth. Diesem hatte Fräulein Mathilde von Birth brieflich die Bestimmungen ihres Testaments angedeutet. So erfuhren wir von dem Testament. Wir wollten nun zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Richard Forst die Beute abjagen und die Erbschaft an uns bringen. Ich kannte einen Taschendieb, der mit James Birth einige Ähnlichkeit hatte. Betsie mußte sich nun an James heranmachen. Das Testament konnte ja bei den hohen Alter der Erblasserin jeden Tag wirksam werden …“

Was Hesterley weiter angab, ist zumeist bekannt. Forsts Spur hatten sie durch internationale Verbrecher gefunden, die in Europa weilten. Hesterley hatte dann an Edgar Friese einen Brief geschickt, in dem er ihn aufforderte, die Beute herauszugeben, – der Bund sei hinter ihm her, er solle sich nur die Fensterscheibe ansehen!!

„Als Forst auf die ersten drei Zeichen nicht reagierte, wollte ich mich in der vierten Nacht persönlich mit ihm aussprechen … Ich sah, daß Forst den Dolch bereithielt. Da ich fürchtete, er könnte den Grafen niederstechen, schoß ich … Ich wollte nur den Arm treffen … nicht den Kopf …“

Neumeyer sagte da: „Ob Ihnen die Geschworenen das glauben werden, Hesterley?!“

„Bitte – Forsts Tod hätte mir keinerlei Nutzen gebracht …! Im Gegenteil. Jetzt weiß kein Mensch, wo er die Beute verborgen hat …“

Harst meldete sich. „Sie irren, Hesterley … Schraut und ich wissen es … Die ganzen Juwelen liegen unter dem Fußboden der Küche der leeren Wohnung … Wir wissen das schon seit drei Tagen. Immerhin: Ihre Verteidigung ist nicht schlecht! Sie wollten den Grafen schützen!! Gut ausgedacht! Nur ein kleiner Denkfehler ist dabei: Wenn der Graf von Forst erstochen worden wäre, hätte Ihnen das doch nur in Ihren Kram gepaßt – der Erbschaft wegen!“

Hesterley biß sich auf die Lippen …

Und Neumeyer meinte: „Sie haben ja jetzt auch den Grafen verschwinden lassen …! Der Schofför des Autos, das den Grafen entführte, hat betont, einer der Männer habe gebrochen Deutsch gesprochen und müsse ein Engländer oder Amerikaner gewesen sein …“

Hesterley lachte schrill … „Und ich versichere, daß wir Brach nicht verschwinden ließen! Jeden Eid kann ich darauf schwören …“

„Jeden Meineid!“ sagte Neumeyer gleichmütig. „Erzählen Sie weiter … Wo steckt der echte James Birth?“

„In Schandau in einem abgelegenen Sommerhäuschen, das ein Freund von mir gemietet hat, ein gewisser Porter …“ –

Zehn Minuten später wurden John und Betsie in ihre Zellen gebracht.

Harst aber telephonierte von Neumeyers Dienstzimmer aus zunächst an seine Mutter, die mit ihm zusammen wohnte. Er sagte ihr nur, daß … „es Zeit sei …“ –

Und zweitens an Lexa: daß er sie abholen würde … Sie möge ihn vor dem Hause erwarten.

Neumeyer hörte dies alles mit an …

„Ich will jetzt Herbert Brach befreien,“ erklärte er dem Kommissar. „Sie können mitkommen, lieber Doktor …“

„Herr Gott – woher wissen Sie denn, wo Brach versteckt ist?! Hesterley leugnete doch hartnäckig, und …“

„Kommen Sie nur … Lexa wartet fraglos voller Ungeduld …“

 

10. Kapitel.

Wie man Frauen zur Liebe zwingt …

Alexandra von Birth wartete nicht nur voller Ungeduld … Nein, sie fieberte …! Harsts kurze telephonische Nachricht hatte Lexa Tränen entlockt … In diesen Tagen war sie ja die quälende Angst, daß Herbert doch vielleicht ermordet, beiseite geschafft sein könnte, nie völlig losgeworden …

Unruhig ging sie jetzt in der nächtlich stillen Straße vor dem Hause auf und ab. Immer, wenn sie an Edgar Frieses Ladentür vorüberkam, seufzte sie tief auf … Friese war von Hesterley niedergeknallt worden … Weshalb sollte dieser Unmensch gerade Herbert schonen?!

Dann nahte ein Auto …

Hielt … Harst stieß die Tür auf …

„Bitte – einsteigen …“ – Und er zog Lexa halb hinein, drückte sie in die Polster …

Neumeyer und Schraut begrüßten die Malerin. Sie beachtete es nicht …

„Herr Harst, wo befindet sich Herbert?“ Diese Frage verriet in der ganzen Art, wie sie gestellt wurde, zur Genüge, daß Lexas Gedanken jetzt nur Brach in erster Linie und in zweiter dem berühmten Detektiv, dem Befreier galten.

Harst erwiderte, indem er Alexandra von Births Hand in die seine nahm – ein Zeichen väterlicher Güte, das die Malerin ganz richtig einschätzte …

„Fräulein Alexandra, Hesterley und jenes Weib sind vor etwa einer Stunde verhaftet worden. Hesterley hat ein Geständnis abgelegt, leugnet jedoch, sich an Brach vergriffen zu haben. Wenn ich trotzdem jetzt des Grafen Versteck anzugeben vermag, so hängt das mit ganz anderen Dingen zusammen, die ich erst später aufklären möchte. Jedenfalls: in kurzem werden Sie Brach sehen … Wie und in welchem Zustande, das kann ich nicht genau sagen. Ein Grund zur Beunruhigung besteht für Sie keinesfalls … Die Angelegenheit der fünf Finger am Fenster ist erledigt. Der Mann, der heute als Gast bei Exzellenz Brach eintraf, ist ein Schwindler. Der echte James Birth wird in Schandau gefangen gehalten. Es ist bereits eine Depesche an die dortige Polizei unterwegs, und noch in dieser Nacht wird James Birth befreit werden …“

Das Auto hielt plötzlich …

Harst schaute hinaus …

„Ah – wir müssen bereits aussteigen… Vorwärts…!“

Er bezahlte den Schofför …

Man befand sich hier inmitten hoher Bretterzäune von Holzhandlungen. Es war die Gegend nördlich vom Bahnhof Hohenzollerndamm.

Der Detektiv setzte sich an die Spitze des kleinen Zuges …

Ein hohler Regenwind strich über die frühlingsduftende Erde hin …

Aus den Lüften, aus dem Reich der Sterne kam zuweilen der Schrei ziehender Gänse und Wildenten herab …

Durch einen engen Gang zwischen den Holzzäunen hindurch gelangten die vier an den Bahndamm.

Harst bog nach links ab …

Laubengelände tauchte auf …

Der Detektiv wandte den Kopf …

„Pistolen und Taschenlampen heraus …!“ flüsterte er … „Und – ganz leise … Kein Wort mehr!“

Selbst Neumeyer spürte das Aufregende dieses nächtlichen Ausflugs …

Wäre es hell gewesen, würde ihm wohl das leise Lächeln um Harsts Lippen stutzig gemacht haben …

Noch hundert Meter – immer am Bahndamm hin … Dann links eine einzelne Bretterbude inmitten eines verwilderten Gärtchens …

„Warten!“ befahl der Detektiv ganz heiser … Ihn schien etwas in der Kehle zu kitzeln …

Er schlich tief gebückt auf die Bude zu … Die Tür hing schief in den Angeln …

Im Innern blitzte ein rasch wieder erlöschender Lichtschein auf …

Dann kehrte Harst zu den dreien zurück …

„Hier haben Sie meine Taschenlampe, Fräulein Lexa …,“ meinte er gedämpft und doch überaus herzlich … „Gehen Sie nur hinein … Brach wird es doppelte Freude bereiten, wenn Sie ihn befreien …“

Lexa eilte vorwärts …

Das Herz, die Liebe trieb sie ohne Bedenken in das erbärmliche Hüttchen … Sie schaltete die Lampe ein …

Da stand … Herbert Brach …

Mit ausgebreiteten Armen …

„Lexa …!!“ – und so, wie er’s rief, war es mehr als eine lange Liebeserklärung …

Lexa schluchzte auf vor Seligkeit, lag an seiner Brust …

„Du … Du … – was habe ich mich geängstigt um Dich!“

Er küßte sie …

Die Welt versank für ein glückliches Paar … Der Frühling war in zwei Herzen eingezogen … –

Draußen sagte Harst zu Neumeyer:

„Also, lieber Doktor: das hier ist Harstscher Schwindel! Ich hatte Brach bei mir verborgen … Lexa sollte gezwungen werden, dem Jugendgespielen endgültig zu verzeihen … Ich wollte zwei Menschen vereinen, die schon Tante Thilde als für einander passend in ihrem Testament erwähnt hatte … Ich habe … Kuppler gespielt, ich habe Lexa zur Liebe bekehrt …!“

Neumeyer erfaßte rasch die heitere Romantik der Situation …

Schlich zur Tür der Bretterbude, rief mit voller Lungenkraft:

„Wir gratulieren zur Verlobung!! Graf Brach ist befreit und … abermals gefangen …!!“ –

In Haralds Arbeitszimmer saß man dann nach dieser „gefährlichen“ Expedition um den Tisch herum … Sekt perlte in dünnen Kelchen … Man feierte Verlobung …

Und – – im Polizeigefängnis am Alexanderplatz saßen drei andere – die drei Hauptakteure des Geheimnisses der fünf Finger am Fenster … –

Das Vermögen Tante Thildens teilte das Ehepaar Brach freiwillig mit dem harmlos-freundlichen Vetter James. Auch Hauswart Bimke ging nicht leer aus: er konnte dreitausend Mark auf die Sparkasse tragen. Die Wache hinter dem Müllkasten hatte sich bezahlt gemacht … – –

 

 

Anmerkungen:

  1. Hefttitel auf der Umschlagseite ohne Auslassungspunkte, innen mit Punkte (…).
  2. In der Vorlage steht: „Hopla“.
  3. In der Vorlage steht: „freundlich“.
  4. In der Vorlage steht: „einer“.
  5. In der Vorlage steht: „ihn“.